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-The Project Gutenberg eBook of Clerambault, by Romain Rolland
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Clerambault
- Geschichte eines freien Gewissens im Kriege
-
-Author: Romain Rolland
-
-Translator: Stefan Zweig
-
-Release Date: October 13, 2021 [eBook #66532]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-Produced by: Delphine Lettau, Cindy Beyer and the online Distributed
- Proofreaders Canada team at http://www.pgdpcanada.net with
- images provided by TIA_CAN
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK CLERAMBAULT ***
-
- [Cover Illustration]
-
-
-
-
- R o m a i n R o l l a n d
-
- C l e r a m b a u l t
-
- Geschichte eines freien Gewissens
- im Kriege
-
-
- 1 9 2 2
- L i t e r a r i s c h e A n s t a l t
- R ü t t e n & L o e n i n g
- F r a n k f u r t a . M .
-
-
-
-
- Berechtigte Übertragung aus dem
- Französischen von S t e f a n Z w e i g
-
-
- Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig
-
-
-
-
- A n d e n L e s e r
-
-Dieses Werk ist kein Roman, sondern das Bekenntnis einer freien Seele
-inmitten der Qual, die Geschichte ihrer Irrungen, Ängste und Kämpfe. Man
-möge keine Selbstschilderung darin erblicken — werde ich eines Tages
-über mich selbst schreiben wollen, so wird es ohne Decknamen und Maske
-geschehen. Einige meiner Anschauungen habe ich allerdings in meinem
-Helden zum Ausdruck gebracht, doch sein Wesen, sein Charakter und seine
-Lebensumstände gehören ihm ganz allein zu. Ich wollte in diesem Werke
-das innere Labyrinth schildern, das eine schwache, unentschiedene,
-erregbare und verführbare, aber doch aufrichtige und in ihrem
-Wahrheitswillen leidenschaftliche Natur langsam vorwärtstastend
-durchirrt.
-
-In einigen Kapiteln deutet das Werk auf die Art der „Meditationen“
-unserer altfranzösischen Moralisten, der stoischen Essays zu Ausgang des
-sechzehnten Jahrhunderts zurück. In jenen Zeiten, die den unsern
-glichen, ja sie sogar an tragischem Grauen noch übertrafen, schrieb
-inmitten der Kämpfe der Liga der erste Präsident Guillaume du Vair mit
-unerschütterlicher Seele seine erhabenen Dialoge „Über die
-Standhaftigkeit und die Tröstung im allgemeinen Mißgeschick“. Während
-die Belagerung von Paris ihren Höhepunkt erreicht hatte, hielt er in
-seinem Garten Zwiesprache mit seinen Freunden Linus, dem Weitgereisten,
-mit Musée, dem ersten Rektor der medizinischen Fakultät, und dem
-Schriftsteller Orphée. Und den Blick noch erfüllt von den tragischen
-Bildern, die sie auf der Gasse gesehen — arme Menschen, die vor Hunger
-gestorben waren, Frauen, die schrien: die Landsknechte verzehrten im
-Temple ihre Kinder — versuchten sie ihren bedrückten Geist zu jenen
-Höhen zu erheben, von denen man die geistige Welt der Jahrhunderte
-umfängt und das Überdauernde jeder Prüfung sieht. Als ich in den
-Kriegsjahren jene Dialoge überlas, fühlte ich mich mehr als einmal
-diesem guten Franzosen nahe, der schrieb: „Es heißt ein Unrecht an dem
-Menschen begehen, der geschaffen ist, alles zu sehen und alles zu
-erkennen, wenn man ihn an eine einzelne Stelle der Erde bindet. Jedes
-Stück Erde ist Land für den Vernünftigen... Gott hat uns die Erde
-gegeben, daß wir sie alle in Gemeinschaft genießen, freilich mit der
-Pflicht, anständige Menschen zu bleiben...“
-
- R. R.
- P a r i s, Mai 1920
-
-
-
-
- E i n l e i t u n g[A]
-
-Gegenstand dieses Buches ist nicht der Krieg, obzwar der Krieg es
-überschattet. Sein wirkliches Thema ist das Versinken der Einzelseele im
-Abgrund der Massenseele. Und dies ist für mein Empfinden ein für die
-Zukunft der Menschheit viel entscheidenderes Phänomen als die
-vorübergehende Oberherrschaft einer oder der anderen Nation.
-
-Mit Absicht habe ich alle politischen Fragen in den Hintergrund
-gestellt: ihnen steht gesonderte Betrachtung zu. Aber wie immer auch man
-den Ursprung des Krieges begründe, mit welchen Thesen und Gründen man
-ihn erklären möge — keine irdische Rechtfertigung entschuldigt das
-Kapitulieren der Vernunft vor der öffentlichen Meinung.
-
-Die allgemeine Entwicklung zur Demokratie, die von einem abgestorbenen
-Begriff, dem ungeheuerlichen der Staatsräson, gedeckt ist, hat die
-Geistigen Europas verleitet, sich zu dem Glaubensartikel zu bekennen, es
-gäbe für den Menschen kein höheres Ideal, als Diener der Gemeinschaft zu
-sein. Und diese Gemeinschaft nennt man: Staat.
-
-Ich aber scheue mich nicht zu sagen: wer sich zum blinden Diener einer
-so blinden — oder verblendeten — Gemeinschaft erniedrigt, wie es die
-Staaten von heute sind, in denen eine Handvoll Menschen in ihrer
-Unfähigkeit, die Vielfalt der Völker zu begreifen, durch die Lügen der
-Presse, den unerbittlichen Mechanismus des vereinheitlichten
-Staatswesens den Mitmenschen ihre eigenen Narrheiten,
-Leidenschaftlichkeiten und Geschäfte als ihre Gedanken und Taten
-aufzwingt — wer dies tut, der dient nicht in Wahrheit der Gemeinschaft,
-sondern er knechtet und erniedrigt sie mit sich selbst. Wer den anderen
-von Nutzen sein will, muß vorerst frei sein. Auch Liebe ist wertlos,
-solange sie die eines Sklaven ist.
-
-Freie Seelen, starke Charaktere — das tut heute der Welt am meisten
-not! Auf den verschiedensten Wegen — leichenhafte Unterwerfung durch
-die Kirchen, dumpfe Unduldsamkeit der Vaterländer, abstumpfender
-Unitarismus im Sozialismus — kehren wir zur Form des Herdenlebens
-zurück. Nur langsam hat sich der Mensch dem heißen Lehm der Erde
-entrungen. Nun scheint es, als ob seine tausendjährige Anstrengung
-erschöpft sei, und er läßt sich wieder in das Weiche zurücksinken. Die
-Massenseele schluckt ihn auf, der entnervende Atem der Tiefe reißt ihn
-mit sich... Auf darum! Rafft euch zusammen, ihr, die ihr glaubt, daß der
-Kreislauf noch nicht erfüllt sei! Wagt es, euch von der Herde
-abzusondern, die euch fortzieht! Jeder Mensch muß, so er ein wahrer
-Mensch ist, lernen, allein innerhalb aller zu stehen, allein für alle zu
-denken — wenn es nottut, sogar auch gegen alle! Aufrichtig denken heißt
-für alle denken, selbst wenn man gegen alle denkt. Die Menschheit bedarf
-derer, die ihr aus Liebe Schach bieten und sich gegen sie auflehnen,
-wenn es not tut! Nicht indem ihr der Menschheit zuliebe euer Gewissen
-und eure Gedanken fälscht, dient ihr der Menschheit, sondern indem ihr
-ihre Unantastbarkeit gegen gesellschaftlichen Machtmißbrauch verteidigt;
-denn sie sind Organe der Menschheit. Werdet ihr euch untreu, so seid ihr
-untreu gegen sie.
-
- S i e r r e, März 1917
- R. R.
-
------
-
-[A] Diese Einleitung wurde im Dezember 1917 mit einer Episode des Romans
-in Schweizer Zeitungen veröffentlicht. Eine beigegebene Notiz erklärte
-den ursprünglichen Titel des Romans „_L’Un contre Tous_“:
-
-„... Dieser Titel, der sich, nicht ohne Ironie, an jenen La Boëties „_Le
-Contre-Un_“ durch Umkehrung anschließt, möge nicht zur Ansicht
-verleiten, der Autor habe die Anmaßung, e i n e n Menschen der ganzen
-Menschheit entgegenzustellen. Er ruft nur zu dem heute so notwendigen
-Kampf des persönlichen Gewissens gegen die Masse auf.“
-
------
-
-
-
-
- Erster Teil
-
-
-
-
- §
-
-Agénor Clerambault saß im Schatten der Laube seines Gartens von
-Saint-Prix und las seiner Frau und den Kindern seine neue Ode vor, die
-Ode _Ara Pacis Augustae_, die er zu Ehren des Friedens über den Menschen
-und Dingen geschrieben hatte und in der er die nahe Erfüllung der
-Weltbrüderlichkeit verkünden wollte.
-
-Es war ein Juliabend. Auf den Gipfeln der Bäume lag letzter rötlicher
-Schein, und durch den leuchtenden Dunst, der wie ein Schleier über die
-Hügelhänge, die grauen Ebenen und die Ferne geworfen war, flammten die
-Fensterscheiben von Montmartre als goldene Funken. Die Abendmahlzeit war
-eben zu Ende. Clerambault, auf den noch nicht abgeräumten Tisch
-gestützt, ließ im Sprechen seinen Blick voll naiver Freude von einem zum
-anderen seiner drei Zuhörer hinwandern, denn er war sicher, bei ihnen
-einen Widerglanz seiner Zufriedenheit zu finden.
-
-Seine Frau Pauline hatte einige Mühe, dem Flug seiner dichterischen
-Bilder zu folgen: Vorlesen ließ sie immer unaufhaltsam vom dritten Satze
-an in einen Zustand von träumerischer Schläfrigkeit versinken, in dem
-die häuslichen Sorgen einen ganz ungebührlichen Platz einnahmen.
-Gewissermaßen lockte die Stimme des Vorlesenden die Häuslichkeiten
-hervor, sich zu regen, wie Kanarienvögel im Käfig. Vergeblich mühte sie
-sich, auf den Lippen Clerambaults den Worten zu folgen, deren Sinn sie
-nicht mehr wahrnahm, und sie sogar mit den eigenen Lippen
-nachzusprechen. Es half nichts: ihre Augen bemerkten doch unbewußt ein
-Loch im Tischtuch, ihre Hände krümelten die Brotreste auf dem Tisch
-zusammen, ihr Nachdenken beschäftigte sich mit irgendeiner
-widerspenstigen Rechnung, bis dann plötzlich der Blick Clerambaults sie
-zu ertappen schien. Dann klammerte sie sich hastig an die letzte, gerade
-gehörte Silbe und redete sich in eine Begeisterung hinein, indem sie
-irgendein Stück Vers nachstammelte (niemals hatte sie auch nur einen
-Vers ganz richtig zitieren können):
-
-„Wie hast du das gesagt, Agénor? Geh, wiederhole noch einmal diesen
-Satz... Ach, wie das hübsch ist.“
-
-Ihre Tochter, die kleine Rosine, schob die Augenbrauen zusammen, Maxime,
-der große Bursche, zog eine spöttische Grimasse und sagte gereizt:
-
-„Mama, unterbrich doch nicht immer.“
-
-Aber Clerambault lächelte und tätschelte zärtlich die Hand seiner guten
-Frau. Er hatte sie aus Liebe geheiratet, als er sehr jung, arm und
-unbekannt war, sie hatten gemeinsam all die bitteren ersten Jahre
-durchgelebt. Sie stand nicht ganz auf seinem geistigen Niveau, und
-dieser Unterschied milderte sich mit den Jahren durchaus nicht, aber
-Clerambault liebte und respektierte seine alte Gefährtin. Sie gab sich
-mit wenig Erfolg viele Mühe, mit ihrem großen Mann, der ihr Stolz war,
-gleichen Schritt zu halten; er wiederum hatte für sie eine besondere
-Nachsicht. Der kritische Geist war nicht seine Stärke, und er befand
-sich gerade dadurch, trotz zahlreicher Irrtümer in seinen Ansichten, im
-Leben sehr wohl; denn da er sich immer zugunsten der andern irrte, die
-er im schönsten Licht sah, wußten ihm seine Mitmenschen, allerdings mit
-einiger Ironie, reichen Dank dafür. Er störte sie nicht in ihrer wilden
-Jagd nach Erfolg, und seine provinzlerische Reinheit war für die
-Blasierten ein so erfrischendes Schauspiel wie der Anblick eines Stückes
-Grün inmitten eines Pariser Häusergeviertes.
-
-Maxime machte sich ein wenig über diese Schwäche seines Vaters lustig,
-ohne deshalb seinen Wert zu verkennen. Dieser hübsche Bursche von
-neunzehn Jahren hatte mit seinen hellen und lachenden Augen im Pariser
-Milieu rasch die Fähigkeit der geschwinden, klaren und spöttischen
-Beobachtung angenommen, die sich mehr auf die äußeren Nuancen der Dinge
-und Menschen richtet, als auf die Ideen: ihm entging nirgendwo das
-Komische, selbst nicht bei jenen, die er liebte. Aber das geschah ganz
-ohne Böswilligkeit, und Clerambault war der erste, seiner jungen
-Frechheit zuzulächeln. In Wirklichkeit verminderte sie in nichts die
-Verehrung Maximes für seinen Vater, sie war nur gewissermaßen ihre
-Würze: die jungen Burschen müssen ja auch, um den lieben Gott gern haben
-zu können, ihn manchmal am Bart ziehen dürfen!
-
-Rosine blieb still, wie es ihre Art war, und es wäre schwer gewesen,
-ihre Gedanken zu erraten. Sie hörte mit vorgeneigtem Körper, gekreuzten
-Händen und aufgestützten Armen zu. Es gibt Naturen, die zum Empfangen
-geschaffen scheinen wie die schweigende Erde, die sich jedem Korn
-eröffnet: viele, die sich darin versenken, bleiben schlafend, und man
-vermag nicht zu unterscheiden, welche Frucht tragen werden. So war die
-Seele dieses jungen Mädchens. Die Worte des Vorlesenden spiegelten sich
-nicht so sichtlich in ihr, wie in den klugen und beweglichen
-Gesichtszügen Maximes, aber ein leichtes Rot auf ihren Wangen und der
-feuchte Glanz der von den Wimpern überschatteten Augen bezeugten eine
-innere Glut und Verwirrung wie auf jenen Bildern der florentinischen
-Jungfrauen, die das magische Ave des Erzengels erweckt.
-
-Clerambault verkannte sie nicht. Wenn sein Blick den kleinen Kreis der
-Seinen umwanderte, blieb er mit besonderer Freude auf dem blonden
-geneigten Haupte ruhen, das dieser zärtlichen Betrachtung wohl bewußt
-war.
-
-So bildeten die vier an diesem Juliabend einen reinen Ring von
-Zärtlichkeit und Glück, dessen Mittelpunkt der Vater war, das Idol der
-Familie.
-
- §
-
-Er wußte, wer er war, und seltsamerweise machte dieses Wissen um sich
-ihn nicht antipathisch. Er hatte so viel Freude daran, zu lieben, hatte
-so viel Zärtlichkeit für alle in Nähe und Ferne ständig bereit, daß er
-es nur natürlich fand, wenn man ihm diese Liebe zurückgab. Eigentlich
-war er ein großes Kind. Seit kurzem zur Berühmtheit gelangt, nach einem
-Leben von keineswegs goldener Mittelmäßigkeit, hatte er an jener
-vergangenen Zeit zwar nicht gelitten, aber die neue, die hellere, tat
-ihm wohl, und er genoß sie. Daß er das fünfzigste Jahr überschritten
-hatte, sah man ihm kaum an. Zwar glänzten schon einige weiße Haare in
-seinem dicken, blonden, gallischen Schnurrbart, aber sein Herz war jung
-geblieben mit seinen Kindern. Statt mit dem Strom seiner Generation zu
-gehen, gab er sich jeder neuen Welle hin, das Schönste des Lebens schien
-ihm im leidenschaftlichen Schwung seiner Erneuerung mit jeder neuen
-Jugend zu bestehen, und er kümmerte sich nicht um die Gegensätze, mit
-denen immer die neue Jugend sich gegen die frühere stellt, denn diese
-Gegensätze lösten sich ganz auf in seinem mehr enthusiastischen als
-logischen Gefühl, das überall Schönheit sah und immer von ihr trunken
-war. Dazu kam noch ein besonderes Bestreben nach Güte, das zwar nicht
-recht mit seinem ästhetischen Pantheismus zusammenstimmte, aber das
-seinem eigensten tiefsten Wesen entsprang.
-
-Er hatte sich zum Wortführer aller edlen und menschlichen Ideen gemacht,
-sympathisierte mit den radikalsten Parteien, den Arbeitern, den
-Unterdrückten, dem Volke — das er übrigens nicht kannte, denn er war
-ein reiner Bourgeois, voll von humanen und verschwommenen Ideen. Noch
-mehr als das Volk vergötterte er die Menge, er liebte sich in ihr zu
-baden, er genoß es als höchstes Glück, sich in der Gesamtseele
-aufzulösen (wenigstens glaubte er es von sich). Diese letzte Neigung war
-nun allerdings eine ziemlich verbreitete unter den Intellektuellen von
-damals, die Mode unterstrich hier, wie gewöhnlich, nur einen besonders
-ausgeprägten Zug des Zeitgefühls. Die Menschheit entwickelte sich in
-dieser Epoche immer bewußter dem Ideal eines Ameisenhaufens entgegen,
-und selbstverständlich drückten die empfindsamsten Wesen, die Künstler
-und die Intellektuellen, als erste die Symptome dieser Entwicklung aus.
-In ihrer Neigung erblickte man zunächst ein bloßes Spiel und verkannte
-den Gesamtzustand, für den diese Symptome nur das Merkzeichen waren.
-
-Die demokratische Entwicklung der Welt seit vierzig Jahren hatte viel
-weniger in der Politik die Herrschaft des Volkes verwirklicht, als in
-der Gesellschaft den Triumph der Mittelmäßigkeit. Gegen diese
-Nivellierung des Geistigen hatte im ersten Augenblick die Elite der
-Künstler ganz richtig reagiert. Aber zu schwach, um gegen sie
-anzukämpfen, hatte sie sich mit bewußter Übersteigerung ihrer Verachtung
-und ihrer Isolierung in das Abseits zurückgezogen: sie predigte eine
-seltene, eine artistische Kunst, die unzugänglich blieb für die Masse
-und nur aufgetan für Eingeweihte. Nun gibt es nichts Fruchtbareres als
-die Flucht in die Einsamkeit, wenn man in sie ein vollwirkendes
-Gewissen, einen Überfluß des Gefühls, eine strömende Seele mit bringt.
-Aber welch ein Abstand zwischen diesen literarischen Cenaclen des
-neunzehnten Jahrhunderts und jenen fruchtbaren Eremitagen, in die sich
-die mächtigen Gedanken einstens flüchteten! Diese neuen Abseitigen waren
-mehr damit beschäftigt, ihr geistiges Kleingeld aufzuzehren statt es zu
-erneuern; um es rein zu erhalten, hatten sie die Münze aus dem
-allgemeinen Umlauf gezogen, was zur Folge hatte, daß sie bald jeden Wert
-verlor. Das Leben der Gesamtheit ging an ihnen vorbei, ohne sich um sie
-zu kümmern, die Kaste dieser Künstler wurde siech und bleichsüchtig bei
-ihren raffinierten Spielen. Gewaltige Windstöße zur Zeit der
-Dreyfus-Krise entrissen einige Stärkere unter ihnen der Erstarrung, und
-kaum daß sie aus ihrem Orchideengarten ins Freie traten, berauschte sie
-der Wind der Welt. Mit ebensolcher Übertreibung, wie ihre Vorgänger sie
-an die Abseitigkeit von der Menge wandten, stürzten sie sich in die
-große vorüberströmende Flut. Sie glaubten, daß das Volk das Heil sei,
-das Gute, das Wahre, das Schöne, und trotz aller Enttäuschungen, die sie
-bei ihren vergeblichen Versuchen der Annäherung erlebten, inaugurierten
-sie eine neue Strömung in der europäischen Kunst und im europäischen
-Geistesleben. Sie setzten ihren Stolz darein, sich Interpreten der
-Massenseele zu nennen, in Wirklichkeit aber waren es nicht sie, die
-eroberten, sondern die erobert wurden. Die Massenseele hatte Bresche
-geschossen in den Elfenbeinturm, und die matten Persönlichkeiten der
-Denker kapitulierten; um vor sich selbst ihre Abdankung zu verbergen,
-nannten sie sie eine freiwillige Hingabe. In ihrem Bedürfnis, sich
-selbst zu überzeugen, fabrizierten ihre Philosophen und Ästheten eigene
-Theorien, die als Gesetz beweisen sollten, daß man sich dem
-allgewaltigen Leben hingeben sollte, statt es zu lenken oder auch nur
-bescheiden seinen eigenen braven Weg gelassen hinzugehen. Man trieb
-einen Kult damit, nicht mehr sein eigenes Ich zu sein, keine eigene
-Vernunft, keinen eigenen individuellen Willen mehr zu haben (die
-Freiheit galt diesen Demokratien als alte abgetane Sache), man prahlte
-damit, nur mehr ein Blutkügelchen in den Adern des blind dahinwirkenden
-Stromes zu sein — die einen sagten, des Stromes der Rasse, die andern,
-des Stromes des Instinkts oder des universellen Lebens. Und diese
-ansprechenden Theorien, aus denen die Geschickteren in der Kunst und
-Philosophie ihr Teil zu ziehen wußten, standen 1914 in schönster Blüte.
-
-Sie hatten auch ganz das Herz des naiven Clerambault gewonnen. Nichts
-paßte besser zu seinem zärtlichen Herzen und zu seiner geistigen
-Unsicherheit, denn für den, der sich nicht selbst besitzt, ist es
-leicht, sich hinzugeben; den andern, dem All, der Vorsehung, dieser
-unbekannten und undefinierbaren Macht, lädt man die ganze Last auf, für
-einen zu denken und für einen zu wollen. Der große Strom zog vorbei, und
-die trägen Seelen, statt ihren Weg selbst am Ufer hinzuziehen, fanden es
-viel einfacher und viel berauschender, sich einfach von ihm tragen zu
-lassen... Wohin?... Darüber nachzudenken, mühte sich keiner ab. Schön im
-Warmen in ihrem Okzident, kamen sie niemals auf die Idee, daß die
-Zivilisation einmal alle ihre Errungenschaften auch verlieren könne. Der
-Gang des Fortschritts schien ihnen ebenso selbstverständlich wie die
-Umdrehung der Erde, denn diese Überzeugung erlaubte ihnen ja, ruhig
-zuzusehen und mit gekreuzten Armen alles geschehen zu lassen. Man gab
-sich dem Schicksal einfach hin, das unterdessen den Abgrund höhlte und
-sie unten erwartete.
-
-Aber als guter Idealist sah Clerambault selten auf seine Füße. Das
-hinderte ihn zwar nicht, sich blindlings in die Politik zu mengen, wie
-es ja die Leidenschaft der Literaten zu jener Zeit war. Er gab gern
-seinen Senf dazu, wenn ihn Journalisten, die gerade ein paar Spalten
-brauchten, darum angingen, und ging ganz ernsthaft mit aufrichtigem
-Wichtigkeitsgefühl in ihre Netze. Im ganzen ein guter Dichter und guter
-Mensch, gescheit und zugleich ein wenig beschränkt, ein reines Herz und
-schwacher Charakter, der Bewunderung und dem Tadel sowie allen
-Einflüsterungen seines Milieus zugänglich, zwar unfähig zu irgendeinem
-häßlichen Gefühl des Neides und des Hasses, unfähig aber auch, es bei
-andern zu vermuten, kurzsichtig für das Böse, weitsichtig für das Gute
-im Chaos der menschlichen Gefühle, war er so recht der Typus eines
-Schriftstellers, der geschaffen ist, den Lesern zu gefallen, weil er
-ihre Fehler übersieht und ihre kleinen Tugenden verschönt. Denn selbst
-diejenigen, die nicht darauf hineinfallen, sind solchen Schriftstellern
-dankbar, denn man will das scheinen, was man nicht ist, und liebt die
-Welt von Augen gesehen, in denen das Mittelmäßige des Lebens schön wird.
-
-Diese allgemeine Sympathie, die Clerambault beglückte, war nicht minder
-schön für die drei Menschen zu genießen, die in diesem Augenblick bei
-ihm weilten. Sie waren stolz auf ihn, als wäre er ihr Werk, denn was man
-bewundert, ist immer ein wenig so, als hätte man es selbst getan. Und
-wenn man dazu noch einem solchen Mann, einem so verehrten Wesen
-zugehört, von seinem eigenen Blute ist, dann unterscheidet man nicht
-mehr genau, inwieweit man von ihm stammt oder er von einem. Die beiden
-Kinder und die Frau Agénor Clerambaults betrachteten ihren großen Mann
-mit den zärtlichen und zufriedenen Augen des Besitzers, und er, der sie
-mit seinem glühenden Wort und seinem hohen Wuchs mit den ein wenig
-erhobenen Schultern überragte, ließ es ruhig geschehen. Er wußte, daß
-der Besitz Herr des Besitzers ist.
-
- §
-
-Clerambault endete seine Vorlesung mit einer Schillerschen Vision der
-nahenden brüderlichen Menschheitsfreude. Maxime, trotz seiner Ironie von
-Enthusiasmus hingerissen, brach in Beifall zu Ehren des Dichters aus und
-trommelte allein seinen begeisterten Applaus. Pauline erkundigte sich
-geräuschvoll, ob Agénor sich beim Sprechen nicht zu sehr erhitzt habe.
-Rosine, die einzig Schweigsame in der allgemeinen Erregung, legte
-heimlich die Lippen auf die Hand des Vaters.
-
-Das Dienstmädchen brachte die Post und die Abendblätter. Keiner hatte
-Eile, sie zu lesen. Im Augenblick, da sie aus so strahlender
-Zukunftswelt traten, schienen ihnen die Nachrichten aus dem irdischen
-Tag nicht sehr eilig; dennoch löste Maxime die Schleife von dem großen
-bürgerlichen Tagesblatt, überlas mit einem Blick die vier gedrängten
-Seiten und rief, die letzten Nachrichten überfliegend: „Donnerwetter, es
-gibt Krieg!“
-
-Keiner hörte auf ihn. Clerambault wiegte sich in den letzten
-Schwingungen seiner verflogenen Worte, Rosine war in stiller
-Begeisterung. Nur die Mutter, deren Denken auf nichts dauernd achtgeben
-konnte und wie eine Fliege nach allen Richtungen hinflatterte, um auf
-gut Glück etwas aufzulesen, hörte das letzte Wort und sagte erregt:
-
-„Maxime, sag’ doch keine Dummheiten.“
-
-Maxime protestierte und zeigte in der Zeitung die Kriegserklärung
-Österreichs an Serbien.
-
-„An wen?“
-
-„An Serbien.“
-
-„Ach so“, atmete die gute Frau erleichtert auf, als ob sie sagen wollte:
-„Was da droben im Mond vorgeht...“
-
-Aber Maxime gab nicht nach und bewies — _doctus cum libro_ — daß im
-nächsten Augenblick dieser ferne Brand den Funken ins Pulverfaß werfen
-könnte. Clerambault, der langsam aus seinem angenehmen Mattigkeitsgefühl
-zu erwachen begann, erklärte sofort, daß nichts geschehen werde.
-
-„Ein Bluff, so wie man schon Dutzende seit dreißig Jahren im Frühjahr
-und im Sommer gesehen hat... Eisenfresser, die mit dem Säbel klirren...
-Keiner glaubt an den Krieg, keiner will ihn... Ein Weltkrieg ist ja
-unmöglich, das ist heute genug bewiesen. Er ist nicht mehr als ein
-Schreckgespenst, und man sollte es endlich aus dem Gehirn der freien
-Demokratien austreiben.“
-
-Und Clerambault verbreitete sich in ausführlichen Worten über das
-Thema...
-
-Die Nacht war still, sanft und vertraulich. In den Feldern zirpten die
-Grillen, ein Glühwürmchen leuchtete im Gras, ferne donnerte leise ein
-Zug. Die Glyzinen dufteten, ein Springbrunnen tropfte murmelnd nieder,
-und vor dem mondlosen Himmel drehte sich der Scheinwerfer vom
-Eiffelturm.
-
-Die beiden Frauen gingen in das Haus zurück. Maxime, müde vom langen
-Sitzen, lief im Garten mit seinem jungen Hunde um die Wette, durch die
-offenen Fenster hörte man, wie Rosine am Klavier mit zurückhaltendem
-Gefühl Schumann spielte. Clerambault, allein zurückgeblieben,
-langhingestreckt in seinen Strohsessel, atmete, voll Glück zu leben und
-Mensch zu sein, mit dankbarem Herzen die Güte dieser Sommernacht.
-
- §
-
-Sechs Tage später.
-
-Clerambault hatte den Nachmittag im Walde verbracht. Wie der Mönch in
-der Legende konnte er, am Fuße einer Eiche hingelehnt, dem Vogelsang mit
-offenem Mund lauschend, ein Jahrhundert wie einen Tag hinrinnen lassen.
-Erst als es Abend wurde, entschloß er sich heimzukehren. Im Eingang trat
-Maxime, ein wenig blaß und gezwungen lächelnd, auf ihn zu und sagte:
-
-„Papa, es geht los.“
-
-Er erzählte ihm die letzten Neuigkeiten: Die russische Mobilisation, den
-Kriegszustand in Deutschland. Clerambault sah ihn an, ohne ihn zu
-verstehen. Seine Gedanken waren so weit weg von diesen traurigen
-Torheiten! Er versuchte, die Tatsachen abzustreiten, aber sie waren
-unwiderleglich. Alle setzten sich zu Tisch. Aber Clerambault konnte
-nichts essen.
-
-Er suchte nach Vernunftgründen, um die Folgen dieser beiden
-verbrecherischen Handlungen zu entwerten: das richtige Gefühl der
-öffentlichen Meinung, die guten Absichten der Regierungen, die so oft
-wiederholte Ankündigung der sozialistischen Partei, die entschlossenen
-Worte Jaurès’. Maxime ließ ihn ruhig reden, seine Gedanken waren ganz wo
-anders: wie sein junger Hund mit gespitztem Ohr horchte er hinaus auf
-jede Regung der Nacht... Und es war eine so reine, eine so zärtliche
-Nacht. Alle, die diese letzten Abende im Juli 1914 und jenen noch
-schöneren des 1. August erlebt haben, bewahren in ihrer Erinnerung den
-wunderbaren Glanz der Natur, die mit ihren zärtlichen Armen und einem
-schönen Lächeln des Mitleids die unselige Menschheit umfing, die damals
-schon bereit war, sich gegenseitig zu zerreißen.
-
-Es war schon fast zehn Uhr. Clerambault hatte aufgehört zu sprechen. Sie
-schwiegen alle mit schwerem Herzen, irgendwie beschäftigt oder bemüht es
-zu scheinen, die Frauen mit einer Handarbeit, Clerambault mit einem
-Buche, das er aber nur mit den Augen überflog. Maxime war auf die
-Terasse getreten und rauchte. An die Rampe gelehnt, sah er auf den
-schlafenden Garten und die magische Welle von Mondlicht im Dunkel der
-Alleen.
-
-Das Läuten des Telephons ließ sie alle aufschrecken. Man verlangte
-Clerambault. Er ging mit schweren Schritten, bedrückt und zerstreut, zum
-Apparat. Anfangs verstand er nicht.
-
-„Wer spricht?... Ach, Sie sind’s, lieber Freund?...“ (Ein Pariser
-Kollege telephonierte ihm aus der Redaktion seines Blattes.)
-
-Clerambault verstand noch immer nicht:
-
-„Ich verstehe nicht... Jaurès?... wirklich Jaurès?... O mein Gott...!“
-
-Maxime, der, von einer geheimen Ahnung getrieben, von fern dem Gespräche
-zuhörte, stürzte an den Apparat, um das Hörrohr aus der Hand des Vaters
-zu nehmen, das Clerambault mit einer verzweifelten Geste hatte sinken
-lassen.
-
-„Hallo! Hallo!... Was sagen Sie? Jaurès ermordet...!“
-
-Ausrufe der Trauer und des Zornes antworteten sich durch den Draht.
-Maxime ließ sich die Details sagen, die er mit geknickter Stimme den
-Seinen wiederholte. Rosine hatte Clerambault an den Tisch zurückgeführt.
-Wie zerbrochen setzte er sich hin. Der Schatten eines ungeheuren
-Unglücks lastete wie das antike Schicksal über dem Hause. Es war nicht
-nur der Freund, dessen Hingang das Herz bedrängte — sein gutes,
-heiteres Antlitz, seine herzliche Hand, die Stimme, die alles Trübe
-hinwegfegte... es war Trauer auch um die letzte Hoffnung der bedrohten
-Völker, um den einzigen Mann, der (sie glaubten es wenigstens mit
-kindlichem und rührendem Vertrauen) den drohenden Sturm hätte
-beschwichtigen können. Nun, da er gefallen war, stürzte, gleichsam als
-ob Atlas der Träger hingesunken wäre, der Himmel ein.
-
-Maxime lief an den Bahnhof. Er wollte Neuigkeiten von Paris holen und
-versprach, noch in der Nacht zurück zu sein. Clerambault blieb im
-einsamen Haus zurück, aus dem man von fern die große Lichtausstrahlung
-der Stadt sehen konnte. Er hatte sich nicht von dem Sessel gerührt, in
-den er in einem Zustand von Starre gesunken war. Die Katastrophe war
-unterwegs, jetzt gab es keinen Zweifel mehr, sie war schon da. Seine
-Frau versuchte ihn zu veranlassen, schlafen zu gehen, er wollte nichts
-davon hören. Seine Lebensidee war in Trümmer, nichts Festes, nichts
-Sicheres konnte er mehr unterscheiden, keine Ordnung machen, keinem
-Gedanken folgen. Sein inneres Haus war eingestürzt, und inmitten des
-Staubes, der sich aus dem Schutt erhob, vermochte er nicht zu erkennen,
-was noch aufrechtgeblieben, und es schien ihm: nichts! Ungeheuerliche
-Massen von Leiden — das war alles. Und Clerambault betrachtete sie mit
-stumpfem Blick, ohne die Tränen zu fühlen, die über seine Wangen
-herabrollten.
-
-Maxime kam nicht zurück. Die Aufregung von Paris hatte ihn gepackt. Um
-ein Uhr nachts kam Frau Clerambault, die sich schon schlafen gelegt
-hatte, ihren Mann holen, und es gelang ihr, ihn in ihr gemeinsames
-Schlafzimmer zu führen. Er legte sich sofort zu Bett. Aber kaum, daß
-Pauline eingeschlafen war (die Unruhe hatte sie müde gemacht), stand er
-wieder vom Bette auf und kehrte in das Nachbarzimmer zurück. Er stöhnte,
-er seufzte, seine Qual war so drückend und dicht, daß sie ihm keinen
-Raum zum Atmen ließ. Mit dem prophetisch überreizten Gefühl des
-Künstlers, der oft deutlicher das Kommende als das Gegenwärtige sieht,
-umfing er alles, was geschehen würde, mit erschreckten Blicken und
-gekreuzigtem Herzen. Dieser unvermeidliche Krieg zwischen den größten
-Völkern der Welt schien ihm der Bankbruch der Zivilisation, Vernichtung
-seiner heiligsten Hoffnung auf die menschliche Brüderlichkeit. Mit
-Entsetzen erfüllte ihn die Vision dieser tollen Menschlichkeit, die ihre
-kostbarsten Schätze, ihre Kräfte, ihr Genie, ihre höchsten Werte dem
-bestialischen Götzen des Krieges hinopferte. Ein moralisches Sterben war
-es für ihn, eine schmerzhafte Gemeinschaft mit den Millionen
-Unglücklicher. Wozu also, wozu die Mühe von Jahrhunderten! Die Leere
-erdrückte ihm das Herz. Er fühlte, daß er nicht mehr leben könne, wenn
-sein Glauben an die menschliche Vernunft und die gegenseitige Liebe
-zerstört würde, wenn er zugeben müßte, daß sein Credo des Lebens und der
-Kunst, daß all sein Hoffen ein Irrtum und die wahre Lösung des
-Welträtsels ein dumpfer Pessimismus sei, und er fühlte sich zu schwach,
-zu feige, dieser Wahrheit in das Gesicht zu sehen. Voller Grauen wendete
-er die Augen ab. Aber das Ungetüm war da und fauchte ihm ins Gesicht.
-Und Clerambault betete — er wußte nicht zu wem, und nicht, um was —
-daß es nicht geschehen möge, daß es nicht wahr sei. Alles lieber als
-eine solche Wahrheit! Doch die mörderische Wirklichkeit stand hinter der
-Tür, die sich auftat. Clerambault kämpfte die ganze Nacht, um ihr den
-Eingang zu sperren...
-
-Am Morgen aber begann allmählich irgendein Urinstinkt in ihm zu keimen,
-der aus einer unbekannten Tiefe kam und die Verzweiflung abzulenken
-suchte in das dumpfe Verlangen, eine genaue und sichere Ursache für
-dieses Unglück zu finden, sie in irgendeinem Menschen oder einer Gruppe
-von Menschen festzustellen und dann auf diese den ganzen Zorn über das
-Unglück der Menschheit zu entladen... Nur ein kurzes Aufflammen war es,
-aber dennoch schon erste ferne Ausstrahlung einer fremden, dunkeln,
-gewalttätigen und finsteren Seele, die in ihn eindringen wollte — der
-Massenseele...
-
-Sie nahm deutlichere Formen mit der Ankunft Maximes an, der von ihrem
-Dunst durchdrungen war, den er in der Nacht in den Straßen von Paris
-eingesogen. Alle Falten seiner Kleider, jedes Haar seines Körpers war
-davon durchdrungen. Überreizt, exaltiert, wollte er sich nicht
-niedersetzen, er dachte nur daran schon abzureisen. Heute würde ja das
-Mobilisationsdekret erscheinen. Der Krieg war sicher, er war notwendig.
-Er war eine Wohltat. Man mußte einmal Schluß machen. Die Zukunft der
-Menschheit stand auf dem Spiel, die Freiheit der ganzen Welt war
-bedroht. Sie hatten die Ermordung Jaurès ausgedacht, um das überfallene
-Vaterland uneinig zu machen und zu revolutionieren, aber die ganze
-Nation stand wie ein Mann hinter den Führern. Die herrlichen Tage der
-großen Revolution würden sich erneuern... Clerambault widersprach keiner
-Behauptung, kaum, daß er sagte:
-
-„Meinst du? Bist du wirklich sicher?“
-
-Aber es war gleichsam eine geheime Bitte, Maxime möchte ja sagen und
-noch mehr sagen. Die neuen Nachrichten vermehrten das Chaos noch und
-trieben es zum Äußersten. Aber gleichzeitig begannen sich die verstörten
-Geisteskräfte auf einen bestimmten Punkt hin zu ordnen. Es war wie das
-erste Bellen des Hundes, auf das hin sich die Herde zusammenrottet.
-
-Clerambault hatte nur mehr ein Verlangen: sich der Herde anzuschließen,
-sich zu reiben an den Menschenwesen, seinen Brüdern, so wie sie zu
-fühlen, so wie sie zu handeln. Obwohl er vom vorigen Abend noch
-erschöpft war, ging er trotz des Protestes seiner Frau mit Maxime fort,
-um den Zug nach Paris zu nehmen. Sie mußten lange am Bahnhof, lange im
-Zuge warten. Die Geleise waren verstellt und die Waggons überfüllt. In
-der allgemeinen Erregung fanden die Clerambaults eine gewisse
-Entlastung. Er fragte, er hörte zu: Alle verbrüderten sich, und alle,
-ohne zu wissen, was sie dachten, wußten, daß sie dasselbe dachten: daß
-dasselbe Rätsel, dieselbe Qual sie bedrohte. Aber man war nicht mehr
-allein, um ihrer Herr zu werden oder ihr zu unterliegen, und das
-beruhigte, das erleichterte ein wenig. Sie fühlten alle die gegenseitige
-Wärme. Es gab keinen Unterschied der Klassen mehr, keine Bürger und
-Arbeiter, man sah nicht auf die Kleider und Hände, man sah sich nur in
-die Augen, wo dieselbe Flamme des Lebens leuchtete, wo derselbe Schauer
-des Todes schattete. Und alle diese armen Leute waren so sichtlich den
-Ursachen der Katastrophe fremd, daß das Gefühl ihrer Unschuld sie ganz
-einfältig zwang, den Schuldigen anderswo zu suchen. Auch das war eine
-Wohltat, eine Erleichterung für ihr Gewissen.
-
-Als Clerambault in Paris ankam, atmete er leichter; statt der Todesqual
-der vergangenen Nacht fühlte er eine stoische und männliche Melancholie.
-
-Aber er stand erst vor der ersten Stufe.
-
- §
-
-Das Dekret der allgemeinen Einrückung war soeben an die Türen der
-Gemeindehäuser angeschlagen worden. Schweigend lasen es die Leute, lasen
-es noch einmal und gingen, ohne ein Wort zu sagen, weiter. Nach der
-angstvollen Erwartung der vorhergehenden Tage, in denen sich die Menge
-um die Zeitungskioske drängte, die Leute auf den Steinen saßen, um die
-Stunde der Zeitungsausgabe zu erwarten, um sich, wenn die Blätter
-endlich ankamen, auf sie zu stürzen, war dies endlich Gewißheit, und sie
-bedeutete eine Entspannung. Das ungewisse Unheil, das man kommen fühlt,
-ohne zu wissen, wann und woher, regt auf. Aber sobald es einmal da ist,
-atmet man freier, sieht ihm ins Antlitz und streift sich die Hemdärmel
-auf zum Kampf. Es gab einige Stunden mächtiger Sammlung, Paris hatte
-wieder seinen Atem und rüstete seine Fäuste. Und dann: alles, was die
-einzelnen Seelen zum Ersticken schwellte, stieß jetzt ins Freie. Die
-Häuser leerten sich, und in den Straßen flutete ein Menschenstrom,
-dessen Tropfen sich suchten, um sich zu vereinigen.
-
-Clerambault stürzte mitten hinein und wurde aufgetrunken mit einem
-einzigen Schluck, kaum daß er aus dem Bahnhof getreten war und den Fuß
-auf das Pflaster gesetzt hatte, ohne daß irgendein Wort fiel, ohne
-Geste, ohne Zufall. Die ernste Begeisterung des Stromes rauschte auch in
-ihm. Noch war dies große Volk frei von Gewalttätigkeit. Es wußte sich
-(oder glaubte sich) unschuldig, seine Millionen Herzen glühten in dieser
-ersten Stunde, wo der Krieg noch jungfräulich war, von Ernst und
-heiligem Enthusiasmus. In diese ruhige und stolze Trunkenheit mengte
-sich das Gefühl des erlittenen Unrechts, der berechtigte Stolz auf die
-eigene Kraft, auf die Opfer, zu denen es bereit war, mengte sich das
-Mitleid mit sich selbst, das Mitleid mit den anderen, die ein Stück
-seiner selbst geworden waren. Brüder, Kinder, Geliebte, alle waren sie
-aneinander, Leib an Leib, gepreßt, zusammengepreßt durch die
-übermenschliche Umklammerung, und sie fühlten das Bewußtsein des
-Riesenkörpers, der ihre Einheit bildete, und die Erscheinung des
-Phantoms über ihren Häuptern, das der Sinn dieser Einheit war — das
-Vaterland. Halb Tier, halb Gott, wie die ägyptische Sphinx oder der
-assyrische Stier — aber in jenem Augenblicke sah jeder nur seine
-leuchtenden Augen, seine Pranken waren verborgen. Es war das göttliche
-Untier, in dem jeder Lebendige sich vervielfältigt fand, die mörderische
-Unsterblichkeit, denn die, die sterben sollten, glaubten, daß sie in ihr
-weiter leben würden, ein anderes, gesteigertes, von Ruhm umwölktes
-Leben. Seine unsichtbare Gegenwart strömte in der Luft wie Wein, und
-jeder brachte in die Kufe der großen Weinlese seinen Korb, seine Frucht,
-seine Rebe, seine Ideen, seine Leidenschaften, seine Hingabe, seinen
-Vorteil. Es gab wohl viel widerliches Gewürm in den Trauben, viel
-Schmutz unter den Winzerschuhen, die sie traten, aber der Wein glühte
-wie Rubin und ließ das Herz erglühen. Clerambault trank davon bis zum
-Übermaß.
-
-In Wirklichkeit wurde er davon nicht verwandelt, seine Seele nicht
-verändert. Sie vergaß sich nur. Kaum, daß er mit sich allein war, fand
-er sie wieder zurück, stöhnend unter ihrer Qual wie von einer Wunde.
-Darum ließ ihn auch sein Instinkt das Alleinsein fliehen. Er versteifte
-sich darauf, nicht nach Saint-Prix zurückzukehren, wo die Familie sonst
-gewöhnlich die Sommermonate verbrachte, sondern schlug seine Wohnung
-wieder in Paris auf, im fünften Stock der Rue d’Assas. Er wollte nicht
-einmal eine Woche warten, nicht einmal zurückkehren und bei der
-Übersiedlung helfen, so sehr brauchte er diese tierische Wärme, die von
-Paris aufstieg und die bis in seine Fenster hinein drang. Jede
-Gelegenheit war ihm willkommen, um sich in den warmen Strom
-hineinzustürzen, auf die Straße hinabzusteigen, sich den Gruppen
-anzuschließen, den Manifestationen zu folgen und sich auf gut Glück alle
-Zeitungen zu kaufen, die er sonst in gewöhnlichen Zeiten verachtet
-hatte. Wenn er dann zurückkam, spürte er sich immer mehr entpersönlicht,
-mehr unempfindlich geworden für alles, was in seiner wahren Tiefe
-vorging, entwöhnt seinem eigenen Gewissen, fremd seinem inneren Haus —
-seinem Ich. Und deshalb fühlte er sich auf der Gasse wohler als daheim.
-
- §
-
-Frau Clerambault war mit ihrer Tochter nach Paris zurückgekehrt. Gleich
-am ersten Abend nach ihrer Ankunft nahm Clerambault Rosine auf die
-Boulevards mit.
-
-Die feierliche Glut der ersten Tage war vorbei. Der Krieg hatte
-begonnen, die Wahrheit war geknebelt, und die große Lügnerin, die
-Presse, schüttete auf die Nationen, die mit offenem Maul zu ihr
-aufstarrten, mit vollem Schwung den Alkohol kurzlebiger Siege und
-vergifteter Berichte. Paris war beflaggt wie für einen Festtag. Vom Dach
-bis zur Schwelle standen die Häuser mit den drei Farben geschmückt, in
-den Arbeiterstraßen trug jedes Mansardenfenster ein kleines Fähnchen für
-einen Sou wie eine Blume am Hut.
-
-An der Ecke Faubourg Montmartre begegneten sie einem seltsamen Zug.
-Vorne marschierte ein großgewachsener Greis mit weißem Bart, ein Banner
-in der Hand. Er ging mit großen, geschmeidigen und rhythmisch
-abgehackten Schritten, als ob er springen oder tanzen wollte. Seine
-Rockschöße schlugen hin und her im Wind. Hinter ihm marschierte eine
-kompakte, unbestimmbare, brüllende Masse, Arbeiter und Bürger, Arm in
-Arm, ein Mädel wurde hoch auf den Schultern getragen, ein roter
-Dirnenschopf zwischen der Mütze eines Chauffeurs und dem Käppi eines
-Soldaten. Alle gingen sie, die Brust herausgestemmt, das Kinn gehoben,
-den Mund weit aufgerissen, schwarze Löcher, aus denen die Marseillaise
-dröhnte. Rechts und links flankierten verdächtige Gesichter vom
-Bürgersteig den Zug, bereit, jeden Vorübergehenden zu insultieren, der
-zerstreut die Fahne zu grüßen vergessen hatte. Rosine sah mit Entsetzen,
-wie ihr Vater barhaupt und singend sich dem Zuge anschloß; lachend und
-laut sprechend zog er seine junge Tochter am Arme mit sich, ohne den
-Druck der erschreckten Hand zu spüren, die ihn vergebens zurückzuziehen
-versuchte.
-
-Heimgekehrt, blieb Clerambault gesprächig und aufgeregt. Er sprach ganze
-Stunden hindurch. Die beiden Frauen hörten ihm geduldig zu. Frau
-Clerambault gab wie gewöhnlich nicht recht acht und sagte zu allem ja.
-Rosine hörte zu, aber sie sagte kein Wort; nur heimlich warf sie von
-Zeit zu Zeit einen Blick auf ihren Vater, und dieser Blick war wie ein
-tiefer Weiher, der langsam gefriert.
-
-Clerambault begeisterte sich immer mehr. Im tiefsten Grunde war er noch
-gar nicht begeistert, aber er mühte sich mit leidenschaftlicher
-Gewissenhaftigkeit, es zu werden. Es blieb ihm aber immer noch genug
-Hellsichtigkeit übrig, um manchmal über die Fortschritte seiner
-Begeisterung zu erschrecken. Der Künstler ist durch seine Sensibilität
-mehr als ein anderer allen von außen kommenden Erregungen preisgegeben,
-aber er hat auch, um ihnen zu widerstehen, Gegenkräfte, die jenen
-anderen fehlen. Selbst der Unbesonnenste unter ihnen, selbst jener, der
-sich seinem lyrischen Aufschwung ganz hingibt, besitzt mehr oder minder
-eine Fähigkeit der Einsicht, von der Gebrauch zu machen ihm selbst
-anheimgegeben bleibt. Verzichtet er darauf, so ist es Mangel an Willen
-und nicht an Kraft: dann hat er Angst, sich von zu nahe zu sehen, ein
-Bild zu finden, das ihm vielleicht nicht schmeichelhaft erschiene.
-Menschen aber, die wie Clerambault statt psychologischer Begabung nur
-die Fähigkeit der Aufrichtigkeit haben, waren hinlänglich geschützt, um
-ihre Ekstasen überwachen zu können.
-
-Eines Tages, als er allein spazieren ging, sah er auf der anderen Seite
-der Straße einen Zusammenlauf. Menschen drängten sich um eine
-Kaffeehausterrasse. Vollkommen ruhig ging er über die Gasse hinüber; auf
-dem anderen Trottoir kam er in ein wildes Getümmel, das rings um einen
-unsichtbaren Punkt wogte. Er hatte einige Mühe, sich in den Wirbel
-hineinzudrängen. Aber kaum daß er innerhalb dieses Mühlrades war, so
-wurde er selbst ein Teil seiner kreisenden Felge; noch vollkommen
-bewußt, bemerkte er, daß seine Vernunft sich mit ihm zu drehen beginne.
-Inmitten des wirbelnden Kreises sah er einen Mann, der sich verteidigte,
-und ehe er noch den Grund des Wutausbruches der Menge kannte, fühlte er
-selbst schon diese Wut. Er wußte nicht, ob es sich um einen Spion
-handelte oder um einen unvorsichtigen Schwätzer, der die
-Volksleidenschaft aufgeregt hatte. Aber man schrie rings um ihn her, und
-er merkte, daß... ja, daß er selbst, Clerambault, plötzlich schrie:
-
-„Schlagt ihn nieder!“
-
-Ein Rückstrom der Menge stieß ihn vom Trottoir zurück, ein Wagen drängte
-ihn einen Augenblick von dem Knäuel, und als er den Weg wieder frei
-fand, entfernte sich schon die Meute mit ihrem Opfer. Clerambault sah
-ihnen nach und hörte noch den Ton seiner eigenen Stimme. Er kehrte um
-und ging heim. Aber er war nicht sehr stolz auf sich...
-
-Von diesem Tage an ging er seltener aus. Er mißtraute sich. In seinem
-Zimmer aber fuhr er fort, diese Trunkenheit bewußt zu nähren. An seinem
-Arbeitstisch glaubte er sich in Sicherheit. Doch er kannte noch nicht
-die Ansteckungsgefahr dieser Seuche; sie gleitet durch die Fenster,
-durch die Türritzen, durch das bedruckte Papier, durch die Luft, durch
-die Gedanken. Die Feinfühlendsten spüren sie schon, bevor sie etwas
-gesehen oder gelesen haben, kaum daß sie die Stadt betreten, andere
-wieder brauchen sie bloß einmal im Vorübergehen gestreift zu haben: die
-Ansteckung wirkt dann schon selbsttätig auch in der Isolierung fort.
-Clerambault, obwohl von der Masse entfernt, war doch von ihr angesteckt
-worden, und schon kündigte sich die Krankheit durch ihre gewöhnlichen
-ersten Symptome an. Dieser mitfühlende und zärtliche Mensch haßte, haßte
-aus Liebe. Im geheimen versuchte seine nicht sehr originelle, aber
-glühende und aufrichtige Vernunft sich selbst zu betrügen, ihre
-Haßinstinkte durch Gründe zu rechtfertigen, die dazu in gar keiner
-Beziehung, ja sogar im Gegensatz standen. Er mußte sich die
-Ungerechtigkeit und die leidenschaftliche Lüge erst beibringen. Er
-versuchte sich zu überreden, daß er die Tatsache des Krieges hinnehmen,
-ja sogar mitmachen dürfe, ohne darum seine Friedensliebe von gestern,
-seinen Menschenkult von vorgestern und seinen ewigen Optimismus zu
-verleugnen. Ganz einfach war dies zwar nicht, aber es gibt ja nichts,
-was die Vernunft nicht irgendwie sich vorzureden vermöchte. Fühlt jemand
-die zwingende Notwendigkeit, für einige Zeit moralische Grundsätze, die
-ihm lästig sind, von sich abzutun, so findet die Vernunft, sein getreuer
-Knecht, zu diesen Grundsätzen schon immer die Ausnahmen, die die Regel
-bestätigen und sie doch durchbrechen. So begann Clerambault sich eine
-Weltanschauung, ein absurdes, paradoxes Ideal zu fabrizieren, das die
-Widersprüche irgendwie auflöste, indem er sich sagte: „Der Krieg gegen
-den Krieg, der Krieg für den Frieden, für den ewigen Frieden.“
-
- §
-
-Eine große Hilfe war ihm innerlich die Begeisterung seines Sohnes.
-Maxime hatte sich sofort gemeldet. Eine Welle heroischer Freude riß
-seine Generation hin. Zu lange hatte sie schon — sie wagte schon gar
-nicht mehr zu hoffen — gewartet auf irgendeine Gelegenheit zur Tat und
-zur Aufopferung.
-
-Die älteren Männer, die sich niemals Mühe gegeben hatten, diese
-Generation zu verstehen, waren von ihrer Haltung begeistert. Sie
-erinnerten sich ihrer eigenen mittelmäßigen und verpfuschten Jugend, die
-nur erfüllt war von kleinlichem Ehrgeiz, beschränkten Ambitionen und
-schalen Genüssen. Da sie sich selbst in ihren Kindern nicht erkannten,
-schrieben sie dem Kriege das Aufblühen all dieser Tugenden zu, die seit
-zwanzig Jahren doch schon neben ihrer Gleichgültigkeit aufwuchsen und
-die dieser Krieg nun niedermähen sollte. Selbst neben einem so
-großzügigen Vater wie Clerambault war Maxime immer verdunkelt gewesen.
-Clerambault war zu beschäftigt, sein überströmendes und verwirrtes Ich
-zu verbreiten, um die Menschen, die er liebte, wirklich gut erkennen und
-ihnen helfen zu können. Er brachte ihnen den heißen Niederschlag seiner
-Ideen, aber er verstellte ihnen das Licht.
-
-Diese jungen Menschen aber, gedrängt von ihrer eigenen Kraft, suchten
-vergebens eine Betätigung und fanden sie nicht in der Linie des Ideals
-selbst ihrer besten Väter und Vorgänger. Die Menschlichkeitsträumerei
-eines Clerambault war für sie zu unbestimmbar, zu wenig greifbar, denn
-sie begnügte sich mit angenehmen Hoffnungen ohne Gefahr und ohne Kraft,
-wie sie ja einzig aus der Lässigkeit einer Generation entstehen konnte,
-die im geschwätzigen Frieden der Parlamente und Akademien hingealtert
-war. Die Gefahren der Zukunft boten jenen höchstens rednerische Themen,
-aber nie suchten sie ernstlich ihnen entgegenzutreten und noch weniger
-die eigene Haltung im voraus festzulegen für den Tag, da das Verhängnis
-wirklich einbrechen sollte. Diese Generation hatte nicht die Kraft,
-zwischen den entgegengesetzten Idealen der Betätigung innerlich zu
-entscheiden. Man war gleichzeitig Patriot und international, man baute
-gleichzeitig in Gedanken den Weltfrieden und in Wirklichkeit
-Überdreadnoughts. Alles wollte diese Generation verstehen, mit allem
-verbunden sein, alles lieben. Nun mochte ja dieser verwässerte
-Whitmanismus ästhetisch seinen Wert haben, aber seine praktische
-Unentschlossenheit bot den jungen Leuten am Wegkreuz der Entscheidung
-keine bestimmte Richtung. Sie stapften immer auf derselben Stelle herum,
-erregt von der ungewissen Erwartung und der Sinnlosigkeit ihrer
-hinrinnenden Tage...
-
-Der Krieg machte dieser Unentschlossenheit ein Ende. Sie jubelten ihm
-zu, denn er traf die Entscheidung für sie. Blindlings folgten sie ihm
-nach. In den Tod gehen, gut; aber nur überhaupt gehen, denn gehen heißt
-leben. Die Bataillone zogen singend auf den Kriegsschauplatz, bebend vor
-Ungeduld, Blumen auf den Mützen, die Gewehre umwunden mit Grün. Die
-Zurückgestellten boten sich freiwillig an, Knaben drängten sich zum
-Dienst, und ihre eigenen Mütter stießen sie dazu. Man hätte glauben
-können, es sei eine Abreise zu den olympischen Spielen.
-
-Auf der anderen Seite des Rheins war die Jugend die gleiche. Hier wie
-dort begleiteten sie ihre Götter: Vaterland, Gerechtigkeit, Freiheit,
-Fortschritt, die paradiesischen Träume einer erneuerten Welt, jene ganze
-Phantasmagorie mystischer Ideen, mit denen sich die Leidenschaften
-junger Menschen immer umhüllen. Keiner von ihnen zweifelte daran, daß
-ihre Sache die einzig gerechte sei. Mochten andere darüber streiten, sie
-waren sich selbst lebendiger Beweis; denn wer sein Leben hingibt,
-braucht kein anderes Argument.
-
-Aber auch die alten Männer, die zurückgeblieben waren, meinten, ihr
-Denken ausnützen zu müssen. Freilich nicht, um die Wahrheit zu
-ergründen, sondern um den Sieg zu sichern. In den Kriegen von heute, die
-ganze Völker mitreißen, ist auch der Gedanke dienstpflichtig geworden.
-Er tötet ebenso wie die Kanonen, er tötet die Seele, er tötet über Land
-und Meere hin, über Zeit und Jahrhunderte: er ist gewissermaßen die
-schwere Artillerie, die auf weite Distanzen hin arbeitet.
-Selbstverständlich richtete auch Clerambault seine Geschütze. Für ihn
-war es längst nicht mehr wichtig, klar zu sehen, weit zu sehen, den
-ganzen Horizont zu umfassen, sondern einzig: den Feind zu treffen. Er
-war vom Wahn befangen, seinem Sohn im Kampfe beistehen zu müssen.
-
-Mit einer unbewußten und fieberhaften bösen Absicht, die im letzten aus
-einem zärtlichen Gefühl stammte, suchte Clerambault in allem, was er
-sah, hörte oder las, Argumente, um seinen festen Entschluß, an die
-Heiligkeit der nationalen Sache zu glauben, noch stärker und stählerner
-zu machen. Er suchte alles zusammen, was beweisen konnte, daß allein der
-Feind den Krieg gewollt hätte und Feind des Friedens war, daß demnach
-den Feind zu bekriegen gleichbedeutend mit dem Wunsch nach Frieden sei.
-Die Beweise dafür fehlten ihm nicht. Sie fehlen ja niemals. Man muß nur
-die Augen immer an rechter Stelle zu öffnen und immer an rechter Stelle
-zu schließen wissen, dann sieht man alles, was man sehen will. — Aber
-dennoch: Clerambault war im letzten Grunde nicht ganz befriedigt. Nur
-fand das geheime Unbehagen seines im tiefsten rechtlichen Gewissens an
-allen diesen halben Wahrheiten und Wahrheiten mit Lügenschwänzen keinen
-andern Ausweg als in einer immer leidenschaftlicheren Erregung gegen den
-Feind. Gleichzeitig aber — so wie von den beiden Eimern eines Brunnens
-der eine steigt, wenn der andere hinabgeht — wuchs auch sein
-patriotischer Enthusiasmus, der schließlich in einer wohltätigen
-Trunkenheit seine letzten moralischen Bedenken wegschwemmte.
-
-Von nun an war er in beständiger Jagd auf neue Fakten in den Zeitungen,
-die ihm seine neuen Thesen bekräftigen könnten. Obwohl er doch
-eigentlich genau wußte, wie unzuverlässig die Wahrhaftigkeit dieser
-Zeitungen war, so bezweifelte er doch nie irgendeine Behauptung, sobald
-sie seiner gierigen und unruhigen Leidenschaft als Argument dienen
-konnte. Dem Feind gegenüber hatte er das Prinzip angenommen: „Das
-Schlechte ist eben das Rechte.“ In gewissem Sinne wurde er Deutschland
-geradezu dankbar, wenn es ihm durch Akte der Grausamkeit und wiederholte
-Verstöße gegen das Völkerrecht eine offenkundige Bestätigung für die
-Behauptungen gab, die er auf jeden Fall schon im voraus ausgesprochen
-hatte.
-
-Und Deutschland kam ihm darin wirklich zu Hilfe. Noch nie hatte ein
-Staat im Kriege es eiliger gehabt, die Meinung der ganzen Welt gegen
-sich zu entfesseln. Diese blutübervolle Nation, die an ihrer Kraft
-erstickte, hatte sich in einem Delirium von Stolz, Zorn und Furcht auf
-den Gegner gestürzt, die Bestie im Menschen, kaum losgelassen, zog
-gleich mit den ersten Schritten einen Kreis methodischen Schreckens um
-sich. Alle Brutalität des Instinkts und des Glaubens war bewußt von
-jenen aufgestachelt worden, die das Volk am Zügel hielten, von seinen
-Führern, seinem Generalstab, den einberufenen Professoren und
-Militärgeistlichen. Krieg war und wird immer eins mit dem Verbrechen
-sein. Aber Deutschland organisierte es, so wie alles, es erhob den
-Totschlag und das Niederbrennen zum Kriegsgesetz. Ein zorniger
-Mystizismus aus Bismarck, Nietzsche und der Bibel gemengt, goß sein Öl
-ins Feuer, der Übermensch und Christus wurden mobilisiert, um die Welt
-zu vernichten und zu erneuern. — Die Erneuerung begann in Belgien, und
-in tausend Jahren wird man noch davon sprechen. Die entsetzte Welt
-erlebte das höllische Schauspiel, wie die alte, mehr als
-zweitausendjährige Zivilisation Europas unter den brutalen und
-berechneten Schlägen der großen Nation hinbrach, die eine ihrer
-Führerinnen war — Deutschlands, das so reich an Intelligenz,
-Wissenschaft und geistiger Macht gewesen und das in fünfzehn Kriegstagen
-sich dienstfertig erniedrigt hatte. Aber was die Organisatoren der
-deutschen Tollheit nicht voraussahen, war, daß sie, so wie Cholera von
-einer Armee zur andern, nun ins andere Lager übergehen und, in den
-Feindesländern einmal heimisch, nicht mehr zu entfernen sein würde, ehe
-nicht ganz Europa davon angesteckt und für Jahrhunderte unbewohnbar
-geworden war. Für alle Tollheiten und Gewalttätigkeiten dieses
-erbitterten Krieges gab Deutschland das Beispiel, sein kräftiger, besser
-genährter Körper bot der Epidemie ein weiteres Wirkungsfeld, und sie
-wütete furchtbar; und als das Gift sich in Deutschland abzuschwächen
-begann, war es schon in die anderen Nationen in Form eines langsamen und
-zähen Fiebers eingedrungen, das von Woche zu Woche tiefer wühlte und bis
-in die Knochen hineinsickerte.
-
-Den unsinnigen Reden der deutschen Denker antworteten unverzüglich die
-Übertreibungen der Schwätzer in Paris und überall. Wie homerische Helden
-waren sie, mit der einzigen Ausnahme, daß sie nicht kämpften, aber sie
-schrien dafür um so mehr. Man beschimpfte nicht nur den Gegner, sondern
-auch seinen Vater, seinen Großvater, den ganzen Ursprung, ja man
-leugnete sogar gegenseitig die vergangene Leistung. Der erbärmlichste
-Akademiker arbeitete wie ein Verzweifelter, um den Ruhm großer Menschen,
-die längst im Grabesfrieden schlummerten, zu beschmutzen und zu
-beschimpfen.
-
-Clerambault hörte, hörte alles und trank es in sich ein... Und doch
-gehörte er zu den wenigen französischen Dichtern, die vor dem Kriege
-europäische Verbindungen gehabt und dessen Werke Sympathien in
-Deutschland gefunden hatten. Als rechtes, altes, verwöhntes
-französisches Kind, das sich ja nie die Mühe gibt, die anderen
-aufzusuchen, allzu gewiß, daß man zu ihm kommen würde, sprach er keine
-andere Sprache. Aber wenigstens nahm er die Fremden gut auf, wenn sie
-vom Auslande zu ihm kamen, sein Geist war frei von allen nationalen
-Vorurteilen, und die innere Intuition ersetzte genug die Lücken seiner
-Bildung, daß er hingebungsvoll ausländische große Geister bewundern
-konnte. Jetzt freilich, seit man ihn gelehrt hatte, daß man allem
-mißtrauen müsse („Schweig’, sei immer vorsichtig!“), seit er hörte, daß
-Kant nur eine Vorstufe für Krupp gewesen, wagte er nicht mehr ohne
-offizielle staatliche Garantie irgendetwas zu bewundern. Die
-sympathische Bescheidenheit, die ihn zur Friedenszeit wie einem Wort des
-Evangeliums allem vertrauen ließ, was gelehrte und geachtete Männer
-öffentlich mitteilten, nahm jetzt in der Kriegszeit die Formen einer
-unbegrenzten Leichtgläubigkeit an. Er verschlang, ohne mit den
-Augenwimpern zu zucken, die erstaunlichen Zeitungsentdeckungen der
-Intellektuellen seines Landes, die jetzt die Kunst, die Wissenschaft,
-den Geist und die Seele des andern Landes durch Jahrhunderte zurück
-durchwühlten und zu Boden stampften — die ganze Arbeit rasender
-Böswilligkeit, die dem Feind jede Größe absprach, in seinen erhabensten
-Erscheinungen nur Beweise seiner gegenwärtigen Infamie finden wollte,
-falls es ihm nicht überhaupt diese berühmten Männer wegnahm und sie
-irgendeiner anderen Nation zuwies.
-
-Clerambault aber war davon ganz überwältigt, außer sich, und (freilich,
-dies gestand er sich nicht ein) im tiefsten Herzen jubelte er.
-
- §
-
-Um für seine Begeisterung einen Gefährten zu finden und sie mit neuen
-Argumenten zu nähren, beschloß Clerambault, seinen Freund Perrotin
-aufzusuchen.
-
-Hippolyte Perrotin war eine jener Figuren, wie sie heute selten geworden
-sind und die einen Ruhmestitel der französischen Hochschule bildeten,
-einer jener großen Humanisten, deren weitblickendes und scharfes
-Wissensbedürfnis mit ruhigem Schritt den Garten der Jahrhunderte prüfend
-und klassierend, auslesend und pflückend durchwandert. Zu sehr
-beobachtende Natur, als daß ihm irgend etwas der Gegenwart entgangen
-wäre — die ihn eigentlich am wenigsten interessierte — wußte er jedem
-ihrer Geschehnisse seinen Rang im Gesamtbild zuzuweisen. Was anderen als
-das Wichtigste galt, war es keineswegs für ihn, und die politischen
-Bewegungen dünkten ihm Blattläuse auf einem großen Blatt. Da er aber
-nicht Gärtner, sondern nur wissenschaftlicher Beobachter war, glaubte er
-sich nicht verpflichtet, die Rosenblätter zu reinigen: einzig sie mit
-allen ihren Parasiten zu betrachten, war für ihn Gegenstand einer
-dauernden Entzückung. Er hatte den feinsten Sinn für literarische
-Schönheit und geistige Vollkommenheit, und seine Wissenschaft, weit
-entfernt, ihn dabei zu stören, belebte nur diese Neigung dadurch, daß
-sie seinen Gedanken ein festes und begrenztes Feld lebensvoller
-Vergleiche und Proben bot. Er gehörte zu jener französischen Tradition
-von Gelehrten, die gleichzeitig meisterliche Stilisten waren, jener
-Tradition, die von Buffon bis zu Renan und Gaston Paris reichte.
-Mitglied der Akademie und von zwei oder drei anderen Gesellschaften,
-hatte er durch die Weite seiner Kenntnisse über die bloßen Literaten und
-über seine wissenschaftlichen Kollegen nicht nur die Überlegenheit eines
-sichern und klassischen Geschmacks, sondern auch eines freieren und dem
-Neuen aufgetanen Geistes. Er dünkte sich nicht wie die meisten von
-ihnen, sobald sie über die Schwelle der heiligen Kuppelhalle getreten
-waren, schon aller Verpflichtung, weiter zu lernen, ledig: mitten in
-seiner gereiften Meisterschaft fühlte er sich noch immer als Schüler.
-Schon zur Zeit als Clerambault von den übrigen Unsterblichen gar nicht
-gekannt war, außer von ein oder zwei lyrischen Kollegen, die, wenn sie
-(was selten geschah) von ihm sprachen, es nur mit verächtlichem Lächeln
-taten — schon damals hatte er ihn sich entdeckt und in sein Herbarium
-eingegliedert. Einige Bilder hatten ihn stutzig gemacht, die
-Originalität mancher Wortwendung, der primitive und gewissermaßen nur
-naiv komplizierte Mechanismus seiner Phantasie zogen ihn an, schließlich
-interessierte ihn dann der Mann selbst. Clerambault, dem er ein
-glückwünschendes Wort hatte zukommen lassen, eilte, überströmend von
-Erkenntlichkeit, ihm zu danken, und zwischen den beiden Männern entspann
-sich allmählich eine Freundschaft.
-
-Sie waren einander durchaus nicht ähnlich, Clerambault mit seiner
-lyrischen Gabe und seiner mittelmäßigen Intelligenz, die vom Herzen kam,
-und Perrotin, der durchdringende Geist, der sich niemals von der
-Leidenschaft der Phantasie verwirren ließ, aber beide verband die
-gemeinsame Würdigkeit der Lebensführung, eine intellektuelle
-Rechtschaffenheit sowie die reine Liebe zur Kunst und zur Wissenschaft,
-die ihre Freude aus sich selbst zog und nicht aus dem möglichen Erfolge,
-der ihr entspringen konnte. Freilich hatte das Perrotin niemals, wie man
-sehen konnte, gehindert, Karriere zu machen. Die Ehrenstellen waren
-gleichsam auf ihn zugekommen. Er suchte sie nicht, aber er wies sie auch
-nicht zurück und verabsäumte nichts.
-
-Clerambault fand ihn gerade damit beschäftigt, die wirklichen Ideen
-eines chinesischen Philosophen von all den nachträglichen Umhüllungen
-rein loszulösen, unter denen sie die Lesarten und Erläuterungen von
-Jahrhunderten verborgen hatten. Bei diesem Spiel, das für ihn ein
-gewohntes war, kam er natürlich dazu, schließlich gerade das Gegenteil
-des bisher augenscheinlichen Sinnes zu finden: ein Ideal wird ja immer
-dunkler, wenn es von Hand zu Hand geht.
-
-In dieser geistigen Verfassung empfing Perrotin zerstreut und sehr
-höflich Clerambault. Selbst wenn er in Salons anderen zuzuhören schien,
-trieb er immer Textkritik. Seine Ironie vergnügte sich dabei auf fremde
-Kosten.
-
-Clerambault entlud gegen ihn seine ganze neue Erkenntnis. Sein
-Ausgangspunkt war die unbestreitbare Tatsache der offenkundigen
-moralischen Minderwertigkeit der feindlichen Nation, und es war
-eigentlich nur noch dies für ihn eine Frage, ob man darin den
-unheilbaren Niedergang eines großen Volkes erkennen sollte oder einfach
-ein Barbarentum feststellen, das von allem Anfang an bestanden, aber
-sich nur gut zu verschleiern gewußt hatte. Clerambault neigte zur
-letzten Auslegung. Noch ganz erfüllt von dem gerade Gelesenen, machte er
-Luther, Kant und Wagner für die gewalttätige Verletzung der belgischen
-Neutralität und für die Verbrechen der deutschen Armee verantwortlich.
-Wie man gemeinhin zu sagen pflegt: er hatte die Nase nicht selbst
-hineingesteckt, da er ja weder von Musik, noch von Theologie, noch von
-Metaphysik etwas verstand; ihm genügte die Autorität der Akademiker. Als
-Ausnahme ließ er einzig Beethoven gelten, weil er ein Flame war, und
-Goethe als Bürger einer Freistadt, die so eine Art Straßburg, also zur
-Hälfte französisch war, oder französisch und nur halb deutsch. Nun
-wartete er auf eine Zustimmung.
-
-Aber zu seiner Überraschung stieß er bei Perrotin nicht auf eine
-Leidenschaftlichkeit, die der seinen entsprach. Perrotin lächelte, hörte
-zu, betrachtete Clerambault mit einer gutmütigen und neugierigen
-Aufmerksamkeit. Er sagte nicht nein und sagte nicht ja. Bei einigen
-Behauptungen machte er vorsichtige Einschränkungen, und als Clerambault
-ihm ganz hitzwütig die schriftlichen Aussagen zeigte, die von zwei oder
-drei berühmten Kollegen Perrotins unterschrieben waren, machte er nur
-eine kleine Gebärde, die sagen konnte:
-
-„Ach, solche Dinge gibt’s in Menge.“
-
-Clerambault wurde immer leidenschaftlicher, und nun veränderte auch
-Perrotin den Ton, bezeigte ein „lebhaftes Interesse“ für die „sehr
-interessanten“ Bemerkungen seines „verehrten Freundes“, nickte mit dem
-Kopf zustimmend zu allem, was er sagte, wich seinen direkten Fragen mit
-vagen Worten aus oder stimmte ihnen mit irgendeiner allgemeinen
-Höflichkeit zu, wie man eben jemandem antwortet, dem man nicht
-widersprechen will.
-
-Clerambault ging, ganz aus der Fassung gebracht und unzufrieden, fort.
-
-Aber er versöhnte sich mit seinem Freunde und war wieder seiner sicher,
-als er einige Tage später den Namen Perrotins unter einem
-leidenschaftlichen Protest der Akademie gegen die Barbaren fand. Er nahm
-den Anlaß wahr, um ihn zu beglückwünschen, und Perrotin dankte ihm mit
-einigen vorsichtigen und sybillinischen Worten:
-
-„Mein verehrter Herr — (er benutzte immer in seinen Briefen die
-zeremoniösen und gemessenen Formeln derer von Port-Royal) — ich bin
-immer bereit, den Wünschen des Vaterlandes zu gehorchen; sie sind
-Befehle für mich. Auch mein Gewissen steht ihm zur Verfügung, so wie es
-die Pflicht eines guten Bürgers ist...“
-
- §
-
-Eine der merkwürdigsten geistigen Wirkungen des Kriegs war, daß er neue
-Bindungen zwischen Menschen erzeugte. Leute, die nicht einen Gedanken
-gemeinsam hatten, entdeckten plötzlich, daß sie gleichen Sinnes waren;
-und sobald sie sich zusammenscharten, wurden sie einander wirklich
-ähnlich. So entstand, was man die _Union Sacrée_, die „heilige
-Eintracht“, nannte. Menschen aller Parteien und von verschiedenstem
-Temperament, Choleriker, Phlegmatiker, Monarchisten, Anarchisten,
-Klerikale, Calvinisten vergaßen plötzlich ihr wirkliches Ich, ihre
-Leidenschaften, Narrheiten und Feindseligkeiten. Sie wechselten die
-Haut, und man sah sich mit einemmal neuen Wesen gegenüber, die sich
-unerwartet wie ein Häufchen gefeilten Eisenstaubes um einen Magneten
-zusammenrotteten. Alle alten Beziehungen waren plötzlich verschwunden,
-und man staunte gar nicht darüber, sich plötzlich einem Fremden näher zu
-fühlen als den ältesten Freunden. Man hätte glauben mögen, daß die
-Seelen unterirdisch, mit weitverbreiteten Wurzeln, im Dunkel des
-Instinkts verbunden waren, jener allzuwenig bekannten Region, zu der die
-Beobachtung selten hinabsteigt. Unsere Psychologie beschäftigt sich
-ausschließlich mit jenem Teil unseres Ich, der aus dem Erdreich des
-Unbewußten herausragt, sie beschreibt sorgfältig dort jede Einzelheit,
-ohne auf alles das zu achten, was nicht gerade Schaft und Blüte der
-Pflanze ist. Aber neun Zehntel sind unsichtbar eingegraben und mit den
-Füßen anderer Pflanzen verschlungen. Diese ganze tiefe (oder niedere)
-Region der Seele ist für gewöhnlich unbewußt und für das Gefühl nicht
-merkbar, die Vernunft weiß nichts von ihr. Aber der Krieg ließ
-plötzlich, indem er diese unterirdische Welt weckte, moralische
-Bindungen zutage treten, die man nie vermutet hätte. So trat zum
-Beispiel bei Clerambault eine plötzliche Intimität mit einem Bruder
-seiner Frau zutage, den er bisher, und mit gutem Recht, als Typus eines
-echten Philisters betrachtet hatte.
-
-Leo Camus war noch nicht fünfzig Jahre alt, groß, mager, ein wenig
-vorgekrümmt, hatte einen schwarzen Bart, fahle Farben, schütteres Haar
-(seine Kahlköpfigkeit war sogar schon sichtbar, wenn er den Hut noch auf
-hatte), sein Gesicht war voll kleiner Falten, die sich nach allen
-Richtungen überquerten, wie Maschen eines schlecht geflickten Netzes. Er
-hatte meist ein ungesundes, unfreundliches Aussehen und war beständig
-verschnupft. Seit dreißig Jahren war er Staatsbeamter, und seine ganze
-Karriere war im Schatten eines Hofes im Ministerialgebäude
-dahingegangen. Im Laufe der Jahre hatte er das Zimmer gewechselt, aber
-er war nie aus diesem Schatten herausgekommen, sein ganzer Fortschritt
-war immer im selben Hoftrakt. Für ihn gab es keine Möglichkeit mehr,
-diesem Leben zu entrinnen, und jetzt war er endlich Unterdirektor
-geworden, was ihm erlaubte, nun seinerseits Schatten zu verbreiten. Er
-hatte fast gar keinen Zusammenhang mit Menschen und verkehrte mit der
-äußeren Welt nur hinter einem Wall von Registraturen und aufgehäuften
-Papierstößen. Er war Junggeselle und hatte keinen Freund, denn sein
-Menschenhaß behauptete, es gäbe keine, außer solchen aus Interesse.
-Seine einzige Zuneigung galt der Familie der Schwester, und auch diese
-äußerte sich nur darin, daß er alles, was jene tat, für schlecht befand;
-denn er gehörte zu jenen Leuten, deren unruhige Besorgtheit diejenigen,
-die sie lieben, immer kritisiert, und wenn sie jene leiden sehen, nicht
-müde werden, ihnen zu beweisen, daß sie durch eigenes Verschulden
-unglücklich seien. Bei den Clerambaults machte er nicht sehr viel Effekt
-damit, ja es mißfiel Frau Clerambault, die ein wenig träge war, sogar
-nicht, ein bißchen gerüttelt zu werden. Was die Kinder betraf, so wußten
-sie, daß diese Vorwürfe meistens von kleinen Geschenken begleitet waren:
-so steckten sie die Geschenke ein und ließen das Übrige auf sich
-niederprasseln.
-
-In bezug auf seinen Schwager hatte die Haltung Leo Camus’ im Laufe der
-Jahre einige Veränderungen durchgemacht. Als seine Schwester Clerambault
-heiratete, hielt Camus mit seiner Mißbilligung nicht zurück, ein
-unbekannter Dichter schien ihm nicht jemand „ernst zu Nehmender“.
-Dichter sein (ein unbekannter Dichter), das ist immer nur ein Vorwand,
-um nicht zu arbeiten..., natürlich, wenn man „bekannt“ ist, das ist dann
-etwas anderes! Camus verehrte sehr Victor Hugo, er kannte sogar Verse
-aus den Châtiments und einige von August Barbier auswendig, die aber
-waren „bekannt“, und „bekannt sein“ ist eben alles. Nun geschah es aber
-eines Tages, daß Clerambault „bekannt“ wurde. Camus erfuhr es durch
-seine eigene Zeitung. Von diesem Tag an hatte er sich endlich bewegen
-lassen, die Gedichte Clerambaults zu lesen. Er verstand sie nicht, aber
-er war darüber nicht ungehalten, denn so konnte er sich brüsten, noch
-von der „alten Schule“ zu sein und sich dadurch überlegen dünken. Es
-gibt ja viele dieser Art, die sich aus ihrer Verständnislosigkeit einen
-Stolz zu machen wissen. Aber ist es nicht recht so in der Welt, daß der
-eine auf das pocht, was er hat, und der andere auf das, was er nicht
-hat? Übrigens gab Camus zu, daß Clerambault „schreiben“ könne (er mußte
-es ja verstehen, da er auch vom Fach war). So hatte er im gleichen Maße,
-wie die Zeitung ihn zu schätzen begann, ein immer größeres Interesse an
-seinem Schwager und liebte es, mit ihm zu plaudern. Er hatte immer
-schon, ohne es je zu sagen, seine herzliche Güte geachtet, und was ihm
-besonders an diesem großen (denn jetzt nannte er ihn plötzlich so)
-Dichter gefiel, war seine offenkundige Unfähigkeit in Geschäftsdingen,
-seine praktische Ignoranz. Auf diesem Gebiete war Camus sein Meister,
-und er ließ es ihn deutlich fühlen. Clerambault hatte ein naives
-Vertrauen zu den Menschen und zu den Dingen, und nichts war Camus und
-seinem aggressiven Pessimismus willkommener als diese Eigenschaft. Dies
-hielt ihn immer in Atem. Die meiste Zeit seiner Besuche ging damit hin,
-Clerambaults Illusionen in tausend Stücke zu zerpflücken, aber sie
-hatten ein zähes Leben, und jedesmal mußte man anfangen, sie von neuem
-zu zerstören. Camus ärgerte sich darüber, aber mit einem geheimen
-Vergnügen. Er brauchte immer einen neuen Vorwand, um wieder beweisen zu
-können, daß die Welt schlecht und die Menschen dumm waren, vor allem
-aber fand kein Mann der Politik Gnade vor seinen Augen. Dieser
-Staatsbeamte haßte alle Regierungen, ohne eigentlich sagen zu können,
-wen oder was er an ihre Stelle gewünscht hätte. Die einzige Form der
-Politik, die ihm verständlich war, blieb die Opposition. Er litt eben
-daran, sein Leben verdorben, seine Natur unterdrückt zu haben. Als
-Bauernsohn war er dazu geschaffen, wie sein Vater Weingärten zu pflegen
-oder als Wächter über das kleine Landvolk seinen Autoritätsdrang
-auszuleben. Aber es war damals der Rost über die Weingegend gekommen,
-andererseits lockte der dumme Stolz zur Bureaukratie, so war die Familie
-in die Stadt übersiedelt. Jetzt hätte er zu seiner wirklichen Natur
-nicht mehr zurück können, ohne sich herabzuwürdigen, und hätte er es
-selbst vermocht, so wäre sie daran verkümmert. Weil er seinen Platz in
-der sozialen Gesellschaft nicht fand, machte er die Gesellschaft dafür
-verantwortlich, er diente wie tausend Beamte dem Staate als schlechter
-Diener, als heimlicher Feind.
-
-Man hätte meinen sollen, ein Wesen dieser Art, ein so düsterer,
-verbitterter, menschenfeindlicher Geist müßte durch den Krieg ganz außer
-sich geraten sein, aber gerade das Gegenteil trat ein: der Krieg
-beruhigte ihn. Für die wenigen freien Geister, die auf das Weltall
-hinblicken, war die Zusammenrottung zu bewaffneten Horden gegen den
-Feind ein Zusammenbruch. Aber für die Menge all derer, die in der
-schöpferischen Unfähigkeit eines ziellosen Egoismus leben, ist der Krieg
-eine Erhebung, er trägt sie zur höheren Stufe des zielvollen, des
-organisierten Egoismus empor. Camus wachte eines Tages mit dem Gefühl
-auf, zum erstenmal nicht allein auf der Welt zu sein.
-
-Der Instinkt des Vaterlandes ist vielleicht der einzige, der in den
-gegenwärtigen Zeitläuften dem Brandmal der Alltäglichkeit entgeht. Alle
-anderen Instinkte, alle natürlichen Triebe, das Verlangen zu lieben und
-zu handeln, werden in der Gesellschaft niedergehalten, erstickt oder
-gezwungen, durch das Joch der Entsagung und der Kompromisse zu gehen.
-Wenn ein Mann auf der Höhe seines Lebens sich zurückwendet, um seine
-einstigen Neigungen zu betrachten, und sieht auf ihnen die Brandmarken
-seiner Niederlage und seiner Nachgiebigkeit, dann schämt er sich ihrer
-und seiner selbst, Bitternis im Munde. Einzig der Instinkt des
-Vaterlandes bleibt in der gegenwärtigen Gesellschaft ausgeschaltet, er
-tritt nicht in Aktion und wird deshalb nicht beschmutzt. Wenn er aber
-einmal in Erscheinung tritt, so ist er unberührt, und die Seele, die
-sich ihm hingibt, wirft ihm zugleich die Glut aller ihrer
-niedergehaltenen und erniedrigten Instinkte, Liebe, Verlangen und
-Ehrgeiz entgegen, die das Leben verraten hat. Ein halbes Jahrhundert
-unterdrücktes Leben nimmt seine Rache, Millionen kleiner Zellen des
-sozialen Gefängnisses öffnen sich, endlich, endlich einmal... die alten
-Leidenschaften, die angeschmiedeten Instinkte recken ihre erstarrten
-Glieder, sie fühlen, daß sie das Recht haben, ins Freie zu stürzen und
-zu schreien. Das Recht? Sie haben jetzt die Pflicht, sich dahinstürmen
-zu lassen, als mächtige, stürzende Masse. So werden plötzlich die
-Millionen einzelner Schneeflocken zur Lawine.
-
-Die Lawine riß auch Camus mit. Der kleine Bureauchef ging ganz in ihr
-auf, und zwar ohne irgendwelche Leidenschaft, ohne Gewalttätigkeit. Er
-fühlte plötzlich eine große Kraft, eine große Ruhe, er fühlte sich
-„wohl“, körperlich wohl, seelisch wohl. Seine Schlaflosigkeit war
-verschwunden. Zum erstenmal seit Jahren quälte ihn nicht mehr sein
-Magenleiden, vielleicht weil er es vergessen hatte, er verbrachte den
-ganzen Winter — ein nie dagewesener Fall — ohne Schnupfen, man hörte
-ihn nicht mehr das und jenes bekritteln und beklagen, er schimpfte nicht
-über alles, was geschah oder nicht geschehen war. Irgendeine heilige
-Ehrfurcht überkam ihn vor dem ganzen sozialen Organismus, vor diesem
-Wesen, das das seine war, nur noch stärker, schöner und besser, er
-fühlte sich brüderlich mit allen jenen, die durch ihren Zusammenhang
-dieses Wesen bildeten wie ein Bienenschwarm, der an einem Ast hängt. Er
-beneidete die jungen Menschen, die zur Front reisten, sein Vaterland zu
-verteidigen, er betrachtete mit zärtlichen Augen seinen Neffen Maxime,
-der sich heiter rüstete, und am Bahnhof, als der Zug die jungen Menschen
-wegführte, umarmte er Clerambault, drückte unbekannten Eltern, die ihre
-Söhne begleiteten, die Hand, Tränen der Verzweiflung und von Glück
-zugleich standen in seinen Augen. In diesen Stunden hätte Camus alles
-hingegeben. Es waren seine Flitterwochen mit dem Leben. Die einsame
-Seele, die es sich immer versagt hatte, sieht plötzlich das geliebte
-Leben nahekommen und umfaßt es... Doch das Leben geht weiter. Das
-Wohlbefinden eines Camus war nicht angetan, zu dauern. Aber wer einmal
-das Leben in einer solchen Stunde gekannt, lebt einzig nur mehr von
-dieser Erinnerung und um sich immer wieder diesen Augenblick zu beleben.
-Er dankte den seinen dem Kriege. So war der Friede sein Feind, und
-Feinde alle, die den Frieden wollten.
-
- §
-
-Clerambault und Camus tauschten ihre Gedanken aus. Sie tauschten sie so
-vollkommen aus, daß Clerambault am Ende gar nicht mehr wußte, wohin die
-seinen gekommen waren. Und je mehr er sich selber verlor, um so
-zwingender empfand er das Bedürfnis, etwas zu tun. Das war für ihn die
-beste Form, sich zu betätigen... Sich zu betätigen...?
-Verhängnisvollerweise war es Camus, den er betätigte. Trotz seiner
-Überzeugung und seiner gewohnten Leidenschaft war er doch nur ein Echo
-geworden, und ein Echo welch’ erbärmlicher Stimmen!
-
-Er begann Kriegsdithyramben zu schreiben. Darin wetteiferten ja damals
-die Dichter hinter der Front. Ihre Schöpfungen laufen allerdings nicht
-Gefahr, das Gedächtnis der Zukunft allzusehr zu belästigen. Nichts in
-ihrer früheren künstlerischen Laufbahn bestimmte diese armen Gesellen zu
-solcher Aufgabe, und, ob sie auch das möglichste taten, um ihre Stimmen
-aufzublähen und alle Register der Rhetorik spielen zu lassen, die
-Soldaten im Schützengraben zuckten doch darüber die Achseln. Aber den
-Leuten des Hinterlandes gefiel ihr Pathos viel besser als jene
-lichtlosen und gleichsam schmutzfarbenen Erzählungen, die aus dem
-Schützengraben kamen. Die klare Vision eines Barbusse hatte damals noch
-nicht diesen schattenhaften Schwätzern ihre Wahrheit aufgezwungen. Für
-Clerambault bedeutete es keine große Anstrengung, in diesem Wettkampf
-der Beredsamkeit die Palme zu erringen. Er hatte die verhängnisvolle
-Gabe jener rhythmischen und wortreichen Beredsamkeit, die die Dichter
-von der Wirklichkeit trennt, indem sie sie mit ihrem Spinnennetz
-umhüllt. In Friedenszeiten hing dieses unschuldige Netz an Busch und
-Baum, der Wind klang durch, und die sanfte Arachne suchte in ihren
-Maschen nichts anderes einzufangen als das Licht. Jetzt aber, da die
-Dichter in sich ihre blutgierigen (glücklicherweise schon zahnlosen)
-Instinkte aufzüchteten, sah man in der Mitte ihres Netzes ein bösartiges
-Tier eingefangen, dessen Auge auf eine Beute lauerte. Sie sangen den Haß
-und die heilige Schlächterei. Clerambault tat wie die anderen, sogar
-besser als die anderen, denn seine Stimme war besser als die der
-anderen, und vor lauter Schreien kam dieser brave Mensch schließlich
-dazu, selbst Leidenschaften zu fühlen, die er gar nicht hatte. Den Haß
-„endlich zu kennen“ (es war das „erkennen“ im biblischen Sinn), dieses
-neue Gefühl hatte etwas vom Kitzel niedrigen Stolzes, den ein Gymnasiast
-empfindet, wenn er zum erstenmal aus einem zweifelhaften Hause
-herauskommt. Denn jetzt erst fühlte er sich als ein ganzer Mann. Und
-wirklich, es fehlte ihm nichts mehr, um der Niedrigkeit der anderen
-ähnlich zu sein.
-
-Die ersten intimen Vorlesungen jedes seiner Gedichte waren Camus
-vorbehalten, dem er sie ja verdankte. Und Camus wieherte vor
-Begeisterung, denn er erkannte sich selbst darin. Clerambault fühlte
-sich geschmeichelt, weil er jetzt hoffte, in einem Rhythmus mit dem
-Volke zu fühlen und ganz in sein Blut zu dringen. Die beiden Schwäger
-verbrachten die Abende zusammen. Clerambault las vor, Camus trank die
-Verse in sich ein. Er wußte sie auswendig, er erzählte jedem, der es
-hören wollte, Victor Hugo sei auferstanden und jedes dieser Gedichte
-bedeute einen Sieg. Seine lärmende Bewunderung enthob die anderen
-Mitglieder der Familie davon, ein Urteil aussprechen zu müssen. Rosine
-suchte immer nach einem Vorwande, aus dem Zimmer hinauszuschlüpfen, wenn
-die Vorlesung zu Ende war, was der Eigenliebe Clerambaults nicht
-entging. Er hätte gern den Eindruck auf seine Tochter gewußt, fand es
-aber klüger, sie nicht darum zu befragen, und redete sich lieber selbst
-ein, daß dieses Zurückziehen ein Zeichen von Bewegung und Scheu sei.
-Aber doch, es verstimmte ihn. — Bald aber ließ ihn die Zustimmung des
-Publikums diese kleine Peinlichkeit vergessen. Seine Gedichte waren in
-den großen bürgerlichen Blättern erschienen und wurden für Clerambault
-der glänzendste Triumph seiner ganzen künstlerischen Laufbahn. Keines
-seiner Werke hatte einen so einhelligen Enthusiasmus hervorgerufen. Ein
-Dichter ist ja immer geneigt, seinem letzten Werk den Titel seines
-besten zugebilligt zu hören und ist es in noch höherem Maße, wenn er
-selbst weiß, daß es das wertloseste ist. Clerambault war sich darüber
-vollkommen im klaren, und eben darum genoß er mit einer fast kindlichen
-Eitelkeit die Speichelleckereien der Presse. Abends ließ er sie laut von
-Camus im Familienkreise vorlesen. Er strahlte vor Vergnügen. Am liebsten
-hätte er gesagt, sobald Camus fertig war: „Noch einmal.“
-
-Der einzige leise Mißton in diesem Konzert der Lobeshymnen kam von
-Perrotin. (Natürlich redete sich Clerambault ein, er hätte sich in ihm
-getäuscht, er sei kein rechter Freund.) Der alte Gelehrte hatte
-allerdings Clerambault, der ihm den Band seiner Kriegsgedichte
-zugeschickt hatte, in höflicher Weise beglückwünscht. Er lobte sein
-großes Talent, sagte aber durchaus nicht, daß dieses Buch sein schönstes
-Werk sei. Ja er riet ihm sogar, „nun, nachdem er der kriegerischen Muse
-seinen Tribut gebracht hätte, ein Werk des reinen Traumes, losgelöst von
-der Gegenwart, zu schreiben“. Was wollte er damit sagen? Gehört sich
-das, daß, wenn ein Künstler ein Werk vorlegt und Zustimmung fordert, man
-ihm antwortet: „ich möchte ein anderes lesen, das diesem nicht gleicht?“
-— Clerambault sah darin ein neues Zeichen für die bedauerliche Lauheit
-des Patriotismus, die er schon vorher bei Perrotin bemerkt hatte, und
-dieser Mangel an Verständnis für seine Verse erkältete gänzlich sein
-Gefühl für den alten Freund. Er sagte sich, der Krieg sei die Goldprobe
-der Charaktere, eine Umwertung der Werte, wo man auch die Freundschaft
-neu prüfen müsse, und gab sich nicht Rechenschaft darüber, daß der
-Verlust eines Perrotin nur unzulänglich ersetzt sei durch die Erwerbung
-eines Camus und so vieler neuer Freunde, die geistig freilich
-minderwertiger waren, aber jedenfalls schlichten und warmen Herzens...
-
-Und doch, oft in der Nacht hatte Clerambault Minuten der Bedrängnis und
-Angst. Er wachte plötzlich unruhig, erschreckt und gedemütigt auf. Er
-fühlte sich unzufrieden und beschämt... Aber weshalb denn? Tat er denn
-nicht seine Pflicht?
-
- §
-
-Die ersten Briefe Maximes waren ein Trost, ein Herzstärkungsmittel, von
-dem ein Tropfen genügte, um alle Mutlosigkeit entschwinden zu lassen.
-Man lebte ganz in ihnen während der langen Zwischenräume, in denen seine
-Nachrichten eintrafen. Und trotz der Unruhe während dieser Pausen, wo
-eine jede einzelne Sekunde dem geliebten Wesen verhängnisvoll werden
-konnte, teilte sich doch diese seine Zuversicht (die er vielleicht aus
-Liebe zu den Seinen oder aus einem Aberglauben übertrieb) allen mit.
-Seine Briefe strömten über von Jugend und einer begeisterten Freude, die
-ihren höchsten Gipfel in den Tagen erreichte, die dem Sieg an der Marne
-folgten. Die ganze Familie war gleichsam gegen ihn hingestreckt, ein
-einziger Körper, eine Pflanze, deren Blüte in Licht getaucht ist und zu
-der der Schaft zitternd in mystischer Verehrung emporsteigt...
-
-Wie erstaunlich war auch dieses Licht, das jene Seelen badete, die
-gestern noch verzärtelt und erschlafft gewesen waren und die nun das
-Schicksal in den teuflischen Feuerkreis des Krieges warf! Es war das
-Licht des Todes oder des Spiels mit dem Tode! Maxime, dieses große,
-zarte, verzärtelte und gelangweilte Kind, das in der Friedenszeit sich
-wie eine kleine Mätresse aufputzte, fand einen unerwarteten Genuß in den
-Entbehrungen und harten Anforderungen seines neuen Lebens. Begeistert
-von sich selbst, kehrte er dieses Gefühl in seinen ein wenig
-großsprecherischen Briefen hervor, die das Herz seiner Eltern
-entzückten. Nun war weder seine Mutter eine Heldin Corneilles, noch sein
-Vater ein Römer, und der Gedanke, ihr Kind einer barbarischen Idee
-hinzuopfern, wäre ihnen entsetzlich gewesen. Aber die plötzliche
-Verwandlung ihres Kleinen in einen Helden gab ihnen eine Fülle nie
-gefühlter Zärtlichkeit. Und trotz ihrer Unruhe erfüllte sie die Extase
-ihres Maxime beide mit einer neuen Trunkenheit, die sie undankbar machte
-für das Leben von einst, das gute, friedliche, stille Leben, das
-zärtliche, mit seinen langen, eintönigen Tagen. Maxime hatte für jene
-Zeit eine amüsante Verachtung. Sie schien ihm eng, klein, lächerlich,
-wenn man einmal gesehen hatte, was „da draußen“ vorging... „Da draußen“
-war man zufrieden, drei Stunden jede Nacht auf der harten Erde zu
-schlafen oder auf einem Bündel Stroh, zufrieden, sich um drei Uhr früh
-auf die Beine zu machen und sie mit dreißig Kilometer Marsch zu
-erwärmen, mit dem Tornister auf dem Rücken ein Schwitzbad von acht bis
-zehn Stunden zu nehmen, und zufrieden vor allem, endlich einmal den
-Feind zu erwischen und aus der gedeckten Stellung auf den Boche
-hinzupfeffern... Der kleine Cyrano erzählte, daß der Kampf geradezu eine
-Erholung nach dem Marschieren sei, und er schrieb über ein Scharmützel
-wie über ein Konzert oder ein Kinostück. Der Rhythmus der Geschosse, der
-Krach ihres Abschusses und ihre Explosion erinnerten ihn an die
-Paukenschläge im göttlichen Scherzo der Neunten Symphonie, und wenn
-diese stählernen Fliegen mutwillig, wild, heimtückisch, bösartig oder
-bloß mit einer liebenswürdigen Ungezwungenheit über ihren Köpfen ihre
-Luftmusik machten, hatte er das Gefühl eines Pariser Lausbuben, der aus
-dem Hause stürzt, um eine schöne Feuersbrunst anzuschauen. Es gab keine
-Müdigkeit mehr, der Geist und der Körper waren frisch. Wenn endlich das
-lang erwartete „Vorwärts, marsch“ ertönte, sprang man mit einem Ruck
-leicht wie eine Feder auf zur nächsten Deckung, quer durch den
-Eisenschauer, mit einer wilden Freude am Aufspüren, wie ein Hund, der
-das Wild wittert. Man kroch auf allen Vieren, man schlängelte sich auf
-dem Bauch nach vorwärts, man lief gekrümmt geradeaus, machte schwedische
-Gymnastik durch die Verhaue, und das ließ einen vergessen, daß man nicht
-mehr marschieren konnte. Kam dann die Nacht, so sagte man sich: Was, es
-ist schon Abend? Was haben wir denn heute gemacht? „Langweilig ist im
-Kriege nur“, so beschloß der kleine gallische Hahn seine Erzählung,
-„das, was man auch im Frieden macht, nämlich das Marschieren auf der
-Landstraße.“
-
-So sprachen die jungen Leute in den ersten Monaten des Feldzuges, die
-Soldaten der Marneschlacht, des Bewegungskrieges. Hätte er weiter
-angedauert, so wäre vielleicht die Rasse der Sansculotten der Revolution
-neu erstanden, die, sobald sie einmal für die Eroberung der Welt
-ausgezogen waren, nicht mehr haltmachen konnten.
-
-Aber sie mußten doch haltmachen. Und vom Augenblicke an, wo sie in den
-Schützengräben eingepökelt waren, änderte sich der Ton. Er verlor seinen
-Schwung, seine knabenhafte Sorglosigkeit, er wurde von Tag zu Tag
-männlicher, stoischer, zurückhaltender, beherrschter; Maxime fuhr fort,
-seine Überzeugung vom Endsieg zu betonen. Schließlich sprach er nicht
-einmal davon mehr, er sprach nur noch von der notwendigen Pflicht, und
-bald hörte er auch davon zu sprechen auf, seine Briefe wurden trocken,
-grau, müde.
-
-Im Hinterland aber verminderte sich die Begeisterung durchaus nicht.
-Clerambault ließ nicht nach, wie ein Orgelbalg weiterzudröhnen. Aber von
-Maxime klang nicht mehr das erwartete und erhoffte Echo.
-
- §
-
-Plötzlich kam er auf einige Tage Urlaub zurück. Er hatte niemanden zuvor
-verständigt. Auf der Treppe blieb er stehen, seine Füße waren ihm
-schwer. Obwohl er kräftiger aussah, wurde er rascher müde, und dann: er
-war erregt. Aber er faßte wieder Atem und stieg die Treppe vollends
-empor. Seine Mutter öffnete auf sein Klingeln, sie schrie auf vor
-Überraschung. Clerambault, der in der Wohnung in ewiger Langeweile und
-Erwartung hin und her trottete, lief lärmend herbei. Es gab ein lautes
-Wiedersehen. Nach einigen Minuten ließen die Umarmungen und das
-zusammenhanglose Reden nach, Maxime mußte zum Fenster, sich ins Licht
-hinsetzen und sich von ihren entzückten Blicken betrachten lassen. Sie
-waren begeistert über seine braune Hautfarbe, seine vollen Wangen, sein
-gutes Aussehen; sein Vater tat die Arme auf und rief ihn an: „Mein
-Held!“ — Und Maxime, mit zusammengeballten Händen, fühlte plötzlich,
-daß es ihm unmöglich sei, etwas zu sagen.
-
-Bei Tisch verzehrte man ihn mit den Blicken, man trank seine Worte. Aber
-er sprach beinahe nichts. Die übertriebene Begeisterung der Seinen hatte
-sein erstes leidenschaftliches Gefühl irgendwie gebrochen.
-Glücklicherweise merkten sie es nicht. Sie schoben sein Schweigen der
-Müdigkeit und dem Hunger zu. Übrigens sprach Clerambault für zwei, er
-erzählte Maxime, wie es in den Schützengräben zugehe, und die gute Frau
-Pauline wurde in seinen Worten die Cornelia des Plutarch. Maxime sah sie
-an, aß, sah sie von neuem an: ein Abgrund war zwischen ihnen.
-
-Zu Ende der Mahlzeit, als er im Zimmer seines Vaters in einem Fauteuil
-saß und seine Zigarre rauchte, konnte er nicht anders, als endlich die
-Erwartung der guten Leute zufriedenzustellen. Er begann also, in
-ruhiger, sachlicher Weise seine Tageseinteilung zu schildern, und in
-einer besonderen Schamhaftigkeit war er darauf bedacht, in seinen
-Erzählungen jedes übertriebene Wort und vor allem die tragischen Bilder
-zu vermeiden. Sie hörten zu, zitternd vor Erwartung, und sie warteten
-noch immer, als er schon zu Ende war. Dann gab es ihrerseits einen
-ganzen Sturm von Fragen, Maxime antwortete darauf mit wenigen Worten,
-hastig und ohne Feuer. Schließlich versuchte Clerambault, „seinen
-lustigen Jungen“ aufzumuntern und gab ihm jovial einige Stöße.
-
-„Na also, erzähl’ ein bißchen... so von einem Gefecht bei euch..., das
-muß aber schön sein..., was für eine schöne Sache doch dieser heilige
-Glaube ist... bei Gott, das möchte ich einmal sehen, ich möchte gern an
-deiner Stelle sein.“
-
-Maxime antwortete:
-
-„Alle diese schönen Dinge siehst du besser von hier aus.“
-
-Seit er im Schützengraben war, hatte er keinen Kampf mehr und kaum
-irgendeinen Deutschen gesehen. Einzig den Dreck und das Wasser. — Aber
-sie glaubten es ihm nicht, sie dachten, er rede so aus dem
-Widerspruchsgeist, den sie bei ihm von Kind an kannten.
-
-„Du Spaßvogel“, sagte Clerambault lachend. „Also was macht ihr denn den
-ganzen Tag da in euren Gräben?“
-
-„Man verkriecht sich und schlägt die Zeit tot, die ist unser größter
-Feind.“
-
-Clerambault stieß mit dem Ellenbogen Maxime in die Seite.
-
-„Aber was, andere schlagt ihr doch auch tot!“
-
-Maxime wendete sich zur Seite, sah den guten, neugierigen Blick seines
-Vaters und seiner Mutter und sagte:
-
-„Nein, reden wir über andere Dinge.“
-
-Und nach einem Augenblick:
-
-„Wollt ihr mir ein Vergnügen machen, dann fragt mich heute nichts mehr.“
-
-Erstaunt gaben sie ihm nach und redeten sich ein, er sei erschöpft und
-bedürfe der Ruhe. Sie erwiesen ihm alle möglichen kleinen
-Aufmerksamkeiten, aber dennoch brach Clerambault jeden Augenblick gegen
-seinen eigenen Willen in begeisterte Ansprachen aus, die eine Antwort
-oder eine Zustimmung erforderten. Das Wort „Freiheit“ war der Kehrreim
-aller dieser Tiraden. Maxime lächelte blaß und beobachtete Rosine, deren
-Benehmen seltsam schien. Als ihr Bruder eingetreten war, hatte sie sich
-ihm in die Arme geworfen, aber dann hielt sie sich zurück, fast in einer
-gewissen Distanz. Sie nahm nicht teil an den Fragen ihrer Eltern, und
-statt die Mitteilungen Maximes zu provozieren, schien sie sie eher zu
-fürchten. Die Zudringlichkeit ihres Vaters war ihr peinlich, und die
-Furcht vor dem, was ihr Bruder hätte sagen können, verriet sich in
-unmerklichen Bewegungen oder flüchtigen Blicken, die einzig Maxime
-erfaßte. Er wieder fühlte die gleiche Scheu und vermied es, mit ihr
-allein zu bleiben, und doch waren sie einander nie im Geiste so nahe
-gewesen. Nur wagten sie sich nicht einzugestehen, warum.
-
-Maxime mußte es sich gefallen lassen, allen Bekannten des Vaters
-vorgeführt zu werden. Man schleppte ihn in Paris zu seiner Zerstreuung
-herum. Trotz ihrer Trauerkleider zeigte die Stadt wieder ihr lachendes
-Antlitz. Das Unglück und die Sorgen verbargen sich zu Hause oder in der
-Tiefe der stolzen Herzen, der ewige Jahrmarkt aber breitete in den
-Straßen, in den Zeitungen seine zufriedene Maske aus. Das Publikum der
-Kaffeehäuser und der Teesalons war bereit, zwanzig Jahre durchzuhalten,
-wenn es not tat. Maxime, der mit den Seinen an einem kleinen Tischchen
-in der Konditorei inmitten des heiteren Geschwätzes und dem Duft der
-Frauen saß, sah plötzlich den Unterstand, wo sie sechsundzwanzig Tage
-mit Geschossen bombardiert worden waren, ohne aus dem glitschigen Graben
-heraus zu können, in dem ihnen die Leichen als Schutzwand dienten... Die
-Hand seiner Mutter legte sich auf die seine. Er wachte auf, sah die
-zärtlichen Augen der Seinen, die nach seiner Sorge fragten, sofort
-machte er sich Vorwürfe, die armen Leute zu beunruhigen, lachte, schaute
-herum, und zwang sich, lustig zu sprechen. Seine übermütig knabenhafte
-Leichtigkeit kam wieder, und das Antlitz Clerambaults, das sich für
-einen Augenblick verdüstert hatte, wurde hell, sein Blick dankte
-unbewußt Maxime.
-
-Aber er mußte noch weiter auf der Hut sein. Als sie aus der Konditorei
-herauskamen (Clerambault stützte sich auf den Arm seines Sohnes),
-begegneten sie auf der Straße einem Militärbegräbnis. Es gab Kränze,
-Uniformen, irgendeinen Alten von der Akademie, seinen Säbel zwischen den
-Beinen, und eine Blechmusik, die ihre heroische Klage anstimmte. Die
-Menge bildete ernste Reihen. Clerambault blieb stehen und nahm mit
-großer Geste den Hut ab. Seine linke Hand drückte den Arm Maximes
-fester. Da fühlte er ihn zittern und sah seinen Sohn an. Er sah, daß er
-eine seltsame Miene machte, glaubte, daß Maxime erschüttert sei und
-wollte ihn wegziehen. Aber Maxime rührte sich nicht. Maxime war nur
-erstaunt:
-
-„Ein Toter“, dachte er, „so viel Getue für einen Toten... dort draußen
-trampelt man darüber hinweg... fünfhundert Tote in der Tagesmeldung, das
-ist unser Durchschnitt...“
-
-Ein kleines böses Lachen fuhr ihm über die Lippen. Erschrocken zog ihn
-Clerambault am Arme fort.
-
-„Komm!“ sagte er.
-
-Sie gingen weiter.
-
-„Wenn sie sehen würden“, dachte sich Maxime, „wenn diese Leute einmal
-wirklich sehen würden... die ganze Gesellschaft würde zusammenbrechen...
-aber sie werden es ja nie einsehen, denn sie wollen ja nicht sehen.“
-
-Und seine plötzlich schmerzhaft scharf sehenden Augen sahen mit einem
-Male rings um sich... den Feind: die Gleichgültigkeit der Welt, die
-Dummheit, den Egoismus, den Wucher, die Wurstigkeit, den Kriegsgewinn,
-den Kriegsgenuß, die Lüge bis zu ihren letzten Wurzeln, die in
-Sicherheit Sitzenden, die Drückeberger, die Polizeiknechte, die
-Munitionsfabrikanten mit ihren frech fahrenden Autos, die Kanonen
-glichen, sahen deren Frauen mit den hohen Schuhen und den knallroten
-Lippen, diese gierigen Leckermäuler... ah, sie sind zufrieden, alles
-geht gut... das kann noch lange dauern... Eine Hälfte der Menschheit
-frißt die andere auf.
-
-Sie kehrten heim. Am Abend nach dem Essen war Clerambault schon ganz
-ungeduldig, Maxime sein letztes Gedicht vorzulesen. Die Absicht, aus der
-er es geschrieben, war rührend und ein wenig lächerlich, denn aus Liebe
-zu seinem Sohn versuchte er wenigstens im Geiste, sein Gefährte im Ruhm
-und in der Qual zu sein. Von ferne beschrieb er darin „das Morgenrot im
-Schützengraben“. Zweimal stand er auf, um das Manuskript zu holen. Aber
-immer, wenn er die Blätter schon hielt, hinderte ihn eine Scham. Er
-setzte sich mit leeren Händen wieder hin.
-
-Die Tage gingen rasch vorbei. Sie fühlten sich körperlich nahe, aber
-ihre Seelen berührten einander nicht. Keiner von ihnen wollte es
-eingestehen, und jeder wußte es. Traurigkeit stand zwischen ihnen, und
-sie zwangen sich, ihre wirkliche Ursache nicht zu sehen, und zogen vor,
-sie der nahen Rückreise zuzuschieben. Von Zeit zu Zeit machte der Vater
-oder die Mutter einen neuen Versuch, die alte Intimität
-wiederherzustellen. Jedesmal war es die gleiche Enttäuschung, Maxime
-fühlte, daß er sich mit ihnen und mit keinem vom Hinterland verständlich
-machen könne, daß seine und ihre Welt zwei verschiedene geworden waren.
-Würden sie einander niemals wiederfinden?... Und doch verstand er sie
-nur zu gut! War er doch selbst dem gefährlichen Einfluß, der auf ihnen
-lastete, früher unterlegen und erst dort draußen wach geworden an der
-Berührung mit den Leiden und dem wirklichen Tode. Aber gerade weil er
-selbst ein Opfer gewesen war, wußte er, daß es unmöglich sei, die
-anderen mit Worten zu heilen. So schwieg er, ließ die anderen reden,
-lächelte, nickte, ohne zuzuhören. Was das Hinterland beschäftigte, das
-Gebrüll der Zeitungen, die persönlichen Streitigkeiten (und welcher
-Persönlichkeiten, der alten Hanswurste und gierigen Politiker!), das
-patriotische Geschwätz der Schreibtischstrategen, die Aufregung über das
-schlechte Brot und die Zuckerkarte, oder über die Tage, an denen die
-Konditoreien geschlossen waren — all das erfüllte ihn mit einem Ekel
-der Langeweile, einem unendlichen Mitleid mit diesem Volk des
-Hinterlandes, dem er sich bis ins Tiefste fremd fühlte.
-
-So schloß er sich immer mehr in ein rätselhaftes, dumpfes Schweigen ein.
-Nur für Augenblicke zwang er sich heraus, wenn er an die kurze Zeit
-dachte, die er noch mit den guten Menschen zu teilen hatte, die ihn so
-sehr liebten. Dann begann er plötzlich belebt zu sprechen, gleichgültig
-worüber. Das Wichtigste war ja doch, daß man Worte machte, wenn man
-schon seine Gedanken nicht sagen durfte. Natürlich fiel man immer wieder
-auf die Gemeinplätze des Tages zurück, die politischen, militärischen,
-die allgemeinen Fragen, alle die Dinge, die sie ebenso gut in ihrer
-Zeitung hätten lesen können. „Die Zerschmetterung der Barbaren“, der
-„Triumph des Rechtes“ füllten die Reden, die Gedanken Clerambaults aus.
-Maxime hörte seine Predigten gläubig an und sagte, wenn die Messe zu
-Ende war, sein „_cum spirito tuo_“. Aber beide warteten nur auf eines:
-d a ß d e r a n d e r e e n d l i c h a n f a n g e n w ü r d e z u
-s p r e c h e n.
-
-Sie warteten so lange, bis schließlich der Tag der Trennung kam. Kurz
-vor seiner Abreise trat Maxime in das Zimmer seines Vaters. Er war
-entschlossen, sich mit ihm auseinanderzusetzen:
-
-„Papa, bist du eigentlich ganz sicher?...“
-
-Die Verwirrung auf dem Antlitz seines Vaters hinderte ihn
-weiterzusprechen. Ein plötzliches Mitleid überkam ihn. Und er fragte
-nur, ob sein Vater wirklich sicher sei über die Stunde der Abfahrt.
-Clerambault nahm das Ende dieser Frage mit allzu sichtlicher
-Erleichterung auf, und kaum daß er nochmals die Auskunft gegeben hatte
-— auf die Maxime gar nicht hörte — begann er von neuem, seinen
-Redestrom loszulassen und sich in den gewöhnlichen idealistischen
-Deklamationen zu ergehen. Maxime schwieg enttäuscht. Während der letzten
-Stunde sagten sie sich nur Oberflächlichkeiten. Alle, außer der Mutter,
-fühlten, daß sie das Wirkliche verschwiegen. Äußerlich hatten sie alle
-heitere und vertrauensvolle Worte, sichtliche Erregung, im Herzen den
-ewigen Seufzer: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
-
-Schließlich ging Maxime. Im tiefsten Herzen war er erleichtert, wieder
-an die Front zurückzukehren. Der Abgrund, den er zwischen der Front und
-dem Hinterlande fühlte, schien ihm tiefer zu sein als alle
-Schützengräben, und er wußte, daß das Mörderischste nicht die Kanonen
-waren, sondern die Ideen. Wie er am Fenster des wegrollenden Waggons die
-erschütterten Gesichter entschwinden sah, dachte er:
-
-„Arme Leute! Ihr seid ihre Opfer! Und wir sind die euren!...“
-
- §
-
-Am Tage nach seiner Rückkehr an die Front brach die große
-Frühlingsoffensive los, die dem Feind von den redseligen Zeitungen
-bereits seit längeren Wochen angedroht worden war. Mit ihr hatte man die
-Hoffnung der ganzen Nation während des dumpfen Winters der Erwartung und
-der totenähnlichen Starre unablässig genährt. Ein Schauer ungeduldiger
-Freude erhob sich im ganzen Volke, man war des Sieges sicher und rief
-ihm das „endlich!“ zu.
-
-Die erste Nachricht schien dieser Hoffnung recht zu geben. Sie erzählte,
-wie es der Brauch ist, natürlich nur von den Verlusten des Feindes. Alle
-Gesichter strahlten. Die Eltern, deren Kinder, die Frauen, deren Männer
-draußen waren, fühlten sich erhoben bei dem Gedanken, daß ihre Schöpfung
-und ihre Liebe teil hatte am blutigen Liebesmahl. In ihrer Begeisterung
-kamen sie kaum auf den Gedanken, daß der Ihre auch ein Opfer sein
-konnte. Dieser Fieberzustand war derartig, daß Clerambault, der doch ein
-zärtlicher, liebevoller und für die Seinen besorgter Vater war, nur
-fürchtete, sein Sohn sei vielleicht noch nicht rechtzeitig zurück
-gewesen, um an dem „glorreichen Tag“ teilzunehmen. Sein ganzer Gedanke
-war, er möchte dabei gewesen sein, seine glühendsten Wünsche warfen ihn
-in den Abgrund hinein. Er opferte ihn auf, er gab ihn und sein Leben
-hin, ohne sich zu fragen, ob der Wille seines Kindes selbst damit
-einverstanden war. Da er, Clerambault, sich selbst nicht mehr gehörte,
-konnte er es einfach nicht mehr verstehen, daß ein anderer seiner
-Nächsten sich noch selbst gehörte. Die dunkle Gewalt des Masseninstinkts
-hatte alles aufgezehrt.
-
-Und doch, manchmal ließ ihn irgendein Rest von Selbstanalyse einige
-Spuren seiner früheren Natur wiederfinden. Es war immer, wie wenn man
-einen empfindlichen Nerv berührt — ein dumpfer Schlag, ein Schatten von
-Schmerz. Aber er geht vorbei, und man leugnet ihn dann.
-
-Nach drei Wochen stapfte die erschöpfte Offensive noch immer auf den
-blutgedüngten Kilometern herum. Die Zeitungen begannen die
-Aufmerksamkeit abzulenken, indem sie das Interesse auf irgendein anderes
-Thema lockten. Maxime hatte seit seiner Abreise nicht mehr geschrieben.
-Man suchte, um sich zu gedulden, irgendeinen jener Vorwände, wie sie die
-Vernunft ja so gefällig gibt, aber das Herz glaubt nicht an sie. Wieder
-gingen acht Tage vorbei. Untereinander tat jeder der drei so, als ob er
-zuversichtlich wäre. Aber in der Nacht, wenn jeder allein in seinem
-Zimmer war, schrie die Seele in ihrer Angst auf. Ganze Stunden lang war
-das Ohr auf der Lauer, horchte, die Nerven zum Zerreißen angespannt auf
-jeden Schritt, der die Treppe emporkam, lauschte auf die Klingel oder
-die Berührung einer Hand, die an die Tür streifte.
-
-Allmählich kamen die ersten offiziellen Nachrichten über die Verluste.
-In mehreren befreundeten Familien zählte man schon einige Tote und
-Verwundete. Jene, die alles verloren hatten, beneideten diejenigen,
-denen ihre Lieben vielleicht blutend und verstümmelt, doch wenigstens
-würden wiedergegeben werden. Einige hüllten sich in ihre Toten ein wie
-in die Nacht, für sie war der Krieg zu Ende, das Leben zu Ende. Bei
-anderen aber blieb in erstaunlicher Weise die ursprüngliche Exaltation
-beharrlich: Clerambault sah eine Mutter, die ihr Patriotismus und ihre
-Trauer so fieberig entflammten, daß man fast das Gefühl hatte, sie freue
-sich am Tod ihres Sohnes. Sie sagte mit fanatischer und leidenschaftlich
-zusammengeballter Freude: „Ich habe alles gegeben, ich habe alles
-hingegeben“, so wie eine, die im Taumel der letzten Sekunden spricht,
-ehe sie sich mit ihrem Geliebten ins Wasser stürzt. Aber Clerambault,
-schwächeren Wesens oder schon aus seinem Taumel erwachend, dachte immer
-nur:
-
-„Auch ich habe alles gegeben — sogar das, was mir nicht mehr gehörte.“
-
-Er wandte sich an die militärische Behörde. Man wußte noch nichts. Acht
-Tage später kam die Nachricht, daß der Sergeant Clerambault Maxime als
-„vermißt“ seit der Nacht vom 27./28. des vergangenen Monats verzeichnet
-war. In den Pariser Büros konnte Clerambault keine weiteren Einzelheiten
-erfahren. Er fuhr nach Genf, suchte das Rote Kreuz, das Büro der
-Gefangenen auf, erfuhr nichts, stürzte sich auf jede Fährte, erhielt die
-Erlaubnis, in den Hospitälern und Etappendepots die Kameraden seines
-Sohnes befragen zu dürfen, die ganz entgegengesetzte Auskünfte gaben.
-(Die einen sagten, er sei gefangen, die anderen hatten ihn tot gesehen
-— am nächsten Tage gaben beide zu, daß sie sich geirrt hatten... o
-Qual... Gott, was für ein Henker bist du!...) Und nach zehn Tagen kam er
-endlich von diesem Passionsweg gealtert, gebrochen, erschöpft heim.
-
-Er fand seine Frau in einem Paroxismus lauten Schmerzes, der sich bei
-diesem gutmütigen Wesen in einen rasenden Haß gegen den Feind verwandelt
-hatte. Sie schrie nur Rache und Rache. Zum erstenmal antwortete ihr
-Clerambault nicht. Es blieb ihm keine Kraft mehr zu hassen — er
-verbrauchte seine ganze im Leiden.
-
-Er schloß sich in sein Zimmer ein. Während dieser ganzen furchtbaren
-zehntägigen Pilgerfahrt hatte er sich kaum ein einziges Mal seinen
-Gedanken gegenübergestellt. Nur eine Idee hatte ihn Tag und Nacht
-hypnotisiert, so wie einen Hund auf der Fährte: nur schneller, nur
-rascher vorwärts kommen. Die Langsamkeit der Wagen und Züge hatte ihn
-verzehrt. Es war vorgekommen, daß er ein Zimmer für die Nacht bestellte
-und doch noch am selben Abend wieder abreiste, ohne sich Zeit zur
-Erholung zu lassen, und dieses Fieber der Hast und Erwartung hatte alles
-aufgeschluckt. Es machte ihn unfähigen (zu seinem Glück), irgendwie im
-Zusammenhang zu denken. Aber jetzt war die Hetzjagd zu Ende, die
-Vernunft fand sich wieder, atemlos und röchelnd. Clerambault war jetzt
-gewiß, daß Maxime tot sei. Er hatte es seiner Frau nicht gesagt und ihr
-einige Mitteilungen verschwiegen, die ihm jede Hoffnung raubten, denn
-sie war eine jener Naturen, für die es ein Lebensbedürfnis ist, sich
-selbst gegen alle Vernunft einen Schein von Lüge zu bewahren, der sie so
-lange noch aufrecht hält, bis die große Flut des Schmerzes ein wenig
-verebbt ist. Vielleicht wäre Clerambault vordem auch einer dieser
-Menschen gewesen, aber jetzt erkannte er schon zu gut, wohin dieser
-Selbstbetrug geführt hatte. Er wagte noch nicht zu richten, versuchte
-überhaupt noch kein Urteil, er lag nur da in seiner Nacht, zu schwach,
-sich aufzurichten, rings um sich zu tasten, lag wie einer, der nach
-einem Sturz seinen zerschmetterten Körper regt und erst an seinem
-Schmerze gewahr wird, daß er noch lebt und sich bemüht, zu verstehen,
-was ihm eigentlich zugestoßen sei. Der weit aufgerissene tiefe Abgrund
-dieses Todes starrte ihn an und bezauberte ihn. Dieses schöne Kind, das
-man mit so viel Lust, mit so viel Mühe erzogen hatte, dieser Reichtum an
-blühender Hoffnung, das kleine, unvergleichliche Weltall, das ein junger
-Mensch bedeutet, dieser Baum von Jesse, dieses kommende Jahrhundert...
-all das zerstört in einer Stunde... und wofür? Wofür?
-
-Er versuchte sich wenigstens zu überreden, daß es für etwas sehr Großes
-und Notwendiges geschehen sei. Mit Verzweiflung klammerte sich
-Clerambault in den folgenden Tagen und Nächten an diese Boje, er wußte,
-wenn seine Finger sie losließen, müsse er ertrinken. Noch gewaltsamer
-suchte er die Heiligkeit der Sache zu betonen, obwohl er es vermied,
-darüber zu diskutieren. Aber seine Finger klammerten sich immer
-schwächer an, bei jeder Bewegung sank er mehr hinab in die Tiefe, bei
-jeder neuen Bekräftigung des Rechtes und der Gerechtigkeit erhob sich
-aus seinem Gewissen wie ein finsterer Donner eine Stimme, die sagte:
-
-„Und wenn ihr auch zwanzigtausendmal mehr Recht hättet in eurem Kampf,
-kauft dies, daß eure Vernunft recht behält, das entsetzliche Unglück
-darum schon zurück, mit dem es bezahlt ist? Wiegt euer Recht die
-Millionen Unschuldigen auf, die als Pfand des Unrechts und des Irrtums
-der andern fallen? Wäscht ein Verbrechen das andere rein, ein Mord den
-andern? War es wirklich nötig, daß eure Söhne nicht nur Opfer, sondern
-auch Mitschuldige waren, nicht nur Ermordete, sondern auch Mörder?“
-
-Er sah im Geiste noch einmal den letzten Besuch seines Sohnes, hörte
-ihre letzten Gespräche, und alles wiederholte sich in seinem Herzen.
-Wieviel Dinge verstand er jetzt, die er damals nicht verstanden hatte!
-All das oftmalige Schweigen Maximes, die Vorwürfe seiner Augen... Aber
-das Schlimmste von allem für ihn kam, als er sich darüber klar wurde,
-daß er sie schon damals verstanden hatte, damals, als sein Sohn noch da
-war, und daß er sie nur nicht hatte verstehen wollen.
-
-Und diese Entdeckung, die er schon seit einigen Wochen wie eine finstere
-Drohung über sich schweben fühlte — diese Entdeckung seiner inneren
-Lüge erdrückte ihn.
-
- §
-
-Rosine Clerambault war bis zum gegenwärtigen kritischen Augenblick
-gleichsam verloschen gewesen. Die anderen, und beinahe sie selbst,
-wußten nichts von ihrem Innenleben, kaum ihr Vater hatte davon eine
-deutliche Ahnung. Ohne Freundinnen oder gleichalterige Kameradinnen
-hatte sie die ganze Zeit unter dem Schutzmantel der Wärme
-selbstsüchtiger und erstickender Familienzärtlichkeit dahingelebt. Die
-Eltern standen zwischen ihr und der äußeren Welt, sie war schon daran
-gewöhnt, in ihrem Schatten dahinzuleben; sehnte sie sich dann, als sie
-herangewachsen war, aus dieser Sphäre herauszukommen, so wagte sie es
-nicht, wußte auch gar nicht, was mit sich anfangen. Denn kaum, daß sie
-aus dem Familienkreise heraustrat, fühlte sie sich gehemmt, ihre
-Bewegungen wurden ungelenk, sie konnte kaum sprechen, und das allgemeine
-Urteil fand sie unbedeutend. Sie wußte das und litt daran, denn sie war
-nicht ohne Selbstgefühl. So ging sie so wenig als möglich aus, blieb in
-ihrem Kreise, still, einfach und natürlich, und diese Stille war nicht
-die Folge einer Trägheit des Denkens, sondern der Geschwätzigkeit der
-anderen. Der Vater, die Mutter, der Bruder waren alle überschwänglich,
-so schloß sich dieses kleine Wesen aus Gegensätzlichkeit in sich selbst
-ein. Aber sie hielt Zwiesprache mit sich in ihrem Herzen.
-
-Sie war blond, groß und schmal, hatte die Formen eines Knaben, hübsches
-Haar, dessen Locken leicht über die Wangen spielten, einen großen und
-ernsten Mund. Die untere Lippe war gegen die Mundwinkel zu etwas voll,
-sie hatte große, stille, träumerische Augen, fein und zart gezogene
-Brauen und ein hübsches Kinn. Auch ihr Hals war hübsch, ihre Brust zart
-und ebenso die Hüfte, nur die Hände etwas rot und groß mit vollen Adern.
-Ein Nichts konnte sie erröten machen. Der Reiz ihrer Jugend lag in der
-Stirn und im Kinn, die Augen fragten nur herum, träumten, aber verrieten
-nichts.
-
-Ihr Vater hatte eine Vorliebe für sie, ebenso wie die Mutter für den
-Sohn: es gab zwischen ihnen geheime Beziehungen. Ohne es zu wollen,
-hatte Clerambault unaufhörlich sich des Mädchens seit dessen Kindheit
-mit seiner Zärtlichkeit bemächtigt und hielt es unablässig darin
-gefangen. Er hatte zum Teil selbst Rosinens Erziehung geleitet und sie
-mit der oft ein wenig aufdringlichen Naivität des Künstlers zu seiner
-Vertrauten gemacht. Dazu verführte ihn sein überströmendes Wesen, sein
-Bedürfnis, sich mitzuteilen, und das geringe Echo, das er bei seiner
-Frau fand: dieser guten Frau, die vor ihm auf den Knien lag und dort
-gewissermaßen liegen geblieben war. Sie sagte „ja“ zu allem, was er
-sagte, bewunderte ihn voll Vertrauen, aber sie verstand ihn nicht und
-merkte es nicht einmal, daß sie ihn nicht verstand. Das Wichtigste waren
-für sie nicht die Ideen ihres Mannes, sondern er selbst, seine
-Gesundheit, seine Zufriedenheit, seine Bequemlichkeit, seine Kleidung
-und Nahrung. Clerambault als dankbare Natur fällte kein Urteil über
-seine Frau, ebensowenig wie Rosine über ihre Mutter, aber beider
-Instinkt wußte wohl, was von ihr zu halten war, und dies war ein
-geheimes Band, das sie einte. Clerambault bemerkte gar nicht, daß er
-allmählich aus seiner Tochter seine wahre geistige Gattin und Gefährtin
-gemacht hatte; erst in der letzten Zeit wurde er dessen ahnend gewahr,
-als die politische Krise zwischen ihnen die stillschweigende
-Übereinstimmung löste und ihm plötzlich die Zustimmung, die geheime
-Neigung Rosinens fehlte. Rosine wußte all die Dinge längst vor ihm, sie
-vermied nur, ihr Geheimnis näher zu untersuchen. Das Herz braucht für
-sein Wissen nicht den Appell an den Verstand.
-
-Seltsames und wundervolles Geheimnis der Liebe, die die Seelen
-verbindet! Sie weiß unabhängig zu bleiben von den Gesetzen der
-Gesellschaft und selbst der Natur, aber nur wenige Menschen werden
-dessen gewahr, und noch wenigere wagen es, sich es einzugestehen, aus
-Furcht vor der Plumpheit der Welt, die immer nur Gesamturteile hören
-will und sich an den engen Sinn der Gewohnheitssprache hält. Aber in
-dieser konventionell abgeschliffenen Sprache, die aus gesellschaftlicher
-Vereinfachung mit Absicht ungenau bleibt, sind die Worte weit davon
-entfernt, die lebendigen Nuancen der vielfältigen Wirklichkeit zu
-offenbaren und aufzuschließen, im Gegenteil, sie fesseln, uniformieren,
-versteinern sie und stoßen sie in den Dienst der selbst an die Kette
-gelegten Vernunft — jener Vernunft, die nicht aus den Tiefen des
-Geistes entspringt sondern — wie eine Fontäne in Versailles — aus
-weiten, in das Gefüge der zivilisierten Gesellschaft eingemauerten
-Wasserflächen. In diesem gleichsam juristischen Vokabular ist die Liebe
-an das Geschlecht, an das Alter, an gewisse gesellschaftliche Klassen
-gebunden, und je nachdem, ob sie sich den geltenden Umständen fügt,
-entweder als natürlich oder nicht, als legitim oder nicht anerkannt.
-
-Aber was diese Worte erhaschen, ist nur ein dünnes Rinnsal aus den
-tiefen Quellen der Liebe. Die unendliche Liebe, gleichsam das
-Schwergewichtsgesetz, das die Welten bewegt, kümmert sich nicht um den
-Rahmen, den wir um ihr Wesen ziehen. Sie geschieht zwischen Seelen, die
-alles innerhalb Raum und Zeit voneinander zu entfernen scheint, über
-Jahrhunderte hinweg eint sie die Gedanken von Lebenden und Toten, sie
-schlingt enge und keusche Bindung zwischen Alten und Jungen, bringt den
-Freund dem Freunde und oft die Seele des Kindes der eines Greises näher,
-als sie beide, Mann oder Frau, jemals vielleicht in ihrem Leben
-Gefährtin oder Gefährten finden werden. Zwischen Vater und Kind gibt es
-oft solche Bindungen, ohne daß beide ihrer gewahr würden. Und „des
-Menschen Geschlechte“ (wie unsere Vorväter sagten) zählen so wenig im
-ewigen Antlitz der Liebe, daß zwischen Vätern und Kindern die
-Beziehungen vertauscht sind und die Kinder oft nicht die Jüngeren sind
-von beiden, sondern der Vater das wahre Kind ist. Wieviel Söhne
-empfinden fromm eine väterliche Liebe für ihre alte Mutter! Und
-geschieht es nicht wieder auch uns, daß wir uns ganz demütig und klein
-vor den Augen eines Kindes fühlen? Das Bambino Botticellis läßt auf der
-reinen Jungfrau seinen Blick voll einer unbewußten schmerzlichen
-Erfahrung ruhen, die so alt ist wie die Welt.
-
-Auch die Zuneigung Clerambaults und Rosinens war von solcher erhabenen
-und frommen Wesensart, wie sie Vernunft allein nicht zu erklären vermag.
-Und deshalb begann in den Tiefen des bewegten Meeres tief unterhalb
-jener Schwankungen und Gewissenskämpfe, die der Krieg entfesselte,
-zwischen diesen beiden Seelen, die durch solche heilige Liebe verbunden
-waren, ohne Gesten, fast ohne Wort, ein geheimes Drama. Aus diesem
-unbewußten Gefühl erklärte sich auch die Zartheit ihres beiderseitigen
-Spürens. Zuerst war es das stumme Sichzurückziehen Rosinens, die, in
-ihrer Zärtlichkeit enttäuscht, in ihrem geheimen Ehrfurchtskult durch
-die Haltung ihres vom Krieg verführten Vaters ernüchtert, sich leise von
-ihm weghielt wie eine kleine antike, keusch verhüllte Statue; schon aber
-empfand die Unruhe Clerambaults, dessen Feinfühligkeit durch sein
-zärtliches Gefühl geschärft war, dieses „_Noli me tangere_“. Es gab
-zwischen dem Vater und der Tochter in jener Zeit kurz vor dem Tode
-Maximes eine unausgesprochene Entfremdung, die man vielleicht (wenn die
-Worte nicht zu grobschlächtig wären) einen Liebeskummer im reinsten
-Sinne des Wortes hätte nennen können. Dieser geheime Zwiespalt, der nie
-zu einem Wort zwischen ihnen aufschwebte, war für beide eine Kränkung,
-er verwirrte das junge Mädchen und reizte Clerambault, denn dieser
-kannte wohl die Ursache, nur sein Stolz weigerte sich, sie anzuerkennen.
-Aber bald kam er soweit, sich eingestehen zu müssen, daß Rosine im Recht
-war, und gern hätte er sich gedemütigt, aber er blieb in falscher Scham
-verschlossen. So verschärften sich die Mißverständnisse noch im Geiste,
-indes schon das Herz zur Nachgiebigkeit aufforderte.
-
-Während der inneren Verwirrung nach dem Tode Maximes lastete diese Bitte
-dringlicher auf ihren schon mehr zur Nachgiebigkeit bereiten Seelen.
-Eines Tages, als die drei sich zum Abendessen zusammenfanden — es war
-dies die einzige Stunde, die sie verband, denn jeder lebte für sich,
-Clerambault ganz seiner Trauer hingegeben, Frau Clerambault immer
-ziellos beschäftigt und Rosine den ganzen Tag abwesend bei ihren
-Hilfsaktionen — hörte Clerambault seine Frau heftig Rosinen Vorwürfe
-machen. Rosine sprach von ihrer Absicht, die Pflege von feindlichen
-Verwundeten zu übernehmen, und Frau Clerambault, die dies als Verbrechen
-empfand, regte sich darüber auf.
-
-Sie rief ihren Mann als Richter an. Clerambault, dessen müde, dunkle und
-leidende Augen zu verstehen begannen, sah Rosine an, die schweigend und
-mit gesenkter Stirn seine Antwort erwartete. Dann sagte er:
-
-„Meine Kleine hat recht.“
-
-Rosine errötete vor plötzlicher Erregung, denn das hatte sie nicht
-erwartet. Dankend hob sie die Augen zu ihm auf; ihr Blick schien zu
-sagen:
-
-„Endlich habe ich dich wiedergefunden.“
-
-Nach der kurzen Abendmahlzeit trennten sich alle drei, jeder blieb für
-sich. Clerambault, vor seinem Arbeitstisch, weinte, das Antlitz in den
-Händen. Der Blick seiner Tochter hatte sein von Schmerz erstarrtes Herz
-aufgelöst. Es war seine verlorene Seele, die seit Monaten erstickte,
-dieselbe Seele, die er vor dem Kriege besessen und nun wiedergefunden
-hatte. Und sie blickte ihn an....
-
-Er trocknete seine Tränen und lauschte an der Tür... Seine Frau ordnete
-wie allabendlich in dem doppelt verschlossenen Zimmer Maximes wieder und
-wieder und wieder die Wäsche und die Gegenstände des Toten... Er trat in
-das Zimmer seiner Tochter, wo Rosine allein nahe beim Fenster saß und
-nähte. Sie war ganz in ihre Gedanken verloren und hörte sein Kommen
-erst, als er schon dicht neben ihr stand.
-
-Er neigte seinen ergrauten Kopf gegen sie und sagte:
-
-„Mein kleines Mädchen.“
-
-Da zerschmolz auch ihr Herz, sie ließ ihre Arbeit fallen, nahm das alte
-Haupt mit den wirren Haaren zwischen ihre Hände und sagte, während ihre
-Tränen sich mit jenen, die sie hinströmen sah, vermengten:
-
-„Lieber, lieber Vater!“
-
-Aber weder der eine noch der andere bedurfte einer Erklärung, weshalb
-sie zueinander gekommen waren. Nach einem langen Schweigen, als er seine
-Ruhe wiedergefunden, sagte er mit einem Blick auf sie:
-
-„Mir ist, als ob ich aus einem furchtbaren Wahn erwachte.“
-
-Sie streichelte ihm das Haar, ohne zu sprechen.
-
-„Aber du hast über mir gewacht, nicht wahr? Ich habe es gefühlt, immer
-bemerkt... hat es dir sehr weh getan?“
-
-Sie nickte mit dem Kopfe, ohne ihn anzusehen. Er küßte ihr die Hände,
-richtete sich auf und sagte:
-
-„Mein guter Engel, du hast mich gerettet.“
-
- §
-
-Er kehrte in sein Zimmer zurück.
-
-Sie blieb allein, ohne sich zu rühren, ganz durchdrungen von Erregung.
-Lange verharrte sie so gesenkten Hauptes, die Hände über ihren Knien
-gefaltet. Die Flut der Gefühle, die wild aus ihr aufquollen, ließen
-ihren Atem stocken, ihr Herz war schwer von Liebe, Glück und Beschämung.
-Die Demut ihres Vaters verwirrte sie... Plötzlich riß sie ein Schwall
-von Zärtlichkeit und leidenschaftlichem Mitleid aus der Starre, die ihre
-Glieder und ihre Seele umfing, sie streckte die Arme gegen den Fernen
-aus, warf sich verwirrt vor ihrem Bett nieder, dankte Gott und bat ihn
-im Gebete, er möge alle Schmerzen auf sie häufen und das Glück ihm
-schenken, den sie liebte.
-
-Aber der Gott, den sie beschworen, hatte nicht acht auf ihren Wunsch.
-Auf die Augen des Mädchens senkte er den guten Schlaf des Vergessens;
-Clerambault indes mußte noch den Gipfel seines Kalvarienberges
-erklimmen.
-
- §
-
-In der Nacht seines Zimmers, bei erloschener Lampe, blickte Clerambault
-in sich hinein. Er war entschlossen, bis in die letzte Tiefe seiner
-verlogenen und ängstlichen Seele, die der Wahrheit entflohen,
-hinabzuforschen. Die Hand seiner Tochter, deren Kühle er noch auf seiner
-Stirn fühlte, hatte das letzte Zögern weggestreift. Er war entschlossen,
-dem Ungeheuer Wahrheit ins Auge zu sehen, auch auf die Gefahr hin, von
-seinen Tatzen, die keinen mehr loslassen, den sie einmal erfaßt haben,
-zerfleischt zu werden.
-
-Mit Angst, aber mit entschlossener Hand begann er in blutigen Stücken
-die Haut der irdischen Vorurteile, der Leidenschaften und fremden Ideen,
-die seine Seele ganz umwachsen hatte, von ihr loszulösen.
-
-Zuerst das dicke Fell des tausendköpfigen Tieres, der gemeinsamen
-Herdenseele. Aus Angst und aus Schwäche hatte er sich in sie
-hineingeflüchtet, denn sie hält warm, fast zum Ersticken warm, man ruht
-gut darin, und doch ist sie ein schmutziges Kissen. Aber ist man einmal
-drinnen in dieser weichen Masse, so ist es vorbei mit jedem Versuch, aus
-ihr herauszukommen, und man will es auch gar nicht mehr. Man braucht
-nicht mehr zu denken, zu wollen, man ist geschützt vor der kalten
-Zugluft der Verantwortlichkeit. Trägheit und Feigheit... Fort! Weg
-damit!... Sogleich stürzt durch die offenen Ritzen der eisige Wind! Man
-schauert zurück — aber schon ist durch diesen kalten Stoß die
-Schläfrigkeit abgeschüttelt. Die umnebelte Energie richtet sich wankend
-wieder auf. Was wird sie draußen finden? Sei es, was es wolle, sie muß
-es sehen.
-
-Er sah zuerst, das Herz von Ekel geschüttelt, was er nie geglaubt hätte
-— wie tief dieses fettige Fell schon mit seinem Fleische verwachsen
-war. Er witterte darinnen gleichsam eine späte faule Ausdünstung der
-Urbestie, alle die wilden uneingestandenen Instinkte des Krieges, des
-Mordes, des vergossenen Blutes, des von gierigen Kinnladen zerrissenen
-Fleisches. Er fühlte die ganze Urkraft des Todes über das Leben, er
-fühlte in der Tiefe des menschlichen Seins die Grube des Schlachthauses,
-die die Zivilisation, statt sie zuzuschütten, nur mit dem Schwall ihrer
-Lüge verhüllt und über der der dumpfe Dunst vergossenen Blutes
-schwelt... Dieser widrige Geruch ernüchterte Clerambault vollständig.
-Mit Grauen riß er die Haut der Bestie von sich ab, deren Beute er
-geworden war.
-
-Ah, wie sie schwer war, heiß, zugleich stinkend und schön, seidenhaarig,
-warm und doch blutig. Zusammengefügt aus den niedrigsten Instinkten und
-den erlauchtesten Träumen. Was war nicht alles darin verwebt, das
-Lieben, Sich-Hingeben, Sich-Aufopfern, ein Körper und eine Seele Sein im
-Vaterland, dem einzig Lebendigen!... Aber was ist denn dieses Vaterland,
-dieses einzige Leben, dem man nicht nur sein Leben, nein, alle Leben
-hinwirft, und dazu noch sein Gewissen, alle Gewissen? Und was ist dies
-für eine blinde Liebe, deren anderes Janusantlitz mit den ausgerissenen
-Augen nur blinden Haß zeigt?
-
-„Man hat höchst fälschlich den Namen der Vernunft von dem der Liebe
-getrennt und sie ohne guten Grund einander gegenübergestellt“, sagt
-Pascal. „Die Liebe und die Vernunft sind ein und dasselbe. Es ist ein
-vorschnelles Denken, das sich zu einer Seite hinwendet, ohne alles
-geprüft zu haben, aber immerhin, es ist eine Art zu denken.“
-
-Nun gut, durchdenken wir das Ganze! Birgt sich nicht gerade in dieser
-Form der Liebe bei vielen Furcht, alles zu prüfen, tun sie nicht gleich
-dem Kinde, das, um den Schatten an der Wand nicht zu sehen, den Kopf
-unter die Decke steckt?
-
-Das Vaterland? Was ist es? Ein Hindutempel: Menschen, Ungetüme und
-Götter. Was ist sein eigentliches Wesen? Die heimische Erde? Die ganze
-Erde ist unsere gemeinsame Mutter. Oder ist es die Familie? Es gibt hier
-Familien und drüben, beim Feind und bei uns, und beide wollen sie nur
-den Frieden. Oder sind es die Armen, die Arbeiter, das Volk? Die sind
-auf beiden Seiten gleich elend und gleich ausgebeutet. Oder sind es die
-Geistigen? Die haben nur ein gemeinsames Feld, und ihre Eitelkeiten und
-Streitigkeiten sind ebenso lächerlich im Morgenlande wie im Abendlande.
-Die Welt hat anderes zu tun als sich wegen des Gezänkes eines Vadius und
-eines Trissotin zu bekämpfen. Ist es also der Staat? Der Staat ist nicht
-das Vaterland. Einzig jene, die davon Vorteil haben, mischen diese
-beiden Begriffe ineinander. Der Staat ist unsere Kraft, die einige
-Menschen ausnützen oder mißbrauchen. Menschen wie wir, die nicht mehr
-wert sind als wir selbst und oft weniger, und von denen wir uns in
-Friedenszeit sonst nicht narren lassen und die wir im allgemeinen
-richtig zu beurteilen wissen. Aber kaum, daß der Krieg da ist, lassen
-wir ihnen freie Hand, sie dürfen die niedrigsten Instinkte entfesseln,
-jede Kontrolle ersticken, jede Freiheit hinmorden, jede Wahrheit, die
-ganze Menschheit. Sie sind dann die Herren, man muß sich in Reih und
-Glied drücken, um die Ehre und die Dummheit dieser in Herrenkleider
-vermummten Bedienten zu verteidigen. Wir sind einig, sagt man?
-Erbärmliches Wortnetz! Einig sind wir ohne Zweifel, wir haben die
-schlechtesten und die besten in unseren Völkern beisammen, das ist wahr,
-das wissen wir. Aber daß eine Pflicht uns bindet, ihre Ungerechtigkeiten
-und Sinnlosigkeiten mitzumachen, das leugne ich...
-
-Die Gemeinsamkeit soll darum nicht verachtet sein. Niemand, denkt
-Clerambault, hat mehr als ich ihre Lust gefühlt, ihre Größe gefeiert. Es
-ist gut, gesund, stärkend und kräftigend, den nackten, starren und eisig
-einsamen Egoismus in jenes Bad des Vertrauens und der brüderlichen
-Aufopferung hinabzuwerfen, das die Massenseele bedeutet. Man entspannt
-sich, man gibt sich hin, man atmet. Der Mensch bedarf der anderen, er
-ist den anderen verpflichtet. Aber er ist ihnen nicht mit seinem ganzen
-Wesen verpflichtet. Denn was bliebe ihm sonst für Gott? Er muß sich den
-anderen hingeben, doch um geben zu können, muß man etwas haben, man muß
-vor allem selbst etwas sein. Aber wie kann man selbst etwas sein, wenn
-man ganz in die anderen zerfließt? So viel Pflichten es auch gibt, die
-erste ist, sein eigenes Selbst zu sein und zu bleiben bis zur
-Aufopferung und Hingabe seines Ich. Das Bad in der Massenseele als
-Dauerzustand wäre eine Gefahr. Aus seelischer Hygiene in sie
-hinabzutauchen, mag gut tun. Aber man muß wieder heraus, sonst läßt man
-alle seine moralische Kraft darin. Und gerade in unserem Zeitalter ist
-man ja schon von seiner Kindheit an, ob man will oder nicht, in die
-demokratische Badekufe hinabgetaucht. Die Gesellschaft denkt für einen,
-ihre Moral will, und ihr Staat handelt für uns, ihre Mode und Meinung
-nehmen uns die Luft weg, die wir atmen, trinken unseren Hauch, unser
-Herz, unser Licht. Man ward Diener dessen, das man mißachtet, man lügt
-in allen seinen Bewegungen, seinen Worten, seinen Gedanken. Man
-verzichtet und ist nicht mehr... Aber wer hat den Vorteil davon, wenn
-alle verzichten? Zu wessen Wohl verzichtet man? Für die blinden
-Instinkte oder für ein paar Lumpenkerle? Wem gehorchen wir? Einem Gott
-oder ein paar Scharlatanen, die in seinem Namen die Orakel sprechen? Den
-Schleier fort! Ich will sehen, was sich dahinter verbirgt... Das
-Vaterland!... Was für ein großes Wort, was für ein schönes Wort. Der
-Vater, umschlungen von seinen Brüdern... Aber das ist ja gar nicht das
-Vaterland, das ihr mir zeigt, es ist ein falsches Vaterland, ein
-Bretterverschlag, ein Tierkäfig, Schützengräben und Barrikaden,
-Gefängniswände!... Meine Brüder! Wo sind meine Brüder? Wo sind sie alle,
-die rings im Weltall leiden? Ihr Kains, was habt ihr aus ihnen gemacht?
-Ich breite ihnen die Arme entgegen, und ein Strom von Blut trennt mich
-von ihnen. In meinem eigenen Volke darf ich nicht mehr frei zu meinen
-Brüdern reden, ich bin nur mehr ein namenloses Instrument, das morden
-soll... Mein Vaterland! Aber ihr seid es ja, die es tötet... Mein
-Vaterland war die große Gemeinschaft der Menschheit, und sie habt ihr
-zerschlagen. Die Freiheit und der Gedanke haben keine Heimstatt mehr in
-Europa... Ich will mir mein Haus wieder aufbauen, unser aller Haus, denn
-ich habe keines mehr, das eure ist ein Gefängnis... Wie soll ich es tun?
-Wo soll ich suchen? Wo mich verbergen...? Sie haben mir alles genommen!
-Es gibt keine Fingerbreite mehr auf der Erde oder im Geiste, die noch
-frei ist, alle Heiligtümer der Seele, der Kunst, der Wissenschaft haben
-sie geschändet, alles haben sie sich hörig gemacht! Ich bin allein und
-verloren, ich habe nichts mehr, ich stürze hin...
-
- §
-
-Als Clerambault alles von sich abgerissen hatte, blieb ihm nichts mehr
-als seine eigene nackte Seele. Bis zum Ausgang dieser Nacht drückte sie
-sich zitternd und erstarrt an ihn. Aber in dieser zitternden Seele, in
-diesem winzigen Wesen, das im Weltall verloren war, glühte leise ein
-Funke wie eines jener εἴδωλα, die die primitiven Maler über dem Munde
-der Sterbenden schweben lassen. Als es gegen Morgen ging, begann die
-fast unsichtbare Flamme, die beinahe in der schweren Umschalung der Lüge
-erstickt war, zu erwachen. Im Atem der frischen Luft schlug sie hell
-empor. Und nichts konnte sie mehr hindern, frei emporzuwachsen.
-
- §
-
-Langsamer, grauer Tag nach diesem Kampf oder dieser Geburt. Schwere
-zerbrochene Ruhe. Tiefe, ungewohnte Stille... Ermattetes Wohlgefühl
-vollbrachter Pflicht... Clerambault, das Haupt an die Lehne seines
-Fauteuils gestützt, träumte unbeweglich vor sich hin, Fieber im Leib,
-das Herz schwer von Erinnerung. Seine Tränen strömten, ohne daß er es
-fühlte. Draußen erwachte die melancholische Natur der letzten
-Wintertage, die Bäume zitternd, wie er selbst, und noch nackt. Aber
-unter dem Eisglanz der Luft bebte schon ein neues Feuer.
-
-Bald wird es das All umfangen.
-
-
-
-
- Zweiter Teil
-
-
-
-
- §
-
-Nach acht Tagen begann Clerambault wieder auszugehen. Aus der
-furchtbaren Krise, durch die er sich gerungen, ging er gebrochen, aber
-entschlossen hervor. Der Überschwang der Verzweiflung war von ihm
-gefallen, ihn beseelte einzig mehr ein stoischer Wille, der Wahrheit bis
-in ihre letzten Schlupfwinkel nachzudringen. Aber das Erinnern an seine
-geistige Verwirrung, in der er sich so wohl befunden, und die Halblüge,
-die so lange seine Nahrung gewesen war, machte ihn unsicher und demütig.
-Er mißtraute der eigenen Kraft, und um Schritt für Schritt
-weiterzukommen, fühlte er sich bereit, den Rat von Erfahreneren als
-Führung anzunehmen. Er erinnerte sich, wie Perrotin damals seinen
-vertraulichen Überschwang mit ironischer Zurückhaltung aufgenommen.
-Damals hatte sie ihn verwirrt, nun zog sie ihn an. Sein erster Besuch
-nach der Genesung galt dem klugen Freunde.
-
-Obwohl Perrotin sich besser auf Bücher als auf Physiognomien verstand —
-ziemlich kurzsichtig und ein wenig egoistisch, gab er sich selten Mühe,
-etwas zu beachten, das er nicht unbedingt brauchte — so konnte er doch
-nicht umhin, die Veränderung der Gesichtszüge Clerambaults sofort
-staunend zu bemerken.
-
-„Was ist, mein guter Freund“, rief er ihm zu, „waren Sie krank?“
-
-„Ja, wirklich sehr krank“, antwortete Clerambault, „aber es geht mir
-schon besser, ich habe mich schon erholt.“
-
-„Ja, das ist für uns der grausamste Schlag“, sagte Perrotin, „in unserem
-Alter einen Freund zu verlieren, wie es für Sie Ihr armer Sohn war.“
-
-„Das Grausamste ist noch nicht, ihn verloren zu haben“, antwortete
-Clerambault, „sondern selbst mit Schuld an seinem Verlust zu sein.“
-
-„Was sagen Sie da, mein Freund“, fuhr Perrotin erstaunt auf, „was haben
-Sie sich da erfunden, um Ihre Qual noch zu steigern?“
-
-„Ich hatte ihm die Augen verschlossen“, sagte bitter Clerambault, „und
-er hat sie mir geöffnet.“
-
-Perrotin ließ seine Arbeit liegen, über die er wie gewöhnlich nachsann,
-während man zu ihm sprach, und sah Clerambault erstaunt an, der mit
-gesenktem Kopf und einer dumpfen, schmerzvoll-leidenschaftlichen Stimme
-zu erzählen begann. Es war, wie wenn ein Christ der ersten Zeiten
-öffentlich seine Beichte ablegte. Er klagte sich der Lüge an, der Lüge
-gegen seinen Glauben, der Lüge gegen sein Herz, der Lüge gegen seine
-eigene Vernunft. Der Apostel hatte in seiner Feigheit den Gott
-verleugnet, sobald er ihn in Ketten sah, aber soweit hatte er sich doch
-nicht erniedrigt, den Henkern seines Gottes Hilfe zu leisten. Aber er,
-Clerambault, hatte nicht nur die Sache der allmenschlichen
-Brüderlichkeit verlassen, er hatte sie erniedrigt; er hatte nicht
-abgelassen, von Brüderlichkeit zu sprechen, während er gleichzeitig zum
-Haß aufrief, er hatte wie jene lügnerischen Priester, die das Evangelium
-verdrehen, um es in den Dienst ihrer schlechten Absichten zu stellen,
-geschickt die erhabensten Gedanken verfälscht, um mit ihrer Maske die
-Leidenschaft zum Mord zu verdecken. Er hatte sich einen Pazifisten
-genannt, während er den Krieg verherrlichte, und einen Menschenfreund,
-indes er den Feind von vornherein aus dem Kreise der Menschheit
-ausstieß.... Oh, um wieviel redlicher wäre es gewesen, sich vor der
-brutalen Gewalt einfach zu beugen, als mit ihr erniedrigende Kompromisse
-einzugehen! Gerade dank solchen Sophismen wie den seinen, war es
-gelungen, den Idealismus der jungen Menschen in das Gemetzel zu hetzen.
-Denn die Denker, die Künstler, sie, die alten Giftmischer, waren es, die
-mit ihrer Rhetorik den grauenhaften Todestrunk versüßten, den ohne ihre
-Mitschuld jedes reine Gewissen sofort mit Abscheu zurückgestoßen und
-ausgespien hätte....
-
-„Das Blut meines Kindes ist über mir“, sagte Clerambault schmerzlich,
-„das Blut aller jungen Menschen Europas, in allen Nationen, spritzt der
-Idee Europas ins Antlitz. Überall hat sich die Idee zum Knecht des
-Henkers erniedrigt.“
-
-„Mein armer Freund“, sagte Perrotin, indem er sich zu Clerambault neigte
-und seine Hand nahm, „Sie übertreiben immer.... Gewiß, Sie tun gut, den
-Gefühlsirrtum zu erkennen, in den Sie die öffentliche Meinung
-mitgerissen hat, und ich kann Ihnen heute offen sagen, daß mich diese
-Täuschung gerade bei Ihnen geschmerzt hat. Aber Sie haben unrecht, wenn
-Sie sich und den Sprechenden überhaupt eine so große Verantwortung für
-die Geschehnisse von heute zuschreiben. Die einen sprechen, die anderen
-handeln, aber es sind nicht diejenigen, die sprechen, die die Tat der
-anderen verursachen; beide sind Spielball der Strömung und haben keine
-Kraft über diese.“
-
-„Aber ihnen fällt doch die Schuld zu, andere aufgefordert zu haben, sich
-mitreißen zu lassen“, antwortete Clerambault. „Statt die noch auf der
-Oberfläche Schwimmenden festzuhalten und ihnen zuzuschreien: „Kämpft
-gegen den Strom!“ haben sie gesagt: „Laßt euch nur fortreißen!“ Nein,
-mein Freund, versuchen Sie nicht, unsere Verantwortlichkeit zu mildern.
-Sie ist schwerer als irgend eine andere, denn unser Gedanke war so hoch
-gestellt, daß er weit blicken konnte, seine Pflicht war, zu wachen, und
-wenn er nicht das Richtige gesehen hat, so war es, weil er nicht sehen
-wollte. Wir dürfen nicht unsere Augen anklagen, denn unsere Augen waren
-gut, das wissen Sie wohl, und auch ich weiß es jetzt, da ich mich wieder
-aufgerafft habe. Dieselbe Vernunft, die mir die Augen verbunden hat, hat
-mir das Band wieder abgerissen. Seltsam, daß sie gleichzeitig ein
-Instrument der Lüge und ein Instrument der Wahrheit ist!“
-
-Perrotin schüttelte den Kopf.
-
-„Ja, die Vernunft ist so groß und so erhaben, daß sie sich nicht, ohne
-sich zu erniedrigen, in den Dienst anderer Mächte stellen darf. Man muß
-ihr alles aufopfern. Sobald sie nicht mehr freiwirkend und Herrin ihrer
-selbst ist, erniedrigt sie sich, sie wird dann wie der Grieche, der von
-dem Römer, seinem Herrn, trotz seiner Überlegenheit erniedrigt wird und
-verpflichtet, sein Kuppler zu sein, ein Gräculus, ein Sophist, ein
-_leno_... Der Durchschnittsmensch ist gewöhnt, seine Vernunft wie einen
-Dienstboten zu allem möglichen zu mißbrauchen, und sie dient ihm dann
-mit der unehrlichen und geschmeidigen Geschicklichkeit dieser Art Leute.
-Bald begibt sie sich in den Dienst des Hasses, des Stolzes, bald in den
-der eigenen Interessen, sie schmeichelt allen diesen kleinen Ungetümen
-und verkleidet sie als Idealismus, Liebe, Glaube, Freiheit, soziale
-Hingabe, denn wenn ein Mensch die Menschen nicht liebt, so sagt er
-immer, er liebe Gott, das Vaterland oder die Menschheit. Bald wird dann
-der arme Herr der Vernunft selbst zum Sklaven, zum Sklaven des Staates.
-Mit ihrer Drohung zwingt ihn die soziale Maschine zu Handlungen, die ihm
-innerlich widerstreben; die brave und gefällige Vernunft redet ihm aber
-sofort ein, diese Handlungen seien schön und ruhmvoll, und daß er sie
-aus freiem Willen tue. In dem einen Falle wie in dem andern weiß die
-Vernunft wohl, woran sie sich zu halten hat. Sie steht immer zu unserer
-Verfügung, sobald wir wirklich wollen, daß sie uns die Wahrheit sage.
-Aber wir sind es, die sich wohl hüten, von ihr Gebrauch zu machen. Wir
-vermeiden sorgsam, mit ihr allein zu sein, wir wissen es immer so
-einzurichten, daß wir ihr nur in Gesellschaft begegnen und ihr Fragen
-schon in jenem Ton stellen, der die Antwort von vornherein bestimmt.....
-Schließlich dreht sich die Erde darum doch — _e pur si muove_ — die
-Weltgesetze erfüllen sich, und der freie Geist erkennt sie. Alles andere
-ist Eitelkeit. Was wir Leidenschaften und aufrichtigen oder falschen
-Glauben nennen, bedeutet nur einen verhüllten Ausdruck für die
-Notwendigkeit, die die Welt bewegt, gleichgültig um unsere Idole,
-Familie, Rasse, Vaterland, Religion, Gesellschaft, Fortschritt...
-Fortschritt? Das ist der größte Wahn von allen. Ist denn die Menschheit
-nicht dem Gesetz der höchsten Spannung unterworfen, das verlangt, daß,
-sobald sie überschritten ist, eine Klappe sich öffne und der Behälter
-sich wieder leere? Kehrt er nicht immer wieder, dieser katastrophale
-Rhythmus? Knapp an den Höhen der Zivilisation ist immer der Absturz. Man
-steigt, und taucht wieder hinab.“
-
-Perrotin entwickelte ruhig seinen Gedankengang. Seine Idee war sonst
-nicht gewöhnt, sich vor anderen auszusprechen, aber sie hatte den Zeugen
-vergessen, und so entkleidete sie sich, als wäre sie allein. Perrotins
-Weltanschauung war von einer großen Kühnheit, wie es oft jene großer
-Menschen sind, die in ihrem Zimmer leben und nicht zur Tat verpflichtet
-sind, ja gar nichts auf sie halten und sie sogar verachten. Clerambault
-hörte erstaunt, erschrocken, mit offenem Munde zu, manche Worte
-erbitterten ihn, manche preßten ihm das Herz zu, er empfand eine Art
-Schwindel. Aber er überwand seine Schwäche, um keinen Blick in die
-aufgetanen Tiefen zu verlieren. Er bedrängte Perrotin mit Fragen, der
-geschmeichelt seine zweiflerischen, gleichzeitig passiven und doch
-zerstörenden Visionen gefällig und selbstgefällig vor ihm entrollte.
-
-Sie waren noch ganz vom Gewölke dieser Abgründe umhüllt, und Clerambault
-bewunderte die Leichtigkeit dieses freien Geistes, der sicher und fast
-zufrieden am Rande dieser Leere hauste, als die Tür sich auftat und der
-Diener Perrotin eine Visitenkarte brachte. Sofort lösten sich die
-gefährlichen Gespenster des Geistes in nichts auf. Eine Falltür schlug
-über dem Abgrund zu und der gewohnte Teppich des Salons verdeckte seine
-Spur.... Perrotin, aufgeschreckt, sagte eiligst und beflissen:
-
-„Ja, natürlich, bitte lassen Sie nur eintreten.“
-
-Und indem er sich zu Clerambault wandte: „Sie gestatten doch, lieber
-Freund, es ist der Herr Unterstaatssekretär vom Ministerium für
-Unterricht und schöne Künste.“
-
-Und schon war er aufgestanden und ging dem Besucher entgegen, einem
-jungen Mann mit blau rasiertem Kinn, einem Priester-, Schauspieler- oder
-Yankeegesicht. Er trug den Kopf hoch und die Brust breit in seinem
-grauen Jackett, das die Rosette der Verdienstvollen und der Kriecher
-verzierte. Der alte Mann stellte, nun wieder strahlend, vor: „Herr
-Agénor Clerambault... Herr Hyacinthe Monchéri“ und fragte den „Herrn
-Unterstaatssekretär“, was ihm die Ehre dieses Besuches verschaffe.
-
-Der „Herr Unterstaatssekretär“, keineswegs erstaunt über den
-ehrerbietigen Empfang von seiten des alten Meisters, warf sich breit in
-den Fauteuil mit jener familiären Überlegenheit, die ihm sein
-offizieller Rang über die beiden Leuchten des französischen Gedankens
-verlieh: er stellte ja den Staat dar. Er sprach näselnd, laut und
-mißtönend, er schrie wie ein Dromedar. Er übermittelte Perrotin die
-Einladung des Ministers, das Präsidium einer feierlichen Sitzung
-kriegsbegeisterter Intellektueller von zehn Nationen im großen
-Amphitheater der Sorbonne zu übernehmen — einer „Fluchsitzung“, wie er
-sagte. Perrotin sagte eiligst zu, ganz beglückt von der großen Ehre.
-Sein erniedrigendes Verhalten gegenüber dem staatlich legitimierten
-Gimpel stand in seltsamem Gegensatz zu den verwegenen Gedanken, die er
-eben entwickelt hatte, und Clerambault, im tiefsten abgestoßen, mußte an
-den Gräculus denken.
-
-Sobald sie wieder allein waren, und nachdem Perrotin ihn bis zur
-Schwelle begleitet hatte, seinen „Verehrten“, der steifen Halses und
-gehobenen Kopfes ging, wie der mit Reliquien beladene Esel, wollte
-Clerambault das Gespräch wieder aufnehmen. Er war etwas abgekühlt und
-machte kein Geheimnis daraus. Er forderte Perrotin auf, öffentlich das
-auszusprechen, was er ihm im Vertrauen gesagt hatte, eine Zumutung, die
-Perrotin natürlich, seine Naivität belächelnd, ablehnte. Ja er warnte
-ihn sogar in besorgter Weise bezüglich der Versuchung, vor der
-Öffentlichkeit zu beichten. Clerambault wurde zornig, begann zu streiten
-und blieb hartnäckig bei seiner Forderung. Perrotin, der gerade
-aufrichtig gelaunt war, schilderte ihm, um ihn aufzuklären, seine
-Umgebung, die großen Intellektuellen der Universität, deren offizieller
-Vertreter er war, die Historiker, Philosophen und Schönredner. Er sprach
-von ihnen mit einer verschleierten, höflichen, aber tiefen Mißachtung,
-die mit ein wenig Bitterkeit gemengt war, denn trotz seiner Vorsicht war
-er zu intelligent, um nicht den weniger klugen unter seinen Kameraden
-schon verdächtig geworden zu sein. Er schilderte sich als einen alten
-Hund, der einen Blinden führt, und sich inmitten der bellenden
-Fleischerhunde gezwungen sieht, mit ihnen die Vorübergehenden
-anzukläffen....
-
-Clerambault verließ ihn, ohne mit ihm zu brechen, aber voll tiefen
-Mitleids.
-
- §
-
-Es dauerte einige Tage, ehe er wiederum ausging. Jene erste Berührung
-mit der äußeren Welt hatte ihn zu sehr enttäuscht. Der Freund, in dem er
-einen Helfer und eine Stütze zu finden gehofft hatte, war kläglich vor
-ihm zusammengebrochen. Clerambault fühlte sich ganz verwirrt, denn im
-Grunde seines Wesens war er schwach und nicht gewohnt, selbst die
-Richtung seines Weges zu finden. So aufrichtig er als Dichter war, er
-hatte sich bisher doch noch nie verpflichtet gesehen, ohne die Hilfe der
-anderen zu denken. Bisher hatte er sich immer nur von ihren Gedanken
-tragen lassen, war mit ihnen eins geworden, um dann ihre ekstatische und
-begeisterte Stimme zu werden.... Die Veränderung war nun zu plötzlich
-gekommen. Trotz jener Nacht der Krise fiel er immer wieder in
-Unsicherheit zurück, denn die Natur kann sich nicht mit einem Schlage
-verändern und besonders nicht bei jenen, die — mag ihr Geist auch noch
-so geschmeidig geblieben sein — das fünfzigste Jahr überschritten
-haben. Und das Licht, das aus einer solchen Erkenntnis aufflammt, bleibt
-durchaus nicht so unbeweglich, wie die blendende Schale der Sonne in
-einem Sommerhimmel, sondern ähnelt mehr einer elektrischen Lampe, die
-zittert und mehr als einmal auslöscht, ehe der Strom regelmäßig und
-dauerhaft wird. In den Synkopen dieser zuckenden Pulsschläge des Lichtes
-scheint dann natürlich das Dunkel noch viel dunkler und der Geist viel
-verwirrter. — Clerambault konnte sich nicht entschließen, auf die
-Meinung der anderen von vornherein zu verzichten.
-
-Er beschloß, einen seiner Freunde nach dem andern zu besuchen, deren er
-viele in der Literatur und in den Kreisen der Universität und der
-intelligenten Bourgeoisie besaß. Es war ja nicht möglich, daß in ihrer
-großen Zahl sich nicht einer oder der andere fände, den so wie ihn und
-noch besser als ihn ein ahnendes Gefühl jener Probleme bewegte, von
-denen er selbst beunruhigt war, und der ihm zu einer Klärung verhelfen
-könnte. Ohne sich vorläufig noch zu verraten, ganz vorsichtig, versuchte
-er sie zu beobachten, sie auszuhorchen, die Gründe ihrer Gläubigkeit
-aufzuspüren. Aber er wurde nicht gewahr, daß seine eigenen Augen schon
-verwandelt waren. Und die Vision jener Welt schien ihm, so sehr er sie
-zu kennen glaubte, ganz neu und ließ ihn erstarren.
-
-Der ganze Clan der Literatur hatte sich wehrhaft gemacht, man konnte die
-einzelnen Persönlichkeiten kaum mehr voneinander unterscheiden. Die
-Universität bildete gleichsam ein Ministerium der dienstbaren Vernunft
-und hatte das Amt übernommen, die Taten ihres Herrn und Meisters, des
-Staates, zu rechtfertigen. Und die einzelnen Arten der Dienstleistung
-unterschieden sich einzig durch ihre gewerbsmäßigen Verdrehungen.
-
-Die schöngeistigen Professoren waren in erster Linie Experten für
-moralischen Aufschwung und rednerischen Syllogismus. Sie hatten alle die
-krankhafte Neigung, das Denken auf eine übermäßige Einfachheit zu
-restringieren, verwendeten statt Vernunftsgründen große Worte und
-werkelten immer einige wenige Ideen ab, aber Ideen ohne Tiefe, ohne
-Nuancen und ohne Leben. Diese Ideen holten sie sich aus dem Arsenal
-einer angeblich klassischen Antike, deren Schlüssel durch Jahrhunderte
-Generationen akademischer Derwische eifersüchtig bewahrten, und diesen
-geschwätzigen und alten Ideen, die man überdies noch „Menschheitsideen“
-nannte, obwohl sie in vieler Hinsicht das Gefühl und das Empfinden der
-heutigen Menschheit verletzten, prägten sie den Stempel des Römerstaates
-auf, als des Prototyps aller europäischen Staaten. Ihre bevollmächtigten
-Interpreten waren die Schönredner im Staatsdienst.
-
-Die Philosophen herrschten im Reiche der abstrakten Konstruktion. Sie
-exzellierten in der Kunst, das Konkrete durch Abstraktion, das Wirkliche
-durch seinen Schatten zu erklären, einige rasch und parteiisch gewählte
-Beobachtungen zum System zu erheben und dank ihrer Tüftelei aus diesen
-Systemen wieder Gesetze herauszuschwindeln, nach denen das Weltall
-wandeln sollte. Ihre ganze Mühe erschöpfte sich darin, das vielfältige
-und wandlungsvolle Leben der Einheit des Geistes fügsam zu machen —
-natürlich nur der Einheit ihres eigenen Geistes. Dieser Imperialismus
-der Vernunft stützte sich auf die willfährige Büberei jahrelang geübter
-Sophistik, die gewohnt war, mit Ideen zu spielen. Sie verstanden nur zu
-gut, sie auseinander- und wieder zusammenzuziehen, sie zu formen und zu
-pressen wie Knetgummi, für sie wäre es nicht schwer gewesen, ein Kamel
-durch ein Nadelöhr gehen zu lassen. Sie wußten ebensogut das Weiße wie
-das Schwarze zu beweisen, und fanden, ganz wie es ihnen beliebte, in
-Immanuel Kant bald die Freiheit der Welt, bald den preußischen
-Militarismus.
-
-Die Historiker wieder waren als bewährte Schriftführer, Notare und
-Rechtsanwälte des Staates zum Schutz seiner Verträge und Rechte
-beigestellt und bis an die Zähne bewaffnet für zukünftige Schikanen....
-Die Geschichte! Was ist denn die Geschichte? Einzig die Geschichte des
-Erfolges, die Darstellung der vollzogenen Tatsachen, gleichgültig, ob
-sie gerecht oder ungerecht waren. An den Besiegten geht die Geschichte
-vorbei. Sie hat nur Schweigen für euch, ihr Perser von Salamis, ihr
-Sklaven des Spartakus, ihr Gallier, ihr Araber von Poitiers, ihr
-Albingenser, Irländer, Indier von West und Ost und ihr Eingebornen der
-Kolonien!... Wenn ein ehrlich denkender Mann, der Ungerechtigkeit seiner
-Zeit ausgesetzt, zu seinem eigenen Troste seine Hoffnung auf die
-Nachwelt setzt, so verschließt er die Augen vor den geringen
-Möglichkeiten, die jene Nachwelt hat, sich wahrhaft über die
-Vergangenheit Rechenschaft zu geben. Die Nachwelt erfährt immer nur das,
-was die Sachwalter der offiziellen Geschichte als vorteilhaft für die
-Sache ihres Klienten, des Staates, empfanden, es sei denn, daß der
-Rechtsanwalt der Gegenpartei, entweder der einer anderen Nation oder der
-einer sozialen oder religiösen unterdrückten Gruppe, seinen Einwand
-machte. Aber dafür besteht wenig Aussicht: das Geheimnis ist gut
-gewahrt.
-
-Schönredner, Sophisten und Winkeladvokaten, das waren die drei
-Korporationen der staatlich patentierten philosophischen Fakultät.
-
-Die „Wissenschaftler“ wären durch die Art ihrer Forschung ein wenig
-besser in der Lage gewesen, außerhalb der Beeinflussung und Berührung
-der Umwelt zu bleiben — vorausgesetzt, daß sie in ihrer Studienwelt
-verharrt hätten. Aber man hatte sie daraus vertrieben. Die praktische
-Anwendung der Wissenschaft hat eine so ungemeine Ausdehnung in der
-lebendigen Wirklichkeit eingenommen, daß die Gelehrten in die erste
-Reihe des Kampfes geschleudert wurden, wo sie unausweichlich der
-ansteckenden Berührung der öffentlichen Meinung ausgesetzt waren. Ihre
-Eigenliebe fand sich ganz unmittelbar an dem Siege der Allgemeinheit
-interessiert, denn diese benötigte ebenso den Heroismus der Soldaten wie
-die törichten Ansichten und die Lügen der Presse. Nur ganz wenige unter
-ihnen hatten die Kraft sich freizumachen, die meisten aber brachten die
-ganze Strenge, Härte und Unerbittlichkeit des geometrischen Geistes mit
-sich, dazu noch die professionellen Eifersüchteleien, die ja zwischen
-den verschiedenen Gelehrtengruppen der verschiedenen Länder immer sehr
-scharfe sind.
-
-Die Schriftsteller schlechtweg, die Dichter, Romanciers, die Schaffenden
-ohne staatliche Bindung hätten den Vorteil ihrer Unabhängigkeit
-ausnützen können. Leider aber sind nur ganz wenige unter ihnen imstande,
-von sich selbst aus Ereignisse zu beurteilen, die die Grenzen ihrer
-gewöhnlichen ästhetischen oder geschäftlichen Betätigung überschreiten.
-Die meisten unter ihnen, und oft gerade die berühmtesten, sind
-ungebildet wie Karpfen. Das Beste wäre nun natürlich für sie gewesen,
-sie wären in ihrem beschränkten Gesichtskreise verblieben, wozu sie ihr
-natürlicher Instinkt eigentlich hätte leiten sollen. Aber ihre Eitelkeit
-fühlte sich törichterweise angestachelt, sich in die öffentlichen
-Geschehnisse einzumengen und auch ihrerseits ihr Wort über das Weltall
-zu sprechen. Da sie nun selbst nichts darüber zu sagen wußten als
-Verkehrtheiten, so inspirierten sie sich mangels persönlicher Meinung an
-Gemeinplätzen. Ihre Äußerungen sind bei einem solchen gewaltsamen Anlaß
-natürlich ungemein lebhaft, denn sie sind überempfindlich und von einer
-krankhaften Eitelkeit, die, da sie keine eigenen Gedanken auszudrücken
-vermag, diejenigen der anderen maßlos übertreibt. Dies ist ihre einzige
-Originalität, und Gott weiß, wie reichlich sie davon Gebrauch gemacht
-haben.
-
-Wer bleibt also? Die Diener der Kirche? Gerade sie handhabten das
-schwere Geschütz: die Idee der Gerechtigkeit, der Wahrheit, des Guten
-und Gottes, auch sie hatten diese Artillerie in den Dienst ihrer
-Leidenschaften gestellt. Ihre unsinnige Anmaßung, die ihnen selbst nicht
-mehr bewußt ist, hat von Gott einfach Besitz ergriffen und sich das
-Privileg zugeschrieben, ihn _en gros_ oder _en détail_ zu verschleißen.
-Es fehlt ihnen dabei nicht so sehr an Aufrichtigkeit, an Tugend und
-selbst an Güte wie an Demut; gerade die Demut, die sie verkündigen,
-haben sie am wenigsten. Sie besteht für sie einzig darin, ihren Nabel zu
-betrachten, wie er sich im Talmud, der Bibel oder dem Evangelium
-spiegelt. In ihrem unmäßigen Stolz sind sie nicht weit von jenem
-mythischen Narren, der sich selbst für Gottvater hielt. Ist es wirklich
-um so viel weniger närrisch und um so viel weniger gefährlich, sich für
-seinen Stellvertreter oder seinen Schriftführer zu halten?
-
-Clerambault fühlte entsetzt den krankhaften und fast hinfälligen Zustand
-der intellektuellen Klüngel. Das Übermaß der Organisation und der
-Gedankenübermittlung in der bürgerlichen Klasse hat etwas Verzerrtes und
-Mißgeburthaftes an sich. Das lebendige Gleichmaß ist zerstört, eine
-Bureaukratie des Geistes dünkt sich dem einfachen Arbeiter ungemein
-überlegen. Sicherlich ist sie nützlich — wer denkt daran das zu
-leugnen! Sie rafft ja Gedanken zusammen und ordnet sie in Register, sie
-verwandelt und verwendet sie im vielfältigsten Aufbau. Aber wie selten
-kommt es ihr in den Sinn, die Substanz, die sie zu ihrem Werk verwendet,
-zu prüfen und ihren Ideeninhalt zu erneuern. So bleibt sie die
-eifersüchtige Hüterin eines wertlos gewordenen Schatzes.
-
-Wäre wenigstens dieser Irrtum ein ungefährlicher! Aber Ideen, die man
-nicht unablässig mit der Wirklichkeit vergleicht, die sich nicht in
-jeder Stunde im Strom der lebendigen Erfahrung baden, trocknen ein und
-werden dann giftige Substanzen. Sie werfen über das neue Leben ihre
-schweren Schatten, die Nacht verbreiten und Fieberschauer ausstreuen.
-
-Wie stupide ist doch diese Behexung durch abstrakte Worte! Was hat es
-denn für einen Sinn, die Könige abzusetzen und diejenigen zu verlachen,
-die für ihre Gebieter sterben, wenn man an ihre Stelle nur tyrannische
-Wesenheiten setzt, die man mit den Flittern jener anderen bekleidet?
-Besser ein Monarch mit Fleisch und Knochen, den man sieht, den man
-fassen und unterdrücken kann, als diese Abstraktionen, diese Despoten,
-die keiner kennt und keiner jemals gekannt hat.... Denn wir haben mit
-den großen Eunuchen, mit den Priestern des „verborgenen Krokodils“, wie
-Taine es nannte, mit den ränkeschmiedenden Ministern zu tun, die das
-Götzenbild sprechen lassen. Ah, wenn diese Schleier doch endlich
-zerreißen und wir die Bestie kennen würden, die sich in uns versteckt!
-Es wäre weniger Gefahr für den Menschen darin, offenkundig eine Bestie
-zu sein, als die Brutalität hinter einem lügnerischen, kranken
-Idealismus zu verstecken, der die tierischen Instinkte nicht vernichtet,
-sondern sie vergöttlicht. Er idealisiert sie, um sie später zu
-rechtfertigen, und da er dies nicht vermag, ohne sie künstlich auf das
-Äußerste zu vereinfachen (dies ist ein Gesetz seiner geistigen Natur,
-die, um zu verstehen, ebensoviel zerstört als sie aufnimmt), so nimmt er
-ihnen, indem er sie nach einer einzigen Richtung hin verstärkt, ihre
-wahre Natur. Alles, was sich dann von dieser vorgeschriebenen Linie
-entfernt, was die enge Logik seiner geistigen Konstruktion stört, das
-leugnet er nicht bloß, sondern schafft es einfach zur Seite und befiehlt
-seine Vernichtung im Namen der geheiligten Prinzipien. So richtet er in
-der lebendigen Unendlichkeit der Natur riesige Verwüstungen an, damit
-nur einzig jene Gedanken stehen bleiben, die er sich ausgewählt hat und
-die sich dann in der Wüste und zwischen den Ruinen grauenhaft groß und
-einsam entwickeln, wie zum Beispiel die bedrückende Macht der
-despotischen Begriffsformen der Familie, des Vaterlandes und der
-beschränkten, blinden, tyrannischen Moral, die man in deren Dienst
-stellte. Der Unglückliche ist dann noch darauf stolz, obwohl er doch ihr
-Opfer ist. Längst würde es die Menschheit nicht mehr wagen, zuzugeben,
-daß sie sich für ihren bloßen Vorteil hinschlachtet. Ihres Vorteils,
-ihrer Geschäfte, ihrer Interessen rühmen sie sich längst nicht mehr, sie
-rühmen sich nur ihrer Ideen, die tausendmal mörderischer sind. Denn der
-Mensch sieht in den Ideen, für die er kämpft, seine menschliche
-Überlegenheit. Ich sehe seine Narrheit darin. Der kriegerische
-Idealismus ist eine Krankheit, die ihm allein vorbehalten ist, und seine
-Resultate sind denen des Alkoholismus ähnlich. Er schafft Einlaß für
-tausendmal so viel Schlechtigkeit und Verbrechen, halluziniert das
-geschwächte Denken mit Wahnbildern, denen er dann die Lebendigen
-aufopfert.
-
-Welch ein tolles Schauspiel, wenn man sich in die Menschenschädel hinein
-versetzt denkt! Eine wilde Jagd von Gespenstern, die aus fiebernden
-Gehirnen aufsteigen: Gerechtigkeit, Freiheit, Recht und Vaterland... Und
-alle diese armen Gehirne sind gleich aufrichtig und klagen alle anderen
-an, es nicht zu sein. Und von diesem phantastischen Kampf zwischen
-mythischen Schatten sieht man von außen nichts als die Zuckungen und die
-Schreie der menschlichen Wesen, die von diesen Dämonenscharen besessen
-sind.... Und unter diesen blitzgeladenen Wolken, wo diese großen
-wütenden Vögel kämpfen, wimmeln und schieben sich die
-Wirklichkeitsmenschen, die Geschäftsleute, wie Ungeziefer in einem Pelz
-— offene Mäuler, gierige Hände — und hetzen heimtückisch zu dem Wahn,
-den sie ausbeuten, ohne ihn zu teilen.
-
-O Gedanke, du furchtbare und schöne Blume, die aus dem Erdreich
-jahrhundertealter Instinkte aufwächst, welch ein Element bist du! Du
-dringst in den Menschen ein, du durchdringst ihn, aber du stammst nicht
-aus ihm, dein Ursprung ist ihm fremd und deine Kraft geht über ihn
-hinaus. Die Sinne des Menschen sind ihrem täglichen Gebrauch so ziemlich
-angepaßt, der Gedanke aber ist es nicht, er strömt über den Menschen
-hinaus. Er bringt ihn zur Verzweiflung. Eine unendlich kleine Zahl von
-Menschen vermag es, in diesem Strom ihre eigene Richtung beizubehalten,
-die große Masse aber wird ins Zufällige hingeschwemmt. Die ungeheure
-Kraft des Gedankens steht nicht im Dienst des Menschen; er versucht
-bloß, sich seiner zu bedienen, und die größte Gefahr ist, daß er
-vermeint, er sei sein Herr. In Wirklichkeit ist er wie ein Kind, das mit
-Explosivkörpern spielt. Es ist ein Mißverhältnis zwischen diesen
-gewaltigen Sprengmitteln und dem Zweck, für den sie die schwachen Hände
-des Menschen verwerten. Und manchmal sprengen sie eben alles in die
-Luft...
-
-Wie dieser Gefahr begegnen? Den Gedanken ersticken? Die trunkenen Ideen
-ausroden? Das hieße, den Menschengeist entmannen, ihn des stärksten
-Anreizes zum Leben berauben. Und doch ist der Alkohol des Gedankens ein
-um so gefährlicheres Gift, als es den Massen meist in gefälschten Drogen
-eingegeben wird.... Mensch, werde nüchtern! Schau um dich, reiße dich
-los von den fremden Ideen, werde unabhängig von deinen eigenen Gedanken.
-Lerne den Riesenkampf dieser rasenden Phantome, die sich untereinander
-zerreißen, beherrschen. Vaterland, Recht, Freiheit, ihr großen
-Göttinnen, wir wollen euch vor allem eures Nimbusses entkleiden. Steigt
-nieder aus dem Olymp, kommt herab in eine Krippe wie Jesus, ohne Schmuck
-und ohne Waffen, reich nur durch eure Schönheit und unsere Liebe!... Ich
-kenne keine Götter namens Gerechtigkeit und Freiheit! Ich kenne nur
-meine Menschenbrüder und ihre Taten, die bald gerecht, bald ungerecht
-sind. Und ich kenne die Völker, die alle der wahren Freiheit beraubt
-sind, die alle sich nach der Freiheit sehnen und die doch alle sich mehr
-oder minder unterdrücken lassen.
-
- §
-
-Der Anblick dieser Welt inmitten ihres hitzigen Fiebers hätte einem
-Weisen das Verlangen eingeflößt, sich in irgendeinen Winkel
-zurückzuziehen und den Anfall vorübergehen zu lassen. Aber Clerambault
-war kein Weiser. Er wußte nur, daß er es nicht war. Er wußte, daß
-Sprechen nutzlos sei, und wußte doch zugleich, daß man sprechen müsse,
-wußte, daß er sprechen werde. Er trachtete nur, so lange als möglich den
-gefährlichen Augenblick zu verzögern, und seine Ängstlichkeit, die es
-sich noch nicht ausdenken konnte, allein im Kampfe gegen alle zu stehen,
-suchte rings um sich einen Gedankengefährten. Wäre man nur zu zweit oder
-dritt, so wäre es doch schon weniger hart, den Kampf zu beginnen.
-
-Die ersten, deren Sympathie er vorsichtig zu suchen begann, waren arme
-Menschen, die, wie er, einen Sohn verloren hatten. Der Vater, ein
-bekannter Maler, hatte ein Atelier in der Rue Notre-Dame des Champs.
-Seit Jahren waren die Omer-Calvilles den Clerambaults liebe Nachbarn,
-ein gutes altes Ehepaar, sehr bürgerlich und sehr zärtlich vereint. Sie
-hatten jene Milde des Denkens, wie sie einer ganzen Reihe von Künstlern
-jener Zeit gemeinsam war, die Carrière nahegestanden und von der Lehre
-Tolstois von fern berührt worden waren. Ihre Schlichtheit, obwohl ein
-wenig künstlich, kam doch aus einer natürlichen Gutmütigkeit: die
-Tagesmode hatte sie nur ein wenig zu sehr unterstrichen. Niemand ist
-unfähiger, die Leidenschaften des Krieges zu verstehen, als Künstler
-dieser Art, die aufrichtig die religiöse Hochachtung vor allem
-Lebendigen zu ihrem Bekenntnis gemacht haben. Selbst in den ersten
-Kriegsmonaten hatten sich die Calvilles außerhalb der leidenschaftlichen
-Strömung gehalten, sie protestierten nicht dagegen, sie nahmen sie
-traurig, würdig hin, wie man eben Krankheit, Tod und die Schlechtigkeit
-der Menschheit hinnimmt. Die glühenden Gedichte Clerambaults, die er
-ihnen vorlas, hatten sie höflich angehört, doch sie fanden kein Echo bei
-ihnen... Aber seltsam, in der gleichen Stunde, wo Clerambault,
-ernüchtert vom kriegerischen Wahn, daran dachte, sich mit ihnen zu
-vereinen, entfernten sie sich von ihm, denn nun rückten sie an jene
-Stelle, die er eben verlassen hatte. Der Tod ihres Kindes hatte auf sie
-gerade die gegenteilige Wirkung von jener, die Clerambault verwandelt
-hatte: jetzt traten sie linkisch in den Kampf, gleichsam, um den
-Verlorenen zu ersetzen; Clerambault fand sie mitten in ihrem Elend, ganz
-beglückt durch die Nachricht, Amerika sei bereit, den Krieg zwanzig
-Jahre lang zu führen. Er versuchte zu sagen:
-
-„Was bleibt denn noch in zwanzig Jahren von Frankreich, von Europa
-übrig?“
-
-Aber mit einer hastigen Erregung schoben jene diesen Gedanken sofort zur
-Seite. Es schien, als sei es ihnen unbequem, daran zu denken oder davon
-zu sprechen. Jetzt handelte es sich einzig darum, zu siegen. Um welchen
-Preis? Das würde man nachher berechnen. — Siegen! — Wenn es dann in
-Frankreich keine Sieger mehr gäbe? Gleichgültig! Wenn nur die anderen,
-die da drüben, besiegt würden. Nein, das Blut ihres toten Kindes durfte
-nicht vergebens vergossen sein!
-
-Und Clerambault dachte:
-
-„Ist es nötig, daß zur Rache für ihn noch andere unschuldige Opfer
-hingeschlachtet werden?“
-
-Und im Grunde dieser Seelen, dieser sonst wirklich guten Menschen las
-er:
-
-„Warum denn nicht?“
-
-Und er las es bei allen jenen, die wie die Calvilles im Kriege das
-Teuerste verloren hatten, einen Sohn, einen Gatten, einen Bruder:
-
-„Mögen die anderen auch leiden! Wir haben auch gelitten! Wir haben
-nichts mehr zu verlieren.“
-
-Wirklich nichts mehr? Doch! Eine einzige Sache, die der eifersüchtige
-Egoismus verbarg: ihren Glauben an den Nutzen ihres Opfers. Und diesen
-Glauben wollten sie sich nicht erschüttern lassen, um keinen Preis. Sie
-verboten es sich, daran zu zweifeln, daß es eine heilige Sache sei, für
-die ihre Toten gefallen waren. Und das wußten die Herren des Krieges
-wohl und verstanden es auf das beste, dieses Lockmittel auszunützen! —
-Nein, in diesen Trauerhäusern war kein Raum für den Zweifel Clerambaults
-und für sein Mitleid!
-
-„Wer hat Mitleid mit uns gehabt?“ dachten diese Unglücklichen. „Und
-warum sollen dann wir welches haben?“
-
-Es gab unter ihnen einige, die weniger hart getroffen waren. Aber was
-alle diese Leute der Bourgeoisie charakterisierte, war die Hypnose der
-großen Worte der Vergangenheit, unter der sie lebten, „der
-Wohlfahrtsausschuß... das Vaterland in Gefahr... Plutarchs
-Biographien... der alte Horaz“. Es war für sie unmöglich, die Gegenwart
-mit den Augen von heute zu sehen. Aber hatten sie denn überhaupt noch
-Augen, um zu sehen? Wieviele innerhalb der Bürgerwelt unserer Tage haben
-denn außerhalb des engen Kreises ihrer Geschäfte in den letzten dreißig
-Jahren die Kraft und den Willen gehabt, aus Eigenem denken zu wollen?
-Das fiel ihnen nicht einmal im Traume ein. So wie ihr Essen, servierte
-man ihnen ihre Gedanken fertig und gar gekocht und sogar noch bedeutend
-billiger. Für ein Geringes fanden sie sie täglich in der Zeitung. Die
-Begabteren, die sie in den Büchern suchten, gaben sich nicht die nötige
-Mühe, sie im Leben zu suchen, und behaupteten, daß sich das Leben in den
-Büchern spiegle. Wie bei Greisen verkalkten ihre Gliedmaßen,
-versteinerte ihr Geist.
-
-In der breiten Herde dieser Wiederkäuerseelen, die ihr Futter von den
-Weiden der Vergangenheit nahmen, zeichneten sich damals besonders die
-Gruppen der strenggläubigen französischen Revolutionäre aus. Zur Zeit
-des 16. Mai und lange nachher noch, hatten sie als Brandstifter in der
-immer rückständigen Bourgeoisie gegolten. Nun aber, als gesetzte und
-wohlbestallte Fünfzigjährige, erinnerten sie sich mit Stolz, wie
-Erwachsene eben auf ihre Jungenstreiche stolz sind, an das Entsetzen,
-das ihre einstige, längst vergangene Kühnheit verursacht hatte. Vor
-ihrem eigenen Spiegel hatten sie sich nicht verändert, aber die Welt um
-sie war eine andere geworden, ohne daß sie dessen gewahr wurden, denn
-sie blickten ja immer nur auf die abgelebten Modelle, deren Gedanken sie
-nachbeteten. Es gibt einen merkwürdigen Nachahmungsinstinkt, ein
-Knechtschaftsbedürfnis des Denkens, das von einem losgelösten Stück
-Weltgeschichte nicht mehr loskommt. Statt Proteus, das ewige wandelhafte
-Leben, in seinem Fortgange zu verfolgen, rafft es die alte Haut auf, aus
-der die junge Schlange längst ausgebrochen ist, und versucht sie wieder
-darin einzunähen. Diese fanatischen Pedanten verblichener Revolutionen
-behaupten, daß alle zukünftigen Umwälzungen notwendig nach dem Modell
-der alten, toten Formen zurechtgeschnitten werden müssen, und vor allem
-dulden sie nicht, daß irgendeine neue Freiheit ein anderes Tempo
-einschlage und die Grenzen überschreite, an denen jene großmütterliche
-von 1793 erschöpft haltgemacht hatte. Ihr Zorn richtet sich darum weit
-mehr gegen die Respektlosigkeit der Jugend, die über sie hinaus will,
-als gegen das Gekläff der Greise, über die sie selbst hinausgekommen
-sind. Und das hat seinen guten Grund, denn an der Existenz dieser Jungen
-erkennen sie, daß sie selbst alt geworden sind. Und darum kläffen sie
-gegen sie.
-
-In diesen Dingen wird sich nichts ändern. Ganz selten nur gestatten
-einige seltene Geister, wenn sie altern, dem Leben, daß es über sie
-hinaus seinen Lauf weiter nehme, und genießen großmütig, wenn ihre
-eigenen Augen erlöschen, die Zukunft mit den Augen ihrer Nachfolger.
-Aber die meisten von jenen, die als Junge die Freiheit geliebt hatten,
-wollen aus ihr einen Käfig für die neue Brut machen, sobald sie selber
-nicht mehr fliegen können.
-
-Der Internationalismus von heute fand keine erbitterteren Gegner als
-jene Diener des national-revolutionären Kultes im Sinne Dantons oder
-Robespierres. Sie selber verstanden sich nicht untereinander, die
-Anhänger Dantons und Robespierres, zwischen denen sich noch immer der
-Schatten der Guillotine aufrichtet, sie beschimpften sich gegenseitig
-drohend als Ketzer. Aber in einem waren sie ganz einig: alle jene der
-äußersten Bestrafung zuzuführen, die nicht glauben wollten, daß man die
-Freiheit mit Kanonenmündungen verbreiten kann, die jede Gewalt
-gleicherweise verwarfen, ob sie nun von Cäsar oder von Demos und seinen
-Lederzurichtern kam, gleichgültig, ob sie im Namen des „alten Gottes“
-gepredigt wurde oder des „jungen“, der Freiheit und des Rechts. Die
-Masken ändern sich, aber das blutige Maul unter der Maske bleibt immer
-dasselbe.
-
-Clerambault kannte eine ganze Reihe solcher Fanatiker, aber es war
-ebenso wenig möglich, sich mit ihnen darüber auszusprechen, ob sich das
-Gerade und das Krumme nicht vielleicht doch auf beiden Seiten fände, wie
-für einen Manichäer, mit der heiligen Inquisition zu streiten. Auch die
-sozialen, die bürgerlichen Religionen haben ihre großen Seminare und
-geheimen Gesellschaften, in denen das Beweismaterial der Lehre
-sorgfältig aufgestapelt wird. Wer sich davon ausschließt, wird
-exkommuniziert, so lange wenigstens, bis er selbst der Vergangenheit
-angehört. Dann winkt ihm die Möglichkeit, selbst vergöttlicht und zur
-Exkommunizierung Späterer mißbraucht zu werden.
-
- §
-
-Aber wenn Clerambault sich nicht versucht fühlte, diese harten
-Intellektuellen, die hinter ihrer engen Wahrheit verschanzt waren, zu
-einer Änderung ihrer Gesinnung zu bewegen, so kannte er doch andere, die
-diesen Sicherheitsdünkel durchaus nicht hatten. Ganz im Gegenteil: Ihr
-Fehler war wiederum allzu große Wandlungsfähigkeit und dilettantische
-Nachgiebigkeit. Arsène Asselin war einer dieser Art, ein liebenswürdiger
-Pariser Junggeselle aus der guten Gesellschaft, klug und skeptisch
-zugleich. Jeder Verstoß im Geschmack oder im Ausdruck beleidigte sein
-Empfinden. Wie hätte ihm also diese Übertriebenheit des Denkens gefallen
-sollen, diese Treibhaushitze, in der der Krieg hochgezüchtet wurde.
-Seine kritische Vernunft, seine Ironie mußten dem Zweifel geneigt sein.
-So gab es also keinen rechten Grund, daß er die Ansichten Clerambaults
-nicht teilen sollte.... Und wirklich, im Anfang hatte nur ein Haar
-gefehlt, daß er so dachte wie Clerambault, seine Entscheidung war nur
-ganz zufällig anders gefallen. Aber sobald er einmal den Fuß in die eine
-Richtung gesetzt hatte, schien es ihm unmöglich umzukehren, und je mehr
-er hineintrieb, um so trotziger wurde er. Die französische Eigenliebe
-wird nie einen Irrtum eingestehen, sondern eher sich für ihn töten
-lassen. Aber überhaupt, Franzose oder nicht, wie viele Menschen gibt es
-denn in der Welt, die den Mut haben zu sagen:
-
-„Ich habe mich getäuscht, jetzt heißt es von vorn anfangen.“ Nein,
-lieber die Tatsachen leugnen... Bis ans Ende durch!... Und krepieren.
-
-In einem anderen Sinn merkwürdig war Alexander Mignon, ein
-Vorkriegspazifist, ein alter Freund Clerambaults, ungefähr im gleichen
-Alter mit ihm, Bourgeois, Intellektueller und Hochschullehrer, von
-würdiger Haltung, die mit Recht Respekt einflößte. Man durfte ihn nicht
-verwechseln mit jenen ordensgeschmückten Bankettpazifisten, die
-Dekorationen aus allen Ländern haben und denen der Schwatz vom Frieden
-in windstillen Jahren ein sorgloses Dasein sichert. Mignon hatte durch
-dreißig Jahre aufrecht die gefährlichen Quertreibereien der Politiker
-und die verdächtigen Spekulanten seines Landes bekämpft, er gehörte der
-Liga der Menschenrechte an und hatte das unwiderstehliche Gelüst, für
-jeden, der da kam und im Unglück war, eilig das Wort zu nehmen. Ihm
-genügte es schon, wenn einer sich unterdrückt nannte, er fragte sich
-nie, ob der sogenannte Unterdrückte nicht bloß einer war, dem bisher nur
-die Gelegenheit gefehlt hatte, selbst zu unterdrücken. Seine unruhige
-Gutmütigkeit hatte ihn bei aller Hochachtung ein wenig lächerlich
-gemacht, und er war darüber nicht böse. Sogar ein wenig Unpopularität
-hätte ihn durchaus nicht erschreckt, vorausgesetzt freilich, daß er sich
-von seiner Gruppe gedeckt fühlte, deren warme Zustimmung ihm aber
-unbedingt nötig war. Er war durchaus kein Unabhängiger, wie er glaubte,
-sondern nur das Mitglied einer Gruppe, die sich so lange unabhängig
-fühlte, als alle ihre Mitglieder zusammenhielten. Die Gemeinschaft macht
-die Kraft, sagt man, das ist wahr. Aber sie gewöhnt einen auch daran,
-der Gemeinschaft nicht mehr entbehren zu können. Und das mußte Alexander
-Mignon an sich erfahren.
-
-Der Hingang Jaurès’ hatte die ganze Gruppe in Verwirrung gebracht.
-Sobald die eine Stimme fehlte, die immer als erste das Wort nahm,
-verstummten auch alle anderen, denn sie warteten auf das Stichwort, und
-keiner wagte es zu geben. Unsicher im Augenblick, wo der Sturm einbrach,
-wurden diese hochherzigen und schwachen Menschen durch den Wirbel der
-ersten Tage mitgerissen. Sie verstanden die Begeisterung nicht, sie
-rechtfertigten sie nicht, aber sie hatten ihr nichts entgegenzustellen.
-Schon die erste Stunde riß einige Lücken in ihre Reihen, es zeigten sich
-Desertionen, die verschuldet waren durch die schrecklichen Redner, die
-den Staat beherrschten, durch jene demagogischen Advokaten, die mit
-allen Sophismen der republikanischen Ideologie geschmiert waren, „Krieg
-für den Frieden“, „der Weltfriede als Ziel“ (_requiescat!_), und diese
-armen Pazifisten sahen in diesen Verdrehungen eine einzige Gelegenheit
-— allerdings keine rühmliche, keine, auf die sie sehr stolz waren —
-aus der Sackgasse zu kommen. Sie redeten sich ein, durch einen kleinen
-Kunstgriff, dessen verbrecherische Größe sie nicht merkten, ihre
-Friedensideen mit der Tatsache der Gewalt glücklich in Einklang gebracht
-zu haben. Widerstand hätte bedeutet, sich den Kriegsbestien
-auszuliefern, die sie mitleidslos zerrissen hätten.
-
-Alexander Mignon hätte wohl den Mut gehabt, diesen blutigen Mäulern
-entgegenzutreten, hätte er nur seine kleine Gemeinschaft um sich
-gesehen. Aber allein zu kämpfen, das war über seine Kraft. Ohne sich
-zuerst offen auszusprechen, ließ er doch alles geschehen. Er litt, er
-war verstört und machte eine ähnliche geistige Krise durch wie
-Clerambault, aber er konnte sich nicht wie Clerambault ihr entringen. Er
-war weniger leidenschaftlich, aber intellektueller; um seine letzten
-Bedenken wegzutilgen, umkleidete er sich mit einem Netz logischer
-Vernunftgründe. Mit Hilfe seiner Kameraden bewies er mühselig nach der
-Methode _a + b_, daß der Krieg eine Pflicht für den zielbewußten
-Pazifismus sei. Seine Liga hatte leichte Arbeit, die verbrecherischen
-Akte des Feindes aufzudecken; freilich verlor sie keine Zeit damit, auf
-jene im eigenen Lager hinzuweisen. In manchen Augenblicken sah Alexander
-Mignon deutlich die Unaufrichtigkeit auf allen Seiten. Unerträglicher
-Anblick ..... er schloß rasch seine Läden....
-
-Und je blinder er sich in seine Kriegslogik verstrickte, um so schwerer
-war es für ihn, sich daraus zu befreien. So verbrannte er seine Schiffe
-hinter sich, eins nach dem andern. Er wurde böse wie ein Kind, das durch
-einen unbedachten Akt ungeschickter Nervosität einem Insekt den Flügel
-ausgerissen hat. Das Insekt ist nun verloren, und das Kind, beschämt
-über seine Handlung, rächt sein Leid und seine Scham an dem Tier, das es
-nun ganz in Stücke reißt.
-
-So war es leicht vorauszusehen, mit welcher Freude er Clerambault sein
-„_mea culpa_“ vortragen hörte. Die Wirkung war überraschend. Mignon,
-innerlich ganz unsicher, wurde wütend gegen Clerambault, denn
-Clerambault schien ihn anzuklagen, indem er sich beschuldigte. Von
-dieser Stunde an wurde er sein erbitterter Feind, und keiner bekämpfte
-später gehässiger als Mignon dieses sein lebendiges schlechtes Gewissen.
-
- §
-
-Clerambault hätte mehr Verständnis bei einigen Politikern finden können,
-denn die wußten von diesen Dingen ebensoviel, wie er selbst wußte, und
-sogar noch einiges mehr, aber das störte durchaus nicht ihren guten
-Schlaf. Seit ihrem ersten Sündenfall praktizierten sie munter die
-Technik der _combinazioni_, der Gedankenschwindeleien, sie gaben sich
-mit Recht der Täuschung hin, ihrer Partei zu dienen auf Kosten von ein
-paar Kompromissen. Eins weniger, eins mehr, was macht das aus?...
-Geradeaus zu gehen, geradeaus zu denken, war das einzig Unmögliche für
-diese Mollusken, die immer krumme Wege nahmen, sich schlangenhaft
-vorwärtsschoben, gleichsam nach rückwärts vorrückten, die, um den
-Triumph ihres Banners sicher zu machen, es durch den Schmutz schleiften
-und bäuchlings zum Kapitol emporgerutscht wären.
-
- §
-
-Schließlich gab es auch da und dort unterirdisch einige Klarblickende.
-Aber sie waren mehr zu ahnen als zu sehen. Diese melancholischen
-Glühwürmchen löschten vorsichtig ihre Laternen aus, sie hatten
-Todesangst, daß man einen Schimmer wahrnehmen könnte. Zwar waren sie
-frei von dem Wahn des Krieges, aber sie waren nicht gläubig genug zur
-Tat wider den Krieg, sie blieben bloß Fatalisten und Pessimisten.
-
-Clerambault erkannte, daß auch die höchsten Fähigkeiten des Herzens und
-des Geistes nur die öffentliche Knechtschaft verstärken, wenn sie nicht
-mit persönlicher Energie gepaart sind. Der Stoizismus, der sich den
-Gesetzen des Weltalls unterwirft, ist ein Hemmnis im Kampf gegen die
-Grausamkeit einzelner Gesetze. Statt zum Schicksal zu sagen: „Nein, hier
-ist kein Weg für dich“ (man wird ja sehen, ob es doch hindurchgeht),
-tritt der Stoiker höflich zurück und sagt: „Bitte, treten Sie ein!“
-
-Der kultivierte Heroismus, die Neigung für das Übermenschliche, für das
-Unmenschliche, macht die Seele durch die Opfer trunken, und je toller
-sie sind, um so herrlicher erscheinen sie. Die Christen von heute,
-großmütiger als ihr Meister, geben a l l e s dem Cäsar hin. Sobald er
-geruht, sie für irgendeinen Anlaß hinzuopfern, erklären sie diesen Anlaß
-schon für heilig. Fromm geben sie der Schande des Krieges die Glut ihres
-Glaubens hin und ihre Körper dem Scheiterhaufen. Die duldende,
-nachgiebige Resignation der Völker macht den Rücken krumm und läßt sich
-die Last aufladen: „Mach’ dir nichts draus!“ Zweifellos sind
-Jahrhunderte des Elends über diesen Stein dahingerollt. Aber auch der
-Stein verbraucht sich schließlich und wird Schlamm.
-
- §
-
-Clerambault versuchte mit dem einen oder dem andern zu sprechen. Überall
-aber stieß er auf denselben Mechanismus unterirdischen, halb unbewußten
-Widerstandes. Sie waren alle mit dem Willen, nicht zu verstehen, oder
-eigentlich mit einem beharrlichen Gegenwillen ehern umgürtet. Von
-Gegenargumenten wurde ihre Vernunft so wenig berührt, wie eine Ente vom
-Wasser. Im allgemeinen sind die Menschen zum Zweck ihrer Bequemlichkeit
-mit einer ganz unschätzbaren Eigenschaft ausgerüstet, sie können sich
-nämlich auf Wunsch blind und taub machen, wenn sie etwas nicht sehen
-oder hören wollen. Und haben sie schon durch irgendeinen peinlichen
-Zufall irgend etwas bemerkt, was ihnen lästig ist, so verstehen sie die
-Kunst, es sofort wieder zu vergessen. Wieviele Bürger gab es doch in
-allen Vaterländern, die genau wußten, wie es um die beiderseitige
-Verantwortlichkeit im Kriege stand, die genau die verhängnisvolle Rolle
-ihrer politischen Führer kannten, aber sie zogen vor, sich selbst zu
-betrügen und sich so zu stellen, als wüßten sie nichts davon.
-Schließlich gelang es ihnen sogar, das genaue Gegenteil zu glauben.
-
-Wenn nun schon jeder, so rasch er konnte, vor sich selber auswich, kann
-man sich vorstellen, wie hastig sie erst vor jenen flohen, die wie
-Clerambault ihnen behilflich sein wollten, sich selber zu erwischen. Um
-sich davonzumachen, schämten sich diese klugen, ernsten und ehrenwerten
-Männer nicht, alle jene kleinen Schliche und unredlichen Kniffe
-anzuwenden, deren sich sonst nur rechthaberische Frauen und Kinder
-bedienen. Aus Angst vor der Diskussion, die sie beunruhigen könnte,
-sprangen sie beim ersten ungeschickten Worte Clerambaults auf, rissen es
-aus dem Zusammenhange, fälschten es, wie es ihnen paßte, um sich darüber
-dann künstlich aufzuregen, laut mit aufgerissenen Augen zu schreien,
-sich entrüstet zu stellen und es schließlich wirklich im höchsten Maße
-zu werden. Sie schrien Zetermordio, und wenn man ihnen das Gegenteil
-bewies und sie zur Richtigstellung zwang, sprangen sie auf, schlugen die
-Türen zu: „Jetzt habe ich genug“. Um dann zwei Tage oder zehn nachher
-die breitgeschlagenen Themen aufzunehmen, als ob nichts vorgefallen
-wäre.
-
-Andere wieder, die noch heimtückischer waren, forderten in bewußter
-Absicht die Unvorsichtigkeit Clerambaults heraus, sie reizten ihn durch
-freundliches Entgegenkommen, mehr zu sagen, als er eigentlich wollte, um
-dann plötzlich loszubrechen. Die Wohlwollendsten beschuldigten ihn, daß
-es ihm an gesundem Menschenverstand fehlte. („Gesund“ sollte natürlich
-heißen: an „meinem“, an „unserem“.)
-
-Andere wieder waren Schönredner, die vor einem Wortturnier keine Angst
-hatten und gern die Diskussion aufnahmen in der Hoffnung, das verirrte
-Schaf wieder zur Herde heim zu führen. Sie diskutierten nicht die
-Anschauung Clerambaults selbst, sondern nur, ob sie zeitgemäß sei, und
-appellierten an seine gute Gesinnung.
-
-„Gewiß, gewiß. Sie haben im Grunde recht, im Grunde denke ich ganz so
-wie Sie, fast so wie Sie. O, ich verstehe Sie, lieber Freund... Aber,
-lieber Freund, seien Sie vorsichtig, vermeiden Sie es doch, die Gewissen
-der Kämpfer zu beunruhigen... Schwächen wir doch nicht ihre Kraft. Man
-darf nicht jede Wahrheit aussprechen, wenigstens nicht sofort. Die Ihre
-wird sehr schön sein... in fünfzig Jahren. Man darf nicht hastiger sein
-wollen als die Natur, man muß warten..., warten bis die Zeit für sie
-reif sein wird...“
-
-„Abwarten? Was abwarten? Bis der Appetit der Ausbeuter oder die Dummheit
-der Ausgebeuteten müde geworden ist? Können Sie denn nicht verstehen,
-daß die klaren und durchdringenden Gedanken der Besseren, wenn sie
-zugunsten der Blinden und der Denkungsart niedriger Menschen auf das
-Wort verzichten, geradewegs dem Lauf der Natur widerstreben, der sie zu
-dienen vorgeben, daß sie gegen den Sinn der Geschichte handeln, unter
-den sich zu beugen sie als ihre eigenste Ehre empfinden? Heißt das die
-Absichten der Natur in Ergebenheit anerkennen, wenn man einen Teil, und
-gerade den besten ihres Sinnes, zum Schweigen bringt? Diese Auffassung,
-die dem Leben seine kühnste Kraft entzieht und sie den Leidenschaften
-der Masse unterordnet, würde dahin führen, die Vorhut zu vernichten, die
-große Masse der Armee ohne Führung zu lassen.... Wenn ein Kahn sich nach
-einer Seite neigt, wollt ihr mich hindern, mich auf die andere zu
-setzen, um ein Gegengewicht zu schaffen? Oder soll sich die ganze
-Besatzung auf die Seite setzen, wo er schon überneigt? Die
-fortgeschrittenen Ideen sind das von der Natur gewollte Gegengewicht
-gegen die schwere Vergangenheit, die ihnen entgegenwirkt. Ohne sie geht
-der Kahn unter. — Wie man diese Ideen aufnimmt, das ist für mich
-nebensächlich. Wer sie ausspricht, muß sich darauf gefaßt machen,
-gesteinigt zu werden, wer sie aber nicht ausspricht, macht sich ehrlos.
-Er ist gleichsam ein Soldat, der mit gefährlicher Botschaft während der
-Schlacht ausgesandt wird. Hat er das Recht, sich solchem Auftrag zu
-entziehen?“
-
-Sobald sie sahen, daß ihr Zureden ohne Wirkung auf Clerambault blieb,
-demaskierten sie ihre Batterien und beschuldigten ihn erbittert einer
-lächerlichen und gefährlichen Eitelkeit. Sie fragten ihn, ob er sich
-klüger dünke als alle anderen, weil er seine Meinung der der Nation
-entgegensetze, und worauf er denn eigentlich sein ungeheuerliches
-Selbstgefühl stütze. Es sei Pflicht, demütig zu sein, bescheiden an
-seinem Platze inmitten der Gemeinschaft zu verharren, sich zu beugen, wo
-sie gesprochen habe, und — ob man sie für nützlich halte oder nicht —
-sich ihren Befehlen zu unterwerfen. Wehe dem Aufrührer gegen die Seele
-seines Volkes! Gegen sie recht behalten wollen, heißt unrecht haben. Und
-das Unrecht wird zum Verbrechen, in der Stunde der Tat. Die Republik
-verlangt, daß ihre Kinder ihr gehorchen.
-
-„Die Republik oder der Tod“, sagte Clerambault ironisch. „Schönes Land
-der Freiheit. Frei! Ja, es ist frei, aber nur deshalb, weil es dort
-immer Seelen wie die meine gegeben hat und geben wird, Seelen, die sich
-weigern, ein Joch zu tragen, gegen das sich ihr Gewissen wehrt. Aber
-welche Nation von Tyrannen auch! Wir haben nichts damit gewonnen, daß
-wir die Bastille eroberten. Einst gebot man ewige Gefängnishaft, wenn
-sich einer gestattete, anders zu denken als sein Fürst, und fand den
-Scheiterhaufen ganz am Platze für den, der anders dachte als die Kirche.
-Heute muß man genau so denken wie vierzig Millionen Menschen, ihnen
-nachlaufen in ihren leidenschaftlichen Widersprüchen, heute brüllen
-„Nieder mit England!“, dann morgen wieder „Nieder mit Deutschland!“,
-übermorgen vielleicht „Nieder mit Italien!“, jede Woche etwas anderes,
-heute einem Mann oder einem Gedanken zujubeln, den man morgen wird
-beschimpfen müssen. Und wenn man sich weigert, so setzt man sich der
-Unehre oder einem Revolverschuß aus. Was für eine erbärmliche
-Knechtschaft, die erbärmlichste von allen!... Was für ein Recht haben
-denn hundert Seelen, tausend Seelen oder vierzig Millionen Seelen, von
-mir zu verlangen, daß ich meine Seele verleugne? Jeder von Ihnen hat
-doch wie ich selbst nur eine. Vierzig Millionen Seelen zusammen bilden
-allzu oft nur eine Seele, die sich vierzigmillionenmal verleugnet... Ich
-denke, was ich denke, so denkt auch ihr, was ihr denkt!
-
-Die lebendige Wahrheit kann nur aus dem Gleichgewicht entgegengesetzter
-Ideen entstehen. Damit alle Bürger den Staat ehren können, tut es not,
-daß der Staat auch seine Bürger ehre. Jeder von Ihnen hat seine Seele
-und hat sein Recht darauf, und seine erste Pflicht ist, sie nicht zu
-verraten, niemals den Zusammenhang mit seinem Gewissen zu verlieren....
-Ich gebe mich keinem Wahn hin, ich maße meinem Gewissen keine
-übertriebene Bedeutung in einem stürzenden Weltall bei. Aber so wenig
-wir auch sein mögen, so wenig wir auch tun mögen, das, was man ist, muß
-man schlicht und stark sein, das, was man tut, schlicht und stark tun.
-Jeder kann sich täuschen, aber ob er sich täuscht oder nicht, er muß
-aufrichtig sein. Ein aufrichtiger Irrtum ist keine Lüge, er ist nur ein
-Schritt auf die Wahrheit zu. Lüge ist, vor der Wahrheit Angst haben und
-sie ersticken wollen. Wenn ihr tausendmal recht habt gegen einen
-aufrichtigen Irrtum — im Augenblick, wo ihr zur Gewalt greift, um ihn
-zu vernichten, begeht ihr das niedrigste Verbrechen gegen die Vernunft
-selbst. Wo die Vernunft verfolgt und der Irrtum verfolgt wird, bin ich
-für den Verfolgten, denn der Irrtum ist ebenso ein Recht wie die
-Wahrheit... Wahrheit? Wahrheit?... Wahrheit ist das ewige Suchen nach
-der Wahrheit. Achtet die Anstrengungen jener, die sich mühen, sie zu
-finden. Wenn man einen Menschen, der sich mühsam auf einem anderen Wege
-durchringt, verfolgt, weil er eine für den menschlichen Fortschritt
-weniger unmenschliche Bahn finden will — und sie vielleicht niemals
-findet —, so macht man aus ihm einen Märtyrer. Ihr sagt, euer Weg sei
-der bessere, der einzig gute? So geht ihn doch und laßt mich den meinen
-gehen! Ich zwinge euch ja nicht, mir zu folgen. Was regt ihr euch so
-auf? Habt ihr am Ende Angst, ich könnte recht haben?“
-
- §
-
-Clerambault beschloß, noch einmal Perrotin aufzusuchen. Trotz des
-Gefühls traurigen Mitleids, das jene letzte Begegnung in ihm
-hervorgerufen hatte, verstand er nun Perrotins ironische und kluge
-Haltung gegenüber der Welt besser. Und so sehr auch seine Achtung für
-den Charakter des alten Gelehrten nachgelassen hatte, seine Bewunderung
-für die hohe geistige Kraft desselben blieb doch unversehrt: noch immer
-betrachtete er ihn als einen Führer, der ihm helfen könnte, sich selbst
-zu erleuchten.
-
-Man kann sich leicht denken, daß Perrotin sich nicht übermäßig entzückt
-zeigte, Clerambault wiederzusehen. Er war doch zu fein veranlagt, um
-nicht eine unangenehme Erinnerung an die kleine Feigheit bewahrt zu
-haben, die er damals nicht nur begangen (denn daraus machte er sich
-längst nichts mehr, daran war er zu gewöhnt), sondern die er
-stillschweigend vor dem Blicke eines makellosen Zeugen hatte bekennen
-müssen. Er sah eine Auseinandersetzung voraus, und Auseinandersetzungen
-mit Menschen von feststehender Überzeugung waren ihm ein Greuel. (Es
-gibt ja dann gar kein Amusement mehr, solche Leute nehmen alles ganz
-ernst.) Aber als höflicher, eigentlich gutmütiger und schwacher Mensch
-war er unfähig sich zu wehren, wenn man ihn geradeaus anpackte. Er
-versuchte zuerst, alle ernsten Gespräche auszuschalten. Als er aber
-merkte, daß Clerambault wirklich seiner bedurfte, und er ihn vielleicht
-von irgendeiner Unbedachtheit zurückhalten könnte, entschloß er sich mit
-einem Seufzer, ihm seinen Vormittag zu opfern.
-
-Clerambault entwickelte ihm das Resultat seiner Bemühungen. Er war nun
-vollkommen klar darüber, daß die gegenwärtige Welt sich einem andern
-Ideal als dem seinen unterwarf. Er selbst hatte ja früher gleichfalls
-dies Ideal geteilt, ihm gedient und es gefeiert, und noch heute war er
-gerecht genug, ihm eine gewisse Schönheit zuzuerkennen. Bei den letzten
-Prüfungen war er aber auch des Sinnlosen und Widrigen dieses Ideals
-bewußt geworden und er fühlte, da er sich von ihm losgelöst hatte, sich
-nun genötigt, sich zu einem andern zu bekennen, das
-verhängnisvollerweise ihn mit dem früheren in Konflikt brachte. In
-kurzen und leidenschaftlichen Ausdrücken entwickelte Clerambault dieses
-neue Ideal und bat Perrotin, ihm klar und offen mit Hintansetzung jeder
-Höflichkeit und jeder Schonung zu sagen, ob er es richtig fände oder
-falsch. Perrotin nun, betroffen von Clerambaults tragischem Ernst,
-änderte sofort seinen Ton und stimmte ihm zu.
-
-„Habe ich also unrecht?“ fragte Clerambault ganz voll Angst, „ich sehe
-gut, daß ich allein bin, aber ich kann nicht anders. Sagen Sie also,
-ohne mich zu schonen: ist es ein Unrecht von mir, daß ich das denke, was
-ich denke?“
-
-Perrotin antwortete mit Ernst:
-
-„Nein, mein Freund, Sie haben vollkommen recht.“
-
-„Also ist es meine Pflicht, den mörderischen Irrtum der andern zu
-bekämpfen?“
-
-„Das ist wieder eine andere Sache.“
-
-„Habe ich also die Wahrheit nur dazu, um sie zu verraten?“
-
-„Die Wahrheit, mein Freund... (nein, sehen Sie mich nicht so an!) Sie
-glauben jetzt, daß ich so wie jener andere sagen werde: „Was ist
-Wahrheit?“ Nein.... Ich liebe sie ebenso wie Sie und vielleicht länger
-als Sie.... Aber die Wahrheit, mein Freund, ist höher, weiter als Sie,
-als wir, als alle, die jemals lebten, leben und leben werden.... Immer
-wenn wir meinen, dieser großen Göttin zu dienen, dienen wir nur den _Di
-minores_, den Heiligen der Seitenkapellen, die von der großen Masse
-abwechselnd vergöttert und verlassen werden. Gewiß kann das nicht
-unsere, nicht Ihre und nicht meine Wahrheit sein, zu deren Ehre sich die
-heutige Welt mit korybantischer Leidenschaft hinschlachtet und
-verstümmelt. Das Ideal des Vaterlandes ist das eines großen grausamen
-Gottes, das der Zukunft im mythischen Bilde eines Chronos als
-Schreckgespenst, oder seines olympischen Sohnes, den Christus
-entthronte, erscheinen wird. Ihr Menschheitsideal ist auf einer höheren
-Stufe und kündigt einen neuen Gott an. Aber auch dieser Gott wird später
-von einem anderen entthront werden, der noch höher steht und noch mehr
-vom Weltall umfängt. Das Ideal wie das Leben hören nicht auf, sich zu
-entwickeln, und dieses unablässige Werden ist für einen freien Geist der
-wirkliche Inhalt der Welt. — Aber wenn es auch dem Geist gegeben ist,
-die Stufen dieser Entwicklung ungestraft im Fluge zu überspringen, so
-kommt man doch in dieser Welt der Tatsachen nur Schritt für Schritt
-vorwärts. In einem ganzen Leben dringt man vielleicht nur um ein paar
-Zoll vor.
-
-Die Menschheit hat lahme Beine und Ihr ganzes Unrecht, Ihr einziges
-Unrecht ist, daß Sie ihr voraus sind um einen oder mehrere Tagemärsche.
-Aber gerade dieses Unrecht verzeiht man einem Menschen am wenigsten....
-Und das geschieht vielleicht nicht ohne Grund. Denn wenn ein Ideal, wie
-jetzt jenes des Vaterlandes, gleichzeitig mit der Gesellschaftsform, von
-der es getragen wird, altert, so wird es bösartig und speit sein
-gefährlichstes Feuer aus. Der kleinste Zweifel an seiner Berechtigung
-macht es toll, denn der Zweifel steckt schon in ihm selbst. Täuschen wir
-uns nicht darüber: Die Millionen Menschen, die sich heute im Namen des
-Vaterlandes hinschlachten lassen, haben nicht mehr das junge gläubige
-Vertrauen von 1792 oder 1813, obwohl heute viel größere Ruinen und
-Trümmer aufrufen. Viele derer, die sterben, und selbst die, die sich
-bewußt töten lassen, fühlen im tiefsten Grunde ihrer Seele das
-furchtbare Nagen des Zweifels. Aber einmal in die Falle gegangen, zu
-schwach, aus ihr auszubrechen oder sich einen Ausweg zu erdenken,
-verbinden sie sich die Augen und werfen sich in den Abgrund, während sie
-gleichzeitig voll Verzweiflung ihren schon erloschenen Glauben bekennen.
-Aber vor allem schleudern sie in der Erbitterung einer uneingestandenen
-Rache diejenigen hinein, die durch ihre Worte oder ihre Haltung den
-Zweifel in ihnen erweckt haben. Denjenigen, die für einen Wahn sterben,
-diesen Wahn nehmen wollen, heißt, sie zweimal sterben lassen.“
-
-Clerambault faßte ihn bei der Hand, damit er nicht weiterspräche. „O,
-Sie brauchen mir das nicht zu sagen, was mich ohnehin quält! Glauben Sie
-denn, daß ich nicht selbst die Angst fühle, diese Unglücklichen noch
-mehr zu verwirren? Ja, ich möchte den Glauben dieser armen Jungen
-schonen, nicht einen einzigen dieser Armen unglücklich machen, aber,
-mein Gott, was soll ich tun? Helfen Sie mir, aus diesem Zwiespalt
-herauszukommen, ob man das Böse ruhig geschehen lassen soll, die andern
-ruhig sich vernichten lassen, oder es wagen, ihnen noch mehr wehe zu
-tun, sie in ihrem Glauben zu verletzen und sich ihrem Haß auszuliefern
-eben dadurch, daß man sie retten will. Welches ist das richtige Gebot?“
-
-„Sich selbst zu retten!“
-
-„Mich selbst retten, heißt mich vernichten, wenn ich etwas auf Kosten
-der andern tue. Wenn wir nichts für sie tun — Sie, ich, denn wenn wir
-uns auch alle verbinden, sind wir doch noch immer zu wenige — dann geht
-Europa, dann geht die Welt zugrunde....“
-
-Perrotin, die Ellbogen auf die Lehne gestützt, die Hände über seinem
-Buddhabauch gefaltet und die Daumen drehend, sah Clerambault auf das
-gutmütigste an, hob den Kopf und sagte:
-
-„Ihre Menschengüte, Ihre künstlerische Empfindsamkeit täuschen Sie
-glücklicherweise, mein Freund. Die Welt ist noch nicht am Ende, die hat
-schon andere Dinge gesehen und wird noch andere sehen. Das, was heute
-geschieht, ist sicherlich sehr schmerzlich, aber keineswegs abnormal.
-Niemals noch hat ein Krieg die Erde gehindert sich weiter zu drehen,
-noch das Leben sich weiter zu entwickeln, ja, er ist sogar selbst eine
-Form dieser Entwicklung. Erlauben Sie einem alten, gelehrten
-Philosophen, Ihrem Heiligen Schmerzensmanne die ruhige Inhumanität
-seines Gedankens entgegenzustellen. Vielleicht finden Sie trotz allem
-sogar eine Erleichterung. — Diese Krise, die Sie so erschreckt, dieser
-Wirrwarr ist im Grunde eigentlich nichts als ein
-Zusammenziehungsphänomen, eine kosmische, lärmende, aber doch
-gesetzmäßige Kontraktion, ähnlich jenen Faltungen bei der
-Zusammenziehung der Erdkruste, die ja auch immer von zerstörenden
-Erdbeben begleitet sind. Die Menschheit zieht sich zusammen. Und der
-Krieg ist die eine solche Kontraktion begleitende Erschütterung. Gestern
-waren es noch in jeder Nation die Provinzen, die einander bekriegten,
-vorgestern in jeder Provinz die Städte, und heute, da die völkische
-Einheit schon ausgestaltet ist, bereitet sich eine viel umfassendere
-Einheit vor. Es ist natürlich sehr bedauerlich, daß diese Entwicklung
-durch Gewalt geschieht, aber Gewalt ist eben das natürliche Mittel in
-diesem Prozeß. Aus dem Explosivgemenge der zusammenstoßenden Elemente
-wird sich ein neuer chemischer Körper entwickeln. Wird es das einige
-Abendland, wird es Europa sein? — ich weiß es nicht. Aber sicher wird
-die neue Zusammensetzung neue Eigenschaften haben und viel reichere als
-die der einzelnen zusammensetzenden Elemente. Und dies ist noch nicht
-die letzte Etappe. So schön der gegenwärtige Krieg ist (ich bitte Sie um
-Entschuldigung, ich meine „schön“ im Hinblick auf den Geist, für den das
-Leiden nicht existiert), so werden noch schönere, noch großzügigere sich
-entfalten. Diese armen Kinder von Völkern, die sich einbilden, sie
-erbauten schon mit ihrem Kanonendonner den ewigen Frieden — sie werden
-noch warten müssen, bis das ganze Weltall durch diese Retorte
-hindurchgegangen ist. Der Krieg der beiden Amerika, der des neuen
-Kontinents und des gelben Kontinents, dann jener des Siegers mit der
-übrigen Erde — das wird uns noch ein paar Jahrhunderte zu schaffen
-machen. Und dabei sehe ich nicht einmal weit genug, ahne ich noch nicht
-einmal alles. Außerdem wird natürlich noch jeder dieser Zusammenstöße
-ausgiebige soziale Kriege zur Folge haben. Und erst dann, wenn dies
-alles erledigt ist, vielleicht in zehn Jahrhunderten (obwohl ich glaube,
-daß es vielleicht rascher geschehen könnte, als man meint, wenn man die
-Gegenwart mit der Vergangenheit in Vergleich setzt, weil sich im Fall
-die Geschwindigkeit beschleunigt), erst dann werden wir zu einer ein
-wenig ärmeren Synthese gelangen, denn von den Elementen der
-Zusammensetzung werden die besten und die schlechtesten unterwegs
-vernichtet worden sein; die ersten, weil sie zu zart waren, um den
-Unbilden zu widerstehen, die zweiten, weil sie zu widersetzlich waren
-und sich zu stark gegen die Amalgamierung wehrten. Dann werden jene
-sagenhaften Vereinigten Staaten der Erde erstehen, und ihr Bündnis wird
-um so dauerhafter sein, je mehr sich dann die Menschheit wahrscheinlich
-von gemeinsamen Gefahren bedroht sehen wird; die Marskanäle, die
-Eintrocknung der Planeten, die Erkaltung der Erdkruste, die
-geheimnisvollen Erkrankungen, die Pendeluhr Edgar Poes, die Vision des
-endgültigen Erlöschens der irdischen Geschlechter.... Ach, was für
-schöne Dinge wird es zu betrachten geben. In jenen letzten Ängsten wird
-das Genie der Rasse überreizt sein. Freilich, Freiheit wird’s wenig
-geben. Die menschliche Vielfalt muß gerade im Verschwinden notwendig zur
-Einheit des Gedankens und des Willens drängen (eine Richtung, in die sie
-übrigens auch heute schon ganz deutlich zielt); so wird sich ohne
-plötzliche Umkehr das Verschiedene in das Eine wieder zurückverwandeln,
-der Haß in die Liebe des alten Empedokles.“
-
-„Und dann?“
-
-„Dann? Dann wird wahrscheinlich alles nach einem Weltzeitraum von neuem
-anfangen. Ein anderer Kreis, eine andere Kalpa. Die Welt wird sich auf
-einem frisch geschmiedeten Rad wieder zu drehen beginnen.“
-
-„Und des Rätsels Lösung?“
-
-„Ein Hindu würde darauf antworten: Schiwa, der Zerstörer und der
-Schaffer, der Schaffer und der Zerstörer.“
-
-„Welch ein entsetzliches Traumbild!“
-
-„Das ist Auffassungssache. Die Weisheit macht einen immer frei. Für den
-Hindu ist Buddha der Befreier, mir für meinen Teil hilft schon die
-Neugierde über alles hinweg.“
-
-„Aber nicht mir: ich kann mich nicht bescheiden mit der Weisheit des
-selbstsüchtigen Buddha, der nur sich frei macht und die anderen im
-Stiche läßt. Ich kenne wie Sie die Hindus und ich liebe sie. Aber auch
-bei ihnen hat Buddha nicht das letzte Wort der Weisheit gesprochen.
-Erinnern Sie sich an jenen Bodhisattva, den Meister des Mitleids, der
-den Eid geleistet, nicht früher Buddha zu werden, nicht früher sich ins
-Nirwana zurückzuflüchten, ehe er nicht alle Übel geheilt, alles Unrecht
-gesühnt, alle Seelen getröstet hätte.“
-
-Perrotin neigte sich mit einem sanften Lächeln zu Clerambaults
-schmerzlichem Gesicht, streichelte ihm zärtlich die Hand und sagte:
-
-„Mein lieber Bodhisattva, was wollen Sie also tun? Wen wollen Sie also
-retten? Was wollen Sie also retten?“
-
-„Ja, ich weiß wohl“, sagte Clerambault und senkte den Kopf, „ich weiß
-wohl, wie wenig ich bin, wie wenig ich vermag. Ich kenne die Nichtigkeit
-meiner Wünsche und meines Protestes. Halten Sie mich nicht für
-eingebildet, aber was kann ich dagegen tun, wenn meine Pflicht mir zu
-sprechen gebietet?“
-
-„Ihre Pflicht ist, etwas zu tun, was nützlich und vernünftig ist, nicht
-aber, sich vergeblich zu opfern.“
-
-„Was ist das, was Sie „vergeblich“ nennen? Können Sie im vorhinein bei
-Samenkörnern dasjenige unterscheiden, das gedeihen wird, und jenes, das
-zugrunde geht? Und ist dies ein Grund, den Samen nicht auszuwerfen?
-Welcher Fortschritt wäre jemals geschehen, wenn der, in dessen Brust das
-Samenkorn wuchs, zurückgeschreckt wäre vor dem ungeheuren Block der
-gewohnheitsträgen Vergangenheit, der ihn zu zerschmettern droht?“
-
-„Ich verstehe, daß der Gelehrte die Wahrheit verteidigt, die er gefunden
-hat. Aber ist diese soziale Betätigung denn Ihre Mission? Dichter,
-bleibe deinen Träumen treu, auf daß deine Träume dir treu bleiben.“
-
-„Ich bin zuerst Mensch, und dann erst Dichter. Jeder anständige Mensch
-hat eine Mission.“
-
-„Aber Sie tragen geistige Werte in sich, die zu kostbar sind, und es
-wäre Mord, sie hinzuopfern.“
-
-„Ja, nicht wahr, man soll also nur den kleinen Leuten das Opfer
-überlassen, die nicht viel zu verlieren haben?“
-
-Er schwieg einen Augenblick und sagte dann:
-
-„Perrotin, es ist mir oft in den Sinn gekommen, daß wir alle nicht
-unsere Pflicht tun, wir geistigen Menschen und Künstler alle.... Nicht
-nur heute sondern seit langem schon, seit immer. Wir haben bei uns einen
-Teil Wahrheit und Erleuchtung, die wir aus Vorsicht in uns
-zurückbehalten. Mehr als einmal habe ich das mit dunkeln Gewissensbissen
-gefühlt. Aber damals hatte ich noch Angst, in mich hineinzuschauen. Erst
-die Prüfung hat mich sehen gelehrt. Wir sind Bevorzugte, wir sind eine
-privilegierte Klasse, das gibt uns auch Pflichten, Pflichten, die wir
-nicht erfüllen, denn wir haben Angst, uns zu kompromittieren. Die Elite
-des Geistes ist eine Aristokratie, die vorgibt, jener des Blutes
-nachzufolgen; aber sie vergißt, daß jene im Anfang die Privilegien mit
-ihrem Blute bezahlte. Seit Jahrhunderten hört die Menschheit viele Worte
-von weisen Männern, aber nur selten sieht sie einen dieser Weisen sich
-hinopfern. Und das würde der Welt ganz gut tun, wenn sie hie und da
-einmal einen sehen würde, der sein Leben für seinen Gedanken hingibt.
-Nichts wahrhaft Fruchtbares kann ohne das Opfer geschaffen werden. Um
-die anderen glauben zu machen, muß man selbst gläubig sein, muß
-beweisen, daß man gläubig ist. Es genügt nicht das bloße Dasein einer
-Wahrheit, damit der Mensch zu ihr aufblicke, es ist nötig, daß dieses
-Dasein ein lebendiges Leben habe. Und dieses Leben können, dieses Leben
-müssen wir ihr geben — das unsere! Sonst sind all unsere Gedanken nur
-Dilettantenspiele, eine Theaterspielerei, die einzig auf Theaterapplaus
-ein Anrecht hat. Nur solche Menschen haben die Menschheit
-vorwärtsgebracht, die ihr eigenes Leben zur Stufe machten. Dieses ist es
-auch, was den Zimmermannssohn von Galiläa über alle unsere großen Männer
-erhoben hat. Die Menschheit wußte wohl einen Unterschied zu machen
-zwischen den anderen und dem Heiland.“
-
-„Und der Heiland? Hat er sie gerettet?.... ‚Wenn Gott Zebaoth so
-beschlossen hat, so schaffen die Völker für das Feuer.‘“
-
-„Ihr Feuerkreis ist das letzte Schreckbild. Der Mensch ist nur dazu da,
-um ihn zu zerbrechen, um zu versuchen, sich ihm zu entringen, frei zu
-sein.“
-
-„Frei?“, sagte Perrotin mit seinem ruhigen Lächeln.
-
-„Ja, frei! Freiheit ist das höchste Gut, ein ebenso seltenes, wie ihr
-Name ein abgebrauchter ist, so selten wie das wahre Schöne, wie das
-wahre Gute. Frei nenne ich den, der sich von sich selbst, von seinen
-Leidenschaften, seinen blinden Instinkten, von jenen der Umgebung und
-des Augenblickes loslösen kann, zwar nicht um seiner Vernunft zu
-gehorchen, wie man meist sagt (denn die Vernunft in dem Sinne, wie Sie
-sie verstehen, ist ja nur ein anderes Wahnbild, eine andere verhärtete,
-vergeistigte und darum fanatisierte Leidenschaft), sondern um zu
-versuchen, über die Staubwolken hinauszusehen, die sich von den
-Menschenherden auf den Straßen der Gegenwart erheben, um zu versuchen,
-den Horizont zu umfassen und alles Geschehen in der Gesamtheit der Dinge
-und der Weltordnung zu begreifen.“
-
-„Und sich dann“, unterbrach ihn Perrotin, „den Weltgesetzen zu
-unterwerfen und anzupassen.“
-
-„Nein“, erwiderte Clerambault, „um sich ihnen mit vollem Bewußtsein
-entgegenzustellen, sobald sie dem Glück und dem wahrhaft Guten
-nachteilig sind. Denn darin besteht ja die Freiheit, daß der freie
-Mensch in sich selbst ein Weltgesetz ist, ein bewußtes Gesetz, dessen
-einzige Aufgabe es ist, das Gegengewicht für die zerschmetternde
-Maschine, für den Automaten Spittelers, die eherne Ananke zu bilden. Ich
-sehe das Weltwesen noch zu drei Vierteilen in der Scholle, in der Rinde,
-im Stein gebunden, den unbarmherzigen Gesetzen der Materie unterworfen,
-in die es eingebannt ist. Nur der Blick und der Atem sind frei. „Ich
-hoffe“, sagt der Blick. „Ich will“, sagt der Atem. Mit diesen beiden
-sucht es sich loszuringen. Der Blick, der Atem, das sind wir, das ist
-der freie Mensch.“
-
-„Mir genügt der Blick“, sagte sanft Perrotin.
-
-Clerambault erwiderte:
-
-„Habe ich keinen Atem, so gehe ich zugrunde.“
-
- §
-
-Beim geistigen Menschen bedarf es immer einiger Zeit vom Wort bis zur
-Tat, und selbst wenn er schon zu handeln beschlossen hat, findet er noch
-immer verschiedene Vorwände, um die Ausführung auf den nächsten Tag zu
-verschieben. Er sieht zu deutlich alles, was kommen wird, sieht die
-Kämpfe und Mühen voraus, und bezweifelt von vornherein den Erfolg. Um
-sich aber selbst über seine Unruhe hinwegzutäuschen, verausgabt er sich
-in Kraftreden entweder mit sich allein oder im engsten Freundeskreise,
-und verschafft sich so die billige Illusion, schon tätig zu sein. Im
-tiefsten Grunde seines Wesens glaubt er jedoch selbst nicht daran, er
-wartet wie Hamlet auf die Gelegenheit, die ihn zur Tat zwingen soll.
-
-So tapfer auch Clerambault in seinem Gespräche mit dem nachgiebigen
-Perrotin gewesen war, fand er doch, kaum heimgekehrt, alle seine
-Bedenken wieder. Seine durch das Unglück geschärfte Feinfühligkeit
-spürte nur zu gut die Erregung der Seinen rings um ihn und ließ ihn den
-Zwiespalt vorausahnen, den seine einmal ausgesprochenen Worte zwischen
-seiner Frau und ihm hervorrufen würden. Und noch mehr: er fühlte sich
-der Zustimmung seiner Tochter nicht mehr sicher, er hätte nicht sagen
-können, weshalb, aber er fürchtete die Probe zu machen. Für ein
-zärtliches Gemüt wie das seine war schon der Versuch eine Qual....
-
-Inzwischen schrieb ihm ein befreundeter Arzt, er hätte in seinem
-Hospital einen Schwerverwundeten, der an der Offensive in der Champagne
-teilgenommen und Maxime gekannt hatte. Clerambault eilte sofort hin, um
-ihn zu sehen.
-
-Er fand auf einem Bett einen Mann unbestimmbaren Alters auf dem Rücken
-liegend, unbeweglich ausgestreckt, umschnürt wie eine Mumie. Aus den
-weißen Bandagen starrte das magere Gesicht eines Bauern, gegerbt,
-zerfaltet, mit großer Nase und grauem Bart. Der freie rechte Unterarm
-stützte eine massige und entstellte Hand auf die Decke, vom Mittelfinger
-fehlte ein Glied, aber das zählte nicht, das war eine Friedenswunde.
-Unter den buschigen Brauen sahen die Augen ruhig und klar: man hätte ein
-so mildes graues Licht in dem verbrannten Antlitz nicht erwartet.
-
-Clerambault trat an ihn heran, erkundigte sich nach seinem Zustande, der
-Mann dankte höflich, aber ohne sich auf Einzelheiten einzulassen,
-gleichsam als ob es nicht nötig wäre, von sich zu sprechen.
-
-„Ich danke Ihnen, mein Herr, es geht gut, es geht ganz gut.“
-
-Aber Clerambault erneuerte liebevoll seine Fragen und es dauerte nicht
-lange, so fühlten die grauen Augen, daß in den blauen Augen, die sich zu
-ihnen niederneigten, mehr als Neugier sich regte.
-
-„Wo sind Sie denn verwundet“, fragte Clerambault.
-
-„Ach! Das wäre zu lang zu erzählen, mein Herr! Eigentlich ein wenig
-überall.“
-
-Und als jener weiterfragte:
-
-„Ich habe es hier und da abgekriegt, überall wo gerade ein Platz war —
-und dabei bin ich nicht einmal besonders dick. Ich hätte nie gedacht,
-daß es in einem Körper soviel Platz dafür gibt.“
-
-Schließlich erfuhr Clerambault, daß jener ungefähr zwanzig — oder
-genauer gesagt siebzehn — Verwundungen hatte. Er war buchstäblich von
-einem Schrapnell überschüttet (oder wie er sagte „gespickt“) worden.
-
-„Siebzehn Verwundungen!“, schrie Clerambault.
-
-Der Mann berichtigte:
-
-„Um der Wahrheit völlig die Ehre zu geben: ich habe jetzt nur mehr etwa
-zehn.“
-
-„Sind die anderen schon geheilt?“
-
-„Man hat mir die Füße abgeschnitten.“
-
-Clerambault war so erschüttert, daß er fast den Zweck seines Besuches
-vergaß. O, diese Fülle von Unglück! Mein Gott! Was ist da das unsere,
-dieser Tropfen im Meer! Er legte seine Hand auf die harte Hand des
-Mannes und drückte sie. Die ruhigen Augen des Verwundeten betrachteten
-Clerambault von oben bis unten, bemerkten das Trauerband am Hute und er
-sagte: „Sie haben auch Unglück gehabt?“
-
-Clerambault raffte sich auf.
-
-„Ja“, sagte er, „nicht wahr, Sie haben ihn gekannt, den Sergeanten
-Clerambault?“
-
-„Natürlich habe ich ihn gekannt.“
-
-„Das war mein Sohn.“
-
-Ein Bedauern kam in den Blick.
-
-„Ach, Sie armer Herr... Natürlich habe ich ihn gekannt, Ihren tapferen
-kleinen Jungen! Wir waren fast ein ganzes Jahr zusammen, und das zählt,
-dieses Jahr! Durch Tage und Tage wie die Maulwürfe im selben Loch...
-Ach, man hat zusammen viel Elend erlebt.“
-
-„Hat er viel gelitten?“
-
-„Na, mein Herr, manchmal war es hart. Den Kleinen hat es manchmal fest
-gepackt, besonders im Anfang. Er war es eben nicht gewöhnt; wir, wir
-kennen das.“
-
-„Sie sind vom Lande?“
-
-„Ich war Gutsknecht, da lebt man das Leben mit den Tieren, lebt ein
-wenig wie sie selbst... Obwohl, mein Herr, um es offen zu sagen, der
-Mensch heutzutage von den Menschen schlechter als das Vieh behandelt
-wird... „Seid gut zu den Tieren“, diese amtliche Mahnung hatte irgendein
-Spaßvogel in unserem Schützengraben aufgehängt. Aber was für sie nicht
-gut ist, war noch immer gut genug für uns... Tut nichts!... Ich beklage
-mich ja nicht. Es ist nun einmal so. Und wenn es sein muß, muß es eben
-sein. Aber der kleine Sergeant, bei dem merkte man’s, daß er nicht
-gewöhnt war an all das. An den Regen und an den Schlamm und die
-Niedertracht und vor allem an den Schmutz. Was immer man anrührte, was
-man aß, und dann auf einem selbst: das Ungeziefer... Im Anfang, da sah
-ich’s, da war er ein paarmal ganz nahe daran zu weinen. Da versuchte ich
-ihm ein bißchen zu helfen. Mich lustig zu machen über die Sachen, um ihm
-zu helfen — aber so, daß er nicht merkte, daß man ihm helfen wolle,
-denn er war stolz, der Kleine, und wollte nicht, daß man ihm helfe —
-aber er war doch froh, wenn man’s tat. Und ich war es auch. Dort hat man
-ja nötig, zueinander zu rücken und sich zu helfen. Schließlich war er
-soweit und so abgehärtet wie ich, hat mir seinerseits auch geholfen. Hat
-nie geklagt, wir lachten sogar zusammen, denn man muß doch lachen: Es
-gibt ja kein Unglück, das ewig dauert, und das hilft einem über das
-Elend hinweg.“
-
-Clerambault hörte bedrückt zu. Er fragte:
-
-„So war er also weniger traurig am Ende?“
-
-„Ja, mein Herr, er hatte sich abgefunden, wie schließlich wir alle. Man
-weiß nicht, wieso das kommt, man steht jeden Tag, fast jeder mit
-demselben Fuß auf, man ist einander nicht ähnlich, aber schließlich ist
-man schon mehr die andern als man selbst. Und das ist besser so, man
-leidet nicht mehr so viel, man fühlt sich selbst weniger, man wird eine
-einzige Masse. Außer, wenn es Urlaub gibt — dann wird es schlecht für
-die, die zurückkommen — und so war’s auch gerade bei dem kleinen
-Sergeanten, als er zum letztenmal wiederkam... da geht es dann nicht
-mehr gut....“
-
-Clerambault sagte hastig aus gepreßtem Herzen: „Wie, damals, als er
-zurückkam...?“
-
-„Ja, da war er sehr niedergedrückt. Niemals hatte ich ihn so kleinmütig
-gesehen wie in jenen Tagen.“
-
-Ein schmerzlicher Ausdruck malte sich in Clerambaults Gesicht. Bei einer
-Bewegung, die er machte, wendete sich der Verwundete, der, bisher die
-Augen zur Zimmerdecke gerichtet, gesprochen hatte, mit dem Blick gegen
-ihn, sah und verstand offenbar alles, denn er fügte hinzu:
-
-„Aber er hat sich schon wieder herausgerappelt nachher.“
-
-Clerambault faßte von neuem die Hand des Kranken.
-
-„Sagen Sie mir, was er Ihnen erzählte, sagen Sie mir alles.“
-
-Der Mann zögerte, dann sagte er:
-
-„Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau.“
-
-Er schloß die Augen und blieb unbeweglich. Clerambault, über ihn
-gebeugt, suchte zu sehen, was diese Augen unter ihren geschlossenen
-Lidern in sich erblickten.
-
- * * * * *
-
-Mondlose Nacht. Eisige Luft. Aus der Tiefe des gehöhlten Grabens sieht
-man den kalten Himmel und die starren Sterne. Geschosse schlagen in dem
-harten Boden auf. Im Schützengraben zusammengeknäuelt, die Knie unter
-dem Kinn, rauchen Maxime und sein Gefährte Seite an Seite. Der Kleine
-war eben an diesem Tage von Paris zurückgekommen.
-
-Er war bedrückt und gab auf Fragen keine Antwort, er verschloß sich in
-einem bösen Schweigen. Der andere hatte ihn den ganzen Nachmittag mit
-Absicht allein gelassen, damit er mit seiner Qual fertig werde; aus dem
-Augenwinkel heraus beobachtete er ihn, und als er dann im Dunkeln den
-Augenblick gekommen sah, näherte er sich ihm. Er wußte, der Kleine würde
-jetzt von selbst mit ihm sprechen. Der Anschlag einer Kugel, die über
-ihre Köpfe fuhr, ließ eine vereiste Scholle Erde sich loslösen.
-
-„Heda, du Totenvogel“, sagte der andere, „du hast es eilig.“
-
-„Wenn es nur schon vorüber wäre“, sagte Maxime, „sie wollen es ja alle.“
-
-„Was, um den Boches eine Freude zu machen, ließest du dich umbringen? Du
-bist wirklich ein guter Kerl.“
-
-„Es sind nicht nur die Boches allein, alle schaufeln sie zusammen an
-unserem Grab...“
-
-„Wer denn?“
-
-„Alle! Die von dort hinten, von wo ich komme, die von Paris, die
-Freunde, die Verwandten, die Lebendigen, die vom anderen Ufer. Wir, wir
-sind ja schon tot.“
-
-Ein Schweigen. Der Flug eines Projektils heulte durch den Himmel. Der
-Kamerad tat einen tiefen Zug aus der Pfeife.
-
-„Also, es hat dir hinten nicht gefallen, mein Kleiner? Ich habe es mir
-gleich gedacht.“
-
-„Warum denn?“
-
-„Weil, wenn der eine schuftet und der andere nicht, so haben die beiden
-einander nichts zu sagen.“
-
-„Aber sie leiden ja auch....“
-
-„Ja, aber es ist nicht dasselbe Brot. Du kannst noch so geschickt sein,
-du wirst niemals einem, der ihn nicht kennt, den Zahnschmerz erklären
-können. So versuche mal denen da hinten, die in ihren Betten liegen,
-begreiflich zu machen, was hier vorgeht. Für mich ist es nicht neu, ich
-habe den Krieg nicht nötig gehabt... Ich habe das mein ganzes Leben
-gekannt. Aber glaubst du, wenn ich mich auf der Erde abrackerte und mir
-das Mark aus den Knochen schwitzte, daß andere sich darüber beunruhigt
-haben? Ich sage damit nicht, daß sie deshalb schlecht sind. Sie sind
-nicht gut, sind nicht schlecht, sind eben wie fast alle Welt ist.
-Können’s halt nicht auffassen. Um etwas zu verstehen, muß man’s selber
-spüren, die Sache auf sich nehmen, die ganze Qual auf sich nehmen. Wenn
-nicht — und man tut es ja nicht, mein Junge — da muß man eben das
-Kreuz darüber machen, versuch’s nicht zu erklären. Die Welt ist eben so
-wie sie ist. Da ist nichts zu ändern.“
-
-„Das wäre zu furchtbar. Dann lohnte es ja nicht mehr zu leben.“
-
-„Warum denn nicht, zum Teufel? Ich habe es ganz gut ertragen, und du
-bist nicht weniger wert als ich. Du bist klüger, du kannst lernen, man
-lernt alles ertragen. Alles. Und dann — etwas zusammen zu ertragen, ist
-zwar noch keine Freude, aber es ist nicht mehr ganz eine Qual. Allein zu
-sein, das ist das härteste. Du bist nicht allein, mein Kleiner.“ Maxime
-sah ihm ins Gesicht und sagte:
-
-„Dort hinten war ich’s, hier bin ich es nicht mehr...“
-
- * * * * *
-
-Aber der Mann, der mit geschlossenen Augen auf seinem Bette hingestreckt
-lag, sagte nichts von dem, was er in sich sah. Als er jetzt wieder ruhig
-die Augen aufschlug, fand er den verängstigten Blick des Vaters auf sich
-gerichtet, der ihn anflehte, zu sprechen.
-
-Und da versuchte er mit einer linkischen und zärtlichen Gutmütigkeit zu
-erklären, daß der Kleine offenbar deshalb traurig gewesen war, weil er
-die Seinen hatte verlassen müssen, aber daß „man“ ihn schon wieder
-aufgerichtet hätte. „Man“ verstand ja seine Not.... Er selbst, der
-Krüppel, hätte ja nie einen Vater gekannt, aber als Kind hätte er davon
-geträumt, welches Glück es für die, die einen haben, sein müsse.
-
-„So habe ich mir erlaubt... und habe zu ihm gesprochen, mein Herr, so,
-als ob ich Sie wäre... und der Kleine hat sich beruhigt. Er sagte mir,
-daß man doch eine Sache diesem verfluchten Krieg danke, nämlich daß er
-einem gezeigt habe, es gäbe viel arme Teufel auf der Erde, die sich
-nicht kennen und die aus demselben Holz geschnitzt sind. Man hört es oft
-genug, daß wir Brüder seien, von den Anschlagzetteln oder aus den
-Predigten, nur glaubt man’s eben nicht. Um es wirklich zu wissen, muß
-man einmal miteinander geschuftet haben... und da hat er mich umarmt.“
-
-Clerambault stand auf, neigte sich über das umwickelte Gesicht des
-Verwundeten und küßte ihn auf die rauhe Wange.
-
-„Sagen Sie, was ich für Sie tun kann“, fragte er.
-
-„Sie sind sehr gut, mein Herr, aber viel ist nicht mehr zu tun. Ich bin
-sozusagen fertig. Ohne Beine, mit einem gebrochenen Arm, mit fast nichts
-Gesundem mehr, wozu wäre ich noch gut? Übrigens ist ja noch gar nicht
-gesagt, daß ich überhaupt davonkomme. Na, es wird eben gehen, wie es
-geht. Fahre ich ab, dann gute Reise, und bleibe ich, so wird man schon
-sehen. Man muß warten, es gibt ja immer Züge.“
-
-Clerambault bewunderte seine Geduld. Der andere wiederholte immer seinen
-Refrain: „Ich bin halt eben daran gewöhnt, es ist kein großes Verdienst,
-geduldig zu sein, wenn man nicht anders kann... und dann, wir kennen das
-ja schon, ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger... für uns dauert
-der Krieg das ganze Leben lang.“
-
-Clerambault bemerkte, daß er in seinem Egoismus noch gar nicht nach
-Einzelheiten aus dem Leben des andern gefragt hatte, ja nicht einmal
-seinen Namen wußte.
-
-„Mein Name? Der paßt gut zu mir: Courtois Aimé. Aimé ist der Vorname.
-Paßt wie ein Handschuh zu einem, der im Dreck sitzt.... Und dazu noch
-Courtois, ein guter Witz. Meine Eltern habe ich nicht gekannt, ich bin
-ein Findelkind. Der Pfleger vom Hilfshaus, ein Pächter in der Champagne,
-hat es übernommen, mich aufzuziehen, und er verstand sich darauf, der
-Kerl.... Ich bin gut herausgearbeitet worden! Na, ich habe wenigstens zu
-rechter Zeit schon gewußt, was mich im Leben erwartet. Es hat gut in
-meinen Napf geregnet.“
-
-Und dann erzählte er mit ein paar kurzen trockenen Sätzen, ohne
-irgendwelche Erregung, die ganze Reihe der Unglücksfälle, die sein Leben
-zusammensetzten: die Ehe mit einem Mädchen, wie er ohne einen Pfennig
-Geld, der „Hunger, der den Durst heiratet“, Krankheiten, Todesfälle, den
-Kampf gegen die Natur — und das alles wäre noch nichts gewesen, hätte
-nicht noch der Mensch vom Seinen dazugetan. _Homo homini_... _homo_....
-Die ganze soziale Ungerechtigkeit, die auf den Leuten der unteren
-Schichten lastet. — Clerambault konnte seine Erbitterung nicht
-verbergen, wie er ihm so zuhörte, aber Aimé Courtois regte sich durchaus
-nicht auf. Es ist eben so, es war immer so und wird immer so sein. Die
-einen sind da, um zu leiden, die anderen nicht. Es gibt keine Berge ohne
-Täler. Der Krieg war ihm als ein Blödsinn erschienen, aber er hätte
-nicht einen Finger gerührt, um ihn zu verhindern. In seiner Art war die
-ganze fatalistische Passivität des Volkes, das auf gallischer Erde sich
-in eine ironische Sorglosigkeit hüllt, das „Man darf sich nichts daraus
-machen“ der Schützengräben. Und es war auch die ganze falsche Scham der
-Franzosen darin, die vor nichts so Furcht haben wie vor dem
-Lächerlichen, die tausendmal lieber für eine Tollheit und sogar für
-eine, die sie selbst als solche erkennen, sich opfern würden, als sich
-dem Spott für irgendeine vernünftige Handlung auszusetzen, die nur nicht
-an der Tagesordnung war. Sich dem Kriege entgegenstellen, das wäre so,
-wie sich gegen das Gewitter stellen. Wenn’s hagelt, kann man halt nichts
-tun als, wenn es noch geht, die Fenster zuschließen und nachher sich die
-zugrunde gerichtete Ernte anschauen. Und dann fängt man wieder an bis
-zum nächsten Hagel, bis zum nächsten Krieg — in alle Ewigkeit. „Man
-darf sich halt nichts daraus machen“ — nie kam ihm der Gedanke, daß der
-Mensch den Menschen ändern könnte.
-
-Clerambault erbitterte sich innerlich über diese heroische und dumme
-Resignation, die wohl dazu angetan ist, die privilegierten Klassen zu
-begeistern, denn ihr verdanken sie ja die eigene Erhaltung, — die aber
-andererseits aus der menschlichen Rasse und ihrer tausendjährigen
-Anstrengung ein Danaidenfaß macht, da sich ihr ganzer Mut, ihre ganze
-Tugend, ihre ganze Arbeit darin erschöpfen, auf anständige Art zu
-sterben.... Als aber seine Augen sich wieder auf das verstümmelte Stück
-Mensch richteten, das da vor ihm lag, bedrückte ihn ein unendliches
-Mitleid. Was konnte er tun, was konnte er wollen, dieser Mann des
-Elends, dieses Symbol des hingeschlachteten und verstümmelten Volkes? So
-viele Jahrhunderte leidet und blutet es schon vor unseren Augen, ohne
-daß wir, seine glücklicheren Brüder, ihm mehr geben als irgendein
-nachlässiges Lob von fern, das unser Wohlergehen gar nicht stört und das
-Volk sogar aufmuntert, nur so fort zu tun! Welche Hilfe bringen wir ihm
-denn? Da wir schon nichts für dieses Volk tun, widmen wir ihm nicht
-einmal unser Wort! Von der freien Entfaltung unseres Denkens — die wir
-doch seinen Opfern danken — bewahren wir die Frucht für uns, ja wir
-wagen nicht einmal, es davon kosten zu lassen. Wir haben Furcht vor dem
-Lichte, Furcht vor der frechen Meinung und den Herren der Stunde, die
-sagen: „Löschet das Licht! Ihr, die ihr es habt, trachtet es zu
-verbergen, damit man nichts davon sieht, wenn ihr wollt, daß man es euch
-verzeihe.“ — Genug der Feigheit! Wer soll sprechen, wenn nicht wir? Die
-anderen sterben mit dem Knebel im Munde....
-
-Ein Schatten von Qual lief über das Antlitz des Verwundeten. Seine Augen
-sahen starr zur Decke, sein großer verkrümmter Mund, hartnäckig
-verschlossen, wollte keine Antwort mehr geben. — Clerambault entfernte
-sich. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Das Schweigen des Volkes auf
-seinem Totenbett hatte ihn bestimmt, das Wort zu ergreifen.
-
-
-
-
- Dritter Teil
-
-
-
-
- §
-
-Clerambault kam vom Spital zurück, schloß sich in sein Zimmer ein und
-begann zu schreiben. Madame Clerambault versuchte einmal einzudringen,
-sah mit einer Art Mißtrauen nach, was er machte. Es war, als ob ein bei
-dieser Frau sehr seltenes Ahnungsvermögen — sie merkte sonst nie etwas
-— ihr ein dunkles Angstgefühl vor dem, was ihr Mann vorbereitete,
-einjagte. Es gelang ihm, seine Abgeschlossenheit zu verteidigen, bis er
-fertig war. Sonst ersparte er den Seinen nichts von dem, was er
-geschrieben hatte, es war ein Genuß für seine naive, liebevolle
-Eitelkeit, aber auch zärtliche Pflicht, auf die er ebensowenig wie die
-anderen hätte verzichten können. Diesmal nahm er davon Abstand, ohne
-sich den Grund dafür selbst klar zu machen. Obwohl er noch weit davon
-entfernt war, die ganze Tragweite seiner Tat zu überschauen, hatte er
-doch Furcht vor Widerspruch, denn er fühlte sich seiner noch nicht
-sicher genug, sich ihm auszusetzen. So zog er es vor, die anderen lieber
-vor die vollendete Tatsache zu stellen.
-
-Sein erster Schrei war eine Selbstanklage:
-
- „I h r T o t e n v e r z e i h e t u n s!“
-
-Diese öffentliche Beichte trug als Motto die Melodie einer alten Klage
-des Königs David, der an der Leiche seines Sohnes Absalon weint:
-
-[Illustration: _Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi!_]
-
-„Ich hatte einen Sohn. Ich liebte ihn. Und ich habe ihn getötet. Ihr
-Väter des trauernden Europa, nicht für mich allein, für euch alle
-spreche ich, ihr Millionen Väter, verwitwet an euren Söhnen, Feinde oder
-Freunde, und alle bedeckt von ihrem Blute gleich mir. Ihr alle sprecht
-durch die Stimme eines der Euren, durch meine arme Stimme, die leidet
-und Buße tut.
-
-Mein Sohn ist für die Euren, durch die Euren (ich weiß es nicht), ist
-wie die Euren getötet worden. Und wie ihr habe ich den Feind dafür
-angeklagt und den Krieg. Aber den Hauptschuldigen sehe ich erst heute
-und ich klage ihn an: ich bin es. Ich bin es, und dieses Ich seid Ihr.
-Wir sind es. Könnte ich Euch doch zwingen, das zu hören, was Ihr wohl
-wißt und nicht wissen wollt!
-
-Mein Sohn war zwanzig Jahre alt, als er dem Krieg zur Beute fiel.
-Zwanzig Jahre lang habe ich ihn zärtlich geliebt, habe ihn geschützt
-gegen Hunger, Kälte, Krankheiten, gegen die geistige Dunkelheit, gegen
-Unwissenheit, Irrtum, gegen alle Fallstricke, die das Leben in seinem
-Schatten birgt. Aber was habe ich getan, um ihn zu verteidigen gegen die
-aufsteigende große Gefahr?
-
-Dabei habe ich niemals zu jenen gehört, die mit den Leidenschaften des
-eifersüchtigen Nationalismus gemeinsame Sache machten. Ich liebte die
-Menschen, und es war mir eine Freude, an ihre zukünftige Brüderlichkeit
-zu denken. Warum habe ich also nichts getan gegen das, was sie bedrohte,
-gegen das schleichende Fieber, gegen den lügnerischen Frieden, der mit
-einem Lächeln auf den Lippen schon zum Mordanschlag ausholte? Es war
-vielleicht Furcht, zu mißfallen, Furcht vor Feindschaften? Ich liebte es
-zu sehr, zu lieben und vor allem geliebt zu werden. Ich fürchtete,
-erworbenes Wohlwollen zu gefährden, hielt zu viel auf die zerbrechliche
-und kraftlose Gemeinschaft mit jenen, die um uns sind, auf diese
-Komödie, die man mit sich und den anderen spielt und mit der man sich ja
-gar nicht selbst betrügt, denn von beiden Seiten fürchtet man immer, das
-Wort auszusprechen, das den Mörtel abfallen ließe und das zerfressene
-Haus zeigte. Ich hatte Furcht, klar in mich selbst zu sehen, war erfüllt
-von jener inneren opportunistischen Unsicherheit, die alles schonen
-will, die die alten Instinkte und den neuen Glauben verbinden will, die
-Kräfte, die sich gegenseitig vernichten und aufheben, Vaterland,
-Menschheit, Krieg und Frieden. Ich habe nie genau gewußt, auf welche
-Seite ich mich hinneigen sollte, und bin von der einen zur anderen wie
-eine Schaukel geschwankt. Ich hatte Angst vor der Anstrengung, mich zu
-entscheiden und eine Wahl zu treffen.... Faulheit war es und Feigheit!
-Ich übertünchte all das mit einem gefälligen Glauben an die Güte der
-Dinge, die alles schon — so dachte ich — von selbst in schönste
-Ordnung bringen würden. Und wir begnügten uns, zuzuschauen, den
-unfehlbaren Lauf des Schicksals noch zu verherrlichen — wir Höflinge
-der Gewalt! Da wir verzichtet haben, Einfluß zu erlangen, so haben die
-Dinge — oder die Menschen, andere Menschen als wir — für uns
-entschieden. Und wir haben das erst bemerkt, als wir schon getäuscht
-waren. Aber das Eingeständnis war für uns so entsetzlich, wir waren so
-dessen entwöhnt, wirklich wahrhaft zu sein, daß wir auch dann weiter so
-getan haben, als wären wir mit dem Verbrechen im vollen Einverständnis.
-Und als Bürgschaft unseres Einverständnisses haben wir unsere Söhne
-ausgeliefert....
-
-Ach, wir haben sie sehr geliebt! Sicher mehr als unser eigenes Leben —
-ach, hätte es sich nur darum gehandelt, unser Leben hinzugeben! Aber wir
-haben sie nicht mehr geliebt als unseren Stolz, der verzweifelt bemüht
-war, unsere moralische und sittliche Verwirrung zu verbergen, die Leere
-unseres Geistes und die Nacht unseres Herzens.
-
-Alle diese Dinge wären aber noch verzeihlich bei solchen, die an das
-alte Idol, an das heimtückische, neidische, mit getrocknetem Blut
-überdeckte Götzenbild glaubten — an das barbarische Vaterland. Wenn
-jene ihre und der anderen Kinder opferten, so töteten sie, aber sie
-wußten wenigstens nicht, was sie taten — diejenigen aber, die nicht
-mehr daran glauben, die nur mehr daran glauben wollen (und das bin ich,
-das sind wir) — die opfern ihre Kinder, indem sie sie einer Lüge
-darbieten (denn im Zweifel Ja sagen, heißt lügen), und sie opfern sie,
-um sich selbst ihre Lüge zu beweisen. Und jetzt, da unsere Lieben für
-unsere Lüge gestorben sind, arbeiten wir uns, statt den Irrtum offen
-zuzugeben, nur noch tiefer, bis über die Augen hinein, nur um nichts
-mehr zu sehen, denn wir wollen, daß nach den unseren noch die anderen,
-alle anderen, für unsere Lüge sterben.
-
-Aber ich, ich kann das nicht mehr, ich denke an die noch lebenden Söhne.
-Was soll mir das Gutes tun, daß andern Böses geschieht? Bin ich ein
-Barbar aus den Zeiten Homers, um zu glauben, daß ich den Schmerz meines
-toten Sohnes, seinen Hunger nach Licht lindern könne, wenn ich auf die
-Erde, die ihn hinabgeschlungen hat, das Blut anderer Söhne hingieße?
-Haben wir noch immer diese Vorstellungen? — Nein! Jeder neue Mord tötet
-meinen Sohn noch einmal, läßt auf seinem Gebein den schmutzigen Schlamm
-des Verbrechens lasten. Mein Sohn war die Zukunft, und wenn ich ihn
-retten will, muß ich die Zukunft retten, muß ich künftigen Vätern den
-Schmerz ersparen, der auf mich gefallen ist. Zu Hilfe! Helft mir!
-Verwerfen wir diese Lüge! Geht denn der Kampf zwischen den Staaten,
-dieses Brigantentum des Weltalls, wirklich um unseretwillen vor sich?
-Was tut uns denn wahrhaft not? Die erste Freude, das erste Gesetz, ist
-es nicht jenes Lebensgesetz des Menschen, der gleich einem Baum gerade
-aufsteigt und sich in dem zugewiesenen Kreis Erde erfüllt, der durch
-seinen freien Saft und seine stille Arbeit, sein vielfältiges Leben in
-sich und seinen Söhnen sich ruhig entfalten sieht? Wer von uns Brüdern
-der Welt ist eifersüchtig auf den anderen, wer will ihm solch gerechtes
-Glück nehmen? Was haben wir zu tun mit den Ambitionen und Rivalitäten,
-mit der Habgier und den geistigen Krankheiten, mit denen die Schänder
-des Wortes den Namen des Vaterlandes bedecken? Das Vaterland sind wir,
-die Väter. Das Vaterland sind unsere Söhne. All unsere Söhne. Retten wir
-sie!“
-
- §
-
-Ohne irgend jemand zu fragen, überbrachte er diese Seiten, kaum daß er
-sie geschrieben hatte, einem kleinen sozialistischen Verleger seines
-Viertels. Er kam erleichtert zurück und dachte:
-
-„So, jetzt habe ich gesprochen. Jetzt beschäftigt es mich nicht mehr.“
-
-Aber in der kommenden Nacht belehrte ihn plötzlich ein Stich in der
-Brust, daß es ihm mehr als je naheging. Er wachte auf. „Was habe ich
-denn getan?“ Er fühlte eine schmerzliche Scham, der Öffentlichkeit
-seinen heiligen Schmerz ausgeliefert zu haben. Ohne daran zu denken, daß
-seine Worte Zorn erregen könnten, hatte er doch ein Vorgefühl von
-Unverständnis, von grobschlächtiger Auslegung, die er als Profanation
-empfand.
-
-Die nächsten Tage gingen vorüber. Es geschah nichts. Schweigen. Der
-Aufruf war in der allgemeinen Unaufmerksamkeit untergegangen. Der
-Verleger gehörte zu den wenig bekannten, die Versendung der Broschüre
-war nachlässig geschehen, und es gibt keinen gefährlicheren Tauben als
-den, der nicht hören will. Die wenigen Leser, die der Name Clerambault
-angezogen hatte, legten nach den ersten Zeilen die unwillkommene Lektüre
-zur Seite. Sie dachten: „Der arme Mann, sein Unglück ist im Begriff, ihm
-den Kopf ganz zu verdrehen“, was ein guter Vorwand für sie war, das
-Gleichgewicht ihres Herzens nicht in Erschütterung zu bringen.
-
-Ein zweiter Artikel folgte. Clerambault nahm darin Abschied von dem
-alten, blutigen Götzenbild Vaterland, oder vielmehr, er stellte dem
-großen fleischfressenden Untier, dem sich die armen Menschen jener Zeit
-als Fraß hinwarfen, der römischen Wölfin, die erhabene Mutter alles
-Lebendigen entgegen: das Weltvaterland!
-
- „A n d i e e i n s t G e l i e b t e !“
-
-„Kein bittererer Schmerz, als Abschied zu nehmen von der, die man einst
-geliebt. Sie aus meinem Herzen zu reißen, heißt mein Herz selbst
-ausreißen. Du Teure, Du Gute, Du Schöne — ach, hätte man wenigstens den
-blinden Vorzug jener leidenschaftlichen Liebhaber, die alles vergessen
-können, die ganze Liebe, das ganze Gute und Schöne von einst, um nur das
-Böse zu sehen, das man heute von der Geliebten erleidet, und zu
-erkennen, wie tief sie gesunken ist! Aber ich kann nicht, ich kann nicht
-vergessen. Ich werde Dich immer so sehen, wie ich Dich liebte, als ich
-noch an Dich glaubte, als Du mein Leitstern warst und mein bester Freund
-— Du, mein Vaterland! Warum hast Du mich verlassen? Warum hast Du uns
-verraten? Wäre ich allein mit meinem Leiden, ich verhehlte vielleicht
-die traurige Erkenntnis unter meiner hingegangenen Zärtlichkeit. Aber
-ich sehe Deine Opfer, die Völker, die jungen gläubigen und begeisterten
-Männer (und erkenne unter ihnen den, der ich einst war)... Wie hast Du
-uns betrogen! Deine Stimme schien uns die der brüderlichen Liebe, Du
-riefst uns zu Dir, um uns zu vereinen. Es sollte keine Einsamen mehr
-geben, alle sollten wir Brüder sein! Jedem liehest Du die Kräfte von
-tausend anderen, Du ließest uns unseren Himmel, unsere Erde und das Werk
-unserer Hände lieben, und wir liebten uns alle, indem wir Dich
-liebten..... Wohin hast Du uns jetzt geführt? Waren Deine Absichten,
-indem Du uns vereintest, einzig die, uns zahlreicher zu machen für den
-Haß und den Mord? Ach, wir hatten ja genug an unserem Einzelhaß. Jeder
-hatte sein Bündel von schlechten Gedanken, aber zumindest wußten wir,
-wenn wir ihnen nachgaben, daß es schlechte waren. Du aber, Du
-Vergifterin der Seele, Du nennst sie heilige...
-
-Wofür diese Kämpfe? Für unsere Freiheit? Du machst ja Sklaven aus uns.
-Für unser Gewissen? Das schändest Du ja. Für unser Glück? Das plünderst
-Du doch. Für unser Wohlergehen? Unsere Erde ist zerstampft.... Wozu
-bedürfen wir neuer Eroberungen, da schon das Feld unserer Väter uns zu
-groß wurde: einzig nur für die Habgier von einigen Ausbeutern? Ist es
-denn die Aufgabe des Vaterlandes, diese Bäuche mit dem allgemeinen Elend
-zu füllen?
-
-Vaterland, das Du Dich den Reichen verkauft hast, den Händlern mit der
-Seele und den Körpern der Völker, Vaterland, das Du Mithelferin und
-Verbündete geworden bist und ihre Niederträchtigkeit mit Deiner
-heroischen Gebärde deckst — hüte Dich! Die Stunde ist gekommen, wo die
-Völker ihr Ungeziefer von sich abschütteln, ihre Götter und ihre Herren,
-die sie mißbrauchen. Mögen sie unter sich selbst die Schuldigen
-verfolgen. Ich gehe geradeaus zum Herrn, dessen Schatten sie alle
-bedeckt. Du aber, das Du unbewegt thronst, indes die Massen sich in
-Deinem Namen hinschlachten, Du, das sie alle anbeten, indem sie einander
-alle hassen, Du, das Du Dich ergötzst, die blutige Brunst der Völker zu
-entzünden, Du Weibwesen, beutegierige Gottheit, Du falsche Christin, die
-Du über dem Gemetzel schwebst mit kreuzgefalteten Flügeln und
-Habichtsklauen — wer wird Dich aus unserem Himmel herabreißen, wer gibt
-uns die Sonne und die Liebe unserer Brüder zurück?...
-
-Ich bin allein. Ich habe nichts als meine Stimme, die ein Hauch
-auslöschen kann, aber ehe sie hinschwindet, schreie ich auf:
-
-Du wirst fallen, Tyrann, Du wirst fallen! Die Menschheit will leben. Die
-Zeit wird kommen, wo der Mensch Dein lügnerisches Joch zerbrechen wird.
-Die Zeit kommt. Die Zeit ist da.“
-
- „D i e A n t w o r t d e r G e l i e b t e n“
-
-„Dein Wort, mein Sohn, ist wie der Stein, den ein Kind gegen den Himmel
-wirft. Es erreicht mich nicht, es fällt auf Dich selbst zurück. Die Du
-schmähst und die meinen Namen fälschlich angenommen, ist ein Götzenbild,
-das Du Dir selbst geformt hast. Nach Deinem Bilde ist es geschaffen,
-nicht nach dem meinen. Das wahre Vaterland ist das des Allvaters,
-gemeinsam alle umfangend, und es ist nicht seine Schuld, wenn Ihr es
-klein macht nach Eurem eigenen Wuchs.... Ihr Unglücklichen, Ihr
-beschmutzt alle Eure Götter, es gibt nicht eine große Idee, die Ihr
-nicht erniedrigt. Das Gute, das man Euch erweisen will, verwandelt Ihr
-in Gift, das Licht, mit dem man Euch überschüttet, dient, Euch zu
-verbrennen. Ich war zu Euch gekommen, um Eure Einsamkeit zu erwärmen,
-ich habe Eure fröstelnden Seelen zu Herden vereinigt, aus Eurer
-zerstreuten Schwäche ein Bündel geformt. Denn ich bin die brüderliche
-Liebe, die große Bindung. Und gerade meinen Namen, o Tolle, habt ihr
-gewählt als Vorwand, um Euch zu vernichten.
-
-Seit Jahrhunderten bemühe ich mich, Euch von den Ketten der Roheit zu
-befreien, Euch aus Eurer harten Selbstigkeit herauszutreiben. Keuchend
-schreitet Ihr vorwärts auf der Straße der Zeit. Die Provinzen und die
-Nationen sind die tausendjährigen Grenzen, die bisher als Rastpunkt
-Eurer Erschöpfung gesteckt waren. Eure Hinfälligkeit allein hat sie
-aufgerichtet. Um Euch weiter zu führen, muß ich warten, bis Ihr wieder
-Atem geholt habt.... Aber Ihr seid so schwach an Atem und am Herzen, daß
-Ihr aus Eurer Unfähigkeit eine Tugend macht. Ihr bewundert Eure Helden
-um der Grenze willen, vor denen sie erschöpft halt machen mußten, und
-nicht deshalb, weil sie sie als erste erreichten. Ihr aber, die Ihr
-mühelos dorthin gekommen seid, wo jene heldischen Vorläufer hingesunken
-sind, glaubt nun, selbst schon Helden zu sein.... Was habe ich mit Euren
-Schatten der Vergangenheit heute noch zu schaffen? Das Heldentum, dessen
-ich bedarf, ist nicht mehr das eines Bayard, einer Jeanne d’Arc, der
-Ritter und Märtyrer einer längst überwundenen Sache. Ich fordere Apostel
-der Zukunft, große Herzen, die sich für ein größeres Vaterland, für ein
-höheres Ideal aufopfern. Vorwärts! Überschreitet die Grenzen! Da Ihr
-aber noch Krücken braucht für Eure Schwäche, so rückt die Grenzen
-wenigstens weiter hinaus, an die Tür des Abendlandes, an das Ende
-Europas, bis Ihr Schritt um Schritt zum Ziel kommt, und die ganze
-Menschheit Hand in Hand rings den Erdball umschlingt.
-
-Du erbärmlicher Schreiber, der Du Schmähreden gegen mich richtest,
-steige in Dein Selbst hinab und prüfe Dich selbst! Ich habe Dir die
-Macht des Wortes gegeben, daß Du die Männer Deines Volkes führest, und
-Du hast sie benützt, um Dich selbst zu betrügen und sie zu verwirren. Du
-hast die, die Du retten solltest, tiefer in ihren Irrtum hinabgestoßen,
-Du hattest den traurigen Mut, Deiner Lüge jenen hinzuopfern, den Du
-liebtest — Deinen Sohn. Wirst Du wenigstens jetzt, Du arme Ruine,
-wagen, Dich den anderen als Schaubild hinzustellen und zu sagen: „Da,
-sehet mein Werk, ahmt es nicht nach!“ Geh hin, und möge Dein Unglück
-andere, die später kommen, vor gleichem Schicksal beschützen! Wage es zu
-sprechen, schreie ihnen zu: Völker, ihr seid toll, ihr tötet das
-Vaterland, indes ihr glaubt, es zu verteidigen. Das Vaterland seid ihr,
-ihr alle, eure Feinde sind eure Brüder! Umarmt euch, ihr Millionen
-Lebendiger.“
-
- §
-
-Das gleiche Schweigen schien auch diesen neuen Schrei hinabzuschlucken.
-
-Clerambault lebte außerhalb jener niederen Volkskreise, wo die warme
-Sympathie der schlichten und gesunden Herzen ihm gewiß nicht gefehlt
-hätte. So aber bemerkte er nichts von irgendeinem Echo seiner Ideen.
-
-Aber obwohl er sich allein sah, wußte er doch, daß er es nicht war. Zwei
-verschiedene Gefühle, die einen Gegensatz zu bilden schienen — seine
-Bescheidenheit und sein Glaube — vereinten sich, um ihm zu sagen: „Was
-du denkst, denken auch andere, deine Wahrheit ist zu groß, und du bist
-zu klein, als daß sie nur in dir allein existieren könnte. Das, was du
-mit deinen schlechten Augen hast wahrnehmen können, dieses Licht
-strahlt, so wie zu dir, auch in andere Augen. In diesem Augenblicke
-neigt sich der Große Bär zum Horizont, tausend Blicke schauen vielleicht
-zu ihm auf, du siehst nicht diese Blicke, aber das ferne Licht vereint
-sie mit dem deinen.“
-
-Die Einsamkeit des Geistes ist nur eine Illusion, eine bittere und
-schmerzhafte, aber eine, der keine tiefe Wirklichkeit entspricht. Selbst
-die Losgelöstesten von uns gehören doch alle zu einer sittlichen
-Familie, und diese Gemeinschaft der Geister ist nicht innerhalb eines
-Landes oder einer Zeit, sondern ihre Elemente sind verstreut durch die
-Völker und Jahrhunderte. Für einen konservativen Geist sind sie in der
-Vergangenheit, die Revolutionäre und die Verfolgten finden sie in der
-Zukunft. Zukunft und Vergangenheit sind nicht weniger wirklich als die
-augenblickliche Gegenwart, deren Mauer die zufriedenen Blicke der großen
-Menge einengt. Und selbst die Gegenwart ist nicht so, wie es die
-willkürlichen Abgrenzungen der Staaten, Nationen und Religionen glauben
-machen möchten. Die gegenwärtige Menschheit stellt einen Jahrmarkt von
-Gedanken dar. Ohne sie voneinander zu scheiden, hat man sie in Haufen
-aufgeschichtet, die rasch aufgerichtete Regale voneinander trennen: so
-sind oft Brüder von den Brüdern geschieden und unter Fremde geschichtet.
-Jeder Staat umschließt ganz verschiedene Rassen, die keineswegs geartet
-sind, gemeinsam zu denken und zu handeln, und jede der ideellen Familien
-oder Schwägerschaften, die man Vaterland nennt, umschließt Naturen, die
-in Wirklichkeit zu ganz anderen Familiengruppen der Gegenwart, der
-Vergangenheit oder der Zukunft gehören. Da die Staaten sie nicht
-aufsaugen können, so unterdrücken sie sie, und sie können sich der
-Vernichtung nur durch allerlei Schleichwege entziehen — entweder durch
-scheinbare Unterwerfung und innere Auflehnung, oder durch die Flucht,
-indem sie freiwillige Emigranten werden — „Heimatslose“. Wirft man
-ihnen vor, daß sie dem Vaterland unbotmäßig seien, so ist das ebenso
-unberechtigt, als wollte man den Irländern oder Polen vorwerfen, daß sie
-sich der Aufsaugung durch England oder Preußen zu entziehen suchen. Hier
-wie dort bleiben diese Menschen ihren wahren Vaterländern treu.
-
-Oh, ihr, die ihr vorgebt, dieser Krieg habe die Aufgabe, jedem Volke das
-Selbstbestimmungsrecht zu geben, wann werdet ihr dies Recht der über die
-Welt hin verstreuten Republik der freien Seelen geben?
-
-Diese Republik fühlte Clerambault in all seiner Einsamkeit als eine
-Wirklichkeit. Wie das Rom des Sartorius lebte sie in ihm. Und ganz in
-all jenen einander Unbekannten, für die sie das wahre Vaterland ist.
-
- §
-
-Plötzlich fiel die Mauer von Schweigen, die das Wort Clerambaults
-umschloß. Aber es war nicht die Stimme eines Bruders, die der seinen
-Antwort gab. Wo die Kraft der Sympathie zu schwach gewesen war, um die
-Schranken zu zerbrechen, hatten die Dummheit und der Haß blindlings eine
-Bresche geschlagen.
-
-Schon glaubte sich Clerambault nach einigen Wochen vergessen und dachte
-an eine neue Veröffentlichung, als eines Morgens Leo Camus mit Getöse
-bei ihm eintrat. Er krümmte sich vor Zorn. Mit tragisch erhobener Stirne
-reichte er Clerambault eine aufgefaltete Zeitung hin.
-
-„Lies!“
-
-Und während Clerambault las, sagte er, hinter ihm stehend:
-
-„Was hat diese Niedertracht zu bedeuten?“
-
-Clerambault sah ganz niedergeschmettert sich von einer Hand gemeuchelt,
-die er für eine Freundeshand hielt. Ein bekannter Schriftsteller, zu dem
-er in guter persönlicher Beziehung stand, ein Kollege Perrotins, ein
-ernster ehrenwerter Mensch, hatte, ohne zu zögern, die Rolle übernommen,
-ihn in der Öffentlichkeit zu denunzieren. Obwohl er Clerambault lange
-genug kannte, um an der Reinheit seiner Absichten nicht zweifeln zu
-können, stellte er ihn doch in einer entehrenden Weise vor die
-Öffentlichkeit. Als Historiker darin geübt, mit Texten umzugehen, hatte
-er aus der Broschüre Clerambaults einige verstümmelte Sätze herausgelöst
-und schwenkte sie empor wie einen Beweis von Verrat. Seine tugendhafte
-Erbitterung hatte sich nicht mit einem privaten Brief begnügt, gerade
-die lärmendste Tageszeitung, das niedrigste Erpresserblatt hatte sie
-sich ausgesucht, das eine Million Franzosen verachtet, während sie
-gleichzeitig seine Aufschneidereien mit offenen Mäulern einschluckt.
-
-„Das ist nicht möglich“, stammelte Clerambault, den diese unerwartete
-Gehässigkeit wehrlos überfiel.
-
-„Da ist kein Augenblick zu verlieren“, sagte Camus, „du mußt antworten.“
-
-„Antworten? Was denn?“
-
-„Zuerst natürlich diese niederträchtige Erfindung dementieren.“
-
-„Aber das ist doch keine Erfindung“, sagte Clerambault, der den Kopf
-gehoben hatte und Camus ansah.
-
-Nun war es an Camus, wie vom Donner gerührt zu sein.
-
-„Das ist keine...? Das ist keine...?“ stammelte er vor Überraschung.
-
-„Die Broschüre ist von mir“, sagte Clerambault, „aber ihr Sinn ist durch
-den Artikel entstellt...“
-
-Camus hatte das Ende des Satzes nicht abgewartet, er brüllte los:
-
-„Du hast so etwas geschrieben, du, du,...“
-
-Clerambault versuchte seinen Schwager zu beruhigen, bat ihn, doch nicht
-zu urteilen, ehe er alle Einzelheiten wüßte. Aber der andere behandelte
-ihn hartnäckig wie einen Wahnsinnigen und schrie:
-
-„Ich kümmere mich nicht um das alles. Hast du gegen den Krieg, gegen das
-Vaterland geschrieben oder nicht?“
-
-„Ich habe geschrieben, daß der Krieg ein Verbrechen ist, und daß alle
-Vaterländer sich damit beschmutzt haben.“
-
-Camus fuhr auf, ohne Clerambault die Möglichkeit zu geben, sich weiter
-zu erklären, machte eine Bewegung, als ob er ihn am Halse fassen wollte,
-hielt sich aber zurück und schleuderte ihm ins Gesicht, daß e r der
-Verbrecher sei, und daß er verdiente, sofort vor das Kriegsgericht zu
-kommen.
-
-Auf sein Geschrei hin begann das Mädchen an der Tür zu horchen, Madame
-Clerambault lief herbei, versuchte mit einem Strom von Worten über sein
-aufgebrachtes Wesen ihren Bruder zu beruhigen. Clerambault, ganz
-betäubt, bot vergebens Camus an, ihm die beschuldigte Broschüre
-vorzulesen, aber Camus verweigerte es mit einem Zornesausbruch und
-sagte, ihm genüge schon, das von diesem Dreck zu kennen, was die
-Zeitungen davon gebracht hatten. (Er nannte die Zeitungen Lügner,
-bestätigte aber ihre Lügen.) Schließlich trat er als Richter auf,
-forderte Clerambault auf, unverzüglich und in seiner Gegenwart eine
-briefliche öffentliche Abschwörung zu schreiben. Clerambault zuckte die
-Achseln und sagte, er sei niemandem Rechenschaft schuldig als seinem
-Gewissen, er sei frei.
-
-„Nein!“ schrie Camus.
-
-„Wie? Ich bin nicht frei, ich habe nicht das Recht zu sagen, was ich
-denke?“
-
-„Nein, du bist nicht frei! Nein, du hast nicht dieses Recht“, schrie
-Camus ganz außer sich. „Du hast Rücksichten zu nehmen auf das Vaterland
-und vor allem auf deine Familie. Sie hätte das Recht, dich einsperren zu
-lassen.“ Er verlangte, daß der Brief sofort geschrieben würde,
-augenblicklich! Clerambault wandte ihm den Rücken. Camus ging weg,
-schlug die Tür zu und schrie, er würde nie mehr den Fuß hierher setzen,
-zwischen ihnen sei alles zu Ende.
-
-Nachher mußte Clerambault noch die Fragen seiner in Tränen aufgelösten
-Frau über sich ergehen lassen, die, ohne zu wissen, was er getan hatte,
-seine Unvorsichtigkeit beklagte und ihn fragte, warum in aller Welt er
-denn nicht schweige. Hätten sie denn noch nicht Unglück genug, wozu
-dieses Bedürfnis zu reden und vor allem diese unsinnige Sucht, anders
-reden zu wollen als die anderen.
-
-Rosine kam von einer Besorgung zurück. Clerambault nahm sie zum Zeugen,
-erzählte ihr wirr die peinliche Szene, die sich eben abgespielt hatte,
-bat sie, sich an seinen Tisch zu setzen, damit er ihr den Artikel
-vorlesen könne. Ohne sich die Zeit zu nehmen, die Handschuhe auszuziehen
-oder den Hut abzulegen, setzte sich Rosine zu ihrem Vater, hörte still
-und klug zu. Als er geendigt hatte, stand sie auf, umarmte ihn und
-sagte:
-
-„Ja, das ist schön!... Aber, Papa, wozu hast du das getan?“
-
-Clerambault war ganz verstört.
-
-„Wie? Wie? Wozu ich das getan habe? Ist es denn nicht richtig?“
-
-„Ich weiß nicht, ja, ich glaube... es muß wohl richtig sein, da du es
-sagst.... Aber vielleicht war es nicht nötig, es zu schreiben.“
-
-„Nicht nötig? Wenn es richtig ist, so ist es auch nötig.“
-
-„Aber es macht ja einen solchen Lärm.“
-
-„Ist das ein Grund dagegen?“
-
-„Aber wozu die Leute aufreizen?“
-
-„Sieh, Kind, du glaubst doch auch, was ich geschrieben habe?“
-
-„Ja, ich glaube, Papa...“
-
-„Warte. Du glaubst... Du verabscheust den Krieg; wie ich, möchtest du
-ihn beendet sehen. Alles, was ich hier gesagt habe, habe ich dir schon
-früher gesagt, und du dachtest genau so wie ich....“
-
-„Ja, Papa.“
-
-„Also du findest es richtig?“
-
-„Ja, Papa.“
-
-Sie legte ihre Arme um seinen Hals.
-
-„Aber es ist doch nicht notwendig, alles niederzuschreiben.“
-
-Clerambault versuchte, traurig, ihr zu erklären, was ihm ganz klar
-schien. Rosine hörte zu und gab ruhig Antwort. Aber das einzig Klare
-war, daß sie nichts verstand. Um ein Ende zu machen, umarmte sie
-nochmals ihren Vater und sagte:
-
-„Ich habe dir meine Ansicht gesagt, aber du weißt das ja besser als ich.
-Es steht mir nicht zu, darüber zu entscheiden.“
-
-Sie lächelte ihrem Vater zu und kehrte in ihr Zimmer zurück, ohne zu
-ahnen, daß sie ihm seine beste Stütze genommen hatte.
-
- §
-
-Der beschimpfende Angriff blieb nicht vereinzelt. Sobald einmal die
-Schellen gelöst waren, hörten sie nicht mehr auf zu klingeln. Nur hätte
-sich in der allgemeinen Verwirrung ihr Lärm verloren ohne die erbitterte
-Anstrengung einer Stimme, die gegen Clerambault den ganzen Chor
-vielfältigster Bösartigkeit dirigierte.
-
-Es war die eines seiner ältesten Freunde, des Schriftstellers Octave
-Bertin. Sie waren zusammen im Lyzeum Henri _IV._ Schüler gewesen. Dort
-hatte der junge, feine, elegante, frühreife Pariser Bertin das linkische
-und enthusiastische Entgegenkommen dieses großen Burschen gern
-angenommen, der aus der Provinz kam, geistig ebenso unbeholfen wie
-körperlich (seine Arme und Beine schienen in den zu kurz gewordenen
-Kleidern kein Ende nehmen zu wollen), und der ein ganz seltsames Gemisch
-von Unschuld, naiver Unwissenheit, schlechtem Geschmack, von Pathos und
-überschäumender Kraft, von originellen Einfällen und packenden Bildern
-darstellte. Weder die Lächerlichkeiten noch der innere Reichtum
-Clerambaults waren den klugen und scharfen Augen Bertins entgangen, und
-er hatte ihn schließlich als intimen Freund aufgenommen, wobei die
-Bewunderung Clerambaults für ihn keinen geringen Einfluß auf diesen
-seinen Entschluß hatte. Durch mehrere Jahre hatten sie im geschwätzigen
-Überschwang ihre jugendlichen Gedanken geteilt. Beide träumten davon,
-Künstler zu werden, lasen einander ihre Versuche vor und bekämpften
-einander in endlosen Diskussionen. Bertin behielt immer das letzte Wort,
-wie er ja in allem die Überlegenheit behielt, die übrigens Clerambault
-ihm zu bestreiten niemals die Absicht hatte. Er hätte sie viel eher mit
-Faustschlägen jedem aufgezwungen, der sie geleugnet hätte. Mit offenem
-Munde bestaunte er die gedankliche und stilistische Virtuosität dieses
-blendenden jungen Mannes, der gleichsam im Spiel auf der Universität
-alle Erfolge davontrug, und den seine Lehrer von vornherein zu den
-höchsten Stellungen berufen sahen — womit sie natürlich meinten, zu
-allen offiziellen und akademischen. Auch Bertin verstand es so. Er hatte
-Eile emporzukommen und dachte, daß die Frucht des Ruhmes am besten
-schmecke, wenn man sie mit den Zähnen eines Zwanzigjährigen zerbeiße.
-Noch ehe er die Schule verlassen hatte, fand er eine Möglichkeit, in
-einer großen Pariser Revue eine Serie von Essays zu veröffentlichen, die
-sofort seinen Namen bekannt machten, und ohne nur Atem zu schöpfen,
-brachte er dann Schlag auf Schlag einen Roman in der Art d’Annunzios,
-eine Komödie im Stile Rostands, ein Buch über die Liebe, ein anderes
-über die Reform der Gesetzgebung, eine Enquete über den Modernismus,
-eine Monographie Sarah Bernhardts und schließlich jene „Dialoge der
-Lebendigen“ heraus, deren sarkastische und klug abgewogene
-Geschmeidigkeit ihm die Pariser Chronik in einem der ersten
-Boulevardblätter verschaffte. Nun einmal in den Journalismus
-eingetreten, blieb er darin. Er gehörte schon zu den Sternen des
-literarischen _Tout Paris_, als der Name Clerambaults noch unbekannt
-war. Clerambault dagegen nahm erst ganz langsam von seiner inneren Welt
-Besitz. Er hatte zuviel damit zu tun, gegen sich selbst zu kämpfen, als
-daß er viel Zeit auf die Eroberung der Öffentlichkeit hätte verwenden
-können. So kamen auch seine ersten Bücher, die er mit Not hatte zum
-Druck bringen können, kaum über einen Kreis von zehn Lesern hinaus. Man
-muß Bertin die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er zu diesen Zehn
-gehörte, daß er das Talent Clerambaults zu schätzen wußte und dies sogar
-gelegentlich aussprach. Und solange Clerambault noch unbekannt war,
-leistete er sich den Luxus, ihn zu verteidigen, allerdings nicht ohne
-dem Lob einige freundschaftliche Ratschläge von oben herab beizufügen,
-die Clerambault nicht immer befolgte, aber immer mit dem gleichen
-zärtlichen Respekt anhörte.
-
-Dann wurde Clerambault bekannt, schließlich sogar berühmt. Bertin war
-darüber sehr erstaunt, eigentlich aufrichtig zufrieden mit dem Erfolg
-seines Freundes und doch darüber ein wenig verärgert. Er ließ
-durchblicken, daß er ihn übertrieben fände, daß für ihn der beste
-Clerambault der unbekannte war — jener vor dem Ruhm. Er versuchte es
-manchmal, dies Clerambault zu erklären, der nicht nein und nicht ja
-sagte, denn er wußte nichts darüber und befaßte sich damit kaum, er
-hatte immer nur ein neues Werk im Kopfe. Die beiden alten Kameraden
-waren in ausgezeichneten Beziehungen verblieben, aber sie waren
-allmählich mehr voneinander abgerückt.
-
-Der Krieg hatte aus Bertin einen wilden Scharfmacher gemacht. Früher im
-Lyzeum hatte er den provinzlerischen Clerambault immer erschreckt durch
-seine freche Respektlosigkeit gegen alle politischen oder
-gesellschaftlichen Werte, gegen Vaterland, Moral und Religion, und hatte
-auch dann in seinen literarischen Werken diesen Anarchismus wohlgefällig
-zur Schau getragen, allerdings in einer skeptischen, mondänen und matten
-Form, mit der er ja dem Geschmacke seines reichen Leserkreises am besten
-entsprach. Mit diesem Leserkreis und dessen Lieferanten, den Kollegen
-von der Boulevardpresse und den Boulevardtheatern, diesen Enkelchen
-eines Parny und des jüngeren Crébillon, richtete er sich plötzlich als
-Brutus auf, der bereit ist, seine Söhne zu opfern. Er hatte vielleicht
-dafür die Entschuldigung, daß er keine besaß, aber das tat ihm
-möglicherweise leid.
-
-Clerambault hatte ihm nichts vorzuwerfen und dachte auch nicht daran.
-Aber noch weniger dachte er daran, daß sein alter Kamerad, der
-Amoralist, ihm gegenüber den Anwalt des beleidigten Vaterlandes spielen
-würde; war er aber wirklich nur der des Vaterlandes? Die zornerbitterte
-Schmähschrift, die Bertin Clerambault entgegenschleuderte, schien ihm
-irgendwie einen persönlichen Haß zu enthüllen, den Clerambault sich
-nicht erklären konnte. Bei der allgemeinen Verwirrung der Geister wäre
-es verständlich gewesen, daß Bertin von den Gedanken Clerambaults empört
-gewesen und sich dann offen unter vier Augen mit ihm auseinandergesetzt
-hätte. Aber ohne ihn vorher zu verständigen, begann er mit einer
-öffentlichen Abschlachtung. Auf der ersten Seite seines Blattes fiel er
-ihn mit einer unerhörten Heftigkeit an und beschimpfte nicht nur seine
-Ideen, sondern auch seinen Charakter. Die tragische Gewissenskrise
-Clerambaults deutete er als einen Anfall literarischer Großmannssucht,
-die durch den übermäßigen Erfolg seiner Werke verursacht sei, und es
-machte den Eindruck, als hätte er eigens die Ausdrücke gesucht, die für
-Clerambaults Selbstgefühl am verletzendsten sein mußten. Der Aufsatz
-endete in einem Ton beleidigender Überhebung und forderte die sofortige
-Zurücknahme des Irrtums.
-
-Die Vehemenz des Artikels, der bekannte Name des Chronisten machten
-sofort aus dem „Fall Clerambault“ ein Pariser Ereignis. Er beschäftigte
-die Presse beinahe eine ganze Woche, was für jene Spatzenhirne viel
-bedeutet. Fast niemand nahm sich die Mühe, die Texte Clerambaults selbst
-zu lesen: das war ja nicht nötig, Bertin hatte sie ja gelesen. Die
-Kollegenschaft hat nicht die Gewohnheit, eine überflüssige Arbeit noch
-einmal zu machen, es handelte sich auch nicht darum, zu lesen, es
-handelte sich darum, jemand zu richten. Eine seltsame Art von
-Burgfrieden kam auf Kosten Clerambaults zustande. Klerikale, Jakobiner
-waren darin einig, ihn tot zu machen. Von einem Tag zum andern war ohne
-Übergang der gestern bewunderte Mann in den Schlamm gezogen, der
-nationale Dichter ein Feind der Gemeinschaft geworden. Alle die
-Myrmidonen der Zeitung beteiligten sich an der heroischen Beschimpfung
-und die meisten brachten gleichzeitig mit ihrer ursprünglichen bösen
-Absicht auch eine ganz unwahrscheinliche Unbildung zutage. Denn nur
-wenige von ihnen kannten die Werke Clerambaults, kaum wußten sie seinen
-Namen und den Titel eines seiner Bücher, aber das hinderte sie
-ebensowenig, ihn heute herunterzureißen, wie es sie gestern gestört
-hatte, ihn in den Himmel zu heben, als er noch in Mode war. Jetzt fanden
-sie in allem, was er geschrieben hatte, Spuren von „Bochismus“. Ihre
-Zitate waren übrigens regelmäßig ungenau, einer von ihnen bedachte sogar
-Clerambault im Feuer seiner Anklage mit der Autorschaft des Werkes eines
-andern, der dann, bleich vor Furcht, sofort mit Entrüstungsprotesten
-jede Solidarität mit dem gefährlichen Kollegen öffentlich ablehnte.
-Clerambaults Freunde, beunruhigt über ihre Intimität mit ihm, warteten
-nicht darauf, daß man sie ihnen vorwarf. Sie trafen ihre Vorkehrungen
-und richteten an ihn „offene Briefe“, die die Zeitungen an bester Stelle
-veröffentlichten. Die einen, wie Bertin, fügten ihrem öffentlichen Tadel
-eine pathetische Beschwörung bei, _mea culpa_ zu machen, andere wandten
-sich, selbst ohne diesen milden Vorbehalt, in bitteren und beleidigenden
-Worten von ihm ab. Diese Fülle von Gehässigkeit machte Clerambault ganz
-wirr. Sie konnte doch nicht durch seine Aufsätze allein verursacht sein,
-sie mußte doch längst schon in den Herzen dieser Menschen gebrütet
-haben. Mein Gott, soviel verborgener Haß.... Was hatte er ihnen denn
-getan?... Der erfolgreiche Künstler ahnt nicht, daß mehr als einer unter
-denen, die ihm mit einem freundlichen Lächeln folgen, unter diesem
-Lächeln die Zähne verbirgt, die nur auf die Stunde warten, da sie
-zuschnappen können.
-
-Clerambault bemühte sich, vor seiner Frau die Beschimpfungen der
-Zeitungen verborgen zu halten. Wie ein Schulbub, der seine schlechten
-Noten verschwinden läßt, lauerte er auf den Postboten, um die bösartigen
-Zeitungen rechtzeitig beiseite zu schaffen. Aber ihr Gift drang
-schließlich bis in die Luft, die sie atmeten. Frau Clerambault und
-Rosine bekamen in der Gesellschaft verletzende Anspielungen, kleine
-Beleidigungen und Beschimpfungen zu hören. Mit dem eingebornen Instinkt
-für Gerechtigkeit, der für das menschliche Wesen und besonders für die
-Frau so charakteristisch ist, machte man sie verantwortlich für die
-Ideen Clerambaults, die sie kaum kannten und nicht guthießen.
-(Diejenigen, die sie beschuldigten, kannten sie allerdings ebensowenig.)
-Die Höflichsten unter ihnen übten die Technik des Verschweigens, sie
-vermieden es sichtlich, nach Clerambault zu fragen oder seinen Namen
-auch nur auszusprechen.... „Man spricht nicht vom Strick des Henkers im
-Hause des Gehenkten.“ Dieses berechnete Schweigen wirkte dann noch
-beleidigender als ein Tadel: es war, als ob Clerambault eine
-betrügerische Schwindelei oder ein Sittlichkeitsverbrechen begangen
-hätte. Frau Clerambault kam erbittert heim. Rosine tat so, als kümmerte
-sie sich nicht darum, aber Clerambault merkte, daß sie daran litt. Eine
-Freundin, die ihnen auf der Straße begegnete, ging auf das andere
-Trottoir hinüber und wandte den Kopf weg, um nicht grüßen zu müssen.
-Rosine wurde aus einem Wohltätigkeitskomitee ausgeschlossen, wo sie seit
-mehreren Jahren aufopferungsvolle Arbeit tat.
-
-In dieser allgemeinen patriotischen Mißbilligung zeichneten sich vor
-allem die Frauen durch ihre Erbitterung aus. Nirgends fand der Ruf
-Clerambaults zur Annäherung und Versöhnung wütendere Gegner. Und so war
-es überall. Die Tyrannei der öffentlichen Meinung, diese vom modernen
-Staat geschaffene Unterdrückungsmaschine, die noch despotischer ist als
-er selbst, hat während des Krieges keinen grausameren Handlanger
-gefunden als gewisse Frauen. Bertrand Russel erzählte den Fall eines
-armen Kerls, eines Straßenbahnschaffners, der, verheiratet,
-Familienvater und vom Heere zurückgestellt, sich aus Verzweiflung über
-die Beschimpfungen, mit denen die Frauen von Middlesex ihn verfolgten,
-das Leben nahm. In allen Ländern sind tausende Unglückliche wie er von
-diesen Bacchantinnen des Krieges gehetzt, verrückt gemacht und an die
-Schlachtbank geliefert worden.... Seien wir darüber nicht überrascht. Um
-diese fanatische Wildheit nicht erwartet zu haben, mußte man zu jenen
-gehören, die so wie Clerambault bisher im Einklange mit der öffentlichen
-Meinung und in der Idealistik des allgemeinen Ruhezustandes gelebt
-haben. Trotz aller Anstrengung der Frauen, immer dem lügnerischen Ideal
-zu gleichen, das sich der Mann zu seiner Zufriedenheit und seiner
-Beruhigung ersonnen hat, ist doch die Frau, mag sie selbst so
-bleichsüchtig, verfeinert und veredelt sein wie die von heute, doch noch
-mehr dem Urmenschen verwandt als der Mann. Sie lebt näher der Quelle der
-Instinkte und ist stärker begabt mit jenen Kräften, die weder moralisch
-noch unmoralisch, sondern ganz einfach animalisch sind. Wenn auch die
-Liebe ihre wesentliche Funktion ist, so ist es doch keineswegs die durch
-die Vernunft sublimierte Liebe, sondern die blinde und überschwengliche
-Liebe im Urzustand, wo sich Egoismus und Opfertum vermengen, beide
-gleich unbewußt und beide im Dienste der dunkeln Ziele der Rasse. Alle
-die zarten und blütenhaften Verzierungen, unter denen dieses Paar jene
-Gewalten zu verbergen sucht, vor denen es selbst erschrickt, sind
-gleichsam ein Geflecht von Schlingpflanzen über einem Sturzbach. Ihr
-Zweck ist, über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen. Würden die
-schwächlichen Seelen der Menschen geradeaus den ungeheuren Kräften, von
-denen sie fortgerissen werden, ins Auge schauen, so könnten sie das
-Leben nicht ertragen. Darum bemüht sich ihre erfindungsreiche Feigheit,
-sich geistig ihrer Schwäche anzupassen. Sie lügen in ihrer Liebe, sie
-lügen im Hasse, lügen in Bezug auf die Frau, lügen in Bezug auf das
-Vaterland und seine Götter. Aus Angst, die sichtbar werdende
-Wirklichkeit könnte sie aus dem Gleichgewicht bringen und erschüttern,
-ersetzen sie sich diese Wirklichkeit durch die matten Farben ihres
-Idealismus.
-
-Der Krieg nun hatte diesen schwächlichen Schutzwall hinstürzen lassen.
-Clerambault sah, wie das Kleid der katzenhaften Höflichkeit, mit der
-sich die Zivilisation umhüllte, zu Boden fiel. Nun wurde das grausame
-Tier sichtbar.
-
-Die Nachsichtigsten unter den früheren Freunden Clerambaults waren jene,
-die zur politischen Welt gehörten, die Abgeordneten, die Minister von
-gestern oder von morgen. Gewohnt, die Menschenherde an der Nase
-herumzuführen, wußten jene, wie wenig sie wert ist. Ihnen schien die
-kühne Äußerung Clerambaults recht naiv. Sie selbst dachten noch zehnmal
-Böseres, fanden es aber töricht, diese Erkenntnis auszusprechen,
-gefährlich, sie niederzuschreiben, und am allergefährlichsten, auf sie
-zu antworten. Denn was man offen angreift, macht man dadurch bekannt,
-und was man verurteilt, dem mißt man doch eine Bedeutung bei. Nach ihrer
-Meinung wäre es daher am besten gewesen, klug zu den unbequemen
-Schriften zu schweigen, die ja die verschlafene und verdöste öffentliche
-Meinung von selbst gar nie bemerkt hätte.
-
-Diese Art Technik war ja während des Krieges in Deutschland von oben aus
-anbefohlen und befolgt worden. Dort erstickten die öffentlichen
-Machthaber die unbotmäßigen Schriftsteller, wenn sie sie nicht ohne Lärm
-erdrosseln konnten, unter Blumengewinden. Aber der politische Geist der
-französischen Demokratie ist offener und gleichzeitig beschränkter. Sie
-verstehen sich dort nicht auf Schweigen. Statt ihren Haß zu verstecken,
-reißen sie ihn auf die Tribüne, um ihn dort in die Welt zu donnern. Die
-französische Freiheit ist so, wie Rude sie dargestellt hat: brüllend,
-mit aufgerissenem Mund. Wer nicht ganz so denkt wie sie, ist allsogleich
-ein Verräter; es findet sich gleich irgendein kleiner Journalist, der
-erzählt, um wie viel Geld diese freie Stimme gekauft sei, und zwanzig
-Besessene hetzen gegen sie die Tollwut der Maulaffen. Ist dann einmal
-der Tanz im Gang, so kann man nichts tun, als warten, bis sich die
-Tollheit durch ihr Übermaß erschöpft hat; solange: rette sich, wer kann!
-Die Vorsichtigen bringen sich in Sicherheit oder heulen mit den Wölfen.
-
-Der Leiter jener Tageszeitung, die seit einigen Jahren sich eine Ehre
-daraus gemacht hatte, die Gedichte Clerambaults zu veröffentlichen, ließ
-ihm vertraulich sagen, er fände diesen ganzen Lärm lächerlich, und die
-ganze Sache sei kein Hundshaar wert, aber zu seinem großen Bedauern sehe
-er sich genötigt, um seiner Abonnenten willen ihm eins zu versetzen...
-natürlich in aller Höflichkeit... Selbverständlich in aller Form.... Und
-nichts für ungut, nicht wahr? Und wirklich, der Angriff war gar nicht
-gewalttätig, er beschränkte sich bloß darauf, Clerambault lächerlich zu
-machen. Und selbst Perrotin — wie kläglich ist doch das
-Menschengeschlecht! — ironisierte ihn in einem Interview auf
-geistreichste Weise, ließ die Leute auf seine Kosten lachen, gedachte
-aber dabei heimlich sein Freund zu bleiben.
-
-In seinem eigenen Hause fand Clerambault keine Unterstützung mehr. Seine
-alte Gefährtin, die seit dreißig Jahren nur durch ihn dachte und seine
-Gedanken wiederholte, ehe sie sie selber verstand, war erschrocken und
-zornig über seine neuen Worte, warf ihm bitter vor, diesen Skandal
-heraufbeschworen, seinen Namen und den der ganzen Familie ins Unrecht
-gesetzt und das Andenken ihres toten Kindes, die Idee der heiligen Rache
-und des Vaterlandes geschädigt zu haben. Rosine ihrerseits liebte ihn
-noch immer, aber sie verstand ihn nicht mehr. Eine Frau kann selten die
-Forderungen des Geistes anerkennen, sie kennt nur die Forderungen des
-Herzens. Ihr hatte es genügt, daß ihr Vater sich nicht mit Worten des
-Hasses verband, daß er mitleidsvoll und gut blieb, doch wünschte sie
-keineswegs, daß er diese Gefühle in Theorien verwandelte, und noch
-weniger, daß er sie öffentlich aussprach. Sie hatte den zugleich
-zärtlichen und praktischen gesunden Menschenverstand einer, die die
-Forderungen des Herzens gewahrt wissen will und sich mit dem Übrigen
-abfindet. Aber das unbeugsame logische Bedürfnis, das den Mann treibt,
-die äußersten Konsequenzen seines Glaubens zu ziehen, war ihr
-unverständlich. Soweit konnte sie nicht mit. Ihre Stunde war vorüber,
-die Stunde, wo sie unbewußt die Aufgabe übernommen und erfüllt hatte,
-mütterlich ihren schwachen, unsicheren und zerbrochenen Vater
-aufzurichten und ihn unter ihrem Flügel zu bergen, sein Gewissen zu
-retten und ihm die Fackel wieder in die Hand zu drücken, die er fallen
-gelassen hatte. Jetzt, da er sie wieder in Händen trug, war ihre Aufgabe
-erfüllt. Sie war wieder das liebende, unscheinbare „kleine Mädchen“
-geworden, das die großen Geschehnisse der Zeit mit ein wenig
-gleichgültigen Blicken sieht, und nur im Grunde ihrer Seele blieb etwas
-zurück von dem feurigen Licht der überirdischen Stunde, die sie gelebt
-hatte, die sie fromm bewahrte und deren Sinn sie nicht mehr verstand.
-
- §
-
-Ungefähr um dieselbe Zeit empfing Clerambault den Besuch eines jungen
-Urlaubers aus einer befreundeten Familie. Daniel Favre, Sohn eines
-Ingenieurs und selbst Ingenieur, dessen lebendige Intelligenz aber nicht
-durch seinen Beruf beschränkt wurde, hatte seit langem eine Leidenschaft
-für Clerambault gefaßt: der mächtige Aufschwung der modernen
-Wissenschaft hatte sein Gebiet seltsam jenem der Dichtung angenähert,
-war doch die Technik gewissermaßen selbst das größte der
-zeitgenössischen Gedichte geworden. Daniel war ein enthusiastischer
-Leser Clerambaults. Sie hatten innige Briefe gewechselt und der junge
-Mann, dessen Familie mit der Clerambaults in Beziehungen stand, kam oft
-zu ihnen, und vielleicht auch nicht bloß, um dem Dichter zu begegnen.
-Die Besuche dieses liebenswerten, etwa dreißigjährigen Menschen, eines
-großen, gutgewachsenen Burschen mit festen Zügen, einem scheuen Lächeln,
-mit hellen Augen im sonnverbrannten Gesicht, wurden immer freudig
-aufgenommen, und Clerambault war nicht der einzige, den sie erfreuten.
-Für Daniel wäre es leicht gewesen, sich einen Hinterlandsdienst in
-irgendeiner Metallfabrik zu sichern, aber er hatte selbst gefordert,
-seinen gefährlichen Posten an der Front nicht verlassen zu müssen, wo er
-sich rasch den Leutnantsgrad erworben hatte. Der Urlaub bot ihm
-Gelegenheit, Clerambault zu besuchen.
-
-Clerambault war allein, seine Frau und seine Tochter waren ausgegangen.
-Freudig empfing er den jungen Freund. Aber Daniel schien befangen, und
-nachdem er längere Zeit auf die Fragen Clerambaults recht und schlecht
-geantwortet hatte, schnitt er geradewegs die Sache an, die ihm am Herzen
-lag. Er sagte, er hätte an der Front von den Artikeln Clerambaults
-gehört, und dies hätte ihn verwirrt. Man sagte... oder man behauptete...
-schließlich, man sei ja so streng... er wisse ja, daß es ungerecht
-sei... aber er sei gekommen — und dabei faßte er die Hand Clerambaults
-in einer Art zärtlicher Scheu — um ihn zu bitten, sich nicht von jenen
-zu trennen, die ihn liebten. Er erinnerte ihn an die Ehrfurcht, die der
-Dichter, der einst die französische Erde und die innere Größe der Rasse
-gefeiert hatte, allgemein einflöße.... „Bleiben Sie, bleiben Sie mit uns
-in dieser Stunde der Prüfungen....“
-
-„Nie bin ich mehr mit euch gewesen“, antwortete Clerambault. Und er
-fragte ihn:
-
-„Sie sagen mir, lieber Freund, daß man das, was ich geschrieben hätte,
-verunglimpfe. Was denken Sie selbst davon?“
-
-„Ich habe es nicht gelesen“, sagte Daniel. „Ich wollte es nicht lesen.
-Ich hatte Furcht, in meiner Zuneigung für Sie gekränkt oder an der
-Erfüllung meiner Pflicht gehindert zu sein.“
-
-„Dann haben Sie wenig Vertrauen zu sich, wenn Sie fürchten, durch das
-Lesen von ein paar Zeilen in Ihrer Überzeugung erschüttert zu werden.“
-
-„Ich bin meiner Überzeugung sicher“, antwortete Daniel ein wenig
-gereizt, „aber es gibt gewisse Dinge, für die es besser ist, wenn man
-sie nicht in die Diskussion zieht.“
-
-„Seltsam“, sagte Clerambault, „das ist ein Wort, das ich mir nicht von
-einem Mann der Wissenschaft erwartete. Was hat die Wahrheit dabei zu
-verlieren, wenn man sie untersucht?“
-
-„Die Wahrheit nichts, aber die Liebe. Die Liebe zum Vaterland.“
-
-„Mein lieber Daniel, Sie sind viel kühner als ich. Ich stelle die
-Wahrheit nicht in einen Gegensatz zur Vaterlandsliebe. Ich versuche nur,
-sie in Einklang zu bringen.“
-
-Daniel schnitt kurz ab. „Man diskutiert nicht über das Vaterland.“
-
-„Es ist also“, sagte Clerambault, „ein Glaubensartikel?“
-
-„Ich glaube an keine Religion“, protestierte Daniel, „an keine, und
-gerade darum denke ich so. Was bliebe denn noch auf Erden, wenn es nicht
-das Vaterland gäbe?“
-
-„Nun, ich denke, es gibt auf der Erde viele gute und schöne Dinge, das
-Vaterland ist bloß eines davon. Ich liebe es auch. Und ich stelle auch
-nicht die Liebe zum Vaterland in Frage, sondern nur die Art, es zu
-lieben.“
-
-„Es gibt nur eine“, sagte Daniel.
-
-„Und die wäre?“
-
-„Ihm gehorchen.“
-
-„Also die Liebe mit geschlossenen Augen, so wie im antiken Symbol. Ich
-meinerseits möchte sie ihr lieber öffnen.“
-
-„Nein, lassen Sie uns, wie wir sind! Unsere Aufgabe ist schon ohnehin
-hart genug, machen Sie sie uns nicht noch grausamer.“ Und mit einigen
-nüchternen, abgehackten, von Erregung bebenden Sätzen stellte Daniel die
-furchtbaren Bilder jener Wochen hin, die er eben im Schützengraben
-verlebt hatte, den Ekel und den Abscheu vor all dem, was er gelitten
-hatte, leiden gesehen und leiden gemacht hatte.
-
-„Aber mein lieber Freund“, sagte Clerambault, „wenn Sie diese
-erbärmliche Schande selber sehen, warum sollen wir sie denn nicht
-verhindern?“
-
-„Weil es unmöglich ist.“
-
-„Um das zu wissen, käme es erst auf einen Versuch an.“
-
-„Das Gesetz der Natur ist der Kampf der Wesen gegeneinander. Zerstören
-oder zerstört werden. So und nur so ist es.“
-
-„Und wird sich das nie ändern?“
-
-„Nein“, sagte Daniel mit einem Ton hartnäckigen Schmerzes, „es ist ein
-Gesetz.“
-
-Es gibt Männer der Wissenschaft, denen die Wissenschaft so sehr die
-Wirklichkeit, die sie umschließt, verbirgt, daß sie sie unter dem Netz
-nicht mehr sehen; sie hat sich ihnen entzogen. Sie umfassen die ganze
-von der Wissenschaft umspannte Zone, halten es aber für unmöglich und
-sogar lächerlich, dieses Reich über die einmal von der Vernunft gezogene
-Grenze hinaus zu erweitern. Sie glauben bloß an einen Fortschritt, der
-an die Innenseite der Umfriedung gekettet ist. Clerambault kannte nur zu
-gut das spöttische Lächeln, mit dem die großen Gelehrten der offiziellen
-Schulen ohne jede nähere Prüfung die Eingebungen der Erfinder ablehnen.
-Eine gewisse Art der Wissenschaft ist mit Folgsamkeit vollkommen
-vereinbar. Wenigstens verband Daniel mit der seinen keine Ironie,
-vielmehr den Ausdruck einer stoischen und unbeirrbaren Traurigkeit. Es
-fehlte ihm nicht an geistiger Kühnheit, aber die hatte er einzig in den
-abstrakten Dingen. Dem Leben selbst gegenübergestellt, bot er eine
-Mischung — oder besser eine Aufeinanderfolge — von Ängstlichkeit und
-Starrsinn dar, von zögernder Bescheidenheit und trotziger Überzeugung.
-Wie die meisten Menschen war er ein zusammengesetztes, zwiespältiges
-Wesen, aus einzelnen Teilen und Stücken bestehend, nur daß bei einem
-Intellektuellen und besonders bei einem Mann der Wissenschaft die
-einzelnen Stücke nicht ganz ineinanderpassen und daß die Fugen sichtbar
-werden.
-
-„Aber“, sagte Clerambault, die Betrachtungen, die in der Stille durch
-seinen Sinn gingen, laut zu Ende führend, „selbst die Voraussetzungen
-der Wissenschaft sind doch in Umformung begriffen. Seit zwanzig Jahren
-durchlaufen die Grundvorstellungen der Chemie und der Physik eine Krise
-der Erneuerung, die sie gleichzeitig erschüttert und doch fruchtbar
-macht. Und einzig die sogenannten Gesetze, die die menschliche
-Gesellschaft oder, besser gesagt, das chronische Räubertum der Nationen
-regieren, sollten unveränderlich sein? Habt ihr in eurem Gedankenkreis
-keinen Raum für die Hoffnung einer höheren Zukunft?“
-
-„Wir könnten nicht kämpfen“, sagte Daniel, „hätten wir nicht die
-Hoffnung, eine gerechtere und menschlichere Weltordnung zu begründen.
-Viele meiner Gefährten sind der Überzeugung, dieser Krieg mache allen
-Kriegen ein Ende. Ich teile diese Hoffnung nicht, ich verlange nicht so
-viel. Ich weiß nur das eine, daß unser Frankreich in Gefahr ist, und daß
-seine Niederlage die der ganzen Menschheit wäre.“
-
-„Die Niederlage jedes Volkes ist eine der ganzen Menschheit, denn alle
-sind für sie notwendig. Die Vereinigung aller Völker wäre der einzige
-wahrhafte Sieg. Jeder andere richtet ebenso die Sieger wie die Besiegten
-zugrunde. Jeder Tag, der diesen Krieg verlängert, läßt das kostbare Blut
-Frankreichs fließen, und es ist in Gefahr, für immer erschöpft zu
-werden.“
-
-Daniel gebot diesen Worten mit einer erregten und schmerzlichen Geste
-Einhalt. Ja, das wußte er.... Das wußte er.... Wer wußte es besser als
-er, daß Frankreich hinstarb, Tag für Tag, an seiner heroischen
-Anstrengung, daß die Blüte seiner Jugend, seiner Kraft, seiner
-Intelligenz, das lebendige Mark der Rasse in Sturzbächen hinströmte und
-zugleich der Reichtum, die Arbeit und der Kredit des französischen
-Volkes.... Frankreich, blutend an allen Gliedern, ging den Weg, den
-Spanien vier Jahrhunderte zuvor gegangen war und der zu den Einsamkeiten
-des Eskurial führt.... Aber er wollte nicht, daß man ihm von den
-Möglichkeiten eines Friedens, der diese Qual beendigte, spräche, ehe der
-Feind gänzlich zu Boden geschmettert. Man dürfe nicht auf die Angebote,
-die Deutschland damals machte, antworten, nicht einmal, um sie in
-Erwägung zu ziehen. Man dürfe nicht einmal sprechen darüber. Und wie die
-Politiker, die Generale, die Journalisten und die Millionen armer
-Geschöpfe, die tollwütig die Lektion, die man ihnen eingelernt hatte,
-wiederholten, schrie auch Daniel: „Bis zum letzten Mann!“
-
-Clerambault sah mit zärtlichem Mitleid diesen wackeren, scheuen und
-heldenmütigen Burschen an, der von dem Gedanken erschreckt wurde, das
-Dogma in Frage zu ziehen, dessen Opfer er war. Hatte dieser
-wissenschaftliche Geist gar keinen Widerstand gegen den Widersinn eines
-solchen blutigen Spieles, dessen Einsatz der Tod ebenso für Frankreich
-wie für Deutschland — und vielleicht für Frankreich mehr als für
-Deutschland — war?
-
-Ja, er wehrte sich dagegen, aber er raffte sich trotzig zusammen, um es
-sich nicht einzugestehen. Von neuem beschwor Daniel Clerambault. „Ja,
-diese Gedanken mögen vielleicht wahr und gerecht sein, aber nur nicht
-jetzt, jetzt sind sie nicht an der Zeit... in zwanzig oder fünfzig
-Jahren!... Lassen Sie uns nur zuerst unsere Aufgabe erfüllen, zu siegen
-und die Freiheit der Welt, die Brüderlichkeit der Menschen durch den
-Sieg Frankreichs begründen.“
-
-Ach, der arme Daniel! Sah er denn nicht selbst im günstigsten Falle die
-Überhebung voraus, die verhängnisvoll diesen Sieg beschmutzen würde, und
-daß es dann am Besiegten sein würde, den krankhaften Wunsch und Willen
-zur Revanche und zum gerechten Sieg für sich zu erneuern? Jede Nation
-will das Ende aller Kriege durch ihren eigenen Sieg. Und von Sieg zu
-Sieg stürzt die Menschheit tiefer in ihre Niederlage hinab.
-
-Daniel erhob sich, um Abschied zu nehmen. Er drückte Clerambaults Hand
-und erinnerte ihn mit Ergriffenheit an seine Gedichte von einst, in
-denen er das heroische Wort Beethovens wiederholte, um das schöpferische
-Leiden zu feiern, das Wort: „Durch Leiden Freude.“
-
-„Ach! ach! Wie ihr uns mißversteht!... Wir besingen das Leiden, um uns
-davon zu befreien, aber ihr begeistert euch dafür. So wird unser Hymnus
-der Befreiung für die anderen Menschen ein Sang der Knechtung.“
-
-Clerambault gab keine Antwort. Er liebte diesen jungen Menschen; diese
-armen Kerle, die sich aufopfern, wissen wohl, daß sie nichts im Kriege
-zu gewinnen haben. Aber je mehr Opfer man von ihnen verlangt, desto
-gläubiger werden sie. Mögen sie dafür gesegnet sein!... Aber wenn sie
-nur nicht mit sich selbst auch die ganze Menschheit hinopfern wollten!
-
- §
-
-Clerambault hatte Daniel gerade bis zur Wohnungstür geleitet, als Rosine
-zurückkam. Als sie den Besucher sah, hatte sie eine Bewegung entzückter
-Überraschung. Auch das Antlitz Daniels erhellte sich, und Clerambault
-entging nicht die freudige Belebtheit der beiden jungen Leute. Rosine
-forderte Daniel auf, noch einmal zurückzukommen und die Unterhaltung
-fortzusetzen, Daniel war schon im Begriff es zu tun, zögerte dann,
-lehnte ab, sich noch einmal niederzusetzen, und schützte dann mit einem
-schmerzlich gespannten Gesichtsausdruck irgendeinen vagen Vorwand vor,
-der ihn zwinge fortzugehen. Clerambault, der im Herzen seiner Tochter
-las, bestand freundschaftlich darauf, daß er wenigstens noch einmal vor
-seinem Urlaubsende wiederkäme. Daniel, in die Enge getrieben, sagte
-zuerst nein, dann ja, ohne sich fest zu verpflichten, um dann
-schließlich, dem Drängen Clerambaults nachgebend, einen bestimmten Tag
-festzusetzen. Dann nahm er in einer etwas kühlen Weise Abschied.
-Clerambault kehrte wieder in sein Arbeitszimmer zurück und setzte sich
-nieder. Rosine blieb unbeweglich und gedankenverloren mit schmerzlichem
-Ausdruck stehen. Clerambault lächelte ihr zu. Sie kam zu ihm und umarmte
-ihn.
-
-Der festgesetzte Tag ging vorüber, Daniel kam nicht zu ihnen herauf. Man
-wartete noch den nächsten Tag und den übernächsten, aber er war schon an
-die Front zurückgegangen. Auf Betreiben Clerambaults machte kurz darauf
-seine Frau mit Rosine den Eltern Daniels einen Besuch. Sie wurden von
-ihnen mit eisiger und beinahe verletzender Kälte empfangen. Frau
-Clerambault erklärte, als sie zurückkam, sie wolle nie mehr in ihrem
-Leben diese unerzogenen Leute sehen. Rosine hatte Mühe, ihre Tränen zu
-verbergen.
-
-In der Woche darauf kam ein Brief von Daniel an Clerambault. Ein wenig
-beschämt über sein Verhalten und das seiner Eltern, versuchte er
-weniger, es zu entschuldigen als zu erklären. Er machte eine zarte
-Anspielung, er hätte Hoffnung gehabt, einmal Clerambault näher zu stehen
-als bloß durch die Bande der Bewunderung, des Respektes und der
-Freundschaft. Aber, fuhr er fort, Clerambault hätte seine Zukunftsträume
-durch seine bedauerliche Rolle zunichte gemacht, die er glaubte in der
-Tragödie auf sich nehmen zu müssen, bei der es um das Leben des
-Vaterlandes ginge, und durch den Widerhall, den seine Stimme gefunden
-hätte. Seine Worte, die zweifellos falsch verstanden aber sichtlich
-unklug gewesen waren, hätten einen frevelhaften Charakter enthüllt, der
-die öffentliche Meinung aufgewühlt hätte. Unter den Offizieren der Front
-sei ebenso wie bei seinen Freunden im Hinterland die Erbitterung darüber
-die gleiche. Seine Eltern, die von jenem Traum des Glückes gewußt
-hätten, legten jetzt Protest ein, und so sehr er darunter leide, glaube
-er doch nicht das Recht zu haben, die Bedenken beiseite zu stoßen, deren
-Quelle ein tiefes Mitleid mit dem gekränkten Vaterland sei. Die
-öffentliche Meinung würde es nicht verstehen können, daß ein Offizier,
-der die Ehre hatte, sein Blut dem Vaterlande darbieten zu dürfen, an
-eine Verbindung denken könne, die man als eine Zustimmung zu so
-verderblichen Ideen ausdeuten könne. Freilich, die öffentliche Meinung
-hätte zweifellos unrecht, aber man müsse immer mit der öffentlichen
-Meinung rechnen. Denn die öffentliche Meinung eines Volkes, selbst wenn
-sie scheinbar übertrieben und ungerecht ist, will doch geachtet sein,
-und dies gerade sei der Irrtum Clerambaults gewesen, sie herausfordern
-zu wollen. Daniel drängte Clerambault noch einmal, seinen Irrtum zu
-bekennen und öffentlich abzuschwören, durch neue Aufsätze den
-beklagenswerten Eindruck zu verwischen, den die ersten hervorgebracht
-hätten. Er stellte es ihm als eine Pflicht dar, eine Pflicht gegen das
-Vaterland, eine Pflicht gegen sich selbst, und eine Pflicht — er ließ
-es deutlich durchblicken — gegen jene, die ihnen beiden so teuer war.
-— Der Brief schloß mit verschiedenen anderen Betrachtungen, in denen
-noch zwei- oder dreimal der Name der öffentlichen Meinung wiederkehrte;
-sie nahm in seinem Denken den Rang der Vernunft und selbst des Gewissens
-ein.
-
-Clerambault erinnerte sich lächelnd an die Szene Spittelers, wo der
-König Epimetheus, der Mann der entschlossenen Überzeugung, in der
-Stunde, da er sie auf die Probe stellen soll, sie nicht mehr in die Hand
-bekommt, sie entwischen sieht, ihr nachsetzt und, um sie zu fassen, sich
-bäuchlings auf die Erde wirft und sie unter seinem Bette sucht.
-Clerambault erkannte, daß man gleichzeitig ein Held vor dem Feuer des
-Feindes und doch ein ganz kleiner Junge vor der öffentlichen Meinung
-seiner Mitbürger sein könne.
-
-Er zeigte Rosine den Brief. Und so ungerecht auch die Liebe sonst sein
-mag, Rosine war doch in ihrem Herzen durch die Heftigkeit verletzt, die
-ihr Freund der Überzeugung ihres Vaters antun wollte. Sie dachte, Daniel
-liebe sie nicht genug, und sagte, sie ihrerseits liebe ihn nicht genug,
-um solche Forderungen anzunehmen. Selbst wenn Clerambault ihm nachgeben
-wolle, so würde sie es nicht erlauben, denn es sei eine Ungerechtigkeit.
-
-Hier umarmte sie ihren Vater, zwang sich, tapfer zu lachen und ihr
-grausames Mißgeschick zu vergessen. Aber man vergißt nicht ein
-erträumtes Glück, solange noch irgendeine schwache Möglichkeit vorhanden
-ist, es wiederzufinden. Sie mußte immer daran denken, und nach einiger
-Zeit fühlte Clerambault, wie sie sich von ihm entfernte. Wer die
-Verleugnung besitzt, sich aufzuopfern, besitzt nur selten auch jene
-andere, dann nicht jenen gram zu sein, für die er sich aufgeopfert hat.
-Gegen ihren eigenen Willen zürnte Rosine ihrem Vater um ihr verlornes
-Glück.
-
- §
-
-Ein seltsames geistiges Phänomen trat nun bei Clerambault zutage. Er
-fühlte sich niedergeschlagen und doch gleichzeitig gefestigt. Er litt
-daran, gesprochen zu haben, und fühlte doch, daß er von neuem sprechen
-würde. Er gehörte sich selbst nicht mehr. Seine Schriften hielten ihn
-fest, seine Schriften übten einen Zwang auf ihn aus: kaum hatte er seine
-Gedanken ausgesprochen, so war er schon an sie gebunden. Das aus dem
-Herzen entsprungene Werk wirkt wieder auf das Herz zurück. Geboren aus
-einer Stunde geistiger Erregung, verlängert und erneuert es sich diese
-Stunde im Geiste, der ohne diesen Aufschwung erschöpft in sich
-zusammenstürzte. Denn diese Stunde ist Lichtstrahl aus den letzten
-Tiefen, ist das Beste des inneren Wesens, das Ewigste und reißt den
-tierhaften Teil des irdischen Wesens mit sich fort. Ob er will oder
-nicht, schreitet der Mensch, von seinen Werken getragen und gezogen,
-weiter, sie leben außerhalb seiner selbst, erneuern in ihm die verlorne
-Kraft, erinnern ihn an seine Pflicht, führen ihn und befehlen ihm.
-Clerambault hatte die Absicht zu schweigen. Und doch begann er immer
-wieder zu sprechen.
-
-Er war sich seiner Schwäche freilich recht bewußt. „Du zitterst,
-Kadaver, weil du weißt, wohin ich dich jetzt führe“, pflegte Turenne vor
-einer Schlacht zu seinem Leibe zu sagen. Die Leiblichkeit Clerambaults
-bot keinen stolzen Anblick. Wenn auch die Schlacht, in die er sie
-führte, eine viel unscheinbarere war, so war es doch kein geringerer
-Kampf, denn er stand darin allein und ohne Armee. Das Schauspiel, das er
-sich selbst in der Nacht vor der Schlacht darbot, war beschämend: er sah
-sich selbst nackt, in seiner Mittelmäßigkeit, einen schwachen Menschen,
-scheu von Natur, ein wenig feig, einen Menschen, der der anderen
-bedurfte, ihrer Liebe, ihrer Zustimmung. Und es war furchtbar schwer,
-alle diese Beziehungen mit ihnen zu zerreißen, gesenkten Kopfes gegen
-ihren Haß anzurennen.... Würde er stark genug sein, um Widerstand
-leisten zu können?... Wieder stürmten die schon verjagten Zweifel
-gewaltsam auf ihn ein. Wer zwang ihn denn dazu, zu sprechen? Wer würde
-auf ihn hören? Und wozu das alles? Warum hielt er sich nicht an das
-Beispiel der Klügeren, die schwiegen?
-
-Und doch fuhr sein entschlossenes Hirn fort, ihm das zu diktieren, was
-er schreiben sollte, und die Hand schrieb es nieder, ohne ein Wort zu
-mildern. Er bestand gewissermaßen aus zwei Menschen, aus einem, der
-hingestreckt lag, Angst hatte und schrie: „Ich will mich nicht
-herumschlagen“, und aus einem anderen, der voll Verachtung für den
-Feigling ihn am Genick fortschleppte und sagte: „Vorwärts, du wirst
-gehen.“
-
-Und doch wäre es zu viel Ehre, wollte man ihm zuerkennen, daß er aus Mut
-so handelte. Er handelte so, weil er nicht anders konnte. Selbst wenn er
-hätte innehalten wollen, so mußte er doch nach vorwärts und sprechen....
-„Es ist deine Mission.“ Clerambault verstand das nicht und fragte sich,
-warum gerade er ausersehen worden war, er, der Dichter, der Zärtliche,
-geschaffen zu einem stillen, kampflosen, opferlosen Leben, indessen doch
-andere, starke, krieggewohnte, kampfgeartete Menschen mit Athletenseelen
-da waren, die unbeschäftigt blieben. „Es hat keinen Sinn sich darüber
-den Kopf zu zerbrechen. Gehorche! Es ist nun einmal so.“
-
-Und gerade diese Zwiespältigkeit seiner Natur zwang ihn, sobald einmal
-eine der beiden Seelen in ihm die Oberhand behalten hatte, sich ihr
-restlos hinzugeben. Ein normalerer Mensch hätte die beiden Naturen
-verschmolzen oder verbunden, hätte ein Kompromiß gefunden, bei dem die
-Anforderungen der einen und die Vorsicht der anderen zu ihrem Recht
-gekommen wären. Aber ein Clerambault war immer nur einseitig, dem einen
-oder dem anderen unterworfen. Hatte er einmal einen Weg gewählt, so ging
-er ihn ganz geradeaus, ob er ihm gefiel oder nicht. Und aus dem gleichen
-Grunde, der ihn früher so leichtgläubig für den Glauben der Welt rings
-um ihn gemacht hatte, mußte er jetzt rücksichtslos die Lügen, denen er
-zum Opfer gefallen war, offenbaren, sobald er sie erkannt hatte. Andere,
-die sich anfangs nicht so hemmungslos hatten narren lassen, hätten sie
-nie zu enthüllen vermocht.
-
-So begann der Mutige wider seinen eigenen Willen, ein anderer Ödipus,
-den Kampf mit der Sphinx des Vaterlandes, die ihn am Kreuzweg erwartete.
-
- §
-
-Der Angriff Bertins lenkte auf Clerambault die Aufmerksamkeit einiger
-Politiker der äußersten Linken, die nicht recht wußten, wie sie ihre
-Opposition gegen die Regierung (die ja ihre Existenzbedingung war) mit
-jener „heiligen Eintracht“ in Einklang bringen sollten, die zu
-Kriegsbeginn gegen den feindlichen Einbruch beschlossen war. Sie
-druckten die beiden ersten Artikel Clerambaults in einem jener
-sozialistischen Blätter nach, deren Gedankengang damals zwischen diesen
-Gegensätzen pendelte. Man bekämpfte dort den Krieg und votierte
-gleichzeitig Kriegskredite. Begeisterte internationale Bekenntnisse
-standen dort dicht neben Mahnreden von Ministern, die eine
-nationalistische Politik trieben. In diesem Schaukelspiel hätten die
-Seiten Clerambaults mit ihrem vagen Lyrismus, wo der Angriff maßvoll war
-und die Kritik der Vaterlandsideen von tiefem Mitleid umhüllt, den ganz
-wertlosen Charakter eines platonischen Protests gehabt, wenn nicht die
-Zensur darin einzelne Sätze mit der Zähigkeit einer Termite ausgefressen
-hätte. Die Spuren ihrer Zähne lenkten aber gerade die Blicke auf das,
-was der allgemeinen Unaufmerksamkeit sonst entgangen wäre. So kratzte
-die Zensur in dem Aufsatz „An die einst Geliebte“ das Wort Vaterland,
-nachdem sie es zum erstenmal in Verbindung mit einem liebenden Anruf
-ruhig hatte stehen lassen, bei allen anderen, bedeutend weniger
-schmeichelhaften Stellen rücksichtslos heraus. Ihre Dummheit sah nicht,
-daß nun das Wort, linkisch vom Lichtschirm bedeckt, nur noch besser im
-Geiste des Lesers aufleuchtete. So gelang es ihr, einem Aufsatz, der
-eigentlich recht bedeutungslos war, Bedeutung zu verleihen, wobei
-allerdings hinzuzurechnen war, daß in dieser Stunde allgemeiner
-Passivität das geringste Wort freier Menschlichkeit, insbesondere aber
-ein von einem bekannten Namen ausgesprochenes, sofort eine ganz
-außerordentliche und weite Wirkung gewann. Der andere Artikel, „Ihr
-Toten verzeihet uns“, war oder konnte durch seinen schmerzlichen Akzent
-noch gefährlicher für die große Masse der einfachen, vom Krieg
-aufgewühlten Seelen sein. So versuchte die bisher gleichgültige Zensur
-bei dem ersten Wind, den sie davon bekam, ihn glatt vor der
-Öffentlichkeit zu unterdrücken. Geschickt genug, um nicht auf
-Clerambault durch eine öffentliche Maßnahme besondere Aufmerksamkeit zu
-lenken, verstand sie es, auf das Journal auf Umwegen einzuwirken. Ein
-heftiger Widerstand gegen den Schriftsteller zeigte sich plötzlich in
-der internen Redaktion der Zeitung selbst. Natürlich warfen sie ihm
-nicht den Internationalismus seines Gedankens vor, sondern sie
-beschuldigten ihn bourgeoiser Empfindsamkeit.
-
-Dafür bot ihnen nun Clerambault selbst Argumente mit einem dritten
-Artikel, in dem sein Widerstand gegen jede Gewalt ebenso die Revolution
-wie den Krieg zu verurteilen schien. Die Dichter sind eben immer
-schlechte Politiker.
-
-Es war eine erbitterte Antwort auf jenen „Anruf an die Toten“, den
-Barrès, die zitternde Nachteule, von einer Friedhofzypresse
-herabwimmerte.
-
- „A n r u f a n d i e L e b e n d i g e n“
-
-„Der Tod beherrscht die Welt. Ihr, die ihr lebendig seid, schüttelt sein
-Joch ab! Es genügt ihm nicht, die Völker zu vernichten, er will, daß sie
-ihn auch noch verherrlichen, daß sie ihm singend entgegenlaufen, und
-ihre Herren verlangen, daß sie ihre eigene Aufopferung verherrlichen.
-„Es ist das schönste Los, das beneidenswerteste, das man erlangen
-kann!...“ Sie lügen! Es lebe das Leben! Einzig das Leben ist heilig, und
-die Liebe zum Leben ist die erste Tugend. Aber die Menschen von heute
-besitzen sie nicht mehr. Dieser Krieg beweist — und beweist bei vielen
-schon seit fünfzehn Jahren — (gesteht es euch nur ein!) das
-Vorhandensein einer wahnwitzigen Hoffnung auf eine solche Katastrophe.
-Ihr liebt das Leben nicht, wenn ihr keine bessere Verwendung dafür habt,
-als es dem Tod zum Fraß hinzuwerfen. Euer Leben ist euch eine Last,
-euch, ihr Reichen, ihr Bürger, ihr Diener der Vergangenheit, ihr
-Konservativen, die ihr darüber greint aus Mangel an Appetit, aus
-moralischem Übelbefinden, mit euren vor Überdruß schleimigen und sauren
-Seelen und Mäulern — und euch, ihr Proletarier, ihr Armen und
-Unglücklichen aus Mutlosigkeit über das Schicksal, das euch zugefallen
-ist. In der dumpfen Mittelmäßigkeit eures Lebens, in der
-Hoffnungslosigkeit, es jemals zu verwandeln (ihr Kleingläubigen!),
-wartet ihr einzig darauf, ihm durch einen Gewaltakt zu entrinnen, der
-euch dem Sumpf, zumindest für die Spanne einer Minute, nämlich der
-letzten, entreißt. Die Stärksten unter euch, jene, die am besten die
-Energie der ursprünglichen Instinkte bewahrt haben, die Anarchisten und
-Revolutionäre, appellieren bloß an sich selbst, um diese befreiende Tat
-zu erfüllen. Aber die große Volksmasse ist zu müde, um die Initiative zu
-ergreifen. Deshalb begrüßt sie mit solcher Gier die mächtige Welle, die
-ihre Vaterländer aufrührt: den Krieg! Sie gibt sich ihm mit einer
-düsteren Wollust hin. Denn er ist der einzige Augenblick im Leben, wo
-diese verschatteten Existenzen sich vom Atem des Unendlichen durchweht
-fühlen. Und gerade dieser Augenblick ist der der Vernichtung.
-
-Ah, eine schöne Art, sein Leben anzuwenden.... Es einzig dadurch zu
-bejahen, daß man es verneint zugunsten irgendeines menschenfresserischen
-Gottes, mag er Vaterland oder Revolution heißen, der zwischen seinen
-Kinnladen die Gebeine von Millionen Menschen zerkrachen läßt....
-
-Sterben, Zerstören, was liegt da für ein Ruhm darin! Das einzige
-Wichtige wäre, zu leben. Und das versteht ihr nicht. Ihr seid des Lebens
-nicht würdig. Nie habt ihr die Segnungen der lebendigen Minute
-empfunden, der Freude, die im Lichte tanzt. Oh, ihr hinsterbenden
-Seelen, ihr wollt, daß alles mit euch sterbe, kranke Brüder, denen wir
-die Hand hinreichen, sie zu retten, und die uns wütend mit sich in den
-Abgrund reißen....
-
-Aber nicht mit euch, ihr Unglücklichen, will ich abrechnen, sondern mit
-euren Gebietern. Mit euch, den Herren der Stunde, unsern geistigen
-Gebietern, den politischen Machthabern, den Herren des Geldes, des
-Eisens, des Blutes und des Gedankens! Mit euch, die ihr diese Staaten in
-Händen haltet, die ihr diese Armeen in Bewegung setzt, die ihr mit euren
-Zeitungen, Büchern, Schulen und Kirchen diese Generation geformt und aus
-diesen freien Seelen Herden gemacht habt. Ihre ganze Erziehung — euer
-Werk der Knechtung — die Laienerziehung wie die christliche, lobpreist
-gleicherweise mit ungesundem Jubel den nichtigen militärischen Ruhm und
-seine Glückseligkeit. Am Ende der Angel hält sowohl die Kirche als auch
-der Staat den Tod als Köder hin.
-
-Ihr heuchlerischen Schriftgelehrten und Pharisäer, Schande über euch!
-Politiker und Priester, Künstler und Schriftsteller, ihr Chorführer des
-Todes, ihr seid innen voll von Totengebein und Verwesung. Ach, ihr seid
-so recht die Söhne jener, die Christus getötet haben. Wie jene beschwert
-ihr die Schultern der Menschen mit entsetzlichen Lasten, zu denen ihr
-selbst nicht den Finger aufhebt. Wie jene, so kreuzigt ihr gerade
-solche, die den unglücklichen Völkern helfen wollen, solche, die zu euch
-kommen, in den Händen den Frieden, den gesegneten Frieden. Ihr sperrt
-sie ein und schmäht sie und jagt sie, so wie es geschrieben steht in der
-Schrift, von Stadt zu Stadt, bis daß das ganze vergossene Blut der Erde
-in Strömen auf euch zurückfällt.
-
-Ihr Kuppler des Todes, ihr arbeitet nur für ihn! Das Vaterland dient
-euch nur dazu, um die Zukunft der Vergangenheit hörig zu machen und die
-lebendigen Menschen an die vermoderten Toten zu ketten. Ihr verurteilt
-das neue Leben in alle Ewigkeit, einzig die leeren Gebräuche der Gräber
-ängstlich zu erfüllen.... Aber laßt uns auferstehen! Lassen wir die
-Glocken klingen zum Osterfest der Lebendigen!
-
-Ihr Menschen, es ist nicht wahr, daß ihr die Sklaven der Toten seid und
-durch sie wie Hörige an die Erde gebunden. Laßt die Toten ihre Toten
-begraben und selbst in die Grube fahren. Ihr aber seid Söhne der
-Lebendigen und selbst lebendig! Ihr jungen, gesunden Brüder, zerbrecht
-die nervenschwache Müdigkeit eurer Seelen, die sich den vergangenen
-Vaterländern verschrieben haben und die nur manchmal in plötzlichen
-Krämpfen der Raserei sich aufraffen. Werdet selbst die Herren der
-Stunde, die Herren der Vergangenheit, Väter und Söhne eurer Werke! Seid
-frei! Jeder von euch ist Mensch — nicht der verweste Leib der in den
-Gräbern stinkend Vermoderten, sondern das knisternde Feuer des Lebens,
-das die Verwesung tilgt, das die Leichen der vergangenen Jahrhunderte
-zerstört, das immer neue junge Feuer, das die Erde mit seinen brennenden
-Armen umschlingt. Seid frei! Ihr Eroberer der Bastille, ihr habt noch
-nicht jene andere erobert, die in euch selbst ist, das falsche
-Schicksal, das seit Jahrhunderten alle jene zu eurer Niederhaltung
-gebaut haben, die — entweder Sklaven oder Tyrannen (sie sind von der
-gleichen Galeere) — Furcht haben, daß ihr euch eurer Freiheit bewußt
-würdet. Der wuchtige Schatten der Vergangenheit — Religionen, Rassen,
-Vaterländer, die materialistische Wissenschaft — verdeckt eure Sonne.
-Geht ihr entgegen! Die Freiheit ist jenseits all jener Wälle und Türme
-von Vorurteilen, jener toten Gesetze, jener geheiligten Lügen, die die
-Interessen einzelner Auguren, die Meinung der militarisierten Massen und
-euere eigenen Zweifel an euch selbst noch behüten. Wagt es, zu wollen!
-Und ihr werdet plötzlich hinter der Mauer des trügerischen Schicksals,
-kaum daß sie hinstürzt, wieder die Sonne und die unbegrenzte Ferne
-sehen.“
-
- §
-
-Statt die revolutionäre Flamme dieses Aufrufes zu erkennen, klammerte
-sich das Redaktionskomitee der Zeitung nur an die drei oder vier Zeilen,
-in denen Clerambault die Gewalttätigkeiten aus beiden Lagern, von rechts
-und links, in denselben Sack zu stecken schien. Woher nahm dieser
-Dichter das Anrecht, in einem Parteiblatte den Sozialisten Lektionen
-erteilen zu wollen? Im Namen welcher Theorien tat er es? War er denn
-überhaupt Sozialist? Ein solcher Bourgeois sollte nur mit diesen
-tolstoianischen und anarchistischen Schreibübungen bei der Bourgeoisie
-bleiben. Vergebens protestierten einige weitsichtigere Köpfe dagegen und
-betonten, jeder freie Gedanke, ob mit, ob ohne politische Etikette,
-müsse willkommen geheißen werden, und jener Clerambaults, so wenig er
-auch die Parteitheorie kenne, sei in Wahrheit sozialistischer als
-mancher der Sozialisten, die sich der nationalen Schlächterei beigesellt
-hätten. Dennoch ging man glatt darüber hinweg, und der Artikel wurde,
-nachdem er ein paar Wochen in einer Schublade geschlafen hatte,
-Clerambault zurückgegeben unter dem Vorwand, sie hätten zuviel aktuelle
-Aufsätze und zu wenig Raum.
-
-Clerambault brachte den Artikel einer kleinen Revue, die sich mehr von
-seinem literarischen Ruf als von seinen Ideen zum Abdruck verleiten
-ließ. Das Resultat war, daß auf Befehl der Polizei die Revue am Tage
-nach dem Erscheinen des fast ganz unterdrückten Artikels verboten wurde.
-
-Clerambault aber wurde nur noch hartnäckiger. Gerade diejenigen, die ihr
-ganzes Leben unterwürfig gewesen waren, werden die erbittertsten
-Revolutionäre, wenn man sie dazu zwingt. Ich erinnere mich, einmal ein
-großes Lamm gesehen zu haben, das, von einem Hund beunruhigt, endlich
-auf ihn losstürmte, und der Hund, durch diese unerwartete Umkehrung der
-Naturgesetze erschreckt, floh vor Entsetzen und Angst bellend davon. Der
-Köter Staat ist seiner Zähne zu sicher, um sich über ein paar
-unbotmäßige Lämmer zu beunruhigen, aber das Lamm Clerambault berechnete
-nicht mehr den Widerstand, sondern stieß mit dem Kopf kreuz und quer.
-Die Eigentümlichkeit schwacher aber edler Herzen ist es, ohne Übergang
-aus einer Übertreibung in die andere zu verfallen. Aus dem Übermaß eines
-Massengefühls war Clerambault mit einem Ruck zu einem Übermaß des
-isolierten Individualismus hinübergesprungen, und eben weil er die
-Geißel des Gehorsams so gut kannte, sah er überall nur sie, diese
-soziale Suggestion, deren Folgen in allen Gesellschaftsklassen gleich
-sichtbar waren: die heroische Passivität der Armeen, die man bis zum
-Irrsinn gepriesen hatte, die Millionen der von der Hauptschar
-eingeschlossenen Ameisen, die Unterwürfigkeit der Parlamente, die den
-Chef der Regierung zwar mißachteten, aber doch solange mit ihrer Stimme
-unterstützten, bis zufällig einmal der Ausbruch eines einzelnen
-Revoltierenden eine Explosion hervorrief, die griesgrämige, aber doch
-militärische Unterwürfigkeit selbst der linksstehenden Parteien, die dem
-absurden Idol einer abstrakten Einigkeit selbst ihre
-Existenzberechtigung aufopfern. Und diese Leidenschaft, den eigenen
-Willen preiszugeben, war für ihn der Feind. Er erkannte seine Aufgabe
-darin, den Zweifel zu erwecken, den Geist, der die Kette zernagt, und
-möglicherweise den großen Wahn zu zerstören.
-
- §
-
-Die Wurzel des Übels war die Idee der Nation. Und diese geschwürige
-Stelle durfte man nicht anrühren, ohne daß die Bestie aufschrie.
-Clerambault attackierte sie schonungslos.
-
-„... Was habe ich mit euren Nationen zu tun? Ihr verlangt von mir, ich
-solle einzelne Völker lieben und einzelne hassen. Ich liebe oder hasse
-Menschen. Und es gibt innerhalb jeder Nation vornehme, niederträchtige
-und mittelmäßige, nur daß in jeder einzelnen Nation die vornehmen und
-die niederträchtigen selten sind, die mittelmäßigen dagegen die große
-Masse bilden. Ich liebe einen Menschen oder liebe ihn nicht um
-dessentwillen, was er ist, und nicht dafür, was die anderen sind. Und
-gäbe es in einer Nation nur einen einzigen Menschen, den ich liebe, so
-würde mir das schon genug sein, um sie nicht als Gesamtheit zu
-verurteilen. — Ihr sprecht mir von den Kämpfen und dem eingebornen Haß
-der Rassen? Die Rassen sind die Farben im Prisma des Lebens, erst aus
-ihrem leuchtenden Zusammenspiel entsteht das Licht. Wehe dem, der dieses
-Prisma bricht! Ich gehöre nicht einer Rasse an, ich gehöre dem Leben,
-dem ganzen Leben. Ich habe Brüder bei allen Nationen, ob sie freundlich
-oder feindlich sind, und die mir zunächst Stehenden sind nicht immer
-jene, die ihr mir als Landsleute aufzwingen wollt. Die seelischen
-Familien sind über die ganze Welt hin zerstreut. Führen wir sie wieder
-zusammen! Unsere Aufgabe ist es, die chaotischen Nationen zu zerstören
-und an ihrer Stelle harmonische Gruppen zu bilden. Nichts wird dies
-verhindern können, und selbst die Verfolgungen werden aus dem
-allgemeinen Leiden nur die allgemeine Liebe der gemarterten Völker
-formen.“
-
-Und andere Male betonte er in schonungsloser Weise seine persönliche
-Loslösung von dem Wettstreit der Nationen, obwohl er die Idee der Nation
-nicht leugnete, ja sogar als eine natürliche Tatsache anerkannte; denn
-Clerambault versteifte sich nicht auf die Logik, ihm kam es nur darauf
-an, das Götzenbild durch alle Lücken seines Harnisches zu treffen. Diese
-seine Haltung war nicht minder gefährlich.
-
-„Ich kann keinen Anteil nehmen an den Streitigkeiten eurer Nationen um
-die Überlegenheit. Mir ist es gleichgültig, ob im Wettrennen diese oder
-jene Farbe den Sieg behält. Wer auch gewinnt, es ist doch immer die
-Menschheit, die den Sieg davonträgt. Für mich ist es nur gerecht, daß
-das lebendigste, das klügste, das arbeitsamste Volk in dem friedlichen
-Kampfe der Arbeit den Triumph erringe. Entsetzlich dagegen wäre, wenn
-die zurückgedrängten Nebenbuhler oder diejenigen, die eine
-Zurückdrängung befürchten, zur Gewalt griffen, um sich die Konkurrenz
-vom Halse zu schaffen. Dies würde die Unterordnung des Interesses aller
-Menschen unter einen geschäftlichen Gesichtspunkt bedeuten. Das
-Vaterland ist aber kein geschäftlicher Gesichtspunkt. Es ist nun gewiß
-traurig, daß das Aufsteigen der einen Nation den Niedergang der anderen
-verursacht, aber warum sagt ihr nicht, wenn der große Handel des eigenen
-Landes den kleinen Handel des eigenen Landes zugrunde richtet, dies sei
-ein Majestätsverbrechen gegen den Staat? Und doch richtet dieser Kampf
-viel traurigere und unverdientere Verheerungen an. Das ganze
-gegenwärtige ökonomische Gesellschaftssystem der Welt ist verhängnisvoll
-und lasterhaft, hier müßte man mit der Heilung einsetzen. Der Krieg
-aber, der versucht, den glücklicheren oder geschickteren Konkurrenten
-zugunsten des ungeschickteren oder trägeren zu begaunern, vergrößert nur
-die Mängel dieses Systems, denn er bereichert einzelne Wenige und
-ruiniert die ganze Gemeinschaft.
-
-Es ist unmöglich, daß alle Völker auf derselben Straße im selben Schritt
-vorwärtsmarschieren. Abwechselnd überholen bald die einen die anderen
-und werden wieder selbst überholt. Aber was tut es, wenn sie nur im
-selben Zuge schreiten! Nur keine dumme Eigenliebe! Der Pol der
-Weltenergie verändert ständig seine Stelle, selbst im gleichen Lande
-verlegt er oft seinen Ruhepunkt. In Frankreich ist er von der römischen
-Provence an die Loire der Valois übergegangen, jetzt ist er in Paris,
-wird aber nicht immer dort bleiben. Die ganze Erde gehorcht einem
-wechselnden Rhythmus fruchtbaren Frühlings und einschlummernden
-Herbstes, die großen geschäftlichen Routen bleiben nicht unveränderlich,
-und die Schätze unter der Erde sind nicht unerschöpflich. Ein Volk, das
-sich durch Jahrhunderte ohne zu rechnen verausgabt hat, geht durch
-seinen Glanz dem Ende entgegen. Es kann sich nur erhalten, wenn es auf
-die Reinheit seines Blutes verzichtet und sich den anderen vermengt. Es
-ist zwecklos, es ist verbrecherisch, seine vergangene Zeit der Reife
-angeblich verlängern zu wollen, indem man andere hindert heranzuwachsen
-oder, wie unsere alten Leute von heutzutage, die Jungen in den Tod
-schickt. Das macht sie nicht jünger, aber sie töten die Zukunft damit.
-
-Ein gesundes Volk versucht, statt sich gegen die Lebensgesetze entrüstet
-aufzulehnen, sie zu verstehen. Es sieht seinen wahren Fortschritt nicht
-im stupiden Willen, durchaus nicht alt werden zu wollen, sondern in
-einer unablässigen Bemühung, mit dem Alter fortzuschreiten, anders und
-größer zu werden. Jedes Alter hat seine Aufgabe. Ein ganzes Leben sich
-an die selbe anzuklammern, ist Faulheit und Schwäche. Lernt euch zu
-verwandeln, der Wandel ist das Leben. Die Werkstätte der Menschheit hat
-Arbeit für alle! So arbeiten wir Völker jedes für seinen Teil, und jedes
-sei stolz auf die Arbeit aller. Die Mühe und das Genie aller anderen
-sind auch die unseren.“
-
- §
-
-Diese Artikel erschienen da und dort, wo es ihnen eben gelang, in
-irgendeinem jener kleinen fortschrittlichen, anarchistischen oder
-literarischen Blätter unterzukommen, in denen sonst die gewalttätigen
-Angriffe gegen Einzelpersonen den wohlbedachten Kampf gegen das Regime
-zu ersetzen versuchten. Die Aufsätze waren fast ganz unleserlich, so
-hatte die Zensur sie zugerichtet, die übrigens, wenn der Artikel dann in
-einer anderen Zeitung nachgedruckt wurde, manchmal mit launischer
-Vergeßlichkeit das durchrutschen ließ, was sie gestern verboten hatte,
-und das wieder wegschnappte, was sie gestern hatte durchgehen lassen. Es
-gehörte eine wirkliche Anstrengung dazu, ihren Sinn zu erfassen.
-Seltsamerweise waren es aber nicht die Freunde, sondern die Gegner
-Clerambaults, die sich dieser Mühe unterzogen. In Paris sind sonst die
-Polemiken von kurzer Dauer, denn die gefährlichsten Gegner, die wahrhaft
-Geschulten im Federkrieg, wissen sehr genau, daß Schweigen mehr schadet
-als Beschimpfung, und so gebieten sie oft ihrer Gehässigkeit Stille, um
-sich gewissere Wirkung zu sichern.
-
-Aber in der hysterischen Krise, die damals die Seelen Europas
-schüttelte, gab es keine Richtschnur mehr, nicht einmal mehr eine für
-den Haß. Die Heftigkeit der Attacken Octave Bertins brachte Clerambault
-jeden Augenblick wieder der Öffentlichkeit in Erinnerung. Es half
-nichts, daß Bertin selbst verächtlich die anderen aufforderte: „Reden
-wir nicht mehr davon!“ Er redete selbst davon am Ende jedes einzelnen
-Artikels, in dem er seine Galle entlud.
-
-Nun kannte Bertin zu genau alle geheimen Schwächen, alle geistigen
-Mängel und alle kleinen Lächerlichkeiten seines einstigen Freundes, als
-daß er sich das Vergnügen versagen konnte, sie mit sicherem Pfeil zu
-treffen. Clerambault, im Tiefsten verwundet und nicht klug genug, seinen
-Ärger zu verbergen, ließ sich in den Kampf hineinreißen, antwortete und
-zeigte, daß auch er den anderen bis aufs Blut verletzen könne. Eine
-brennende Gehässigkeit brach zwischen den beiden los.
-
-Das Resultat war vorauszusehen. Bisher war Clerambault ungefährlich
-gewesen. Er beschränkte sich im ganzen auf die sittliche Abhandlung,
-seine Polemik trat nicht aus dem gedanklichen Kreis hervor und hätte
-ebensogut sich auf Deutschland, England oder auf das Rom von einst
-beziehen können wie auf das Frankreich von heute. In Wahrheit verstand
-er eigentlich höchst wenig von den politischen Dingen, über die er sich
-verbreitete, ebensowenig wie neun Zehntel aller Männer seiner
-Gesellschaftsklasse und seines Berufes. So konnte auch das, was er
-aufspielte, nicht die Herren der Stunde verwirren. Der lärmende
-Federkrieg Clerambaults und Bertins aber, inmitten des Durcheinanders
-und Getöses der Zeitungen, hatte eine doppelte Folge. Einerseits
-gewöhnte er Clerambault in seinem Gefecht zu feinerer Technik, und das
-zwang ihn, sich einen sichereren Grund unter den Füßen zu suchen als den
-der bloß logischen Streitigkeiten, andererseits brachte er ihn in
-Zusammenhang mit Männern, die die Tatsachen besser kannten und ihm
-Unterlagen für seine Aufsätze brachten. Seit einiger Zeit hatte sich in
-Frankreich ein kleiner, halb unterirdischer Zirkel gebildet, der sich
-mit einer unbeeinflußten Untersuchung und freien Kritik des Krieges und
-seiner Ursachen befaßte. Der Staat, der sonst so wachsam jeden Versuch
-freien Denkens zermalmte, hielt diese klugen, ruhigen Menschen, die
-meist Gelehrte waren, kein lärmendes Aufsehen zu bewirken suchten und
-sich mit Privatdebatten begnügten, für ungefährlich. Es schien ihm
-politischer, sie bloß zu bewachen, als zwischen vier Mauern
-einzusperren. Aber er täuschte sich in seiner Berechnung. Ist einmal die
-Wahrheit in bescheidener Mühe gefunden, und sei sie auch nur fünf oder
-sechs Menschen offenbar, so kann sie nicht mehr entwurzelt werden: sie
-steigt aus der Erde mit unwiderstehlicher Kraft. Clerambault erfuhr
-damals zum erstenmal, daß es solche leidenschaftliche Wahrheitssucher
-gab, die an jene aus der Zeit des Dreyfusprozesses erinnerten, und ihr
-geheimes Apostolat unter der allgemeinen Unterdrückung erinnerte ihn
-irgendwie an die kleine christliche Gemeinschaft zur Zeit der
-Katakomben. Mit ihrer Hilfe entdeckte er jetzt neben den
-Ungerechtigkeiten auch die Lüge des „großen Krieges“. Bisher hatte er
-davon nur ein dunkles Vorgefühl gehabt, doch vermochte er nicht zu
-ahnen, bis zu welchem Grade unsere nächste Zeitgeschichte gefälscht
-worden war. Sein Entsetzen war ungeheuer. Selbst in den Stunden
-eindringlichster Prüfung hatte sich seine naive Vorstellungsweise
-niemals die trügerischen Untergründe ausdenken können, auf denen ein
-solcher Kreuzzug für das Recht beruhte. Und da er nicht der Mann war,
-seine Entdeckung für sich zu behalten, schrie er sie in Aufsätzen offen
-aus, die sofort von der Zensur untersagt wurden, schob sie dann in
-satirischer, ironischer oder symbolischer Form in kleine Erzählungen und
-Fabeln in der Art Voltaires ein, die manchmal infolge Unachtsamkeit des
-Zensors glücklich durchgingen, aber Clerambault den Machthabern als
-einen ausgesprochen gefährlichen Menschen erscheinen ließen.
-
-Die ihn zu kennen meinten, waren sehr von ihm überrascht. Von seinen
-Gegnern war er bisher allgemein als Sentimentaler behandelt worden, der
-er ja auch im Grunde gewiß war. Weil er es aber wußte und gleichzeitig
-Franzose war, besaß er die Gabe, selbst darüber zu lachen und sich
-lustig zu machen. Deutschen Sentimentalen mag es passen, blindlings an
-sich zu glauben; aber im Grunde der Seele des so beredten und
-empfindsamen Clerambault wachte der Blick des Galliers, der immer auf
-der Hut ist im tiefsten Dickicht seiner großen Wälder, der beobachtet,
-nichts übersieht und immer bereit ist, zu lachen. Und das Seltsamste
-war, daß dieser urhafte Trieb gerade in jenem Augenblick bei ihm
-ausbrach, wo man es am wenigsten erwartet hätte, in der Zeit der
-härtesten Prüfung und drohenden Gefahr. Das Gefühl für das Lächerliche
-der Welt belebte Clerambault gleichsam von neuem. Sein Charakter bekam
-plötzlich, kaum daß er sich von den Konventionen, in denen er gefangen
-war, freigemacht hatte, eine lebendige Vielfalt. Gut, zärtlich,
-kampfsüchtig, reizbar, über das Ziel hinausschießend, den Mißgriff
-anerkennend und heiter darüber hinweggehend, sentimental, ironisch,
-skeptisch und gläubig — immer erstaunte er selbst von neuem, wenn er
-sich im Spiegel dessen sah, was er schrieb. Sein ganzes Leben, das er
-bisher vorsichtig und bürgerlich in sich verschlossen hatte, brach nun,
-durch die moralische Einsamkeit und die gesunde Luft des Kampfes
-verstärkt, aus ihm heraus.
-
-Und Clerambault merkte, daß er sich selber nicht kannte. Er war wie
-neugeboren seit jener Nacht der Angst, er hatte eine Art Freude kennen
-gelernt, von der er nie gewußt hatte, die schwindelige und losgelöste
-Freude des freien Mannes im Kampfe. Alle seine Sinne waren wie ein
-Bogen, gut und straff gespannt. Und er genoß im Tiefsten dieses
-vollkommene Wohlgefühl.
-
- §
-
-Jene aber in seiner nächsten Umgebung hatten von diesem Wohlergehen
-keinen Gewinn. Frau Clerambault bekam von dem Kampf nur die
-Unannehmlichkeiten zu fühlen, eine allgemeine Feindseligkeit, die
-schließlich selbst bei den kleinen Lieferanten ihres Bezirkes zutage
-trat. Rosine siechte sichtlich dahin. Die Wunden ihres Herzens, die sie
-verbarg, ließen sie schweigend verbluten. Sie selbst beklagte sich nie,
-aber ihre Mutter tat es für zwei. Ihre Verbitterung erstreckte sich
-gleicherweise auf die Dummköpfe, die sie beschimpften, und den
-unvorsichtigen Clerambault, der ihr diese Beschimpfung einbrachte. Bei
-jeder Mahlzeit gab es ungeschickte Vorwürfe, die ihn zum Schweigen
-bewegen sollten. Aber sie richtete nichts aus, die stummen wie die
-lärmenden Anklagen glitten machtlos an Clerambault ab. Zweifellos war er
-oft traurig und bedrückt, aber er gab sich jetzt ganz der Leidenschaft
-des Kampfes hin, und ein unbewußter, ja sogar ein wenig kindlicher
-Egoismus ließ ihn alles ausschalten, was ihm dieses neue Vergnügen hätte
-stören können.
-
-Äußere Umstände kamen Frau Clerambault zu Hilfe. Eine alte Verwandte,
-die sie aufgezogen hatte, starb und hinterließ den Clerambaults ihren
-kleinen Besitz im Berry, den sie bewohnt hatte. Frau Clerambault
-benützte diesen Trauerfall, um sich von Paris zu entfernen, das ihr
-jetzt zum Abscheu geworden war, und vor allem um ihren Mann diesem
-gefährlichen Milieu zu entreißen. Sie schützte außer ihrem Schmerz
-praktische Gründe und die Gesundheit Rosinens vor, der diese
-Luftveränderung gut tun würde. Clerambault gab nach. Sie reisten alle
-drei ab, um ihre kleine Erbschaft in Besitz zu nehmen, und blieben den
-Sommer und Herbst über im Berry.
-
-Das altbürgerliche Haus lag auf dem Lande, am Ausgang eines Dorfes. Aus
-der Erregung von Paris war Clerambault plötzlich in eine stockende Ruhe
-versetzt. Die Stille der Tage unterbrach nur der Ruf der Hähne in den
-Bauernhöfen, das Brüllen des Viehes auf der Weide. Aber das Herz
-Clerambaults war zu sehr fieberhaft geworden, um sich dem friedfertigen
-und langsamen Rhythmus der Natur anzupassen. Einst hatte er ihn bis zur
-Vergötterung geliebt, einst war er in Harmonie mit dem Landvolk gewesen,
-dem seine eigene Familie entstammte, aber heute machten ihm die Bauern,
-mit denen er zu sprechen versuchte, den Eindruck von Menschen eines
-anderen Planeten. Zwar waren sie nicht vom Kriegsgift verseucht, sie
-zeigten keine Leidenschaft und keinen Haß gegen den Feind, aber sie
-zeigten auch keinen gegen den Krieg. Sie nahmen ihn als eine Tatsache
-hin, ließen sich nichts über ihn vormachen (gewisse Bemerkungen voll
-gutmütiger Ironie verrieten, daß sie wußten, was er wert sei), aber
-zunächst beschränkten sie ihre Bemühung darauf, ihn auszunützen. Sie
-machten gute Geschäfte. Sie verloren zwar ihre Söhne, aber sie verloren
-nicht ihr Hab und Gut. Wenn ihre Trauer sich auch nicht sehr
-offensichtlich ausdrückte, so konnte man ihnen doch deutlich anmerken,
-daß sie für das Leid nicht unempfindlich waren. Aber schließlich: ein
-Menschenleben geht dahin und die Erde bleibt. Sie hatten wenigstens
-nicht wie die Bourgeoisie der Städte ihre Kinder aus nationalem
-Fanatismus in den Tod geschickt, aber, sobald es einmal geschehen war,
-wußten sie ihre Opfer in gute Werte umzusetzen und wahrscheinlich hätten
-das sogar ihre hingeopferten Söhne ganz natürlich gefunden. Muß man
-denn, wenn man das, was man liebt, verliert, immer auch gleich den Kopf
-dazu verlieren? Die Bauern hatten ihn nicht verloren. Man erzählt, der
-Krieg habe im französischen Flachland etwa eine Million neuer
-Grundbesitzer geschaffen. Die Gedankenwelt Clerambaults fühlte sich hier
-ganz einsam und ausgeschlossen. Sein Denken und das ihre sprachen nicht
-dieselbe Sprache. Hie und da tauschten sie mit ihm einige allgemeine
-bekümmerte Reden aus. Aber die Bauern beklagen sich ja immer, wenn sie
-mit dem Städter sprechen. Es ist bei ihnen schon so Sitte, eine Art,
-sich gegen einen möglichen Appell an ihren Geldsack zu schützen. Sie
-hätten im selben Ton über Maul- und Klauenseuche gesprochen. Clerambault
-blieb für sie der Pariser. Was immer sie auch denken mochten, ihm hätten
-sie es nie gesagt. Er war für sie von einer anderen Rasse.
-
-Dieses Fehlen jeder Resonanz erstickte das Wort Clerambaults. Leicht zu
-beeinflussen, wie er war, kam er dahin, es selbst nicht mehr zu hören.
-Stille war um ihn. Die Stimmen der unbekannten und fernen Freunde, die
-ihn zu erreichen versuchten, wurden durch die Spionage der Post
-aufgefangen — einen jener Schandmale, mit dem sich diese Zeit entehrt
-hat. Unter dem Vorwand, die Spionage des Auslandes zu unterdrücken,
-machte der Staat damals aus seinen eigenen Bürgern Spione. Er begnügte
-sich nicht damit, die Politik zu überwachen, er vergewaltigte auch das
-Denken und erzog seine Agenten zum gemeinen Dienst von Horchern an der
-Wand. Die Vorteile, die er ihnen für eine solche Niedrigkeit bot,
-erfüllten bald das Land (alle Länder) mit freiwilligen Spitzeln, Leuten
-der guten Gesellschaft, drückebergerischen Schriftstellern in großer
-Zahl, die ihre Sicherheit dadurch erkauften, daß sie die der andern
-verrieten und ihre Angebereien mit dem Worte „Vaterland“ deckten. Dank
-diesen Angebern war es den frei Denkenden, die sich suchten, nicht
-möglich, einander die Hände zu reichen. Das ungeheure Untier Staat hatte
-eine mißtrauische Angst vor dem halben Dutzend freier, alleinstehender,
-schwacher machtloser Menschen, so sehr brannte es der Dorn seines
-schlechten Gewissens. Und jede dieser freien Seelen siechte hin in ihrem
-Kerker, umschlossen von einer unsichtbaren Überwachung. Und da einer vom
-anderen nicht wußte, daß sie alle das gleiche litten, starben sie
-langsam hin in ihrer eisigen Einsamkeit, ihrer Verzweiflung.
-
-Die Seele, die Clerambault in seinem eigenen Leibe trug, war zu
-brennend, um sich durch dieses Leichentuch von Schnee ersticken zu
-lassen. Aber die Seele allein reicht nicht aus in solchen Krisen. Der
-Körper ist eine Pflanze, die der menschlichen Erde bedarf. Der Sympathie
-beraubt, gezwungen, sich von seiner eigenen Substanz zu nähren, kränkelt
-er hin. Alle Überlegungen Clerambaults, mit denen er sich zu beweisen
-suchte, daß sein Gedankengang jenem von Tausenden Unbekannten
-entspräche, konnten nicht den lebendigen, leibhaftigen Kontakt mit einem
-einzigen schlagenden Herzen ersetzen. Der Geist kann sich mit dem
-Glauben begnügen. Aber das Herz ist der ungläubige Thomas, der berühren
-muß, um zu glauben.
-
-Clerambault hatte diese seine physische Schwäche nicht vorausgesehen. Es
-war wie eine Erstickung: die Haut wird trocken, das Blut vom brennenden
-Körper aufgesogen, die Quellen des Lebens versiegen im luftleeren Raum.
-
-Da geschah es eines Abends, als er wie ein Schwindsüchtiger an einem
-drückenden Tage von Zimmer zu Zimmer auf der Suche nach einem Atemzug
-frischer Luft durch das Haus geirrt war, daß ein Brief ankam, dem es
-gelungen war, zwischen den Maschen des Netzes durchzuschlüpfen. Ein Mann
-etwa seines Alters, ein Dorflehrer in irgendeinem verlorenen Tale des
-Dauphiné, schrieb ihm:
-
-„Der Krieg hat mir alles genommen. Von denen, die ich kannte, hat er die
-einen getötet, die anderen erkenne ich nicht mehr. Auf allem, was mir
-einst das Leben lebenswert erscheinen ließ, auf meiner Hoffnung eines
-Fortschrittes, auf meinem Vertrauen in eine Zukunft geistiger
-Brüderlichkeit, stampfen sie mit ihren Füßen herum. Ich siechte hin vor
-Verzweiflung, als ich durch einen Zufall dank einer Zeitung, die Sie
-beschimpfte, Ihre Aufsätze „Ihr Toten“ und „An die einst Geliebte“
-kennen lernte. Ich habe sie gelesen und vor Freude geweint. Man ist also
-doch nicht ganz allein? Man leidet also doch nicht allein? Und nicht
-wahr, mein Herr, Sie glauben noch an diesen Glauben, sagen Sie es mir,
-Sie glauben doch noch an ihn? Er lebt also immer noch und sie werden ihn
-nicht töten können? Ach, wie wohl das tut, ich fing schon an zu
-zweifeln! Verzeihen Sie es mir, aber man ist alt, man ist allein, man
-ist recht müde.... Ich segne Sie, mein Herr. Jetzt werde ich ruhig
-sterben können, jetzt weiß ich, dank Ihnen, daß ich mich nicht getäuscht
-habe!“
-
-Und es war sofort, als ob die Luft durch irgendeine plötzliche Öffnung
-einbräche. Die Lunge spannte sich aus, das Herz begann wieder zu
-schlagen, die Quelle des Lebens wieder zu sprudeln, um das
-ausgetrocknete Strombett der Seele von neuem zu füllen. O wie doch immer
-ein liebender Mensch des andern bedarf! Du Hand, zu mir hinübergereicht
-in der Stunde der Angst, du Hand, die du mich fühlen ließest, daß ich
-nicht ein abgerissener Zweig war vom Baum des Lebens, sondern
-hinabreiche bis zu seinem Herzen — ich rette dich und du rettest mich.
-Ich gebe dir meine Kraft und sie stirbt hin, wenn du sie nicht nimmst.
-Die einsame Wahrheit ist wie ein Funke, der als einziger, züngelnd und
-vergänglich vom Kiesel springt. Wird er nicht verlöschen? Nein. Er hat
-eine andere Seele berührt, und ein Stern flammt in der Tiefe des
-Horizonts auf.
-
- §
-
-Nur einen Augenblick war es Clerambault vergönnt, ihn zu sehen. Dann
-trat er hinter dem Gewölk zurück und verschwand für immer.
-
-Clerambault schrieb noch am selben Abend dem unbekannten Freunde. Er
-vertraute ihm mit voller Hingabe seine Prüfungen und seine gefährlichen
-Überzeugungen an. Der Brief blieb ohne Antwort. Nach einigen Wochen
-schrieb Clerambault nochmals, hatte aber auch diesmal keinen Erfolg;
-doch sein Hunger nach einem Freund, mit dem er leiden und hoffen konnte,
-war so gierig geworden, daß er mit der Eisenbahn nach Grenoble fuhr und
-von dort zu Fuß bis zu dem Dorf ging, dessen Adresse er bewahrt hatte.
-Aber als er, das Herz schon ganz selig über die Überraschung, die er
-bereiten würde, an die Tür der Schule klopfte, verstand der Mann, der
-ihm auftat, nichts von dem, was er ihm sagte. Nach kurzer
-Auseinandersetzung erfuhr er, daß der Lehrer, mit dem er sprach, neu in
-das Dorf gekommen sei. Sein Vorgänger war vor einem Monat versetzt und
-strafweise in eine entfernte Gegend geschickt worden, aber es blieb ihm
-erspart, die Reise zu machen. Eine Lungenentzündung hatte ihn am Tage,
-ehe er den Ort verlassen sollte, den er dreißig Jahre bewohnt,
-dahingerafft. Nun durfte er noch weiter darin wohnen, aber unter der
-Erde. Clerambault sah das Kreuz auf dem noch frischen Hügel und erfuhr
-niemals, ob der entschwundene Freund wenigstens seine zärtlichen Worte
-empfangen hatte. Es war besser für ihn, im Zweifel zu verharren, denn
-niemals hatte der entschwundene Freund seine Briefe erhalten, selbst
-jenes letzten Lichtscheins hatte man ihn beraubt.
-
- §
-
-Das Ende jenes Sommers im Berry war eine der unfruchtbarsten Epochen im
-Leben Clerambaults. Er sprach mit niemandem mehr, er schrieb nicht mehr.
-Mit der arbeitenden Bevölkerung in direkten Verkehr zu kommen, bot sich
-keine Möglichkeit. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo er vordem dem
-Volke nahetreten konnte (bei Massenaufläufen, bei Festlichkeiten und bei
-der Arbeit an der Volksuniversität), war es ihm immer lieb geworden.
-Aber eine Scheu, übrigens eine, die beiderseitig war, hinderte ihn, sich
-ganz hinzugeben. Beide Teile hatten immer das bald stolze, bald
-peinliche Gefühl der eigenen Minderwertigkeit. Denn Clerambault dünkte
-sich in vielen Dingen, und zwar in den wesentlichsten, geringwertiger,
-als die intelligenten Arbeiter (und er hatte auch recht, denn aus ihren
-Reihen werden die Führer der Zukunft erstehen). Unter der Auslese der
-Arbeiterschaft gab es damals anständige und männliche Geister, die
-Clerambault wohl hätte verstehen können. Mit ihrem ungebrochenen
-Idealismus hielten sie sich fest an die Wirklichkeit und, gewöhnt an den
-täglichen Kampf, seine Täuschungen und seinen Betrug, hatten sich diese
-Männer, von denen einige, obzwar noch jung, schon Veteranen im sozialen
-Kampf waren, zur Geduld erzogen. Sie hätten Clerambault darin belehren
-können. Diese Leute wußten wohl, daß alles erarbeitet sein muß, daß man
-nichts umsonst bekommt, daß alle diejenigen, die das Glück der
-zukünftigen Generation wollen, es mit ihren persönlichen Leiden bezahlen
-müssen. Sie wissen, daß der geringste Fortschritt nur Schritt für
-Schritt erobert wird und oft zwanzigmal verloren geht, ehe er endgültig
-erreicht wird. (Es gibt ja nichts wirklich Endgültiges...) Clerambault
-hatte großes Verlangen nach diesen Menschen, die stark und geduldig wie
-die Erde waren. Und seine heiße Intelligenz hätte sie bestrahlt und
-erwärmt.
-
-Aber zwischen ihnen und ihm bestand das altväterliche, verletzende und
-der Gemeinschaft nicht weniger als dem Einzelnen verhängnisvolle System
-der Kasten, das zwischen den angeblich gleichen Bürgern unserer
-verlogenen Demokratien steht, und das aus der übergroßen Verschiedenheit
-der Vermögensverhältnisse, der Erziehung und der Lebensform stammt.
-Zwischen den einzelnen Kasten bestand nur eine Verbindung durch die
-Journalisten, die, eine Kaste für sich bildend, weder die eine noch die
-andere wirklich darstellten. Einzig die Stimme der Zeitungen durchhallte
-das Schweigen Clerambaults. Nichts war imstande, ihr „Quorax quorax
-breke-ke-kex“ zu stören.
-
-Die unglücklichen Folgen einer neuen Offensive fanden die Journale wie
-immer unerschütterlich auf ihrem Posten. Wieder einmal waren die
-optimistischen Orakel der Hinterlandspriester zunichte geworden, aber
-niemand schien es zu bemerken. Sie ließen nur andere Orakel folgen, die
-mit der gleichen Zuversicht verabreicht und verschluckt wurden. Weder
-diejenigen, die sie schrieben, noch die, die sie lasen, wollten
-eingestehen, daß sie sich getäuscht hatten, und, so aufrichtig sie auch
-gegen sich sein mochten, sie merkten nichts davon. Sie erinnerten sich
-selber nicht mehr an das, was sie tags zuvor gesagt hatten. Und wie
-wollte man auch dies seltsame Wesen mit dem Vogelgehirn fassen? Kopf
-oben, Kopf unten — man mußte schließlich ihre Gabe anerkennen, nach
-allen Kapriolen immer wieder auf die Füße zu fallen. Jeden Tag hatten
-sie eine andere Überzeugung. Sie brauchte nicht dauerhaft zu sein,
-nachdem man am anderen Tage wieder eine andere hatte. Zu Ende des
-Herbstes begann man in den Zeitungen, um die sinkende Moral des
-Hinterlandes, die bei dem Vorgefühl des traurigen Winters nachzugeben
-begann, wieder neu zu kräftigen, eine neue Propaganda deutscher Greuel.
-Sie erfüllte vortrefflich ihren Zweck. Das Thermometer der öffentlichen
-Meinung stieg plötzlich wieder zur Fiebertemperatur auf. Selbst in dem
-friedlichen Städtchen des Berry äußerten sich während einiger Wochen
-alle Leute in erbittertster Weise. Sogar der Priester steuerte sein
-Scherflein bei und hielt eine Rachepredigt. Clerambault, der es von
-seiner Frau beim Mittagessen erfuhr, sprach seine Ansicht darüber in
-Gegenwart des bedienenden Mädchens ohne Rücksicht aus. Am Abend wußte
-schon das ganze Dorf, daß er ein Boche sei, und seitdem konnte es
-Clerambault jeden Morgen an seiner Tür angeschrieben lesen. Die Laune
-Frau Clerambaults wurde dadurch nicht gebessert. Rosine wiederum, die in
-ihrem jugendlichen Kummer über die getäuschte Liebe eine religiöse Krise
-durchmachte, war zu sehr mit ihrem eigenen Schmerz und seinen
-Verwandlungen beschäftigt, um an die Qual der anderen zu denken. Selbst
-die zärtlichsten Naturen haben ihre Stunde eines naiven und vollkommenen
-Egoismus.
-
- §
-
-Ganz allein sich selbst hingegeben und der Möglichkeit des Wirkens
-beraubt, wandte Clerambault sein ganzes fieberndes Denken gegen sich.
-Nichts konnte ihn nunmehr auf dem Wege der bitteren Wahrheit
-zurückhalten, nichts mehr ihr grausam scharfes Licht abdämpfen. Er
-fühlte in sich die brennende Seele jener _fuorusciti_, die, verstoßen
-aus den Mauern ihrer harten Stadt, sie von außen mit mitleidslosen Augen
-betrachteten. Nun war es nicht mehr die schmerzhafte Vision jener ersten
-Nacht der Prüfung, da die blutenden Wunden ihn noch mit seinem
-menschlichen Kreise verbanden. Jetzt waren alle Bande gelöst. Sein
-überklarer Geist schwebte, den Abgrund umkreisend, immer tiefer in
-langsamen Spiralen einsamen Schweigens in die Hölle hinab....
-
-„Ich sehe euch, ihr Herden, ihr Völker, ihr Myriaden Wesen, die ihr es
-nötig habt, euch wie Austern zusammenzudrängen, nur um euch vermehren
-und denken zu können. Jede eurer Gruppen hat ihren besonderen Geruch,
-der ihr heilig scheint. Ganz wie bei den Bienen, wo die Ausdünstung der
-Königin die Einheit des Bienenstockes und die Arbeitsfreude schafft.
-Ganz wie bei den Ameisen: Wer dort nicht riecht wie das Ich und seine
-Rasse, wird getötet. Ihr Menschenwaben, jede von euch hat ihren
-besonderen Geruch von Rasse, Religion, Moral und althergebrachten
-Sitten. Dieser Geruch durchdringt eure Körper, euer Werk und eure Brut.
-Er bestimmt euer Leben von der Geburt bis zum Tode. Weh dem, der ihn von
-sich abzuwaschen sucht.
-
-Wer die Dumpfheit dieses Bienenschwarmgedankens, diesen Schweiß
-berauschter Nächte eines Volkes recht genießen will, möge doch einmal
-die Gebräuche und Glaubensformeln aus der Distanz der Geschichte
-betrachten; er möge sich von Herodot, dem ironischen Spötter, den Film
-der menschlichen Verirrungen aufrollen lassen, das lange Panorama der
-bald erbärmlichen, bald lächerlichen, aber immer hochgeehrten Gebräuche
-bei den Skythen, Issedonen, Geten, Nasomonen, Gindaren, Sauromaten,
-Lydiern, Lybiern und Ägyptern, den Zweifüßlern aller Farben von Ost nach
-West und von Nord nach Süd. Der Großkönig, ein kluger Kopf, fordert zum
-Scherz die Griechen, die ihre Toten verbrennen, auf, sie zu verzehren,
-und die Hindus wiederum, die sie verspeisen, sie zu verbrennen, und
-belustigt sich dann über ihre beiderseitige Empörung. Der weise Herodot
-aber verneigt sich vor seinem Publikum und, unmerklich lächelnd, enthält
-er sich zwar eines Urteils, weist aber die zurecht, die sich über jene
-lustig machen; denn: würde man allen Menschen vorschlagen, eine Wahl
-unter den besten Gesetzen der verschiedenen Länder zu treffen, so würde
-sich doch jeder für die seines Vaterlandes entscheiden, denn es ist
-gewiß, daß jeder überzeugt ist, es gäbe keine besseren. Es gibt kein
-wahreres Wort als jenes Pindars: ‚Die Gewohnheit ist die Königin aller
-Menschen.‘
-
-Jeder trinkt gern aus seinem Napf; so sollte er es wenigstens ertragen,
-daß der andere aus dem seinigen trinkt. Aber gerade das Gegenteil gilt:
-Um sich an dem seinen zu erfreuen, muß man dem andern in seinen Napf
-spucken. So will es Gott, denn man braucht ja einen Gott — mag er sein
-wie er sei, Mensch oder Tier, oder bloß ein Gegenstand, eine schwarze
-oder rote Linie, oder wie im Mittelalter eine Amsel, ein Rabe, irgendein
-Wappenschild — nur damit man dann auf ihn die eigenen Torheiten abladen
-kann.
-
-Heute, da die Fahne das Wappenschild ersetzt hat, erklären wir uns frei
-von jedem Aberglauben. Doch wann war er undurchdringlicher als heute?
-Jetzt zwingt uns das neue Dogma der Gleichheit, genau so zu riechen wie
-die anderen, wir haben nicht einmal mehr die Freiheit zu sagen, daß wir
-nicht frei sind. Das wäre ein Gottesfrevel. Mit dem Tragsattel auf dem
-Rücken muß man brüllen: ‚Es lebe die Freiheit!‘ Die Tochter des Königs
-Cheops war auf Befehl ihres Vaters Dirne geworden, um mit dem Schandgeld
-ihres Körpers die Pyramide aufrichten zu helfen. Um die Pyramide unserer
-massigen Republiken zu errichten, müssen Millionen Bürger ihr Gewissen,
-ihre Seele und ihre Körper der Lüge und dem Haß prostituieren.... Oh,
-wir sind Meister in der großen Kunst des Lügens geworden!... Allerdings,
-man hat ja immer gelogen, aber der Abstand zu jenen Frühern besteht
-darin, daß sie sich ihrer Lüge bewußt waren, und es beinahe naiv
-eingestanden wie ein natürliches Bedürfnis, das man — wie es ja bei den
-Menschen des Südens Sitte ist — ungeniert in Gegenwart von
-Vorübergehenden abtut. ‚Ich werde immer lügen‘, sagt ganz unschuldig
-Darius, ‚denn wenn es nützlich ist zu lügen, so soll man sich darüber
-keine Skrupel machen. Diejenigen, die lügen, wünschen dasselbe zu
-erreichen wie jene, die die Wahrheit sagen: man lügt in der Hoffnung,
-irgendeinen Gewinn davon zu haben, man sagt die Wahrheit, um daraus
-Vorteil zu ziehen und sich das Vertrauen zu sichern. So gehen wir zwar
-nicht den gleichen Weg, aber doch zum selben Ziele. Denn ohne Hoffnung
-auf Vorteil wäre es ja für den, der die Wahrheit sagt, gleichgültig, zu
-lügen, und für den, der lügt, ebensogut, er sagte die Wahrheit.‘ Aber
-wir, meine lieben Zeitgenossen, wir sind bedeutend schamhafter. Wir
-schauen uns selbst nicht zu, wenn wir auf offener Straße lügen... Wir
-lügen hinter geschlossenen Türen und Fenstern, wir belügen uns selbst.
-Aber wir gestehen es uns niemals ein, selbst nicht in aller Intimität.
-Nein, nein, wir lügen nicht, wir „idealisieren“ nur.... Ach, ich möchte,
-daß man euer Auge sehe und daß euer Auge sehend würde, ihr freien
-Menschen!
-
-Frei! Worin, wovon seid ihr frei? Wer von euch ist heute frei innerhalb
-eures gegenwärtigen Staates? Habt ihr die Freiheit, zu handeln? Nein, da
-ja der Staat über euer Leben verfügt, euch zu Schlächtern oder
-Hingeschlachteten macht. Seid ihr frei, zu sprechen und zu schreiben,
-was ihr wollt? Nein, denn man sperrt euch ein, wenn ihr eure Gedanken
-aussprecht. Seid ihr frei, wenigstens für euch allein zu denken? Nein,
-außer ihr verbergt eure Gedanken gut, und selbst ein tiefer Keller ist
-für sie nicht sicher genug. Schweigt! Hütet euch! Ihr seid gut
-überwacht... Es gibt Galeerenhüter für die Tat: Unteroffiziere und
-Betreßte. Und es gibt Galeerenhüter für den Geist: Kirchen und
-Universitäten, die genau vorschreiben, was man glauben und was man
-leugnen muß... Worüber beklagt ihr euch? (Aber ihr beklagt euch ja gar
-nicht!) Macht euch ja kein Kopfzerbrechen, wiederholt nur die Worte des
-Katechismus!
-
-Nun sagt ihr, daß dieser Katechismus in freier Wahl von dem
-selbständigen und selbstherrlichen Volk genehmigt worden sei! Eine
-schöne Selbstherrlichkeit! Einfaltspinsel, die die Backen aufblasen mit
-ihrem Worte Demokratie... Demokratie, das ist die Kunst, sich an die
-Stelle des Volkes zu setzen und ihm feierlich in seinem Namen, aber zum
-Vorteil einiger guter Hirten die Wolle abzuscheren. In Friedenszeiten
-weiß das Volk nichts von dem, was vorgeht, außer dem, was die Leute, die
-ein Interesse daran haben, es zu prellen, ihm in ihren geknechteten
-Zeitungen zu sagen Lust haben. Die Wahrheit ist unter Verschluß. In
-Kriegszeiten macht man das besser, da ist das Volk unter Verschluß.
-Selbst wenn es wirklich je gewußt hätte, was es will, so hat es doch
-keine Möglichkeit mehr, ein Wort davon zu sagen. Kadavergehorsam... Zehn
-Millionen Kadaver... und die Lebendigen taugen auch nicht viel mehr,
-nachdem sie vier Jahre im niederdrückenden Regime von patriotischen
-Aufschneidereien, von Jahrmarkts-Paraden gestanden haben und dem
-Tam-Tam, den Drohungen, Betrügereien, Gehässigkeiten, Angebereien,
-Hochverratsprozessen und dem Standgericht ausgesetzt waren. Die
-Demagogen haben das letzte Aufgebot der Dunkelmännerei zusammengerafft,
-um den letzten verzweifelten Lichtschein der Vernunft in ihren Völkern
-zu ersticken und sie völlig zu verblöden.
-
-Ihnen genügt es nicht, sie zu knechten. Man muß die Völker so dumm
-machen, daß sie selbst geknechtet sein wollen. Die gewaltigen
-Autokratien Ägyptens, Persiens und Assyriens, die mit dem Leben von
-Millionen ihr Spiel trieben, schöpften das Geheimnis ihrer Macht aus dem
-übernatürlichen Glanz ihrer falschen Göttlichkeit. Jede absolute
-Monarchie war unbedingt bis an die äußersten Grenzen der gläubigen
-Jahrhunderte eine Theokratie gewesen. In unseren Demokratien aber ist es
-unmöglich, an die Göttlichkeit irgend so eines Hanswursts, wie es unsere
-höchst anrüchigen und mißachteten Minister sind, zu glauben. Man hat sie
-zu sehr von der Nähe gesehen und kennt ihre Schäbigkeiten.... So haben
-sie die Erfindung gemacht, die Götter hinter die Leinwand ihres
-Jahrmarktzeltes zu stecken. Gott, das ist jetzt die Republik, das
-Vaterland und die Gerechtigkeit, die Zivilisation. Am Eingang des Zeltes
-sind sie aufgemalt, jede Jahrmarktsbude zeigt in mannigfachen Farben
-ihre schöne Riesin, und die Millionen drängen sich nur so hinein, um sie
-zu sehen. Freilich, was sie denken, wenn sie aus der Bude herauskommen,
-das wird nicht gesagt, und sie wären selbst sehr verlegen, wenn sie sich
-etwas dabei denken sollten. Die einen kommen überhaupt nicht mehr
-heraus, die andern haben nichts gesehen. Nur jene, die draußen geblieben
-sind vor der großen Bude, um zu gaffen, die sehen, für die ist Gott da
-(schön aufgemalt). Die Götter sind nichts als das Verlangen, an sie zu
-glauben.
-
-Warum aber dann die brennende Wut dieses Verlangens? Weil man die
-Wirklichkeit nicht sehen kann. Oder eigentlich: gerade weil man sie
-sieht. Das ist ja die ganze Tragik der Menschheit, daß sie nicht sehen
-und nichts wissen will. Sie hat nur das verzweifelte Bedürfnis,
-irgendwie ihren Schmutz göttlich zu machen. Wir aber wollen ihr ins
-Gesicht sehen!
-
-Der Instinkt des Mordes ist in das Herz der Natur geschrieben. Ein
-wahrhaft teuflischer Instinkt, weil er die Wesen nicht bloß geschaffen
-zu haben scheint, um zu essen, sondern auch, um gegessen zu werden. Eine
-Spielart des Kormorans nährt sich von Meerfischen. Die Fischer rotteten
-nun diese Vögel aus, da verschwanden die Fische, denn sie wiederum
-nährten sich von den Exkrementen der Vögel, die sich von ihnen nährten.
-So ist die Kette der Wesen eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt
-und sich selber frißt.... Wäre nun wenigstens nicht auch noch das
-Bewußtsein geschaffen, daß der Mensch selbst dieser eigenen Marter
-zusehen muß! Oh, wie dieser Hölle entfliehen?... Zwei Wege gibt es, zwei
-einzige Wege, den Weg Buddhas, der den schmerzhaften Wahn des Lebens zum
-Erlöschen bringt — und den Weg des religiösen Wahns, der über
-Verbrechen und Schmerzen den Schleier einer blendenden Lüge wirft! Das
-Volk, das die andern vernichtet, wird da zum auserwählten Volke, es
-wirkt für seinen Gott. Das Gewicht der Ungerechtigkeiten, das die eine
-Waagschale des Lebens niederdrückt, findet sein Gegengewicht im Jenseits
-der Träume, wo alle Wunden und Qualen gelindert werden. Die Formen
-dieses Himmelreiches sind verschieden von Volk zu Volk, von Zeit zu
-Zeitalter, und diese Verschiedenheit nennt man dann Fortschritt. Aber es
-ist doch immer ein und dasselbe Verlangen nach einem Wahn. Man muß
-dieser furchtbaren Bewußtheit das Maul stopfen, die alles sieht und
-Rechenschaft verlangt für jede Ungerechtigkeit des Gesetzes. Wirft man
-ihr nun nicht rasch einen Brocken zum Fraße hin, irgendeinen Glauben, so
-heult sie vor Hunger und Angst. Man muß glauben. Glauben oder
-krepieren.... Und darum haben sich die Menschen zu Herden
-zusammengedrängt, um sich gegenseitig zu bestärken und zu stützen. Um
-aus ihren einzelnen persönlichen Zweifeln eine gemeinsame Sicherheit zu
-machen.
-
-Was tun wir aber jetzt mit der Wahrheit? Die Wahrheit — jetzt ist sie
-ja für jene der Feind. Freilich, das gestehen sie nicht ein. In einem
-stillschweigenden Übereinkommen nennen sie Wahrheit das widerliche
-Gemisch von ein bißchen Wahrheit und vieler Lüge, wobei das bißchen
-Wahrheit dazu dient, die Lüge zu übertünchen, die Lüge und die
-Knechtschaft, die ewige Knechtschaft... Nicht die Monumente des Glaubens
-und der Liebe sind die dauerhaftesten, sondern weit mehr jene der
-Knechtschaft. Reims und das Parthenon stürzen in Ruinen, aber die
-Pyramiden Ägyptens inmitten der Wüste, den Luftspiegelungen und dem
-wandernden Sand trotzen den Jahrhunderten... Wenn ich an die Tausende
-unabhängiger Menschen denke, die der Geist der Knechtschaft im Laufe der
-Jahrhunderte verschlungen hat — die Ketzer und Revolutionäre, die
-Unbotmäßigen gegen Staat und Kirche —, so wundere ich mich nicht mehr
-über die Mittelmäßigkeit, die nun über der Welt wie eine dicke fettige
-Brühe schwimmt...
-
-Wir aber, die wir uns noch auf der düstern Oberfläche halten, die wir
-noch nicht untergetaucht sind, was sollen wir gegenüber dieser
-unbarmherzigen Welt tun, wo ewig der Starke den Schwächeren zermalmt und
-ewig wieder einen noch Stärkeren findet, der ihn seinerseits vernichtet?
-Sollen wir uns aus schmerzlichem Mitleid und aus Ermüdung zur
-freiwilligen Hinopferung entschließen, oder sollen wir mittun an der
-ewigen Erdrückung des Schwachen, ohne innerlich nur den Schatten einer
-Erkenntnis zu haben von der blinden Grausamkeit des Weltalls? Was bleibt
-uns denn sonst noch? Sollen wir etwa versuchen, uns aus dem
-hoffnungslosen Kampf wegzuschleichen aus Egoismus oder aus Weisheit, die
-ja doch nur eine andere Form des Egoismus ist?...“
-
-In dieser Krise ätzenden Pessimismusses, die Clerambault in jenen
-Monaten der menschenfremden Isolierung durchwühlte, sah er überhaupt
-keine Möglichkeit des Fortschrittes mehr, jenes Fortschrittes, an den er
-einst geglaubt hatte wie andere an den lieben Gott. Jetzt sah er die
-menschliche Rasse einem mörderischen Geschick rettungslos geweiht.
-Nachdem sie soviel andere Wesen auf ihrer Erde vernichtet hatte, war es
-ihr Schicksal, sich nun mit eigener Hand zu vernichten und damit ein
-Gesetz der Gerechtigkeit zu erfüllen. Denn der Mensch ist Herr dieser
-Erde nur durch Raub, durch Betrug und Kraft geworden (hauptsächlich aber
-durch Betrug), wertvollere Wesen, als er ist, sind vielleicht, gewiß
-sogar, unter seinen Schlägen hingeschwunden, die einen hat er zerstört,
-die anderen erniedrigt, zu Tieren gemacht. Seit den Tausenden von
-Jahren, die er das Dasein mit den andern Wesen teilt, tut er so, als
-verstünde er sie nicht (er lügt), als wüßte er nicht, daß sie zu ihm
-Bruderwesen wären, leidend, liebend und träumend wie er. Um sie besser
-ausbeuten und ohne Gewissensbisse quälen zu können, hat er sich von
-seinen geistigen Führern bestätigen lassen, daß diese Wesen nicht
-denkfähig seien, daß er allein dieses Privileg besitze. Heute ist er
-nicht mehr weit davon entfernt, dies auch von den anderen
-Menschenvölkern zu sagen, die er bekämpft und vernichtet... Henker!
-Henker, du bist mitleidslos gewesen. Mit welchem Recht verlangst du
-heute Mitleid für dich?
-
- §
-
-Von den alten Freundschaften, die einst zum Kreise Clerambaults gehört
-hatten, war ihm eine einzige noch geblieben, die mit Frau Mairet, deren
-Mann vor kurzem im Argonnenwald gefallen war.
-
-François Mairet, der noch nicht das vierzigste Lebensjahr erreicht
-hatte, als er unbemerkt im Schützengraben zugrunde ging, war einer der
-ersten französischen Biologen, ein bescheidener Gelehrter, ein großer
-Arbeiter gewesen, in dem ein geduldiges Genie schlummerte, das der Ruhm
-später gewiß entdeckt hätte. Er hatte aber gar keine Eile, den Besuch
-dieser schönen Dirne zu empfangen, man teilt ja ihre Gunst mit zu vielen
-Undankbaren. Ihm genügte die stille Freude, die die innige Beziehung zur
-Wissenschaft ihren Auserwählten gewährt, und ein einziges Herz auf
-Erden, um diese Freude mit ihm gemeinsam zu genießen. Seine Frau war die
-Hälfte all seiner Gedanken. Ein wenig jünger als er, aus
-Hochschulkreisen stammend, gehörte sie zu jenen ernsten, liebevollen,
-zugleich schwachen und stolzen Seelen, die das Bedürfnis haben, sich
-hinzugeben, die sich aber nur ein einzigesmal hingeben können. Sie lebte
-ganz im geistigen Leben Mairets. Vielleicht hätte sie ebensogut das
-eines anderen Mannes teilen können, wenn die Umstände sie mit ihm
-verbunden hätten. Aber sobald sie Mairet geheiratet hatte, hatte sie ihn
-restlos geheiratet. Wie viele Frauen, und gerade die besten von ihnen,
-befähigte sie ihre Intelligenz, gerade den zu verstehen, den ihr Herz
-erwählt hatte. Sie hatte sich zu seiner Schülerin gemacht, um seine
-Gefährtin zu werden, sie nahm Teil an seiner Arbeit, an seinen
-Experimenten. Kinder hatten sie keine. Ihre Gemeinschaft war eine der
-Gedanken. Beide waren sie freie Geister, voll hoher freigeistiger und
-übernationaler Ideale.
-
-Als im Jahre 1914 Mairet einberufen wurde, folgte er dem Rufe, bloß um
-seiner Pflicht zu genügen, aber ohne innere Täuschung über die Sache,
-die der Zufall der Zeiten und der Vaterländer ihm zu vertreten
-auferlegte. Von der Front sandte er stoische und klare Briefe. Nie hatte
-er aufgehört, den Krieg als etwas Erbärmliches zu betrachten, aber er
-glaubte sich zum Opfer verpflichtet aus Gehorsam gegen das Geschick, das
-ihn eben den Irrtümern, den Leiden und Kämpfen jener armen Menschenrasse
-beigemengt hatte, die sich langsam einem unbekannten Ziel entgegen
-entwickelte.
-
-Er kannte Clerambault. Familienbeziehungen in der Provinz, aus der Zeit,
-ehe die einen oder die anderen nach Paris übersiedelten, waren die
-Grundlage ihres freundschaftlichen Verhältnisses geworden, das
-eigentlich mehr dauerhaft war als intim — denn Mairet gab nur seiner
-Frau sein Herz hin — dessen unzerstörbare Grundlage aber eine
-beiderseitige reine Achtung war.
-
-Seit Kriegsbeginn hatte jeder einzelne mit seinen Sorgen zu tun, und sie
-hatten nicht in Korrespondenz gestanden. Die draußen im Felde schickten
-nicht Briefe an viele Freunde herum, sie konzentrierten sie auf ein
-einzelnes Wesen, dem sie dann alles sagten. Mairet hatte mehr als jemals
-seine Gefährtin zum einzigen Verwalter seines Vertrauens gemacht, seine
-Briefe waren ein Tagebuch, wo er gewissermaßen mit lauter Stimme dachte.
-In einem seiner letzten Briefe sprach er von Clerambault. Er hatte von
-seinen ersten Artikeln durch die nationalistischen Zeitungen (die
-einzigen, die an der Front geduldet wurden) erfahren, die zu polemischen
-Zwecken Auszüge daraus brachten. Er schrieb seiner Frau, welche
-Erleichterung er bei diesen Worten eines anständigen und empörten Mannes
-empfunden hätte, und bat sie, Clerambault wissen zu lassen, daß seine
-alte Freundschaft für ihn dadurch nur noch inniger und wärmer geworden
-sei. Kurze Zeit darauf fiel er, noch ehe er die folgenden Aufsätze
-erhielt, die er seine Frau gebeten hatte ihm zu senden.
-
-Als er hingegangen war, suchte sie, die einzig für ihn lebte, sich jenen
-Menschen zu nähern, die ihm in den letzten Stunden seines Lebens
-nahegestanden hatten. Sie schrieb an Clerambault. Er, der sich in seinem
-Provinzwinkel innerlich verzehrte, ohne die Energie zu finden, sich
-daraus loszureißen, empfing den Ruf der Frau Mairet wie eine Erlösung.
-Er kam nach Paris zurück. Es bedeutete für sie beide ein bitteres
-Wohlgefühl, gemeinsam das Wesen des Dahingegangenen wieder zu erwecken,
-und sie teilten es sich so ein, daß sie sich einen Abend jeder Woche
-einzig dafür frei hielten, um gemeinsam mit ihm beisammen zu sein.
-Clerambault war der einzige aus dem Freundeskreis Mairets, der die
-geheime Tragödie eines Opfers verstehen konnte, das von keinem
-vaterländischen Wahn künstlich vergoldet war.
-
-Zuerst fühlte Frau Mairet eine Erleichterung darin, ihm alles zu zeigen,
-was sie empfangen hatte. Sie las ihm die Briefe vor, die vertraulichen
-Mitteilungen seiner Enttäuschung. Mit Ergriffenheit durchschritten sie
-seine Gedankenkreise und kamen dazu, alle die Probleme aufzurollen, die
-den Tod Mairets und jenen von Millionen anderer verschuldet hatten.
-Nichts konnte Clerambault bei dieser unerbittlichen Fragestellung
-zurückhalten. Auch sie war nicht die Frau, einer Suche nach der Wahrheit
-auszuweichen. — Und doch...
-
-Clerambault bemerkte bald, daß seine Worte ihr ein gewisses Unbehagen
-verursachten, sobald er laut aussprach, was sie nur zu gut selbst wußte
-und was die Briefe Mairets feststellten, nämlich die verbrecherische
-Sinnlosigkeit solchen Sterbens, die Fruchtlosigkeit einer solchen
-Aufopferung. Sie versuchte, das, was sie ihm anvertraut hatte, gleichsam
-wieder zurückzunehmen, sie stritt über den Sinn des Wortlautes mit einer
-Leidenschaft, die nicht immer ganz aufrichtig schien, und gab auf einmal
-vor, sich gewisser Worte Mairets zu erinnern, die eher eine
-Übereinstimmung, ja sogar Zustimmung zur öffentlichen Meinung
-bekundeten. Eines Tages bemerkte Clerambault, als sie ihm einen Brief,
-den sie schon früher einmal gelesen hatte, wieder vorlas, wie sie über
-einen Satz hinwegglitt, in dem sich der heroische Pessimismus Mairets
-deutlich verriet. Und als er darauf bestand, schien sie ein wenig
-beleidigt. Sie wurde ablehnend, allmählich verwandelte sich ihr
-peinliches Gefühl in Kälte, dann in Erregtheit, schließlich sogar in
-eine Art geheimer Feindseligkeit. Es endete damit, daß sie Clerambault
-mied, und ohne daß ihr Bruch offen eingestanden war, fühlte er, daß sie
-ihm böse war und ihn nicht mehr sehen wollte.
-
-Denn in gleichem Maße, wie sich die unerbittliche Analyse Clerambaults
-verschärfte und die Grundlagen der ganzen zeitgenössischen Meinungen
-negierte, bildete sich bei Frau Mairet ein gegensätzlicher Prozeß im
-Sinne einer Wiederherstellung idealer Begriffe heraus. Ihre Trauer
-bedurfte der Überzeugung, daß sie trotz allem irgendeinen heiligen Grund
-habe. Es fehlte ihr eben der Verstorbene, um ihr zu helfen, die Wahrheit
-zu ertragen. Denn zu zweien ist selbst die furchtbarste Wahrheit noch
-eine Freude. Aber für den, der allein zurückbleiben muß, wird sie
-tödlich.
-
-Clerambault verstand dies, seine bebende Feinfühligkeit spürte, daß er
-die Frau leiden gemacht hatte, und er fühlte ihr Leiden in sich selbst.
-Es fehlte nicht viel, so hätte er ihrem Widerstande gegen sich selbst
-zugestimmt, denn er sah, welch ungeheurer Schmerz in ihr verborgen war
-und sah zugleich die ganze Kraftlosigkeit seiner Wahrheit, die ihr keine
-Erleichterung brachte. Ja noch mehr: er sah, daß er einem Leiden, das
-schon vorhanden war, nur noch ein neues Leiden hinzugefügt hatte....
-
-Unlösbares Problem! Solche unglücklichen Menschen können nicht ohne den
-mörderischen Wahn leben, dessen Opfer sie sind. Und man kann ihnen den
-Wahn nicht wegnehmen, ohne ihre Leiden unerträglich zu machen. Familien,
-die Söhne oder Gatten oder Väter verloren haben, bedürfen eben des
-Glaubens, es sei für eine gerechte und wahre Sache geschehen. Die
-lügnerischen Staatsmänner sind gezwungen, diese Lüge um der anderen
-willen und um ihrer selbst willen aufrechtzuerhalten, denn wenn sie nur
-einen Augenblick aufhörten, wäre das Leben weder für sie noch für die,
-über die sie gebieten, erträglich. Der unglückliche Mensch ist eben die
-Beute seiner eigenen Ideen, und wenn er ihnen auch alles schon
-hingegeben hat, so muß er ihnen jeden Tag noch immer mehr hingeben, oder
-er findet unter seinen Schritten das Leere und stürzt hinab.... Was?
-Nach vier Jahren namenloser Qual und Zerstörung sollten wir zugeben, daß
-das alles umsonst war...? ... Nicht nur zugeben, daß selbst der Sieg
-eine Vernichtung wäre, sondern daß er es immer sein muß, daß der Krieg
-ein Wahnwitz ist und wir uns getäuscht haben.... Niemals! Lieber sterben
-bis zum letzten Mann. Schon ein einziger Mensch, dem man die Erkenntnis
-aufzwingt, daß sein Leben sinnlos war, gibt sich der Verzweiflung hin.
-Wie aber erst, wenn man es einem Volke, zehn Völkern, der ganzen
-Menschheit sagt?
-
-Clerambault hörte den Schrei der menschlichen Menge:
-
-„Leben um jeden Preis! Retten wir uns um jeden Preis!“
-
-„Aber ihr wollt euch ja gerade nicht retten! Euer Weg führt euch in neue
-Katastrophen, in eine Unzahl neuer Qualen.“
-
-„Mögen sie noch so arg sein, sie sind doch nicht so furchtbar als das,
-was du uns darbietest. Lieber mit einem Wahn sterben, als ohne einen
-Wahn leben! Ohne Wahn, ohne Illusionen leben... das wäre der lebendige
-Tod.“
-
-„Derjenige, der das Geheimnis des Lebens erkannt hat und sein Wort
-gelesen“, sagt die harmonische Stimme Amiels, des Enttäuschten, „entgeht
-dem großen Rad des Lebens, er ist ausgetreten aus der Welt der
-Lebendigen.... Ist einmal der Wahn dahin, so tritt wieder das Nichts in
-sein ewiges Reich, die farbige Seifenblase ist zergangen im ungeheuren
-Raum, die Qual des Gedankens aufgelöst in die regungslose Ruhe des
-unbegrenzten Nichts.“
-
-Aber gerade diese Ruhe im Nichts ist ja die fürchterlichste Qual für den
-Menschen der weißen Rasse. Lieber alle Qualen, alle Qualen des Lebens!
-Nein, nehmt mir sie nicht weg! Wer mir die mörderische Lüge wegnimmt,
-von der ich lebe, ist mein Mörder!...
-
-Und Clerambault legte sich bitter den Titel bei, den ihm zum Spott ein
-nationalistisches Blatt gegeben hatte: „_L’un contre tous_“. „Der Eine
-gegen Alle.“ Ja, er war der gemeinsame Feind, der Zerstörer des Wahns,
-von dem die andern leben....
-
-Aber er wollte es eigentlich gar nicht. Er litt zu sehr unter dem
-Gedanken, Leiden zu verursachen. Wie aus dieser tragischen Sackgasse
-herauskommen? Wohin immer er sich wandte, überall fand er den unlösbaren
-Zwiespalt: entweder todbringenden Wahn oder den Tod ohne Wahn.
-
-„Ich will nicht das eine und will nicht das andere.“
-
-„Ob du es willst oder nicht, gib nach! Hier ist kein Durchlaß.“
-
-„Aber ich werde trotzdem zu meinem Ziele kommen.“
-
-
-
-
- Vierter Teil
-
-
-
-
- §
-
-Clerambault durchschritt eine neue Gefahrzone. Sein Wandeln in der
-Einsamkeit glich einer Bergbesteigung, bei der man sich plötzlich vom
-Nebel umhüllt sieht und an den Felsen klammern muß, ohne weiter vorwärts
-zu können. Vor sich sah er nichts mehr, und nach welcher Seite immer er
-sich wandte, von überall hörte er aus der Tiefe den Sturzbach des
-Leidens brausen. Aber doch: er konnte nicht unbeweglich verharren,
-obwohl er über dem Abgrund hing und sein letzter Halt nachzugeben
-drohte.
-
-Er stand, von Dämmerung umgeben, an einem Wendepunkt. Dazu kam, daß
-gerade an diesem Tage die Neuigkeiten, die die Zeitungen belferten, ihm
-mit ihrem Wahnsinn die Seele niederdrückten. Wiederum vergebliche
-Menschenhekatomben, die der hypnotisierte Egoismus der Hinterlandleser
-natürlich fand, wiederum Grausamkeiten auf allen Seiten, verbrecherische
-Repressalien für Verbrechen, die aber von diesen, einst doch anständigen
-Leuten stürmisch gefordert und bejubelt wurden! Niemals war ihm der
-Horizont, der die armen Menschentiere in ihren irdischen Niederungen
-umschließt, umdüsterter und mitleidsloser erschienen.
-
-Clerambault fragte sich, ob dieses Gesetz der Liebe, das er in sich
-fühlte, nicht vielleicht nur für andere Welten und eine andere
-Menschheit Geltung habe. Unter seiner Post fand er einige neue
-Drohbriefe, und im Vorgefühl, daß sein Leben in der tragischen
-Sinnlosigkeit der Zeiten in den Händen des erstbesten Narren stünde,
-wünschte er im stillen, diese Begegnung möge nicht allzulange auf sich
-warten lassen. Aber dennoch, von guter Rasse und fest verwurzelt, wie er
-war, führte er sein Leben unverändert weiter, erfüllte methodisch seine
-täglichen Pflichten und hielt sich zusammen, um aufrecht und ungebeugt
-den Weg bis zum Ziele zu schreiten, wohin auch immer er ihn führen
-sollte.
-
-An diesem Tage nun erinnerte er sich, daß er seine Nichte Aline besuchen
-wollte, die eben eines Kindes genesen war; sie war die Tochter einer
-verstorbenen und von ihm geliebten Schwester, nur ein wenig älter als
-Maxime und dessen einstige Jugendgespielin. Als Mädchen hatte sie einen
-komplizierten Charakter gezeigt: unruhig, unbefriedigt, alles nur auf
-sich beziehend, gefallsüchtig, herrschsüchtig, allzu neugierig und von
-gefährlichen Abenteuern seltsam angezogen, dabei ein wenig trocken und
-doch leidenschaftlich, nachträgerisch, zornig und dann wieder plötzlich
-voll der Fähigkeit, zärtlich und verführerisch zu werden. Zwischen
-Maxime und ihr war es schon ziemlich weit geraten. Man mußte acht haben
-auf die beiden. Maxime ließ sich trotz seiner ironischen Veranlagung von
-diesen harten kleinen Augensternen leicht verlocken, die ihn manchmal
-mit ihren elektrischen Blitzen tief anstrahlten. Aline wiederum wurde
-erregt und angezogen von Maximes Ironie. Sie hatten sich recht geliebt,
-und recht aufeinander wütend gemacht. Dann waren sie beide zu anderen
-Erfahrungen übergegangen. Sie hatte in zwei oder drei andere Herzen
-Verwirrung gebracht und sich schließlich höchst vernünftig, als sie die
-Stunde und Gelegenheit für günstig hielt — alles hat ja seine Zeit —,
-mit einem ehrbaren Handelsmann, der gute Geschäfte in seinem Kunst- und
-Kirchenmöbelladen in der Rue Bonaparte machte, verheiratet. Sie befand
-sich gerade in andern Umständen, als ihr Mann an die Front mußte.
-Selbstverständlich war sie glühende Patriotin, denn „wer sich selbst
-liebt, liebt auch die Seinen“. Und sie wäre eine der letzten gewesen,
-bei denen Clerambault Verständnis für seine Gedanken des brüderlichen
-Mitempfindens erhofft hätte. Mitempfinden hatte sie wenig für Freunde,
-und keines für die Feinde. Sie hätte sie am liebsten in einem Mörser
-zerstampft, mit derselben kalten Freude, mit der sie einst Herzen und
-Insekten gequält hatte, um sich für irgendwelche, ihr von anderen
-zugefügte Unannehmlichkeiten zu rächen.
-
-Aber in demselben Maße, wie die in ihr wachsende Frucht reifte, wandte
-sich all ihre Aufmerksamkeit dieser zu, alle Kräfte ihres Herzens
-strömten nach innen. Der Krieg entfernte sich für sie, sie hörte nicht
-mehr die Kanonade von Noyon. Wenn sie davon sprach — immer weniger
-jeden Tag —, so schien es, als handelte es sich dabei um eine
-Kolonialexpedition. Sie erinnerte sich wohl der Gefahren ihres Mannes,
-und sicherlich, sie hatte ein mitleidiges „Armer Kerl“ für ihn, zugleich
-mit einem kleinen gerührten Lächeln, das zu sagen schien: „Er hat
-wirklich Pech, er ist ein wenig ungeschickt.“ Aber sie hielt sich bei
-diesem Thema nie lange auf, und es ließ, Gott sei Dank, keine Spuren in
-ihr zurück. Ihr Gewissen war ja ruhig, sie hatte ihre Zeche bezahlt. Und
-schleunigst kehrten Alinens Gedanken zur einzig wichtigen Aufgabe
-zurück. Im ganzen weiten Universum war das Ei, das sie zu legen hatte,
-anscheinend die einzige Sache von Belang für sie.
-
-Clerambault, mit seinen Kämpfen vollauf beschäftigt, hatte Aline seit
-Wochen nicht gesehen und nichts von dieser Änderung ihrer Gesinnung
-wahrgenommen. Wenn Rosine einige Worte darüber fallen ließ, so hatte
-seine abgewandte Aufmerksamkeit nicht darauf gehört. Ganz plötzlich,
-Schlag auf Schlag, innerhalb vierundzwanzig Stunden, empfing er die
-beiden Neuigkeiten zugleich: daß das Kind geboren sei und daß Alinens
-Gatte, so wie seinerzeit Maxime, „vermißt“ werde. Und sofort malte er
-sich den Schrecken der armen jungen Mutter aus. Er sah sie so, wie er
-sie immer gekannt hatte, geteilt zwischen einer Freude und einem Leid,
-immer befähigter, dieses als jene zu empfinden. Er sah sie, wie sie sich
-dem Schmerz ganz hingab und selbst in ihrer Freude irgendeinen Vorwand
-für ihr Leiden suchte, sah sie schon leidenschaftlich, bitter,
-aufgeregt, herausfordernd gegen das Schicksal und böse gegen alle. Ja,
-er war sogar nicht einmal sicher, ob sie nicht gerade jetzt aus dem
-Gefühl des Hasses und der Rache gegen ihn persönlich verärgert sein
-würde, um seiner Gedanken des Friedens und der Versöhnung willen. Daß
-seine Haltung die ganze Familie skandalisierte, wußte er, und bei
-niemandem vermeinte er dafür weniger Duldung zu finden als bei Aline.
-Aber es war ihm ein Bedürfnis, ob sie ihn nun gut oder schlecht
-aufnehmen wollte, mit seinen zärtlichen Gefühlen ihr zu Hilfe zu kommen.
-Und den Rücken gleichsam schon beugend vor dem kalten Wassersturz, dem
-er entgegenging, stieg er die Treppe empor und klingelte an Alinens Tür.
-
-Er fand sie auf dem Bett hingestreckt, ausgeruhten Antlitzes, verjüngt,
-verschönt, zärtlichen Wesens und strahlend vor Glück, neben ihr das
-kleine Kind, das sie an die Seite ihres Bettes hatte stellen lassen. Wie
-eine leuchtende, ältere Schwester des weißgewickelten Säuglings sah sie
-aus, den sie mit dem Lächeln heiterer Bewunderung betrachtete, wie er,
-mit offenem Mäulchen auf dem Rücken liegend, in der Luft seine
-Fingerchen spreizte wie ein Maikäfer seine Beine. Er schien noch ganz in
-die Dumpfheit des unbewußten Lebens versunken, im Traum noch von der
-goldenen Nacht und der Wärme des mütterlichen Schoßes.
-
-Sie begrüßte Clerambault mit triumphierendem Überschwang: „Ah, mein
-guter Onkel, wie lieb Sie sind! Kommen Sie rasch, schauen Sie mein Süßes
-an, meinen Schatz!“
-
-Sie frohlockte, ihr Meisterwerk zeigen zu dürfen, und war jedem dankbar,
-der es beschaute. Nie hatte Clerambault sie so zärtlich und so hübsch
-gesehen. Er beugte sich über das Kind, aber er sah es fast nicht an,
-obwohl er ihm alle höflichen Gesten machte und seiner Bewunderung in
-begeisterten Ausrufen Ausdruck gab, die die Mutter zu erwarten schien
-und im Flug wie eine Schwalbe einstreifte. Er sah sie an, sah nur dieses
-selige Antlitz, diese guten lachenden Augen, dieses gute Kinderlächeln.
-Oh, wie schön ist das Glück, wie tut es wohl!... Alles, was er hatte
-sagen wollen, war seinem Gedächtnis entschwunden. Er fühlte, es war hier
-unnötig, nicht am Platze. Jetzt mußte er nur das Wunder beschauen und
-höflich die Ekstase der kleinen Bruthenne teilen. Ach, welches
-entzückende, eitle, unschuldige Jubellied!
-
-Manchmal freilich überflog seine Augen der Schatten des Krieges, der
-niedrigen und sinnlosen Metzelei, das Bild des toten Sohnes, des
-verschwundenen Gatten, und mit einem traurigen Lächeln über das Kind
-hingebeugt, mußte er denken: „Ach, wozu Kinder in die Welt setzen, für
-eine solche Schlächterei! Was wird der arme Kleine in zwanzig Jahren
-vielleicht sehen müssen!“
-
-Aber sie, sie dachte nicht daran. Jeder Schatten schwand hin an dem
-Licht, das von ihr strahlte. Von all den nahen und fernen Sorgen — ach,
-alle waren jetzt ferne! — nahm sie nichts wahr. Sie strahlte nur: „Ich
-habe einen Menschen geboren.“ Den Menschen, den Menschen, in dem sich
-für jede Mutter immer alle Hoffnungen der Menschheit verkörpern....
-Trauer und Torheit der Stunde, wo seid ihr? Ach, was tut’s! Er ist es ja
-vielleicht, er, der sie enden wird! Für jede Mutter ist das Kind ja
-immer das Wunder, der Heiland!
-
-Erst am Ende seines Besuches wagte Clerambault ein Wort betrübter
-Sympathie in bezug auf ihren Gatten. Sie tat einen tiefen Seufzer: „Ach,
-der arme Armand“, sagte sie, „sie haben ihn wohl gefangen genommen.“
-
-Clerambault fragte: „Hast du darüber etwas gehört?“ —
-
-„O nein, aber es ist doch wahrscheinlich.... Ich bin fast ganz
-sicher.... Man hätte doch sonst was gehört.“ Sie strich mit der Hand wie
-eine Fliege den peinlichen Gedanken fort („Weg mit dir, wie kommst du
-daher?“). Und schon trat das kleine Lachen wieder in ihre Augen. „Weißt
-du“, fügte sie bei, „es ist vielleicht besser für ihn so... jetzt kann
-er sich wenigstens ausruhen... mir ist es lieber, ihn dort zu wissen als
-im Schützengraben...?“
-
-Und dann, ganz ohne Übergang, floß das Gespräch wieder zu der weißen
-Amsel zurück. „Ach, wie wird er selig sein, wenn er mein Kleines, mein
-Liebes, mein Gotteskind sieht!“
-
-Erst als Clerambault sich zum Fortgehen erhob, ließ sie sich herab, auch
-daran zu denken, daß es auf dieser Erde noch für andere ein Leiden gäbe.
-Sie besann sich des Todes Maximes, und sie sagte ihm freundlich
-irgendein kleines Wort der Sympathie. Wie gleichgültig, wie im Grunde
-gleichgültig klang es... aber immerhin, es war guten Willens gesagt. Und
-der gute Wille war etwas so Neues an ihr. Und Wunder über Wunder! Mitten
-in der Zärtlichkeit, mit der das Glück sie überflutete, sah sie eine
-Sekunde das müde Antlitz, das müde Herz des alten Mannes. Sie erinnerte
-sich dunkel, daß er Unklugheiten begangen und dafür Unannehmlichkeiten
-gehabt hatte, und statt ihn auszuschelten, wie es ihre Pflicht war,
-gewährte sie ihm schweigend, mit einem großmütigen Lächeln Verzeihung.
-Wie eine kleine Prinzessin sagte sie zärtlichen Tones, in dem eine
-gönnerhafte Nuance durchschimmerte: „Beunruhige dich nicht, mein guter
-Onkel... es wird schon wieder alles in Ordnung kommen... komm, gib mir
-einen Kuß.“
-
-Und Clerambault ging lächelnd fort, erheitert von der Trösterin, die er
-hatte trösten wollen. Er fühlte, wie wenig unsere Leiden gegenüber der
-lächelnden Gleichgültigkeit der Natur sind. Für sie ist es allein
-wichtig, im Frühjahr zu blühen. Fallet ab, sterbet hin, tote Blätter!
-Der Baum schlägt nur um so schöner aus, und der Frühling blüht dann für
-andre.... O Frühling, o du lieber Frühling!
-
- §
-
-Aber wie unbarmherzig bist du, Frühling, gegen alle jene, denen du nicht
-mehr entgegenblühst, für alle, die ihre Geliebten, ihre Hoffnungen, ihre
-Kraft, ihre Jugend, ihren ganzen Lebenssinn verloren haben!
-
-Die Welt war voll von verstümmelten Seelen und Körpern, die von
-Bitterkeiten zerfressen waren, die einen um ihres verlorenen Glückes,
-die anderen, noch Bemitleidenswerteren, um eines Glückes willen, das sie
-noch gar nicht gekannt hatten und um das man sie in der schönsten
-Entfaltung ihrer Liebesfähigkeit und ihrer zwanzig Jahre gebracht hatte!
-
-An einem nebelnassen und kalten Januarabend kehrte Clerambault vom
-Anstellen vor einem Holzlager zurück. Der Menge, innerhalb derer er
-wartete, bis an ihn die Reihe kam, war schließlich, nachdem sie
-stundenlang auf der Straße gewartet hatte, mitgeteilt worden, daß heute
-nichts mehr verteilt werde. An der Tür seines Hauses hörte er seinen
-Namen aussprechen: ein junger Mann, der einen Brief überbrachte, fragte
-nach ihm beim Hausmeister. Clerambault trat auf ihn zu. Der junge Mensch
-schien von der Begegnung verwirrt. Sein rechter Ärmel war an die
-Schulter aufgesteckt, sein rechtes Auge war unter einer Binde verborgen.
-Man sah an seiner blassen Farbe, daß er eine monatelange Krankheit
-überstanden hatte. Clerambault sprach ihn auf das herzlichste an und
-wollte den Brief entgegennehmen, aber der junge Mann zog ihn rasch
-zurück und sagte, es sei jetzt nicht mehr nötig. Clerambault lud ihn
-ein, zu einem Gespräch zu ihm hinaufzukommen. Der andere zögerte und
-wäre Clerambault ein feiner Beobachter gewesen, so hätte er bemerkt, daß
-der Besucher von ihm fort wollte. Aber ein wenig langsam im
-Gedankenlesen sagte er nur gutmütig:
-
-„Es ist ja wahr, ich wohne ein wenig hoch....“
-
-Sofort in seiner Eitelkeit gereizt, antwortete der andere:
-
-„Ich kann noch ganz gut hinaufsteigen.“
-
-Und er begann sogleich die Treppen hinaufzusteigen.
-
-Clerambault merkte sofort, daß er außer seinen anderen Wunden noch eine
-im Herzen hatte.
-
-Sie setzten sich in seinem ungeheizten Arbeitszimmer zusammen hin. Wie
-das Zimmer, so war auch ihre Unterhaltung anfänglich kalt. Clerambault
-konnte von seinem Besucher nur steife, harte, ein wenig unklare
-Antworten herausbekommen und alle in einem ein wenig gereizten Ton. Er
-erfuhr, daß jener sich Julien Moreau nannte, daß er Universitätsstudent
-war und drei Monate im Spital Val de Grace gelegen hatte. Er lebte
-allein in Paris in einem Zimmer des Quartier Latin, obwohl seine
-verwitwete Mutter und einige Verwandten in Orleans waren. Er sagte nicht
-gleich, warum er nicht zu ihnen gezogen war.
-
-Plötzlich, nach einem Schweigen, entschloß er sich zu sprechen. Mit
-erstickter Stimme, die nur mühsam sich durchzuringen vermochte und erst
-allmählich weicher wurde, sagte er Clerambault, welche Wohltat ihm die
-Lektüre seiner Aufsätze gewesen wäre, die ein Urlauber an die Front
-gebracht hatte, und die dort von Hand zu Hand gingen. Sie entsprachen
-dem erstickten Schrei seiner Seele: „Nicht lügen!“ Die Zeitungen und die
-Schriften, die die Schamlosigkeit hatten, der Armee ein verlogenes Bild
-ihrer selbst zu zeichnen, die gefälschten Briefe von der Front, der
-schauspielerische Heroismus, die übel angebrachten Scherze und die
-widerlichen Windbeuteleien jener Drückebergerschriftsteller, die aus dem
-Tod der anderen pathetische Phrasen drechselten, alle diese Dinge hatten
-sie in Wut gebracht. Ein Greuel waren für sie die fetten und schmutzigen
-Küsse, mit denen diese Prostituierten von der Presse sie feucht
-bedeckten, ein Spott schienen sie ihnen auf ihr Leiden. In ihm, in
-Clerambault, hatten sie endlich ein Echo gefunden.... Nicht als ob
-Clerambault sie verstanden hätte, denn keiner, der ihr Los nicht geteilt
-hatte, konnte sie verstehen. Aber er hatte Mitleid für sie gehabt, er
-hatte einfach und mit Menschlichkeit von jenen Unglücklichen unter allen
-Fahnen gesprochen, hatte gewagt, die allen Völkern gemeinsamen
-Ungerechtigkeiten einmal auszusprechen, die sie alle in gleiche Not
-getrieben. Er hatte nicht ihre Qual verschwiegen, sondern sie in eine
-Höhe des Verstandenwerdens erhoben, in der sie erträglich war.
-
-„Wenn Sie wüßten, wie sehr man eines Wortes wahrer Sympathie bedarf! Es
-hilft nichts, daß man nach alledem, was man gesehen, gelitten und leiden
-gemacht hat, hart geworden ist, daß man alt geworden ist (es gibt unter
-uns Grauköpfe mit gekrümmten Schultern), wir sind doch alle in gewissen
-Augenblicken nur verlorene Kinder, die sich nach ihrer Mutter sehnen, um
-sich trösten zu lassen. Und die Mütter... Ach, die Mütter, sie sind ja
-so fern von uns!... Man bekommt von seiner eigenen Familie Briefe, die
-einen niederschmettern.... Das eigene Blut liefert uns aus.“
-
-Clerambault verbarg sein Gesicht in den Händen und stöhnte.
-
-„Was ist Ihnen?“ sagte Moreau. „Ist Ihnen nicht wohl?“
-
-„Aber Sie bringen mir ja gerade all das Böse, das ich getan habe, in
-Erinnerung.“
-
-„Sie? Nein, Sie nicht! Die anderen!“
-
-„Ich ebenso wie alle anderen. Wir alle haben Vergebung zu erflehen.“
-
-„Sie sind der Letzte, der das sagen sollte.“
-
-„Ich muß der Erste sein, denn ich bin einer der wenigen, die sich über
-ihr Verbrechen selbst Rechenschaft ablegen.“
-
-Und er begann mit einer Anklage gegen seine ganze Generation, unterbrach
-sich aber bald mit einer entmutigten Gebärde.
-
-„Ach, das alles macht ja nichts mehr gut. Erzählen Sie mir lieber, was
-Sie gelitten haben!“
-
-Es war in seiner Stimme so viel Demütigkeit, daß sich Moreau von Liebe
-für diesen alten Mann, der sich selbst anklagte, gleichsam überflutet
-fühlte. Sein Mißtrauen schwand gänzlich hin. Er tat die geheime Tür
-seiner bitteren und schmerzgeprüften Gedanken auf. Er erzählte, daß er
-schon mehrmals bis an die Tür dieses Hauses gekommen wäre, ohne daß er
-sich habe entschließen können, seinen Brief abzugeben (den er übrigens
-noch immer nicht zeigen wollte). Seitdem er das Spital verlassen, war es
-ihm nicht möglich gewesen, mit einem einzigen Menschen zu sprechen. Die
-Leute im Hinterland erbitterten ihn durch die Zurschaustellung ihrer
-kleinlichen Sorgen, ihrer Geschäfte, Vergnügungen und der Einschränkung
-ihrer Vergnügungen, sie erbitterten ihn durch ihren Egoismus, ihre
-Unwissenheit und ihre Verständnislosigkeit. Er fühlte sich unter ihnen
-fremder als unter den Wilden Afrikas. Übrigens — er unterbrach sich und
-fuhr dann erst wieder mit befangenen und erregten Andeutungen fort, die
-ihm nicht aus der Kehle wollten — nicht nur unter ihnen, sondern unter
-allen Menschen fühlte er sich ein Fremder, denn er sei vom Leben, von
-der allgemeinen Freude und Arbeit durch seine Gebrechen jetzt für immer
-abgeschnitten, die aus ihm ein Wrack machten. Es verzehre ihn die
-törichte Scham, einäugig und einarmig zu sein. Die Blicke eiligen
-Bedauerns, die er auf der Straße bemerkte, ließen ihn erröten, denn sie
-waren so von der Seite zugeworfen wie ein Almosen, das man nebenhin
-gibt, das Antlitz vom widerlichen Schauspiel abgewandt. In seiner
-aufgereizten Eigenliebe übertrieb er seine eigene Entstellung. Er
-verabscheute sein Gebrechen, dachte an die verlorenen Freuden, an seine
-zerstörte Jugend. Wenn er Liebespaare vorübergehen sah, so fühlte er
-Eifersucht und schloß sich ein, um zu weinen.
-
-Aber das war noch nicht alles. Und als er den Hauptteil seiner
-Bitterkeit dem Mitgefühl Clerambaults, der ihn zu sprechen ermutigte,
-anvertraut hatte, kam er zum eigentlichen Grund der Qual, die er und
-seine Gefährten, schauernd wie ein Geschwür, das man nicht anzusehen
-wagt, in sich trugen. Aus dem Durcheinander seiner heftigen, dunklen und
-gequälten Worte erkannte Clerambault, was eigentlich die Seele all
-dieser jungen Menschen zerstörte. Es war nicht allein ihre vernichtete
-Jugend, ihr hingeopfertes Leben (obwohl dies schon an sich ein
-furchtbarer Schmerz war.... Es ist ja sehr leicht für kalte Herzen, für
-alte Egoisten und vertrocknete Intellektuelle, von oben herab diese
-Liebe, dies Anklammern an das junge Leben und die Verzweiflung, es zu
-verlieren, zu verurteilen). Das Allerfurchtbarste aber für sie war, daß
-sie nicht wußten, wofür sie dieses Leben hingeopfert hatten, und dann
-der alles vergiftende Verdacht, es sei umsonst vertan. Denn der gemeine
-Wille nach sinnloser Weltherrschaft irgendeiner Rasse oder nach einem
-Stück Land an der Grenze zweier Staaten, konnte nicht genug sein, um den
-Schmerz der Opfer zu mindern. Sie wußten zu gut, daß der Mensch nur ein
-Fußbreit Erde braucht, um zu sterben, und daß das Blut aller Rassen die
-gleiche Quelle des Lebens ist, die darein verströmt.
-
-Clerambault, dem das Bewußtsein seiner Pflicht, des weitaus Älteren in
-der Nähe dieser Jungen, eine ruhige Sicherheit gab, die er sonst für
-sich allein nicht besaß, sagte ihrem Vertreter, ihrem Boten Worte der
-Hoffnung und der Tröstung.
-
-„Nein, euer Leiden ist nicht verloren. Es ist zwar die Frucht eines
-grausamen Irrtums, aber auch der Irrtum ist nicht ohne Sinn. Das Unglück
-von heute ist der gewaltsame Ausbruch eines Übels, das Europa seit
-Jahrhunderten zerfrißt, das Übel des Stolzes und der Gier, des
-gewissenlosen Staatenfanatismusses, der kapitalistischen Pest, jenes
-lügnerischen Triebwerkes der Zivilisation, das aus Unduldsamkeit,
-Heuchelei und Gewalttätigkeit zusammengesetzt ist. Jetzt bricht alles
-zusammen, jetzt ist alles neu aufzubauen. Die Aufgabe ist ungeheuer.
-Mutlosigkeit ist jetzt nicht erlaubt, denn keiner Generation war ein
-größeres Werk je zugedacht als der euren. Es handelt sich jetzt darum,
-klar zu sehen durch das Feuer der Schützengräben und die giftigen Gase,
-mit denen euch ebenso wie der Feind die Antreiber des Hinterlandes den
-Blick verwirren. Es handelt sich darum, den wahren Kampf zu erkennen,
-und der geht nicht gegen ein einzelnes Volk, sondern gegen eine ganze
-ungesunde Gesellschaft, die auf die Ausbeutung und die Eifersucht der
-Völker gegründet ist, auf die Knechtung des freien Gewissens unter die
-Staatsmaschine. Nie hätten die resignierten oder skeptischen Völker
-diesen wahren Kampf mit solcher tragischen Gewißheit erkannt, ohne die
-Leiden dieses Krieges, der sie zerwühlt. Nicht, daß ich damit das Leiden
-segnete — lassen wir diesen Irrtum den Gläubigen der Religionen von
-einst; wir von heute lieben nicht den Schmerz, wir wollen die Freude.
-Kommt aber ein Schmerz über uns, so soll er uns wenigstens dienlich
-sein. Das, was ihr gelitten habt, sollen andere nicht mehr leiden!
-Deshalb gebt nicht nach. Man hat euch da draußen gelehrt, daß, wenn in
-der Schlacht einmal Order zum Angriff gegeben ist, es noch gefährlicher
-ist, zurückzuweichen, als vorzurücken. Seht euch deshalb nicht um, laßt
-eure Ruinen hinter euch und stürmt nur nach vorwärts, der neuen Welt
-entgegen.“
-
-Clerambault merkte, wie die Augen seines jungen Zuhörers, während er
-sprach, zu sagen schienen:
-
-„Mehr! Noch mehr! Gib mir mehr als Hoffnung! Gib mir die Gewißheit, gib
-mir den nahen, den baldigen Sieg!“
-
-Allen Menschen, selbst den Besten, ist so sehr das Bedürfnis nach
-Betrogenwerden angeboren; es genügt ihnen nicht, ihr Opfer einem
-künftigen Ideal zu bringen, sondern sie wollen, daß man ihnen die
-Verwirklichung dieses Ideals für recht bald verspricht, oder daß die
-Belohnung dann wenigstens ewig währe, wie die Religionen es verheißen.
-Jesus fand nur Gläubige, weil man in ihm die Gewißheit eines Sieges in
-dieser Welt oder in jener andern sah. Wer aber wahr bleiben will, darf
-niemals einen Sieg versprechen. Er darf nicht die Gefahren außer acht
-lassen; vielleicht wird das Ziel überhaupt nicht erreicht werden und
-keinesfalls vor Ablauf längerer Zeit. Den Anhängern scheint natürlich
-ein solcher Gedankengang niederschmetternd in seinem Pessimismus: der
-die Lehre aber ausspricht, ist selbst nicht Pessimist. Er hat die Ruhe
-des Menschen, der nach einem Aufstieg von der Höhe aus die ganze
-Landschaft umfängt. Sie aber sehen nur den nackten Hang, den sie noch
-hinaufklimmen müssen. Wie nun kann er ihnen diese Ruhe übermitteln?...
-Wenn die Schüler die Lehre ihres Meisters schon nicht mit seinen Augen
-zu sehen vermögen, so können sie doch wenigstens seine Augen selbst
-sehen, in denen jene Vision widerglänzt, die ihnen noch versagt ist. Sie
-können daraus die Gewißheit schöpfen, daß er um die Wahrheit wisse (sie
-glauben es wenigstens...) und von ihrer Unruhe befreit sei.
-
-Diese seelische Sicherheit, diese innere Harmonie, die die Augen Julien
-Moreaus in denen Clerambaults suchten, besaß Clerambault, der Gequälte
-und Beunruhigte, nicht!... Aber besaß er sie wirklich nicht?... Wie er,
-demütig lächelnd, gleichsam um sich zu entschuldigen, Julien ansah... da
-sah er, daß Julien diese Sicherheit in ihm entdeckt hatte. Und wie man
-gleichsam mitten aus dem Nebel aufsteigend plötzlich im Lichte ist,
-fühlte er, daß das Licht in ihm war. Es war in ihn gedrungen, weil er
-einen andern erleuchten sollte.
-
- §
-
-Erleichtert und erheitert hatte ihn der Unglückliche verlassen.
-Clerambault blieb zurück, betäubt von einer leisen Trunkenheit. Er
-schwieg, um das ganz seltsame Glück einer im eigenen Leben unglücklichen
-Seele zu genießen, die mit einemmal fühlt, daß sie teil hat am Glücke
-anderer Seelen in Gegenwart oder Zukunft. Alle Wesen erstreben Glück,
-tiefes Erfühlen, Fülle des Seins, aber diese Begriffe bedeuten nicht für
-alle das Gleiche. Die einen wollen das Glück als Besitz, für die andern
-genügt als Besitz schon das bloße Schauen, für andere wieder ist der
-Glaube schon das wahre Sehen. Und sie alle, die dieser Instinkt
-verbindet, bilden eine einzige Kette, angefangen von jenen, die nur ihr
-eigenes Glück suchen, über jene, die es für ihre Familie und ihr Volk
-suchen, bis auf zu jenen Wesen, die die ganzen Millionen der Menschen,
-das Glück des Alls umfassen. Wer selbst nicht im Glück lebt, schafft es
-doch den andern, so wie jetzt Clerambault, und weiß nicht darum; denn
-die andern sehen schon das Licht auf seiner Stirn, indes seine Augen
-noch im Schatten sind.
-
-Der Blick des jungen Freundes hatte den armen Clerambault über seinen
-unbekannten Reichtum belehrt, und dieses Bewußtsein einer göttlichen
-Botschaft, die ihm auferlegt war, stellte seine verlorene Bindung mit
-den Menschen wieder her. Sie bekämpften ihn nur, weil er ihr verwegener
-Pfadfinder war, ihr Christoph Kolumbus, der mitten auf dem öden Ozean im
-Trotz darauf beharrte, den Weg zur neuen Welt zu finden. Sie
-beschimpften ihn, aber sie folgten ihm doch. Denn jeder wahre Gedanke,
-sei er verstanden oder nicht, ist ein ausgesandtes Schiff, das die
-nachzüglerischen Seelen im Schlepptau mit sich schleift.
-
-Von diesem Tage an wandte er die Augen von der unabänderlichen Tatsache
-des Krieges und der Toten ab, um sich den Lebenden und der Zukunft, die
-in unserer Hand ruht, zuzuwenden. Möge die Anziehung derjenigen, die wir
-verloren haben, noch so mächtig sein und uns schmerzlich locken, zu
-ihnen hinabzusteigen, so müssen wir uns doch dem gefährlichen Hauch
-entreißen, der, wie in Rom, von der Gräberstraße aufsteigt. „Vorwärts!
-Halte dich nicht auf, du hast noch kein Recht, so wie jene zu ruhen!
-Denn andere bedürfen deiner. Sieh nur auf sie, wie sie gleich den
-Trümmern der großen Armee sich hinschleppen und in der düsteren Weite
-den verlorenen Weg suchen.“
-
-Clerambault wurde des düsteren Pessimismus gewahr, der sich dieser
-jungen Leute nach dem Kriege zu bemächtigen drohte, und diese Erkenntnis
-quälte ihn. Die moralische Gefahr war groß, aber um sie kümmerte sich
-die Regierung natürlich am wenigsten. Sie handelte wie die schlechten
-Kutscher, die mit Peitschenschlägen das Pferd antreiben, um im Galopp
-über einen steilen Abhang hinaufzukommen. Das Pferd kommt auch wirklich
-hinauf, aber der Weg ist droben noch nicht zu Ende und das Pferd bricht
-zusammen. Es ist krumm für sein Leben... Mit welcher Begeisterung waren
-doch die jungen Menschen in den ersten Monaten des Krieges in den Sturm
-gerast! Dann war die Leidenschaft verraucht, aber das Tier blieb
-angeschirrt und von der Deichsel aufrecht gehalten; man peitschte rings
-um das müde Wesen eine künstliche Erregung auf, man mischte wundervolle
-Hoffnungen in sein tägliches Futter und, ob auch der Alkohol der
-Betäubung darin jeden Tag mehr verdunstete, so konnte es doch nicht
-zusammenbrechen. Und das gequälte Tier beklagte sich nicht einmal, ihm
-fehlte die Kraft zu denken. Und worüber und bei wem hätte es sich
-beklagen sollen? Es gab eine stillschweigende Vereinbarung gegen alle
-diese armen Opfer, nicht auf sie zu hören, sich taub zu stellen und zu
-lügen.
-
-Aber Tag für Tag warf die rücklaufende Flut der Schlachten ihre Trümmer
-auf den Sand hin — die Verstümmelten und Verwundeten. Und durch sie kam
-zum erstenmal das Brausen der Tiefe dieses menschlichen Ozeans ans
-Licht. Die Unglücklichen, die plötzlich von dem Polypen, dessen Glieder
-sie bildeten, losgerissen waren, fühlten, daß sie sich im Leeren regten
-und nichts mehr erfassen konnten, weder ihre Leidenschaft von gestern,
-noch den Traum der Zukunft. Und voll Angst fragten sie sich, die einen
-nur dumpf, wenige andre mit einer grausamen Klarheit, wofür sie gelebt
-hätten, wofür man lebt....
-
-„Da jener, der zerstört wird, leidet, und derjenige, der vernichtet,
-daran keinen Genuß findet und bald ebenso vernichtet wird, so sage mir,
-was kein Philosoph zu beantworten weiß, wessen Gefallen, oder wessen
-Nutzen dient dieses unglückselige Leben des Weltalls, das sich zum
-Schaden und durch den Tod aller Kreaturen, aus denen es gebildet ist,
-einzig erhält?“ fragt Leopardi.
-
- §
-
-Es war dringend notwendig, darauf eine Antwort zu geben und für jene
-einen Sinn des Lebens zu finden. Ein Mann im Alter Clerambaults hat
-einen Sinn des Lebens nicht so nötig. Er hat schon gelebt, ihm kann es
-genug sein, sein Gewissen freizumachen: das ist für ihn gleichsam sein
-öffentliches Testament. Aber für diese jungen Leute, die ihr ganzes
-Leben noch vor sich haben, kann es nicht genug sein, die Wahrheit auf
-einem Leichenfelde zu sehen. Wie immer auch die Vergangenheit gewesen
-sei, für sie zählt doch nur die Zukunft. Ihnen muß man die Trümmer aus
-dem Wege räumen!
-
-Woran leiden diese jungen Menschen am meisten? An ihrer eigenen Qual? —
-Nein! Sondern an ihrem Zweifel an dem Glauben, dem sie diese Qual zum
-Opfer dargebracht haben. (Würde man denn irgendein Bedauern haben, sich
-für die Frau geopfert zu haben, die man liebt, oder für sein Kind?) Und
-dieser Zweifel vergiftet sie, er nimmt ihnen die Kraft, auf ihrem Weg
-weiter fortzuschreiten, weil sie fürchten, an seinem Ausgang die
-Verzweiflung zu finden. Deshalb ruft man euch ja zu: „Hütet euch, das
-Ideal des Vaterlandes zu erschüttern! Trachtet lieber, es
-wiederherzustellen.“ Welch ein Hohn! Kann man denn wirklich durch seinen
-Willen einen Glauben wiederherstellen, den man einmal verloren hat? Man
-kann sich höchstens selbst belügen, und das weiß man in seiner tiefsten
-Seele. Und gerade dieses uneingestandene Bewußtsein tötet den Mut und
-die Freude.
-
-So habt den Mut und verwerft den Glauben, an den ihr nicht mehr glaubt!
-Die Bäume müssen, um neu zu grünen, ihr Herbstlaub abschütteln. So sollt
-ihr aus euren verlorenen Illusionen, wie die Bauern aus dem welken Laub,
-ein Feuer machen, dann wird das neue Grün, der neue Glaube nur schöner
-aufwachsen. Denn der neue Glaube kann warten. Die Natur stirbt nicht,
-sie verwandelt nur ewig ihre Formen. Laßt doch, wie sie, das
-abgestorbene Kleid der Vergangenheit hinsinken!
-
-Seht nur recht hin, zieht die Bilanz dieser harten Jahre! Ihr habt
-gekämpft und für das Vaterland gelitten. Und was habt ihr dabei
-gewonnen? Ihr habt die Brüderlichkeit der Völker entdeckt, die sich
-bekämpfen und miteinander leiden. Ist diese Erkenntnis zu teuer bezahlt?
-Nein, wenn ihr nur euer Herz sprechen laßt, wenn ihr wagt, es dem neuen
-Glauben aufzutun, der gerade, als ihr es am wenigsten erwartetet, zu
-euch gekommen ist.
-
-Das Täuschende und Niederdrückende ist, daß der Mensch an sein
-anfängliches Ziel gebunden bleibt. Glaubt er dann nicht mehr an dieses
-Ziel, so glaubt er, jetzt sei alles verloren. Nun bringt niemals eine
-große Tat gerade jene Wirkung hervor, die man von ihr erwartete, und es
-ist gut so, denn fast immer übertrifft die tatsächliche Wirkung die
-erwartete und ist ganz anderer Art als sie. Weise sein heißt nicht, mit
-seiner fertigen Weisheit schon auszuziehen, sondern sie erst unterwegs
-in Aufrichtigkeit zu entdecken. Wagt es, euch einzugestehen, daß ihr
-nicht mehr dieselben Menschen seid wie 1914, und wagt es zu sein: Dies
-wird dann der Hauptgewinn oder vielleicht der einzige Gewinn dieses
-Krieges sein.... Aber werdet ihr es wirklich wagen? So viele Beweggründe
-vereinen sich ja, euch zu entmutigen; die Müdigkeit aller dieser Jahre,
-die alten Gewohnheiten, die Furcht vor der Anstrengung, in das eigene
-Ich hinabzublicken, das Abgestorbene auszujäten, das Lebendige zu
-bejahen und dann irgendein abergläubischer Respekt vor dem Alten, die
-faule Vorliebe für das, was man schon kennt (sei es selbst schlecht, sei
-es selbst tödlich), das träge Bedürfnis nach billiger Klarheit, das
-einen lieber ins alte Geleise zurückkehren läßt als neuen
-selbstgebahnten Wegen entgegengehen. Ist es denn nicht das Ideal der
-meisten Franzosen von Kindheit an, irgendeinen fertigen Lebensplan in
-die Hand zu bekommen und ihn nicht mehr zu ändern?... Ach, daß doch
-wenigstens dieser Krieg, der so viele eurer Heimstätten zerstört hat,
-euch zwingen würde, aus eurem Schutt herauszutreten, eine neue Heimstatt
-zu gründen und neue Wahrheiten zu suchen!
-
- §
-
-Vielen dieser jungen Leute fehlte es nicht an Verlangen, mit der
-Vergangenheit zu brechen und in neue Welten einzutreten — im Gegenteil:
-sie hatten es allzu hastig damit. Noch waren sie aus ihrer alten Welt
-nicht heraus, so begannen sie schon, die neue gründen zu wollen. Nur
-rasch, nur keinen Übergang! Eine reinliche Scheidung! Entweder bewußte
-Unterwerfung unter das Vergangene oder Revolution!
-
-So empfand auch Moreau. Er machte aus der Hoffnung Clerambaults auf eine
-soziale Erneuerung eine Gewißheit. Und in seiner Aufforderung, geduldig
-Tag für Tag sich die neue Wahrheit zu erobern, hörte er nur einen Appell
-zur gewaltsamen Aktion, die sie sogleich erzwingt!
-
-Er führte Clerambault in zwei oder drei Kreise junger Intellektueller
-revolutionärer Richtung ein. Sie waren nicht sehr zahlreich, in allen
-Zusammenkünften begegnete man immer wieder den selben. Von Staats wegen
-wurden sie überwacht, was ihnen eher mehr Bedeutung gab, als wenn das
-nicht geschehen wäre. Elende Macht, bis an die Zähne bewaffnet, über
-Millionen von Bajonetten, über eine Polizei und eine Justiz, beide
-folgsam und zu allem bereit, verfügend, bist du dennoch stets furchtsam
-und kannst es nicht ertragen, daß ein Dutzend freier Geister sich
-versammelt, um über dich zu richten! Dabei hatten diese jungen Leute
-durchaus nicht die Art von geheimen Verschwörern. Im Gegenteil, sie
-taten alles mögliche, um verfolgt zu werden, aber ihre ganze Tätigkeit
-beschränkte sich auf Worte. Was hätten sie auch anders tun können? Sie
-waren isoliert von der großen Menge ihrer geistigen Gefährten, die die
-große Maschine des Krieges aufsog, die die Armee verschlang und nur dann
-zurückgab, wenn sie für sie unbrauchbar geworden waren. Was gab es denn
-noch an europäischer Jugend im Hinterland? Abgesehen von den
-Drückebergern, die sich nur allzuoft zu den traurigsten Diensten
-mißbrauchen ließen und die anderen zum Kampfe hetzten, damit man
-vergesse, daß sie selber nicht kämpften, setzten sich die Repräsentanten
-der jungen Generation — _rari nantes_ —, die im Zivildienst verblieben
-waren, nur aus gänzlich Kriegsuntauglichen zusammen, zu denen sich
-allmählich die Schwerverwundeten wie Moreau gesellten. In diesen
-verstümmelten und untergrabenen Körpern war die Seele gleich brennenden
-Kerzen in einer Laterne mit zerbrochenen Fenstern: sie verzehrte sich,
-sie züngelte und rauchte, ein Windstoß konnte sie auslöschen. Aber da
-sie mit ihrem Leben nicht mehr rechneten, schlug die Glut daraus nur um
-so höher.
-
-Diese Seelen hatten übergangslose Stimmungen vom äußersten Optimismus
-bis zum äußersten Pessimismus. Und diese heftigen Schwankungen des
-Barometers entsprachen nicht immer dem Luftdruck der äußeren Ereignisse.
-Der Pessimismus war nur zu leicht erklärlich. Erstaunlicher war aber der
-Optimismus, für den man kaum hätte Vernunftsgründe finden können. Sie
-waren ja nur eine Handvoll, die nichts tun konnte, gar keine Möglichkeit
-zur Tat hatte, und jeder neue Tag schien ihre Gedanken sinnloser zu
-machen. Aber je schlechter es stand, um so zufriedener schienen sie zu
-sein. Sie besaßen einen Desperadooptimismus, jene tolle Gläubigkeit der
-fanatischen und unterdrückten Minorität, die den Antichrist braucht,
-damit der Christus wiederkehre. Sie erwarteten gerade aus den Verbrechen
-der alten stürzenden Weltordnung die neue Weltordnung, und es war ihnen
-gleichgültig, ob sie selbst dabei zugrunde gingen mit all ihren Träumen.
-Diese jungen Unbedingten, die Clerambault kennen lernte, sahen ihr
-Hauptziel darin, eine bloß teilweise Verwirklichung ihrer Träume
-innerhalb der alten Ordnung zu verhindern. Alles oder nichts! Die Welt
-zu verbessern, schien ihnen lächerlich. Entweder eine vollendete Welt,
-oder sie soll zugrunde gehen. Dieser mystische Glaube an den großen
-Umsturz, an eine Weltrevolution spukte gerade in jenen Fieberköpfen am
-leidenschaftlichsten, die am wenigsten an die Träume der Religionen
-glaubten.... Und dabei waren sie selber religiöser als alle Gläubigen
-der Kirche.... O tolle irdische Rasse! Es ist immer derselbe Glaube an
-das Absolute, der die Narren des Völkerkrieges, die Narren des
-Klassenkampfes, die Friedensnarren in dieselbe Trunkenheit, in dieselbe
-Vernichtung reißt! Fast möchte man glauben, daß die Menschheit, als sie
-aus dem brennenden Schlamm der Schöpfung auftauchte, einen Sonnenstich
-empfing, von dem sie nie geheilt ward und der sie von Zeit zu Zeit mit
-solchen Fieberanfällen durchschüttelt.
-
-Oder sind vielleicht diese Mystiker der Revolution Wegbereiter von
-Verwandlungen, die in der Rasse keimen — vielleicht noch Jahrhunderte
-keimen — und die vielleicht niemals aufblühen werden? Denn es gibt in
-der Natur immer Tausende von schlummernden Möglichkeiten für eine
-einzige Erfüllung innerhalb jener Frist, die unserer Menschheit zuteil
-geworden ist.
-
-Vielleicht ist es gerade das dunkle Gefühl dessen, was sein könnte und
-doch nie sein wird, das manchmal dem revolutionären Mystizismus eine
-andere, seltenere und tragischere Form gibt — den ekstatischen
-Pessimismus, der fieberig zum Selbstopfer drängt. Wie viele dieser
-Revolutionäre haben wir gekannt, die im geheimen von der
-zerschmetternden Übermacht des Bösen, von der unausbleiblichen
-Niederlage ihres Glaubens überzeugt waren und sich doch liebend
-begeisterten für das besiegte Ideal — „... _sed victa Catoni_“ — und
-für die Hoffnung, für es zu sterben, zu vernichten und vernichtet zu
-werden. Wie viel tolle Glut hat die zerschmetterte Kommune, nicht durch
-ihren Sieg, sondern durch die Art ihrer Zerschmetterung aufflammen
-lassen! Es scheint, daß selbst in den Herzen der ärgsten Materialisten
-ein Funke der ewigen Flamme, der mißhandelten, verleugneten und doch
-immer neu bekundeten Hoffnung lebt, jenes unzerstörbaren Traumes aller
-Unterdrückten von einer besseren jenseitigen Welt.
-
- §
-
-Diese jungen Leute nahmen Clerambault mit verehrungsvoller Zuneigung
-auf. Sie versuchten, ihn ganz zu dem ihrigen zu machen, die einen, weil
-sie in seinen Gedanken das zu lesen glaubten, was sie selber glaubten,
-die anderen in der Überzeugung, dieser gute alte Bürger, für den das
-Gefühl bisher der einzige, zwar edle aber unzulängliche Führer gewesen,
-würde sich nun durch ihr gestrafftes Wissen überzeugen lassen und mit
-ihnen bis an die äußersten logischen Konsequenzen ihrer Anschauungen
-gehen. Clerambault setzte sich nur schwach zur Wehr, denn er wußte, daß
-nichts in der Welt einen jungen Menschen überzeugen konnte, der sich
-eben auf ein System festgelegt hat. In diesem Lebensalter ist jede
-Diskussion vergebens. Etwas früher, in den vorausgehenden Jahren, wo der
-Einsiedlerkrebs noch seine Schale sucht, kann man auf ihn wirken, und
-dann wiederum später, wenn die Muschel abfällt oder schon, wenn sie ihn
-in seinen Bewegungen stört. Aber solange das Kleid noch neu ist, gilt
-nur eines: es ihm zu lassen, denn es ist ihm ja angepaßt. Wächst er es
-aus oder wird es ihm zu groß, so drängt es ihn schon selbst, ein anderes
-zu suchen. Nur keinen Zwang, aber sich auch von niemandem zwingen
-lassen!
-
-Niemand in diesem Kreise dachte, zum mindestens anfangs, daran,
-Clerambault zu vergewaltigen. Aber seine Gedanken wurden manchmal ganz
-seltsam nach dem Geschmack seiner Gäste verändert und seine Ideen hatten
-eine höchst sonderbare Resonanz in ihrem Munde. Clerambault ließ seine
-Freunde reden, er selbst sprach nicht viel, und wenn er dann nach Hause
-kam, war er verwirrt und ein wenig ironisch.
-
-„Sind das wirklich meine Gedanken?“ fragte er sich.
-
-Wie ist es doch schwer, seine Seele anderen Wesen mitzuteilen.
-Vielleicht unmöglich sogar. Und wer weiß — die Natur ist ja um so viel
-klüger als wir — vielleicht ist es für uns gut so.
-
-Seine Ideen vollständig aussprechen — kann man es überhaupt, soll man
-es überhaupt? Langsam ist man zu ihnen gelangt, mit Mühe, auf dem Wege
-vieler Prüfungen, und nun halten sie gewissermaßen die
-Gleichgewichtsschwebe zwischen unseren inneren Elementen. Ändert man
-diese Elemente, ihre Zusammensetzung und ihre Art, so ist die Formel
-natürlich sofort ungültig und bringt ganz andere Wirkungen hervor.
-Könnten wir unsere Gedanken plötzlich in ihrer Gänze auf einmal in einen
-anderen Menschen hineinschleudern, so bestünde die Gefahr, daß er toll
-würde, ja es gibt sogar Fälle, wo der andere, wenn er sie verstände,
-daran sterben würde. Aber die weise Natur hat ihre Vorsichtsmaßregeln
-getroffen. Der andere versteht uns nicht, er kann uns nicht verstehen.
-Sein Instinkt wehrt sich dagegen. Er fühlt nur den Anstoß unserer Idee
-gegen die seine, und wie auf dem Billard wird die Kugel wieder
-weggestoßen, nur ist es hier weniger leicht vorauszusehen, gegen welche
-Stelle der grünen Wand. Die Menschen hören nicht bloß mit dem reinen
-Geist, sondern auch gleichzeitig mit ihren Leidenschaften und ihrem
-Temperament. Von dem, was man ihnen gibt, nimmt sich jeder nur, was ihm
-paßt und wirft den Rest zurück, und zwar aus einem dunkeln Instinkt der
-Verteidigung. Die Vernunft tut sich nie einem neuen Gedanken sofort auf,
-sie kontrolliert ihn gleichsam am Schalter, ehe sie ihn hereinläßt, und
-sie läßt nur das herein, was ihr genehm ist. Was hat man aus den hohen
-Gedanken eines Jesus und eines Sokrates gemacht! Zu ihrer Zeit hat man
-sie getötet, um dann zwanzig Jahrhunderte später aus ihnen Götter zu
-machen, was ja nur eine andere Form ist, sie noch einmal zu töten; denn
-man wirft damit ihren Gedanken ins Himmelreich zurück. Würde man ihn
-sich in dieser unserer irdischen Welt verwirklichen lassen, so wäre ihr
-Ende gekommen. Das wußten sie selbst, und das Größte ihrer Seele ist
-vielleicht nicht, was sie ausgesprochen, sondern was sie verschwiegen
-haben. Wie pathetisch ist doch die Beredsamkeit des Schweigens bei
-Jesus, wie schön der Schleier über den antiken Symbolen und uralten
-Mythen, um die schwachen und furchtsamen Augen zu schonen! Allzu oft ist
-das Wort, das für einen das Leben bedeutet, für den anderen der Tod
-oder, was noch ärger ist, der Mord.
-
-Was also tun, wenn man die Hände voll hat mit Wahrheiten? Soll man die
-Saat im vollen Wurfe ausstreuen? Aber dem Samen des Gedankens kann
-Unkraut oder Gift entwachsen!....
-
-Vorwärts! Zage nicht! Du bist nicht der Herr des Schicksals, aber du
-bist auch selbst Schicksal, du bist eine seiner Stimmen. So sprich! Das
-ist die dir zugeteilte Aufgabe! Sag alles, was du denkst, aber sage es
-mit Güte! Sei wie eine gute Mutter, der es nicht gegeben ist, aus ihren
-Kindern vollkommene Menschen zu machen, sondern nur zu versuchen, sie
-geduldig zu unterrichten, damit sie es werden, wenn sie es selber werden
-wollen. Man kann andere nicht gegen ihren Willen oder ohne ihre Mithilfe
-befreien. Und selbst wenn dies möglich wäre, was hätte es für einen
-Sinn? Denn wenn sie sich nicht selbst befreien, fallen sie schon morgen
-wieder in ihre Sklaverei zurück. Man muß ein Beispiel geben und sagen:
-„Hier ist der Weg! Seht, man kann sich befreien!“
-
- §
-
-Trotz all seinen Bemühungen, männlich zu handeln und die Folgen seines
-Tuns den Göttern zu überlassen, war es doch ein Glück für Clerambault,
-daß er nicht die ganze Tragweite seiner Ideen überblickte. Denn seine
-eigentliche Absicht war ja, ein Reich des Friedens zu gründen, in
-Wirklichkeit aber wirkte seine Idee wohl in beträchtlichem Maße an der
-Entfesselung des sozialen Kampfes mit. So paradox es scheint, es ist
-dies das Schicksal jedes wahren Pazifismus, weil er eine Verurteilung
-des Gegenwärtigen bedeutet.
-
-Aber Clerambault war sich im unklaren darüber, daß gefährliche Mächte
-eines Tages sich auf ihn berufen würden. Und in einer seltsamen
-Gegenwirkung auf die Gewalttätigkeit dieser jungen Leute arbeitete sich
-sein Geist gerade unter ihnen immer mehr zu einer gewissen Harmonie
-durch. Je weniger jene — sie unterschieden sich darin gar nicht von
-vielen Nationalisten, die sie bekämpften — auf das Leben gaben, um so
-höher schätzte er es für seinen Teil. Jenen war die Idee fast durchweg
-wichtiger als das Leben. (In diesem Wahn erblickt ja die allgemeine
-Meinung eine Größe der Menschheit.)
-
-Dennoch fühlte sich Clerambault sehr beglückt, unter ihnen auch einen
-Menschen zu finden, der das Leben um des Lebens willen liebte. Es war
-ein Kamerad Moreaus namens Gillot, schwer verwundet wie jener, und in
-seinem Zivilberufe Zeichner in einer Fabrik. Ein Geschoß hatte ihn von
-oben bis unten mit Splittern übersät. Er hatte ein Bein verloren und
-sein Trommelfell war gesprengt. Aber Gillot wehrte sich mit mehr Energie
-gegen das Schicksal als Moreau. In den lebhaften Augen dieses kleinen
-dunkelbraunen Burschen brannte trotz allem eine Flamme der Heiterkeit.
-Er war ganz einig mit Moreau in der Verurteilung der Sinnlosigkeit des
-Krieges und der Verbrechen der modernen Gesellschaft, sie hatten
-dieselben Dinge und dieselben Menschen gesehen, aber mit verschiedenen
-Augen. Und es kam oft zu Diskussionen zwischen beiden.
-
-„Ja“, sagte Gillot eines Tages, als Moreau gerade Clerambault eine
-grauenhafte Erinnerung aus dem Schützengraben erzählte, „ja so war
-es..., nur steckt noch etwas Ärgeres dahinter, nämlich, daß das alles
-auf uns keinen, gar keinen Eindruck machte.“
-
-Moreau protestierte empört.
-
-„Auf dich vielleicht, und vielleicht auf zwei oder drei andere, da und
-dort. Aber die große Masse!... Schließlich hat man bei den Dingen
-überhaupt nichts mehr gefühlt.“
-
-Und Gillot fuhr rasch fort, um einen neuen Protest Moreaus im voraus zu
-unterdrücken:
-
-„Ich sage das ja nicht, mein Lieber, um etwas aus uns zu machen — dazu
-ist ja wahrhaftig kein Anlaß. Ich sage es nur, weil es eben so ist....
-Sehen Sie (er wendete sich jetzt an Clerambault), die Leute, die von
-dort zurückkommen und die das in Büchern erzählen, die sagen ja
-wirklich, was sie fühlen. Aber diese Leute fühlen eben viel mehr als die
-meisten Sterblichen, weil sie Künstler sind. So einen reizt eben alles
-in den Nerven auf. Unsereins ist abgebrüht, und wenn ich jetzt daran
-denke, scheint mir diese Fühllosigkeit das Ärgste von allem. Wenn Sie
-hier eine von den Geschichten lesen, die Ihnen die Haare zu Berge stehen
-lassen oder bei denen sich Ihnen der Magen umdreht, so fehlt noch immer
-die Pointe daran: nämlich, daß ein paar Burschen dort vorne stehen, ihre
-Pfeife rauchen, Witze reißen oder an etwas anderes denken. Und das ist
-ja nötig, denn sonst krepierte man ja.... Der Mensch hat eben eine
-grauenhafte Fähigkeit, sich an alles anzupassen.... Ich glaube, er würde
-ganz gut in einer Düngergrube gedeihen. Es ist ja wahr, man kann ein
-Grausen vor sich kriegen, aber ich, der ich da zu Ihnen rede, ich bin
-selbst so gewesen. Ich habe nicht, wie es der Kleine da tut, meine Zeit
-damit verbracht, herumzusinnieren. Wie alle Welt, fand ich das, was ich
-zu tun hatte und tun mußte, blödsinnig. Aber da das ganze Leben eben
-blödsinnig ist — ich habe doch recht? —, so tat man eben, was man tun
-mußte, tat, soviel eben nötig war und wartete, bis es aufhörte....
-Wartete auf irgendein Ende, auf dieses oder jenes, auf das meines
-Kadavers oder das des Krieges. Irgend etwas mußte ja doch einmal zu Ende
-sein... Zwischendurch hat man eben gelebt, geschlafen, gefressen,
-geschissen, Verzeihung, — aber man muß die Wahrheit sagen — und wenn
-Sie, mein Herr, den Grund von dem allen wissen wollen — der Grund ist
-eben, daß man das Leben nicht liebt. Ja, man liebt es nicht genug. Sie
-haben sehr recht, wenn Sie in einem Ihrer Aufsätze sagen, es ist
-wundervoll, das Leben. Aber jetzt sind nicht eben sehr viele, die danach
-aussehen, als ob sie das glauben würden, zumindest unter denen, die
-wirklich wach leben. Eher schon unter jenen, die schlafen und auf den
-letzten großen Schlaf warten. Die sagen sich: „So liegt man wenigstens
-schon und braucht sich nicht mehr zu rühren.“ Nein, man liebt es nicht
-genug, das Leben, man lehrt es uns ja auch nicht, es zu lieben, im
-Gegenteil, man tut alles, was man kann, um es uns widerlich zu machen.
-Von Kindheit an singt man uns Lobpreisungen auf den Tod, auf die
-Schönheit des Todes oder einen Hymnus auf die, die schon gestorben sind.
-Die Geschichte, der Katechismus, der „Heldentod für das Vaterland“!
-Pfaffen und Patrioten blasen es in einem Atem, und schließlich wird
-einem das Leben selber ekelhaft. Man möchte sagen, es geschieht heute
-das Möglichste, um es einem so dreckig als möglich erscheinen zu lassen.
-Nirgends eine eigene Initiative mehr, alles Mechanismus, und dabei nicht
-einmal Ordnung: keiner leistet mehr ganze Arbeit, jeder nur Stückwerk,
-und man weiß gar nicht mehr, was für einen Sinn es hat, und meist hat es
-auch gar keinen Sinn. Es ist ein verdammtes Durcheinander, von dem man
-nicht einmal etwas hat. Wie ein Hering ist man irgendwo eingepackt und
-hingeschmissen. Man weiß nicht, warum man lebt. Man lebt und kommt nicht
-weiter. Vor grauen Tagen haben, so sagt man, die Großväter für uns die
-Bastille erstürmt, und jetzt tun diese Lumpen, die das Heft in der Hand
-haben, so, als gäbe es für uns nichts mehr zu tun, als wäre schon das
-Paradies auf Erden fertig. Steht es denn nicht auf allen unseren
-Denkmälern geschrieben? Und doch weiß man, daß es nicht wahr ist, daß
-irgend ein anderer Sturm sich vorbereitet, eine andere Revolution....
-Freilich! Jene von damals ist so schlecht gelungen! Und alles ist so
-unklar... Nein, man hat kein Vertrauen, man sieht nicht, wohin man geht,
-es ist keiner da, der uns über diesem Kot und Sumpf irgend etwas Schönes
-und Hohes zeigt.... Ja, sie tun alles, was sie können, jetzt, um uns in
-Schwung zu bringen: Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit.... Aber der
-Schwindel zieht nicht mehr.... Man kann zwar dafür sterben, dazu sagt
-man niemals nein... aber leben, das ist etwas anderes.“
-
-„Und nun?“ fragte Clerambault.
-
-„Ah, jetzt, jetzt, wo man nicht mehr zurück kann, jetzt denke ich immer
-nur: Wenn man noch einmal von vorne anfangen könnte.“
-
-„Und wann hat sich das Gefühl bei Ihnen so geändert?“
-
-„Das ist das Tollste! Sofort nach meiner Verwundung. Kaum war ich mit
-einem Bein aus dem Leben draußen, so wollte ich schon wieder ins Leben
-zurück. Wie schön es doch eigentlich war — nur hatte man, Esel, der man
-war, es nicht bemerkt.... Denken Sie, ich sehe mich noch, wie ich zum
-erstenmal zum Bewußtsein kam, dort auf jenem Trümmerfeld, noch mehr
-zerfetzt als die Leichen, die dort kunterbunt übereinander und
-durcheinander, wie bei einem Kegelspiel, lagen. Die ganz besudelte Erde
-schien selbst zu bluten. Es war vollkommen Nacht, und ich fühlte zuerst
-nichts, als daß es mich fror. Ich lag ganz starr.... Welches Stück von
-mir fehlte mir eigentlich? Ich hatte keine Eile, mit dem Nachsehen zu
-beginnen, denn mir graute vor dem, was da zutage kommen könnte, und ich
-wollte mich nicht rühren. Sicher war, daß ich noch lebte, vielleicht nur
-noch einen Augenblick, aber ich gab verteufelt acht, diesen nicht zu
-verlieren....
-
-Ich sah am Himmel ein Raketensignal. Was es bedeutete, darum bekümmerte
-ich mich nicht mehr. Aber wie es aufstieg, sich bog und die feurigen
-Blumen dann ausschüttete — ich kann Ihnen nicht sagen, wie schön ich
-das fand, ich sog es mit allen Sinnen ein.... Und auf einmal sah ich
-mich als ganz kleines Kind, bei der Samaritaine am Ufer der Seine, an
-einem Abend, wo es Feuerwerk gab, und ich sah dieses Kind, als ob es ein
-anderes wäre, das mich amüsierte und mir leid tat. Und dann dachte ich,
-daß es doch gut sei, in das Leben hineingepflanzt zu sein und zu wachsen
-und irgendetwas, irgendjemand, gleichgültig wen, zu haben und ihn zu
-lieben. Sehen Sie, das kam nur von dieser Rakete.... Dann kamen die
-Schmerzen, ich begann zu brüllen, ich steckte wieder den Kopf in das
-Loch hinein.... Dann kamen die Leute vom Hilfsplatz... ich hatte dort
-kein gutes Leben, der Schmerz fraß mir wie ein Hund an den Knochen...
-fast wäre es besser gewesen, dort im Loch geblieben zu sein... und
-doch... selbst dort, und gerade dort... welches Paradies schien es mir,
-noch einmal so leben zu können wie einst, nur zu leben, zu leben ohne
-Schmerzen, so wie man jeden Tag lebte... Und man merkte es nicht! Ohne
-Schmerzen... ohne Schmerzen... und leben!... Aber das ist ein Traum.
-Wenn der Schmerz nur einen Augenblick aufhörte, wenn man nur eine Minute
-Ruhe hatte und bloß den Geschmack der Luft auf der Zunge fühlte und den
-Körper so leicht nach aller Qual.... Himmel, wie schön das war.... Und
-so war früher das ganze Leben gewesen, und man hatte es nur nicht
-bemerkt.... Mein Gott, wie dumm man ist, erst dann das alles zu
-verstehen, wenn man’s nicht mehr hat. Und wenn man es dann endlich liebt
-und um Verzeihung bittet, daß man’s nicht zu schätzen wußte, dann
-antwortet einem das Leben: Zu spät!“
-
-„Es ist nie zu spät“, sagte Clerambault.
-
- §
-
-Gillot verlangte nichts sehnlicher, als ihm zu glauben. Dieser gebildete
-Arbeiter war für den Lebenskampf viel besser ausgerüstet als Moreau und
-selbst als Clerambault. Nichts konnte ihn dauernd niederdrücken: fällt
-man einmal hin, so steht man wieder auf. Man wird schon einmal Rache
-dafür nehmen. In seinem tiefsten Herzen dachte er bei allen
-Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellten: „Man wird’s schon
-schaffen“, und war bereit, mit der einzigen Pfote, die ihm blieb, darauf
-loszumarschieren, so weit es nottat, und je früher, je lieber. Denn auch
-er, wie alle anderen, glaubte inbrünstig an die Revolution und reimte
-sie mit seinem Optimismus zusammen, der den Umsturz von vornherein in
-Milde vollendet sah. Er war ohne jede Gehässigkeit.
-
-Und doch konnte man sich darauf nicht verlassen, denn in diesen Seelen
-aus dem Volke sind viele Überraschungen versteckt. Sie sind zu leicht zu
-verführen und jeder Veränderung geneigt... So hörte Clerambault eines
-Tages, wie Gillot mit seinem Frontkameraden Lagneau, der gerade auf
-Urlaub da war, davon sprach, alles krumm und klein zu schlagen, wenn die
-Eingerückten wiederkämen und der Krieg zu Ende sei, oder vielleicht noch
-früher.... Der Franzose aus dem Volk, der oft so bezaubernd, lebhaft und
-munter ist und einen Gedanken, fast ehe man ihn noch ausgesprochen hat,
-erfaßt — mein Gott, wie rasch vergißt er auch! Vergißt alles, was man
-gesagt hat, was er selber gesagt hat, was er gesehen, geglaubt, gewollt
-hat, und glaubt dabei immer dessen sicher zu sein, was er will, was er
-sagt, sieht und glaubt. Vor Lagneau entwickelte Gillot ganz ruhig genau
-die entgegengesetzten Ideen wie jene, die er gestern gegen Clerambault
-verteidigt hatte, und nicht nur seine Ideen hatten sich verwandelt,
-sondern auch gewissermaßen sein Temperament. Am Morgen war ihm nichts
-wild genug gewesen für sein Bedürfnis nach Tat und Zerstörung, abends
-träumte er wiederum von nichts anderem, als irgendwo ein kleines
-Geschäft zu haben, dick zu verdienen, gut zu essen, ein paar Kinder
-aufzuziehen und sich den Teufel um alles andere zu scheren. Obwohl diese
-Leute sich in aller Aufrichtigkeit Internationalisten nannten, gab es
-unter den Soldaten doch genug, die den alten französischen Rassenhochmut
-— gar nicht bösartig aber fest verankert — gegenüber der ganzen
-übrigen Welt hatten, ob sie mit ihnen verbündet oder ihr Feind war. Und
-selbst in Frankreich mißachteten die Pariser die aus der Provinz, oder,
-wenn sie selber aus der Provinz waren, Paris. Sie waren männliche,
-offene Kerle, immer bereit, loszuschlagen wie Gillot, und sicher die
-Rechten, um eine Revolution zu machen, sie zu zerstören und noch einmal
-zu machen, aber dann gelangweilt das Ganze hinzuschmeißen als Beute für
-den ersten besten Abenteurer, der gerade des Weges kommt. Und das wissen
-die politischen Schleicher allzu gut. Sie wissen, die beste Taktik, die
-Revolution zu töten, ist, wenn die Stunde gekommen ist, sie ruhig
-vorbeigehen zu lassen und das Volk dabei zu amüsieren.
-
-Und diese Stunde schien sehr nahe. Etwa ein Jahr vor dem Ende des
-Krieges gab es in beiden Lagern einige Monate, einige Wochen, wo die
-unermeßliche Geduld der gemarterten Völker zu schwinden und ein Schrei
-loszubrechen drohte: „Genug!“ Zum erstenmal hatte sich unter ihnen die
-Empfindung verbreitet, daß sie blutig genarrt würden, und man kann die
-Erbitterung der Menschen aus dem Volke verstehen, wenn sie feststellten,
-wie toll die Milliarden im Kriege ausgegossen wurden, während vor dem
-Kriege ihre Herren wegen ein paar hunderttausend Franken für die soziale
-Hilfe knauserten. Mehr als alle Reden besaßen gewisse Ziffern die
-Fähigkeit, die Leute aufzureizen. Man hatte berechnet, daß im Kriege
-ungefähr 75000 Franken verbraucht würden, um einen Menschen zu töten,
-und man aus derselben Summe, die zehn Millionen Tote macht, zehn
-Millionen Rentner hätte schaffen können. Selbst die Dümmsten wurden nun
-des ungeheuerlichen Reichtums der Erde und der verbrecherischen
-Verschwendung, die man damit trieb, gewahr, der schamlosen Verschwendung
-für einen leeren Wahn. Und vor allem der schändlichsten Schändlichkeit:
-daß von einem Ende Europas zum anderen an diesen Toten sich das
-Geschmeiß der Kriegsgewinner und Leichenschänder dick fraß.
-
-„Ah“, dachten die jungen Leute, „man rede uns nichts mehr vor vom Kampfe
-der Demokratien gegen die Autokratien, es ist immer derselbe Schwindel.“
-Überall hat der Krieg den Völkern die Schuldigen für die Rache kenntlich
-gemacht: die herrschende Klasse, die erbärmliche, politische,
-geschäftliche und geistige Bourgeoisie, die während eines einzelnen
-Jahrhunderts der Allmacht mehr verbrach an Gewalttätigkeit, Ruinen und
-Tollheiten, als in zehn Jahrhunderten die Geißel der Könige und der
-Kirchen.
-
-Und kaum, daß sie fern aus dem Walde die Hacke Lenins und Trotzkis,
-dieser heroischen Holzhauer, hallen hörten, zitterten viele dieser
-niedergepreßten Herzen von neuer Hoffnung. Mehr als einer in jedem Lande
-bereitete schon damals sein Beil vor, um mit loszuschlagen — die
-herrschende Klasse aber in beiden feindlichen Lagern, von einem Ende
-Europas bis zum andern, sträubte sich gegen die gemeinsame Gefahr. Es
-war keine besondere Verständigung nötig, damit sie sich untereinander in
-diesem Punkte verstanden: hier sprach ihr Instinkt. Die bürgerlichen
-Zeitungen der Gegner Deutschlands ließen stillschweigend dem Kaiser
-freie Hand, um die russische Freiheit zu erdrosseln, weil sie die
-soziale Ungerechtigkeit, von der sie alle gleicherweise lebten,
-bedrohte. In der Tollwut ihres Hasses verbargen sie nur schlecht ihre
-Freude, als sie sahen, wie der preußische Militarismus, das Untier, das
-sich dann gegen sie selbst wenden sollte, sie an diesen großen Empörern
-rächte. Aber gerade dadurch entflammte sich in den großen Massen der
-Leidenden und bei den kleinen Gruppen der Unabhängigen eine glühende
-Bewunderung für jene Ausgestoßenen, die dem ganzen Weltall Schach boten.
-
-Es kochte im Kessel. Um seine Kraft zu ersticken, hatte ihn die
-Regierung hermetisch verschlossen und sich selbst daraufgesetzt. Die
-blödsinnige Bourgeoisie aber, die am Ruder war und ständig noch neues
-Feuer unter dem Kessel entzündete, war verwundert über das dumpfe
-gefahrdrohende Grollen. Sie schob diese Revolte der Elemente dem bösen
-Geist einiger freier Sprecher in die Schuhe, oder geheimnisvollen
-Intrigen, oder dem feindlichen Geld, oder den Pazifisten. Und sie sah
-nicht ein, was ein kleines Kind gesehen hätte, nämlich daß man vor
-allem, um die Explosion zu verhindern, das Feuer löschen mußte. Der Gott
-aller dieser Mächte, wie immer sie sich nannten, ob Kaiserreich oder
-Republik, war doch die Faust, die Kraft, mochte sie sich noch so
-verschleiern und überpudern. Innen blieb die harte, selbstsichere
-Gewalttätigkeit. Und in natürlichem Rückstoß wurde der Glaube an die
-Gewalt auch das Evangelium der Unterdrückten. So entstand ein dumpfer
-unterirdischer Kampf zwischen sich entgegenarbeitenden Druckwirkungen.
-Wo das Metall verbraucht war — zunächst in Rußland — explodierte der
-ganze Kessel. Wo der Deckel nicht so streng niedergehalten wurde — wie
-in den neutralen Ländern — fuhr zischend der heiße Dampf aus. In den
-kämpfenden Ländern, auf denen die Unterdrückung lastete, herrschte eine
-trügerische Stille, die dem Unterdrücker recht zu geben schien. Dort
-waren sie ebenso wie gegen den Feind auch gegen ihre Mitbürger
-gepanzert, denn die Kriegsmaschine war nach beiden Seiten hin, nach vorn
-und nach rückwärts, drohend aufgestellt. Der Verschluß aus härtestem
-Stahl schien noch gut zu schließen, die Schrauben preßten ihn eisern an,
-so daß es unmöglich war oder schien, daß er jemals aufging. Es sei denn,
-daß plötzlich alles in die Luft flöge.
-
-Clerambault, nicht minder unter die furchtbare Schraube gepreßt als die
-anderen, sah ringsum die Revolte sich vorbereiten. Er begriff sie, er
-hielt sie sogar für unvermeidlich. Aber deshalb liebte er sie noch
-nicht. Er fand sich nicht ab mit der bequemen „_amor fati_“. Ihm genügte
-es, zu verstehen. Aber keine Tyrannei schien ihm ein Recht auf Liebe zu
-haben.
-
- §
-
-Die jungen Leute aber verweigerten ihr die ihre durchaus nicht und waren
-erstaunt, daß Clerambault so wenig Begeisterung für das neue Idol aus
-dem Norden zeigte, für die Diktatur des Proletariats. Sie hielten sich
-nicht lange bei vorsichtigen Bedenken und halben Maßregeln auf, um die
-Welt glücklich zu machen — auf ihre Art, wenn nicht auf die seine —,
-sie diktierten gleich im ersten Anlauf die Unterdrückung jeder Freiheit,
-die ihrer Idee von Freiheit entgegengesetzt wäre. Die abgesetzte
-Bourgeoisie sollte des Versammlungsrechtes, des Stimmrechtes, des
-Rechtes der öffentlichen Meinungsäußerung beraubt werden.
-
-„Schön“, sagte Clerambault, „aber dann wird sie das neue Proletariat
-werden. Dann ändert nur die Gewalt ihren Posten.“
-
-„Aber das wird nur eine Zeitlang dauern. Wir werden die letzte
-Unterdrückung sein, die eben die Unterdrückung in alle Ewigkeit töten
-wird.“
-
-„Ja, immer der Krieg für Recht und Freiheit; immer der letzte Krieg, der
-den Krieg für alle Zeiten töten soll. Aber er befindet sich bisher recht
-wohl, und das Recht wie die Freiheit bekommen dabei ihre Fußtritte.“
-
-Sie protestierten unwillig gegen den Vergleich. Sie sahen im Krieg, und
-an denen, die ihn führten, nur Gemeinheit.
-
-„Und doch“, sagte Clerambault sanft, „haben eine ganze Reihe von euch
-mitgetan und fast alle daran geglaubt.... Nein, nein, protestiert nicht!
-Auch in dem Gefühl, das euch damals dazu trieb, war etwas Edles. Man
-zeigte euch ein Verbrechen, und ihr seid darauf losgegangen, um es zu
-vernichten. Euer Eifer war wundervoll. Nur habt ihr geglaubt, es gäbe
-nur dieses eine Verbrechen, und hätte man das aus der Welt geschafft, so
-würde sie unschuldig und rein sein wie im goldenen Zeitalter. Die selbe
-seltsame Naivität ist mir schon in der Zeit der Dreyfusaffäre
-aufgefallen. Damals war es so, als ob alle anständigen Leute Europas
-(ich gehörte auch dazu) noch nie gehört hätten, daß bisher jemals ein
-Unschuldiger ungerechter Weise verurteilt worden sei. Ihr ganzes Leben
-war von dieser Erkenntnis einfach umgestürzt, und sie setzten das
-Weltall in Bewegung, um diesen Flecken auszutilgen.... Mein Gott, als
-die Wäsche fertig war — eigentlich wurde sie ja nicht einmal fertig,
-denn die Wäscher wurden müde mitten in der Arbeit und der Reingewaschene
-selbst auch — nun, da war die ganze Welt genau so schmutzig wie vorher.
-Es scheint eben, daß der Mensch nicht fähig ist, die Gesamtheit des
-menschlichen Elends mit seinem Blick zu umfassen. Er hat zu viel Angst,
-die Ungeheuerlichkeit des Bösen zu sehen, und um davon nicht ganz
-niedergeschmettert zu sein, sucht er sich immer irgendeine einzelne
-Sache aus, lokalisiert in ihr das ganze Böse der Welt und hütet sich,
-auf alles andere zu schauen. Das alles, meine Freunde, ist mir
-verständlich, weil es menschlich ist. Aber man muß eben mehr Mut haben.
-In Wirklichkeit ist das Böse überall, beim Feinde sowohl, wie bei uns
-selbst. Ihr habt es allmählich in unserem Staatswesen entdeckt und jetzt
-wendet ihr euch mit der gleichen Leidenschaft, die früher alles Böse nur
-im Feinde sah, gegen die Regierungsformen, deren Fehler euch aufgegangen
-sind. Erst wenn ihr einmal erkennen werdet, daß diese Fehler auch in
-euch sind — und das ist zu befürchten, nach den Erfahrungen aller
-Revolutionen, die immer leidenschaftlich geworden sind, und in denen
-jene, die das Recht bringen wollten, schließlich, ohne es selbst recht
-zu verstehen, ihre eigenen Hände und ihr Herz beschmutzt fanden —, dann
-werdet ihr euch mit einer düsteren Verzweiflung gegen euch selbst
-wenden.... Ihr großen Kinder, wann werdet ihr es euch abgewöhnen, gleich
-das Absolute zu wollen.“
-
-Sie hätten ihm darauf antworten können, man müsse das Absolute wollen,
-um das Wirkliche zu erreichen. Für den Gedanken könne es Nuancen geben,
-aber die Tat dulde keine. Clerambault solle sich zwischen ihnen oder
-ihren Gegnern entscheiden! Hier gebe es keine Zwischenmöglichkeit.
-
-Und Clerambault verstand dies. Auf dem Feld der Tat gibt es keine andere
-Wahl. Dort ist alles vorausbestimmt. Ebenso wie der ungerechte Sieg mit
-notwendiger Gewißheit die Revanche erzeugt, die dann wieder ihrerseits
-ungerecht sein wird, so führt die kapitalistische Unterdrückung zur
-proletarischen Revolution, die dann wieder nach ihrem Vorbild
-unterdrückt werden wird. Es ist eine Kette ohne Ende, in der eine eherne
-Dike waltet, die eine klare Vernunft erkennt und sogar als ein
-Weltgesetz ehren kann. Aber das Herz weigert sich, diese Gesetze
-anzuerkennen, sich ihnen zu unterwerfen, denn seine Aufgabe ist es ja,
-das Gesetz des ewigen Krieges zu zerbrechen. Wird es ihm jemals
-gelingen? ... Wer weiß? Jedenfalls ist eines gewiß, daß dieses Hoffen,
-dieses Wollen des Herzens außerhalb der gewöhnlichen Ordnung steht, daß
-es aus einer überirdischen, aus einer geradezu religiösen Welt stammt.
-
-Aber Clerambault, der davon durchdrungen war, wagte noch nicht, sich
-dies einzugestehen. Oder er wagte zum mindesten nicht, das Wort
-„religiös“ auf sich zu beziehen, das Wort, das die Religionen von heute
-— die so wenig religiösen — diskreditiert haben.
-
- §
-
-Hatte Clerambault also selbst noch nicht volle Klarheit in sein Denken
-gebracht, so war es für seine Freunde noch schwieriger, sich in seiner
-Weltauffassung auszukennen. Und wäre ihnen selbst Gelegenheit dazu
-geboten gewesen, sie übersichtlich zu erfassen, so hätten sie sie doch
-nie verstanden. Sie konnten es nicht ertragen, daß ein Mann, der so
-energisch den momentanen Zustand der Dinge als schlecht und mörderisch
-verurteilte, trotzdem nicht ihre radikalsten Maßnahmen billigte, um
-diesen Zustand aus der Welt zu schaffen. Von ihrem Gesichtspunkt,
-demjenigen der sofortigen Aktion, hatten sie nicht unrecht. Aber das
-Feld des Geistigen ist viel weiter; seine Kämpfe spielen sich in
-größeren Räumen ab und verzetteln sich nicht in blutigen Plänkeleien.
-Clerambault erkannte das ewige Axiom der Tat „Der Zweck heiligt die
-Mittel“ nicht an, selbst nicht unter der Voraussetzung, daß diese von
-seinen Freunden gepriesene Kampfmethode die erfolgreichste sei. Er war
-im Gegenteil der Meinung, daß die Mittel für den wirklichen Fortschritt
-von höherer Wichtigkeit seien als die Ziele. Denn Ziele ... gibt es denn
-wirklich ein endgültiges Ziel?
-
-Diese allzu umfassende und verschwommene Art des Denkens erbitterte aber
-die jungen Menschen und bestärkte sie in jener gefährlichen Abneigung
-gegen die Intellektuellen, die sich seit fünf Jahren bei der arbeitenden
-Bevölkerung herausgebildet hatte. Sicherlich hatten die Intellektuellen
-nichts Besseres verdient, denn wie weit waren die Zeiten, wo die
-Geistigen an der Spitze der Revolutionen standen! Jetzt schlossen sie
-sich mit allen reaktionären Kräften zusammen, und selbst die
-verschwindend kleine Zahl derer, die sich außerhalb des Clans gehalten
-hatten und seine Irrtümer tadelten, zeigte sich, wie Clerambault,
-unfähig, auf ihren Individualismus zu verzichten, der sie einmal
-gerettet und nun zu Gefangenen gemacht hatte. Kaum hatten nun die
-Revolutionäre die Unfähigkeit selbst der Besten erkannt, sich den neuen
-Massenbewegungen einzuordnen, so gingen sie einen Schritt weiter und
-proklamierten den Niedergang der Intellektuellen. Der Stolz der
-Arbeiterklasse, der sich schon in Artikeln und Reden äußerte,
-ungeduldig, sich wie in Rußland bald in Taten manifestieren zu können,
-dieser Stolz verlangte, daß die Intellektuellen sklavisch ihren
-proletarischen Herren gehorchten. Das Seltsamste dabei war, daß einige
-unter den Intellektuellen selbst am leidenschaftlichsten diese
-Erniedrigung ihres Standes verlangten — sie hätten gern damit glauben
-gemacht, daß sie nicht mehr dazu gehörten und vergaßen es sogar
-selbst.... Moreau freilich vergaß es nicht. Aber nur mit noch größerer
-Bitterkeit verabscheute er die Klasse, deren Nessushemd ihm auf der Haut
-brannte. Seine Erbitterung war ohne Maß.
-
-Er trug jetzt gegen Clerambault seltsam aggressive Gefühle zur Schau. Er
-unterbrach ihn in der Diskussion ohne jede Höflichkeit, mit einer
-gewissen Art ironischer und gereizter Schärfe, daß man oft das Gefühl
-hatte, er wolle ihn bewußt verletzen.
-
-Clerambault nahm es ihm nicht übel. Er war voll Mitleid mit ihm, denn er
-wußte, daß Moreau litt, und konnte sich die Bitterkeit eines
-hingeopferten jungen Lebens gut vorstellen, dem die sittliche Nahrung,
-die für einen fünfzigjährigen Magen gehört — Geduld und Resignation —
-nicht recht munden wollte.
-
-Eines Abends, als sich Moreau gegen Clerambault besonders unangenehm
-gezeigt hatte und doch ihn durchaus nach Hause begleiten wollte,
-gleichsam als könnte er sich nicht entschließen, ihn zu verlassen, und
-als er da vor sich hinschweigend und verschlossen an seiner Seite
-schritt, blieb Clerambault einen Augenblick stehen und sagte, indem er
-freundschaftlich seinen Arm nahm, lächelnd:
-
-„Mein armer Junge, dir geht es wohl nicht gut?“
-
-Moreau war verdutzt, raffte sich zusammen und fragte trockenen Tones,
-woran man denn merken könnte, daß „es nicht gut ginge“.
-
-„Nun daran, daß Sie so bösartig waren heute abend“, antwortete
-Clerambault gutmütig.
-
-Moreau protestierte.
-
-„O doch! Was für Mühe haben Sie sich gegeben, um mir weh zu tun: Ja,
-doch, ein wenig, nur ein ganz klein wenig.... Ich weiß es sehr gut, daß
-Sie es nicht ganz ernstlich wollen, aber wenn ein Mensch wie Sie einen
-andern leiden machen will, so ist das ein Zeichen, daß er selber
-leidet.... Habe ich nicht recht?“
-
-„Verzeihen Sie mir“, sagte Moreau, „es ist wahr. Mir tat es weh, zu
-sehen, daß Sie nicht an unsere Aktion glauben.“
-
-„Und Sie selbst?“ fragte Clerambault.
-
-Moreau verstand nicht.
-
-„Und Sie selbst“, wiederholte Clerambault, „glauben Sie denn daran?“
-
-„Und ob ich daran glaube“, rief Moreau entrüstet.
-
-„Aber nein“, sagte Clerambault ganz sanft.
-
-Moreau war nahe daran, zornig auszubrechen. Dann sagte er nachgiebiger:
-„Doch, durchaus!“
-
-Clerambault war weitergegangen.
-
-„Nun gut“, sagte er, „das ist ja Ihre Sache, Sie müssen ja besser wissen
-als ich, was Sie eigentlich glauben.“
-
-Sie gingen nebeneinander her, ohne zu sprechen. Nach einigen Minuten
-faßte Moreau Clerambault am Arm und sagte:
-
-„Wieso konnten Sie das wissen?“
-
-Sein Widerstand war gebrochen. Er enthüllte die Verzweiflung, die sich
-unter seinem aggressiven Willen zur Gläubigkeit und zur Tat verbarg.
-Innerlich war er von Pessimismus zerfressen, der ja immer eine
-natürliche Folge jedes in seinen Illusionen schmerzhaft enttäuschten,
-übermäßigen Idealismus ist. Die religiöse Seele von einst war ganz
-ruhevoll: sie stellte das Gottesreich hinüber in ein Jenseits, das kein
-irdisches Geschehnis erreichen oder zerstören konnte. Aber die religiöse
-Seele von heute, die das Gottesreich mitten in unsere Welt stellen will
-und es auf dem Grunde der menschlichen Vernunft und der Liebe aufbaut,
-die wird lebensüberdrüssig, sobald das Leben ihren Traum einstürzen
-läßt. Es gab Tage, wo Moreau sich am liebsten die Adern aufgeschnitten
-hätte! Die Menschheit schien ihm wie eine faulende Frucht, voll
-Verzweiflung sah er den Zusammenbruch, den Untergang, die Niederlage,
-die von allem Anfang im Schicksal der menschlichen Rasse wie ein Wurm in
-der Frucht eingesponnen sitzt, und er konnte die Idee dieses unsinnigen
-und tragischen Schicksals, dem die Menschen nie entrinnen werden, nicht
-ertragen. Wie Clerambault fühlte er in seinen Adern das Gift des Wissens
-und der Vernunft; aber indes Clerambault die Krise überstanden hatte und
-die Gefahr nur in der Zügellosigkeit des Geistes sah und nicht schon in
-seinem Wesen, war Moreau von der Vorstellung besessen, die Vernunft sei
-selbst schon von Gift durchtränkt. Seine krankhaft erregte Phantasie
-erschöpfte sich selbstquälerisch in immer neuen Vorstellungen, sie
-zeigte ihm die Menschheit mit dem unauslöschlichen Brandmal der
-Krankheit ihrer Geistigkeit behaftet. Im vorhinein sah er alle
-Möglichkeiten von Katastrophen, denen sie zudrängte. Sah man denn nicht
-schon das tragische Schauspiel, wie die Vernunft vor Hochmut taumelte
-angesichts der ihr von der Wissenschaft ausgelieferten Gewalten,
-angesichts jener Dämonen der Natur, die ihr durch die magische Formel
-der Chemie untertan waren, und wie sie in Verwirrung über die zu rasch
-überhandnehmende Macht diese zu ihrem eigenen Selbstmord mißbrauchte?
-
-Aber Moreau war zu jung, um unter dem Druck solcher Wahnvorstellung zu
-verbleiben. Man mußte etwas tun, etwas tun um jeden Preis, um nicht
-allein mit dieser Vision zu bleiben.
-
-„Nein, hindern Sie uns nicht an der Tat! Im Gegenteil, feuern Sie uns
-dazu an!“
-
-„Mein Freund“, sagte Clerambault, „man darf die anderen nur dann zu
-einer gefährlichen Tat ermutigen, wenn man selber mittut. Mir sind die
-Aufhetzer, selbst wenn sie aufrichtig sind, unerträglich, all jene, die
-andere treiben, Märtyrer zu werden, ohne selbst das Beispiel zu geben.
-Es gibt nur einen Typus des wahrhaft heiligen Revolutionärs: das ist der
-Gekreuzigte. Aber nur sehr wenige Menschen sind für die Aureole des
-Kreuzes geboren. Der Hauptfehler besteht darin, sich selbst
-übermenschliche und unmenschliche Pflichten zu setzen. Es ist ungesund
-für die Mehrheit der Menschen, sich zum Übermenschen erheben zu wollen,
-und vielleicht für sie selbst nur eine Quelle unnützer Qualen. Aber
-jeder Mensch kann trachten, in seinem kleinen Kreise das innere Licht
-auszustrahlen, Ordnung, Frieden und Güte. Und das ist das wahre Glück.“
-
-„Aber das genügt mir nicht“, sagte Moreau. „Das läßt zuviel Raum für den
-Zweifel. Alles oder nichts.“
-
-„Ja, eure Revolution hat keinen Raum für den Zweifel. Für euch heiße und
-harte Herzen, für euch geometrische Gehirne heißt es: alles oder nichts.
-Nur keinen Übergang! Aber, was wäre das Leben ohne Übergänge? Sind sie
-denn nicht seine Schönheit und seine Güte? Eine zerbrechliche Schönheit
-freilich, eine kraftlose Güte, überall Schwäche und Hunger nach Liebe.
-Man muß lieben, man muß helfen, Tag für Tag und Schritt für Schritt. Die
-Welt verwandelt sich nicht mit einem Schlag und niemals ganz, weder
-durch Gewaltstreiche, noch durch Gnadenstöße. Aber Sekunde für Sekunde
-geht sie ins Unendliche hinüber, und der schlichteste Mann, der das
-fühlt, hat Teil an der Unendlichkeit. Nur Geduld! Eine einzige
-Ungerechtigkeit, die man beseitigt, erlöst noch nicht die Menschheit,
-aber sie verklärt einen Tag. Und es werden andere kommen und andere
-Verklärungen, und jeder Tag bringt seine Sonne. Möchten Sie das
-verhindern?“
-
-„Wir können nicht warten“, sagte Moreau. „Wir haben keine Zeit. Jeder
-Tag, den wir leben, stellt uns Probleme, die uns ganz aufzehren und die
-wir sofort lösen müssen. Wenn wir sie nicht beherrschen, werden wir
-ihnen untertan. Wir, damit meine ich nicht so sehr unsere Personen, wir
-sind ja schon Hingeopferte. Aber alles, was wir lieben, was uns noch dem
-Leben verbindet: die Hoffnung auf die Zukunft, das Heil der
-Menschheit.... Fühlen Sie doch, wie diese quälenden Fragen um aller
-Zukünftigen willen uns bedrücken, um aller, die Kinder haben. Dieser
-Krieg ist ja noch nicht zu Ende, und es ist nur allzu klar, daß er durch
-seine Verbrechen und seine Lügen neue, nahe Kriege heraufbeschwört.
-Wofür zieht man Kinder auf? Wofür wachsen sie heran? Vielleicht für
-ähnliche Schlächtereien? Welcher Ausweg ist da möglich? Man hat rasch
-ihre ganze Reihe erschöpft.... Man könnte diese toll gewordenen
-Nationen, diese närrischen alten Kontinente verlassen und auswandern,
-aber wohin? Gibt es denn irgendwo auf dem Erdball noch fünfzig Joch
-Erde, die den freien anständigen Menschen Unterschlupf gewähren? Oder
-eine Wahl treffen? Sie sehen wohl, man muß sich entscheiden. Entweder
-für die Nation oder für die Revolution. Was bleibt denn sonst noch? Das
-Nichtwiderstreben gegen das Übel? Scheint Ihnen das wünschenswert? Das
-hat doch nur einen Sinn, wenn man gläubig ist, religiös gläubig, sonst
-wäre es nur die Resignation von Schafen, die sich hinschlachten lassen.
-Aber die meisten, leider Gottes, entscheiden sich für nichts und ziehen
-es vor, gar nicht zu denken, schauen krampfhaft von der Zukunft weg und
-lügen sich vor, daß das, was sie gesehen und gelitten haben, nun für
-ewige Zeiten vorüber sei ... Darum müssen wir für jene eine Entscheidung
-fällen, ob sie wollen oder nicht, sie nach vorwärts treiben, sie retten
-gegen ihren eigenen Willen. Die Revolution, das sind immer nur einzelne
-Menschen, die für die ganze Menschheit etwas wollen.“
-
-„Mir paßte es nicht sehr“, antwortete Clerambault, „wenn jemand anderer
-für mich wollte, und ebensowenig, für einen anderen zu wollen. Ich
-möchte lieber jedem helfen, frei zu sein, und selbst der Freiheit keines
-anderen Menschen im Wege stehen. Aber ich weiß, ich verlange zuviel.“
-
-„Sie verlangen das Unmögliche“, sagte Moreau. „Wenn man einmal beginnt,
-zu wollen, darf man nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Es gibt nur
-zwei Arten Menschen: diejenigen, welche zuviel wollen — Lenin und alle
-Großen (es gibt ihrer wohl kaum mehr als zwei Dutzend in der ganzen
-Weltgeschichte) und dann die anderen, die zu wenig wollen, die das
-Wollen nicht verstehen. Das ist der große Rest, das sind wir, das bin
-ich selbst.... Sie haben es nur zu gut erkannt.... Mein ganzer Wille
-kommt nur aus Verzweiflung.“
-
-„Warum denn verzweifeln?“ sagte Clerambault. „Das Schicksal des Menschen
-formt sich jeden Tag und keiner kennt es. Unser Schicksal ist das, was
-wir sind. Sind wir mutlos, so entmutigen wir es.“
-
-Aber Moreau sagte niedergeschlagen:
-
-„Nein, wir werden nicht stark genug sein, wir werden nicht stark genug
-sein.... Glauben Sie, ich wüßte nicht, was für lächerlich geringe
-Erfolgsaussichten bei uns jetzt die Revolution hat? Jetzt, in der
-gegenwärtigen Zeit, nach den Verwüstungen, der ökonomischen Vernichtung,
-der Demoralisation, der tödlichen Müdigkeit, nach all diesen Dingen, die
-von den vier Kriegsjahren verschuldet sind?“
-
-Und er fügte das Geständnis bei:
-
-„Ich habe schon das erstemal gelogen, als ich Sie sah, als ich
-behauptete, alle meine Kameraden fühlten so stark wie wir das Leiden und
-die Erbitterung darüber. Gillot hat Sie richtig belehrt: wir sind nur
-ganz wenige. Die anderen sind meistens gute Kerle, aber schwache,
-schwache Naturen ... Sie beurteilen die Dinge ziemlich richtig, aber
-statt mit dem Kopf gegen die Mauer zu rennen, ziehen sie vor, lieber gar
-nicht daran zu denken und sich mit Ironie schadlos zu halten. Ach,
-dieses französische Lachen, das ist unser Reichtum und auch unser
-Untergang! Es ist ja so schön, aber eine wie gute Handhabe für alle
-Unterdrücker. „Mögen sie Spottlieder singen, wenn sie nur ihre Steuern
-zahlen“, sagte jener Italiener, und bei uns heißt es: „Mögen sie lachen,
-wenn sie nur sterben.“ Dazu kommt noch diese furchtbare
-Anpassungsfähigkeit, von der Gillot zu Ihnen sprach. Man kann den
-Menschen zu den tollsten und qualvollsten Lebensbedingungen treiben —
-wenn sie nur lange genug dauern und er sie innerhalb der Herde mitmacht,
-so gewöhnt er sich an alles, an das Warme und an das Kalte, an den Tod
-und das Verbrechen. Die ganze Kraft, die für den Widerstand nötig wäre,
-verbraucht man auf die Gewöhnung, und dann rollt man sich in irgendeine
-Ecke, ohne sich zu rühren, aus Angst, man könne mit irgendeiner
-Veränderung die eingeschläferte Qual wieder aufwecken. Ach, es lastet
-eine solche Müdigkeit auf uns allen! Wenn die Soldaten zurückkommen
-werden, dann werden sie nur einen Wunsch haben: zu vergessen und zu
-schlafen.“
-
-„Und Lagneau, der Hitzkopf, der Tollkopf, der davon redet, alles krumm
-und klein zu schlagen?“
-
-„Lagneau? Den kenne ich seit Kriegsausbruch. Ich habe gesehen, wie er
-eins nach dem andern war, Kriegsbegeisterter, Revanchetrompeter,
-Annexionist, Internationaler, Sozialist, Anarchist, Bolschewist und
-„_Je-m’en-fichiste_“. Er wird schließlich als Reaktionär enden und sich
-wieder hinausschicken lassen, um sich mit Hurra und Heil auf jeden
-Feind, den sich die Regierung unter unseren heutigen Feinden oder
-Freunden aussuchen wird, zu werfen. Und das Volk? Es ist unserer
-Ansicht, aber gleichzeitig auch der Ansicht der Gegner. Das Volk hat
-immer hintereinander alle Ansichten.“
-
-„Sie sind also Revolutionär aus Verzweiflung?“ sagte lachend
-Clerambault.
-
-„Es gibt viele dieser Art unter uns.“
-
-„Aber Gillot ist doch aus dem Krieg optimistischer zurückgekommen, als
-er jemals war?“
-
-„Gillot kann vergessen“, sagte bitter Moreau. „Ich neide ihm dieses
-Glück nicht.“
-
-„Aber wir dürfen es ihm nicht zerstören“, sagte Clerambault. „Helfen Sie
-Gillot. Er hat Sie nötig.“
-
-„Mich?“ staunte Moreau ungläubig.
-
-„Er hat zu seiner Stärke notwendig, daß man an seine Kraft glaubt. So
-glauben Sie daran.“
-
-„Kann man denn glauben wollen?“
-
-„Sie wissen ja etwas davon.... Nicht wahr, nein, man kann es nicht ...
-Aber man kann glauben aus Liebe“.
-
-„Aus Liebe zu jenen, die gläubig sind?“
-
-„Glaubt man denn nicht immer nur aus Liebe, kann man denn anders gläubig
-sein als aus Liebe?“
-
-Moreau war gerührt. Seine intellektuelle, von Wissensdurst brennende und
-verzehrte Jugend hatte, wie die der besten in der bürgerlichen Klasse,
-am Mangel brüderlicher Zuneigung gelitten. Menschliche Verbrüderung und
-Seelengemeinschaft ist ja aus der modernen Erziehung verbannt. Erst
-allmählich und mißtrauisch war dieses konstant unterdrückte Urgefühl in
-den Schützengräben, in diesen Gräbern der lebendig zusammengedrängten
-leidenden Leiber, wieder erwacht. Aber man hatte Scham, sich ihm
-hinzugeben. Die gemeinsame Verhärtung, die Furcht vor Sentimentalität,
-die Ironie umkrusteten das Herz. Erst seit der Krankheit Moreaus war die
-Umschalung von Stolz nachgiebiger geworden, und es kostete Clerambault
-keine Mühe, sie gänzlich zu zerbrechen. Die Wohltat, die von diesem
-Manne ausging, war, daß bei der Berührung mit ihm die Eigensucht in den
-Menschen hinschwand, denn er besaß selbst keine. Man zeigte sich ihm,
-wie er sich selbst allen zeigte, mit seiner wahren Natur, seinen
-Schwächen und all den Aufschreien, die sonst ein falscher Stolz zu
-ersticken sucht. Moreau, der an der Front, ohne es sich offen
-einzugestehen, die Überlegenheit seiner Kameraden oder der
-Unteroffiziere, also von Menschen aus einer niedrigeren Schicht, erkannt
-hatte, fühlte für Gillot Sympathie und war glücklich, daß Clerambault an
-sie appellierte. Clerambault hatte seinen geheimsten Wunsch erweckt,
-einem andern eine Notwendigkeit zu sein.
-
-Und ebenso flüsterte Clerambault Gillot die Anregung ein, Optimist für
-zwei zu sein und Moreau zu helfen. So fanden beide, in ihrem Bedürfnis,
-dem andern zu helfen, selbst eine Hilfe nach dem Gesetz des Lebens: „Wer
-gibt, der hat.“
-
-In welcher Zeit immer man lebt, und sei es auch eine der Zertrümmerung,
-so ist doch nichts verloren, solange noch in der Seele einer Rasse ein
-Funke der männlichen Freundschaft lebendig bleibt. Man muß ihn erwecken,
-muß die frierenden einsamen Herzen einander annähern, damit wenigstens
-eine der Früchte dieses Völkerkrieges die Vereinigung der Elite der
-Klassen, die Verbrüderung der beiden Jugenden sei — jener aus der Welt
-der Arbeit und jener aus der des Gedankens —, die, indem sie sich
-ergänzen, die Zukunft erneuern sollen.
-
- §
-
-Ist der beste Weg zur Einigung der, daß keiner den andern beherrschen
-will, so muß auch das Gegenteil gültig sein, nämlich, daß keiner sich
-vom andern unterdrücken lassen darf. Gerade dazu aber trieb diese jungen
-Intellektuellen dieser revolutionären Gruppen eine seltsame Eigenliebe.
-Sie schulmeisterten verächtlich Clerambault im Namen des neuen Prinzips,
-das die Intellektuellen in den Dienst des Proletariats stellen wollte
-... „Dienen, dienen!“ Das war das Schlußwort des einst so stolzen
-Richard Wagner, aber auch das Wort manch eines enttäuschten Stolzes.
-Manche wollen, sobald sie sehen, daß sie nicht Herr sein können, sofort
-Sklaven sein.
-
-„Am schwersten ist es in dieser Welt“, dachte Clerambault, „anständige
-Menschen zu finden, die einfach meinesgleichen sein wollen. Sind diese
-aber unauffindbar und bedarf es unbedingt einer Tyrannei, so ziehe ich
-noch diejenige, die einen Aesop und Epiktet körperlich zu Sklaven
-machte, aber ihren Geist vollkommen frei gab, jener vor, die äußere
-Freiheit mit Seelenknechtschaft verbindet.“
-
-Durch diese Unduldsamkeit wurde er sich erst so recht seiner Unfähigkeit
-bewußt, sich irgendeiner Partei anzuschließen. Zwischen den beiden
-Möglichkeiten, der der Revolution und der des Krieges, konnte er (und er
-tat es auch offen) seine Vorliebe für die Revolution bekunden, denn sie
-allein bot ihm eine Hoffnung auf Erneuerung, indes die andere jede
-Zukunft tötete. Aber eine Partei vorziehen, bedeutet noch lange nicht,
-damit schon seine geistige Unabhängigkeit aufzugeben. In den Demokratien
-ist gerade die Auffassung so irrig und so widersinnig, daß alle die
-gleichen Pflichten hätten und dieselben Aufgaben. In einer kämpfenden
-Gemeinschaft sind die Aufgaben sehr verschieden. Während der Hauptteil
-der Armee dafür ficht, einen sofortigen Erfolg zu erzielen, müssen
-andere die ewigen Werte gegen den Sieger von morgen, wie gegen den von
-gestern behaupten, denn sie schreiten ihnen voraus und erleuchten sie
-alle: ihr Licht glänzt fernhin auf den Weg, weit hinaus über den Qualm
-des Kampfes. Clerambault hatte sich zu lange von diesem Qualm den Blick
-trüben lassen, als daß er sich neuerdings in ein solches Getümmel
-stürzen wollte. Aber in dieser Welt der Blinden ist schon die Bemühung,
-sehen zu wollen, ein Ungehöriges und vielleicht sogar ein Verbrechen.
-
-Diese ironische Wahrheit wurde ihm während einer Unterhaltung so recht
-bewußt, in der einer dieser kleinen Saint-Justs ihm gerade den Text
-gelesen und ihn recht frech mit dem „Astrologen, der sich in die Tiefe
-des Brunnens fallen ließ“, verglichen hatte.
-
- _... On lui dit: Pauvre bête,_
- _Tandis qu’à peine à tes pieds tu peux voir,_
- _Penses-tu lire au-dessus de ta tête?_
-
-Und da er nicht humorlos war, fand er den Vergleich nicht ganz
-unberechtigt. Gewiß, er gehörte ein wenig der Gemeinschaft jener an....
-
- _... De ceux qui bayent aux chimères,_
- _Cependant qu’ils sont en danger,_
- _Soit pour eux soit pour leurs affaires...._
-
-Aber wollte denn diese Republik auf die Astrologen verzichten, wie die
-erste Republik noch auf die Chemiker? Oder meint ihr sie in Reih und
-Glied disziplinieren zu können? Dann ist zu erwarten, daß wir alle
-zusammen in den Grund des Brunnens hineinfallen. Wollt ihr das wirklich?
-Ich würde nicht Nein sagen, handelte es sich nur darum, euer Schicksal
-zu teilen. Aber euern Haß will ich nicht teilen!
-
-„Auch Sie haben Ihren Haß“, antwortete ihm einer der jungen Leute.
-
-Gerade in diesem Augenblick trat ein anderer mit einer Zeitung in der
-Hand herein und rief Clerambault zu: „Meinen Glückwunsch, Ihr Feind
-Bertin ist tot....“
-
-Der reizbare Journalist war innerhalb weniger Stunden von einer
-ansteckenden Lungenentzündung dahingerafft worden. Seit sechs Monaten
-hatte er wütend alle jene verfolgt, die er im Verdacht hatte, den
-Frieden zu suchen oder auch nur zu wünschen. Denn allmählich war er dazu
-gekommen, nicht nur im Vaterlande, sondern auch im Kriege selbst eine
-heilige Sache zu sehen. Unter den Opfern seiner Böswilligkeit war
-Clerambault sein beliebtestes. Bertin konnte nicht verzeihen, daß er
-gewagt hatte, seinen Angriffen standzuhalten. Die Erwiderung
-Clerambaults hatte ihn anfangs wütend gemacht. Als Clerambault aber dann
-verächtlich auf seine Anschuldigungen und Beschimpfungen kein Wort mehr
-erwiderte, verlor er jedes Maß. Seine gewaltsam aufgeblähte übermütige
-Eitelkeit war davon so verletzt, daß einzig die vollständige, restlose
-Vernichtung des Gegners ihn noch befriedigen konnte. Clerambault
-erschien ihm nicht mehr bloß als persönlicher Feind, sondern als Feind
-des Staates, als Hochverräter, und er setzte alle Mühe daran, dafür
-Beweise zu erbringen, stempelte ihn zum Zentrum eines großen
-pazifistischen Komplotts, dessen Lächerlichkeit zu jeder anderen Zeit
-jedem in die Augen gesprungen wäre. Aber damals hatte man keine Augen
-mehr. Gerade in den letzten Wochen überstieg die Polemik Bertins in
-Ansprung und Heftigkeit alles, was er bisher geschrieben hatte. Sie
-bedeutete eine wirkliche Drohung für all jene, die der Ketzerei des
-Friedenswillens schuldig oder verdächtig waren.
-
-Mit lärmender Befriedigung wurde daher die Nachricht von seinem Tode in
-der kleinen Versammlung aufgenommen, und man hielt ihm seine Grabrede in
-einer Tonart, die an Energie nichts den Meistern dieser Gattung nachgab.
-Clerambault, in die Zeitung vertieft, hörte kaum zu, als einer, der an
-seiner Seite saß, ihm auf die Schulter klopfte und sagte:
-
-„Nicht wahr, das macht Ihnen Vergnügen?“
-
-Clerambault fuhr auf.
-
-„Vergnügen!“ sagte er. „Vergnügen!“ wiederholte er.
-
-Er nahm seinen Hut und ging weg.
-
-Er trat auf die dunkle Straße, deren Lichter wegen eines
-Luftangriffalarms abgelöscht waren.
-
-In seinen Gedanken sah er ein feines Knabengesicht voll warmer Blässe,
-mit schönen, zärtlichen, braunen Augen, gelocktem Haar, belebtem und
-lachendem Munde, mit klingendem Stimmfall.... Bertin zur Zeit ihrer
-ersten Begegnung, als sie beide noch siebzehn Jahre alt waren. Und er
-gedachte ihrer langen, einsamen Nachtwachen, ihrer teuren Vertrautheit,
-ihrer Gespräche und Träume — denn auch Bertin träumte damals. Trotz all
-seines praktischen Sinnes, seiner frühreifen Ironie konnte er sich nicht
-unerfüllbarer Hoffnungen erwehren, nicht der edlen Projekte für eine
-neue Menschheit. Ach, wie die Zukunft doch ihren Kinderblicken schön
-erschienen war, und wie bei solchen Visionen in verzückten Augenblicken
-ihre beiden Herzen sich leidenschaftlich in liebender Freundschaft
-hingaben!
-
-Und was hatte nun das Leben aus ihnen beiden gemacht! Was für eine
-hartnäckige Erbitterung, was für ein haßvolles Bestreben Bertins, seine
-eigenen Träume von einst und den Freund, der ihnen treu geblieben, zu
-Boden zu stampfen! Und er selbst, Clerambault, der sich vom gleichen
-mörderischen Sturm hinreißen ließ, und versuchte, Schlag auf Schlag den
-Gegner blutig zu treffen... der — voll Entsetzen gestand er sich’s ein
-— im ersten Augenblick, als er vom Tode des einstigen Freundes hörte,
-eine Art Erleichterung empfunden hatte.... Was für ein Dämon wirkt doch
-in uns, was für schlechte Instinkte steigen in uns auf?
-
-In diesen Gedanken verloren, hatte er seinen Weg verfehlt. Er bemerkte,
-daß er in die entgegengesetzte Richtung ging, statt nach Hause. Vom
-Himmel her, der vom Lichtkeil der Scheinwerfer durchschnitten war, hörte
-man furchtbare Explosionen. Zeppeline waren über der Stadt. Von den
-Festungswerken donnerten die Kanonen, Luftkämpfe spielten sich ab. Wofür
-zerrissen sich denn diese rasenden Völker? Um alle dorthin zu gelangen,
-wo jetzt Bertin war, in jenes Nichts, das gleichermaßen alle Menschen
-und alle Vaterländer erwartet, sie und alle anderen, die Revolutionäre,
-die andere Gewalttätigkeiten vorbereiten, andere mörderische Ideale den
-bisherigen entgegenstellen, neue Götzen der Schlächterei, die der Mensch
-sich selbst unablässig erschafft, um seine bösen Instinkte zu adeln.
-
-Mein Gott, fühlen sie denn nicht die Dummheit ihres rasenden Tuns, im
-Angesicht der Sterbenden, mit deren jedem die ganze Menschheit in den
-Abgrund stürzt? Wie können Millionen Wesen, die doch nur einen
-Augenblick zu leben haben, sich so abmühen, diesen Augenblick durch
-ihren erbitterten und lächerlichen Ideenkampf sich so zur Hölle zu
-machen? Bettler sind sie alle, die einander für eine Handvoll
-Kupfermünzen, die man ihnen hinwirft und die überdies falsch sind,
-gegenseitig erschlagen! Alle sind sie gleicher Weise verurteilte Opfer,
-und statt sich zusammenzuschließen, kämpfen sie wider einander.... Ach,
-ihr Unglücklichen, geben wir einander doch den Friedenskuß! Auf jeder
-Stirn, die an mir vorübergleitet, sehe ich den Schweiß des
-Todeskampfes....
-
-Aber ein Menschenhaufen, Männer und Weiber, an denen er vorüberkam,
-brüllte und heulte vor Freude.
-
-„Er fällt! Einer fällt! Die Schweinehunde verbrennen!...“
-
-Und die beutegierigen Vögel wiederum, die da oben schwebten, jauchzten
-in ihrem Herzen bei jedem Todeswurf, den sie über die Stadt säten. Waren
-sie nicht wie Gladiatoren, die sich gegenseitig in der Arena die Brust
-durchstoßen, nur damit ein unsichtbarer Nero zufrieden sei?
-
-Oh, meine armen Brüder in Ketten!
-
-
-
-
- Fünfter Teil
-
-
-
-
- _They also serve who only stand and wait._ M i l t o n
-
-Noch einmal fand er sich in der Einsamkeit wieder. Nun aber schien ihm
-die Einsamkeit, so wie er sie nie gesehen, schön und still, mit einem
-gütigen Antlitz, zärtlichen Augen und sanften Händen, die ihre
-beruhigende Kühle auf seine Stirn legten. Und diesmal wußte er, daß die
-göttliche Gefährtin ihn erwählt hatte.
-
-Es ist nicht jedermanns Sache, allein zu sein. Viele klagen mit einem
-geheimen Stolz darüber, es zu sein, und durch Jahrhunderte klingt diese
-Klage, aber sie beweist, den Klagenden unbewußt, daß sie nicht Erwählte
-der Einsamkeit waren, nicht ihre Vertrauten. Sie haben nur die erste Tür
-aufgetan und warten gelangweilt im Vorraum. Doch sie haben nicht die
-Geduld gehabt zu warten, bis sie an die Reihe kamen, einzutreten, oder
-ihr Aufbegehren hat sie wieder ausgestoßen. Man dringt nicht in das Herz
-der Einsamkeit ohne die Gabe der Gnade oder ohne fromm erduldete
-Prüfung. Es tut not, vor der Türe den Staub des Weges zurückzulassen,
-die lärmenden Stimmen der Außenwelt, die kleinen eigensüchtigen, eitlen
-Gedanken, den klagenden Aufruhr enttäuschter Liebe und verwundeten
-Strebens. Gleich den reinen orphischen Schatten, deren sterbende Stimme
-uns auf goldenen Täfelchen erhalten blieb, muß man nackt und allein die
-„dem Kreise der Schmerzen entflohene Seele der eisigen Quelle darbieten,
-die dem See des Erinnerns entspringt.“
-
-Es ist das Wunder der Auferstehung. Wer seinen sterblichen Leib verläßt
-und meint, alles verloren zu haben, entdeckt, daß er erst jetzt in sein
-wahres Wesen tritt. Und nicht nur er selbst, auch die anderen sind ihm
-nun zurückgegeben, und er sieht, daß er sie bis jetzt noch nie besessen.
-Draußen im Getümmel konnte er nie über die Köpfe der Nächsten
-hinwegsehen und selbst dem Nächsten, der, gegen seine Brust gepreßt, ihn
-fortschob, konnte er nicht lange in die Augen schauen. Es fehlt an Zeit
-und fehlt an Abstand. Man spürt nur das Zusammenstoßen von Körpern, die
-sich in ihren gemeinsam enggedrängten Schicksalen zerpressen und die der
-dichte Strom des Massenschicksals weiterdrängt. Seinen Sohn hatte
-Clerambault erst erkannt, als er schon tot war. Und die flüchtige
-Stunde, da er und seine Tochter sich erfühlten, war jene, wo schon alle
-Bande des verhängnisvollen Wahns vom Übermaß des Schmerzes gelöst waren.
-
-Nun da er auf dem Weg allmählichen Ausschaltens und Auslesens in die
-Einsamkeit gelangt und, wie man meinen sollte, von der Leidenschaft der
-Lebendigen abgeschieden war, nun fand er sie alle wieder in einer
-leuchtenden Vertrautheit. Alle, nicht nur die Seinen, seine Frau, seine
-Kinder, sondern alle die Wesen, die er bisher irrig mit seiner
-schönrednerischen Liebe zu umfassen gemeint hatte — alle malten sich
-auf dem Grunde seiner inneren Dunkelkammer ab. Am nächtigen Strom des
-Schicksals, der die Menschheit hinreißt, des Schicksals, das er mit ihr
-selbst verwechselt hatte, schienen ihm die Millionen Kämpfender wie
-ringende Balken in der Flut, und jeder Mensch war für sich eine Welt von
-Freude und Leiden, Traum und Bemühung. Und jeder Mensch war auch das
-Ich. Ich neige mich über ihn und sehe mich selbst. „Ich“ sagen mir seine
-Augen, „Ich“ sagt mir sein Herz. Ach, wie ich euch jetzt verstehe, wie
-doch eure Irrtümer die meinen sind. Selbst in der Erbitterung jener, die
-mich bekämpfen, erkenne ich dich, mein Bruder, ich lasse mich nicht
-täuschen: ich bin es selbst.
-
- §
-
-Von nun ab begann Clerambault die Menschen nicht mehr mit seinen Augen
-zu sehen, mit den Augen unter seiner Stirn, sondern mit seinem Herzen.
-Er sah sie nicht mehr mit seiner Idee als Pazifist, als Tolstoianer (was
-ja nur wiederum ein anderer Wahn ist), sondern aus dem Denken jedes
-einzelnen heraus, indem er sich in ihn verwandelte. Und er entdeckte, er
-durchschaute die Menschen seiner Umgebung, gerade diejenigen, die ihm
-die feindlichsten waren, die Intellektuellen und die Politiker, er sah
-ihre Falten, ihre weiß gewordenen Haare, den bitteren Zug um den Mund,
-ihren gekrümmten Rücken und ihre gebrechlichen Beine, sah, wie sie
-angespannt, angekrampft waren und jeden Augenblick in Gefahr,
-zusammenzubrechen.... Wie waren sie doch gealtert in den letzten sechs
-Monaten! Im Anfang hatte die Kampfbegeisterung sie noch aufgestrafft,
-aber je länger der Krieg fortdauerte, je mehr (was immer auch für einen
-Ausgang er nehmen würde) seine ungeheuren Verheerungen zur Gewißheit
-wurden, desto mehr lastete auf jedem die Trauer um Gefallene und die
-Furcht, das Wenige, was ihm geblieben war und das für ihn ein
-Unendliches bedeutete, zu verlieren. Sie taten alles, um ihre Angst
-nicht zu verraten, mit der äußersten Qual preßten sie die Zähne
-zusammen, aber selbst bei den Gläubigsten unter ihnen war die Wunde des
-Zweifels offen.... Freilich, man mußte schweigen! Darüber durfte man
-nicht sprechen; es aussprechen, hieß sich selbst vernichten....
-Clerambault, der sich an Madame Mairet erinnerte, gelobte sich, von
-Mitleid durchdrungen, zu schweigen. Aber es war schon zu spät, man
-kannte seine Anschauungen, er war gewissermaßen die lebendige
-Verneinung, das wandelnde Gewissen. Man haßte ihn, aber Clerambault war
-ihnen darum nicht mehr böse. Am liebsten hätte er ihnen geholfen, ihre
-Illusionen wieder neu aufzubauen.
-
-Von welch tragischer Größe, wie bemitleidenswert wird doch diese
-Leidenschaft einer Überzeugung im Innern einer Seele gerade dann, wenn
-sie sich selbst ihrer nicht mehr sicher fühlt. Bei den Politikern
-bedient sich diese Leidenschaft des lächerlichen Apparats der
-scharlatanhaften Deklamation, bei den Intellektuellen des tollen Trotzes
-krankhaft überreizter Gehirne. Aber des ungeachtet sah man überall die
-unheilbare Wunde, hörte den Angstschrei nach Gläubigkeit, den Schrei
-nach dem heroischen Wahn. Bei den jungen und schlichteren Menschen nahm
-diese Gläubigkeit einen rührenden Charakter an, bei ihnen gab es nicht
-dieses Pathos, dieses vorgetäuschte Allwissen. Nur den Schwur
-ekstatischer Liebe kannte sie, die alles hingegeben hat und dafür nur
-ein Wort erwartet, die Antwort: „Ja, es ist wahr, du lebst, meine
-Geliebte, mein Vaterland, du göttliche Macht, die mir das Leben und
-alles, was ich liebte, genommen hat....“ Und man fühlte ein Verlangen,
-sich hinzuknien vor diesen armen, kleinen Trauerkleidern, diesen
-Müttern, Bräuten und Schwestern, ihre abgemagerten Hände zu küssen, die
-vor Hoffnung und Furcht eines Jenseits zitterten, und zu sagen: „Weint
-nicht! Ihr werdet getröstet sein!“
-
-Aber wie sie trösten, wenn man nicht an jenes Ideal glaubt, das sie
-leben läßt und das sie tötet? Ohne daß er sie kommen gefühlt, war die
-lange gesuchte Antwort endlich ihm nahe geworden, die Antwort: „Man muß
-die Menschen mehr als den Wahn und mehr als die Wahrheit lieben.“
-
- §
-
-Die Liebe Clerambaults fand keine Gegenliebe. Niemals war er mehr
-attackiert worden, obwohl er schon seit Monaten keine Zeile mehr
-veröffentlicht hatte, und im Herbst 1917 erreichten die Angriffe gegen
-ihn ein ganz unerhörtes Maß von Gewalttätigkeit. Lächerlich war dieses
-Mißverhältnis zwischen der schwachen Stimme dieses einzelnen Mannes und
-jenen Wutausbrüchen, doch dieses Mißverhältnis ergab sich gleicherweise
-in allen Ländern der Welt. Ein Dutzend armseliger, isolierter,
-engumschlossener Pazifisten, die keine Möglichkeit besaßen, in
-irgendeiner großen Zeitung zu Worte zu kommen, und die ihre gewiß
-rechtliche, aber doch nicht weitklingende Stimme kaum erheben konnten,
-entfesselte eine wahre Frenesie von Beschimpfungen und Drohungen gegen
-sich. Beim kleinsten Widerspruch verfiel das vielköpfige Ungeheuer, die
-öffentliche Meinung, sofort in Epilepsie. — Der weise Perrotin, der
-sich sonst über nichts wunderte, der klug abseits geblieben war und
-Clerambault in sein Verderben rennen ließ (da sein Herz es so wollte),
-erschrak im stillen vor diesem aufschäumenden Übermaß tyrannischer
-Dummheit. Ist man einmal in der Geschichte um Jahre über solche Zeiten
-hinaus, so wird man darüber lächeln, aber von nahe gesehen, merkte man,
-daß die menschliche Vernunft damals dicht vor dem Zusammenbruche stand.
-Man mußte sich fragen, warum gerade in diesem Kriege die Menschen viel
-allgemeiner ihre Ruhe verloren hatten als in jedem anderen der
-Vergangenheit. Ist er denn wirklich gewalttätiger gewesen? Kinderei! Und
-bewußtes Vergessen alles dessen, was zu unserer Zeit vor unseren Augen
-geschehen ist in Armenien, auf dem Balkan, bei der Niederdrückung der
-Kommune, in Kolonialkriegen und bei den neuen Konquistadoren Chinas und
-des Kongos.... Von allen Wesen der Erde ist, wir wissen es ja, der
-Mensch das grausamste Tier. — Oder kam es davon, daß sich die Menschen
-besonders auf diesen Krieg vorbereitet hatten? Im Gegenteil! Die Völker
-des Abendlandes waren an einem Punkt der Entwicklung angelangt, wo der
-Krieg dermaßen absurd wird, daß es unmöglich ist, ihn bei voller, bewußt
-bewahrter Vernunft durchzuführen. Deshalb war es nötig, die Vernunft zu
-betäuben, zu delirieren, wollte man nicht den Tod erleiden, den Tod
-durch Verzweiflung oder durch den schwärzesten Pessimismus. Deshalb
-regte auch die Stimme eines einzelnen, der seine Vernunft behalten
-hatte, die anderen, die alle gewaltsam vergessen wollten, so zum Zorn
-auf, denn sie hatten Angst, diese Stimme könne sie selbst erwecken und
-sie würden ernüchtert, nackt sich selbst und ihrer ganzen Schmach ins
-Auge sehen müssen.
-
-Überdies war damals die Situation für den Krieg ungünstig. Die große
-neuangefachte Hoffnung auf den Sieg und den Ruhm verflüchtigte sich,
-denn immer klarer wurde es, von welcher Seite man auch das Problem
-betrachtete, daß der Krieg für alle Beteiligten ein sehr schlechtes
-Geschäft sein würde. Weder die materiellen Interessen, noch der Ehrgeiz,
-noch der Idealismus schienen auf ihre Rechnung zu kommen, und diese
-bittere bald bevorstehende Enttäuschung, daß Millionen Menschen ohne
-Resultat aufgeopfert sein sollten, ließ die Menschen, die sich moralisch
-verantwortlich fühlten, vor Wut schäumen. Sie hatten nur zwei
-Möglichkeiten, entweder sich selbst anzuklagen oder sich an anderen zu
-rächen. Und da fiel ihnen die Wahl natürlich nicht schwer. Wer diesen
-Mißerfolg vorausgesehen und alles daran gesetzt hatte, ihn zu
-verhindern, den machten sie nun verantwortlich für das Mißlingen. Jeder
-Rückzug in der Armee, jede Dummheit der Diplomaten suchte sich sofort
-mit einer pazifistischen Machination zu entschuldigen. Diesen Menschen,
-die niemand kannte, die bei niemand beliebt waren und auf die niemand
-hörte, schrieben ihre Gegner eine ungeheure Macht zu, eine ganze
-Organisation der Niederlage. Und damit niemand sich darüber täusche, daß
-sie nicht den starken Sieg wollten, hing man ihnen das Wort „Flaumacher“
-um den Hals. Es fehlte nur noch, daß man, so wie einst in der guten
-alten Zeit die Ketzer, sie auch verbrannte. Der Henker war noch nicht
-zur Stelle, wohl aber die Henkersknechte.
-
-Um in Schwung zu kommen, hielt man sich zunächst an ungefährliche Leute,
-an Frauen, Lehrer, die niemand kannte, und die sich schlecht zu
-verteidigen wußten. Dann erst suchte man sich die saftigeren Bissen aus.
-Für gerissene Politiker war das eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich
-gefährlicher Rivalen zu entledigen, die einige unangenehme Geheimnisse
-ihrer Herren von gestern wußten. Und nach dem alten Rezept vermischte
-man dann in geschickter Weise die Anklagen, nähte gemeine Schwindler und
-jene Menschen, deren Charakter oder Geist beunruhigte, in denselben
-Sack, damit bei diesem Mischmasch das verdutzte Publikum nicht einmal
-mehr versuchen konnte, einen anständigen Menschen von einem Lumpen zu
-unterscheiden. Wer noch nicht genügend durch seine Tätigkeit
-kompromittiert war, galt dann als kompromittiert durch seine
-Bekanntschaften und seine Beziehungen. Und fehlten auch diese, so konnte
-man sie ja herbeischaffen, sie wurden ganz nach Maß des Anklageaktes
-jederzeit rasch zurechtgeschnitten.
-
-War es festzustellen, ob Xavier Thouron im bestellten Auftrage
-Clerambault aufsuchte? Es wäre wohl möglich gewesen, daß er aus eigenem
-Antrieb kam, freilich, wer konnte sagen, zu welchem Zweck. Wußte er es
-selbst? Im Sumpf der Großstadt gibt es immer skrupellose, fieberhaft
-tätige arbeitsscheue Abenteurer, die überall wie die Wölfe
-herumschnüffeln und suchen, „_quem devorent_“. Ihr Hunger und ihre
-Neugier sind ungeheuer und alles dient ihnen dazu, dieses bodenlose Faß
-zu füllen. Schwarz oder Weiß, sie tun alles ohne Gewissensbedenken, sie
-sind ebenso bereit, einen ins Wasser zu werfen, wie hineinzuspringen, um
-ihn herauszuziehen. Um ihr Leben haben sie keine Angst, sie wollen nur
-das Tier in sich füttern und amüsieren. Wenn solche Menschen nur für
-einen Augenblick aufhörten, ihre Grimassen zu schneiden und zu
-schlingen, würden sie an Langeweile und Selbstabscheu zugrunde gehen.
-Aber damit hat es keine Not, dazu sind sie zu klug; sie verlieren keine
-Zeit damit, darüber nachzudenken, wie sie „in Schönheit sterben“
-könnten.
-
-Niemand hätte recht sagen können, was Thouron eigentlich wollte, als er
-Clerambault aufsuchte. Wie immer war er ausgehungert, herumgehetzt,
-ziellos und nach einem Braten schnuppernd. Er gehörte zu den Seltenen
-seiner Klasse (und damit zum Typ der großen Journalisten), die, ohne
-sich die Mühe zu nehmen, das, worüber sie sprechen, zuvor zu lesen, sich
-doch rasch eine lebendige, blendende und oft wie durch ein Wunder sogar
-ziemlich richtige Vorstellung machen können. Ohne zuviel Irrtümer
-entwickelte er Clerambaults „Evangelium“ und tat so, als ob er daran
-glaube. Vielleicht glaubte er wirklich daran, solange er sprach. Warum
-auch nicht? Er war ja auch zu gewissen Stunden Pazifist. Das hing vom
-Wind ab, der gerade wehte, von der Haltung gewisser Kollegen, denen er
-gerade nachbetete oder denen er widersprach. Clerambault war von seinen
-Worten berührt. Nie hatte er sich ganz das kindliche Vertrauen in den
-ersten Besten, der ihn um Hilfe bat, abgewöhnen können, und dann war er
-von den gegnerischen Zeitungen nicht allzu verwöhnt. In der Überfülle
-des Herzens ließ er sich also seine geheimsten Gedanken entlocken. Der
-andere nahm sie in scheinbarer Ergebenheit auf.
-
-Eine so eng eingegangene Bekanntschaft konnte nicht auf diesem Punkt
-stehen bleiben. Ein Briefwechsel begann zwischen den beiden, in dem der
-eine sprach und der andere ihn zum Sprechen verlockte. Thouron wollte
-durchaus Clerambault bereden, seine Gedanken in kleinen populären
-Traktaten auszusprechen, und bot sich an, sie in den Arbeiterkreisen zu
-verbreiten. Clerambault zögerte und sagte schließlich nein, und zwar
-nicht deshalb, weil er aus Prinzip (wie es heuchlerisch die Anhänger der
-bestehenden Ordnung und Ungerechtigkeit tun) die geheime Propaganda
-einer neuen Wahrheit mißbilligte, wenn keine öffentliche möglich war —
-jede unterdrückte Wahrheit flüchtet sich ins Unterirdische, in die
-Katakomben —, sondern er sagte nein, weil er sich seinerseits für eine
-solche Form der Wirksamkeit nicht bestimmt fühlte. Seine Aufgabe war,
-ganz offen zu sagen, was er dachte, und die Folgen seiner Worte auf sich
-zu nehmen. Das Wort mußte sich dann durch sich selbst verbreiten —
-seine Aufgabe konnte nicht sein, es den Menschen ins Haus zu tragen.
-Überdies warnte ihn ein geheimer Instinkt — er wäre errötet, hätte er
-sich erlaubt, ihn wach werden zu lassen —, eine Art von Mißtrauen gegen
-die dienstfertig angebotene Hilfe seines neuen Commis voyageur. Freilich
-konnte er dessen Eifer nicht immer im Zaume halten. Thouron
-veröffentlichte in seiner Zeitung eine Verteidigung Clerambaults,
-erzählte darin über seine Gespräche und Besuche, entwickelte die
-Gedanken seines Meisters und kommentierte sie. Clerambault war sehr
-erstaunt, als er seine eigenen Gedanken dort las, denn er kannte sie in
-dieser Form nicht wieder. Dennoch konnte er aber seine Vaterschaft nicht
-verleugnen, denn in die Kommentare Thourons waren Zitate aus seinen
-Briefen eingefügt, deren Text vollkommen korrekt war. Freilich erkannte
-er sich in diesen noch weniger, denn die selben Sätze nahmen in den
-Zusätzen, in die sie eingepfropft waren, einen Akzent und eine Farbe an,
-die er ihnen nie gegeben hatte. Dazu kam, daß die Zensur, besorgt um das
-Heil des Staates, hie und da aus den Zitaten eine halbe Zeile oder ganze
-Zeilen und ganz unschuldige Absätze herausgeschnitten hatte, deren
-Unterdrückung natürlich dem überreizten Gefühl des Lesers die
-ungeheuerlichsten Dinge suggerierte. Die Wirkung dieser Veröffentlichung
-ließ selbstverständlich nicht auf sich warten; es war Öl ins Feuer, und
-Clerambault wußte nicht, welche Heiligen er anrufen sollte, um seinen
-Verteidiger zum Schweigen zu bringen. Böse konnte er ihm freilich nicht
-sein, denn Thouron bekam auch sein gutes Teil an Drohungen und
-Beschimpfungen ab, nahm sie aber entgegen, ohne mit der Wimper zu
-zucken. Sein Fell war schon von früher reichlich gegerbt.
-
-Daß sie beide gemeinsam beschimpft worden waren, schien Thouron ein
-Verfügungsrecht über Clerambault zu geben. Zuerst versuchte er, ihm
-Aktien seiner Zeitung anzuhängen, und nahm ihn dann, ohne ihn vorher zu
-verständigen, öffentlich in das Ehrenkomitee seines Blattes auf. Er war
-sehr ungehalten darüber, daß Clerambault, der erst einige Wochen später
-davon erfuhr, damit nicht zufrieden war, und von nun ab erkalteten ihre
-Beziehungen, obwohl Thouron nicht aufhörte, deshalb doch von Zeit zu
-Zeit in seinen Artikeln den Namen seines „berühmten Freundes“ wie eine
-Fahne zu hissen.... Clerambault ließ es ruhig geschehen, überglücklich,
-ihn um diesen Preis los zu sein. Und er hatte ihn schon ganz aus den
-Augen verloren, als er eines Tages hörte, Thouron sei verhaftet. Man
-beschuldigte ihn irgendeiner schmutzigen Geldangelegenheit, in der die
-öffentliche Erregtheit natürlich die Hand des Feindes sehen wollte. Die
-dem von höherer Stelle gegebenen Wink immer gehorsame Justiz fand
-natürlich zwischen diesen Mogeleien und der sozusagen pazifistischen
-Tätigkeit, die Thouron in seinem Blatte abwechselnd mit plötzlichen
-Anfällen von Kriegswut ab und zu, aber nie regelmäßig und bewußt,
-entwickelt hatte, Zusammenhänge. Selbstverständlich machte man ihn zum
-Teilhaber an dem Defaitistenkomplott. Und die Beschlagnahme seiner
-Korrespondenz gab nun gute Gelegenheit, alle diejenigen zu
-kompromittieren, die man gerade kompromittieren wollte. Thouron hatte
-sich sorgfältig alle an ihn gerichteten Briefe aufbewahrt, es waren
-darunter solche von allen Parteien, und nun konnte man nach Belieben
-auswählen. Und man wählte.
-
-Clerambault erfuhr durch die Zeitungen, daß auch er zu den Erwählten
-zählte. Nun jubelten sie! Endlich hatte man ihn erwischt! Jetzt erklärte
-sich ja alles. Denn nicht wahr, dafür, daß irgendein Mensch anders
-denkt, als die ganze Welt, dafür muß doch irgendein unterirdischer
-niedriger Beweggrund vorhanden sein! Man muß ihn nur suchen, dann wird
-man ihn schon finden.... Nun hatte man ihn gefunden. Ohne weiteres
-abzuwarten, kündigte ein Pariser Blatt öffentlich den „Verrat“
-Clerambaults an. In den Akten der Justiz war dafür natürlich kein Beleg,
-aber die Justiz ließ es ruhig sagen und berichtigte nicht, es ging sie
-ja nichts an. Vergebens bat Clerambault den Untersuchungsrichter, zu dem
-er berufen ward, man möchte ihm doch sagen, was für ein Delikt er
-begangen habe. Der Richter war höflich, zeigte alles Entgegenkommen, das
-einem Mann seines Namens gebührte, schien aber keine Eile zu haben, zu
-einem Ende zu kommen. Es war, als ob er noch auf irgendetwas wartete ...
-Worauf?... Auf das Delikt.
-
- §
-
-Frau Clerambault hatte nichts von einer antiken Römerin oder von dem
-Geiste der stolzen Jüdin in der berühmten Affäre, die Frankreich vor
-ungefähr zwanzig Jahren in einem leidenschaftlichen Widerspruch zerriß
-— von jenen Frauen, die gerade durch die öffentliche Ungerechtigkeit
-gegen ihren Mann nur noch enger mit ihm verbunden werden. Ihr wohnte
-jener Instinkt ängstlichen Respekts der französischen Bourgeoisie vor
-der staatlichen Justiz inne, und obwohl sie guten Grund hatte zu wissen,
-daß die Beschuldigungen gegen Clerambault nicht stichhaltig waren, so
-schien ihr die Tatsache selbst, daß er überhaupt unter Anklage stand,
-schon eine Unehre, von der sie sich beschmutzt fühlte. Sie konnte nicht
-schweigend darüber hinwegkommen. Clerambault fand als Antwort auf ihre
-Vorwürfe, ohne es selbst zu wollen, gerade die Form, die sie am meisten
-außer sich brachte. Statt ihr zu entgegnen oder zum mindesten sich zu
-verteidigen, sagte er nur:
-
-„Du Arme.... Ja, ja, ich verstehe dich ja.... Es ist ein Unglück für
-dich.... Ja, ja, du hast ja recht ...“
-
-Und er wartete, bis das Unwetter vorüber war. Diese ruhige Hinnahme
-brachte Frau Clerambault, die wütend war, ihm nicht beikommen zu können,
-gänzlich aus der Fassung. Denn sie fühlte vollkommen, daß er nichts an
-seiner Handlungsweise ändern würde, obwohl er ihr recht gab. Aus
-Verzweiflung ließ sie ihm das letzte Wort und schüttete ihre ganze
-Erbitterung vor ihrem Bruder aus. Leo Camus war der Letzte, ihr zur
-Nachsicht zu raten, er schlug ihr vielmehr vor, sich scheiden zu lassen,
-ja, er stellte ihr dies sogar als ihre Pflicht hin. Aber das war zuviel
-verlangt. Der traditionelle Abscheu vor der Ehescheidung ließ in dieser
-braven Bürgerfrau erst so recht das Bewußtsein ihrer tiefen Treue
-erwachen. Das Heilmittel schien ihr schlimmer als das Übel. So blieben
-die beiden Eheleute beisammen, aber die Innigkeit ihrer Gemeinschaft war
-dahin.
-
-Rosine war fast immer abwesend. Um ihre Qual zu vergessen, bereitete sie
-sich für eine Krankenpflegerinprüfung vor und verbrachte den größten
-Teil des Tages außerhalb des Hauses. Aber auch wenn sie daheim war,
-weilten ihre Gedanken anderwärts. Clerambault hatte die einstige
-Stellung im Herzen seiner Tochter verloren, ein anderer hatte sie inne:
-Daniel. Sie blieb kühl gegenüber den zärtlichen Annäherungen ihres
-Vaters: es war dies für sie eine Art, ihn dafür zu bestrafen, daß er
-absichtslos den Bruch mit dem Freunde verursacht hatte. Sie war sich
-vollkommen dieser Abwehr bewußt und zu gerecht, um sich daraus nicht
-einen Vorwurf zu machen. Aber das änderte nichts an ihrem Verhalten:
-ungerecht sein erleichtert das Herz.
-
-Auch Daniel vergaß nicht, daß er unvergessen war. Er mochte seine
-Handlungsweise nicht sehr rühmenswert finden und schob, um allen
-Gewissensbissen auszuweichen, die Verantwortung dafür seiner Umgebung
-zu, deren tyrannischer Meinungszwang ihn gebunden hätte. Aber im
-Innersten war er nicht recht befriedigt.
-
-Der Zufall kam den beiden schmollenden Verliebten zu Hilfe. Ernstlich,
-wenn auch nicht gefährlich verletzt, wurde Daniel nach Paris
-zurückgebracht. Während seiner Rekonvaleszenz begegnete er Rosine vor
-dem Bon Marché. Er zögerte einen Augenblick, doch sie tat nicht
-desgleichen, sondern kam auf ihn zu; sie gingen zusammen über den Platz
-und begannen eine lange Unterhaltung, die nach anfänglichem Zögern und
-einem Hin und Her von Vorwürfen und Geständnissen schließlich zu einer
-völligen Einigung führte. Und so sehr waren die beiden in ihre zärtliche
-Auseinandersetzung vertieft, daß sie Frau Clerambault nicht
-vorüberkommen sahen. Die gute Frau, wütend über diese für sie
-unerwartete Begegnung, lief schleunigst nach Hause, die Neuigkeit
-Clerambault zu übermitteln, denn trotz ihrer Unstimmigkeiten konnte sie
-vor ihm nicht schweigen. Auf ihre aufgeregte Erzählung — denn die
-Intimität ihrer Tochter mit einem Manne, dessen Familie sie beleidigt
-hatte, schien ihr unerhört unstatthaft — erwiderte Clerambault nach
-seiner neuen Gewohnheit zunächst nichts. Dann lächelte er, hob den Kopf
-und sagte schließlich:
-
-„Das ist ja ausgezeichnet.“
-
-Frau Clerambault unterbrach sich, zuckte mit den Achseln und machte
-Miene, aus dem Zimmer zu gehen. Bei der Tür aber wandte sie sich noch
-einmal um und sagte empört:
-
-„Diese Leute haben dich und deine Tochter beleidigt, und ihr waret beide
-einer Meinung, man solle nicht mehr mit ihnen verkehren. Jetzt macht
-deine Tochter, die sich von ihnen hat zurückweisen lassen, ihnen wieder
-Avancen und du findest das ausgezeichnet! Das soll der Teufel
-verstehen.... Ihr seid ja Narren.“
-
-Clerambault versuchte ihr zu erklären, daß das Glück seiner Tochter
-nicht darin bestünde, seiner Meinung zu sein, und daß Rosine nur recht
-hatte, für ihren Teil die Dummheiten ihres Vaters gutzumachen.
-
-„Deine Dummheiten ... nun“, sagte Frau Clerambault, „das ist das erste
-vernünftige Wort, das du in deinem ganzen Leben ausgesprochen hast.“
-
-„Siehst du“, antwortete Clerambault.
-
-Er ließ sich von ihr versprechen, Rosine nichts zu sagen, damit sie ganz
-frei ihren kleinen Liebesroman durchführen könne.
-
-Als Rosine heimkehrte, strahlte ihr Gesicht, aber sie erzählte nichts.
-Für Frau Clerambault war es eine große Anstrengung, zu schweigen,
-Clerambault dagegen beobachtete mit zärtlichem Behagen, wie das Glück
-wieder im Gesicht seiner Tochter strahlte. Er wußte nicht genau, was
-vorgefallen war, aber er konnte es sich wohl denken — nämlich, daß
-Rosine ihn ganz einfach über Bord geworfen hatte. Zweifellos hatten die
-beiden Verliebten sich auf Kosten ihrer Eltern geeinigt und mit
-wundervoller Gleichmütigkeit die gegenseitigen Übertreibungen ihrer
-alten Leute einander preisgegeben. Daniel war in den Leidensjahren des
-Schützengrabens, ohne in seinem Patriotismus erschüttert zu sein, doch
-vom engherzigen Fanatismus seiner Familie frei geworden, Rosine wiederum
-— sie handelten Zug um Zug — hatte sanft zugegeben, daß ihr Vater im
-Irrtum war. Ihr frommes und ein wenig gleichgültiges Herz fand sich
-leicht mit der stoischen Unterwerfung Daniels unter die herrschende
-Ordnung zusammen, und sie hatten beschlossen, gemeinsam ihren Weg zu
-gehen, ohne sich weiterhin zu kümmern um die Zänkereien der Alten, die
-vor ihnen waren, und die sie nun hinter sich zurückließen. Über die
-Zukunft machten sie sich weiter keine Sorgen. So wie all die Millionen
-Wesen verlangten sie von der großen Welt nichts als ihr Teil an
-augenblicklichem Glück und schlossen die Augen vor dem Rest.
-
-Frau Clerambault war aus dem Zimmer gegangen, verärgert darüber, daß
-ihre Tochter nichts von der Begegnung erzählt hatte. Clerambault und
-Rosine träumten vor sich hin, er vor dem Fenster, seine Zigarre
-rauchend, Rosine eine Zeitung in der Hand, in der sie nicht las. Vor
-ihren inneren Augen versuchte sie, sich noch einmal die Einzelheiten
-ihrer eben erlebten Augenblicke wieder vorzumalen, da begegneten sie dem
-müden Gesicht ihres Vaters. Es war ein Ausdruck von Melancholie darin,
-der sie erschütterte. Sie stand auf, stellte sich hinter ihn, legte ihm
-die Hand auf die Schulter und sagte mit einem kleinen Seufzer von
-Mitleid, der aber doch ihre innere Zufriedenheit nicht ganz verbergen
-konnte:
-
-„Armer Papa!“
-
-Clerambault hob die Augen, sah Rosine an, deren Züge gegen ihren eigenen
-Willen noch ganz hell und strahlend waren.
-
-„Das kleine Mädchen aber“, sagte er, „ist also nicht mehr arm?“
-
-Rosine errötete.
-
-„Warum sagst du das?“ fragte sie.
-
-Clerambault drohte mit dem Finger. Rosine neigte sich von rückwärts über
-ihn, lehnte ihre Wange an die Wange ihres Vaters.
-
-„Es ist also nicht mehr arm?“ wiederholte er.
-
-„Nein“, sagte Rosine, „im Gegenteil, sie ist jetzt sehr reich.“
-
-„So sag doch ein wenig, was hat sie alles?“
-
-„Sie hat ... natürlich zunächst ihren lieben Papa ...“
-
-„Oh, die kleine Lügnerin“, sagte Clerambault, während er versuchte, sich
-von ihr loszumachen und ihr in die Augen zu sehen.
-
-Aber Rosine bedeckte ihm die Augen und den Mund mit der Hand.
-
-„Nein, ich will nicht, daß du mich anschaust, ich will nicht, daß du
-noch weiterredest.“ Und sie umarmte ihn und sagte dann nochmals, während
-ihre Hand ihn umschmeichelte:
-
-„Armer Papa!“
-
- §
-
-Den Sorgen des Hauses war sie nun glücklich entkommen, und bald flog sie
-ganz aus dem Nest. Nach erfolgreicher Absolvierung ihrer
-Pflegerinprüfung wurde sie in ein Provinzspital gesandt: nun fühlten die
-Clerambaults noch schmerzlicher die Leere ihres Heims.
-
-Der Einsamere von ihnen war aber nicht Clerambault. Er wußte es und
-beklagte aufrichtig seine Frau, die weder stark genug war, ihm zu
-folgen, noch sich von ihm loszulösen. Er für seinen Teil konnte, was
-immer auch geschah, auf gewisse Sympathien zählen, ja, es war sogar
-gewiß, daß gerade eine Verfolgung neue erwecken und die bisher
-zurückgehaltenen ans Tageslicht bringen würde. Und eben in diesem
-Augenblick war eine sehr teure Zuneigung zu ihm gekommen.
-
-Eines Tages, als er allein in seinem Zimmer saß, läutete es, er ging
-hinaus und öffnete die Tür. Eine Dame, die er nicht kannte, überreichte
-ihm einen Brief und sagte, er sei für ihn bestimmt. Im Dunkel des
-Vorraumes glaubte sie anfangs, es mit einem Diener zu tun zu haben, und
-merkte erst später ihren Irrtum. Er wollte sie bitten, einzutreten, aber
-sie sagte:
-
-„Nein, ich bin nur die Überbringerin.“
-
-Sie ging wieder fort, aber kaum daß sie gegangen war, bemerkte er ein
-kleines Veilchensträußchen, das sie auf den Schrank bei der Tür
-hingelegt hatte.
-
-Im Briefe aber stand:
-
- „_Tu ne cede malis, sed contra audentior ito._“
-
-„Sie kämpfen für uns, und Ihr Herz ist in uns. Geben Sie uns Ihre
-Leiden, ich gebe Ihnen meine Hoffnung, meine Kraft, meine Liebe — ich,
-der ich nicht mehr tätig sein kann, der nur durch Sie tätig zu sein
-vermag.“
-
-Die jugendliche Inbrunst und die letzten, ein wenig mysteriösen Worte
-bewegten und erregten Clerambault. Er versuchte, sich das Bildnis seiner
-Besucherin zu erwecken. Sie war nicht mehr ganz jung gewesen: ziemlich
-scharfe Züge, dunkle und ernste Augen, die leise aus dem matten Antlitz
-lächelten. Wo hatte er sie nur schon gesehen? Aber trotz aller inneren
-Mühe verschwand das Bild immer mehr.
-
-Schon einige Tage später fand er die Fremde in einer Allee des
-Luxembourggartens einige Schritte vor sich wieder. Sie ging an ihm
-vorbei, aber er überquerte die Allee, um ihr zu begegnen. Sie blieb
-stehen, als sie ihn kommen sah. Er dankte ihr und fragte sie, warum sie
-so rasch fortgegangen sei, ohne sich ihm bekanntzumachen? In diesem
-Augenblick bemerkte er, daß er sie seit langem kannte. Schon oft war er
-ihr früher im Luxembourggarten oder den umliegenden Straßen mit einem
-großen Jungen, offenbar ihrem Sohne, begegnet, und immer, wenn er an
-ihnen vorbei kam, hatten ihn ihre Blicke mit einem leisen Lächeln
-vertrauter Ehrfurcht begrüßt und, ohne daß er ihren Namen wußte, ohne
-daß er jemals mit ihnen ein Wort gewechselt hatte, gehörten sie für ihn
-zu jenen lieben und vertrauten Schatten, die unser tägliches Leben
-begleiten, und die wir nicht immer bemerken, solange sie neben uns sind,
-die uns aber sofort eine Leere fühlen lassen, sobald sie verschwinden.
-Deshalb übertrug sich unbewußt auch sein Gedanke von der Frau vor ihm
-auf den jungen Begleiter, der ihm an ihrer Seite fehlte, und er sagte
-mit einer plötzlichen unvorsichtigen Eingebung (unvorsichtig, denn wer
-weiß in diesen Zeiten der Trauer jene, die noch in der Welt der
-Lebendigen sind?):
-
-„War es Ihr Sohn, der an mich geschrieben hat?“ „Ja“, sagte sie, „er
-liebt Sie sehr. Wir lieben Sie seit langem.“
-
-„Er soll doch zu mir kommen!“
-
-Ein Schatten von Traurigkeit verhüllte das Antlitz der Mutter.
-
-„Er kann ja nicht.“
-
-„Wo ist er denn? An der Front?“
-
-„Nein, hier.“
-
-Nach einem Augenblick des Schweigens fragte Clerambault:
-
-„Ist er verwundet?“
-
-„Wollen Sie ihn sehen?“ antwortete die Mutter.
-
-Clerambault begleitete sie. Sie schwieg, und er wagte nicht, zu fragen.
-Er sagte nur:
-
-„Zum mindesten haben Sie ihn um sich.“
-
-Sie verstand und reichte ihm die Hand.
-
-„Wir stehen einander sehr nahe.“
-
-Er wiederholte:
-
-„Aber Sie haben ihn wenigstens noch.“
-
-„Ich habe seine Seele“, sagte sie.
-
-Sie waren zu dem Haus gelangt, einem jener alten Gebäude aus dem
-siebzehnten Jahrhundert, in einer der engen und noch historisch
-erhaltenen Straßen zwischen dem Luxembourg und Saint-Sulpice, in denen
-noch die zusammengehaltene Schönheit des alten Paris sichtbar geblieben
-ist. Die große Tür selbst war tagsüber geschlossen, Frau Froment ging
-Clerambault voraus, stieg am Ende des steingepflasterten Hofes ein paar
-Schwellen empor und schloß die Tür der ebenerdig gelegenen Wohnung auf.
-
-„Mein kleiner Edme“, sagte sie, während sie die Zimmertür auftat, „eine
-Überraschung für dich!... Rate einmal ...“
-
- §
-
-Clerambault sah im Bett einen jungen Mann ausgestreckt, der ihn ansah.
-Das blonde Antlitz des Fünfundzwanzigjährigen, dem die Abendsonne einen
-rötlichen Schein gab, war von klugen Augen erhellt und schien so gesund
-und ruhevoll, daß man gar nicht auf den Gedanken einer Krankheit kam,
-wenn man ihn sah.
-
-„Sie!...“ sagte er, „Sie hier!“
-
-Eine freudige Überraschung verjüngte noch mehr seine knabenhaften Züge,
-aber weder sein Leib noch seine Arme machten eine Bewegung unter der
-Decke. Und Clerambault merkte, daß nur sein Kopf wirklich lebendig war.
-
-„Mama hat mich verraten“, sagte Edme Froment.
-
-„Sie wollten mich also nicht sehen?“ fragte Clerambault und neigte sich
-über sein Kissen. „Das will ich nicht sagen“, antwortete Edme, „ich
-möchte nur nicht gern gesehen werden.“
-
-„Und warum denn?“ fragte Clerambault gutmütig, mit einer leichten
-Anstrengung, heiter zu scheinen.
-
-„Weil man niemand einladet, wenn man nicht mehr zu Hause ist.“
-
-„Wo sind Sie denn?“
-
-„Mein Gott, ich möchte fast darauf schwören ... in einer ägyptischen
-Mumie....“
-
-Und er deutete mit einem Blick auf das Bett, in dem sein Körper
-unbeweglich lag.
-
-„Es ist kein Leben mehr darin“, sagte er.
-
-„Du bist der Lebendigste von uns allen“, protestierte eine Stimme neben
-ihm.
-
-Clerambault bemerkte auf der anderen Seite des Bettes einen jungen Mann
-etwa im Alter Edme Froments, der voll Gesundheit und Kraft schien. Edme
-Froment lächelte und sagte zu Clerambault:
-
-„Mein Freund Chastenay hat so viel Leben in sich, daß er mir davon
-leiht.“
-
-„Ach, wenn ich es dir geben könnte“, sagte der andere.
-
-Die beiden Freunde wechselten einen zärtlichen Blick.
-
-Chastenay fuhr fort:
-
-„Ich würde dir dann doch nur einen Teil dessen geben, was ich dir
-verdanke ...“
-
-Und indem er sich an Clerambault wandte:
-
-„Er ist es, der uns alle aufrecht hält, nicht wahr, Frau Fanny?“
-
-Die Mutter sagte zärtlich:
-
-„Mein guter Sohn, das ist wohl wahr.“
-
-„Ihr macht euch den Umstand zunutze“, sagte Edme, „daß ich mich nicht
-verteidigen kann....“ (Und zu Clerambault sprechend:) „Sie sehen, ich
-bin gefangen und kann mich nicht rühren.“
-
-„Sie sind verwundet?“
-
-„Gelähmt.“
-
-Clerambault wagte nicht, nach Einzelheiten zu fragen.
-
-„Sie haben aber keine Schmerzen?“
-
-„Ach, ich wünschte es mir vielleicht, denn der Schmerz ist immerhin noch
-ein Band, das uns mit dieser Welt verknüpft. Aber ich gebe es zu, daß
-ich mich an das schwere Schweigen dieses Körpers, in den ich eingetan
-bin, langsam gewöhne ... übrigens, sprechen wir nicht mehr davon,
-jedenfalls der Geist ist frei. Wenn es auch nicht wahr ist, daß er
-„_agitat molem_“, so schlüpft er doch gern heraus.“
-
-„Jüngst“, sagte Clerambault, „war er bei mir zu Gaste.“
-
-„Das war nicht zum erstenmal, er ist oft zu Ihnen gekommen.“
-
-„Und ich glaubte mich so allein....“
-
-„Erinnern Sie sich“, sagte Edme, „an das Wort Randolphs zu Cecil: Die
-Stimme eines einzigen Menschen ist imstande, in einer Stunde mehr Leben
-in uns zu bringen, als der Lärm von 500 Trompeten, die unaufhörlich
-blasen.“
-
-„Das gilt aber auch von dir“, sagte Chastenay.
-
-Froment schien seine Worte nicht gehört zu haben und sagte wieder zu
-Clerambault:
-
-„Sie haben uns erweckt!“
-
-Clerambault betrachtete die schönen, tapferen und ruhigen Augen des vor
-ihm Liegenden und sagte:
-
-„Diese Augen bedurften dessen nicht!“
-
-„Jetzt bedürfen sie dessen nicht mehr“, antwortete Edme. „Man sieht
-besser aus der Entfernung, wenn man aus den Dingen heraus ist. Aber
-solange ich nahe, ganz nahe war, konnte ich nichts unterscheiden.“
-
-„So sagen Sie mir, was Sie jetzt sehen?“
-
-„Es ist spät“, antwortete Edme, „und ich bin ein wenig müde. Wollen Sie
-vielleicht ein andermal kommen?“
-
-„Ich komme morgen wieder.“
-
-Clerambault trat aus dem Zimmer, Chastenay ging ihm nach. Er fühlte das
-Bedürfnis, die Geschichte der Tragödie, deren Held und Opfer sein Freund
-geworden war, jemandem anzuvertrauen, der die Qual und die Größe eines
-solchen Aktes würdigen konnte.
-
-Edme Froment, den ein Granatsplitter an der Wirbelsäule getroffen und in
-seiner Vollkraft gelähmt hatte, war einer der jungen geistigen Führer
-seiner Generation, schön, leidenschaftlich, beredt, übervoll von Leben
-und Träumen, liebend und geliebt, ehrgeizig im schönsten Sinne, und nun
-ein lebendig Toter. Seine Mutter, die ihren ganzen Stolz und ihre ganze
-Liebe in ihn gesetzt hatte, sah ihn auf Lebenszeit verurteilt, und ihre
-Qual mußte ungeheuer sein. Aber beide verbargen sie voreinander. Diese
-gegenseitige Spannung hielt sie aufrecht. Beide waren sie aufeinander
-stolz. Sie pflegte ihn, wusch ihn, reichte ihm das Essen wie einem
-kleinen Kinde, er wiederum zwang sich zur Ruhe, um sie zu beruhigen, und
-trug sie auf den Schwingen des Geistes empor.
-
-„Ach“, sagte Chastenay, „man muß sich schämen, zu leben und gesund zu
-sein, noch Arme zu haben, um das Leben zu umfassen, und Gelenke, um zu
-gehen und zu springen, und mit vollem Bewußtsein die Frische der Luft zu
-trinken.“
-
-Er breitete beim Sprechen die Arme aus, hob den Kopf, und atmete tief
-ein.
-
-„Und das Traurigste“, fuhr er fort, indem er Kopf und Stimme beschämt
-senkte, „das Traurigste ist, daß ich diese Scham gar nicht wirklich
-fühle.“
-
-Clerambault mußte unwillkürlich lächeln.
-
-„Ja, es ist nicht sehr heroisch von mir“, fuhr Chastenay fort, „und doch
-liebe ich Froment wie niemand anderen auf der Welt. Sein Schicksal quält
-mich unablässig .... und doch, es ist stärker als ich. Wenn ich daran
-denke, daß ich unter so vielen Hingeschlachteten das Glück habe, jetzt
-hier zu sein, zu fühlen mit allen meinen lebendigen Sinnen, so ist es
-mir schwer, meine Freude zu verbergen.... Ach, es ist ja so schön, so
-ganz leben zu dürfen!... Der arme Froment ... Aber Sie werden mich
-furchtbar egoistisch finden?“
-
-„Nein, durchaus nicht“, sagte Clerambault. „Sie sprechen, wie die
-gesunde Natur spricht. Wären alle so aufrichtig wie Sie, so wäre die
-Menschheit nicht eine Beute jener gefährlichen Lust der Vergötterung des
-Leidens; Sie haben übrigens alles Recht, das Leben zu genießen, nachdem
-sie seine härtesten Proben bestanden haben.“
-
-(Und er deutete auf das Kriegskreuz des jungen Mannes.)
-
-„Ich bin hingegangen und gehe wieder zurück“, sagte Chastenay, „aber
-glauben Sie mir, es ist meinerseits kein Verdienst dabei. Ich täte es ja
-nicht, wenn ich dem Zwang ausweichen könnte. Es hat keinen Sinn, sich
-Staub in die Augen zu streuen: wenn man in das dritte Jahr des Krieges
-kommt, so hat man nicht mehr jene Liebe zum Wagnis und jene
-Gleichgültigkeit wie im Anfang. Damals, das muß ich zugestehen, hatte
-ich sie noch, damals war ich eine reine Unschuld an Heldentum. Aber es
-ist schon lange her, daß ich diese Jungfernschaft verloren habe, die aus
-Unbildung und Schönrederei zusammengeflickt war. Ist die einmal weg, so
-wird der Irrsinn des Krieges, die Idiotie der Massaker, die Häßlichkeit
-und Schauerlichkeit dieser Opfer auch dem Beschränktesten klar. Wenn es
-auch gar zu unmännlich wäre, vor dem Unvermeidlichen die Flucht zu
-ergreifen, so drängt man sich wenigstens nicht dazu, irgend etwas
-Unnötiges zu tun. Der große Corneille war eben auch ein Held des
-Hinterlandes. Die an der Front, die ich gekannt habe, die waren fast
-alle Helden gegen ihren Willen.“
-
-„Aber das ist ja der wahre Heroismus“, sagte Clerambault.
-
-„Und das ist jener Froments“, antwortete Chastenay, „er ist Held, weil
-er nicht anders kann, weil er nicht mehr bloß ein Mensch sein kann. Aber
-was ihn uns so teuer macht, ist, daß er trotzdem ein Mensch geblieben
-ist.“
-
- §
-
-Die ganze Richtigkeit dieser Worte wurde Clerambault in der langen
-Unterhaltung klar, die er am nächsten Nachmittag mit Froment hatte. Es
-war um so mehr Verdienst darin, wenn sich der Stolz Froments im
-Zusammenbruch seines Lebens nicht verleugnete, als er vordem niemals den
-Kult des Verzichts betrieben hatte. Im Gegenteil, er hatte immer große
-Hoffnungen und einen starken Ehrgeiz gehabt, den seine geistigen Gaben
-und seine glückliche Jugend durchaus rechtfertigten. Nicht einen
-einzigen Tag hatte er sich wie Chastenay einer Illusion über den Krieg
-hingegeben, sondern sofort seine gefährliche Torheit durchschaut. Diese
-Erkenntnis verdankte er nicht nur seinem starken Intellekt, sondern vor
-allem der geistigen Führerin, die von Kindheit an die Seele ihres Sohnes
-aus dem Reinsten ihres Wesens geformt hatte.
-
-Frau Froment, die Clerambault fast täglich bei seinen Besuchen antraf,
-hielt sich abseits beim Fenster und warf von Zeit zu Zeit von ihrer
-Arbeit einen Blick voll Zärtlichkeit auf ihren Sohn. Sie war eine jener
-Frauen, die zwar nicht eine außerordentliche Intelligenz, aber doch ein
-Genie des Herzens besitzen. Als Witwe eines Arztes, der viel älter war
-als sie, und dessen weitreichender Geist den ihren befruchtet hatte,
-waren ihr in ihrem Leben nur zwei sehr tiefe, untereinander sehr
-verschiedene Neigungen bewußt geworden: die fast kindliche Neigung für
-ihren Gatten und die fast zärtliche für ihren Sohn.
-
-Doktor Froment, ein Mann von großer Bildung und eigenartiger Denkweise,
-die er unter einer aufmerksamen Höflichkeit verbarg, um die anderen, von
-denen er sich unterschied, nicht zu verletzen, war lange Zeit seines
-Lebens auf Reisen gewesen. Er hatte fast ganz Europa, Ägypten, Persien
-und Indien bereist, und zwar nicht nur aus wissenschaftlichem, sondern
-auch aus religiösem Interesse; ihn beschäftigten ganz besonders die neue
-Glaubensbewegung in der Welt, der Babismus, die _Christian Science_ und
-die theosophischen Lehren. In inniger Beziehung zu der pazifistischen
-Bewegung, ein Freund der Baronin Suttner, der er in Wien begegnet war,
-sah er seit langem die große Katastrophe voraus, der Europa und
-diejenigen, die er liebte, entgegengingen. Aber als Mann von Mut und
-innerlich längst gewohnt, dem ewig Ungerechten der Natur ins Auge zu
-schauen, versuchte er weder sich noch die Seinigen über das Drohende
-hinwegzutäuschen, sondern einzig ihre Seele gegen die kommenden Anstürme
-dieser Wogen zu stärken. Noch mehr aber als durch seine Worte war er für
-seine Frau — der Sohn war noch ein Kind zur Zeit seines Todes — durch
-sein Beispiel eine heilige Erinnerung geworden, denn im langsamen und
-grausamen Leiden, das ihn gefangen gehalten hatte — ein Darmkrebs —
-hatte er bis zum letzten Tage ruhig seine Aufgabe erfüllt und überdies
-noch die Nächsten seiner Umgebung durch seine Ruhe getröstet.
-
-Frau Froment bewahrte in ihrem Herzen dieses edle Bild wie einen inneren
-Gott. Die ehrfürchtige Erinnerung für den toten Gefährten wurde in ihrem
-Leben das, was bei anderen der religiöse Glaube ist. Da sie an kein
-anderes Leben in der Zukunft glaubte, wandte sich ihr Gebet,
-insbesondere in den Stunden der Sorge, an ihn, wie an einen immer
-gegenwärtigen Freund, der bei einem wacht und einen berät. Durch das
-eigenartige Phänomen der Wiedererneuerung, das oft nach dem Tode eines
-geliebten Wesens eintritt, schien das Innerste der Seele ihres Mannes in
-sie übergegangen zu sein. So erwuchs ihr Sohn in einer von ruhigen
-Ausblicken umhüllten Gedankenatmosphäre, die ganz verschieden war von
-jener tropisch fieberigen Landschaft, in der die junge Generation vor
-1914, unruhig, glühend, aggressiv und vom Warten ungeduldig gemacht,
-mannbar wurde.... Als dann der Krieg ausbrach, mußte Frau Froment weder
-sich noch ihren Sohn gegen die Verführung der nationalen Leidenschaft
-schützen: sie war beiden von vornherein fremd. Sie versuchten auch
-nicht, dem Unvermeidlichen zu widerstehen, wußten sie doch schon so
-lange, daß dieses Unglück unterwegs war. Für sie handelte es sich einzig
-darum, alles zu ertragen, ohne sich ihm zu beugen, um das zu retten, was
-gerettet sein mußte: die Treue der Seele zu ihrem Glauben. Frau Froment
-glaubte nicht, daß es nötig sei, „über dem Getümmel“ zu bleiben, um es
-zu beherrschen, und was zwei oder drei französische, englische, deutsche
-Schriftsteller durch ihre Artikel für die internationale Versöhnung
-versuchten, das erfüllte sie von sich aus in ihrem beschränkten Kreis
-viel einfacher und viel wirksamer.
-
-Sie hatte ihre alten Beziehungen aufrechterhalten, und ohne sich in dem
-vom Kriegswahn verseuchten Milieu gehemmt zu fühlen, ohne jemals leere
-Demonstrationen gegen den Krieg zu versuchen, schuf sie durch ihre bloße
-Gegenwart, durch ihr ruhiges Wort, ihren klaren Blick, ihr beherrschtes
-Urteil, durch den Respekt, den ihre Güte einflößte, eine Art Hemmung
-gegen die sinnlosen Übertreibungen des Hasses. Sie war es auch, die in
-den Kreisen, die sie dafür empfänglich hielt, die Botschaft der freien
-Europäer und die Artikel Clerambaults verbreitete, der davon niemals
-erfuhr, und sie hatte die Genugtuung, daß sie in den Herzen Widerklang
-fanden. Aber ihre größte Freude war, daß ihr Sohn selbst daran geformt
-wurde.
-
-Edme Froment hatte nichts von einem Tolstoianer in seinem Pazifismus. Zu
-Anfang betrachtete er den Krieg noch viel mehr als Dummheit wie als
-Verbrechen. Wäre ihm Freiheit gelassen worden, so hätte er sich, wie
-Perrotin, aus der Welt der Tat in den erhabenen Dilettantismus der Kunst
-und der Ideen zurückgezogen und niemals versucht, die öffentliche
-Meinung zu bekämpfen, weil er diesen Kampf für aussichtslos hielt. Ihm
-flößte damals die Narrheit der Welt eher Verachtung als Mitleid ein. Zur
-Teilnahme am Kriege gewaltsam gezwungen, sah er erst ein, daß diese
-Narrheit durch das Leiden längst überzahlt war, und es überflüssig sei,
-auf die Verurteilung des Krieges noch die Verachtung zu häufen. Der
-Mensch schuf sich selbst seine Hölle auf Erden, es war nicht notwendig,
-ihn noch einmal dafür zu richten. Zu gleicher Zeit hatten ihm die Worte
-Clerambaults, die er während seiner Urlaubszeit in Paris kennen lernte,
-gezeigt, daß er Besseres zu tun habe, als sich als Richter seiner
-gefesselten Kameraden aufzuspielen: nämlich zu versuchen, deren Last zu
-teilen und sie davon zu befreien.
-
-Nur ging der junge Schüler darin weiter als sein Lehrer, dessen
-liebebedürftige, ein wenig schwächliche Natur glücklich war in einer
-Gemeinschaft mit den Menschen, der daran litt, sich von ihnen zu
-trennen, selbst wenn sie im Irrtum waren. Clerambault zweifelte stets an
-sich. Er sah nach rechts und links, suchte in den Augen der menschlichen
-Masse nach einer Zustimmung zu seinen Ideen und erschöpfte sich im
-unfruchtbaren Bemühen, sein inneres Gesetz mit den sozialen Bestrebungen
-und Kämpfen seiner Zeit in Einklang zu bringen. Für Froment, den
-Hingestreckten, der in seinem unterjochten Körper die Seele eines
-Führers hatte, bestand kein Zweifel an der absoluten Pflicht für jeden,
-dem die Flamme eines großen Ideals anvertraut ist, sie über die Häupter
-seiner Gefährten zu erheben. Warum versuchen, das Licht ängstlich
-zuzudecken oder es im Schein der andern Leuchten aufgehen zu lassen? Der
-Gemeinplatz der Demokratien: „Die ganze Welt ist klüger als der eine
-Voltaire“, war für ihn ein Irrtum ... Demokritos sagt: „_Unus mihi pro
-populo est_.“ „Ein einziger zählt für mich soviel wie tausend.“ Nach der
-Meinung unserer Zeit stellt die staatliche Gesellschaft den Gipfel der
-menschlichen Entwicklung dar. Wer kann die Wahrheit dieser Hypothese
-beweisen? „Für mich“, sagte Froment, „ist der höchste Gipfelpunkt einzig
-im überlegenen Individuum. Millionen Menschen haben gelebt und sind
-gestorben, um eine einzige höchste Gedankenblüte zu entfalten. In
-verschwenderischer Art geht die Natur zu diesem Ziele, sie opfert ganze
-Völker, um einen Jesus, einen Buddha, einen Äschylos, einen Leonardo,
-einen Newton, einen Beethoven zu schaffen. Was wären denn die Völker,
-was wäre die Menschheit ohne diese Menschen?.... Wir wollen damit nicht
-das egoistische Ideal des Übermenschen aufnehmen. Ein großer Mann ist
-groß für, ist groß statt aller anderen Menschen. Seine Persönlichkeit
-drückt Millionen Menschen aus und führt sie empor, denn sie ist die
-Verkörperlichung ihrer geheimsten Kräfte, ihrer höchsten Wünsche. Sie
-drängt sie alle in ihrem Wesen zusammen — und schon sind sie
-verwirklicht. Die einzige Tatsache, daß ein Mensch Christus gewesen ist,
-hat Jahrhunderte der Menschheit erhoben und über die Erde hinweggetragen
-und sie mit göttlichen Kräften erfüllt. Und obwohl neunzehn Jahrhunderte
-seitdem vergangen sind, haben doch die Millionen Menschen niemals die
-Höhe des Vorbildes erreicht und mühen sich noch immer, ihm nachzukommen.
-— Wird das individualistische Ideal in dieser Weise verstanden, so ist
-es fruchtbarer für die menschliche Gesellschaft als das kommunistische,
-das nur zu der mechanisch-technischen Vollendung eines Ameisenhaufens
-führt. Zum mindesten ist es aber unentbehrlich als Korrektiv und als
-Ergänzung des anderen.“
-
-Dieser stolze Individualismus, den Froment in heißen Worten ausdrückte,
-richtete den immer ein wenig schwankenden Geist Clerambaults auf, der
-leicht unentschieden blieb, teils aus Güte, teils aus Zweifel an sich
-selbst, teils durch die Bemühung, immer auch die anderen zu verstehen.
-
-Noch einen anderen Dienst erwies ihm Froment dadurch, daß er mehr als
-Clerambault über die internationalen Gedanken informiert war. Da er
-durch seine Familie unter den Intellektuellen aller Länder Beziehungen
-hatte und vier oder fünf fremde Sprachen beherrschte, konnte Froment dem
-älteren Freunde Kenntnis geben von den anderen großen Einsamen, die in
-jeder Nation für das Recht des freien Gewissens kämpften. Er zeigte ihm
-die ganze unterirdische Arbeit des niedergehaltenen Gedankens, der sich
-bemühte, die Wahrheit zu finden. Und es war dies ein tröstliches
-Schauspiel, daß selbst das Zeitalter der furchtbarsten moralischen
-Tyrannei, die seit der Inquisition auf der Seele der Menschheit lastete,
-es doch nicht zuwege brachte, in der Elite jedes Volkes den unbändigen
-Lebenswillen nach Freiheit und Wahrheit zu ersticken.
-
-Freilich, diese unabhängigen Persönlichkeiten waren selten, aber darum
-war ihre moralische Macht eine um so größere. Ergreifend zeichnete sich
-ihre Silhouette gegen den leeren Horizont ab, und im Sturz der Völker in
-die Tiefe des Abgrundes, wo Millionen Seelen zu einem formlosen Brei
-sich vermengten, erklang ihre Stimme als das einzige menschliche Wort.
-Daß sie tätig waren, wurde vor allem sichtbar durch die Wut derjenigen,
-die ihr Tun zu leugnen suchten. Schon vor einem Jahrhundert schrieb
-Chateaubriand:
-
-„Kämpfe haben keinen Sinn mehr. Man muß s e i n, das ist die einzige
-Sache, die notwendig ist.“
-
-Doch er sah nicht voraus, daß in unserer Zeit „sein“, das heißt „man
-selbst sein“, „frei sein“, gerade den allergrößten Kampf erforderte.
-Aber die Menschen, die ganz ihr wahres Ich sind, dominieren schon durch
-diese einzige Tatsache der Gleichförmigkeit der anderen.
-
- §
-
-Clerambault war nicht der Einzige, der die Energie Froments als so
-wohltuend empfand und empfing. Bei jedem seiner Besuche begegnete er am
-Krankenlager des jungen Mannes irgendeinem Freund, der gekommen war, um
-ihn aufzurichten und — ohne daß er es sich eingestand — von ihm
-aufgerichtet zu werden. Zwei oder drei waren junge Leute im Alter
-Froments, die anderen ältere Männer, meist schon über fünfzig hinaus,
-entweder alte Freunde der Familie oder solche, die Froment schon vor dem
-Kriege gekannt hatten. Einer von ihnen, ein alter Hellenist mit feinem
-und zerstreutem Lächeln, war sein Lehrer gewesen. Unter den anderen war
-noch ein Bildhauer mit grauem Haar, schlaffen und von tragischen Falten
-durchzogenem Gesicht, ein Landjunker mit kurzgeschorenen Haaren, roter
-Gesichtsfarbe, dem viereckigen Kopf eines Bauern, schließlich noch ein
-weißbärtiger Arzt mit einem Ausdruck von Sanftmut in seinem müden
-Gesicht, dessen Blick durch den verschiedenen Ausdruck der beiden Augen
-überraschte: das eine schien scharf mit einem Zwinkern von Zweifel zu
-beobachten, das andere melancholisch vor sich hinzuträumen.
-
-Diese Menschen, die sich manchmal bei dem Kranken vereint fanden,
-glichen einander in keiner Weise. Man konnte in dieser kleinen Gruppe
-alle Gedankenformen vertreten finden vom Katholiken zum Freigeist und
-selbst zum Bolschewisten, als welcher sich einer der jungen Kameraden
-Froments bekannte. In ihnen war der Einfluß der verschiedensten
-geistigen Ahnen sichtbar wirksam: im alten Hellenisten derjenige des
-ironischen Lucian, bei dem Grafen de Coulanges derjenige der alten
-französischen Chronisten der Collection Michaud. (Er liebte es, auf
-seinem Landgut sich abends von der Tierzucht und den chemischen
-Düngungen dadurch zu erholen, daß er die dunkelgoldfarbige Sprache
-Froissarts und die gleichzeitig dornige und saftige des spitzbübischen
-Gondi las.) Der Bildhauer zermürbte seine Stirn, um eine Metaphysik in
-Beethoven und Rodin herauszufinden, der Doktor Verrier, der für Religion
-das mitleidige Lächeln des Wissenschaftlers hatte, versetzte die
-Wunderwelt, deren er bedurfte, in das Reich der biologischen Hypothesen
-und der blendenden Gleichungen der modernen Physik und Chemie. So
-schmerzlich ihm auch das Leiden der Zeit war, so entschwand die Ära des
-Krieges mit all ihrem blutnassen Ruhm in die Ferne gegenüber den
-heroischen geistigen Entdeckungen, die der freie Deutsche Einstein
-inmitten der menschlichen Verirrung, ein neuer Newton, vollbrachte.
-
-So schien alles zwischen diesen Menschen widersprechend zu sein, sowohl
-ihre geistige Form als auch ihr Temperament. Aber in einem waren sie
-alle einig, daß sie keiner Partei zugehörten, nur aus sich selbst heraus
-dachten und Ehrfurcht und Liebe für die Freiheit hatten, für die ihre
-und für die der anderen! Und das ist doch das Wesentliche! In unserer
-gegenwärtigen Epoche zerbrechen die alten Formen, stürzen die
-politischen, religiösen oder sozialen Parteien zusammen. Es bedeutet ja
-nur einen kleinen Fortschritt, sich statt einen Monarchisten einen
-Sozialisten oder Republikaner zu nennen, insolange diese Gruppen sich
-noch dem Nationalismus ihres Staates, dem Glauben oder der Klasse
-unterwerfen. In Wahrheit gibt es heute nur noch zwei Formen des Geistes:
-die einen, die sich in ihre Grenze einschließen, und die anderen, die
-allem Lebendigen aufgetan sind, die in sich die ganze Menschheit fühlen,
-sogar ihre Feinde. So wenig zahlreich diese Männer auch sein mögen, sie
-formen, ohne es zu wissen, die wahre Internationale, jene, die auf dem
-Kultus der Wahrheit und des umfassenden und allen gleich zugehörigen
-Lebens ruht. Einzeln zu schwach (sie wissen es wohl), ihr unermeßliches
-Ideal zu umfassen, umfaßt doch das Ideal sie alle. Und alle in ihm
-geeint, wandern sie, jeder auf einem verschiedenen Wege, dem unbekannten
-Gott entgegen.
-
-Was nun in diesem Augenblick diese so verschiedenen freien Seelen um
-Edme Froment versammelte, war das dunkle Gefühl, er sei der Punkt, wo
-sich ihre Zielrichtungen begegneten, der Kreuzweg, von dem man alle Wege
-ausstrahlen sieht. Froment war nicht immer ein solcher Mittelpunkt
-gewesen; solange er noch Herrschaft über seinen Körper und seine
-Gesundheit hatte, ging auch er seinen Weg abseits von den anderen. Aber
-seit sein Lauf unterbrochen war, hatte er sich nach einer Periode kurzer
-Verzweiflung — die er aber sorgsam den Blicken seiner Umgebung verbarg
-— gleichsam als Wegkreuz aufgestellt: gerade weil er selbst nicht mehr
-tätig sein konnte, vermochte er die Tat der anderen besser zu
-überblicken und im Geist daran teilzunehmen. Er sah in den verschiedenen
-Strömungen — Vaterland, Revolution, Staats- und Klassenkampf,
-Wissenschaft und Glauben — nur die vermengten Kräfte eines Wildbaches
-mit seinen Stromschnellen, Wirbeln und sandigen Stellen; manchmal
-scheint er zurückgeworfen oder gebrochen zu werden oder zu schlafen.
-Aber die Strömungen gehen doch unwiderstehlich nach vorwärts: selbst die
-Reaktion wird immer weiter gerissen. Und er, der junge Gekreuzigte am
-Kreuzweg, vermählte sich allen Strömungen, dem ganzen Strom.
-
-Clerambault fand in ihm einige Züge Perrotins wieder. Aber Welten
-trennten Froment von Perrotin. Wenn auch er so wie jener nichts
-Vorhandenes leugnete und alles zu verstehen suchte, so tat er es doch
-mit einer begeisterten Seele. Alles wurde in seinem Herzen Bewegung und
-beherrschte Leidenschaft. Alles, Tod und Leben, war bei ihm Gang und
-Aufstieg — unbeweglich nur er selbst, sein eigener Leib.
-
- §
-
-Inzwischen war eine dunkle Stunde gekommen. Man hatte die Wende der
-Jahre 1917/18 überschritten. Die nebligen Winternächte waren schwer von
-der Erwartung des letzten Ansturms der deutschen Armeen. Seit Monaten
-war er durch drohende Gerüchte angekündigt, die Streifzüge der Flieger
-über Paris schienen schon seine Vorboten zu sein. Die Verfechter des
-Krieges „bis zum endgültigen Siege“ spiegelten vollkommene Sicherheit
-vor, die Zeitungen fuhren fort zu prahlen, und Clemenceau behauptete,
-nie besser geschlafen zu haben. Aber die geistige Spannung verriet sich
-in der wachsenden Schärfe des Hasses zwischen den Nichtkämpfern. Man
-lenkte die öffentliche Beunruhigung auf die Verdächtigen des
-Hinterlandes, auf die Flaumacher ab. Hochverratsprozesse erhitzten und
-beschäftigten die Moral des Hinterlandes, die Angeber mit der
-Heldengeste Corneilles, die patriotischen Denunzianten, die fanatischen
-Zeugen vervielfältigten sich, und das Gebell der öffentlichen Ankläger
-kläffte durch Tage zornig hinter den armen, gehetzten Opfern her. Als
-dann zu Ende März die über Paris hängende deutsche Offensive losbrach,
-erreichte der überhitzte Bürgerhaß seinen Zenith, und es war gewiß, daß,
-wenn ein Durchbruch gelungen wäre, noch ehe die feindliche Armee Paris
-erreicht hätte, der Galgen von Vincennes, dieser Altar des rächenden und
-bedrohten Vaterlandes, seine Opfer empfangen hätte, gleichgültig, ob sie
-schuldig oder unschuldig, ob sie nur angeklagt oder abgeurteilt waren.
-
-Clerambault wurde öfters in den Straßen beschimpft. Er regte sich
-darüber nicht auf, vielleicht, weil er sich des Gefährlichen der
-Situation nicht ganz bewußt war. Eines Tages traf Moreau ihn inmitten
-einer Gruppe von Passanten in einer Diskussion mit einem wutschäumenden
-jungen Menschen, der ihn in verletzender Weise angegangen hatte. Während
-er noch sprach, hörte man ganz in der Nähe die Explosionen der „dicken
-Berta“. Clerambault schien es nicht zu merken, er fuhr ruhig fort, vor
-dem Zornigen seine Ideen zu entwickeln. In dieser Beharrlichkeit war
-eine gewisse Komik, und die Zuhörer, die als gute Franzosen das gleich
-merkten, tauschten darüber allerhand, zwar nicht sehr höfliche, aber
-doch auch nicht böswillige Witze aus. Moreau faßte Clerambault am Arm,
-um ihn wegzuziehen. Clerambault schaute auf, sah die lachenden Leute,
-erfaßte nun seinerseits das Komische der Situation und lachte mit den
-anderen.
-
-„Was für ein alter Narr ... Nicht wahr?“ sagte er zu Moreau, der ihn
-wegzog.
-
-„Es gibt aber auch andere Narren. Man muß sich in acht nehmen“,
-antwortete Moreau in recht energischer Weise. Aber Clerambault wollte
-ihn nicht verstehen.
-
-Inzwischen war das Untersuchungsverfahren seines Prozesses in eine neue
-Phase getreten. Clerambault war des Vergehens gegen das Gesetz vom 5.
-August 1914, das „staatsgefährliche Äußerungen während des Krieges“
-verhindern sollte, beschuldigt; man klagte ihn der pazifistischen
-Propaganda in den Arbeiterskreisen an, in denen Thouron die Schriften
-Clerambaults mit seinem Einverständnis verbreitet hätte. Nichts konnte
-unrichtiger sein, denn weder wußte Clerambault von einer Propaganda
-dieser Art, noch hatte er sie autorisiert, was Thouron auch bezeugen
-konnte. Aber nun ergab sich das Seltsame, daß Thouron dies nicht
-bezeugte. Sein Verhalten erwies sich als äußerst merkwürdig; statt die
-Dinge richtig zu stellen, machte er allerhand Winkelzüge, tat so, als ob
-er etwas zu verbergen hätte, ja, er tat es sogar in einer gewissen
-absichtlichen Weise und hätte sich gar nicht gefährlicher benehmen
-können, wenn es seine innerste Absicht gewesen wäre, solch einen
-Verdacht zu erwecken. Verhängnisvollerweise lenkte sich dieser Verdacht
-nun gegen Clerambault. Zwar sagte Thouron nichts gegen ihn oder gegen
-irgend jemanden aus, er weigerte sich, irgendetwas zu sagen, aber er
-ließ immer durchblicken, daß, wenn er reden wollte.... Aber er wollte
-nicht. Man konfrontierte ihn mit Clerambault. Er benahm sich tadellos,
-geradezu ritterlich, legte die Hand auf das Herz und versicherte den
-„Meister“, den „Freund“ seiner kindlichen Verehrung. Clerambault
-versuchte ihn voll Ungeduld endlich zu einer klaren Darstellung dessen
-zu bringen, was zwischen ihnen vorgegangen war, der andere aber fuhr
-immer nur fort, seine „unerschütterliche Ergebenheit“ zu bezeugen. Mehr
-könne er nicht sagen, nichts seinen Aussagen hinzufügen, er nehme alles
-auf sich.
-
-Dieses Benehmen ließ ihn nach außen sympathisch erscheinen, Clerambault
-aber in den Verdacht kommen, als wolle er sich durch Aufopferung seines
-Vasallen aus der Affäre ziehen. Die Zeitungen zögerten nicht lange und
-beschuldigten ihn der Feigheit. Inzwischen folgte eine Vorladung der
-anderen, seit zwei Monaten mußte sich Clerambault zu ganz nichtigen
-Verhören begeben, zu denen ihn die Richter zitierten, ohne daß sich
-irgendeine Entscheidung anzeigte. Nun sollte man glauben, daß ein Mann,
-der solange ohne die geringsten Beweise angeklagt und unter dem
-schimpflichen Verdacht gehalten wurde, bei der Öffentlichkeit Sympathien
-gefunden hätte. Aber im Gegenteil: sie wurde noch gereizter gegen ihn,
-man verzieh es ihm nicht, daß er nicht schon verurteilt war. Die
-tollsten Erfindungen zirkulierten in der Presse, man behauptete, die
-Sachverständigen hätten an der Form gewisser Buchstaben und an einzelnen
-besonderen Schriftzeichen entdeckt, daß eine der Flugschriften
-Clerambaults von Deutschen gedruckt und verbreitet worden war. So dumm
-diese Erfindungen waren, sie fanden doch Zugang bei der ungeheuren
-Leichtgläubigkeit der Leute, die (man behauptete es wenigstens) vor dem
-Krieg vernünftig gewesen waren. Es waren erst vier Jahre seitdem
-vergangen, aber es schienen schon Jahrhunderte zu sein.
-
-Kurz, die braven Leute verurteilten einen der Ihren ohne weitere
-Nachfrage; es war nicht das erstemal und wird nicht das letztemal sein.
-Die gut abgerichtete öffentliche Meinung empörte sich darüber, daß
-Clerambault noch frei herumging, und die reaktionären Blätter, die
-fürchteten, ihre Beute könne ihnen entgehen, klagten die Justiz an,
-versuchten sie einzuschüchtern und verlangten, die Affäre müsse dem
-Zivilgerichte entzogen und dem Militärgerichte übergeben werden. Rasch
-erreichte die Erregung einen jener Paroxismen, die in Paris im
-allgemeinen kurz, aber furchtbar zügellos sind. Denn dieses sonst so
-vernünftige Volk deliriert von Zeit zu Zeit. Man muß sich fragen, wie
-die Leute, die zum großen Teil gar nicht böse sind und von Natur aus zu
-gegenseitiger Nachsicht, ja Gleichgültigkeit geneigt, plötzlich zu
-solchen Explosionen von zornigem Fanatismus kommen, bei denen sie
-gleichzeitig ihren Kopf und ihr Herz verlieren. Manche sagen, dieses
-Volk hätte eine Frauennatur, sowohl in seinen Tugenden wie in seinen
-Lastern, und daß die Feinheit seiner Nerven und die Sensibilität, der ja
-seine Kunst und sein Geschmack den Vorrang verdanken, es plötzlich in
-hysterische Krisen verfallen lassen. Ich glaube vielmehr, daß jedes Volk
-nur durch Zufall einmal menschlich ist — wenn man unter Mensch ein
-vernünftiges Tier versteht (was ja sehr schmeichelhaft, aber gänzlich
-unbewiesen ist). Die Menschen machen von ihrer Vernunft nur selten
-Gebrauch. Im allgemeinen sind sie von der Anstrengung zu denken, gleich
-ermattet, und man tut ihnen wohl, wenn man ihnen das Wollen abnimmt und
-für sie nur das will, was die wenigste Anstrengung erfordert. Die
-Anstrengung nun, irgendeine neue Idee zu hassen, ist wirklich keine
-allzugroße. Aber brechen wir nicht den Stab über sie! Der Freund aller
-Verfolgten hat mit seinem nachsichtigen Heroismus gesagt: „Sie wissen
-nicht, was sie tun.“
-
-Eine nationalistische Zeitung fand sich bereit, die bösartigen
-Instinkte, die in diesen armen Menschen schlummerten, aufzuwecken. Sie
-lebte ja einzig nur von der Ausbeutung der Verdächtigung und des Hasses,
-was sie „für die Erneuerung Frankreichs arbeiten“ nannte. Für sie
-bestand eben Frankreich einzig aus ihr selbst und ihren
-Gesinnungsgenossen. Sie veröffentlichte gegen „Cleramboche“ eine Reihe
-mörderischer Artikel, ähnlich jenen, die so gut ihr Ziel gegen Jaurès
-erreicht hatten, sie hetzte die öffentliche Meinung auf, indem sie
-schrie: geheimnisvolle Einflüsse seien am Werk, den Verräter zu
-schützen, und man müsse darüber wachen, daß er nicht entkomme. Und
-schließlich appellierte sie an die Justiz des Volkes.
-
- §
-
-Viktor Vaucoux haßte Clerambault.
-
-Er kannte ihn nicht. Der Haß braucht ja seinen Gegner nicht zu kennen.
-Aber hätte Vaucoux Clerambault gekannt, so hätte er ihn noch mehr
-gehaßt. Ehe er wußte, daß es einen Clerambault gebe, war er schon sein
-geborener Feind. Es gibt in jedem Land geistige Rassen, die sich
-feindlicher sind als die des Blutes oder die der Uniformen.
-
-Er stammte aus begüterter Bürgerschaft im Westen Frankreichs, aus einer
-Beamtenfamilie des Kaiserreiches und des Systems von Zucht und Ordnung,
-die sich seit vierzig Jahren in den Schmollwinkel einer sterilen
-Opposition zurückgezogen hatte. Er besaß Güter in der Charente, dort
-verbrachte er den Sommer, die übrige Zeit war er in Paris. Es war eine
-dekadente Familie, wie es die jener Gesellschaftsklasse ja gewöhnlich
-sind, und sowohl gegen seine Klasse als gegen die eigene Familie wandte
-sich sein Herrschinstinkt, für den er im Leben keine andere Verwendung
-fand. Die Unterdrückung seiner Herrschbegierde gab ihm einen
-tyrannischen Charakter, er despotierte, ohne es zu wissen, die Seinen,
-gleichsam aus einem Recht und einer unbestreitbaren Pflicht heraus. Das
-Wort Toleranz hatte keinen Sinn für ihn. Für ihn war es gewiß: er konnte
-sich nicht irren. Dabei war er intelligent, hatte eine gewisse sittliche
-Gesundheit — ja sogar ein Herz, aber das alles unter einer dicken Rinde
-wie bei einem alten überwucherten Stamm zusammengepreßt und gebunden.
-Seine Kräfte, die sich nicht auswirken konnten, stauten sich und
-stockten. Von außen nahm er nichts auf. Wenn er las, wenn er reiste, tat
-er es mit feindlichen Augen und dem Verlangen, s i c h wieder zu finden.
-Nichts schnitt durch die Rinde in sein innerstes Wesen hinein. Was er an
-Leben hatte, kam von unten, von der Wurzel, von der Erde — von den
-Toten.
-
-Er war der Typus jener Rassenschicht, die, zwar stark, aber doch schon
-gealtert, nicht mehr genug Leben hat, um sich nach außenhin zu
-entwickeln, und sich im Gefühl einer aggressiven Verteidigung
-zusammenschließt. Sie beobachtet mit Mißtrauen und Antipathie die neuen
-jungen Kräfte, die sich rings um sie, innerhalb und außerhalb ihres
-Volkes, entwickeln, die aufsteigenden Nationen und Klassen, alle die
-leidenschaftlichen und ungeschickten Versuche sittlicher und sozialer
-Erneuerung. Solche Leute brauchen, wie der arme Barrès und sein
-verkrüppelter Held[B], Mauern, Schranken, Grenzen und Feinde.
-
-In diesem Belagerungszustand lebte auch Vaucoux und ließ die Seinen so
-leben. Seine sanfte, gleichmütige, verblühte Frau hatte das einzige
-Mittel gefunden, diesem Zustand zu entkommen: sie war gestorben. Allein
-mit seiner Trauer zurückgeblieben, die er eifersüchtig behütete — wie
-alles, was ihm gehörte —, errichtete er einen Schutzwall um die Jugend
-seines einzigen, dreizehnjährigen Sohnes und lehrte ihn, mit dem Vater
-zusammen diesen Schutzwall zu bewachen. Wie seltsam, Söhne zu zeugen, um
-mit ihnen gegen die Zukunft zu kämpfen! Sich selbst überlassen, hätte
-der junge Bursche vielleicht das Leben von sich aus entdeckt, aber im
-Gefängnis des Vaters wurde er eine Beute des Vaters. Sie lebten in einem
-versperrten Haus mit wenig Beziehungen, wenig Büchern, wenig Zeitungen,
-mit Ausnahme einer einzigen, deren versteinerte Prinzipien am besten
-Vaucoux’ Bedürfnis nach Erhaltung (im Sinne von Mumifizierung)
-entsprachen. Sein Opfer, sein Sohn, konnte ihm nicht entkommen. Er
-impfte ihm seine geistige Abirrung ein, wie Insekten ihre Eier in den
-lebendigen Körper eines anderen Tieres einpflanzen, und als der Krieg
-ausbrach, führte er ihn in das Rekrutierungsbureau und ließ ihn
-einschreiben. Für einen Mann seiner Art war das Vaterland das reinste
-aller Wesen, das heiligste der heiligen. Er mußte nicht erst, um sich zu
-begeistern, die heiße Luft und den Rausch der Menge eintrinken (er hielt
-sich weit weg von der großen Masse). Das Vaterland war in ihm. Das
-Vaterland: die Vergangenheit, die ewige Vergangenheit.
-
-Und sein Sohn wurde getötet wie derjenige Clerambaults, wie diejenigen
-von Millionen Vätern für den Glauben jener Väter an ein vergangenes
-Ideal, an das sie selbst gar nicht glaubten.
-
-Aber Vaucoux kannte nicht die Zweifel Clerambaults. Zweifeln? Er wußte
-gar nicht, was Zweifeln bedeutete, und hätte er es sich erlaubt, er
-würde sich verachtet haben. Dieser harte Mensch liebte seinen Sohn
-leidenschaftlich, obwohl er es ihm nie gezeigt hatte, und er wußte keine
-andere Art, es nun zu beweisen, als durch einen leidenschaftlichen Haß
-gegen diejenigen, die ihn getötet hatten. Freilich zählte er sich nicht
-selber zu jenen, die ihn hingeschlachtet hatten.
-
-Für seine Rache waren ihm aber nur begrenzte Möglichkeiten gegeben.
-Obwohl er Rheumatiker war und einen steifen Arm hatte, wollte er in die
-Armee eintreten, wurde aber nicht angenommen. Er mußte aber doch etwas
-tun und vermochte es nur durch Denken. Allein in seinem Haus, als
-Gefährten nur seine tote Frau und seinen toten Sohn, gab er sich durch
-Stunden leidenschaftlichen Betrachtungen hin. Wie ein Tier im Gefängnis,
-das an den Stäben rüttelt, drehten sie sich rasend im Kreise des
-Krieges, soweit ihn die Schützengräben zogen, voll Gier auszubrechen und
-nach einer Öffnung suchend.
-
-Die Artikel Clerambaults, die ihm durch das Wutgeheul seiner Zeitung
-bekannt wurden, brachten ihn außer sich. Was?... Man versuchte ihm den
-Knochen des Hasses aus den Zähnen zu reißen?... Schon aus dem wenigen,
-was er von Clerambault vor dem Kriege kannte, war dieser ihm
-unerträglich gewesen. Der Schriftsteller durch seine Bemühung um neue
-Kunstformen, der Mann durch seine Lebens- und Menschenliebe, seinen
-demokratischen Idealismus, seinen ein wenig einfältigen Optimismus und
-seine europäischen Wünsche. Auf den ersten Blick, mit dem Instinkt des
-Rheumatikers (in den Gelenken und im Geiste) hatte Vaucoux Clerambault
-unter jene eingereiht, die einen Luftzug im Hause mit den verschlossenen
-Fenstern und Türen, im Vaterlande, machen. Im Vaterlande, natürlich so,
-wie er es verstand, denn für ihn gab es kein anderes. So brauchte er
-nicht die besonderen Aufreizungen der Zeitungen, um in dem Verfasser des
-„Aufrufes an die Lebendigen“ und „Ihr Toten, verzeihet uns“ den Agenten
-des Feindes — den Feind zu sehen.
-
-Und das Rachefieber, das ihn verzehrte, warf sich auf diese Beute.
-
------
-
-[B] „Simon und ich verstanden nun unseren Haß gegen die Fremden, gegen
-die Barbaren und unseren Egoismus, in den wir mit uns selbst unsere
-ganze kleine moralische Familie e i n s c h l i e ß e n. Die erste
-Aufgabe dessen, der leben will, ist, sich mit h o h e n M a u e r n
- z u u m g e b e n. Aber in seinen g e s c h l o s s e n e n Garten
-läßt er jene ein, die von ähnlichen Formen des Gefühls und gleichen
-Interessen geleitet sind.“ (_Un Homme libre._) In drei Zeilen spricht
-dieser „freie Mensch“ also dreimal von „einschließen“, „sich mit Mauern
-umgeben“, „verschließen“.
-
------
-
- §
-
-Mein Gott, wie bequem ist es, zu hassen, wenn man diejenigen nicht
-versteht, die anderer Meinung sind!
-
-Clerambault war diese Leichtigkeit nicht gegeben, denn er verstand
-vollkommen auch jene, die ihn verabscheuten, verstand sie bis ins
-Letzte! Diese guten Leute litten bis zur Tollwut an der Ungerechtigkeit
-des Feindes — zweifellos deshalb, weil sie ihnen weh tat, aber auch aus
-ganz rechtschaffenen Gründen, weil es eben d i e Ungerechtigkeit war,
-die Ungerechtigkeit sonder gleichen. Denn kurzsichtig, wie sie waren,
-erschien sie ihnen ganz einzigartig ungeheuerlich und erfüllte
-verwirrend ihr ganzes Gesichtsfeld. Wie beschränkt ist doch bei einem
-gewöhnlichen Menschen die Fähigkeit des Gefühls und des Urteils!
-Versinkend in der ungeheuren Weite, klammert er sich an die erstbesten
-vorübertreibenden Trümmer, und so wie der Mensch den tausendfältigen
-Strom des Lichtes sich zu einigen wenigen Farben vereinfacht, so wird
-ihm das Gute und das Böse in den Adern des Weltalls nur erkenntlich,
-wenn er es in ein paar selbsterlebte Beispiele wie in Flaschen füllen
-kann. Für ihn ist dann d a s ganze Gute, d a s ganze Böse der Welt in
-diesen paar etikettierten Beispielen verschlossen, und er konzentriert
-auf sie seine ganze Kraft der Liebe und des Hasses. Für tausende sonst
-vortreffliche Leute ist die Verurteilung Dreyfus’ oder die Torpedierung
-der „Lusitania“ d a s Verbrechen des Jahrhunderts geblieben. Diese guten
-Leute sehen eben nicht, daß der ganze Weg der menschlichen Gesellschaft
-mit Verbrechen gepflastert ist, über die sie ahnungslos hinwegschreiten,
-denn sie alle haben unbewußt ihren Vorteil von unbekannten
-Ungerechtigkeiten, die zu verhindern sie niemals die geringste
-Anstrengung gemacht haben. Und welche Ungerechtigkeiten sind eigentlich
-die schlimmeren, jene, die ein langdauerndes und tiefes Echo im Gewissen
-der Welt erwecken, oder die anderen, um die einzig das niedergetretene
-Opfer weiß?... Aber diese braven Leute haben nicht genügend lange Arme,
-um alles Elend der Welt zu umfassen. Wer zu viel umfaßt, eignet sich nur
-wenig an. Deshalb klammern sie sich gewöhnlich nur an irgendeine
-einzelne Ungerechtigkeit. Aber die machen sie dann ganz zu ihrer
-Angelegenheit. Haben sie sich einmal irgendein Verbrechen ausgewählt für
-ihren Haß, dann verbrauchen sie dabei die ganze Kraft der Erbitterung,
-die in ihren Eingeweiden lebt. Der Hund hat seinen Knochen gefunden und
-knabbert daran. Weh’ dem, der daran rührt!
-
-Clerambault hatte daran gerührt. So hatte er kein Recht, sich zu
-beklagen, wenn er nun gebissen ward. Und er beklagte sich auch nicht.
-Die Menschen haben ein Anrecht, die Ungerechtigkeit, die sie sehen, zu
-bekämpfen, und es ist nicht ihre Schuld, wenn sie davon nur die große
-Zehe sehen, so wie Gulliver in Brobdignac. Jeder tut, was er kann.
-
-Und so bissen sie zu.
-
- §
-
-Es war am Karfreitag. Die große Sturzflut der Offensive warf sich gegen
-das Herz Frankreichs. Auch der Tag der heiligen Trauer unterbrach das
-Massaker nicht, denn der bürgerliche Krieg kennt keinen Gottesfrieden
-mehr. Christus war in einer seiner Kirchen bombardiert worden, und die
-Nachricht von der mörderischen Explosion in der Kirche Saint-Gervais
-gerade um die Vesperstunde verbreitete sich nachts im lichtlosen Paris,
-das von Trauer, Zorn und Furcht erfüllt war.
-
-Die Freunde hatten sich in ihrer Betrübnis bei Froment versammelt. Ohne
-Verabredung waren sie hingekommen, weil sie sicher waren, einander dort
-zu finden. Überall sahen sie Gewalt: in der Vergangenheit, in der
-Zukunft, bei dem Feinde, bei den Ihren, im Lager der Reaktion ebenso wie
-in dem der Revolution. Ihre Angst und ihre Zweifel vereinigten sich in
-einem einzigen Gedanken, und der Bildhauer sagte:
-
-„Vergeblich beruhen unsere heiligsten Überzeugungen, unser Glaube an den
-Frieden und die menschliche Brüderlichkeit auf der Vernunft und der
-Liebe. Gibt es denn wirklich gar keine Hoffnung, daß sie jemals Macht
-gewinnen über die Menschen? Wir sind zu schwach!“
-
-Und Clerambault rezitierte, ganz ohne es zu wollen, die Worte des
-Jesaias, die ihm plötzlich in Erinnerung kamen:
-
-„Dunkel bedecken die Erde, und der Schatten umhüllt die Völker....“
-
-Er hielt inne. Aber von seinem kaum erhellten Bett fuhr Froment
-unsichtbar fort:
-
-„Stehet auf, denn von den Gipfeln der Berge erscheinet das Licht....“
-
-„Ja, es erscheint“, wiederholte aus dem Dämmer die Stimme der Frau
-Froment, die zu Füßen des Bettes an der Seite Clerambaults saß.
-Clerambault faßte ihre Hand. Es war wie ein kühler Schauer, der durch
-das Zimmer lief.
-
-„Warum sagen Sie das?“ fragte der Graf Coulanges.
-
-„Weil ich Ihn sehe!“
-
-„Ich sehe Ihn auch“, sagte Clerambault.
-
-Der Doktor Verrier fragte:
-
-„Wen?“
-
-Aber ehe die Antwort noch ausgesprochen war, wußten schon alle das Wort
-im voraus.
-
-„Der das Licht bringt ..., den Gott, der sie besiegt....“
-
-„Ihr wartet auf einen Gott!“ sagte der alte Hellenist, „Ihr glaubt also
-an das Wunder?“
-
-„Das Wunder sind wir. Ist es denn nicht ein Wunder, daß in dieser Welt
-unaufhörlicher Gewalttätigkeit wir den Glauben an die Liebe und die
-Gemeinschaft der Menschen bewahrt haben?“
-
-Coulanges sagte bitter:
-
-„Seit Jahrhunderten erwartet man den Christus, und immer, wenn er kommt,
-erkennt man ihn nicht und kreuzigt ihn. Und alle vergessen ihn dann mit
-Ausnahme einer Handvoll Bettler, die gut und beschränkt sind. Diese
-Handvoll vermehrt sich, und während eines Menschenalters blüht der
-Glaube. Dann aber wird er verfälscht, wird durch seinen Erfolg verraten,
-durch seine ehrgeizigen Diener, die Kirche. Und das geht dann durch
-Jahrhunderte so dahin.... _Adveniat regnum tuum_ ... Aber wo, wo ist
-denn das Gottesreich?“
-
-„In uns“, antwortete Clerambault. „Die Kette unserer Prüfungen und
-Hoffnungen formt den ewigen Christus. Wir sollten glücklich sein, wenn
-wir daran denken, daß uns das Vorrecht zuteil ward, den neuen Gott in
-unserem Herzen beherbergen zu dürfen wie das Kind in der Krippe.“
-
-„Aber was gibt uns das Zeichen, daß er gekommen ist?“ fragte der Arzt.
-
-„Unser Sein“, antwortete Clerambault.
-
-„Unsere Leiden“, antwortete Froment.
-
-„Unser verkannter Glaube“, antwortete der Bildhauer.
-
-„Die einzige Tatsache schon, daß wir sind“, setzte Clerambault hinzu,
-„dieser Widersinn, den wir der Natur ins Antlitz schleudern, den diese
-aber bestreitet. Hundertmal entflammt sich die Flamme und verlöscht
-wieder, ehe sie leuchten bleibt. Jeder Christus, jeder Gott hat sich
-vorher zu gestalten versucht in einer ganzen Reihe von Vorläufern.
-Überall sind sie, verloren und vereinsamt im Raume und vereinsamt in den
-Jahrhunderten. Aber diese Einsamen, die einander nicht kennen, sehen
-alle am Horizont den gleichen leuchtenden Punkt, den Blick des Erlösers.
-Und er kommt!“
-
-Froment sagte:
-
-„Er ist gekommen!“
-
- * * * * *
-
-Als sie voneinander in einem Gefühl gegenseitiger Liebe und fast wortlos
-geschieden waren, um nicht den gläubigen Zauber, der sie umfaßte, zu
-zerstören, und jeder sich allein in der Nacht der Straße fand, da
-bewahrten sie alle die Erinnerung eines Schauers der Erleuchtung, den
-sie nicht verstehen konnten. Der Vorhang war wieder vor ihnen
-niedergesunken. Aber sie konnten nicht vergessen, daß er sich für eine
-Sekunde ihnen aufgetan hatte.
-
- §
-
-Einige Tage später kam Clerambault, der einer Vorladung des
-Untersuchungsrichters Folge geleistet hatte, über und über mit Kot
-bedeckt nach Hause. Sein Hut, den er in der Hand hielt, war ganz
-zerfetzt und seine Haare naß vom Regen. Das Dienstmädchen stieß bei
-seinem Anblick einen Schrei aus, er bedeutete ihr zu schweigen und ging
-in sein Zimmer. Rosine war nicht zu Hause. Sonst sahen sich die beiden
-Eheleute, die allein in der leeren Wohnung geblieben waren, nur mehr bei
-den Mahlzeiten und sprachen sich auch dann so selten als möglich. Aber
-der Schrei des Dienstmädchens ließ Frau Clerambault ein neues Unglück
-vorausfühlen, und die Erklärungen des Mädchens bestätigten nur ihren
-Verdacht. Sie trat in das Zimmer Clerambaults und rief nun ihrerseits
-aus:
-
-„Mein Gott, was hast du denn schon wieder gemacht?“
-
-Clerambault in seiner Beschämung lächelte schüchtern und entschuldigte
-sich.
-
-„Ich bin ausgerutscht ...“
-
-Er versuchte die Spuren des Überfalls wegzusäubern.
-
-„Du bist ausgerutscht?... Drehe dich doch um ... Wie du dich zugerichtet
-hast.... Mein Gott, man hat doch mit dir keinen ruhigen Augenblick....
-Du gibst wirklich gar nicht acht.... Bis zu den Augen hinauf hast du
-Kotspritzer ... und da auf der Wange....“
-
-„Ja, ich glaube, ich habe mich angeschlagen.“
-
-„Ach, was man für ein Unglück mit dir hat.... ‚du glaubst‘ ... daß du
-dich angestoßen hast?... Bist du ausgerutscht?... Bist du gefallen ...?“
-
-Sie sah ihm ins Gesicht. „Es ist nicht wahr!“
-
-„Aber ich sage dir doch ...“
-
-„Es ist nicht wahr ... sage mir doch die Wahrheit ... Man hat dich
-geschlagen ...?“
-
-Er antwortete nicht.
-
-„Sie haben dich geschlagen!... Ah, diese wilden Tiere.... Du armer Mann!
-Sie haben dich geschlagen! Dich, der du so gut bist, dich, der in seinem
-ganzen Leben niemandem Böses getan hat.... Ah, das ist doch zu viel
-Gemeinheit....“
-
-Sie umarmte ihn schluchzend.
-
-„Du gute Frau“, sagte er sehr gerührt, „das ist doch nicht so wichtig.
-Und dann, ich mache dich ja schmutzig, du darfst mich jetzt nicht
-anrühren.“
-
-„Das macht nichts“, sagte sie, „ich habe zu viel auf dem Herzen!
-Verzeihe mir!“
-
-„Was soll ich dir denn verzeihen, ... was redest du denn da?“
-
-„Auch ich bin schlecht gegen dich gewesen. Ich habe dich nicht
-verstanden ... (ich werde dich ja nie verstehen), aber ich weiß doch
-gut, daß, was immer du tust, du nichts als das Rechte willst. Ich hätte
-dich verteidigen sollen und habe es nicht getan, ich war dir böse über
-deine Dummheit (und bin doch selbst die Dumme), ich war dir böse, daß du
-uns mit allen andern auseinandergebracht hast.... Aber jetzt ... nein,
-das ist wirklich zu gemein.... Menschen, die nicht würdig sind, deine
-Schuhriemen zu lösen, ... und sie haben dich geschlagen! Laß mich doch
-dein armes beschmutztes Gesicht küssen!“
-
-Es war so gut, sich wiederzufinden, nachdem man sich so lange verloren
-hatte. Sie weinte lange am Halse Clerambaults. Dann half sie ihm sich
-umkleiden, wusch ihm die Wange mit Arnika und trug seine Kleider fort,
-um sie ausbürsten zu lassen. Bei Tisch behütete sie ihn mit treuen,
-unruhigen Augen und versuchte, ihn von seinen Sorgen abzulenken, indem
-sie von altvertrauten Dingen sprach. Und wie sie so beide an diesem
-Abend allein und ohne Kinder im Hause waren, kam die Erinnerung an lang
-vergangene Jahre, an die erste Zeit ihrer Ehe zurück. Und dieses geheime
-Wiedererinnern hatte eine melancholische und verklärte Milde, wie das
-Vesperläuten über das Dunkel noch ein letztes warmes Leuchten des
-verlorenen Mittagläutens hinklingen läßt.
-
-Gegen zehn Uhr abends ging noch einmal die Glocke. Es war Julian Moreau
-mit seinem Freunde Gillot. Sie hatten die Abendblätter gelesen, die auf
-ihre Art über den Vorfall berichteten. Die einen sprachen von einer
-exemplarischen Züchtigung durch die öffentliche Verachtung und rühmten
-die „spontane“ Entrüstung der Menge. Die anderen, die ernsten Blätter,
-taten so, als ob sie prinzipiell eine Volksjustiz, die sich auf der
-Straße Luft machte, für ungehörig erklärten, aber sie schoben die
-Verantwortung dafür auf die Schwäche der Regierung, die solange zögerte,
-Licht in die Affäre zu bringen. Es war gar nicht unwahrscheinlich, daß
-dieser Tadel der Regierung von der Regierung selbst inspiriert war, denn
-die geschickten Politiker lassen sich bei manchen Gelegenheiten zu
-gewissen Dingen zwingen, die sie gern selbst tun möchten, aber auf die
-sie nicht sehr stolz sind. Die Arretierung Clerambaults schien also
-unmittelbar bevorzustehen. Moreau und sein Freund waren darüber
-beunruhigt, aber Clerambault machte ihnen ein Zeichen, sie sollten in
-Gegenwart seiner Frau schweigen und führte sie, nachdem er einige Zeit
-über den Vorfall in heiterer Weise gescherzt hatte, in sein Zimmer. Dort
-fragte er sie, was sie beunruhigte. Sie zeigten ihm einen haßerfüllten
-Artikel jenes nationalen Blattes, das seit Wochen die Hetze gegen
-Clerambault aufführte. Die Manifestation von heute hatte jene auf den
-Geschmack gebracht, und sie forderten ihre Freunde auf, sie morgen zu
-wiederholen. Moreau und Gillot befürchteten Gewalttätigkeiten, wenn sich
-Clerambault in den Justizpalast begeben würde, und sie waren gekommen,
-um ihn zu überreden, nicht auszugehen. Sie kannten seinen ein wenig
-furchtsamen Charakter und glaubten, ihm nicht besonders zusprechen zu
-müssen. Aber ebensowenig wie damals, als Moreau ihn mitten in einer
-Ansammlung diskutierend getroffen hatte, schien Clerambault sie zu
-verstehen.
-
-„Ich soll nicht ausgehen? Warum denn nicht, mir fehlt doch nichts?“
-
-„Aber es wäre klüger!“
-
-„Im Gegenteil, es wird mir gut tun.“
-
-„Aber man weiß nicht, was Ihnen zustoßen kann.“
-
-„Das weiß man niemals, dazu hat man noch Zeit, sobald es einmal
-geschehen ist.“
-
-„Also, um aufrichtig zu sprechen: es ist gefährlich. Man reizt schon
-seit langem die Leute auf. Sie sind heute verhaßt und Ihr Name genügt,
-ein paar von den Dummköpfen, die Sie nur durch ihre Zeitungen kennen,
-bis zum Platzen zu ärgern. Und diese Antreiber suchen ja nur einen
-Eklat. Gerade durch die Ungeschicklichkeit Ihrer Gegner haben Ihre Worte
-mehr Echo gefunden, als Sie dachten. Nun fürchten sie, daß diese Ideen
-sich Bahn brechen und wollen ein Exempel statuieren, um alle
-abzuschrecken, die Ihrer Meinung sind.“
-
-„Ja, aber“, sagte Clerambault, „wenn es wirklich solche gibt, die meiner
-Meinung sind — ich war dessen bisher noch nicht gewiß — so darf ich
-mich in einem solchen Augenblick doch nicht zurückziehen. Will man an
-mir ein Exempel statuieren, so muß ich es über mich ergehen lassen.“
-
-Er schien so guten Mutes, daß die beiden sich fragten, ob er sie
-wirklich verstanden habe. „Ich wiederhole Ihnen“, sagte Gillot nochmals,
-„daß Sie viel riskieren.“
-
-„Mein Freund“, sagte Clerambault, „heute riskiert die ganze Welt sehr
-viel.“
-
-„Aber es muß doch wenigstens ein Nutzen bei so etwas sein; warum wollen
-Sie ihnen eine Gefälligkeit erweisen und sich in den Rachen des Löwen
-wagen?“
-
-„Nun, ich glaube wiederum, daß das uns im Gegenteil sehr nützlich sein
-kann“, sagte Clerambault, „und daß, was immer auch geschieht, der Löwe
-das Nachsehen haben wird. Ich möchte auch das auseinandersetzen.... Sie
-verbreiten ja nur unsere Ideen, denn die Gewalttätigkeit heiligt immer
-die Sache, die sie verfolgt. Sie wollen Schrecken verbreiten, und sie
-werden auch Schrecken verbreiten ... aber bei den Ihren ..., bei denen,
-die noch zögern und verängstigt sind. Lassen wir sie nur ungerecht sein,
-es geht auf ihre Kosten ...“
-
-Er schien zu vergessen, daß es auch auf die Kosten der Seinen ging.
-
-Als sie aber sahen, daß er entschlossen war, wuchs mit ihrer Unruhe auch
-ihr Respekt und sie erklärten:
-
-„In diesem Falle aber kommen wir mit unseren Freunden, um Sie zu
-begleiten.“
-
-„Nein, nein, was ist das für ein törichter Einfall! Ihr wollt mich doch
-nicht lächerlich machen ... und schließlich, ich bin ja doch sicher, daß
-nichts geschehen wird!“
-
-Ihr Drängen blieb ohne jeden Erfolg.
-
-„Mich werden Sie jedenfalls nicht verhindern können, zu kommen“, sagte
-Moreau, „ich habe einen ebenso harten Kopf wie Sie. Lieber will ich die
-ganze Nacht auf der Bank gegenüber der Tür verbringen, als Sie zu
-verfehlen und allein zu lassen.“
-
-„Gehen Sie nur heim in Ihr Bett“, sagte Clerambault, „und schlafen Sie
-ruhig. Wenn Sie unbedingt wollen, so kommen Sie eben morgen früh, aber
-Sie werden Ihre Zeit verlieren. Es wird nichts geschehen. Auf jeden
-Fall: umarmen wir uns.“
-
-Sie umarmten ihn zärtlich.
-
-„Sehen Sie“, sagte Gillot schon an der Türschwelle, „man hat irgendwie
-die Pflicht, Sie zu behüten, wir sind ein wenig Ihre Kinder.“
-
-„Ja, das ist wahr“, sagte Clerambault mit einem guten Lächeln.
-
-Er dachte an seinen Sohn. Als er die Tür schloß, vergingen einige
-Minuten, bis er bemerkte, daß er aufrechtstehend träumte, mit der Lampe
-in der Hand unbeweglich im Vorzimmer stehend, in dem er sich eben von
-seinen Freunden verabschiedet hatte. Es war fast Mitternacht, und
-Clerambault war müde. Dennoch trat er, statt in das gemeinsame
-Schlafgemach zu gehen, ganz unbewußt noch einmal in sein Zimmer zurück.
-Das Zimmer, das Haus, die Straße waren eingeschlafen; er setzte sich hin
-und fiel wieder in seine Starre zurück. Undeutlich, ohne es eigentlich
-zu sehen, betrachtete er den Lichtreflex vor sich auf der Glasscheibe
-einer Rembrandt-Radierung, der „Auferstehung des Lazarus“, die an einer
-Seitenwand seiner Bibliothek aufgehangen war.... Er lächelte einem
-teuren Antlitz zu, das lautlos eingetreten und nun bei ihm war.
-
-„Bist du nun zufrieden?“ dachte er, „das wolltest du doch?...“
-
-Und Maxime sagte: „Ja.“
-
-Und er fügte mit leisem Spott bei:
-
-„Es war nicht ganz ohne Mühe, bis ich dich so weit gebracht habe, Papa.“
-
-„Ja“, sagte Clerambault, „wir haben viel von unseren Kindern zu lernen.“
-
- §
-
-Clerambault legte sich zu Bett. Seine Frau war schon eingeschlafen.
-Keine Sorge ließ sie jemals den Frieden jenes tiefen Schlummers
-verlieren, in den manche Seelen wie in ein Grab hinabstürzen. Die Seele
-Clerambaults hatte weniger Ungeduld, sich zu versenken. Auf dem Rücken
-ausgestreckt, blieb er die ganze Nacht unbeweglich mit offenen Augen
-liegen.
-
-Blasses Licht erhellte die Straße, zarte Halbdämmerung. Stille Sterne
-standen am dunklen Himmel. Einer von ihnen glitt nieder und beschrieb
-einen Kreis: es war ein Flugzeug, das über der schlafenden Stadt wachte.
-Die Augen Clerambaults folgten seinem Flug und schwebten mit. Sein
-waches Ohr hörte nun auch das ferne Sausen des menschlichen Planeten,
-diese Sphärenmusik, die die Weisen Ioniens noch nicht geahnt hatten.
-
-Er war glücklich. Sein Körper und sein Geist schienen ihm gleichsam
-beschwingt, seine Glieder ebenso wie seine Gedanken entspannt, und so
-ließ er sich hinwegtragen und schwebte.... Die Bilder des fiebrigen und
-ermattenden Tages zogen noch einmal im Fluge vorbei, doch sie hielten
-ihn nicht mehr fest.... Ein alter Mann, von einer Bande junger Bürger
-gestoßen ... zuviel Lärm, zuviel Bewegung!... Aber schon sind sie wieder
-weit, so wie Gesichter, die man einen Augenblick an den Fenstern eines
-vorüberfliegenden Zuges grinsen sieht. Aber der Zug ist vorüber, das
-Bild stürzt in das Dunkel des donnernden Tunnels.... Aber auf dem
-nächtlichen Himmel gleiten noch immer geheimnisvolle Sterne, und rings
-um ihn sind die schweigenden Räume, die dunkle Durchsichtigkeit und
-eisige Frische der Luft über der nackten Seele. Oh, Unendlichkeit in
-einem Tropfen des Lebens, im Funken eines Herzens, das erlöschen will,
-das sich aber freigemacht hat und weiß, wie bald es in seine große
-Heimat wiederkehrt!
-
-Und wie der treue Verwalter eines ihm vertrauten Gutes machte
-Clerambault noch einmal die Bilanz seines Tages. Er überflog alle seine
-Versuche, seine Anstrengungen, seine Anläufe, seine Irrtümer. Wie wenig
-blieb übrig von seinem Leben? Fast alles, was er aufgebaut, hatte er
-nachher mit seinen eigenen Händen zerstört. Er hatte im gleichen Herzen
-verneint, was er vordem bejaht hatte, und nie aufgehört, im Walde der
-Zweifel und Widersprüche herumzuirren, müde, blutend, erschöpft und als
-einzige Wegzeiger die Sterne, die manchmal zwischen dem Gezweige
-auftauchten und wieder verschwanden. Was für ein Sinn war in diesem
-langen, stürmischen Lauf, der in Nacht mündete? Ein einziger! Er war
-frei gewesen.
-
-Frei ...! Was war denn dies, diese Freiheit, die ihn mit ihrer
-herrischen Trunkenheit übermannte, die Freiheit, deren Herrn und Beute
-er sich zugleich fühlte, d i e s e r Z w a n g , f r e i z u
- s e i n ? Er gab sich keiner Täuschung hin, er wußte wohl, daß er
-ebenso wie die anderen der ewigen Gebundenheit nicht entfliehen konnte,
-aber seine Fron war eine andere (es ist nicht jedem die gleiche
-bestimmt). Das Wort Freiheit drückt nur eines der hohen und klaren
-Gesetze der unsichtbaren Herrin der Welt aus — der Notwendigkeit. Sie
-ist es, die den Aufruhr der Vorkämpfer erweckt und sie in Feindschaft
-stellt zur ewigen Vergangenheit, die die dunklen Massen mit sich
-hinschleppt. Sie ist das Schlachtfeld der ewigen Gegenwart, wo ewig die
-Vergangenheit mit der Zukunft kämpft, und in diesem Kampfe zerbrechen
-unausgesetzt die alten Gesetze, um neuen Gesetzen Raum zu geben, die
-dann ihrerseits vernichtet werden.
-
-O Freiheit! Immer trägst du Ketten, aber es sind nicht mehr die zu engen
-der Vergangenheit. Jede deiner Bewegungen macht dein Gefängnis weiter.
-Wer weiß? Wer weiß?... Vielleicht später einmal ... wenn man die Mauern
-deines Gefängnisses zertrümmert....
-
-Inzwischen aber bemühen sich alle, die du retten willst,
-leidenschaftlich, dich zu verlieren. Du bist der Staatsfeind, „_L’Un
-contre tous_“, „der Eine gegen Alle“. (So hatten sie den schwachen, den
-unsicheren, den mittelmäßigen Clerambault genannt; aber nicht an sich
-selbst denkt er jetzt, sondern an d e n, der immer war, seit Menschen
-sind, an d e n, der nicht aufhört, ihre Torheit zu bekämpfen, um sie zu
-befreien, d e r E i n e , g e g e n d e n s i e a l l e
- s i n d.) Wie oft haben sie ihn im Laufe der Jahrhunderte zur Seite
-gestoßen und niedergeschmettert! Aber im Schoße der Angst überkommt ihn
-eine übernatürliche Freude und erfüllt ihn rauschend, denn er ist das
-heilige Korn, das Goldkorn der Freiheit. Im dunkeln Schicksal der Welt
-rollt seit dem Chaos — aus welcher Ähre mag es gefallen sein? — das
-Samenkorn des Lichtes. Schutzlos, hat es sich im Grunde des wilden
-Menschenherzens eingekapselt. Im Lauf der Jahrhunderte hat es dem
-Ansturm der Urgesetze widerstanden, die das Leben zerknicken und
-zerbrechen. Und das goldene Samenkorn wird größer und größer,
-unaufhaltsam.
-
-Der Mensch, das waffenloseste Tier, hat sich gegen die Natur erhoben und
-sie bekämpft. Jeder seiner Schritte war mit seinem Blut genetzt, und
-nicht nur außerhalb seiner selbst, sondern in sich selbst, mußte er die
-Natur verfolgen, da er ja selber ihr Teil ist. Und dies ist die
-schwerste Schlacht, die der zerteilte Mensch gegen sich selbst führt.
-Wer wird siegen? Einerseits die Natur auf ihren erzenen Wegen, die die
-Völker und die Welt in den Abgrund reißt, auf der anderen Seite das
-freie Wort. Verlacht es nur, ihr Sklaven!... „Lächerlich!“ sagen sie,
-diese Anbeter der Gewalt: „Ein armseliger Köter, der hinter den Rädern
-eines Schnellzuges herkläfft.“ Ja, so stünde es, wäre der Mensch nur ein
-Stück Materie unter dem Prägehammer des Schicksals, das blutet und
-vergeblich stöhnt. Aber jener Geist ist in ihm, der Achilles an der
-Ferse und Goliath an seiner Stirn zu treffen weiß. Er braucht nur eine
-Schraube auszureißen, und der reißende Zug entgleist und sein Lauf ist
-zerbrochen.... Rollt hin durch die Jahrhunderte, ihr Planetenkreise, ihr
-dunklen Menschenmassen, erhellt von den Blitzen des befreienden Geistes,
-von Buddha, Jesus, den Weisen, den Zerbrechern der Ketten.... Der Blitz
-naht, ich fühle ihn in meinem Gebein knistern, wie unter dem Hufschlag
-des Pferdes der Funken im Stein; die Luft bebt, die große Windwelle
-erhebt sich.... Der Schauer, der dem Geschehnis voranläuft.... Die dicke
-Wolke des Hasses preßt sich zusammen, häuft und stößt sich.... O Feuer,
-bald bist du aufgesprungen!... Ihr, die ihr allein gegen alle seid,
-worüber klagt ihr? Ihr seid dem Joch, das euch niederdrückt, entronnen,
-und so wie man im Alpdruck sich dem schwarzen Wasser eines Traumes
-entringt, wieder kämpfend an die Oberfläche kommt, wieder hinabstürzt
-und fast schon erstickt, um dann plötzlich in einem verzweifelten Ruck
-aller Glieder sich aus dem Wasser zu reißen und — gerettet! — auf das
-harte Gestein des Ufers hinstürzt.... Möge es mein Fleisch schmerzend
-zerfetzen! Um so besser, ich erwache doch wieder in freier Luft.
-
-Nun bin ich, du drohende Welt, deiner Fesseln los, du kannst mich nicht
-mehr anschmieden. Und ihr, die ihr mich und meinen verabscheuten Willen
-bekämpft, wißt, daß dieser mein Wille in euch ist! Ihr wollt, wie ich,
-frei sein, und ihr leidet daran, es nicht zu sein. Dies euer Leiden
-macht euch zu meinen Feinden. Aber selbst wenn ihr mich tötet, dann ist
-es nicht mehr an euch, zu sagen, ihr hättet das Licht, das in mir war,
-nicht gesehen, oder, falls ihr es gesehen habt, es zurückzuweisen!
-Schlagt also zu! Indem ihr mich bekämpft, bekämpft ihr euch selbst. Von
-vornherein seid ihr die Besiegten. Und ich, indem ich mich verteidige,
-verteidige euch alle. Der „Eine gegen Alle“ ist der „Eine für Alle“, und
-er wird bald der „Eine mit Allen“ sein.
-
-Nein, ich werde nicht allein bleiben, ich bin es nie gewesen. Gruß euch,
-ihr Weltbrüder! So weit ihr auch sein möget, über die Welt hingestreut
-wie der Samen aus einer Hand, so seid ihr doch alle hier an meiner
-Seite: ich weiß es. Denn niemals ist der Gedanke eines einsamen Menschen
-so wie er selbst allein. Jede Idee, die in einem Menschen ersteht, keimt
-schon in anderen Menschen, und immer, wenn irgendein Unglücklicher,
-verkannt, geschmäht, sie in seinem Herzen erwachen fühlt, möge er
-freudig sein. Denn es ist die ganze Erde, die erwacht.... Der erste
-Funke, der in einer einsamen Seele erglänzt, ist schon die Spitze jenes
-Strahls, der die Nacht durchleuchten wird. So komme, Licht, verbrenne
-die Nacht, die mich umgibt und die mich erfüllt....!
-
- §
-
-Und es kam. Das klare Licht des Tages war so jung und hell wie nur je.
-Der Schmutz der Menschen kann es nicht beflecken, die Sonne trinkt ihn
-auf wie einen Nebel.
-
-Frau Clerambault erwachte und sah ihren Mann mit offenen Augen. Sie
-meinte, auch er sei eben erwacht, und sagte:
-
-„Du hast gut geschlafen. Du hast dich nicht ein einzigesmal in der Nacht
-gerührt.“
-
-Er widersprach nicht, lächelte aber bei dem Gedanken an die lange Fahrt,
-die er gemacht hatte. Der Geist, der unruhige Vogel, der durch die Nacht
-hinstreift, nun faßte er wieder Fuß. Clerambault stand vom Bette auf.
-
-Zur gleichen Stunde stand ein anderer auf, der ebensowenig wie er in
-dieser Nacht geschlafen hatte, und der ebenso das Bildnis seines toten
-Sohnes sich vor den Blick gerufen und der an ihn — an ihn, Clerambault,
-den er nicht kannte — mit der ganzen Starrheit des Hasses dachte.
-
-Die erste Post brachte einen Brief von Rosine. Sie vertraute ihrem Vater
-das Geheimnis an, das er seit langem ahnte. Daniel hatte ihr einen
-Heiratsantrag gemacht, und sie würden sich bei seiner nächsten Heimkehr
-von der Front vermählen. Der Form halber erbat sie sich die Zustimmung
-der Eltern, sie wußte wohl, daß ihr Wille auch der ihrige war. Der Brief
-strahlte von einem Glück, das sich seine jubelnde Gewißheit durch nichts
-zerstören ließ. Das traurige Rätsel der zerrissenen Welt hatte nun
-plötzlich einen Sinn bekommen, ihre junge, alles auftrinkende Seele
-empfand das Leiden einer Welt als nicht zu hohen Preis für die Blüte,
-die sie von diesem blutigen Rosenstrauch pflücken durfte.... Immerhin
-verriet sich auch ihr mitfühlendes Herz. Sie vergaß nicht die anderen
-und ihre Qual, den Vater und seine Sorgen. Aber sie rührte sie mit
-seligen Armen an, und es war, als wollte sie mit einer naiven und
-zärtlichen Übermütigkeit sagen:
-
-„Ihr guten Freunde, quält euch doch nicht immer mit euren Gedanken. Ihr
-seid wirklich unklug, man soll nicht traurig sein. Ihr seht, das Glück
-kommt schließlich doch.“
-
-Clerambault lächelte gerührt, während er den Brief las.
-
-„Ja, ja, ganz gewiß, das Glück kommt, nur hat nicht die ganze Welt Zeit,
-darauf zu warten.... Grüße es von mir, kleine Rosine, und lasse es nicht
-mehr von dir.“
-
- §
-
-Gegen elf Uhr kam der Graf Coulanges, sich nach ihm zu erkundigen. Er
-hatte Moreau und Gillot unten gefunden, sie bewachten die Tür. Getreu
-ihrem Versprechen, wollten sie Clerambault begleiten, aber sie waren
-eine Stunde früher gekommen, als es eigentlich notwendig war, und wagten
-nicht hinaufzugehen. Clerambault ließ sie heraufrufen und verspottete
-sie wegen ihres übermäßigen Eifers. Sie gaben zu, daß sie aus Mißtrauen
-gegen ihn gefürchtet hatten, er würde, ohne auf sie zu warten, aus dem
-Hause entwischen, und Clerambault mußte zugeben, eine ähnliche Absicht
-gehabt zu haben.
-
-Die letzten Nachrichten von der Front waren gut. Seit kurzer Zeit schien
-die deutsche Offensive ins Stocken geraten. Seltsame Zeichen der
-Ermattung wurden sichtbar und Gerüchte, die nicht unbegründet schienen,
-deuteten auf einen geheimen Desorganisationsprozeß in dieser gewaltigen
-Masse. Sie hatte, sagte man, die Grenzen ihrer Kraft erreicht und
-überschritten: der Riese wurde matt. Man sprach von einer Ansteckung
-durch den revolutionären Geist, den die deutschen Truppen von der
-Ostfront aus Rußland zurückgebracht hatten.
-
-Mit der Beweglichkeit, die für den französischen Geist so
-charakteristisch ist, verkündeten mit einem Male die Pessimisten von
-gestern den nahen Sieg. Moreau und Gillot sahen in kurzer Zeit ein
-Abflauen der Leidenschaft, die Rückkehr zur Vernunft, die Versöhnung der
-Völker und den Triumph der Ideen Clerambaults voraus. Clerambault warnte
-sie, sich allzufrüh den Illusionen hinzugeben, und es bereitete ihm
-Spaß, ihnen zu beschreiben, was geschehen würde, sobald der Frieden
-unterschrieben sei (denn das mußte doch, wann immer auch, einmal
-geschehen).
-
-„Mir ist“, sagte er, „als könnte ich, wie der hinkende Teufel nachts
-über die Stadt schwebend, den ersten Abend nach dem Waffenstillstand
-sehen. Und ich sehe in den Häusern, deren Vorhänge vor dem Jubelschrei
-der Straße herabgelassen sind, unendlich viel Herzen in Trauer, Herzen,
-die sich krampfhaft während all dieser Jahre mit dem Gedanken eines
-Sieges aufrechtgehalten haben, der ihrem Unglück einen Sinn oder den
-falschen Schein eines Sinnes gibt. Nun können sie endlich sich
-entspannen oder zerbrechen, schlafen oder endlich sterben. Die Politiker
-denken natürlich daran, wie sie auf das schnellste und ausgiebigste die
-gewonnene Partie ausnützen können oder, wenn sie sich verrechnet haben,
-an einen neuen Aufschwung auf dem Trapez. Die Fachleute des Krieges
-werden trachten, den Spaß solange als möglich fortdauern oder, wenn
-ihnen dies nicht gelingt, den Tanz so bald als möglich wieder beginnen
-zu lassen. Die Vorkriegspazifisten werden eilig aus ihren Winkeln und
-Löchern hervorkriechen und sich in rührenden Demonstrationen ergehen.
-Die alten Bonzen, die durch fünf Jahre die Trommel zum Vormarsch
-rührten, werden, Palmenzweige in den Händen, lächelnd und das Herz auf
-den Lippen, auftauchen und von Liebe reden. Und die Kämpfer selbst, die
-im Schützengraben geschworen haben, niemals zu vergessen, auch sie
-werden sich bereitwillig mit allen Erklärungen, Glückwünschen und
-Händedrücken, die man ihnen verabreicht, abfinden. Es ist ja auch zu
-viel verlangt, nicht zu vergessen. Fünf Jahre aufreibender Strapazen
-bereiten den Menschen gut zur Nachgiebigkeit vor, durch die Erschöpfung,
-durch das ewige Einerlei, durch den Wunsch nach einem Ende. Die
-rauschenden Klänge des Sieges werden die Schmerzensrufe der Besiegten
-ersticken. Und die meisten Menschen werden an nichts anderes denken, als
-wieder die alten, schläfrigen Gewohnheiten von vor dem Krieg
-aufzunehmen. Zuerst wird man auf den Gräbern tanzen, dann wird man
-wieder schlafen. Vom Krieg bleibt nichts als eine Prahlerei am
-Biertisch. Und wer weiß, vielleicht wird ihnen dies Sichnichterinnern so
-gut glücken, daß sie bald wieder dem Tanzmeister, dem Sensenmann, helfen
-werden, aufs neue anzufangen. Selbstverständlich nicht sofort, aber
-etwas später, wenn man gut ausgeschlafen hat.... So wird überall der
-Friede sein — solange, bis überall der neue Krieg da ist, denn Krieg
-und Friede, meine Freunde, sind im letzten Sinne, wie sie meist
-verstanden werden, nur zwei verschiedene Etiketten für dieselbe Flasche.
-Es ist ganz so, wie der König Bomba von seinen tapferen Soldaten sagt:
-„Zieht sie rot oder zieht sie grün an, sie werden doch Fersengeld
-geben.“ Ihr könnt es Frieden oder Krieg nennen, aber es gibt weder
-Frieden noch Krieg, es gibt nur die allgemeine Knechtschaft, die
-Bewegung der wie in Ebbe und Flut hingerissenen Massen und es wird
-solange so bleiben, bis sich starke Seelen über den menschlichen Ozean
-erheben und den scheinbar sinnlosen Kampf gegen das Schicksal beginnen,
-das diese schweren Massen in Bewegung setzt.“
-
-„Gegen die Natur kämpfen?“ fragte Coulanges. „Denken Sie daran, ihre
-Gesetze vergewaltigen zu wollen?“
-
-„Es gibt“, antwortete Clerambault, „kein einziges unabänderliches
-Gesetz. Gesetze leben, verwandeln sich und sterben wie alle irdischen
-Wesen, und es ist Pflicht des Geistes, nicht, wie die Stoiker es wollen,
-sie einfach hinzunehmen, sondern sie zu verändern, sie auf unser Maß
-zuzuschneiden. Die Gesetze sind die Form der Seele. Entfaltet sich die
-Seele, so müssen sie mit ihr wachsen. Ein gerechtes Gesetz ist nur
-jenes, das auf mich paßt.... Bin ich im Unrecht, wenn ich fordere, daß
-der Schuh sich dem Fuße anpasse und nicht der Fuß dem Schuh?“
-
-„Ich sage nicht, daß Sie im Unrecht sind“, erwiderte der Graf. „Den
-Versuch, die Natur zu vergewaltigen, machen wir ja auch in der Züchtung.
-Wir verändern nicht nur die Form, sondern auch den Instinkt der Tiere,
-warum sollte das nicht auch beim Menschen gelingen.... Nein, ich
-widerspreche Ihnen nicht, im Gegenteil, ich bin der Meinung, daß es das
-Ziel und die Pflicht jedes Menschen, der dieses Namens würdig ist, sein
-muß, so, wie Sie sagen, die menschliche Natur gewaltsam weiter
-fortzubringen. Das ist die Quelle des wahren Fortschrittes, und es ist
-ein wirklicher Wert darin, auch wenn man das Unmögliche will. Freilich,
-das soll nicht sagen, daß wir mit dem, was wir versuchen, auch Erfolg
-haben werden.“
-
-„Nein, wir werden keinen Erfolg haben, weder für uns noch für die
-Unseren. Es ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich, daß unsere
-unglückliche Nation, vielleicht unser ganzes Abendland, sich auf einem
-absteigenden Ast befindet, und ich fürchte, daß der Absturz bald
-erfolgen wird, infolge ihrer Laster und Tugenden, von denen diese wie
-jene mörderisch sind durch ihren Stolz und ihren Haß, ihre
-provinzlerische Eifersucht, durch die endlose Schraube der Revanchen,
-durch beharrliche Verblendung, durch die erdrückende Treue zur
-Vergangenheit und jene verjährte Auffassung von Ehre und Pflicht, die
-sie die Zukunft für Gräber hinopfern läßt. Ich fürchte nur allzusehr,
-daß auch die letzte Mahnung dieses Krieges ihren lärmenden und zugleich
-trägen Heroismus in nichts belehrt hat.... In früheren Zeiten hätte
-dieser Gedanke mich niedergedrückt. Jetzt aber fühle ich mich wie von
-meinem eigenen Leib von allem Todgeweihten losgelöst, ich bin ihm nicht
-mehr anders als durch das Mitleid verbunden. Aber dafür ist mein Geist
-brüderlich mit allem, das — auf welchem Punkte der Erde auch immer —
-das neue Licht empfängt. Kennt ihr die schönen Worte des Sehers von
-Saint-Jean d’Acre: ‚Die Sonne der Wahrheit ist wie das Himmelsgestirn,
-mit vielen Orten des Aufstieges. An einem Tage erhebt es sich im Zeichen
-des Krebses, ein andermal im Zeichen der Waage, aber die Sonne ist eine
-und eine einzige Sonne. Einmal ging der Strahl der Sonne der Wahrheit
-vom Wendekreis Abrahams auf und ging unter im Zeichen Moses und
-entflammte den Horizont. Dann erhob sie sich wieder im Zeichen Christi,
-glühend und Glanz verbreitend. Diejenigen, die Abraham dienten, wurden
-blind am Tage, da das Licht über dem Sinai glänzte. Aber meine Augen
-werden stets — von welchem Punkt immer sie sich erhebt — der
-aufgehenden Sonne entgegengerichtet sein. Und ginge die Sonne im Westen
-auf, es wäre doch die Sonne.‘“
-
-„Und heute kommt uns von Norden das Licht“, sagte lächelnd Moreau.
-
- §
-
-Obwohl die Vorladung auf ein Uhr lautete und es kaum Mittag war, hatte
-es Clerambault doch eilig, fortzugehen. Er fürchtete, zu spät zu kommen.
-
-Er hatte nicht weit zu gehen. Seine Freunde hätten ihn nicht gegen die
-übrigens sehr spärliche Rotte zu verteidigen brauchen, die ihn beim
-Eingang des Justizpalastes erwartete, denn die Nachrichten des heutigen
-Tages lenkten von den gestrigen ab. Höchstens hätten einige feige Köter,
-die sich mehr lärmend als beunruhigend gebärdeten, versucht, ihm von
-rückwärts die Zähne zu zeigen.
-
-Sie waren an die Ecke der Rue Vaugirard und Rue d’Assas gekommen, als
-Clerambault bemerkte, daß er etwas vergessen hatte, und seine Freunde
-für einen Augenblick stehen ließ, um noch einmal hinaufzugehen und
-einige Papiere aus seiner Wohnung zu holen. Sie blieben unten, um auf
-ihn zu warten, und sahen, wie er den Fahrweg überquerte. Auf dem
-Trottoir gegenüber, bei einem Wagenplatz, trat ihn ein Mann seines
-Alters an, ein nicht sehr großer und ein wenig schwerfälliger Mann aus
-dem Bürgerstand. Alles geschah so schnell, daß sie nicht einmal Zeit
-hatten, einen Schrei auszustoßen: ein Wortwechsel, ein ausgestreckter
-Arm, ein Knall. Sie sahen Clerambault wanken und liefen hin. Aber es war
-schon zu spät.
-
-Sie streckten ihn auf eine Bank hin, die Menge — mehr neugierig als
-erregt — (ach, man hatte so viel solcher Dinge gesehen und gelesen)
-drängte sich herzu und gaffte.
-
-„Was ist denn?“
-
-„Ein Flaumacher.“
-
-„So, dann ist es schon gut! Die Schurken haben uns genug geschadet.“
-
-„Nun, es gibt schon ein größeres Verbrechen, als zu wünschen, daß dieser
-Krieg einmal zu Ende ist.“
-
-„Es gibt nur eine Möglichkeit, daß er zu einem Ende kommt, und die ist,
-ihn bis an das Ende zu führen. Nur die Pazifisten verlängern den Krieg.“
-
-„Sie sind sogar schuld daran! Ohne sie wäre nie einer gekommen, der
-Boche hat mit ihnen gerechnet.“
-
-Und Clerambault dachte im Halbbewußtsein an die alte Frau, die ihr Stück
-Holz zum Scheiterhaufen des Johann Huß hinschleppte .... _Sancta
-Simplicitas_!
-
-Vaucoux hatte nicht die Flucht ergriffen und sich widerstandslos den
-Revolver aus der Hand nehmen lassen. Man hielt ihn fest bei den Armen.
-Er blieb unbeweglich und sah nur sein Opfer an, das wiederum ihn
-betrachtete. Beide dachten an ihre Söhne.
-
-Moreau bedrohte Vaucoux. Aber unerschütterlich und starr in seinem
-Haßglauben sagte Vaucoux:
-
-„Ich habe den Feind getötet!“
-
-Gillot, der sich über Clerambault neigte, sah, wie er schwach lächelnd
-Vaucoux betrachtete.
-
-„Mein armer Freund“, dachte er, „in dir selbst ist der Feind.“
-
-Er schloß wieder die Augen .... Jahrhunderte gingen vorbei....
-
-„Es gibt keine Feinde mehr!“
-
-Und Clerambault empfand selig den Frieden kommender Welten.
-
- §
-
-Da ihn das Bewußtsein schon verlassen hatte, trugen ihn die Freunde in
-das nahe gelegene Haus Froments. Aber ehe sie es betreten hatten, war er
-verschieden.
-
-Sie legten ihn auf ein Bett in einem Zimmer neben jenem, in dem der
-junge Gelähmte, umgeben von seinen Freunden, ruhte. Die Tür stand offen
-und der Schatten des toten Freundes schien bei ihnen zu weilen.
-
-Moreau ereiferte sich bitter über den Widersinn dieses Mordes, der,
-statt einen der großen Verbrecher der triumphierenden Reaktion oder
-einen der bekannten Anführer der revolutionären Minderheiten zu treffen,
-sich gerade gegen einen ungefährlichen, unabhängigen, allen brüderlich
-gesinnten und fast zu nachsichtigen Menschen gewendet hatte.
-
-Aber Edme Froment sagte:
-
-„Der Haß täuscht sich nicht. Ihn leitet ein sicherer Instinkt... Nein,
-er hat sich sein Ziel gut gesucht. Oft sieht der Feind viel klarer als
-der Freund. Versuchen wir nicht, uns einer Illusion hinzugeben: der
-gefährlichste Feind der Gesellschaft und der bestehenden Ordnung ist und
-war in dieser Welt der Gewalttätigkeit, der Lüge und der anderen
-Kompromisse von je und immer her der Mann des vollkommenen Friedens und
-des freien Gewissens. Nicht durch Zufall ist Jesus gekreuzigt worden, es
-mußte so sein, und er wäre später auch immer wieder zum Schafott
-geschleppt worden. Der Mann des Evangeliums ist der radikalste
-Revolutionär von allen, denn er ist die unerreichbare Quelle, aus der
-durch den Spalt der harten Erde die Revolutionen aufspringen. Er ist das
-ewige Prinzip der Nichtunterwerfung des Geistes unter den Cäsar, wer
-immer es auch sei, der ewige Auflehner gegen die ungerechte Gewalt. So
-erklärt sich der Haß der Staatsknechte und der hörig gemachten Völker
-gegen den gemarterten Christ, der auf sie niederschaut und schweigt, und
-gegen seine Schüler, gegen uns, die ewigen Dienstverweigerer, die
-„_conscientious objectors_“ wider alle Tyranneien, mögen sie nun von
-oben kommen oder von unten, mögen sie jene von morgen oder jene von
-heute sein — gegen uns, die Verkünder dessen, der größer ist als wir,
-der der Welt das Wort des Heiles bringt, dessen, den sie ins Grab
-gelegt, des Meisters, den sie zu Tode martern werden bis ans Ende der
-Welt, und der doch immer wieder auferstehen wird — der freie Geist,
-unser Herr und Gott!“
-
- S i e r r e 1916 — P a r i s 1920
-
-
-
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-Offensichtliche Druck- und Rechtschreibfehler wurden korrigiert. Bei
-Varianten der Schreibweise wurde die häufigste verwendet.
-
-Die Zeichensetzung wurde nur bei eindeutigen Druckfehlern geändert. Für
-dieses eBook wurde ein Cover erstellt, das nun gemeinfrei ist.
-
-[Das Ende von _Clerambault_, von Romain Rolland.]
-
-*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK CLERAMBAULT ***
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- <body>
-
-<div style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of Clerambault, by Romain Rolland</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
-at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. If you
-are not located in the United States, you will have to check the laws of the
-country where you are located before using this eBook.
-</div>
-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: Clerambault</p>
-<p style='display:block; margin-top:0; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:0;'>Geschichte eines freien Gewissens im Kriege</p>
-
-<div style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Romain Rolland</div>
-
-<div style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Translator: Stefan Zweig</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>Release Date: October 13, 2021 [eBook #66532]</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>Language: German</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>Character set encoding: UTF-8</div>
-
-<div style='display:block; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Produced by: Delphine Lettau, Cindy Beyer and the online Distributed Proofreaders Canada team at http://www.pgdpcanada.net with images provided by TIA_CAN</div>
-
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK CLERAMBAULT ***</div>
-<div class='figcenter'>
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-
-<hr class='pbk'/>
-
-<div class='lgc' style=''> <!-- rend=';' -->
-<p class='line' style='margin-top:1em;font-size:1.5em;'><span class='gesp'>Romain Rolland</span></p>
-<p class='line'>&#160;</p>
-<p class='line' style='font-size:2em;'><span class='gesp'>Clerambault</span></p>
-<p class='line'>&#160;</p>
-<p class='line' style='margin-bottom:.5em;font-size:1.2em;'>Geschichte eines freien Gewissens</p>
-<p class='line' style='font-size:1.2em;'>im Kriege</p>
-<p class='line'>&#160;</p>
-<p class='line'>&#160;</p>
-<p class='line' style='margin-top:5em;'><span class='gesp'>1922</span></p>
-<hr class='tbk100'/>
-<p class='line'><span class='gesp'>Literarische Anstalt</span></p>
-<p class='line' style='margin-top:.3em;margin-bottom:.3em;'><span class='gesp'>Rütten &amp; Loening</span></p>
-<p class='line'><span class='gesp'>Frankfurt a. M.</span></p>
-</div> <!-- end rend -->
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<div class='lgc' style='margin-top:2em;margin-bottom:8em;'> <!-- rend=';' -->
-<p class='line'>Berechtigte Übertragung aus dem</p>
-<p class='line'>Französischen von <span class='gesp'>Stefan Zweig</span></p>
-<p class='line'>&#160;</p>
-<p class='line'>&#160;</p>
-<p class='line'>Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig</p>
-</div> <!-- end rend -->
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<h2><span style='font-size:larger'><span class='gesp'>An den Leser</span></span></h2>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>ieses Werk ist kein Roman, sondern das Bekenntnis
-einer freien Seele inmitten der Qual, die Geschichte
-ihrer Irrungen, Ängste und Kämpfe. Man möge keine
-Selbstschilderung darin erblicken — werde ich eines Tages
-über mich selbst schreiben wollen, so wird es ohne Decknamen
-und Maske geschehen. Einige meiner Anschauungen habe ich
-allerdings in meinem Helden zum Ausdruck gebracht, doch
-sein Wesen, sein Charakter und seine Lebensumstände gehören
-ihm ganz allein zu. Ich wollte in diesem Werke das
-innere Labyrinth schildern, das eine schwache, unentschiedene,
-erregbare und verführbare, aber doch aufrichtige und in
-ihrem Wahrheitswillen leidenschaftliche Natur langsam vorwärtstastend
-durchirrt.</p>
-
-<p>In einigen Kapiteln deutet das Werk auf die Art der „Meditationen“
-unserer altfranzösischen Moralisten, der stoischen
-Essays zu Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts zurück.
-In jenen Zeiten, die den unsern glichen, ja sie sogar an tragischem
-Grauen noch übertrafen, schrieb inmitten der Kämpfe
-der Liga der erste Präsident Guillaume du Vair mit unerschütterlicher
-Seele seine erhabenen Dialoge „Über die
-Standhaftigkeit und die Tröstung im allgemeinen Mißgeschick“.
-Während die Belagerung von Paris ihren Höhepunkt
-erreicht hatte, hielt er in seinem Garten Zwiesprache
-mit seinen Freunden Linus, dem Weitgereisten, mit Musée,
-dem ersten Rektor der medizinischen Fakultät, und dem
-Schriftsteller Orphée. Und den Blick noch erfüllt von den
-tragischen Bildern, die sie auf der Gasse gesehen — arme
-Menschen, die vor Hunger gestorben waren, Frauen, die
-schrien: die Landsknechte verzehrten im Temple ihre Kinder
-— versuchten sie ihren bedrückten Geist zu jenen Höhen zu
-erheben, von denen man die geistige Welt der Jahrhunderte
-umfängt und das Überdauernde jeder Prüfung sieht. Als
-ich in den Kriegsjahren jene Dialoge überlas, fühlte ich mich
-mehr als einmal diesem guten Franzosen nahe, der schrieb:
-„Es heißt ein Unrecht an dem Menschen begehen, der geschaffen
-ist, alles zu sehen und alles zu erkennen, wenn man
-ihn an eine einzelne Stelle der Erde bindet. Jedes Stück
-Erde ist Land für den Vernünftigen... Gott hat uns die
-Erde gegeben, daß wir sie alle in Gemeinschaft genießen,
-freilich mit der Pflicht, anständige Menschen zu bleiben...“</p>
-
-<p class='line' style='text-align:right;margin-right:0em;margin-top:1em;'>R. R.</p>
-<p class='line' style='text-align:left;margin-left:1em;'><span class='gesp'>Paris</span>, Mai 1920</p>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<h2><span style='font-size:larger'><span class='gesp'>Einleitung</span></span><a id='rA'/><a href='#fA' style='text-decoration:none'><sup><span style='font-size:0.9em'>[A]</span></sup></a></h2>
-
-<p><span class='dropcap'>G</span>egenstand dieses Buches ist nicht der Krieg, obzwar der
-Krieg es überschattet. Sein wirkliches Thema ist das
-Versinken der Einzelseele im Abgrund der Massenseele.
-Und dies ist für mein Empfinden ein für die Zukunft der
-Menschheit viel entscheidenderes Phänomen als die vorübergehende
-Oberherrschaft einer oder der anderen Nation.</p>
-
-<p>Mit Absicht habe ich alle politischen Fragen in den Hintergrund
-gestellt: ihnen steht gesonderte Betrachtung zu. Aber
-wie immer auch man den Ursprung des Krieges begründe,
-mit welchen Thesen und Gründen man ihn erklären möge —
-keine irdische Rechtfertigung entschuldigt das Kapitulieren
-der Vernunft vor der öffentlichen Meinung.</p>
-
-<p>Die allgemeine Entwicklung zur Demokratie, die von einem
-abgestorbenen Begriff, dem ungeheuerlichen der Staatsräson,
-gedeckt ist, hat die Geistigen Europas verleitet, sich zu
-dem Glaubensartikel zu bekennen, es gäbe für den Menschen
-kein höheres Ideal, als Diener der Gemeinschaft zu sein.
-Und diese Gemeinschaft nennt man: Staat.</p>
-
-<p>Ich aber scheue mich nicht zu sagen: wer sich zum blinden Diener
-einer so blinden — oder verblendeten — Gemeinschaft erniedrigt,
-wie es die Staaten von heute sind, in denen eine
-Handvoll Menschen in ihrer Unfähigkeit, die Vielfalt der
-Völker zu begreifen, durch die Lügen der Presse, den unerbittlichen
-Mechanismus des vereinheitlichten Staatswesens
-den Mitmenschen ihre eigenen Narrheiten, Leidenschaftlichkeiten
-und Geschäfte als ihre Gedanken und Taten aufzwingt
-— wer dies tut, der dient nicht in Wahrheit der Gemeinschaft,
-sondern er knechtet und erniedrigt sie mit sich
-selbst. Wer den anderen von Nutzen sein will, muß vorerst
-frei sein. Auch Liebe ist wertlos, solange sie die eines Sklaven
-ist.</p>
-
-<p>Freie Seelen, starke Charaktere — das tut heute der Welt
-am meisten not! Auf den verschiedensten Wegen — leichenhafte
-Unterwerfung durch die Kirchen, dumpfe Unduldsamkeit
-der Vaterländer, abstumpfender Unitarismus im Sozialismus
-— kehren wir zur Form des Herdenlebens zurück. Nur
-langsam hat sich der Mensch dem heißen Lehm der Erde entrungen.
-Nun scheint es, als ob seine tausendjährige Anstrengung
-erschöpft sei, und er läßt sich wieder in das Weiche
-zurücksinken. Die Massenseele schluckt ihn auf, der entnervende
-Atem der Tiefe reißt ihn mit sich... Auf darum!
-Rafft euch zusammen, ihr, die ihr glaubt, daß der Kreislauf
-noch nicht erfüllt sei! Wagt es, euch von der Herde
-abzusondern, die euch fortzieht! Jeder Mensch muß, so er
-ein wahrer Mensch ist, lernen, allein innerhalb aller zu
-stehen, allein für alle zu denken — wenn es nottut,
-sogar auch gegen alle! Aufrichtig denken heißt für alle
-denken, selbst wenn man gegen alle denkt. Die Menschheit
-bedarf derer, die ihr aus Liebe Schach bieten und sich gegen
-sie auflehnen, wenn es not tut! Nicht indem ihr der Menschheit
-zuliebe euer Gewissen und eure Gedanken fälscht, dient
-ihr der Menschheit, sondern indem ihr ihre Unantastbarkeit
-gegen gesellschaftlichen Machtmißbrauch verteidigt; denn
-sie sind Organe der Menschheit. Werdet ihr euch untreu,
-so seid ihr untreu gegen sie.</p>
-
-<p class='line' style='text-align:left;margin-left:1em;margin-top:1em;'><span class='gesp'>Sierre</span>, März 1917</p>
-<p class='line' style='text-align:right;margin-right:0em;'>R. R.</p>
-
-<hr class='footnotemark'/>
-
-<div class='footnote'>
-<p class='footnote'>
-<span class='footnote-id' id='fA'><a href='#rA'>[A]</a></span>
-
-Diese Einleitung wurde im Dezember 1917 mit einer Episode des
-Romans in Schweizer Zeitungen veröffentlicht. Eine beigegebene Notiz
-erklärte den ursprünglichen Titel des Romans „<span class='it'>L’Un contre Tous</span>“:</p>
-
-<p>„... Dieser Titel, der sich, nicht ohne Ironie, an jenen La
-Boëties „<span class='it'>Le Contre-Un</span>“ durch Umkehrung anschließt, möge nicht
-zur Ansicht verleiten, der Autor habe die Anmaßung, <span class='gesp'>einen</span> Menschen
-der ganzen Menschheit entgegenzustellen. Er ruft nur zu dem heute
-so notwendigen Kampf des persönlichen Gewissens gegen die Masse
-auf.“</p>
-
-</div>
-
-<hr class='footnotemark'/>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<div><h1>Erster Teil</h1></div>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>A</span>génor Clerambault saß im Schatten der Laube seines
-Gartens von Saint-Prix und las seiner Frau und den
-Kindern seine neue Ode vor, die Ode <span class='it'>Ara Pacis Augustae</span>,
-die er zu Ehren des Friedens über den Menschen und Dingen
-geschrieben hatte und in der er die nahe Erfüllung der
-Weltbrüderlichkeit verkünden wollte.</p>
-
-<p>Es war ein Juliabend. Auf den Gipfeln der Bäume lag
-letzter rötlicher Schein, und durch den leuchtenden Dunst,
-der wie ein Schleier über die Hügelhänge, die grauen Ebenen
-und die Ferne geworfen war, flammten die Fensterscheiben
-von Montmartre als goldene Funken. Die Abendmahlzeit
-war eben zu Ende. Clerambault, auf den noch
-nicht abgeräumten Tisch gestützt, ließ im Sprechen seinen
-Blick voll naiver Freude von einem zum anderen seiner drei
-Zuhörer hinwandern, denn er war sicher, bei ihnen einen
-Widerglanz seiner Zufriedenheit zu finden.</p>
-
-<p>Seine Frau Pauline hatte einige Mühe, dem Flug seiner
-dichterischen Bilder zu folgen: Vorlesen ließ sie immer unaufhaltsam
-vom dritten Satze an in einen Zustand von
-träumerischer Schläfrigkeit versinken, in dem die häuslichen
-Sorgen einen ganz ungebührlichen Platz einnahmen. Gewissermaßen
-lockte die Stimme des Vorlesenden die Häuslichkeiten
-hervor, sich zu regen, wie Kanarienvögel im Käfig.
-Vergeblich mühte sie sich, auf den Lippen Clerambaults den
-Worten zu folgen, deren Sinn sie nicht mehr wahrnahm,
-und sie sogar mit den eigenen Lippen nachzusprechen. Es
-half nichts: ihre Augen bemerkten doch unbewußt ein Loch
-im Tischtuch, ihre Hände krümelten die Brotreste auf dem
-Tisch zusammen, ihr Nachdenken beschäftigte sich mit irgendeiner
-widerspenstigen Rechnung, bis dann plötzlich der Blick
-Clerambaults sie zu ertappen schien. Dann klammerte sie
-sich hastig an die letzte, gerade gehörte Silbe und redete sich
-in eine Begeisterung hinein, indem sie irgendein Stück Vers
-nachstammelte (niemals hatte sie auch nur einen Vers ganz
-richtig zitieren können):</p>
-
-<p>„Wie hast du das gesagt, Agénor? Geh, wiederhole noch
-einmal diesen Satz... Ach, wie das hübsch ist.“</p>
-
-<p>Ihre Tochter, die kleine Rosine, schob die Augenbrauen zusammen,
-Maxime, der große Bursche, zog eine spöttische
-Grimasse und sagte gereizt:</p>
-
-<p>„Mama, unterbrich doch nicht immer.“</p>
-
-<p>Aber Clerambault lächelte und tätschelte zärtlich die Hand
-seiner guten Frau. Er hatte sie aus Liebe geheiratet, als
-er sehr jung, arm und unbekannt war, sie hatten gemeinsam
-all die bitteren ersten Jahre durchgelebt. Sie stand
-nicht ganz auf seinem geistigen Niveau, und dieser Unterschied
-milderte sich mit den Jahren durchaus nicht, aber
-Clerambault liebte und respektierte seine alte Gefährtin.
-Sie gab sich mit wenig Erfolg viele Mühe, mit ihrem
-großen Mann, der ihr Stolz war, gleichen Schritt zu halten;
-er wiederum hatte für sie eine besondere Nachsicht. Der
-kritische Geist war nicht seine Stärke, und er befand sich gerade
-dadurch, trotz zahlreicher Irrtümer in seinen Ansichten,
-im Leben sehr wohl; denn da er sich immer zugunsten der
-andern irrte, die er im schönsten Licht sah, wußten ihm seine
-Mitmenschen, allerdings mit einiger Ironie, reichen Dank
-dafür. Er störte sie nicht in ihrer wilden Jagd nach Erfolg,
-und seine provinzlerische Reinheit war für die Blasierten
-ein so erfrischendes Schauspiel wie der Anblick eines Stückes
-Grün inmitten eines Pariser Häusergeviertes.</p>
-
-<p>Maxime machte sich ein wenig über diese Schwäche seines
-Vaters lustig, ohne deshalb seinen Wert zu verkennen. Dieser
-hübsche Bursche von neunzehn Jahren hatte mit seinen
-hellen und lachenden Augen im Pariser Milieu rasch die Fähigkeit
-der geschwinden, klaren und spöttischen Beobachtung angenommen,
-die sich mehr auf die äußeren Nuancen der
-Dinge und Menschen richtet, als auf die Ideen: ihm entging
-nirgendwo das Komische, selbst nicht bei jenen, die er
-liebte. Aber das geschah ganz ohne Böswilligkeit, und
-Clerambault war der erste, seiner jungen Frechheit zuzulächeln.
-In Wirklichkeit verminderte sie in nichts die Verehrung
-Maximes für seinen Vater, sie war nur gewissermaßen
-ihre Würze: die jungen Burschen müssen ja auch,
-um den lieben Gott gern haben zu können, ihn manchmal
-am Bart ziehen dürfen!</p>
-
-<p>Rosine blieb still, wie es ihre Art war, und es wäre schwer
-gewesen, ihre Gedanken zu erraten. Sie hörte mit vorgeneigtem
-Körper, gekreuzten Händen und aufgestützten Armen
-zu. Es gibt Naturen, die zum Empfangen geschaffen
-scheinen wie die schweigende Erde, die sich jedem Korn eröffnet:
-viele, die sich darin versenken, bleiben schlafend, und
-man vermag nicht zu unterscheiden, welche Frucht tragen
-werden. So war die Seele dieses jungen Mädchens. Die
-Worte des Vorlesenden spiegelten sich nicht so sichtlich in ihr,
-wie in den klugen und beweglichen Gesichtszügen Maximes,
-aber ein leichtes Rot auf ihren Wangen und der feuchte
-Glanz der von den Wimpern überschatteten Augen bezeugten
-eine innere Glut und Verwirrung wie auf jenen Bildern
-der florentinischen Jungfrauen, die das magische Ave des
-Erzengels erweckt.</p>
-
-<p>Clerambault verkannte sie nicht. Wenn sein Blick den kleinen
-Kreis der Seinen umwanderte, blieb er mit besonderer
-Freude auf dem blonden geneigten Haupte ruhen, das dieser
-zärtlichen Betrachtung wohl bewußt war.</p>
-
-<p>So bildeten die vier an diesem Juliabend einen reinen
-Ring von Zärtlichkeit und Glück, dessen Mittelpunkt der
-Vater war, das Idol der Familie.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>r wußte, wer er war, und seltsamerweise machte dieses Wissen
-um sich ihn nicht antipathisch. Er hatte so viel Freude
-daran, zu lieben, hatte so viel Zärtlichkeit für alle in Nähe
-und Ferne ständig bereit, daß er es nur natürlich fand,
-wenn man ihm diese Liebe zurückgab. Eigentlich war er ein
-großes Kind. Seit kurzem zur Berühmtheit gelangt, nach
-einem Leben von keineswegs goldener Mittelmäßigkeit, hatte
-er an jener vergangenen Zeit zwar nicht gelitten, aber die
-neue, die hellere, tat ihm wohl, und er genoß sie. Daß er
-das fünfzigste Jahr überschritten hatte, sah man ihm kaum
-an. Zwar glänzten schon einige weiße Haare in seinem
-dicken, blonden, gallischen Schnurrbart, aber sein Herz war
-jung geblieben mit seinen Kindern. Statt mit dem Strom
-seiner Generation zu gehen, gab er sich jeder neuen Welle
-hin, das Schönste des Lebens schien ihm im leidenschaftlichen
-Schwung seiner Erneuerung mit jeder neuen Jugend
-zu bestehen, und er kümmerte sich nicht um die Gegensätze,
-mit denen immer die neue Jugend sich gegen die frühere
-stellt, denn diese Gegensätze lösten sich ganz auf in seinem
-mehr enthusiastischen als logischen Gefühl, das überall
-Schönheit sah und immer von ihr trunken war. Dazu kam
-noch ein besonderes Bestreben nach Güte, das zwar nicht
-recht mit seinem ästhetischen Pantheismus zusammenstimmte,
-aber das seinem eigensten tiefsten Wesen entsprang.</p>
-
-<p>Er hatte sich zum Wortführer aller edlen und menschlichen
-Ideen gemacht, sympathisierte mit den radikalsten Parteien,
-den Arbeitern, den Unterdrückten, dem Volke — das er
-übrigens nicht kannte, denn er war ein reiner Bourgeois,
-voll von humanen und verschwommenen Ideen. Noch mehr
-als das Volk vergötterte er die Menge, er liebte sich in ihr
-zu baden, er genoß es als höchstes Glück, sich in der Gesamtseele
-aufzulösen (wenigstens glaubte er es von sich). Diese
-letzte Neigung war nun allerdings eine ziemlich verbreitete
-unter den Intellektuellen von damals, die Mode unterstrich
-hier, wie gewöhnlich, nur einen besonders ausgeprägten
-Zug des Zeitgefühls. Die Menschheit entwickelte sich
-in dieser Epoche immer bewußter dem Ideal eines Ameisenhaufens
-entgegen, und selbstverständlich drückten die empfindsamsten
-Wesen, die Künstler und die Intellektuellen,
-als erste die Symptome dieser Entwicklung aus. In ihrer
-Neigung erblickte man zunächst ein bloßes Spiel und verkannte
-den Gesamtzustand, für den diese Symptome nur
-das Merkzeichen waren.</p>
-
-<p>Die demokratische Entwicklung der Welt seit vierzig Jahren
-hatte viel weniger in der Politik die Herrschaft des Volkes
-verwirklicht, als in der Gesellschaft den Triumph der Mittelmäßigkeit.
-Gegen diese Nivellierung des Geistigen hatte
-im ersten Augenblick die Elite der Künstler ganz richtig
-reagiert. Aber zu schwach, um gegen sie anzukämpfen, hatte
-sie sich mit bewußter Übersteigerung ihrer Verachtung und
-ihrer Isolierung in das Abseits zurückgezogen: sie predigte
-eine seltene, eine artistische Kunst, die unzugänglich blieb für
-die Masse und nur aufgetan für Eingeweihte. Nun gibt es
-nichts Fruchtbareres als die Flucht in die Einsamkeit, wenn
-man in sie ein vollwirkendes Gewissen, einen Überfluß des
-Gefühls, eine strömende Seele mit bringt. Aber welch ein
-Abstand zwischen diesen literarischen Cenaclen des neunzehnten
-Jahrhunderts und jenen fruchtbaren Eremitagen,
-in die sich die mächtigen Gedanken einstens flüchteten!
-Diese neuen Abseitigen waren mehr damit beschäftigt, ihr
-geistiges Kleingeld aufzuzehren statt es zu erneuern; um
-es rein zu erhalten, hatten sie die Münze aus dem allgemeinen
-Umlauf gezogen, was zur Folge hatte, daß sie bald
-jeden Wert verlor. Das Leben der Gesamtheit ging an
-ihnen vorbei, ohne sich um sie zu kümmern, die Kaste dieser
-Künstler wurde siech und bleichsüchtig bei ihren raffinierten
-Spielen. Gewaltige Windstöße zur Zeit der Dreyfus-Krise
-entrissen einige Stärkere unter ihnen der Erstarrung, und
-kaum daß sie aus ihrem Orchideengarten ins Freie traten,
-berauschte sie der Wind der Welt. Mit ebensolcher Übertreibung,
-wie ihre Vorgänger sie an die Abseitigkeit von
-der Menge wandten, stürzten sie sich in die große vorüberströmende
-Flut. Sie glaubten, daß das Volk das Heil sei,
-das Gute, das Wahre, das Schöne, und trotz aller Enttäuschungen,
-die sie bei ihren vergeblichen Versuchen der
-Annäherung erlebten, inaugurierten sie eine neue Strömung
-in der europäischen Kunst und im europäischen Geistesleben.
-Sie setzten ihren Stolz darein, sich Interpreten der
-Massenseele zu nennen, in Wirklichkeit aber waren es nicht
-sie, die eroberten, sondern die erobert wurden. Die Massenseele
-hatte Bresche geschossen in den Elfenbeinturm, und die
-matten Persönlichkeiten der Denker kapitulierten; um vor
-sich selbst ihre Abdankung zu verbergen, nannten sie sie eine
-freiwillige Hingabe. In ihrem Bedürfnis, sich selbst zu überzeugen,
-fabrizierten ihre Philosophen und Ästheten eigene
-Theorien, die als Gesetz beweisen sollten, daß man sich dem
-allgewaltigen Leben hingeben sollte, statt es zu lenken oder
-auch nur bescheiden seinen eigenen braven Weg gelassen hinzugehen.
-Man trieb einen Kult damit, nicht mehr sein
-eigenes Ich zu sein, keine eigene Vernunft, keinen eigenen
-individuellen Willen mehr zu haben (die Freiheit galt diesen
-Demokratien als alte abgetane Sache), man prahlte damit,
-nur mehr ein Blutkügelchen in den Adern des blind dahinwirkenden
-Stromes zu sein — die einen sagten, des Stromes
-der Rasse, die andern, des Stromes des Instinkts oder des
-universellen Lebens. Und diese ansprechenden Theorien,
-aus denen die Geschickteren in der Kunst und Philosophie ihr
-Teil zu ziehen wußten, standen 1914 in schönster Blüte.</p>
-
-<p>Sie hatten auch ganz das Herz des naiven Clerambault gewonnen.
-Nichts paßte besser zu seinem zärtlichen Herzen
-und zu seiner geistigen Unsicherheit, denn für den, der sich
-nicht selbst besitzt, ist es leicht, sich hinzugeben; den andern, dem
-All, der Vorsehung, dieser unbekannten und undefinierbaren
-Macht, lädt man die ganze Last auf, für einen zu denken
-und für einen zu wollen. Der große Strom zog vorbei,
-und die trägen Seelen, statt ihren Weg selbst am Ufer hinzuziehen,
-fanden es viel einfacher und viel berauschender,
-sich einfach von ihm tragen zu lassen... Wohin?... Darüber
-nachzudenken, mühte sich keiner ab. Schön im Warmen
-in ihrem Okzident, kamen sie niemals auf die Idee, daß die
-Zivilisation einmal alle ihre Errungenschaften auch verlieren
-könne. Der Gang des Fortschritts schien ihnen ebenso selbstverständlich
-wie die Umdrehung der Erde, denn diese Überzeugung
-erlaubte ihnen ja, ruhig zuzusehen und mit gekreuzten
-Armen alles geschehen zu lassen. Man gab sich dem
-Schicksal einfach hin, das unterdessen den Abgrund höhlte
-und sie unten erwartete.</p>
-
-<p>Aber als guter Idealist sah Clerambault selten auf seine
-Füße. Das hinderte ihn zwar nicht, sich blindlings in die
-Politik zu mengen, wie es ja die Leidenschaft der Literaten
-zu jener Zeit war. Er gab gern seinen Senf dazu, wenn ihn
-Journalisten, die gerade ein paar Spalten brauchten, darum
-angingen, und ging ganz ernsthaft mit aufrichtigem Wichtigkeitsgefühl
-in ihre Netze. Im ganzen ein guter Dichter und
-guter Mensch, gescheit und zugleich ein wenig beschränkt,
-ein reines Herz und schwacher Charakter, der Bewunderung
-und dem Tadel sowie allen Einflüsterungen seines Milieus
-zugänglich, zwar unfähig zu irgendeinem häßlichen Gefühl
-des Neides und des Hasses, unfähig aber auch,
-es bei andern zu vermuten, kurzsichtig für das Böse, weitsichtig
-für das Gute im Chaos der menschlichen Gefühle,
-war er so recht der Typus eines Schriftstellers, der geschaffen
-ist, den Lesern zu gefallen, weil er ihre Fehler
-übersieht und ihre kleinen Tugenden verschönt. Denn selbst
-diejenigen, die nicht darauf hineinfallen, sind solchen Schriftstellern
-dankbar, denn man will das scheinen, was man nicht
-ist, und liebt die Welt von Augen gesehen, in denen das
-Mittelmäßige des Lebens schön wird.</p>
-
-<p>Diese allgemeine Sympathie, die Clerambault beglückte,
-war nicht minder schön für die drei Menschen zu genießen,
-die in diesem Augenblick bei ihm weilten. Sie waren stolz
-auf ihn, als wäre er ihr Werk, denn was man bewundert,
-ist immer ein wenig so, als hätte man es selbst getan. Und
-wenn man dazu noch einem solchen Mann, einem so verehrten
-Wesen zugehört, von seinem eigenen Blute ist, dann
-unterscheidet man nicht mehr genau, inwieweit man von ihm
-stammt oder er von einem. Die beiden Kinder und die Frau
-Agénor Clerambaults betrachteten ihren großen Mann mit
-den zärtlichen und zufriedenen Augen des Besitzers, und er,
-der sie mit seinem glühenden Wort und seinem hohen Wuchs
-mit den ein wenig erhobenen Schultern überragte, ließ es
-ruhig geschehen. Er wußte, daß der Besitz Herr des Besitzers ist.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault endete seine Vorlesung mit einer Schillerschen
-Vision der nahenden brüderlichen Menschheitsfreude.
-Maxime, trotz seiner Ironie von Enthusiasmus hingerissen,
-brach in Beifall zu Ehren des Dichters aus und
-trommelte allein seinen begeisterten Applaus. Pauline erkundigte
-sich geräuschvoll, ob Agénor sich beim Sprechen nicht
-zu sehr erhitzt habe. Rosine, die einzig Schweigsame in der
-allgemeinen Erregung, legte heimlich die Lippen auf die
-Hand des Vaters.</p>
-
-<p>Das Dienstmädchen brachte die Post und die Abendblätter.
-Keiner hatte Eile, sie zu lesen. Im Augenblick, da sie aus
-so strahlender Zukunftswelt traten, schienen ihnen die Nachrichten
-aus dem irdischen Tag nicht sehr eilig; dennoch löste
-Maxime die Schleife von dem großen bürgerlichen Tagesblatt,
-überlas mit einem Blick die vier gedrängten Seiten
-und rief, die letzten Nachrichten überfliegend: „Donnerwetter,
-es gibt Krieg!“</p>
-
-<p>Keiner hörte auf ihn. Clerambault wiegte sich in den letzten
-Schwingungen seiner verflogenen Worte, Rosine war in
-stiller Begeisterung. Nur die Mutter, deren Denken auf
-nichts dauernd achtgeben konnte und wie eine Fliege nach
-allen Richtungen hinflatterte, um auf gut Glück etwas aufzulesen,
-hörte das letzte Wort und sagte erregt:</p>
-
-<p>„Maxime, sag’ doch keine Dummheiten.“</p>
-
-<p>Maxime protestierte und zeigte in der Zeitung die Kriegserklärung
-Österreichs an Serbien.</p>
-
-<p>„An wen?“</p>
-
-<p>„An Serbien.“</p>
-
-<p>„Ach so“, atmete die gute Frau erleichtert auf, als ob sie
-sagen wollte: „Was da droben im Mond vorgeht...“</p>
-
-<p>Aber Maxime gab nicht nach und bewies — <span class='it'>doctus cum
-libro</span> — daß im nächsten Augenblick dieser ferne Brand
-den Funken ins Pulverfaß werfen könnte. Clerambault,
-der langsam aus seinem angenehmen Mattigkeitsgefühl zu
-erwachen begann, erklärte sofort, daß nichts geschehen werde.</p>
-
-<p>„Ein Bluff, so wie man schon Dutzende seit dreißig Jahren
-im Frühjahr und im Sommer gesehen hat... Eisenfresser,
-die mit dem Säbel klirren... Keiner glaubt an den Krieg,
-keiner will ihn... Ein Weltkrieg ist ja unmöglich, das ist
-heute genug bewiesen. Er ist nicht mehr als ein Schreckgespenst,
-und man sollte es endlich aus dem Gehirn der
-freien Demokratien austreiben.“</p>
-
-<p>Und Clerambault verbreitete sich in ausführlichen Worten
-über das Thema...</p>
-
-<p>Die Nacht war still, sanft und vertraulich. In den Feldern
-zirpten die Grillen, ein Glühwürmchen leuchtete im Gras,
-ferne donnerte leise ein Zug. Die Glyzinen dufteten, ein
-Springbrunnen tropfte murmelnd nieder, und vor dem
-mondlosen Himmel drehte sich der Scheinwerfer vom Eiffelturm.</p>
-
-<p>Die beiden Frauen gingen in das Haus zurück. Maxime,
-müde vom langen Sitzen, lief im Garten mit seinem jungen
-Hunde um die Wette, durch die offenen Fenster hörte man,
-wie Rosine am Klavier mit zurückhaltendem Gefühl Schumann
-spielte. Clerambault, allein zurückgeblieben, langhingestreckt
-in seinen Strohsessel, atmete, voll Glück zu leben
-und Mensch zu sein, mit dankbarem Herzen die Güte dieser
-Sommernacht.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>S</span>echs Tage später.</p>
-
-<p>Clerambault hatte den Nachmittag im Walde verbracht.
-Wie der Mönch in der Legende konnte er, am Fuße einer
-Eiche hingelehnt, dem Vogelsang mit offenem Mund lauschend,
-ein Jahrhundert wie einen Tag hinrinnen lassen.
-Erst als es Abend wurde, entschloß er sich heimzukehren.
-Im Eingang trat Maxime, ein wenig blaß und gezwungen
-lächelnd, auf ihn zu und sagte:</p>
-
-<p>„Papa, es geht los.“</p>
-
-<p>Er erzählte ihm die letzten Neuigkeiten: Die russische Mobilisation,
-den Kriegszustand in Deutschland. Clerambault
-sah ihn an, ohne ihn zu verstehen. Seine Gedanken waren
-so weit weg von diesen traurigen Torheiten! Er versuchte,
-die Tatsachen abzustreiten, aber sie waren unwiderleglich.
-Alle setzten sich zu Tisch. Aber Clerambault konnte nichts
-essen.</p>
-
-<p>Er suchte nach Vernunftgründen, um die Folgen dieser beiden
-verbrecherischen Handlungen zu entwerten: das richtige
-Gefühl der öffentlichen Meinung, die guten Absichten der
-Regierungen, die so oft wiederholte Ankündigung der sozialistischen
-Partei, die entschlossenen Worte Jaurès’. Maxime
-ließ ihn ruhig reden, seine Gedanken waren ganz wo anders:
-wie sein junger Hund mit gespitztem Ohr horchte er hinaus
-auf jede Regung der Nacht... Und es war eine so reine,
-eine so zärtliche Nacht. Alle, die diese letzten Abende im
-Juli 1914 und jenen noch schöneren des 1. August erlebt
-haben, bewahren in ihrer Erinnerung den wunderbaren
-Glanz der Natur, die mit ihren zärtlichen Armen und einem
-schönen Lächeln des Mitleids die unselige Menschheit umfing,
-die damals schon bereit war, sich gegenseitig zu zerreißen.</p>
-
-<p>Es war schon fast zehn Uhr. Clerambault hatte aufgehört
-zu sprechen. Sie schwiegen alle mit schwerem Herzen, irgendwie
-beschäftigt oder bemüht es zu scheinen, die Frauen mit
-einer Handarbeit, Clerambault mit einem Buche, das er aber
-nur mit den Augen überflog. Maxime war auf die Terasse
-getreten und rauchte. An die Rampe gelehnt, sah er auf
-den schlafenden Garten und die magische Welle von Mondlicht
-im Dunkel der Alleen.</p>
-
-<p>Das Läuten des Telephons ließ sie alle aufschrecken. Man
-verlangte Clerambault. Er ging mit schweren Schritten,
-bedrückt und zerstreut, zum Apparat. Anfangs verstand
-er nicht.</p>
-
-<p>„Wer spricht?... Ach, Sie sind’s, lieber Freund?...“ (Ein
-Pariser Kollege telephonierte ihm aus der Redaktion seines
-Blattes.)</p>
-
-<p>Clerambault verstand noch immer nicht:</p>
-
-<p>„Ich verstehe nicht... Jaurès?... wirklich Jaurès?...
-O mein Gott...!“</p>
-
-<p>Maxime, der, von einer geheimen Ahnung getrieben, von
-fern dem Gespräche zuhörte, stürzte an den Apparat, um
-das Hörrohr aus der Hand des Vaters zu nehmen, das
-Clerambault mit einer verzweifelten Geste hatte sinken lassen.</p>
-
-<p>„Hallo! Hallo!... Was sagen Sie? Jaurès ermordet...!“</p>
-
-<p>Ausrufe der Trauer und des Zornes antworteten sich durch
-den Draht. Maxime ließ sich die Details sagen, die er mit
-geknickter Stimme den Seinen wiederholte. Rosine hatte
-Clerambault an den Tisch zurückgeführt. Wie zerbrochen
-setzte er sich hin. Der Schatten eines ungeheuren Unglücks
-lastete wie das antike Schicksal über dem Hause. Es war
-nicht nur der Freund, dessen Hingang das Herz bedrängte —
-sein gutes, heiteres Antlitz, seine herzliche Hand, die Stimme,
-die alles Trübe hinwegfegte... es war Trauer auch um
-die letzte Hoffnung der bedrohten Völker, um den einzigen
-Mann, der (sie glaubten es wenigstens mit kindlichem und
-rührendem Vertrauen) den drohenden Sturm hätte beschwichtigen
-können. Nun, da er gefallen war, stürzte, gleichsam
-als ob Atlas der Träger hingesunken wäre, der Himmel
-ein.</p>
-
-<p>Maxime lief an den Bahnhof. Er wollte Neuigkeiten von
-Paris holen und versprach, noch in der Nacht zurück zu sein.
-Clerambault blieb im einsamen Haus zurück, aus dem man
-von fern die große Lichtausstrahlung der Stadt sehen konnte.
-Er hatte sich nicht von dem Sessel gerührt, in den er in einem
-Zustand von Starre gesunken war. Die Katastrophe war
-unterwegs, jetzt gab es keinen Zweifel mehr, sie war schon
-da. Seine Frau versuchte ihn zu veranlassen, schlafen zu
-gehen, er wollte nichts davon hören. Seine Lebensidee war
-in Trümmer, nichts Festes, nichts Sicheres konnte er mehr
-unterscheiden, keine Ordnung machen, keinem Gedanken folgen.
-Sein inneres Haus war eingestürzt, und inmitten des
-Staubes, der sich aus dem Schutt erhob, vermochte er nicht
-zu erkennen, was noch aufrechtgeblieben, und es schien ihm:
-nichts! Ungeheuerliche Massen von Leiden — das war alles.
-Und Clerambault betrachtete sie mit stumpfem Blick, ohne
-die Tränen zu fühlen, die über seine Wangen herabrollten.</p>
-
-<p>Maxime kam nicht zurück. Die Aufregung von Paris hatte
-ihn gepackt. Um ein Uhr nachts kam Frau Clerambault, die
-sich schon schlafen gelegt hatte, ihren Mann holen, und es
-gelang ihr, ihn in ihr gemeinsames Schlafzimmer zu führen.
-Er legte sich sofort zu Bett. Aber kaum, daß Pauline eingeschlafen
-war (die Unruhe hatte sie müde gemacht), stand
-er wieder vom Bette auf und kehrte in das Nachbarzimmer
-zurück. Er stöhnte, er seufzte, seine Qual war so drückend
-und dicht, daß sie ihm keinen Raum zum Atmen ließ. Mit
-dem prophetisch überreizten Gefühl des Künstlers, der oft
-deutlicher das Kommende als das Gegenwärtige sieht, umfing
-er alles, was geschehen würde, mit erschreckten Blicken
-und gekreuzigtem Herzen. Dieser unvermeidliche Krieg zwischen
-den größten Völkern der Welt schien ihm der Bankbruch
-der Zivilisation, Vernichtung seiner heiligsten Hoffnung
-auf die menschliche Brüderlichkeit. Mit Entsetzen erfüllte
-ihn die Vision dieser tollen Menschlichkeit, die ihre kostbarsten
-Schätze, ihre Kräfte, ihr Genie, ihre höchsten Werte
-dem bestialischen Götzen des Krieges hinopferte. Ein moralisches
-Sterben war es für ihn, eine schmerzhafte Gemeinschaft
-mit den Millionen Unglücklicher. Wozu also, wozu
-die Mühe von Jahrhunderten! Die Leere erdrückte ihm das
-Herz. Er fühlte, daß er nicht mehr leben könne, wenn sein
-Glauben an die menschliche Vernunft und die gegenseitige
-Liebe zerstört würde, wenn er zugeben müßte, daß sein Credo
-des Lebens und der Kunst, daß all sein Hoffen ein Irrtum
-und die wahre Lösung des Welträtsels ein dumpfer Pessimismus
-sei, und er fühlte sich zu schwach, zu feige, dieser
-Wahrheit in das Gesicht zu sehen. Voller Grauen wendete
-er die Augen ab. Aber das Ungetüm war da und fauchte
-ihm ins Gesicht. Und Clerambault betete — er wußte nicht
-zu wem, und nicht, um was — daß es nicht geschehen möge,
-daß es nicht wahr sei. Alles lieber als eine solche Wahrheit!
-Doch die mörderische Wirklichkeit stand hinter der Tür, die
-sich auftat. Clerambault kämpfte die ganze Nacht, um ihr
-den Eingang zu sperren...</p>
-
-<p>Am Morgen aber begann allmählich irgendein Urinstinkt
-in ihm zu keimen, der aus einer unbekannten Tiefe kam
-und die Verzweiflung abzulenken suchte in das dumpfe
-Verlangen, eine genaue und sichere Ursache für dieses Unglück
-zu finden, sie in irgendeinem Menschen oder einer Gruppe
-von Menschen festzustellen und dann auf diese den ganzen
-Zorn über das Unglück der Menschheit zu entladen...
-Nur ein kurzes Aufflammen war es, aber dennoch schon erste
-ferne Ausstrahlung einer fremden, dunkeln, gewalttätigen
-und finsteren Seele, die in ihn eindringen wollte — der
-Massenseele...</p>
-
-<p>Sie nahm deutlichere Formen mit der Ankunft Maximes
-an, der von ihrem Dunst durchdrungen war, den er in der
-Nacht in den Straßen von Paris eingesogen. Alle Falten
-seiner Kleider, jedes Haar seines Körpers war davon durchdrungen.
-Überreizt, exaltiert, wollte er sich nicht niedersetzen,
-er dachte nur daran schon abzureisen. Heute würde ja das
-Mobilisationsdekret erscheinen. Der Krieg war sicher, er war
-notwendig. Er war eine Wohltat. Man mußte einmal
-Schluß machen. Die Zukunft der Menschheit stand auf dem
-Spiel, die Freiheit der ganzen Welt war bedroht. Sie hatten
-die Ermordung Jaurès ausgedacht, um das überfallene
-Vaterland uneinig zu machen und zu revolutionieren, aber
-die ganze Nation stand wie ein Mann hinter den Führern.
-Die herrlichen Tage der großen Revolution würden sich erneuern...
-Clerambault widersprach keiner Behauptung,
-kaum, daß er sagte:</p>
-
-<p>„Meinst du? Bist du wirklich sicher?“</p>
-
-<p>Aber es war gleichsam eine geheime Bitte, Maxime möchte
-ja sagen und noch mehr sagen. Die neuen Nachrichten vermehrten
-das Chaos noch und trieben es zum Äußersten.
-Aber gleichzeitig begannen sich die verstörten Geisteskräfte
-auf einen bestimmten Punkt hin zu ordnen. Es war wie
-das erste Bellen des Hundes, auf das hin sich die Herde
-zusammenrottet.</p>
-
-<p>Clerambault hatte nur mehr ein Verlangen: sich der Herde
-anzuschließen, sich zu reiben an den Menschenwesen,
-seinen Brüdern, so wie sie zu fühlen, so wie sie zu handeln.
-Obwohl er vom vorigen Abend noch erschöpft war, ging er
-trotz des Protestes seiner Frau mit Maxime fort, um den
-Zug nach Paris zu nehmen. Sie mußten lange am Bahnhof,
-lange im Zuge warten. Die Geleise waren verstellt und
-die Waggons überfüllt. In der allgemeinen Erregung fanden
-die Clerambaults eine gewisse Entlastung. Er fragte, er
-hörte zu: Alle verbrüderten sich, und alle, ohne zu wissen,
-was sie dachten, wußten, daß sie dasselbe dachten: daß dasselbe
-Rätsel, dieselbe Qual sie bedrohte. Aber man war
-nicht mehr allein, um ihrer Herr zu werden oder ihr zu
-unterliegen, und das beruhigte, das erleichterte ein wenig.
-Sie fühlten alle die gegenseitige Wärme. Es gab keinen
-Unterschied der Klassen mehr, keine Bürger und Arbeiter,
-man sah nicht auf die Kleider und Hände, man sah sich
-nur in die Augen, wo dieselbe Flamme des Lebens leuchtete,
-wo derselbe Schauer des Todes schattete. Und alle
-diese armen Leute waren so sichtlich den Ursachen der
-Katastrophe fremd, daß das Gefühl ihrer Unschuld sie
-ganz einfältig zwang, den Schuldigen anderswo zu suchen.
-Auch das war eine Wohltat, eine Erleichterung für ihr Gewissen.</p>
-
-<p>Als Clerambault in Paris ankam, atmete er leichter; statt
-der Todesqual der vergangenen Nacht fühlte er eine stoische
-und männliche Melancholie.</p>
-
-<p>Aber er stand erst vor der ersten Stufe.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>as Dekret der allgemeinen Einrückung war soeben an
-die Türen der Gemeindehäuser angeschlagen worden.
-Schweigend lasen es die Leute, lasen es noch einmal und gingen,
-ohne ein Wort zu sagen, weiter. Nach der angstvollen Erwartung
-der vorhergehenden Tage, in denen sich die Menge
-um die Zeitungskioske drängte, die Leute auf den Steinen saßen,
-um die Stunde der Zeitungsausgabe zu erwarten, um
-sich, wenn die Blätter endlich ankamen, auf sie zu stürzen, war
-dies endlich Gewißheit, und sie bedeutete eine Entspannung.
-Das ungewisse Unheil, das man kommen fühlt, ohne zu
-wissen, wann und woher, regt auf. Aber sobald es einmal
-da ist, atmet man freier, sieht ihm ins Antlitz und streift
-sich die Hemdärmel auf zum Kampf. Es gab einige Stunden
-mächtiger Sammlung, Paris hatte wieder seinen Atem
-und rüstete seine Fäuste. Und dann: alles, was die einzelnen
-Seelen zum Ersticken schwellte, stieß jetzt ins Freie. Die
-Häuser leerten sich, und in den Straßen flutete ein Menschenstrom,
-dessen Tropfen sich suchten, um sich zu vereinigen.</p>
-
-<p>Clerambault stürzte mitten hinein und wurde aufgetrunken
-mit einem einzigen Schluck, kaum daß er aus dem Bahnhof
-getreten war und den Fuß auf das Pflaster gesetzt hatte,
-ohne daß irgendein Wort fiel, ohne Geste, ohne Zufall. Die
-ernste Begeisterung des Stromes rauschte auch in ihm.
-Noch war dies große Volk frei von Gewalttätigkeit. Es
-wußte sich (oder glaubte sich) unschuldig, seine Millionen
-Herzen glühten in dieser ersten Stunde, wo der Krieg noch
-jungfräulich war, von Ernst und heiligem Enthusiasmus. In
-diese ruhige und stolze Trunkenheit mengte sich das Gefühl
-des erlittenen Unrechts, der berechtigte Stolz auf die eigene
-Kraft, auf die Opfer, zu denen es bereit war, mengte sich
-das Mitleid mit sich selbst, das Mitleid mit den anderen,
-die ein Stück seiner selbst geworden waren. Brüder, Kinder,
-Geliebte, alle waren sie aneinander, Leib an Leib, gepreßt,
-zusammengepreßt durch die übermenschliche Umklammerung,
-und sie fühlten das Bewußtsein des Riesenkörpers, der ihre
-Einheit bildete, und die Erscheinung des Phantoms über
-ihren Häuptern, das der Sinn dieser Einheit war — das
-Vaterland. Halb Tier, halb Gott, wie die ägyptische Sphinx
-oder der assyrische Stier — aber in jenem Augenblicke sah
-jeder nur seine leuchtenden Augen, seine Pranken waren
-verborgen. Es war das göttliche Untier, in dem jeder Lebendige
-sich vervielfältigt fand, die mörderische Unsterblichkeit,
-denn die, die sterben sollten, glaubten, daß sie in ihr
-weiter leben würden, ein anderes, gesteigertes, von Ruhm
-umwölktes Leben. Seine unsichtbare Gegenwart strömte in
-der Luft wie Wein, und jeder brachte in die Kufe der großen
-Weinlese seinen Korb, seine Frucht, seine Rebe, seine Ideen,
-seine Leidenschaften, seine Hingabe, seinen Vorteil. Es gab
-wohl viel widerliches Gewürm in den Trauben, viel Schmutz
-unter den Winzerschuhen, die sie traten, aber der Wein
-glühte wie Rubin und ließ das Herz erglühen. Clerambault
-trank davon bis zum Übermaß.</p>
-
-<p>In Wirklichkeit wurde er davon nicht verwandelt, seine Seele
-nicht verändert. Sie vergaß sich nur. Kaum, daß er mit
-sich allein war, fand er sie wieder zurück, stöhnend unter
-ihrer Qual wie von einer Wunde. Darum ließ ihn auch
-sein Instinkt das Alleinsein fliehen. Er versteifte sich darauf,
-nicht nach Saint-Prix zurückzukehren, wo die Familie sonst
-gewöhnlich die Sommermonate verbrachte, sondern schlug
-seine Wohnung wieder in Paris auf, im fünften Stock der
-Rue d’Assas. Er wollte nicht einmal eine Woche warten,
-nicht einmal zurückkehren und bei der Übersiedlung helfen,
-so sehr brauchte er diese tierische Wärme, die von Paris aufstieg
-und die bis in seine Fenster hinein drang. Jede Gelegenheit
-war ihm willkommen, um sich in den warmen
-Strom hineinzustürzen, auf die Straße hinabzusteigen, sich
-den Gruppen anzuschließen, den Manifestationen zu folgen
-und sich auf gut Glück alle Zeitungen zu kaufen, die er sonst
-in gewöhnlichen Zeiten verachtet hatte. Wenn er dann zurückkam,
-spürte er sich immer mehr entpersönlicht, mehr unempfindlich
-geworden für alles, was in seiner wahren Tiefe
-vorging, entwöhnt seinem eigenen Gewissen, fremd seinem
-inneren Haus — seinem Ich. Und deshalb fühlte er
-sich auf der Gasse wohler als daheim.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>F</span>rau Clerambault war mit ihrer Tochter nach Paris zurückgekehrt.
-Gleich am ersten Abend nach ihrer Ankunft
-nahm Clerambault Rosine auf die Boulevards mit.</p>
-
-<p>Die feierliche Glut der ersten Tage war vorbei. Der Krieg
-hatte begonnen, die Wahrheit war geknebelt, und die große
-Lügnerin, die Presse, schüttete auf die Nationen, die mit offenem
-Maul zu ihr aufstarrten, mit vollem Schwung den
-Alkohol kurzlebiger Siege und vergifteter Berichte. Paris
-war beflaggt wie für einen Festtag. Vom Dach bis zur
-Schwelle standen die Häuser mit den drei Farben geschmückt,
-in den Arbeiterstraßen trug jedes Mansardenfenster ein kleines
-Fähnchen für einen Sou wie eine Blume am Hut.</p>
-
-<p>An der Ecke Faubourg Montmartre begegneten sie einem
-seltsamen Zug. Vorne marschierte ein großgewachsener
-Greis mit weißem Bart, ein Banner in der Hand. Er ging
-mit großen, geschmeidigen und rhythmisch abgehackten
-Schritten, als ob er springen oder tanzen wollte. Seine
-Rockschöße schlugen hin und her im Wind. Hinter ihm marschierte
-eine kompakte, unbestimmbare, brüllende Masse, Arbeiter
-und Bürger, Arm in Arm, ein Mädel wurde hoch
-auf den Schultern getragen, ein roter Dirnenschopf zwischen
-der Mütze eines Chauffeurs und dem Käppi eines Soldaten.
-Alle gingen sie, die Brust herausgestemmt, das Kinn gehoben,
-den Mund weit aufgerissen, schwarze Löcher, aus
-denen die Marseillaise dröhnte. Rechts und links flankierten
-verdächtige Gesichter vom Bürgersteig den Zug,
-bereit, jeden Vorübergehenden zu insultieren, der zerstreut
-die Fahne zu grüßen vergessen hatte. Rosine sah mit Entsetzen,
-wie ihr Vater barhaupt und singend sich dem Zuge
-anschloß; lachend und laut sprechend zog er seine junge Tochter
-am Arme mit sich, ohne den Druck der erschreckten Hand
-zu spüren, die ihn vergebens zurückzuziehen versuchte.</p>
-
-<p>Heimgekehrt, blieb Clerambault gesprächig und aufgeregt.
-Er sprach ganze Stunden hindurch. Die beiden Frauen
-hörten ihm geduldig zu. Frau Clerambault gab wie gewöhnlich
-nicht recht acht und sagte zu allem ja. Rosine hörte
-zu, aber sie sagte kein Wort; nur heimlich warf sie von Zeit
-zu Zeit einen Blick auf ihren Vater, und dieser Blick war
-wie ein tiefer Weiher, der langsam gefriert.</p>
-
-<p>Clerambault begeisterte sich immer mehr. Im tiefsten Grunde
-war er noch gar nicht begeistert, aber er mühte sich mit leidenschaftlicher
-Gewissenhaftigkeit, es zu werden. Es blieb
-ihm aber immer noch genug Hellsichtigkeit übrig, um manchmal
-über die Fortschritte seiner Begeisterung zu erschrecken.
-Der Künstler ist durch seine Sensibilität mehr als ein anderer
-allen von außen kommenden Erregungen preisgegeben, aber
-er hat auch, um ihnen zu widerstehen, Gegenkräfte, die jenen
-anderen fehlen. Selbst der Unbesonnenste unter ihnen, selbst
-jener, der sich seinem lyrischen Aufschwung ganz hingibt, besitzt
-mehr oder minder eine Fähigkeit der Einsicht, von der
-Gebrauch zu machen ihm selbst anheimgegeben bleibt. Verzichtet
-er darauf, so ist es Mangel an Willen und nicht an Kraft:
-dann hat er Angst, sich von zu nahe zu sehen, ein Bild zu
-finden, das ihm vielleicht nicht schmeichelhaft erschiene. Menschen
-aber, die wie Clerambault statt psychologischer Begabung
-nur die Fähigkeit der Aufrichtigkeit haben, waren hinlänglich
-geschützt, um ihre Ekstasen überwachen zu können.</p>
-
-<p>Eines Tages, als er allein spazieren ging, sah er auf der
-anderen Seite der Straße einen Zusammenlauf. Menschen
-drängten sich um eine Kaffeehausterrasse. Vollkommen ruhig
-ging er über die Gasse hinüber; auf dem anderen Trottoir
-kam er in ein wildes Getümmel, das rings um einen unsichtbaren
-Punkt wogte. Er hatte einige Mühe, sich in den
-Wirbel hineinzudrängen. Aber kaum daß er innerhalb dieses
-Mühlrades war, so wurde er selbst ein Teil seiner kreisenden
-Felge; noch vollkommen bewußt, bemerkte er, daß seine
-Vernunft sich mit ihm zu drehen beginne. Inmitten des
-wirbelnden Kreises sah er einen Mann, der sich verteidigte,
-und ehe er noch den Grund des Wutausbruches der Menge
-kannte, fühlte er selbst schon diese Wut. Er wußte nicht, ob
-es sich um einen Spion handelte oder um einen unvorsichtigen
-Schwätzer, der die Volksleidenschaft aufgeregt hatte.
-Aber man schrie rings um ihn her, und er merkte, daß...
-ja, daß er selbst, Clerambault, plötzlich schrie:</p>
-
-<p>„Schlagt ihn nieder!“</p>
-
-<p>Ein Rückstrom der Menge stieß ihn vom Trottoir zurück,
-ein Wagen drängte ihn einen Augenblick von dem Knäuel,
-und als er den Weg wieder frei fand, entfernte sich schon die
-Meute mit ihrem Opfer. Clerambault sah ihnen nach und
-hörte noch den Ton seiner eigenen Stimme. Er kehrte um
-und ging heim. Aber er war nicht sehr stolz auf sich...</p>
-
-<p>Von diesem Tage an ging er seltener aus. Er mißtraute
-sich. In seinem Zimmer aber fuhr er fort, diese Trunkenheit
-bewußt zu nähren. An seinem Arbeitstisch glaubte er sich
-in Sicherheit. Doch er kannte noch nicht die Ansteckungsgefahr
-dieser Seuche; sie gleitet durch die Fenster, durch die
-Türritzen, durch das bedruckte Papier, durch die Luft, durch
-die Gedanken. Die Feinfühlendsten spüren sie schon, bevor
-sie etwas gesehen oder gelesen haben, kaum daß sie die
-Stadt betreten, andere wieder brauchen sie bloß einmal im
-Vorübergehen gestreift zu haben: die Ansteckung wirkt dann
-schon selbsttätig auch in der Isolierung fort. Clerambault,
-obwohl von der Masse entfernt, war doch von ihr angesteckt
-worden, und schon kündigte sich die Krankheit durch ihre
-gewöhnlichen ersten Symptome an. Dieser mitfühlende und
-zärtliche Mensch haßte, haßte aus Liebe. Im geheimen versuchte
-seine nicht sehr originelle, aber glühende und aufrichtige
-Vernunft sich selbst zu betrügen, ihre Haßinstinkte durch
-Gründe zu rechtfertigen, die dazu in gar keiner Beziehung,
-ja sogar im Gegensatz standen. Er mußte sich die Ungerechtigkeit
-und die leidenschaftliche Lüge erst beibringen.
-Er versuchte sich zu überreden, daß er die Tatsache des Krieges
-hinnehmen, ja sogar mitmachen dürfe, ohne darum
-seine Friedensliebe von gestern, seinen Menschenkult
-von vorgestern und seinen ewigen Optimismus zu verleugnen.
-Ganz einfach war dies zwar nicht, aber es gibt ja
-nichts, was die Vernunft nicht irgendwie sich vorzureden
-vermöchte. Fühlt jemand die zwingende Notwendigkeit, für
-einige Zeit moralische Grundsätze, die ihm lästig sind,
-von sich abzutun, so findet die Vernunft, sein getreuer
-Knecht, zu diesen Grundsätzen schon immer die Ausnahmen,
-die die Regel bestätigen und sie doch durchbrechen. So begann
-Clerambault sich eine Weltanschauung, ein absurdes,
-paradoxes Ideal zu fabrizieren, das die Widersprüche irgendwie
-auflöste, indem er sich sagte: „Der Krieg gegen den
-Krieg, der Krieg für den Frieden, für den ewigen Frieden.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>ine große Hilfe war ihm innerlich die Begeisterung seines
-Sohnes. Maxime hatte sich sofort gemeldet. Eine Welle
-heroischer Freude riß seine Generation hin. Zu lange
-hatte sie schon — sie wagte schon gar nicht mehr zu
-hoffen — gewartet auf irgendeine Gelegenheit zur Tat
-und zur Aufopferung.</p>
-
-<p>Die älteren Männer, die sich niemals Mühe gegeben hatten,
-diese Generation zu verstehen, waren von ihrer Haltung begeistert.
-Sie erinnerten sich ihrer eigenen mittelmäßigen
-und verpfuschten Jugend, die nur erfüllt war von kleinlichem
-Ehrgeiz, beschränkten Ambitionen und schalen Genüssen.
-Da sie sich selbst in ihren Kindern nicht erkannten,
-schrieben sie dem Kriege das Aufblühen all dieser Tugenden
-zu, die seit zwanzig Jahren doch schon neben ihrer Gleichgültigkeit
-aufwuchsen und die dieser Krieg nun niedermähen
-sollte. Selbst neben einem so großzügigen Vater wie Clerambault
-war Maxime immer verdunkelt gewesen. Clerambault
-war zu beschäftigt, sein überströmendes und verwirrtes
-Ich zu verbreiten, um die Menschen, die er liebte,
-wirklich gut erkennen und ihnen helfen zu können. Er brachte
-ihnen den heißen Niederschlag seiner Ideen, aber er verstellte
-ihnen das Licht.</p>
-
-<p>Diese jungen Menschen aber, gedrängt von ihrer eigenen
-Kraft, suchten vergebens eine Betätigung und fanden sie
-nicht in der Linie des Ideals selbst ihrer besten Väter und
-Vorgänger. Die Menschlichkeitsträumerei eines Clerambault
-war für sie zu unbestimmbar, zu wenig greifbar, denn
-sie begnügte sich mit angenehmen Hoffnungen ohne Gefahr
-und ohne Kraft, wie sie ja einzig aus der Lässigkeit einer
-Generation entstehen konnte, die im geschwätzigen Frieden
-der Parlamente und Akademien hingealtert war. Die Gefahren
-der Zukunft boten jenen höchstens rednerische Themen,
-aber nie suchten sie ernstlich ihnen entgegenzutreten
-und noch weniger die eigene Haltung im voraus festzulegen
-für den Tag, da das Verhängnis wirklich einbrechen
-sollte. Diese Generation hatte nicht die Kraft, zwischen den
-entgegengesetzten Idealen der Betätigung innerlich zu entscheiden.
-Man war gleichzeitig Patriot und international,
-man baute gleichzeitig in Gedanken den Weltfrieden und
-in Wirklichkeit Überdreadnoughts. Alles wollte diese Generation
-verstehen, mit allem verbunden sein, alles lieben.
-Nun mochte ja dieser verwässerte Whitmanismus ästhetisch
-seinen Wert haben, aber seine praktische Unentschlossenheit
-bot den jungen Leuten am Wegkreuz der Entscheidung keine
-bestimmte Richtung. Sie stapften immer auf derselben
-Stelle herum, erregt von der ungewissen Erwartung und
-der Sinnlosigkeit ihrer hinrinnenden Tage...</p>
-
-<p>Der Krieg machte dieser Unentschlossenheit ein Ende. Sie
-jubelten ihm zu, denn er traf die Entscheidung für sie. Blindlings
-folgten sie ihm nach. In den Tod gehen, gut; aber
-nur überhaupt gehen, denn gehen heißt leben. Die Bataillone
-zogen singend auf den Kriegsschauplatz, bebend vor
-Ungeduld, Blumen auf den Mützen, die Gewehre umwunden
-mit Grün. Die Zurückgestellten boten sich freiwillig an,
-Knaben drängten sich zum Dienst, und ihre eigenen Mütter
-stießen sie dazu. Man hätte glauben können, es sei eine Abreise
-zu den olympischen Spielen.</p>
-
-<p>Auf der anderen Seite des Rheins war die Jugend die
-gleiche. Hier wie dort begleiteten sie ihre Götter: Vaterland,
-Gerechtigkeit, Freiheit, Fortschritt, die paradiesischen
-Träume einer erneuerten Welt, jene ganze Phantasmagorie
-mystischer Ideen, mit denen sich die Leidenschaften junger
-Menschen immer umhüllen. Keiner von ihnen zweifelte
-daran, daß ihre Sache die einzig gerechte sei. Mochten andere
-darüber streiten, sie waren sich selbst lebendiger Beweis;
-denn wer sein Leben hingibt, braucht kein anderes Argument.</p>
-
-<p>Aber auch die alten Männer, die zurückgeblieben waren,
-meinten, ihr Denken ausnützen zu müssen. Freilich nicht,
-um die Wahrheit zu ergründen, sondern um den Sieg zu
-sichern. In den Kriegen von heute, die ganze Völker mitreißen,
-ist auch der Gedanke dienstpflichtig geworden. Er
-tötet ebenso wie die Kanonen, er tötet die Seele, er tötet
-über Land und Meere hin, über Zeit und Jahrhunderte:
-er ist gewissermaßen die schwere Artillerie, die auf weite
-Distanzen hin arbeitet. Selbstverständlich richtete auch Clerambault
-seine Geschütze. Für ihn war es längst nicht mehr
-wichtig, klar zu sehen, weit zu sehen, den ganzen Horizont
-zu umfassen, sondern einzig: den Feind zu treffen. Er war
-vom Wahn befangen, seinem Sohn im Kampfe beistehen
-zu müssen.</p>
-
-<p>Mit einer unbewußten und fieberhaften bösen Absicht, die
-im letzten aus einem zärtlichen Gefühl stammte, suchte Clerambault
-in allem, was er sah, hörte oder las, Argumente,
-um seinen festen Entschluß, an die Heiligkeit der nationalen
-Sache zu glauben, noch stärker und stählerner zu machen. Er
-suchte alles zusammen, was beweisen konnte, daß allein der
-Feind den Krieg gewollt hätte und Feind des Friedens war,
-daß demnach den Feind zu bekriegen gleichbedeutend mit dem
-Wunsch nach Frieden sei. Die Beweise dafür fehlten ihm
-nicht. Sie fehlen ja niemals. Man muß nur die Augen
-immer an rechter Stelle zu öffnen und immer an rechter
-Stelle zu schließen wissen, dann sieht man alles, was man
-sehen will. — Aber dennoch: Clerambault war im letzten
-Grunde nicht ganz befriedigt. Nur fand das geheime Unbehagen
-seines im tiefsten rechtlichen Gewissens an allen diesen
-halben Wahrheiten und Wahrheiten mit Lügenschwänzen
-keinen andern Ausweg als in einer immer leidenschaftlicheren
-Erregung gegen den Feind. Gleichzeitig aber — so
-wie von den beiden Eimern eines Brunnens der eine steigt,
-wenn der andere hinabgeht — wuchs auch sein patriotischer
-Enthusiasmus, der schließlich in einer wohltätigen Trunkenheit
-seine letzten moralischen Bedenken wegschwemmte.</p>
-
-<p>Von nun an war er in beständiger Jagd auf neue Fakten
-in den Zeitungen, die ihm seine neuen Thesen bekräftigen
-könnten. Obwohl er doch eigentlich genau wußte, wie unzuverlässig
-die Wahrhaftigkeit dieser Zeitungen war, so bezweifelte
-er doch nie irgendeine Behauptung, sobald sie seiner
-gierigen und unruhigen Leidenschaft als Argument dienen
-konnte. Dem Feind gegenüber hatte er das Prinzip angenommen:
-„Das Schlechte ist eben das Rechte.“ In gewissem
-Sinne wurde er Deutschland geradezu dankbar,
-wenn es ihm durch Akte der Grausamkeit und wiederholte
-Verstöße gegen das Völkerrecht eine offenkundige Bestätigung
-für die Behauptungen gab, die er auf jeden Fall schon
-im voraus ausgesprochen hatte.</p>
-
-<p>Und Deutschland kam ihm darin wirklich zu Hilfe. Noch
-nie hatte ein Staat im Kriege es eiliger gehabt, die
-Meinung der ganzen Welt gegen sich zu entfesseln. Diese
-blutübervolle Nation, die an ihrer Kraft erstickte, hatte
-sich in einem Delirium von Stolz, Zorn und Furcht auf
-den Gegner gestürzt, die Bestie im Menschen, kaum losgelassen,
-zog gleich mit den ersten Schritten einen Kreis
-methodischen Schreckens um sich. Alle Brutalität des Instinkts
-und des Glaubens war bewußt von jenen aufgestachelt
-worden, die das Volk am Zügel hielten, von seinen
-Führern, seinem Generalstab, den einberufenen Professoren
-und Militärgeistlichen. Krieg war und wird immer
-eins mit dem Verbrechen sein. Aber Deutschland organisierte
-es, so wie alles, es erhob den Totschlag und das
-Niederbrennen zum Kriegsgesetz. Ein zorniger Mystizismus
-aus Bismarck, Nietzsche und der Bibel gemengt, goß sein
-Öl ins Feuer, der Übermensch und Christus wurden mobilisiert,
-um die Welt zu vernichten und zu erneuern. — Die
-Erneuerung begann in Belgien, und in tausend Jahren
-wird man noch davon sprechen. Die entsetzte Welt erlebte
-das höllische Schauspiel, wie die alte, mehr als zweitausendjährige
-Zivilisation Europas unter den brutalen
-und berechneten Schlägen der großen Nation hinbrach,
-die eine ihrer Führerinnen war — Deutschlands, das so
-reich an Intelligenz, Wissenschaft und geistiger Macht gewesen
-und das in fünfzehn Kriegstagen sich dienstfertig erniedrigt
-hatte. Aber was die Organisatoren der deutschen
-Tollheit nicht voraussahen, war, daß sie, so wie Cholera
-von einer Armee zur andern, nun ins andere Lager übergehen
-und, in den Feindesländern einmal heimisch, nicht
-mehr zu entfernen sein würde, ehe nicht ganz Europa davon
-angesteckt und für Jahrhunderte unbewohnbar geworden
-war. Für alle Tollheiten und Gewalttätigkeiten dieses erbitterten
-Krieges gab Deutschland das Beispiel, sein kräftiger,
-besser genährter Körper bot der Epidemie ein weiteres
-Wirkungsfeld, und sie wütete furchtbar; und als das Gift
-sich in Deutschland abzuschwächen begann, war es schon in
-die anderen Nationen in Form eines langsamen und zähen
-Fiebers eingedrungen, das von Woche zu Woche tiefer
-wühlte und bis in die Knochen hineinsickerte.</p>
-
-<p>Den unsinnigen Reden der deutschen Denker antworteten
-unverzüglich die Übertreibungen der Schwätzer in Paris und
-überall. Wie homerische Helden waren sie, mit der einzigen
-Ausnahme, daß sie nicht kämpften, aber sie schrien dafür
-um so mehr. Man beschimpfte nicht nur den Gegner, sondern
-auch seinen Vater, seinen Großvater, den ganzen Ursprung,
-ja man leugnete sogar gegenseitig die vergangene
-Leistung. Der erbärmlichste Akademiker arbeitete wie ein
-Verzweifelter, um den Ruhm großer Menschen, die längst
-im Grabesfrieden schlummerten, zu beschmutzen und zu beschimpfen.</p>
-
-<p>Clerambault hörte, hörte alles und trank es in sich ein...
-Und doch gehörte er zu den wenigen französischen Dichtern,
-die vor dem Kriege europäische Verbindungen gehabt und
-dessen Werke Sympathien in Deutschland gefunden hatten.
-Als rechtes, altes, verwöhntes französisches Kind, das sich
-ja nie die Mühe gibt, die anderen aufzusuchen, allzu gewiß,
-daß man zu ihm kommen würde, sprach er keine andere
-Sprache. Aber wenigstens nahm er die Fremden gut auf,
-wenn sie vom Auslande zu ihm kamen, sein Geist war frei
-von allen nationalen Vorurteilen, und die innere Intuition
-ersetzte genug die Lücken seiner Bildung, daß er hingebungsvoll
-ausländische große Geister bewundern konnte.
-Jetzt freilich, seit man ihn gelehrt hatte, daß man allem
-mißtrauen müsse („Schweig’, sei immer vorsichtig!“), seit
-er hörte, daß Kant nur eine Vorstufe für Krupp gewesen,
-wagte er nicht mehr ohne offizielle staatliche Garantie irgendetwas
-zu bewundern. Die sympathische Bescheidenheit, die
-ihn zur Friedenszeit wie einem Wort des Evangeliums allem
-vertrauen ließ, was gelehrte und geachtete Männer öffentlich
-mitteilten, nahm jetzt in der Kriegszeit die Formen
-einer unbegrenzten Leichtgläubigkeit an. Er verschlang, ohne
-mit den Augenwimpern zu zucken, die erstaunlichen Zeitungsentdeckungen
-der Intellektuellen seines Landes, die jetzt die
-Kunst, die Wissenschaft, den Geist und die Seele des andern
-Landes durch Jahrhunderte zurück durchwühlten und zu
-Boden stampften — die ganze Arbeit rasender Böswilligkeit,
-die dem Feind jede Größe absprach, in seinen erhabensten
-Erscheinungen nur Beweise seiner gegenwärtigen Infamie
-finden wollte, falls es ihm nicht überhaupt diese berühmten
-Männer wegnahm und sie irgendeiner anderen
-Nation zuwies.</p>
-
-<p>Clerambault aber war davon ganz überwältigt, außer sich,
-und (freilich, dies gestand er sich nicht ein) im tiefsten Herzen
-jubelte er.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>U</span>m für seine Begeisterung einen Gefährten zu finden und
-sie mit neuen Argumenten zu nähren, beschloß Clerambault,
-seinen Freund Perrotin aufzusuchen.</p>
-
-<p>Hippolyte Perrotin war eine jener Figuren, wie sie heute
-selten geworden sind und die einen Ruhmestitel der französischen
-Hochschule bildeten, einer jener großen Humanisten,
-deren weitblickendes und scharfes Wissensbedürfnis mit ruhigem
-Schritt den Garten der Jahrhunderte prüfend und
-klassierend, auslesend und pflückend durchwandert. Zu sehr
-beobachtende Natur, als daß ihm irgend etwas der Gegenwart
-entgangen wäre — die ihn eigentlich am wenigsten
-interessierte — wußte er jedem ihrer Geschehnisse seinen
-Rang im Gesamtbild zuzuweisen. Was anderen als das
-Wichtigste galt, war es keineswegs für ihn, und die politischen
-Bewegungen dünkten ihm Blattläuse auf einem
-großen Blatt. Da er aber nicht Gärtner, sondern nur
-wissenschaftlicher Beobachter war, glaubte er sich nicht verpflichtet,
-die Rosenblätter zu reinigen: einzig sie mit allen
-ihren Parasiten zu betrachten, war für ihn Gegenstand einer
-dauernden Entzückung. Er hatte den feinsten Sinn für
-literarische Schönheit und geistige Vollkommenheit, und seine
-Wissenschaft, weit entfernt, ihn dabei zu stören, belebte nur
-diese Neigung dadurch, daß sie seinen Gedanken ein festes
-und begrenztes Feld lebensvoller Vergleiche und Proben
-bot. Er gehörte zu jener französischen Tradition von Gelehrten,
-die gleichzeitig meisterliche Stilisten waren, jener
-Tradition, die von Buffon bis zu Renan und Gaston Paris
-reichte. Mitglied der Akademie und von zwei oder drei anderen
-Gesellschaften, hatte er durch die Weite seiner Kenntnisse
-über die bloßen Literaten und über seine wissenschaftlichen
-Kollegen nicht nur die Überlegenheit eines sichern und
-klassischen Geschmacks, sondern auch eines freieren und dem
-Neuen aufgetanen Geistes. Er dünkte sich nicht wie die
-meisten von ihnen, sobald sie über die Schwelle der heiligen
-Kuppelhalle getreten waren, schon aller Verpflichtung, weiter
-zu lernen, ledig: mitten in seiner gereiften Meisterschaft
-fühlte er sich noch immer als Schüler. Schon zur Zeit als
-Clerambault von den übrigen Unsterblichen gar nicht gekannt
-war, außer von ein oder zwei lyrischen Kollegen, die,
-wenn sie (was selten geschah) von ihm sprachen, es nur mit
-verächtlichem Lächeln taten — schon damals hatte er ihn sich
-entdeckt und in sein Herbarium eingegliedert. Einige Bilder
-hatten ihn stutzig gemacht, die Originalität mancher Wortwendung,
-der primitive und gewissermaßen nur naiv komplizierte
-Mechanismus seiner Phantasie zogen ihn an,
-schließlich interessierte ihn dann der Mann selbst. Clerambault,
-dem er ein glückwünschendes Wort hatte zukommen
-lassen, eilte, überströmend von Erkenntlichkeit, ihm zu danken,
-und zwischen den beiden Männern entspann sich allmählich
-eine Freundschaft.</p>
-
-<p>Sie waren einander durchaus nicht ähnlich, Clerambault
-mit seiner lyrischen Gabe und seiner mittelmäßigen Intelligenz,
-die vom Herzen kam, und Perrotin, der durchdringende
-Geist, der sich niemals von der Leidenschaft der Phantasie
-verwirren ließ, aber beide verband die gemeinsame
-Würdigkeit der Lebensführung, eine intellektuelle Rechtschaffenheit
-sowie die reine Liebe zur Kunst und zur Wissenschaft,
-die ihre Freude aus sich selbst zog und nicht aus dem
-möglichen Erfolge, der ihr entspringen konnte. Freilich hatte
-das Perrotin niemals, wie man sehen konnte, gehindert,
-Karriere zu machen. Die Ehrenstellen waren gleichsam auf
-ihn zugekommen. Er suchte sie nicht, aber er wies sie auch
-nicht zurück und verabsäumte nichts.</p>
-
-<p>Clerambault fand ihn gerade damit beschäftigt, die wirklichen
-Ideen eines chinesischen Philosophen von all den
-nachträglichen Umhüllungen rein loszulösen, unter denen
-sie die Lesarten und Erläuterungen von Jahrhunderten verborgen
-hatten. Bei diesem Spiel, das für ihn ein gewohntes war,
-kam er natürlich dazu, schließlich gerade das Gegenteil
-des bisher augenscheinlichen Sinnes zu finden: ein
-Ideal wird ja immer dunkler, wenn es von Hand zu Hand
-geht.</p>
-
-<p>In dieser geistigen Verfassung empfing Perrotin zerstreut
-und sehr höflich Clerambault. Selbst wenn er in Salons
-anderen zuzuhören schien, trieb er immer Textkritik. Seine
-Ironie vergnügte sich dabei auf fremde Kosten.</p>
-
-<p>Clerambault entlud gegen ihn seine ganze neue Erkenntnis.
-Sein Ausgangspunkt war die unbestreitbare Tatsache der
-offenkundigen moralischen Minderwertigkeit der feindlichen
-Nation, und es war eigentlich nur noch dies für ihn eine
-Frage, ob man darin den unheilbaren Niedergang eines
-großen Volkes erkennen sollte oder einfach ein Barbarentum
-feststellen, das von allem Anfang an bestanden, aber sich
-nur gut zu verschleiern gewußt hatte. Clerambault neigte zur
-letzten Auslegung. Noch ganz erfüllt von dem gerade Gelesenen,
-machte er Luther, Kant und Wagner für die gewalttätige
-Verletzung der belgischen Neutralität und für die Verbrechen
-der deutschen Armee verantwortlich. Wie man gemeinhin
-zu sagen pflegt: er hatte die Nase nicht selbst hineingesteckt,
-da er ja weder von Musik, noch von Theologie, noch
-von Metaphysik etwas verstand; ihm genügte die Autorität
-der Akademiker. Als Ausnahme ließ er einzig Beethoven
-gelten, weil er ein Flame war, und Goethe als Bürger einer
-Freistadt, die so eine Art Straßburg, also zur Hälfte französisch
-war, oder französisch und nur halb deutsch. Nun
-wartete er auf eine Zustimmung.</p>
-
-<p>Aber zu seiner Überraschung stieß er bei Perrotin nicht auf
-eine Leidenschaftlichkeit, die der seinen entsprach. Perrotin
-lächelte, hörte zu, betrachtete Clerambault mit einer gutmütigen
-und neugierigen Aufmerksamkeit. Er sagte nicht
-nein und sagte nicht ja. Bei einigen Behauptungen machte
-er vorsichtige Einschränkungen, und als Clerambault ihm
-ganz hitzwütig die schriftlichen Aussagen zeigte, die von
-zwei oder drei berühmten Kollegen Perrotins unterschrieben
-waren, machte er nur eine kleine Gebärde, die sagen konnte:</p>
-
-<p>„Ach, solche Dinge gibt’s in Menge.“</p>
-
-<p>Clerambault wurde immer leidenschaftlicher, und nun veränderte
-auch Perrotin den Ton, bezeigte ein „lebhaftes Interesse“
-für die „sehr interessanten“ Bemerkungen seines
-„verehrten Freundes“, nickte mit dem Kopf zustimmend zu
-allem, was er sagte, wich seinen direkten Fragen mit vagen
-Worten aus oder stimmte ihnen mit irgendeiner allgemeinen
-Höflichkeit zu, wie man eben jemandem antwortet, dem man
-nicht widersprechen will.</p>
-
-<p>Clerambault ging, ganz aus der Fassung gebracht und unzufrieden,
-fort.</p>
-
-<p>Aber er versöhnte sich mit seinem Freunde und war wieder
-seiner sicher, als er einige Tage später den Namen Perrotins
-unter einem leidenschaftlichen Protest der Akademie gegen
-die Barbaren fand. Er nahm den Anlaß wahr, um ihn zu
-beglückwünschen, und Perrotin dankte ihm mit einigen vorsichtigen
-und sybillinischen Worten:</p>
-
-<p>„Mein verehrter Herr — (er benutzte immer in seinen Briefen
-die zeremoniösen und gemessenen Formeln derer von
-Port-Royal) — ich bin immer bereit, den Wünschen des
-Vaterlandes zu gehorchen; sie sind Befehle für mich. Auch
-mein Gewissen steht ihm zur Verfügung, so wie es die
-Pflicht eines guten Bürgers ist...“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>ine der merkwürdigsten geistigen Wirkungen des Kriegs
-war, daß er neue Bindungen zwischen Menschen erzeugte.
-Leute, die nicht einen Gedanken gemeinsam hatten, entdeckten
-plötzlich, daß sie gleichen Sinnes waren; und sobald sie sich
-zusammenscharten, wurden sie einander wirklich ähnlich. So
-entstand, was man die <span class='it'>Union Sacrée</span>, die „heilige Eintracht“,
-nannte. Menschen aller Parteien und von verschiedenstem
-Temperament, Choleriker, Phlegmatiker, Monarchisten,
-Anarchisten, Klerikale, Calvinisten vergaßen plötzlich
-ihr wirkliches Ich, ihre Leidenschaften, Narrheiten und
-Feindseligkeiten. Sie wechselten die Haut, und man sah
-sich mit einemmal neuen Wesen gegenüber, die sich unerwartet
-wie ein Häufchen gefeilten Eisenstaubes um einen
-Magneten zusammenrotteten. Alle alten Beziehungen waren
-plötzlich verschwunden, und man staunte gar nicht darüber,
-sich plötzlich einem Fremden näher zu fühlen als
-den ältesten Freunden. Man hätte glauben mögen, daß
-die Seelen unterirdisch, mit weitverbreiteten Wurzeln, im
-Dunkel des Instinkts verbunden waren, jener allzuwenig
-bekannten Region, zu der die Beobachtung selten hinabsteigt.
-Unsere Psychologie beschäftigt sich ausschließlich mit
-jenem Teil unseres Ich, der aus dem Erdreich des Unbewußten
-herausragt, sie beschreibt sorgfältig dort jede Einzelheit,
-ohne auf alles das zu achten, was nicht gerade Schaft
-und Blüte der Pflanze ist. Aber neun Zehntel sind unsichtbar
-eingegraben und mit den Füßen anderer Pflanzen verschlungen.
-Diese ganze tiefe (oder niedere) Region der Seele
-ist für gewöhnlich unbewußt und für das Gefühl nicht merkbar,
-die Vernunft weiß nichts von ihr. Aber der Krieg ließ
-plötzlich, indem er diese unterirdische Welt weckte, moralische
-Bindungen zutage treten, die man nie vermutet hätte. So
-trat zum Beispiel bei Clerambault eine plötzliche Intimität
-mit einem Bruder seiner Frau zutage, den er bisher, und
-mit gutem Recht, als Typus eines echten Philisters betrachtet
-hatte.</p>
-
-<p>Leo Camus war noch nicht fünfzig Jahre alt, groß, mager,
-ein wenig vorgekrümmt, hatte einen schwarzen Bart, fahle
-Farben, schütteres Haar (seine Kahlköpfigkeit war sogar schon
-sichtbar, wenn er den Hut noch auf hatte), sein Gesicht war
-voll kleiner Falten, die sich nach allen Richtungen überquerten,
-wie Maschen eines schlecht geflickten Netzes. Er
-hatte meist ein ungesundes, unfreundliches Aussehen und
-war beständig verschnupft. Seit dreißig Jahren war er
-Staatsbeamter, und seine ganze Karriere war im Schatten
-eines Hofes im Ministerialgebäude dahingegangen. Im
-Laufe der Jahre hatte er das Zimmer gewechselt, aber er
-war nie aus diesem Schatten herausgekommen, sein ganzer
-Fortschritt war immer im selben Hoftrakt. Für ihn gab es
-keine Möglichkeit mehr, diesem Leben zu entrinnen, und jetzt
-war er endlich Unterdirektor geworden, was ihm erlaubte,
-nun seinerseits Schatten zu verbreiten. Er hatte fast gar
-keinen Zusammenhang mit Menschen und verkehrte mit der
-äußeren Welt nur hinter einem Wall von Registraturen und
-aufgehäuften Papierstößen. Er war Junggeselle und hatte
-keinen Freund, denn sein Menschenhaß behauptete, es gäbe
-keine, außer solchen aus Interesse. Seine einzige Zuneigung
-galt der Familie der Schwester, und auch diese äußerte sich
-nur darin, daß er alles, was jene tat, für schlecht befand;
-denn er gehörte zu jenen Leuten, deren unruhige Besorgtheit
-diejenigen, die sie lieben, immer kritisiert, und wenn sie
-jene leiden sehen, nicht müde werden, ihnen zu beweisen, daß
-sie durch eigenes Verschulden unglücklich seien. Bei den
-Clerambaults machte er nicht sehr viel Effekt damit, ja es
-mißfiel Frau Clerambault, die ein wenig träge war, sogar
-nicht, ein bißchen gerüttelt zu werden. Was die Kinder betraf,
-so wußten sie, daß diese Vorwürfe meistens von kleinen Geschenken
-begleitet waren: so steckten sie die Geschenke ein und
-ließen das Übrige auf sich niederprasseln.</p>
-
-<p>In bezug auf seinen Schwager hatte die Haltung Leo Camus’
-im Laufe der Jahre einige Veränderungen durchgemacht.
-Als seine Schwester Clerambault heiratete, hielt
-Camus mit seiner Mißbilligung nicht zurück, ein unbekannter
-Dichter schien ihm nicht jemand „ernst zu Nehmender“.
-Dichter sein (ein unbekannter Dichter), das ist immer nur
-ein Vorwand, um nicht zu arbeiten..., natürlich, wenn
-man „bekannt“ ist, das ist dann etwas anderes! Camus
-verehrte sehr Victor Hugo, er kannte sogar Verse aus den
-Châtiments und einige von August Barbier auswendig, die
-aber waren „bekannt“, und „bekannt sein“ ist eben alles.
-Nun geschah es aber eines Tages, daß Clerambault „bekannt“
-wurde. Camus erfuhr es durch seine eigene Zeitung.
-Von diesem Tag an hatte er sich endlich bewegen lassen,
-die Gedichte Clerambaults zu lesen. Er verstand sie nicht,
-aber er war darüber nicht ungehalten, denn so konnte er
-sich brüsten, noch von der „alten Schule“ zu sein und sich
-dadurch überlegen dünken. Es gibt ja viele dieser Art, die
-sich aus ihrer Verständnislosigkeit einen Stolz zu machen
-wissen. Aber ist es nicht recht so in der Welt, daß der eine
-auf das pocht, was er hat, und der andere auf das, was er
-nicht hat? Übrigens gab Camus zu, daß Clerambault
-„schreiben“ könne (er mußte es ja verstehen, da er auch vom
-Fach war). So hatte er im gleichen Maße, wie die Zeitung
-ihn zu schätzen begann, ein immer größeres Interesse an
-seinem Schwager und liebte es, mit ihm zu plaudern. Er
-hatte immer schon, ohne es je zu sagen, seine herzliche Güte
-geachtet, und was ihm besonders an diesem großen (denn
-jetzt nannte er ihn plötzlich so) Dichter gefiel, war seine offenkundige
-Unfähigkeit in Geschäftsdingen, seine praktische
-Ignoranz. Auf diesem Gebiete war Camus sein Meister,
-und er ließ es ihn deutlich fühlen. Clerambault hatte ein
-naives Vertrauen zu den Menschen und zu den Dingen,
-und nichts war Camus und seinem aggressiven Pessimismus
-willkommener als diese Eigenschaft. Dies hielt ihn immer
-in Atem. Die meiste Zeit seiner Besuche ging damit hin,
-Clerambaults Illusionen in tausend Stücke zu zerpflücken,
-aber sie hatten ein zähes Leben, und jedesmal mußte man
-anfangen, sie von neuem zu zerstören. Camus ärgerte sich
-darüber, aber mit einem geheimen Vergnügen. Er brauchte
-immer einen neuen Vorwand, um wieder beweisen zu können,
-daß die Welt schlecht und die Menschen dumm waren,
-vor allem aber fand kein Mann der Politik Gnade vor seinen
-Augen. Dieser Staatsbeamte haßte alle Regierungen, ohne
-eigentlich sagen zu können, wen oder was er an ihre Stelle
-gewünscht hätte. Die einzige Form der Politik, die ihm verständlich
-war, blieb die Opposition. Er litt eben daran, sein
-Leben verdorben, seine Natur unterdrückt zu haben. Als
-Bauernsohn war er dazu geschaffen, wie sein Vater Weingärten
-zu pflegen oder als Wächter über das kleine Landvolk
-seinen Autoritätsdrang auszuleben. Aber es war damals
-der Rost über die Weingegend gekommen, andererseits
-lockte der dumme Stolz zur Bureaukratie, so war die
-Familie in die Stadt übersiedelt. Jetzt hätte er zu seiner
-wirklichen Natur nicht mehr zurück können, ohne sich herabzuwürdigen,
-und hätte er es selbst vermocht, so wäre sie daran
-verkümmert. Weil er seinen Platz in der sozialen Gesellschaft
-nicht fand, machte er die Gesellschaft dafür verantwortlich,
-er diente wie tausend Beamte dem Staate als
-schlechter Diener, als heimlicher Feind.</p>
-
-<p>Man hätte meinen sollen, ein Wesen dieser Art, ein so düsterer,
-verbitterter, menschenfeindlicher Geist müßte durch
-den Krieg ganz außer sich geraten sein, aber gerade das
-Gegenteil trat ein: der Krieg beruhigte ihn. Für die wenigen
-freien Geister, die auf das Weltall hinblicken, war die
-Zusammenrottung zu bewaffneten Horden gegen den Feind
-ein Zusammenbruch. Aber für die Menge all derer, die
-in der schöpferischen Unfähigkeit eines ziellosen Egoismus
-leben, ist der Krieg eine Erhebung, er trägt sie zur höheren
-Stufe des zielvollen, des organisierten Egoismus empor.
-Camus wachte eines Tages mit dem Gefühl auf, zum erstenmal
-nicht allein auf der Welt zu sein.</p>
-
-<p>Der Instinkt des Vaterlandes ist vielleicht der einzige, der
-in den gegenwärtigen Zeitläuften dem Brandmal der Alltäglichkeit
-entgeht. Alle anderen Instinkte, alle natürlichen
-Triebe, das Verlangen zu lieben und zu handeln, werden
-in der Gesellschaft niedergehalten, erstickt oder gezwungen,
-durch das Joch der Entsagung und der Kompromisse zu
-gehen. Wenn ein Mann auf der Höhe seines Lebens sich
-zurückwendet, um seine einstigen Neigungen zu betrachten,
-und sieht auf ihnen die Brandmarken seiner Niederlage
-und seiner Nachgiebigkeit, dann schämt er sich ihrer und seiner
-selbst, Bitternis im Munde. Einzig der Instinkt des Vaterlandes
-bleibt in der gegenwärtigen Gesellschaft ausgeschaltet,
-er tritt nicht in Aktion und wird deshalb nicht beschmutzt.
-Wenn er aber einmal in Erscheinung tritt, so ist er unberührt,
-und die Seele, die sich ihm hingibt, wirft ihm zugleich
-die Glut aller ihrer niedergehaltenen und erniedrigten Instinkte,
-Liebe, Verlangen und Ehrgeiz entgegen, die das
-Leben verraten hat. Ein halbes Jahrhundert unterdrücktes
-Leben nimmt seine Rache, Millionen kleiner Zellen des sozialen
-Gefängnisses öffnen sich, endlich, endlich einmal...
-die alten Leidenschaften, die angeschmiedeten Instinkte recken
-ihre erstarrten Glieder, sie fühlen, daß sie das Recht haben,
-ins Freie zu stürzen und zu schreien. Das Recht? Sie
-haben jetzt die Pflicht, sich dahinstürmen zu lassen, als mächtige,
-stürzende Masse. So werden plötzlich die Millionen
-einzelner Schneeflocken zur Lawine.</p>
-
-<p>Die Lawine riß auch Camus mit. Der kleine Bureauchef
-ging ganz in ihr auf, und zwar ohne irgendwelche Leidenschaft,
-ohne Gewalttätigkeit. Er fühlte plötzlich eine große
-Kraft, eine große Ruhe, er fühlte sich „wohl“, körperlich
-wohl, seelisch wohl. Seine Schlaflosigkeit war verschwunden.
-Zum erstenmal seit Jahren quälte ihn nicht mehr sein
-Magenleiden, vielleicht weil er es vergessen hatte, er verbrachte
-den ganzen Winter — ein nie dagewesener Fall —
-ohne Schnupfen, man hörte ihn nicht mehr das und jenes
-bekritteln und beklagen, er schimpfte nicht über alles, was
-geschah oder nicht geschehen war. Irgendeine heilige Ehrfurcht
-überkam ihn vor dem ganzen sozialen Organismus,
-vor diesem Wesen, das das seine war, nur noch stärker,
-schöner und besser, er fühlte sich brüderlich mit allen jenen,
-die durch ihren Zusammenhang dieses Wesen bildeten wie
-ein Bienenschwarm, der an einem Ast hängt. Er beneidete
-die jungen Menschen, die zur Front reisten, sein Vaterland
-zu verteidigen, er betrachtete mit zärtlichen Augen seinen
-Neffen Maxime, der sich heiter rüstete, und am Bahnhof,
-als der Zug die jungen Menschen wegführte, umarmte er
-Clerambault, drückte unbekannten Eltern, die ihre Söhne
-begleiteten, die Hand, Tränen der Verzweiflung und
-von Glück zugleich standen in seinen Augen. In diesen
-Stunden hätte Camus alles hingegeben. Es waren seine
-Flitterwochen mit dem Leben. Die einsame Seele, die es
-sich immer versagt hatte, sieht plötzlich das geliebte Leben
-nahekommen und umfaßt es... Doch das Leben geht
-weiter. Das Wohlbefinden eines Camus war nicht angetan,
-zu dauern. Aber wer einmal das Leben in einer solchen
-Stunde gekannt, lebt einzig nur mehr von dieser Erinnerung
-und um sich immer wieder diesen Augenblick zu beleben.
-Er dankte den seinen dem Kriege. So war der Friede
-sein Feind, und Feinde alle, die den Frieden wollten.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault und Camus tauschten ihre Gedanken aus.
-Sie tauschten sie so vollkommen aus, daß Clerambault
-am Ende gar nicht mehr wußte, wohin die seinen gekommen
-waren. Und je mehr er sich selber verlor, um so zwingender
-empfand er das Bedürfnis, etwas zu tun. Das war für ihn
-die beste Form, sich zu betätigen... Sich zu betätigen...? Verhängnisvollerweise
-war es Camus, den er betätigte. Trotz
-seiner Überzeugung und seiner gewohnten Leidenschaft war
-er doch nur ein Echo geworden, und ein Echo welch’ erbärmlicher
-Stimmen!</p>
-
-<p>Er begann Kriegsdithyramben zu schreiben. Darin wetteiferten
-ja damals die Dichter hinter der Front. Ihre
-Schöpfungen laufen allerdings nicht Gefahr, das Gedächtnis
-der Zukunft allzusehr zu belästigen. Nichts in ihrer früheren
-künstlerischen Laufbahn bestimmte diese armen Gesellen
-zu solcher Aufgabe, und, ob sie auch das möglichste
-taten, um ihre Stimmen aufzublähen und alle Register der
-Rhetorik spielen zu lassen, die Soldaten im Schützengraben
-zuckten doch darüber die Achseln. Aber den Leuten des Hinterlandes
-gefiel ihr Pathos viel besser als jene lichtlosen und
-gleichsam schmutzfarbenen Erzählungen, die aus dem Schützengraben
-kamen. Die klare Vision eines Barbusse hatte
-damals noch nicht diesen schattenhaften Schwätzern ihre
-Wahrheit aufgezwungen. Für Clerambault bedeutete es
-keine große Anstrengung, in diesem Wettkampf der Beredsamkeit
-die Palme zu erringen. Er hatte die verhängnisvolle
-Gabe jener rhythmischen und wortreichen Beredsamkeit,
-die die Dichter von der Wirklichkeit trennt, indem sie
-sie mit ihrem Spinnennetz umhüllt. In Friedenszeiten hing
-dieses unschuldige Netz an Busch und Baum, der Wind
-klang durch, und die sanfte Arachne suchte in ihren Maschen
-nichts anderes einzufangen als das Licht. Jetzt aber, da
-die Dichter in sich ihre blutgierigen (glücklicherweise schon
-zahnlosen) Instinkte aufzüchteten, sah man in der Mitte ihres
-Netzes ein bösartiges Tier eingefangen, dessen Auge auf
-eine Beute lauerte. Sie sangen den Haß und die heilige
-Schlächterei. Clerambault tat wie die anderen, sogar besser
-als die anderen, denn seine Stimme war besser als die der
-anderen, und vor lauter Schreien kam dieser brave Mensch
-schließlich dazu, selbst Leidenschaften zu fühlen, die er gar nicht
-hatte. Den Haß „endlich zu kennen“ (es war das „erkennen“
-im biblischen Sinn), dieses neue Gefühl hatte etwas vom
-Kitzel niedrigen Stolzes, den ein Gymnasiast empfindet,
-wenn er zum erstenmal aus einem zweifelhaften Hause herauskommt.
-Denn jetzt erst fühlte er sich als ein ganzer
-Mann. Und wirklich, es fehlte ihm nichts mehr, um der
-Niedrigkeit der anderen ähnlich zu sein.</p>
-
-<p>Die ersten intimen Vorlesungen jedes seiner Gedichte waren
-Camus vorbehalten, dem er sie ja verdankte. Und Camus
-wieherte vor Begeisterung, denn er erkannte sich selbst darin.
-Clerambault fühlte sich geschmeichelt, weil er jetzt hoffte,
-in einem Rhythmus mit dem Volke zu fühlen und ganz in
-sein Blut zu dringen. Die beiden Schwäger verbrachten die
-Abende zusammen. Clerambault las vor, Camus trank die
-Verse in sich ein. Er wußte sie auswendig, er erzählte jedem,
-der es hören wollte, Victor Hugo sei auferstanden und jedes
-dieser Gedichte bedeute einen Sieg. Seine lärmende Bewunderung
-enthob die anderen Mitglieder der Familie
-davon, ein Urteil aussprechen zu müssen. Rosine suchte
-immer nach einem Vorwande, aus dem Zimmer hinauszuschlüpfen,
-wenn die Vorlesung zu Ende war, was der
-Eigenliebe Clerambaults nicht entging. Er hätte gern den
-Eindruck auf seine Tochter gewußt, fand es aber klüger, sie
-nicht darum zu befragen, und redete sich lieber selbst ein, daß
-dieses Zurückziehen ein Zeichen von Bewegung und Scheu sei.
-Aber doch, es verstimmte ihn. — Bald aber ließ ihn die
-Zustimmung des Publikums diese kleine Peinlichkeit
-vergessen. Seine Gedichte waren in den großen bürgerlichen
-Blättern erschienen und wurden für Clerambault der glänzendste
-Triumph seiner ganzen künstlerischen Laufbahn. Keines
-seiner Werke hatte einen so einhelligen Enthusiasmus
-hervorgerufen. Ein Dichter ist ja immer geneigt, seinem
-letzten Werk den Titel seines besten zugebilligt zu hören und
-ist es in noch höherem Maße, wenn er selbst weiß, daß es
-das wertloseste ist. Clerambault war sich darüber vollkommen
-im klaren, und eben darum genoß er mit einer fast
-kindlichen Eitelkeit die Speichelleckereien der Presse. Abends
-ließ er sie laut von Camus im Familienkreise vorlesen. Er
-strahlte vor Vergnügen. Am liebsten hätte er gesagt, sobald
-Camus fertig war: „Noch einmal.“</p>
-
-<p>Der einzige leise Mißton in diesem Konzert der Lobeshymnen
-kam von Perrotin. (Natürlich redete sich Clerambault
-ein, er hätte sich in ihm getäuscht, er sei kein rechter
-Freund.) Der alte Gelehrte hatte allerdings Clerambault,
-der ihm den Band seiner Kriegsgedichte zugeschickt hatte,
-in höflicher Weise beglückwünscht. Er lobte sein großes Talent,
-sagte aber durchaus nicht, daß dieses Buch sein schönstes
-Werk sei. Ja er riet ihm sogar, „nun, nachdem er der kriegerischen
-Muse seinen Tribut gebracht hätte, ein Werk des
-reinen Traumes, losgelöst von der Gegenwart, zu schreiben“.
-Was wollte er damit sagen? Gehört sich das, daß,
-wenn ein Künstler ein Werk vorlegt und Zustimmung fordert,
-man ihm antwortet: „ich möchte ein anderes lesen,
-das diesem nicht gleicht?“ — Clerambault sah darin ein
-neues Zeichen für die bedauerliche Lauheit des Patriotismus,
-die er schon vorher bei Perrotin bemerkt hatte, und
-dieser Mangel an Verständnis für seine Verse erkältete gänzlich
-sein Gefühl für den alten Freund. Er sagte sich, der
-Krieg sei die Goldprobe der Charaktere, eine Umwertung
-der Werte, wo man auch die Freundschaft neu prüfen müsse,
-und gab sich nicht Rechenschaft darüber, daß der Verlust
-eines Perrotin nur unzulänglich ersetzt sei durch die Erwerbung
-eines Camus und so vieler neuer Freunde, die
-geistig freilich minderwertiger waren, aber jedenfalls schlichten
-und warmen Herzens...</p>
-
-<p>Und doch, oft in der Nacht hatte Clerambault Minuten der
-Bedrängnis und Angst. Er wachte plötzlich unruhig, erschreckt
-und gedemütigt auf. Er fühlte sich unzufrieden und
-beschämt... Aber weshalb denn? Tat er denn nicht seine
-Pflicht?</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>ie ersten Briefe Maximes waren ein Trost, ein Herzstärkungsmittel,
-von dem ein Tropfen genügte, um alle
-Mutlosigkeit entschwinden zu lassen. Man lebte ganz in ihnen
-während der langen Zwischenräume, in denen seine Nachrichten
-eintrafen. Und trotz der Unruhe während dieser Pausen,
-wo eine jede einzelne Sekunde dem geliebten Wesen verhängnisvoll
-werden konnte, teilte sich doch diese seine Zuversicht
-(die er vielleicht aus Liebe zu den Seinen oder aus
-einem Aberglauben übertrieb) allen mit. Seine Briefe
-strömten über von Jugend und einer begeisterten Freude,
-die ihren höchsten Gipfel in den Tagen erreichte, die dem
-Sieg an der Marne folgten. Die ganze Familie war gleichsam
-gegen ihn hingestreckt, ein einziger Körper, eine Pflanze,
-deren Blüte in Licht getaucht ist und zu der der Schaft zitternd
-in mystischer Verehrung emporsteigt...</p>
-
-<p>Wie erstaunlich war auch dieses Licht, das jene Seelen
-badete, die gestern noch verzärtelt und erschlafft gewesen
-waren und die nun das Schicksal in den teuflischen Feuerkreis
-des Krieges warf! Es war das Licht des Todes oder
-des Spiels mit dem Tode! Maxime, dieses große, zarte,
-verzärtelte und gelangweilte Kind, das in der Friedenszeit
-sich wie eine kleine Mätresse aufputzte, fand einen unerwarteten
-Genuß in den Entbehrungen und harten Anforderungen
-seines neuen Lebens. Begeistert von sich selbst,
-kehrte er dieses Gefühl in seinen ein wenig großsprecherischen
-Briefen hervor, die das Herz seiner Eltern entzückten. Nun
-war weder seine Mutter eine Heldin Corneilles, noch sein
-Vater ein Römer, und der Gedanke, ihr Kind einer barbarischen
-Idee hinzuopfern, wäre ihnen entsetzlich gewesen.
-Aber die plötzliche Verwandlung ihres Kleinen in einen
-Helden gab ihnen eine Fülle nie gefühlter Zärtlichkeit. Und
-trotz ihrer Unruhe erfüllte sie die Extase ihres Maxime
-beide mit einer neuen Trunkenheit, die sie undankbar machte
-für das Leben von einst, das gute, friedliche, stille Leben,
-das zärtliche, mit seinen langen, eintönigen Tagen. Maxime
-hatte für jene Zeit eine amüsante Verachtung. Sie
-schien ihm eng, klein, lächerlich, wenn man einmal gesehen
-hatte, was „da draußen“ vorging... „Da draußen“ war
-man zufrieden, drei Stunden jede Nacht auf der harten
-Erde zu schlafen oder auf einem Bündel Stroh, zufrieden,
-sich um drei Uhr früh auf die Beine zu machen und sie mit
-dreißig Kilometer Marsch zu erwärmen, mit dem Tornister
-auf dem Rücken ein Schwitzbad von acht bis zehn Stunden zu
-nehmen, und zufrieden vor allem, endlich einmal den Feind
-zu erwischen und aus der gedeckten Stellung auf den Boche
-hinzupfeffern... Der kleine Cyrano erzählte, daß der
-Kampf geradezu eine Erholung nach dem Marschieren sei,
-und er schrieb über ein Scharmützel wie über ein Konzert oder
-ein Kinostück. Der Rhythmus der Geschosse, der Krach ihres
-Abschusses und ihre Explosion erinnerten ihn an die Paukenschläge
-im göttlichen Scherzo der Neunten Symphonie,
-und wenn diese stählernen Fliegen mutwillig, wild, heimtückisch,
-bösartig oder bloß mit einer liebenswürdigen Ungezwungenheit
-über ihren Köpfen ihre Luftmusik machten,
-hatte er das Gefühl eines Pariser Lausbuben, der aus dem
-Hause stürzt, um eine schöne Feuersbrunst anzuschauen. Es
-gab keine Müdigkeit mehr, der Geist und der Körper waren
-frisch. Wenn endlich das lang erwartete „Vorwärts, marsch“
-ertönte, sprang man mit einem Ruck leicht wie eine Feder
-auf zur nächsten Deckung, quer durch den Eisenschauer, mit
-einer wilden Freude am Aufspüren, wie ein Hund, der das
-Wild wittert. Man kroch auf allen Vieren, man schlängelte
-sich auf dem Bauch nach vorwärts, man lief gekrümmt geradeaus,
-machte schwedische Gymnastik durch die Verhaue,
-und das ließ einen vergessen, daß man nicht mehr marschieren
-konnte. Kam dann die Nacht, so sagte man sich: Was,
-es ist schon Abend? Was haben wir denn heute gemacht?
-„Langweilig ist im Kriege nur“, so beschloß der kleine
-gallische Hahn seine Erzählung, „das, was man auch im
-Frieden macht, nämlich das Marschieren auf der Landstraße.“</p>
-
-<p>So sprachen die jungen Leute in den ersten Monaten des
-Feldzuges, die Soldaten der Marneschlacht, des Bewegungskrieges.
-Hätte er weiter angedauert, so wäre vielleicht die
-Rasse der Sansculotten der Revolution neu erstanden, die,
-sobald sie einmal für die Eroberung der Welt ausgezogen
-waren, nicht mehr haltmachen konnten.</p>
-
-<p>Aber sie mußten doch haltmachen. Und vom Augenblicke
-an, wo sie in den Schützengräben eingepökelt waren, änderte
-sich der Ton. Er verlor seinen Schwung, seine knabenhafte
-Sorglosigkeit, er wurde von Tag zu Tag männlicher,
-stoischer, zurückhaltender, beherrschter; Maxime fuhr fort,
-seine Überzeugung vom Endsieg zu betonen. Schließlich
-sprach er nicht einmal davon mehr, er sprach nur noch von
-der notwendigen Pflicht, und bald hörte er auch davon zu
-sprechen auf, seine Briefe wurden trocken, grau, müde.</p>
-
-<p>Im Hinterland aber verminderte sich die Begeisterung durchaus
-nicht. Clerambault ließ nicht nach, wie ein Orgelbalg
-weiterzudröhnen. Aber von Maxime klang nicht mehr das
-erwartete und erhoffte Echo.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>P</span>lötzlich kam er auf einige Tage Urlaub zurück. Er hatte
-niemanden zuvor verständigt. Auf der Treppe blieb er
-stehen, seine Füße waren ihm schwer. Obwohl er kräftiger
-aussah, wurde er rascher müde, und dann: er war erregt.
-Aber er faßte wieder Atem und stieg die Treppe vollends
-empor. Seine Mutter öffnete auf sein Klingeln, sie schrie
-auf vor Überraschung. Clerambault, der in der Wohnung
-in ewiger Langeweile und Erwartung hin und her trottete,
-lief lärmend herbei. Es gab ein lautes Wiedersehen. Nach
-einigen Minuten ließen die Umarmungen und das zusammenhanglose
-Reden nach, Maxime mußte zum Fenster, sich
-ins Licht hinsetzen und sich von ihren entzückten Blicken
-betrachten lassen. Sie waren begeistert über seine braune
-Hautfarbe, seine vollen Wangen, sein gutes Aussehen; sein
-Vater tat die Arme auf und rief ihn an: „Mein Held!“ —
-Und Maxime, mit zusammengeballten Händen, fühlte plötzlich,
-daß es ihm unmöglich sei, etwas zu sagen.</p>
-
-<p>Bei Tisch verzehrte man ihn mit den Blicken, man trank
-seine Worte. Aber er sprach beinahe nichts. Die übertriebene
-Begeisterung der Seinen hatte sein erstes leidenschaftliches
-Gefühl irgendwie gebrochen. Glücklicherweise merkten
-sie es nicht. Sie schoben sein Schweigen der Müdigkeit und
-dem Hunger zu. Übrigens sprach Clerambault für zwei,
-er erzählte Maxime, wie es in den Schützengräben zugehe,
-und die gute Frau Pauline wurde in seinen Worten die
-Cornelia des Plutarch. Maxime sah sie an, aß, sah sie von
-neuem an: ein Abgrund war zwischen ihnen.</p>
-
-<p>Zu Ende der Mahlzeit, als er im Zimmer seines Vaters in
-einem Fauteuil saß und seine Zigarre rauchte, konnte er
-nicht anders, als endlich die Erwartung der guten Leute zufriedenzustellen.
-Er begann also, in ruhiger, sachlicher Weise
-seine Tageseinteilung zu schildern, und in einer besonderen
-Schamhaftigkeit war er darauf bedacht, in seinen Erzählungen
-jedes übertriebene Wort und vor allem die tragischen
-Bilder zu vermeiden. Sie hörten zu, zitternd vor Erwartung,
-und sie warteten noch immer, als er schon zu Ende
-war. Dann gab es ihrerseits einen ganzen Sturm von
-Fragen, Maxime antwortete darauf mit wenigen Worten,
-hastig und ohne Feuer. Schließlich versuchte Clerambault,
-„seinen lustigen Jungen“ aufzumuntern und gab ihm jovial
-einige Stöße.</p>
-
-<p>„Na also, erzähl’ ein bißchen... so von einem Gefecht bei
-euch..., das muß aber schön sein..., was für eine schöne
-Sache doch dieser heilige Glaube ist... bei Gott, das möchte
-ich einmal sehen, ich möchte gern an deiner Stelle sein.“</p>
-
-<p>Maxime antwortete:</p>
-
-<p>„Alle diese schönen Dinge siehst du besser von hier aus.“</p>
-
-<p>Seit er im Schützengraben war, hatte er keinen Kampf
-mehr und kaum irgendeinen Deutschen gesehen. Einzig den
-Dreck und das Wasser. — Aber sie glaubten es ihm nicht,
-sie dachten, er rede so aus dem Widerspruchsgeist, den sie
-bei ihm von Kind an kannten.</p>
-
-<p>„Du Spaßvogel“, sagte Clerambault lachend. „Also was
-macht ihr denn den ganzen Tag da in euren Gräben?“</p>
-
-<p>„Man verkriecht sich und schlägt die Zeit tot, die ist unser
-größter Feind.“</p>
-
-<p>Clerambault stieß mit dem Ellenbogen Maxime in die Seite.</p>
-
-<p>„Aber was, andere schlagt ihr doch auch tot!“</p>
-
-<p>Maxime wendete sich zur Seite, sah den guten, neugierigen
-Blick seines Vaters und seiner Mutter und sagte:</p>
-
-<p>„Nein, reden wir über andere Dinge.“</p>
-
-<p>Und nach einem Augenblick:</p>
-
-<p>„Wollt ihr mir ein Vergnügen machen, dann fragt mich
-heute nichts mehr.“</p>
-
-<p>Erstaunt gaben sie ihm nach und redeten sich ein, er sei erschöpft
-und bedürfe der Ruhe. Sie erwiesen ihm alle möglichen
-kleinen Aufmerksamkeiten, aber dennoch brach Clerambault
-jeden Augenblick gegen seinen eigenen Willen in
-begeisterte Ansprachen aus, die eine Antwort oder eine Zustimmung
-erforderten. Das Wort „Freiheit“ war der Kehrreim
-aller dieser Tiraden. Maxime lächelte blaß und beobachtete
-Rosine, deren Benehmen seltsam schien. Als ihr
-Bruder eingetreten war, hatte sie sich ihm in die Arme geworfen,
-aber dann hielt sie sich zurück, fast in einer gewissen
-Distanz. Sie nahm nicht teil an den Fragen ihrer Eltern,
-und statt die Mitteilungen Maximes zu provozieren, schien
-sie sie eher zu fürchten. Die Zudringlichkeit ihres Vaters
-war ihr peinlich, und die Furcht vor dem, was ihr Bruder
-hätte sagen können, verriet sich in unmerklichen Bewegungen
-oder flüchtigen Blicken, die einzig Maxime erfaßte. Er
-wieder fühlte die gleiche Scheu und vermied es, mit ihr
-allein zu bleiben, und doch waren sie einander nie im Geiste so
-nahe gewesen. Nur wagten sie sich nicht einzugestehen, warum.</p>
-
-<p>Maxime mußte es sich gefallen lassen, allen Bekannten des
-Vaters vorgeführt zu werden. Man schleppte ihn in Paris
-zu seiner Zerstreuung herum. Trotz ihrer Trauerkleider zeigte
-die Stadt wieder ihr lachendes Antlitz. Das Unglück und die
-Sorgen verbargen sich zu Hause oder in der Tiefe der stolzen
-Herzen, der ewige Jahrmarkt aber breitete in den Straßen,
-in den Zeitungen seine zufriedene Maske aus. Das Publikum
-der Kaffeehäuser und der Teesalons war bereit, zwanzig
-Jahre durchzuhalten, wenn es not tat. Maxime, der mit
-den Seinen an einem kleinen Tischchen in der Konditorei inmitten
-des heiteren Geschwätzes und dem Duft der Frauen
-saß, sah plötzlich den Unterstand, wo sie sechsundzwanzig
-Tage mit Geschossen bombardiert worden waren, ohne aus
-dem glitschigen Graben heraus zu können, in dem ihnen
-die Leichen als Schutzwand dienten... Die Hand seiner
-Mutter legte sich auf die seine. Er wachte auf, sah die zärtlichen
-Augen der Seinen, die nach seiner Sorge fragten, sofort
-machte er sich Vorwürfe, die armen Leute zu beunruhigen,
-lachte, schaute herum, und zwang sich, lustig zu
-sprechen. Seine übermütig knabenhafte Leichtigkeit kam
-wieder, und das Antlitz Clerambaults, das sich für einen
-Augenblick verdüstert hatte, wurde hell, sein Blick dankte unbewußt
-Maxime.</p>
-
-<p>Aber er mußte noch weiter auf der Hut sein. Als sie aus
-der Konditorei herauskamen (Clerambault stützte sich auf
-den Arm seines Sohnes), begegneten sie auf der Straße
-einem Militärbegräbnis. Es gab Kränze, Uniformen, irgendeinen
-Alten von der Akademie, seinen Säbel zwischen
-den Beinen, und eine Blechmusik, die ihre heroische
-Klage anstimmte. Die Menge bildete ernste Reihen. Clerambault
-blieb stehen und nahm mit großer Geste den Hut
-ab. Seine linke Hand drückte den Arm Maximes fester.
-Da fühlte er ihn zittern und sah seinen Sohn an. Er sah,
-daß er eine seltsame Miene machte, glaubte, daß Maxime
-erschüttert sei und wollte ihn wegziehen. Aber Maxime
-rührte sich nicht. Maxime war nur erstaunt:</p>
-
-<p>„Ein Toter“, dachte er, „so viel Getue für einen Toten...
-dort draußen trampelt man darüber hinweg... fünfhundert
-Tote in der Tagesmeldung, das ist unser Durchschnitt...“</p>
-
-<p>Ein kleines böses Lachen fuhr ihm über die Lippen. Erschrocken
-zog ihn Clerambault am Arme fort.</p>
-
-<p>„Komm!“ sagte er.</p>
-
-<p>Sie gingen weiter.</p>
-
-<p>„Wenn sie sehen würden“, dachte sich Maxime, „wenn diese
-Leute einmal wirklich sehen würden... die ganze Gesellschaft
-würde zusammenbrechen... aber sie werden es ja
-nie einsehen, denn sie wollen ja nicht sehen.“</p>
-
-<p>Und seine plötzlich schmerzhaft scharf sehenden Augen sahen
-mit einem Male rings um sich... den Feind: die Gleichgültigkeit
-der Welt, die Dummheit, den Egoismus, den Wucher,
-die Wurstigkeit, den Kriegsgewinn, den Kriegsgenuß, die
-Lüge bis zu ihren letzten Wurzeln, die in Sicherheit Sitzenden,
-die Drückeberger, die Polizeiknechte, die Munitionsfabrikanten
-mit ihren frech fahrenden Autos, die Kanonen
-glichen, sahen deren Frauen mit den hohen Schuhen und
-den knallroten Lippen, diese gierigen Leckermäuler... ah, sie
-sind zufrieden, alles geht gut... das kann noch lange dauern...
-Eine Hälfte der Menschheit frißt die andere auf.</p>
-
-<p>Sie kehrten heim. Am Abend nach dem Essen war Clerambault
-schon ganz ungeduldig, Maxime sein letztes Gedicht
-vorzulesen. Die Absicht, aus der er es geschrieben, war
-rührend und ein wenig lächerlich, denn aus Liebe zu seinem
-Sohn versuchte er wenigstens im Geiste, sein Gefährte im
-Ruhm und in der Qual zu sein. Von ferne beschrieb er
-darin „das Morgenrot im Schützengraben“. Zweimal
-stand er auf, um das Manuskript zu holen. Aber immer,
-wenn er die Blätter schon hielt, hinderte ihn eine Scham.
-Er setzte sich mit leeren Händen wieder hin.</p>
-
-<p>Die Tage gingen rasch vorbei. Sie fühlten sich körperlich
-nahe, aber ihre Seelen berührten einander nicht. Keiner
-von ihnen wollte es eingestehen, und jeder wußte es. Traurigkeit
-stand zwischen ihnen, und sie zwangen sich, ihre wirkliche
-Ursache nicht zu sehen, und zogen vor, sie der nahen
-Rückreise zuzuschieben. Von Zeit zu Zeit machte der Vater
-oder die Mutter einen neuen Versuch, die alte Intimität
-wiederherzustellen. Jedesmal war es die gleiche Enttäuschung,
-Maxime fühlte, daß er sich mit ihnen und mit keinem
-vom Hinterland verständlich machen könne, daß seine
-und ihre Welt zwei verschiedene geworden waren. Würden sie
-einander niemals wiederfinden?... Und doch verstand er
-sie nur zu gut! War er doch selbst dem gefährlichen Einfluß,
-der auf ihnen lastete, früher unterlegen und erst dort
-draußen wach geworden an der Berührung mit den Leiden
-und dem wirklichen Tode. Aber gerade weil er selbst ein
-Opfer gewesen war, wußte er, daß es unmöglich sei, die
-anderen mit Worten zu heilen. So schwieg er, ließ die
-anderen reden, lächelte, nickte, ohne zuzuhören. Was das
-Hinterland beschäftigte, das Gebrüll der Zeitungen, die persönlichen
-Streitigkeiten (und welcher Persönlichkeiten, der
-alten Hanswurste und gierigen Politiker!), das patriotische
-Geschwätz der Schreibtischstrategen, die Aufregung über das
-schlechte Brot und die Zuckerkarte, oder über die Tage, an denen
-die Konditoreien geschlossen waren — all das erfüllte ihn
-mit einem Ekel der Langeweile, einem unendlichen Mitleid
-mit diesem Volk des Hinterlandes, dem er sich bis ins
-Tiefste fremd fühlte.</p>
-
-<p>So schloß er sich immer mehr in ein rätselhaftes, dumpfes
-Schweigen ein. Nur für Augenblicke zwang er sich heraus,
-wenn er an die kurze Zeit dachte, die er noch mit den guten
-Menschen zu teilen hatte, die ihn so sehr liebten. Dann begann
-er plötzlich belebt zu sprechen, gleichgültig worüber.
-Das Wichtigste war ja doch, daß man Worte machte, wenn
-man schon seine Gedanken nicht sagen durfte. Natürlich fiel
-man immer wieder auf die Gemeinplätze des Tages zurück,
-die politischen, militärischen, die allgemeinen Fragen, alle
-die Dinge, die sie ebenso gut in ihrer Zeitung hätten lesen
-können. „Die Zerschmetterung der Barbaren“, der „Triumph
-des Rechtes“ füllten die Reden, die Gedanken Clerambaults
-aus. Maxime hörte seine Predigten gläubig an
-und sagte, wenn die Messe zu Ende war, sein „<span class='it'>cum spirito
-tuo</span>“. Aber beide warteten nur auf eines:
-<span class='gesp'>daß</span> <span class='gesp'>der</span> <span class='gesp'>andere</span> <span class='gesp'>endlich</span> <span class='gesp'>anfangen</span> <span class='gesp'>würde</span> <span class='gesp'>zu</span> <span class='gesp'>sprechen</span>.</p>
-
-<p>Sie warteten so lange, bis schließlich der Tag der Trennung
-kam. Kurz vor seiner Abreise trat Maxime in das Zimmer
-seines Vaters. Er war entschlossen, sich mit ihm auseinanderzusetzen:</p>
-
-<p>„Papa, bist du eigentlich ganz sicher?...“</p>
-
-<p>Die Verwirrung auf dem Antlitz seines Vaters hinderte ihn
-weiterzusprechen. Ein plötzliches Mitleid überkam ihn. Und
-er fragte nur, ob sein Vater wirklich sicher sei über die Stunde
-der Abfahrt. Clerambault nahm das Ende dieser Frage
-mit allzu sichtlicher Erleichterung auf, und kaum daß er
-nochmals die Auskunft gegeben hatte — auf die Maxime gar
-nicht hörte — begann er von neuem, seinen Redestrom loszulassen
-und sich in den gewöhnlichen idealistischen Deklamationen
-zu ergehen. Maxime schwieg enttäuscht. Während
-der letzten Stunde sagten sie sich nur Oberflächlichkeiten.
-Alle, außer der Mutter, fühlten, daß sie das Wirkliche
-verschwiegen. Äußerlich hatten sie alle heitere und vertrauensvolle
-Worte, sichtliche Erregung, im Herzen den
-ewigen Seufzer: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du
-mich verlassen?“</p>
-
-<p>Schließlich ging Maxime. Im tiefsten Herzen war er erleichtert,
-wieder an die Front zurückzukehren. Der Abgrund,
-den er zwischen der Front und dem Hinterlande fühlte,
-schien ihm tiefer zu sein als alle Schützengräben, und er
-wußte, daß das Mörderischste nicht die Kanonen waren,
-sondern die Ideen. Wie er am Fenster des wegrollenden
-Waggons die erschütterten Gesichter entschwinden sah,
-dachte er:</p>
-
-<p>„Arme Leute! Ihr seid ihre Opfer! Und wir sind die
-euren!...“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>A</span>m Tage nach seiner Rückkehr an die Front brach die große
-Frühlingsoffensive los, die dem Feind von den redseligen
-Zeitungen bereits seit längeren Wochen angedroht worden
-war. Mit ihr hatte man die Hoffnung der ganzen Nation
-während des dumpfen Winters der Erwartung und der
-totenähnlichen Starre unablässig genährt. Ein Schauer ungeduldiger
-Freude erhob sich im ganzen Volke, man war
-des Sieges sicher und rief ihm das „endlich!“ zu.</p>
-
-<p>Die erste Nachricht schien dieser Hoffnung recht zu geben.
-Sie erzählte, wie es der Brauch ist, natürlich nur von den
-Verlusten des Feindes. Alle Gesichter strahlten. Die Eltern,
-deren Kinder, die Frauen, deren Männer draußen waren,
-fühlten sich erhoben bei dem Gedanken, daß ihre Schöpfung
-und ihre Liebe teil hatte am blutigen Liebesmahl. In ihrer
-Begeisterung kamen sie kaum auf den Gedanken, daß der
-Ihre auch ein Opfer sein konnte. Dieser Fieberzustand war
-derartig, daß Clerambault, der doch ein zärtlicher, liebevoller
-und für die Seinen besorgter Vater war, nur fürchtete,
-sein Sohn sei vielleicht noch nicht rechtzeitig zurück gewesen,
-um an dem „glorreichen Tag“ teilzunehmen. Sein
-ganzer Gedanke war, er möchte dabei gewesen sein, seine
-glühendsten Wünsche warfen ihn in den Abgrund hinein.
-Er opferte ihn auf, er gab ihn und sein Leben hin, ohne
-sich zu fragen, ob der Wille seines Kindes selbst damit einverstanden
-war. Da er, Clerambault, sich selbst nicht mehr
-gehörte, konnte er es einfach nicht mehr verstehen, daß ein
-anderer seiner Nächsten sich noch selbst gehörte. Die dunkle
-Gewalt des Masseninstinkts hatte alles aufgezehrt.</p>
-
-<p>Und doch, manchmal ließ ihn irgendein Rest von Selbstanalyse
-einige Spuren seiner früheren Natur wiederfinden.
-Es war immer, wie wenn man einen empfindlichen Nerv
-berührt — ein dumpfer Schlag, ein Schatten von Schmerz.
-Aber er geht vorbei, und man leugnet ihn dann.</p>
-
-<p>Nach drei Wochen stapfte die erschöpfte Offensive noch immer
-auf den blutgedüngten Kilometern herum. Die Zeitungen
-begannen die Aufmerksamkeit abzulenken, indem sie
-das Interesse auf irgendein anderes Thema lockten. Maxime
-hatte seit seiner Abreise nicht mehr geschrieben. Man
-suchte, um sich zu gedulden, irgendeinen jener Vorwände,
-wie sie die Vernunft ja so gefällig gibt, aber das Herz
-glaubt nicht an sie. Wieder gingen acht Tage vorbei. Untereinander
-tat jeder der drei so, als ob er zuversichtlich wäre.
-Aber in der Nacht, wenn jeder allein in seinem Zimmer
-war, schrie die Seele in ihrer Angst auf. Ganze Stunden
-lang war das Ohr auf der Lauer, horchte, die Nerven zum
-Zerreißen angespannt auf jeden Schritt, der die Treppe emporkam,
-lauschte auf die Klingel oder die Berührung einer
-Hand, die an die Tür streifte.</p>
-
-<p>Allmählich kamen die ersten offiziellen Nachrichten über die
-Verluste. In mehreren befreundeten Familien zählte man
-schon einige Tote und Verwundete. Jene, die alles verloren
-hatten, beneideten diejenigen, denen ihre Lieben vielleicht
-blutend und verstümmelt, doch wenigstens würden wiedergegeben
-werden. Einige hüllten sich in ihre Toten ein wie
-in die Nacht, für sie war der Krieg zu Ende, das Leben zu
-Ende. Bei anderen aber blieb in erstaunlicher Weise die ursprüngliche
-Exaltation beharrlich: Clerambault sah eine Mutter,
-die ihr Patriotismus und ihre Trauer so fieberig entflammten,
-daß man fast das Gefühl hatte, sie freue sich am
-Tod ihres Sohnes. Sie sagte mit fanatischer und leidenschaftlich
-zusammengeballter Freude: „Ich habe alles gegeben,
-ich habe alles hingegeben“, so wie eine, die im Taumel
-der letzten Sekunden spricht, ehe sie sich mit ihrem Geliebten
-ins Wasser stürzt. Aber Clerambault, schwächeren
-Wesens oder schon aus seinem Taumel erwachend, dachte
-immer nur:</p>
-
-<p>„Auch ich habe alles gegeben — sogar das, was mir nicht
-mehr gehörte.“</p>
-
-<p>Er wandte sich an die militärische Behörde. Man wußte
-noch nichts. Acht Tage später kam die Nachricht, daß der
-Sergeant Clerambault Maxime als „vermißt“ seit der Nacht
-vom 27./28. des vergangenen Monats verzeichnet war. In
-den Pariser Büros konnte Clerambault keine weiteren Einzelheiten
-erfahren. Er fuhr nach Genf, suchte das Rote
-Kreuz, das Büro der Gefangenen auf, erfuhr nichts,
-stürzte sich auf jede Fährte, erhielt die Erlaubnis, in den
-Hospitälern und Etappendepots die Kameraden seines Sohnes
-befragen zu dürfen, die ganz entgegengesetzte Auskünfte
-gaben. (Die einen sagten, er sei gefangen, die anderen
-hatten ihn tot gesehen — am nächsten Tage gaben beide
-zu, daß sie sich geirrt hatten... o Qual... Gott, was für
-ein Henker bist du!...) Und nach zehn Tagen kam er endlich
-von diesem Passionsweg gealtert, gebrochen, erschöpft heim.</p>
-
-<p>Er fand seine Frau in einem Paroxismus lauten Schmerzes,
-der sich bei diesem gutmütigen Wesen in einen rasenden
-Haß gegen den Feind verwandelt hatte. Sie schrie nur
-Rache und Rache. Zum erstenmal antwortete ihr Clerambault
-nicht. Es blieb ihm keine Kraft mehr zu hassen —
-er verbrauchte seine ganze im Leiden.</p>
-
-<p>Er schloß sich in sein Zimmer ein. Während dieser ganzen
-furchtbaren zehntägigen Pilgerfahrt hatte er sich kaum ein
-einziges Mal seinen Gedanken gegenübergestellt. Nur eine
-Idee hatte ihn Tag und Nacht hypnotisiert, so wie einen
-Hund auf der Fährte: nur schneller, nur rascher vorwärts
-kommen. Die Langsamkeit der Wagen und Züge hatte ihn
-verzehrt. Es war vorgekommen, daß er ein Zimmer für die
-Nacht bestellte und doch noch am selben Abend wieder abreiste,
-ohne sich Zeit zur Erholung zu lassen, und dieses Fieber
-der Hast und Erwartung hatte alles aufgeschluckt. Es machte
-ihn unfähigen (zu seinem Glück), irgendwie im Zusammenhang
-zu denken. Aber jetzt war die Hetzjagd zu Ende, die Vernunft
-fand sich wieder, atemlos und röchelnd. Clerambault war jetzt
-gewiß, daß Maxime tot sei. Er hatte es seiner Frau nicht gesagt
-und ihr einige Mitteilungen verschwiegen, die ihm jede
-Hoffnung raubten, denn sie war eine jener Naturen, für die
-es ein Lebensbedürfnis ist, sich selbst gegen alle Vernunft einen
-Schein von Lüge zu bewahren, der sie so lange noch aufrecht
-hält, bis die große Flut des Schmerzes ein wenig verebbt
-ist. Vielleicht wäre Clerambault vordem auch einer dieser
-Menschen gewesen, aber jetzt erkannte er schon zu gut, wohin
-dieser Selbstbetrug geführt hatte. Er wagte noch nicht zu
-richten, versuchte überhaupt noch kein Urteil, er lag nur da
-in seiner Nacht, zu schwach, sich aufzurichten, rings um sich
-zu tasten, lag wie einer, der nach einem Sturz seinen zerschmetterten
-Körper regt und erst an seinem Schmerze gewahr
-wird, daß er noch lebt und sich bemüht, zu verstehen,
-was ihm eigentlich zugestoßen sei. Der weit aufgerissene
-tiefe Abgrund dieses Todes starrte ihn an und bezauberte
-ihn. Dieses schöne Kind, das man mit so viel Lust, mit so
-viel Mühe erzogen hatte, dieser Reichtum an blühender Hoffnung,
-das kleine, unvergleichliche Weltall, das ein junger
-Mensch bedeutet, dieser Baum von Jesse, dieses kommende
-Jahrhundert... all das zerstört in einer Stunde... und
-wofür? Wofür?</p>
-
-<p>Er versuchte sich wenigstens zu überreden, daß es für etwas
-sehr Großes und Notwendiges geschehen sei. Mit Verzweiflung
-klammerte sich Clerambault in den folgenden Tagen
-und Nächten an diese Boje, er wußte, wenn seine Finger
-sie losließen, müsse er ertrinken. Noch gewaltsamer suchte
-er die Heiligkeit der Sache zu betonen, obwohl er es vermied,
-darüber zu diskutieren. Aber seine Finger klammerten
-sich immer schwächer an, bei jeder Bewegung sank er
-mehr hinab in die Tiefe, bei jeder neuen Bekräftigung des
-Rechtes und der Gerechtigkeit erhob sich aus seinem Gewissen
-wie ein finsterer Donner eine Stimme, die sagte:</p>
-
-<p>„Und wenn ihr auch zwanzigtausendmal mehr Recht hättet
-in eurem Kampf, kauft dies, daß eure Vernunft recht behält,
-das entsetzliche Unglück darum schon zurück, mit dem
-es bezahlt ist? Wiegt euer Recht die Millionen Unschuldigen
-auf, die als Pfand des Unrechts und des Irrtums
-der andern fallen? Wäscht ein Verbrechen das andere rein,
-ein Mord den andern? War es wirklich nötig, daß eure
-Söhne nicht nur Opfer, sondern auch Mitschuldige waren,
-nicht nur Ermordete, sondern auch Mörder?“</p>
-
-<p>Er sah im Geiste noch einmal den letzten Besuch seines Sohnes,
-hörte ihre letzten Gespräche, und alles wiederholte sich
-in seinem Herzen. Wieviel Dinge verstand er jetzt, die er
-damals nicht verstanden hatte! All das oftmalige Schweigen
-Maximes, die Vorwürfe seiner Augen... Aber das
-Schlimmste von allem für ihn kam, als er sich darüber klar
-wurde, daß er sie schon damals verstanden hatte, damals,
-als sein Sohn noch da war, und daß er sie nur nicht hatte
-verstehen wollen.</p>
-
-<p>Und diese Entdeckung, die er schon seit einigen Wochen wie
-eine finstere Drohung über sich schweben fühlte — diese Entdeckung
-seiner inneren Lüge erdrückte ihn.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>R</span>osine Clerambault war bis zum gegenwärtigen kritischen
-Augenblick gleichsam verloschen gewesen. Die anderen,
-und beinahe sie selbst, wußten nichts von ihrem Innenleben,
-kaum ihr Vater hatte davon eine deutliche Ahnung. Ohne
-Freundinnen oder gleichalterige Kameradinnen hatte sie die
-ganze Zeit unter dem Schutzmantel der Wärme selbstsüchtiger
-und erstickender Familienzärtlichkeit dahingelebt. Die Eltern
-standen zwischen ihr und der äußeren Welt, sie war
-schon daran gewöhnt, in ihrem Schatten dahinzuleben;
-sehnte sie sich dann, als sie herangewachsen war, aus dieser
-Sphäre herauszukommen, so wagte sie es nicht, wußte auch
-gar nicht, was mit sich anfangen. Denn kaum, daß sie
-aus dem Familienkreise heraustrat, fühlte sie sich gehemmt,
-ihre Bewegungen wurden ungelenk, sie konnte kaum sprechen,
-und das allgemeine Urteil fand sie unbedeutend. Sie
-wußte das und litt daran, denn sie war nicht ohne Selbstgefühl.
-So ging sie so wenig als möglich aus, blieb in
-ihrem Kreise, still, einfach und natürlich, und diese Stille
-war nicht die Folge einer Trägheit des Denkens, sondern
-der Geschwätzigkeit der anderen. Der Vater, die Mutter, der
-Bruder waren alle überschwänglich, so schloß sich dieses
-kleine Wesen aus Gegensätzlichkeit in sich selbst ein. Aber sie
-hielt Zwiesprache mit sich in ihrem Herzen.</p>
-
-<p>Sie war blond, groß und schmal, hatte die Formen eines
-Knaben, hübsches Haar, dessen Locken leicht über die Wangen
-spielten, einen großen und ernsten Mund. Die untere Lippe
-war gegen die Mundwinkel zu etwas voll, sie hatte große,
-stille, träumerische Augen, fein und zart gezogene Brauen
-und ein hübsches Kinn. Auch ihr Hals war hübsch, ihre
-Brust zart und ebenso die Hüfte, nur die Hände etwas rot
-und groß mit vollen Adern. Ein Nichts konnte sie erröten
-machen. Der Reiz ihrer Jugend lag in der Stirn und im
-Kinn, die Augen fragten nur herum, träumten, aber verrieten
-nichts.</p>
-
-<p>Ihr Vater hatte eine Vorliebe für sie, ebenso wie die Mutter
-für den Sohn: es gab zwischen ihnen geheime Beziehungen.
-Ohne es zu wollen, hatte Clerambault unaufhörlich
-sich des Mädchens seit dessen Kindheit mit seiner Zärtlichkeit
-bemächtigt und hielt es unablässig darin gefangen.
-Er hatte zum Teil selbst Rosinens Erziehung geleitet und
-sie mit der oft ein wenig aufdringlichen Naivität des Künstlers
-zu seiner Vertrauten gemacht. Dazu verführte ihn sein
-überströmendes Wesen, sein Bedürfnis, sich mitzuteilen, und
-das geringe Echo, das er bei seiner Frau fand: dieser guten
-Frau, die vor ihm auf den Knien lag und dort gewissermaßen
-liegen geblieben war. Sie sagte „ja“ zu allem, was
-er sagte, bewunderte ihn voll Vertrauen, aber sie verstand
-ihn nicht und merkte es nicht einmal, daß sie ihn nicht verstand.
-Das Wichtigste waren für sie nicht die Ideen ihres
-Mannes, sondern er selbst, seine Gesundheit, seine Zufriedenheit,
-seine Bequemlichkeit, seine Kleidung und Nahrung.
-Clerambault als dankbare Natur fällte kein Urteil über seine
-Frau, ebensowenig wie Rosine über ihre Mutter, aber beider
-Instinkt wußte wohl, was von ihr zu halten war, und dies
-war ein geheimes Band, das sie einte. Clerambault bemerkte
-gar nicht, daß er allmählich aus seiner Tochter seine
-wahre geistige Gattin und Gefährtin gemacht hatte; erst in
-der letzten Zeit wurde er dessen ahnend gewahr, als die
-politische Krise zwischen ihnen die stillschweigende Übereinstimmung
-löste und ihm plötzlich die Zustimmung, die geheime
-Neigung Rosinens fehlte. Rosine wußte all die Dinge
-längst vor ihm, sie vermied nur, ihr Geheimnis näher zu
-untersuchen. Das Herz braucht für sein Wissen nicht den
-Appell an den Verstand.</p>
-
-<p>Seltsames und wundervolles Geheimnis der Liebe, die die
-Seelen verbindet! Sie weiß unabhängig zu bleiben von
-den Gesetzen der Gesellschaft und selbst der Natur, aber nur
-wenige Menschen werden dessen gewahr, und noch wenigere
-wagen es, sich es einzugestehen, aus Furcht vor der Plumpheit
-der Welt, die immer nur Gesamturteile hören will und
-sich an den engen Sinn der Gewohnheitssprache hält. Aber
-in dieser konventionell abgeschliffenen Sprache, die aus gesellschaftlicher
-Vereinfachung mit Absicht ungenau bleibt,
-sind die Worte weit davon entfernt, die lebendigen Nuancen
-der vielfältigen Wirklichkeit zu offenbaren und aufzuschließen,
-im Gegenteil, sie fesseln, uniformieren, versteinern sie und
-stoßen sie in den Dienst der selbst an die Kette gelegten Vernunft
-— jener Vernunft, die nicht aus den Tiefen des
-Geistes entspringt sondern — wie eine Fontäne in Versailles
-— aus weiten, in das Gefüge der zivilisierten
-Gesellschaft eingemauerten Wasserflächen. In diesem gleichsam
-juristischen Vokabular ist die Liebe an das Geschlecht, an
-das Alter, an gewisse gesellschaftliche Klassen gebunden, und
-je nachdem, ob sie sich den geltenden Umständen fügt,
-entweder als natürlich oder nicht, als legitim oder nicht
-anerkannt.</p>
-
-<p>Aber was diese Worte erhaschen, ist nur ein dünnes Rinnsal
-aus den tiefen Quellen der Liebe. Die unendliche Liebe,
-gleichsam das Schwergewichtsgesetz, das die Welten bewegt,
-kümmert sich nicht um den Rahmen, den wir um
-ihr Wesen ziehen. Sie geschieht zwischen Seelen, die alles
-innerhalb Raum und Zeit voneinander zu entfernen scheint,
-über Jahrhunderte hinweg eint sie die Gedanken von Lebenden
-und Toten, sie schlingt enge und keusche Bindung zwischen
-Alten und Jungen, bringt den Freund dem Freunde und oft
-die Seele des Kindes der eines Greises näher, als sie beide,
-Mann oder Frau, jemals vielleicht in ihrem Leben Gefährtin
-oder Gefährten finden werden. Zwischen Vater und Kind
-gibt es oft solche Bindungen, ohne daß beide ihrer gewahr
-würden. Und „des Menschen Geschlechte“ (wie unsere Vorväter
-sagten) zählen so wenig im ewigen Antlitz der Liebe,
-daß zwischen Vätern und Kindern die Beziehungen vertauscht
-sind und die Kinder oft nicht die Jüngeren sind von beiden,
-sondern der Vater das wahre Kind ist. Wieviel Söhne empfinden
-fromm eine väterliche Liebe für ihre alte Mutter! Und
-geschieht es nicht wieder auch uns, daß wir uns ganz demütig
-und klein vor den Augen eines Kindes fühlen? Das Bambino
-Botticellis läßt auf der reinen Jungfrau seinen Blick
-voll einer unbewußten schmerzlichen Erfahrung ruhen, die
-so alt ist wie die Welt.</p>
-
-<p>Auch die Zuneigung Clerambaults und Rosinens war von
-solcher erhabenen und frommen Wesensart, wie sie Vernunft
-allein nicht zu erklären vermag. Und deshalb begann
-in den Tiefen des bewegten Meeres tief unterhalb jener
-Schwankungen und Gewissenskämpfe, die der Krieg entfesselte,
-zwischen diesen beiden Seelen, die durch solche heilige
-Liebe verbunden waren, ohne Gesten, fast ohne Wort, ein
-geheimes Drama. Aus diesem unbewußten Gefühl erklärte
-sich auch die Zartheit ihres beiderseitigen Spürens. Zuerst
-war es das stumme Sichzurückziehen Rosinens, die, in ihrer
-Zärtlichkeit enttäuscht, in ihrem geheimen Ehrfurchtskult
-durch die Haltung ihres vom Krieg verführten Vaters ernüchtert,
-sich leise von ihm weghielt wie eine kleine antike,
-keusch verhüllte Statue; schon aber empfand die Unruhe
-Clerambaults, dessen Feinfühligkeit durch sein zärtliches Gefühl
-geschärft war, dieses „<span class='it'>Noli me tangere</span>“. Es gab
-zwischen dem Vater und der Tochter in jener Zeit kurz vor
-dem Tode Maximes eine unausgesprochene Entfremdung,
-die man vielleicht (wenn die Worte nicht zu grobschlächtig
-wären) einen Liebeskummer im reinsten Sinne des Wortes
-hätte nennen können. Dieser geheime Zwiespalt, der nie
-zu einem Wort zwischen ihnen aufschwebte, war für beide
-eine Kränkung, er verwirrte das junge Mädchen und reizte
-Clerambault, denn dieser kannte wohl die Ursache, nur sein
-Stolz weigerte sich, sie anzuerkennen. Aber bald kam er soweit,
-sich eingestehen zu müssen, daß Rosine im Recht war,
-und gern hätte er sich gedemütigt, aber er blieb in falscher
-Scham verschlossen. So verschärften sich die Mißverständnisse
-noch im Geiste, indes schon das Herz zur Nachgiebigkeit
-aufforderte.</p>
-
-<p>Während der inneren Verwirrung nach dem Tode Maximes
-lastete diese Bitte dringlicher auf ihren schon mehr zur Nachgiebigkeit
-bereiten Seelen. Eines Tages, als die drei sich
-zum Abendessen zusammenfanden — es war dies die einzige
-Stunde, die sie verband, denn jeder lebte für sich, Clerambault
-ganz seiner Trauer hingegeben, Frau Clerambault
-immer ziellos beschäftigt und Rosine den ganzen Tag
-abwesend bei ihren Hilfsaktionen — hörte Clerambault seine
-Frau heftig Rosinen Vorwürfe machen. Rosine sprach von
-ihrer Absicht, die Pflege von feindlichen Verwundeten zu
-übernehmen, und Frau Clerambault, die dies als Verbrechen
-empfand, regte sich darüber auf.</p>
-
-<p>Sie rief ihren Mann als Richter an. Clerambault, dessen
-müde, dunkle und leidende Augen zu verstehen begannen,
-sah Rosine an, die schweigend und mit gesenkter Stirn seine
-Antwort erwartete. Dann sagte er:</p>
-
-<p>„Meine Kleine hat recht.“</p>
-
-<p>Rosine errötete vor plötzlicher Erregung, denn das hatte sie
-nicht erwartet. Dankend hob sie die Augen zu ihm auf; ihr
-Blick schien zu sagen:</p>
-
-<p>„Endlich habe ich dich wiedergefunden.“</p>
-
-<p>Nach der kurzen Abendmahlzeit trennten sich alle drei, jeder
-blieb für sich. Clerambault, vor seinem Arbeitstisch, weinte,
-das Antlitz in den Händen. Der Blick seiner Tochter hatte
-sein von Schmerz erstarrtes Herz aufgelöst. Es war seine verlorene
-Seele, die seit Monaten erstickte, dieselbe Seele, die
-er vor dem Kriege besessen und nun wiedergefunden hatte.
-Und sie blickte ihn an....</p>
-
-<p>Er trocknete seine Tränen und lauschte an der Tür... Seine
-Frau ordnete wie allabendlich in dem doppelt verschlossenen
-Zimmer Maximes wieder und wieder und wieder die Wäsche
-und die Gegenstände des Toten... Er trat in das Zimmer
-seiner Tochter, wo Rosine allein nahe beim Fenster saß und
-nähte. Sie war ganz in ihre Gedanken verloren und hörte
-sein Kommen erst, als er schon dicht neben ihr stand.</p>
-
-<p>Er neigte seinen ergrauten Kopf gegen sie und sagte:</p>
-
-<p>„Mein kleines Mädchen.“</p>
-
-<p>Da zerschmolz auch ihr Herz, sie ließ ihre Arbeit fallen,
-nahm das alte Haupt mit den wirren Haaren zwischen ihre
-Hände und sagte, während ihre Tränen sich mit jenen, die
-sie hinströmen sah, vermengten:</p>
-
-<p>„Lieber, lieber Vater!“</p>
-
-<p>Aber weder der eine noch der andere bedurfte einer Erklärung,
-weshalb sie zueinander gekommen waren. Nach einem
-langen Schweigen, als er seine Ruhe wiedergefunden, sagte
-er mit einem Blick auf sie:</p>
-
-<p>„Mir ist, als ob ich aus einem furchtbaren Wahn erwachte.“</p>
-
-<p>Sie streichelte ihm das Haar, ohne zu sprechen.</p>
-
-<p>„Aber du hast über mir gewacht, nicht wahr? Ich habe es
-gefühlt, immer bemerkt... hat es dir sehr weh getan?“</p>
-
-<p>Sie nickte mit dem Kopfe, ohne ihn anzusehen. Er küßte
-ihr die Hände, richtete sich auf und sagte:</p>
-
-<p>„Mein guter Engel, du hast mich gerettet.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>r kehrte in sein Zimmer zurück.</p>
-
-<p>Sie blieb allein, ohne sich zu rühren, ganz durchdrungen
-von Erregung. Lange verharrte sie so gesenkten Hauptes, die
-Hände über ihren Knien gefaltet. Die Flut der Gefühle, die
-wild aus ihr aufquollen, ließen ihren Atem stocken, ihr Herz
-war schwer von Liebe, Glück und Beschämung. Die Demut
-ihres Vaters verwirrte sie... Plötzlich riß sie ein Schwall von
-Zärtlichkeit und leidenschaftlichem Mitleid aus der Starre, die
-ihre Glieder und ihre Seele umfing, sie streckte die Arme gegen
-den Fernen aus, warf sich verwirrt vor ihrem Bett nieder,
-dankte Gott und bat ihn im Gebete, er möge alle Schmerzen
-auf sie häufen und das Glück ihm schenken, den sie liebte.</p>
-
-<p>Aber der Gott, den sie beschworen, hatte nicht acht auf ihren
-Wunsch. Auf die Augen des Mädchens senkte er den guten
-Schlaf des Vergessens; Clerambault indes mußte noch den
-Gipfel seines Kalvarienberges erklimmen.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>I</span>n der Nacht seines Zimmers, bei erloschener Lampe, blickte
-Clerambault in sich hinein. Er war entschlossen, bis in die
-letzte Tiefe seiner verlogenen und ängstlichen Seele, die der
-Wahrheit entflohen, hinabzuforschen. Die Hand seiner
-Tochter, deren Kühle er noch auf seiner Stirn fühlte, hatte
-das letzte Zögern weggestreift. Er war entschlossen, dem
-Ungeheuer Wahrheit ins Auge zu sehen, auch auf die Gefahr
-hin, von seinen Tatzen, die keinen mehr loslassen, den
-sie einmal erfaßt haben, zerfleischt zu werden.</p>
-
-<p>Mit Angst, aber mit entschlossener Hand begann er in blutigen
-Stücken die Haut der irdischen Vorurteile, der Leidenschaften
-und fremden Ideen, die seine Seele ganz umwachsen
-hatte, von ihr loszulösen.</p>
-
-<p>Zuerst das dicke Fell des tausendköpfigen Tieres, der gemeinsamen
-Herdenseele. Aus Angst und aus Schwäche
-hatte er sich in sie hineingeflüchtet, denn sie hält warm, fast
-zum Ersticken warm, man ruht gut darin, und doch ist sie
-ein schmutziges Kissen. Aber ist man einmal drinnen in
-dieser weichen Masse, so ist es vorbei mit jedem Versuch, aus
-ihr herauszukommen, und man will es auch gar nicht mehr.
-Man braucht nicht mehr zu denken, zu wollen, man ist geschützt
-vor der kalten Zugluft der Verantwortlichkeit. Trägheit
-und Feigheit... Fort! Weg damit!... Sogleich
-stürzt durch die offenen Ritzen der eisige Wind! Man schauert
-zurück — aber schon ist durch diesen kalten Stoß die Schläfrigkeit
-abgeschüttelt. Die umnebelte Energie richtet sich wankend
-wieder auf. Was wird sie draußen finden? Sei es, was es
-wolle, sie muß es sehen.</p>
-
-<p>Er sah zuerst, das Herz von Ekel geschüttelt, was er nie geglaubt
-hätte — wie tief dieses fettige Fell schon mit seinem
-Fleische verwachsen war. Er witterte darinnen gleichsam
-eine späte faule Ausdünstung der Urbestie, alle die wilden
-uneingestandenen Instinkte des Krieges, des Mordes, des
-vergossenen Blutes, des von gierigen Kinnladen zerrissenen
-Fleisches. Er fühlte die ganze Urkraft des Todes über das
-Leben, er fühlte in der Tiefe des menschlichen Seins die
-Grube des Schlachthauses, die die Zivilisation, statt sie zuzuschütten,
-nur mit dem Schwall ihrer Lüge verhüllt und
-über der der dumpfe Dunst vergossenen Blutes schwelt...
-Dieser widrige Geruch ernüchterte Clerambault vollständig.
-Mit Grauen riß er die Haut der Bestie von sich ab, deren
-Beute er geworden war.</p>
-
-<p>Ah, wie sie schwer war, heiß, zugleich stinkend und schön,
-seidenhaarig, warm und doch blutig. Zusammengefügt aus
-den niedrigsten Instinkten und den erlauchtesten Träumen.
-Was war nicht alles darin verwebt, das Lieben, Sich-Hingeben,
-Sich-Aufopfern, ein Körper und eine Seele Sein im
-Vaterland, dem einzig Lebendigen!... Aber was ist denn
-dieses Vaterland, dieses einzige Leben, dem man nicht nur
-sein Leben, nein, alle Leben hinwirft, und dazu noch sein
-Gewissen, alle Gewissen? Und was ist dies für eine blinde
-Liebe, deren anderes Janusantlitz mit den ausgerissenen
-Augen nur blinden Haß zeigt?</p>
-
-<p>„Man hat höchst fälschlich den Namen der Vernunft von
-dem der Liebe getrennt und sie ohne guten Grund einander
-gegenübergestellt“, sagt Pascal. „Die Liebe und die Vernunft
-sind ein und dasselbe. Es ist ein vorschnelles Denken,
-das sich zu einer Seite hinwendet, ohne alles geprüft zu
-haben, aber immerhin, es ist eine Art zu denken.“</p>
-
-<p>Nun gut, durchdenken wir das Ganze! Birgt sich nicht gerade
-in dieser Form der Liebe bei vielen Furcht, alles zu
-prüfen, tun sie nicht gleich dem Kinde, das, um den Schatten
-an der Wand nicht zu sehen, den Kopf unter die Decke steckt?</p>
-
-<p>Das Vaterland? Was ist es? Ein Hindutempel: Menschen,
-Ungetüme und Götter. Was ist sein eigentliches Wesen?
-Die heimische Erde? Die ganze Erde ist unsere gemeinsame
-Mutter. Oder ist es die Familie? Es gibt hier Familien
-und drüben, beim Feind und bei uns, und beide wollen sie
-nur den Frieden. Oder sind es die Armen, die Arbeiter,
-das Volk? Die sind auf beiden Seiten gleich elend und
-gleich ausgebeutet. Oder sind es die Geistigen? Die haben
-nur ein gemeinsames Feld, und ihre Eitelkeiten und Streitigkeiten
-sind ebenso lächerlich im Morgenlande wie im Abendlande.
-Die Welt hat anderes zu tun als sich wegen des Gezänkes
-eines Vadius und eines Trissotin zu bekämpfen. Ist
-es also der Staat? Der Staat ist nicht das Vaterland.
-Einzig jene, die davon Vorteil haben, mischen diese beiden
-Begriffe ineinander. Der Staat ist unsere Kraft, die einige
-Menschen ausnützen oder mißbrauchen. Menschen wie wir,
-die nicht mehr wert sind als wir selbst und oft weniger,
-und von denen wir uns in Friedenszeit sonst nicht narren
-lassen und die wir im allgemeinen richtig zu beurteilen wissen.
-Aber kaum, daß der Krieg da ist, lassen wir ihnen freie Hand,
-sie dürfen die niedrigsten Instinkte entfesseln, jede Kontrolle
-ersticken, jede Freiheit hinmorden, jede Wahrheit, die ganze
-Menschheit. Sie sind dann die Herren, man muß sich in Reih
-und Glied drücken, um die Ehre und die Dummheit dieser
-in Herrenkleider vermummten Bedienten zu verteidigen.
-Wir sind einig, sagt man? Erbärmliches Wortnetz! Einig
-sind wir ohne Zweifel, wir haben die schlechtesten und die
-besten in unseren Völkern beisammen, das ist wahr, das
-wissen wir. Aber daß eine Pflicht uns bindet, ihre Ungerechtigkeiten
-und Sinnlosigkeiten mitzumachen, das leugne ich...</p>
-
-<p>Die Gemeinsamkeit soll darum nicht verachtet sein. Niemand,
-denkt Clerambault, hat mehr als ich ihre Lust gefühlt,
-ihre Größe gefeiert. Es ist gut, gesund, stärkend und
-kräftigend, den nackten, starren und eisig einsamen Egoismus
-in jenes Bad des Vertrauens und der brüderlichen
-Aufopferung hinabzuwerfen, das die Massenseele bedeutet.
-Man entspannt sich, man gibt sich hin, man atmet. Der
-Mensch bedarf der anderen, er ist den anderen verpflichtet.
-Aber er ist ihnen nicht mit seinem ganzen Wesen verpflichtet.
-Denn was bliebe ihm sonst für Gott? Er muß sich
-den anderen hingeben, doch um geben zu können, muß
-man etwas haben, man muß vor allem selbst etwas sein.
-Aber wie kann man selbst etwas sein, wenn man ganz in
-die anderen zerfließt? So viel Pflichten es auch gibt, die
-erste ist, sein eigenes Selbst zu sein und zu bleiben bis zur
-Aufopferung und Hingabe seines Ich. Das Bad in der
-Massenseele als Dauerzustand wäre eine Gefahr. Aus seelischer
-Hygiene in sie hinabzutauchen, mag gut tun. Aber
-man muß wieder heraus, sonst läßt man alle seine moralische
-Kraft darin. Und gerade in unserem Zeitalter ist man
-ja schon von seiner Kindheit an, ob man will oder nicht, in
-die demokratische Badekufe hinabgetaucht. Die Gesellschaft
-denkt für einen, ihre Moral will, und ihr Staat handelt für
-uns, ihre Mode und Meinung nehmen uns die Luft weg,
-die wir atmen, trinken unseren Hauch, unser Herz, unser
-Licht. Man ward Diener dessen, das man mißachtet, man
-lügt in allen seinen Bewegungen, seinen Worten, seinen Gedanken.
-Man verzichtet und ist nicht mehr... Aber wer
-hat den Vorteil davon, wenn alle verzichten? Zu wessen
-Wohl verzichtet man? Für die blinden Instinkte oder für
-ein paar Lumpenkerle? Wem gehorchen wir? Einem Gott
-oder ein paar Scharlatanen, die in seinem Namen die Orakel
-sprechen? Den Schleier fort! Ich will sehen, was sich dahinter
-verbirgt... Das Vaterland!... Was für ein großes
-Wort, was für ein schönes Wort. Der Vater, umschlungen
-von seinen Brüdern... Aber das ist ja gar nicht
-das Vaterland, das ihr mir zeigt, es ist ein falsches Vaterland,
-ein Bretterverschlag, ein Tierkäfig, Schützengräben
-und Barrikaden, Gefängniswände!... Meine Brüder!
-Wo sind meine Brüder? Wo sind sie alle, die rings im
-Weltall leiden? Ihr Kains, was habt ihr aus ihnen gemacht?
-Ich breite ihnen die Arme entgegen, und ein Strom
-von Blut trennt mich von ihnen. In meinem eigenen Volke
-darf ich nicht mehr frei zu meinen Brüdern reden, ich bin
-nur mehr ein namenloses Instrument, das morden soll...
-Mein Vaterland! Aber ihr seid es ja, die es tötet... Mein
-Vaterland war die große Gemeinschaft der Menschheit, und
-sie habt ihr zerschlagen. Die Freiheit und der Gedanke haben
-keine Heimstatt mehr in Europa... Ich will mir mein
-Haus wieder aufbauen, unser aller Haus, denn ich habe
-keines mehr, das eure ist ein Gefängnis... Wie soll ich es
-tun? Wo soll ich suchen? Wo mich verbergen...? Sie
-haben mir alles genommen! Es gibt keine Fingerbreite
-mehr auf der Erde oder im Geiste, die noch frei ist, alle
-Heiligtümer der Seele, der Kunst, der Wissenschaft haben
-sie geschändet, alles haben sie sich hörig gemacht! Ich bin
-allein und verloren, ich habe nichts mehr, ich stürze hin...</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>A</span>ls Clerambault alles von sich abgerissen hatte, blieb ihm
-nichts mehr als seine eigene nackte Seele. Bis zum Ausgang
-dieser Nacht drückte sie sich zitternd und erstarrt an ihn.
-Aber in dieser zitternden Seele, in diesem winzigen Wesen,
-das im Weltall verloren war, glühte leise ein Funke wie
-eines jener εἴδωλα, die die primitiven Maler über dem Munde
-der Sterbenden schweben lassen. Als es gegen Morgen ging,
-begann die fast unsichtbare Flamme, die beinahe in der
-schweren Umschalung der Lüge erstickt war, zu erwachen.
-Im Atem der frischen Luft schlug sie hell empor. Und nichts
-konnte sie mehr hindern, frei emporzuwachsen.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>L</span>angsamer, grauer Tag nach diesem Kampf oder dieser
-Geburt. Schwere zerbrochene Ruhe. Tiefe, ungewohnte
-Stille... Ermattetes Wohlgefühl vollbrachter Pflicht... Clerambault,
-das Haupt an die Lehne seines Fauteuils gestützt,
-träumte unbeweglich vor sich hin, Fieber im Leib, das
-Herz schwer von Erinnerung. Seine Tränen strömten, ohne
-daß er es fühlte. Draußen erwachte die melancholische Natur
-der letzten Wintertage, die Bäume zitternd, wie er selbst,
-und noch nackt. Aber unter dem Eisglanz der Luft bebte
-schon ein neues Feuer.</p>
-
-<p>Bald wird es das All umfangen.</p>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<div><h1>Zweiter Teil</h1></div>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>N</span>ach acht Tagen begann Clerambault wieder auszugehen.
-Aus der furchtbaren Krise, durch die er sich
-gerungen, ging er gebrochen, aber entschlossen hervor. Der
-Überschwang der Verzweiflung war von ihm gefallen, ihn
-beseelte einzig mehr ein stoischer Wille, der Wahrheit bis in
-ihre letzten Schlupfwinkel nachzudringen. Aber das Erinnern
-an seine geistige Verwirrung, in der er sich so wohl
-befunden, und die Halblüge, die so lange seine Nahrung gewesen
-war, machte ihn unsicher und demütig. Er mißtraute
-der eigenen Kraft, und um Schritt für Schritt weiterzukommen,
-fühlte er sich bereit, den Rat von Erfahreneren als
-Führung anzunehmen. Er erinnerte sich, wie Perrotin damals
-seinen vertraulichen Überschwang mit ironischer Zurückhaltung
-aufgenommen. Damals hatte sie ihn verwirrt,
-nun zog sie ihn an. Sein erster Besuch nach der Genesung
-galt dem klugen Freunde.</p>
-
-<p>Obwohl Perrotin sich besser auf Bücher als auf Physiognomien
-verstand — ziemlich kurzsichtig und ein wenig egoistisch,
-gab er sich selten Mühe, etwas zu beachten, das er nicht
-unbedingt brauchte — so konnte er doch nicht umhin,
-die Veränderung der Gesichtszüge Clerambaults sofort
-staunend zu bemerken.</p>
-
-<p>„Was ist, mein guter Freund“, rief er ihm zu, „waren Sie
-krank?“</p>
-
-<p>„Ja, wirklich sehr krank“, antwortete Clerambault, „aber es
-geht mir schon besser, ich habe mich schon erholt.“</p>
-
-<p>„Ja, das ist für uns der grausamste Schlag“, sagte Perrotin,
-„in unserem Alter einen Freund zu verlieren, wie es
-für Sie Ihr armer Sohn war.“</p>
-
-<p>„Das Grausamste ist noch nicht, ihn verloren zu haben“,
-antwortete Clerambault, „sondern selbst mit Schuld an
-seinem Verlust zu sein.“</p>
-
-<p>„Was sagen Sie da, mein Freund“, fuhr Perrotin erstaunt
-auf, „was haben Sie sich da erfunden, um Ihre Qual noch
-zu steigern?“</p>
-
-<p>„Ich hatte ihm die Augen verschlossen“, sagte bitter Clerambault,
-„und er hat sie mir geöffnet.“</p>
-
-<p>Perrotin ließ seine Arbeit liegen, über die er wie gewöhnlich
-nachsann, während man zu ihm sprach, und sah Clerambault
-erstaunt an, der mit gesenktem Kopf und einer
-dumpfen, schmerzvoll-leidenschaftlichen Stimme zu erzählen
-begann. Es war, wie wenn ein Christ der ersten Zeiten
-öffentlich seine Beichte ablegte. Er klagte sich der Lüge an,
-der Lüge gegen seinen Glauben, der Lüge gegen sein Herz,
-der Lüge gegen seine eigene Vernunft. Der Apostel hatte in
-seiner Feigheit den Gott verleugnet, sobald er ihn in
-Ketten sah, aber soweit hatte er sich doch nicht erniedrigt,
-den Henkern seines Gottes Hilfe zu leisten. Aber er, Clerambault,
-hatte nicht nur die Sache der allmenschlichen
-Brüderlichkeit verlassen, er hatte sie erniedrigt; er hatte
-nicht abgelassen, von Brüderlichkeit zu sprechen, während
-er gleichzeitig zum Haß aufrief, er hatte wie jene lügnerischen
-Priester, die das Evangelium verdrehen, um es in den
-Dienst ihrer schlechten Absichten zu stellen, geschickt die erhabensten
-Gedanken verfälscht, um mit ihrer Maske die
-Leidenschaft zum Mord zu verdecken. Er hatte sich einen
-Pazifisten genannt, während er den Krieg verherrlichte, und
-einen Menschenfreund, indes er den Feind von vornherein
-aus dem Kreise der Menschheit ausstieß.... Oh, um wieviel
-redlicher wäre es gewesen, sich vor der brutalen Gewalt
-einfach zu beugen, als mit ihr erniedrigende Kompromisse
-einzugehen! Gerade dank solchen Sophismen wie den
-seinen, war es gelungen, den Idealismus der jungen
-Menschen in das Gemetzel zu hetzen. Denn die Denker, die
-Künstler, sie, die alten Giftmischer, waren es, die mit ihrer
-Rhetorik den grauenhaften Todestrunk versüßten, den
-ohne ihre Mitschuld jedes reine Gewissen sofort mit Abscheu
-zurückgestoßen und ausgespien hätte....</p>
-
-<p>„Das Blut meines Kindes ist über mir“, sagte Clerambault
-schmerzlich, „das Blut aller jungen Menschen Europas,
-in allen Nationen, spritzt der Idee Europas ins Antlitz.
-Überall hat sich die Idee zum Knecht des Henkers erniedrigt.“</p>
-
-<p>„Mein armer Freund“, sagte Perrotin, indem er sich zu
-Clerambault neigte und seine Hand nahm, „Sie übertreiben
-immer.... Gewiß, Sie tun gut, den Gefühlsirrtum
-zu erkennen, in den Sie die öffentliche Meinung mitgerissen
-hat, und ich kann Ihnen heute offen sagen, daß mich diese
-Täuschung gerade bei Ihnen geschmerzt hat. Aber Sie
-haben unrecht, wenn Sie sich und den Sprechenden überhaupt
-eine so große Verantwortung für die Geschehnisse von
-heute zuschreiben. Die einen sprechen, die anderen handeln,
-aber es sind nicht diejenigen, die sprechen, die die Tat der
-anderen verursachen; beide sind Spielball der Strömung
-und haben keine Kraft über diese.“</p>
-
-<p>„Aber ihnen fällt doch die Schuld zu, andere aufgefordert
-zu haben, sich mitreißen zu lassen“, antwortete Clerambault.
-„Statt die noch auf der Oberfläche Schwimmenden
-festzuhalten und ihnen zuzuschreien: „Kämpft gegen den
-Strom!“ haben sie gesagt: „Laßt euch nur fortreißen!“
-Nein, mein Freund, versuchen Sie nicht, unsere Verantwortlichkeit
-zu mildern. Sie ist schwerer als irgend eine
-andere, denn unser Gedanke war so hoch gestellt, daß er
-weit blicken konnte, seine Pflicht war, zu wachen, und wenn
-er nicht das Richtige gesehen hat, so war es, weil er nicht
-sehen wollte. Wir dürfen nicht unsere Augen anklagen, denn
-unsere Augen waren gut, das wissen Sie wohl, und auch ich
-weiß es jetzt, da ich mich wieder aufgerafft habe. Dieselbe
-Vernunft, die mir die Augen verbunden hat, hat mir das
-Band wieder abgerissen. Seltsam, daß sie gleichzeitig ein
-Instrument der Lüge und ein Instrument der Wahrheit
-ist!“</p>
-
-<p>Perrotin schüttelte den Kopf.</p>
-
-<p>„Ja, die Vernunft ist so groß und so erhaben, daß sie sich
-nicht, ohne sich zu erniedrigen, in den Dienst anderer
-Mächte stellen darf. Man muß ihr alles aufopfern. Sobald
-sie nicht mehr freiwirkend und Herrin ihrer selbst ist,
-erniedrigt sie sich, sie wird dann wie der Grieche, der von
-dem Römer, seinem Herrn, trotz seiner Überlegenheit erniedrigt
-wird und verpflichtet, sein Kuppler zu sein, ein Gräculus,
-ein Sophist, ein <span class='it'>leno</span>... Der Durchschnittsmensch ist
-gewöhnt, seine Vernunft wie einen Dienstboten zu allem
-möglichen zu mißbrauchen, und sie dient ihm dann mit der
-unehrlichen und geschmeidigen Geschicklichkeit dieser Art Leute.
-Bald begibt sie sich in den Dienst des Hasses, des Stolzes,
-bald in den der eigenen Interessen, sie schmeichelt allen
-diesen kleinen Ungetümen und verkleidet sie als Idealismus,
-Liebe, Glaube, Freiheit, soziale Hingabe, denn wenn ein
-Mensch die Menschen nicht liebt, so sagt er immer, er liebe
-Gott, das Vaterland oder die Menschheit. Bald wird dann
-der arme Herr der Vernunft selbst zum Sklaven, zum Sklaven
-des Staates. Mit ihrer Drohung zwingt ihn die soziale
-Maschine zu Handlungen, die ihm innerlich widerstreben;
-die brave und gefällige Vernunft redet ihm aber sofort ein,
-diese Handlungen seien schön und ruhmvoll, und daß
-er sie aus freiem Willen tue. In dem einen Falle wie in
-dem andern weiß die Vernunft wohl, woran sie sich zu
-halten hat. Sie steht immer zu unserer Verfügung, sobald
-wir wirklich wollen, daß sie uns die Wahrheit sage. Aber
-wir sind es, die sich wohl hüten, von ihr Gebrauch zu machen.
-Wir vermeiden sorgsam, mit ihr allein zu sein, wir
-wissen es immer so einzurichten, daß wir ihr nur in Gesellschaft
-begegnen und ihr Fragen schon in jenem Ton
-stellen, der die Antwort von vornherein bestimmt.....
-Schließlich dreht sich die Erde darum doch — <span class='it'>e pur si
-muove</span> — die Weltgesetze erfüllen sich, und der freie Geist
-erkennt sie. Alles andere ist Eitelkeit. Was wir Leidenschaften
-und aufrichtigen oder falschen Glauben nennen, bedeutet
-nur einen verhüllten Ausdruck für die Notwendigkeit,
-die die Welt bewegt, gleichgültig um unsere Idole,
-Familie, Rasse, Vaterland, Religion, Gesellschaft, Fortschritt...
-Fortschritt? Das ist der größte Wahn von allen.
-Ist denn die Menschheit nicht dem Gesetz der höchsten Spannung
-unterworfen, das verlangt, daß, sobald sie überschritten
-ist, eine Klappe sich öffne und der Behälter sich wieder leere?
-Kehrt er nicht immer wieder, dieser katastrophale Rhythmus?
-Knapp an den Höhen der Zivilisation ist immer der Absturz.
-Man steigt, und taucht wieder hinab.“</p>
-
-<p>Perrotin entwickelte ruhig seinen Gedankengang. Seine
-Idee war sonst nicht gewöhnt, sich vor anderen auszusprechen,
-aber sie hatte den Zeugen vergessen, und so entkleidete
-sie sich, als wäre sie allein. Perrotins Weltanschauung
-war von einer großen Kühnheit, wie es oft jene
-großer Menschen sind, die in ihrem Zimmer leben und
-nicht zur Tat verpflichtet sind, ja gar nichts auf sie halten
-und sie sogar verachten. Clerambault hörte erstaunt, erschrocken,
-mit offenem Munde zu, manche Worte erbitterten
-ihn, manche preßten ihm das Herz zu, er empfand
-eine Art Schwindel. Aber er überwand seine Schwäche, um
-keinen Blick in die aufgetanen Tiefen zu verlieren. Er
-bedrängte Perrotin mit Fragen, der geschmeichelt seine zweiflerischen,
-gleichzeitig passiven und doch zerstörenden Visionen
-gefällig und selbstgefällig vor ihm entrollte.</p>
-
-<p>Sie waren noch ganz vom Gewölke dieser Abgründe umhüllt,
-und Clerambault bewunderte die Leichtigkeit dieses
-freien Geistes, der sicher und fast zufrieden am Rande dieser
-Leere hauste, als die Tür sich auftat und der Diener Perrotin
-eine Visitenkarte brachte. Sofort lösten sich die gefährlichen
-Gespenster des Geistes in nichts auf. Eine Falltür
-schlug über dem Abgrund zu und der gewohnte Teppich
-des Salons verdeckte seine Spur.... Perrotin, aufgeschreckt,
-sagte eiligst und beflissen:</p>
-
-<p>„Ja, natürlich, bitte lassen Sie nur eintreten.“</p>
-
-<p>Und indem er sich zu Clerambault wandte: „Sie gestatten
-doch, lieber Freund, es ist der Herr Unterstaatssekretär vom
-Ministerium für Unterricht und schöne Künste.“</p>
-
-<p>Und schon war er aufgestanden und ging dem Besucher
-entgegen, einem jungen Mann mit blau rasiertem Kinn,
-einem Priester-, Schauspieler- oder Yankeegesicht. Er trug
-den Kopf hoch und die Brust breit in seinem grauen Jackett,
-das die Rosette der Verdienstvollen und der Kriecher verzierte.
-Der alte Mann stellte, nun wieder strahlend, vor:
-„Herr Agénor Clerambault... Herr Hyacinthe Monchéri“
-und fragte den „Herrn Unterstaatssekretär“, was ihm die
-Ehre dieses Besuches verschaffe.</p>
-
-<p>Der „Herr Unterstaatssekretär“, keineswegs erstaunt über
-den ehrerbietigen Empfang von seiten des alten Meisters,
-warf sich breit in den Fauteuil mit jener familiären Überlegenheit,
-die ihm sein offizieller Rang über die beiden
-Leuchten des französischen Gedankens verlieh: er stellte ja
-den Staat dar. Er sprach näselnd, laut und mißtönend,
-er schrie wie ein Dromedar. Er übermittelte Perrotin die
-Einladung des Ministers, das Präsidium einer feierlichen
-Sitzung kriegsbegeisterter Intellektueller von zehn Nationen
-im großen Amphitheater der Sorbonne zu übernehmen —
-einer „Fluchsitzung“, wie er sagte. Perrotin sagte eiligst zu,
-ganz beglückt von der großen Ehre. Sein erniedrigendes
-Verhalten gegenüber dem staatlich legitimierten Gimpel
-stand in seltsamem Gegensatz zu den verwegenen Gedanken,
-die er eben entwickelt hatte, und Clerambault, im tiefsten
-abgestoßen, mußte an den Gräculus denken.</p>
-
-<p>Sobald sie wieder allein waren, und nachdem Perrotin ihn bis
-zur Schwelle begleitet hatte, seinen „Verehrten“, der steifen
-Halses und gehobenen Kopfes ging, wie der mit Reliquien
-beladene Esel, wollte Clerambault das Gespräch wieder aufnehmen.
-Er war etwas abgekühlt und machte kein Geheimnis
-daraus. Er forderte Perrotin auf, öffentlich das auszusprechen,
-was er ihm im Vertrauen gesagt hatte, eine Zumutung,
-die Perrotin natürlich, seine Naivität belächelnd, ablehnte.
-Ja er warnte ihn sogar in besorgter Weise bezüglich der Versuchung,
-vor der Öffentlichkeit zu beichten. Clerambault wurde
-zornig, begann zu streiten und blieb hartnäckig bei seiner Forderung.
-Perrotin, der gerade aufrichtig gelaunt war, schilderte
-ihm, um ihn aufzuklären, seine Umgebung, die großen
-Intellektuellen der Universität, deren offizieller Vertreter er
-war, die Historiker, Philosophen und Schönredner. Er sprach
-von ihnen mit einer verschleierten, höflichen, aber tiefen Mißachtung,
-die mit ein wenig Bitterkeit gemengt war, denn
-trotz seiner Vorsicht war er zu intelligent, um nicht den
-weniger klugen unter seinen Kameraden schon verdächtig geworden
-zu sein. Er schilderte sich als einen alten Hund, der
-einen Blinden führt, und sich inmitten der bellenden
-Fleischerhunde gezwungen sieht, mit ihnen die Vorübergehenden
-anzukläffen....</p>
-
-<p>Clerambault verließ ihn, ohne mit ihm zu brechen, aber
-voll tiefen Mitleids.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>s dauerte einige Tage, ehe er wiederum ausging. Jene
-erste Berührung mit der äußeren Welt hatte ihn zu sehr
-enttäuscht. Der Freund, in dem er einen Helfer und eine Stütze
-zu finden gehofft hatte, war kläglich vor ihm zusammengebrochen.
-Clerambault fühlte sich ganz verwirrt, denn im
-Grunde seines Wesens war er schwach und nicht gewohnt,
-selbst die Richtung seines Weges zu finden. So aufrichtig er
-als Dichter war, er hatte sich bisher doch noch nie verpflichtet
-gesehen, ohne die Hilfe der anderen zu denken. Bisher hatte
-er sich immer nur von ihren Gedanken tragen lassen, war
-mit ihnen eins geworden, um dann ihre ekstatische und begeisterte
-Stimme zu werden.... Die Veränderung war
-nun zu plötzlich gekommen. Trotz jener Nacht der Krise fiel
-er immer wieder in Unsicherheit zurück, denn die Natur kann
-sich nicht mit einem Schlage verändern und besonders nicht
-bei jenen, die — mag ihr Geist auch noch so geschmeidig geblieben
-sein — das fünfzigste Jahr überschritten haben. Und das
-Licht, das aus einer solchen Erkenntnis aufflammt, bleibt
-durchaus nicht so unbeweglich, wie die blendende Schale der
-Sonne in einem Sommerhimmel, sondern ähnelt mehr
-einer elektrischen Lampe, die zittert und mehr als einmal
-auslöscht, ehe der Strom regelmäßig und dauerhaft wird.
-In den Synkopen dieser zuckenden Pulsschläge des Lichtes
-scheint dann natürlich das Dunkel noch viel dunkler und der
-Geist viel verwirrter. — Clerambault konnte sich nicht entschließen,
-auf die Meinung der anderen von vornherein zu
-verzichten.</p>
-
-<p>Er beschloß, einen seiner Freunde nach dem andern zu besuchen,
-deren er viele in der Literatur und in den Kreisen
-der Universität und der intelligenten Bourgeoisie besaß. Es
-war ja nicht möglich, daß in ihrer großen Zahl sich nicht einer
-oder der andere fände, den so wie ihn und noch besser als
-ihn ein ahnendes Gefühl jener Probleme bewegte, von
-denen er selbst beunruhigt war, und der ihm zu einer Klärung
-verhelfen könnte. Ohne sich vorläufig noch zu verraten, ganz
-vorsichtig, versuchte er sie zu beobachten, sie auszuhorchen,
-die Gründe ihrer Gläubigkeit aufzuspüren. Aber er wurde
-nicht gewahr, daß seine eigenen Augen schon verwandelt
-waren. Und die Vision jener Welt schien ihm, so sehr er
-sie zu kennen glaubte, ganz neu und ließ ihn erstarren.</p>
-
-<p>Der ganze Clan der Literatur hatte sich wehrhaft gemacht,
-man konnte die einzelnen Persönlichkeiten kaum mehr voneinander
-unterscheiden. Die Universität bildete gleichsam
-ein Ministerium der dienstbaren Vernunft und hatte das
-Amt übernommen, die Taten ihres Herrn und Meisters, des
-Staates, zu rechtfertigen. Und die einzelnen Arten der
-Dienstleistung unterschieden sich einzig durch ihre gewerbsmäßigen
-Verdrehungen.</p>
-
-<p>Die schöngeistigen Professoren waren in erster Linie Experten
-für moralischen Aufschwung und rednerischen Syllogismus.
-Sie hatten alle die krankhafte Neigung, das Denken auf
-eine übermäßige Einfachheit zu restringieren, verwendeten
-statt Vernunftsgründen große Worte und werkelten immer
-einige wenige Ideen ab, aber Ideen ohne Tiefe, ohne Nuancen
-und ohne Leben. Diese Ideen holten sie sich aus dem
-Arsenal einer angeblich klassischen Antike, deren Schlüssel
-durch Jahrhunderte Generationen akademischer Derwische
-eifersüchtig bewahrten, und diesen geschwätzigen und alten
-Ideen, die man überdies noch „Menschheitsideen“ nannte,
-obwohl sie in vieler Hinsicht das Gefühl und das Empfinden
-der heutigen Menschheit verletzten, prägten sie den Stempel
-des Römerstaates auf, als des Prototyps aller europäischen
-Staaten. Ihre bevollmächtigten Interpreten waren
-die Schönredner im Staatsdienst.</p>
-
-<p>Die Philosophen herrschten im Reiche der abstrakten Konstruktion.
-Sie exzellierten in der Kunst, das Konkrete durch
-Abstraktion, das Wirkliche durch seinen Schatten zu erklären,
-einige rasch und parteiisch gewählte Beobachtungen
-zum System zu erheben und dank ihrer Tüftelei aus diesen
-Systemen wieder Gesetze herauszuschwindeln, nach denen
-das Weltall wandeln sollte. Ihre ganze Mühe erschöpfte sich
-darin, das vielfältige und wandlungsvolle Leben der Einheit
-des Geistes fügsam zu machen — natürlich nur der Einheit
-ihres eigenen Geistes. Dieser Imperialismus der Vernunft
-stützte sich auf die willfährige Büberei jahrelang geübter
-Sophistik, die gewohnt war, mit Ideen zu spielen. Sie
-verstanden nur zu gut, sie auseinander- und wieder zusammenzuziehen,
-sie zu formen und zu pressen wie Knetgummi,
-für sie wäre es nicht schwer gewesen, ein Kamel durch ein
-Nadelöhr gehen zu lassen. Sie wußten ebensogut das Weiße
-wie das Schwarze zu beweisen, und fanden, ganz wie es ihnen
-beliebte, in Immanuel Kant bald die Freiheit der Welt, bald
-den preußischen Militarismus.</p>
-
-<p>Die Historiker wieder waren als bewährte Schriftführer,
-Notare und Rechtsanwälte des Staates zum Schutz seiner
-Verträge und Rechte beigestellt und bis an die Zähne bewaffnet
-für zukünftige Schikanen.... Die Geschichte! Was
-ist denn die Geschichte? Einzig die Geschichte des Erfolges,
-die Darstellung der vollzogenen Tatsachen, gleichgültig,
-ob sie gerecht oder ungerecht waren. An den Besiegten geht
-die Geschichte vorbei. Sie hat nur Schweigen für euch, ihr
-Perser von Salamis, ihr Sklaven des Spartakus, ihr Gallier,
-ihr Araber von Poitiers, ihr Albingenser, Irländer,
-Indier von West und Ost und ihr Eingebornen der Kolonien!...
-Wenn ein ehrlich denkender Mann, der Ungerechtigkeit
-seiner Zeit ausgesetzt, zu seinem eigenen Troste seine
-Hoffnung auf die Nachwelt setzt, so verschließt er die Augen
-vor den geringen Möglichkeiten, die jene Nachwelt hat,
-sich wahrhaft über die Vergangenheit Rechenschaft zu geben.
-Die Nachwelt erfährt immer nur das, was die Sachwalter
-der offiziellen Geschichte als vorteilhaft für die Sache ihres
-Klienten, des Staates, empfanden, es sei denn, daß der
-Rechtsanwalt der Gegenpartei, entweder der einer anderen
-Nation oder der einer sozialen oder religiösen unterdrückten
-Gruppe, seinen Einwand machte. Aber dafür besteht wenig
-Aussicht: das Geheimnis ist gut gewahrt.</p>
-
-<p>Schönredner, Sophisten und Winkeladvokaten, das waren
-die drei Korporationen der staatlich patentierten philosophischen
-Fakultät.</p>
-
-<p>Die „Wissenschaftler“ wären durch die Art ihrer Forschung
-ein wenig besser in der Lage gewesen, außerhalb der Beeinflussung
-und Berührung der Umwelt zu bleiben — vorausgesetzt,
-daß sie in ihrer Studienwelt verharrt hätten. Aber
-man hatte sie daraus vertrieben. Die praktische Anwendung
-der Wissenschaft hat eine so ungemeine Ausdehnung in der
-lebendigen Wirklichkeit eingenommen, daß die Gelehrten in
-die erste Reihe des Kampfes geschleudert wurden, wo sie unausweichlich
-der ansteckenden Berührung der öffentlichen
-Meinung ausgesetzt waren. Ihre Eigenliebe fand sich ganz
-unmittelbar an dem Siege der Allgemeinheit interessiert,
-denn diese benötigte ebenso den Heroismus der Soldaten
-wie die törichten Ansichten und die Lügen der Presse. Nur
-ganz wenige unter ihnen hatten die Kraft sich freizumachen,
-die meisten aber brachten die ganze Strenge, Härte und Unerbittlichkeit
-des geometrischen Geistes mit sich, dazu noch
-die professionellen Eifersüchteleien, die ja zwischen den verschiedenen
-Gelehrtengruppen der verschiedenen Länder immer
-sehr scharfe sind.</p>
-
-<p>Die Schriftsteller schlechtweg, die Dichter, Romanciers, die
-Schaffenden ohne staatliche Bindung hätten den Vorteil ihrer
-Unabhängigkeit ausnützen können. Leider aber sind nur ganz
-wenige unter ihnen imstande, von sich selbst aus Ereignisse
-zu beurteilen, die die Grenzen ihrer gewöhnlichen ästhetischen
-oder geschäftlichen Betätigung überschreiten. Die meisten
-unter ihnen, und oft gerade die berühmtesten, sind ungebildet
-wie Karpfen. Das Beste wäre nun natürlich für
-sie gewesen, sie wären in ihrem beschränkten Gesichtskreise
-verblieben, wozu sie ihr natürlicher Instinkt eigentlich
-hätte leiten sollen. Aber ihre Eitelkeit fühlte sich törichterweise
-angestachelt, sich in die öffentlichen Geschehnisse einzumengen
-und auch ihrerseits ihr Wort über das Weltall
-zu sprechen. Da sie nun selbst nichts darüber zu sagen
-wußten als Verkehrtheiten, so inspirierten sie sich mangels
-persönlicher Meinung an Gemeinplätzen. Ihre Äußerungen
-sind bei einem solchen gewaltsamen Anlaß natürlich ungemein
-lebhaft, denn sie sind überempfindlich und von
-einer krankhaften Eitelkeit, die, da sie keine eigenen Gedanken
-auszudrücken vermag, diejenigen der anderen maßlos
-übertreibt. Dies ist ihre einzige Originalität, und
-Gott weiß, wie reichlich sie davon Gebrauch gemacht
-haben.</p>
-
-<p>Wer bleibt also? Die Diener der Kirche? Gerade sie handhabten
-das schwere Geschütz: die Idee der Gerechtigkeit,
-der Wahrheit, des Guten und Gottes, auch sie hatten diese
-Artillerie in den Dienst ihrer Leidenschaften gestellt. Ihre
-unsinnige Anmaßung, die ihnen selbst nicht mehr bewußt
-ist, hat von Gott einfach Besitz ergriffen und sich das Privileg
-zugeschrieben, ihn <span class='it'>en gros</span> oder <span class='it'>en détail</span> zu verschleißen.
-Es fehlt ihnen dabei nicht so sehr an Aufrichtigkeit, an Tugend
-und selbst an Güte wie an Demut; gerade die Demut,
-die sie verkündigen, haben sie am wenigsten. Sie besteht
-für sie einzig darin, ihren Nabel zu betrachten, wie er sich
-im Talmud, der Bibel oder dem Evangelium spiegelt. In
-ihrem unmäßigen Stolz sind sie nicht weit von jenem
-mythischen Narren, der sich selbst für Gottvater hielt. Ist es
-wirklich um so viel weniger närrisch und um so viel weniger
-gefährlich, sich für seinen Stellvertreter oder seinen Schriftführer
-zu halten?</p>
-
-<p>Clerambault fühlte entsetzt den krankhaften und fast hinfälligen
-Zustand der intellektuellen Klüngel. Das Übermaß
-der Organisation und der Gedankenübermittlung
-in der bürgerlichen Klasse hat etwas Verzerrtes und Mißgeburthaftes
-an sich. Das lebendige Gleichmaß ist zerstört,
-eine Bureaukratie des Geistes dünkt sich dem einfachen
-Arbeiter ungemein überlegen. Sicherlich ist sie
-nützlich — wer denkt daran das zu leugnen! Sie rafft ja
-Gedanken zusammen und ordnet sie in Register, sie verwandelt
-und verwendet sie im vielfältigsten Aufbau.
-Aber wie selten kommt es ihr in den Sinn, die Substanz,
-die sie zu ihrem Werk verwendet, zu prüfen und ihren
-Ideeninhalt zu erneuern. So bleibt sie die eifersüchtige
-Hüterin eines wertlos gewordenen Schatzes.</p>
-
-<p>Wäre wenigstens dieser Irrtum ein ungefährlicher! Aber
-Ideen, die man nicht unablässig mit der Wirklichkeit vergleicht,
-die sich nicht in jeder Stunde im Strom der
-lebendigen Erfahrung baden, trocknen ein und werden dann
-giftige Substanzen. Sie werfen über das neue Leben ihre
-schweren Schatten, die Nacht verbreiten und Fieberschauer
-ausstreuen.</p>
-
-<p>Wie stupide ist doch diese Behexung durch abstrakte Worte!
-Was hat es denn für einen Sinn, die Könige abzusetzen
-und diejenigen zu verlachen, die für ihre Gebieter sterben,
-wenn man an ihre Stelle nur tyrannische Wesenheiten setzt,
-die man mit den Flittern jener anderen bekleidet? Besser
-ein Monarch mit Fleisch und Knochen, den man sieht, den
-man fassen und unterdrücken kann, als diese Abstraktionen,
-diese Despoten, die keiner kennt und keiner jemals gekannt
-hat.... Denn wir haben mit den großen Eunuchen, mit
-den Priestern des „verborgenen Krokodils“, wie Taine es
-nannte, mit den ränkeschmiedenden Ministern zu tun, die
-das Götzenbild sprechen lassen. Ah, wenn diese Schleier
-doch endlich zerreißen und wir die Bestie kennen würden,
-die sich in uns versteckt! Es wäre weniger Gefahr für den
-Menschen darin, offenkundig eine Bestie zu sein, als die
-Brutalität hinter einem lügnerischen, kranken Idealismus
-zu verstecken, der die tierischen Instinkte nicht vernichtet,
-sondern sie vergöttlicht. Er idealisiert sie, um sie
-später zu rechtfertigen, und da er dies nicht vermag, ohne
-sie künstlich auf das Äußerste zu vereinfachen (dies ist ein
-Gesetz seiner geistigen Natur, die, um zu verstehen, ebensoviel
-zerstört als sie aufnimmt), so nimmt er ihnen, indem er
-sie nach einer einzigen Richtung hin verstärkt, ihre wahre
-Natur. Alles, was sich dann von dieser vorgeschriebenen
-Linie entfernt, was die enge Logik seiner geistigen Konstruktion
-stört, das leugnet er nicht bloß, sondern schafft
-es einfach zur Seite und befiehlt seine Vernichtung im
-Namen der geheiligten Prinzipien. So richtet er in der
-lebendigen Unendlichkeit der Natur riesige Verwüstungen
-an, damit nur einzig jene Gedanken stehen bleiben, die er
-sich ausgewählt hat und die sich dann in der Wüste und
-zwischen den Ruinen grauenhaft groß und einsam entwickeln,
-wie zum Beispiel die bedrückende Macht der despotischen
-Begriffsformen der Familie, des Vaterlandes und der
-beschränkten, blinden, tyrannischen Moral, die man in deren
-Dienst stellte. Der Unglückliche ist dann noch darauf stolz,
-obwohl er doch ihr Opfer ist. Längst würde es die Menschheit
-nicht mehr wagen, zuzugeben, daß sie sich für ihren
-bloßen Vorteil hinschlachtet. Ihres Vorteils, ihrer Geschäfte,
-ihrer Interessen rühmen sie sich längst nicht mehr,
-sie rühmen sich nur ihrer Ideen, die tausendmal mörderischer
-sind. Denn der Mensch sieht in den Ideen, für
-die er kämpft, seine menschliche Überlegenheit. Ich sehe seine
-Narrheit darin. Der kriegerische Idealismus ist eine Krankheit,
-die ihm allein vorbehalten ist, und seine Resultate sind
-denen des Alkoholismus ähnlich. Er schafft Einlaß für
-tausendmal so viel Schlechtigkeit und Verbrechen, halluziniert
-das geschwächte Denken mit Wahnbildern, denen er
-dann die Lebendigen aufopfert.</p>
-
-<p>Welch ein tolles Schauspiel, wenn man sich in die Menschenschädel
-hinein versetzt denkt! Eine wilde Jagd von Gespenstern,
-die aus fiebernden Gehirnen aufsteigen: Gerechtigkeit,
-Freiheit, Recht und Vaterland... Und alle diese
-armen Gehirne sind gleich aufrichtig und klagen alle anderen
-an, es nicht zu sein. Und von diesem phantastischen
-Kampf zwischen mythischen Schatten sieht man von außen
-nichts als die Zuckungen und die Schreie der menschlichen
-Wesen, die von diesen Dämonenscharen besessen sind....
-Und unter diesen blitzgeladenen Wolken, wo diese großen
-wütenden Vögel kämpfen, wimmeln und schieben sich die
-Wirklichkeitsmenschen, die Geschäftsleute, wie Ungeziefer in
-einem Pelz — offene Mäuler, gierige Hände — und hetzen
-heimtückisch zu dem Wahn, den sie ausbeuten, ohne ihn
-zu teilen.</p>
-
-<p>O Gedanke, du furchtbare und schöne Blume, die aus dem
-Erdreich jahrhundertealter Instinkte aufwächst, welch ein
-Element bist du! Du dringst in den Menschen ein, du
-durchdringst ihn, aber du stammst nicht aus ihm, dein Ursprung
-ist ihm fremd und deine Kraft geht über ihn hinaus.
-Die Sinne des Menschen sind ihrem täglichen Gebrauch
-so ziemlich angepaßt, der Gedanke aber ist es nicht,
-er strömt über den Menschen hinaus. Er bringt ihn zur
-Verzweiflung. Eine unendlich kleine Zahl von Menschen
-vermag es, in diesem Strom ihre eigene Richtung beizubehalten,
-die große Masse aber wird ins Zufällige hingeschwemmt.
-Die ungeheure Kraft des Gedankens steht
-nicht im Dienst des Menschen; er versucht bloß, sich seiner
-zu bedienen, und die größte Gefahr ist, daß er vermeint,
-er sei sein Herr. In Wirklichkeit ist er wie ein Kind, das
-mit Explosivkörpern spielt. Es ist ein Mißverhältnis zwischen
-diesen gewaltigen Sprengmitteln und dem Zweck, für
-den sie die schwachen Hände des Menschen verwerten. Und
-manchmal sprengen sie eben alles in die Luft...</p>
-
-<p>Wie dieser Gefahr begegnen? Den Gedanken ersticken? Die
-trunkenen Ideen ausroden? Das hieße, den Menschengeist
-entmannen, ihn des stärksten Anreizes zum Leben berauben.
-Und doch ist der Alkohol des Gedankens ein um so
-gefährlicheres Gift, als es den Massen meist in gefälschten
-Drogen eingegeben wird.... Mensch, werde nüchtern!
-Schau um dich, reiße dich los von den fremden Ideen,
-werde unabhängig von deinen eigenen Gedanken. Lerne
-den Riesenkampf dieser rasenden Phantome, die sich untereinander
-zerreißen, beherrschen. Vaterland, Recht, Freiheit,
-ihr großen Göttinnen, wir wollen euch vor allem eures
-Nimbusses entkleiden. Steigt nieder aus dem Olymp, kommt
-herab in eine Krippe wie Jesus, ohne Schmuck und ohne
-Waffen, reich nur durch eure Schönheit und unsere Liebe!...
-Ich kenne keine Götter namens Gerechtigkeit und Freiheit!
-Ich kenne nur meine Menschenbrüder und ihre Taten, die
-bald gerecht, bald ungerecht sind. Und ich kenne die Völker,
-die alle der wahren Freiheit beraubt sind, die alle sich nach
-der Freiheit sehnen und die doch alle sich mehr oder minder
-unterdrücken lassen.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>er Anblick dieser Welt inmitten ihres hitzigen Fiebers
-hätte einem Weisen das Verlangen eingeflößt, sich in
-irgendeinen Winkel zurückzuziehen und den Anfall vorübergehen
-zu lassen. Aber Clerambault war kein Weiser. Er
-wußte nur, daß er es nicht war. Er wußte, daß Sprechen
-nutzlos sei, und wußte doch zugleich, daß man sprechen müsse,
-wußte, daß er sprechen werde. Er trachtete nur, so lange als
-möglich den gefährlichen Augenblick zu verzögern, und seine
-Ängstlichkeit, die es sich noch nicht ausdenken konnte, allein
-im Kampfe gegen alle zu stehen, suchte rings um sich einen
-Gedankengefährten. Wäre man nur zu zweit oder dritt, so
-wäre es doch schon weniger hart, den Kampf zu beginnen.</p>
-
-<p>Die ersten, deren Sympathie er vorsichtig zu suchen begann,
-waren arme Menschen, die, wie er, einen Sohn verloren
-hatten. Der Vater, ein bekannter Maler, hatte ein Atelier
-in der Rue Notre-Dame des Champs. Seit Jahren waren
-die Omer-Calvilles den Clerambaults liebe Nachbarn, ein
-gutes altes Ehepaar, sehr bürgerlich und sehr zärtlich vereint.
-Sie hatten jene Milde des Denkens, wie sie einer ganzen
-Reihe von Künstlern jener Zeit gemeinsam war, die
-Carrière nahegestanden und von der Lehre Tolstois von
-fern berührt worden waren. Ihre Schlichtheit, obwohl ein
-wenig künstlich, kam doch aus einer natürlichen Gutmütigkeit:
-die Tagesmode hatte sie nur ein wenig zu sehr unterstrichen.
-Niemand ist unfähiger, die Leidenschaften des
-Krieges zu verstehen, als Künstler dieser Art, die aufrichtig
-die religiöse Hochachtung vor allem Lebendigen zu ihrem
-Bekenntnis gemacht haben. Selbst in den ersten Kriegsmonaten
-hatten sich die Calvilles außerhalb der leidenschaftlichen
-Strömung gehalten, sie protestierten nicht dagegen,
-sie nahmen sie traurig, würdig hin, wie man eben
-Krankheit, Tod und die Schlechtigkeit der Menschheit hinnimmt.
-Die glühenden Gedichte Clerambaults, die er
-ihnen vorlas, hatten sie höflich angehört, doch sie fanden
-kein Echo bei ihnen... Aber seltsam, in der gleichen Stunde,
-wo Clerambault, ernüchtert vom kriegerischen Wahn, daran
-dachte, sich mit ihnen zu vereinen, entfernten sie sich von
-ihm, denn nun rückten sie an jene Stelle, die er eben verlassen
-hatte. Der Tod ihres Kindes hatte auf sie gerade
-die gegenteilige Wirkung von jener, die Clerambault verwandelt
-hatte: jetzt traten sie linkisch in den Kampf, gleichsam,
-um den Verlorenen zu ersetzen; Clerambault fand sie
-mitten in ihrem Elend, ganz beglückt durch die Nachricht,
-Amerika sei bereit, den Krieg zwanzig Jahre lang zu führen.
-Er versuchte zu sagen:</p>
-
-<p>„Was bleibt denn noch in zwanzig Jahren von Frankreich,
-von Europa übrig?“</p>
-
-<p>Aber mit einer hastigen Erregung schoben jene diesen Gedanken
-sofort zur Seite. Es schien, als sei es ihnen unbequem,
-daran zu denken oder davon zu sprechen. Jetzt
-handelte es sich einzig darum, zu siegen. Um welchen Preis?
-Das würde man nachher berechnen. — Siegen! — Wenn
-es dann in Frankreich keine Sieger mehr gäbe? Gleichgültig!
-Wenn nur die anderen, die da drüben, besiegt
-würden. Nein, das Blut ihres toten Kindes durfte nicht
-vergebens vergossen sein!</p>
-
-<p>Und Clerambault dachte:</p>
-
-<p>„Ist es nötig, daß zur Rache für ihn noch andere unschuldige
-Opfer hingeschlachtet werden?“</p>
-
-<p>Und im Grunde dieser Seelen, dieser sonst wirklich guten
-Menschen las er:</p>
-
-<p>„Warum denn nicht?“</p>
-
-<p>Und er las es bei allen jenen, die wie die Calvilles im
-Kriege das Teuerste verloren hatten, einen Sohn, einen
-Gatten, einen Bruder:</p>
-
-<p>„Mögen die anderen auch leiden! Wir haben auch gelitten!
-Wir haben nichts mehr zu verlieren.“</p>
-
-<p>Wirklich nichts mehr? Doch! Eine einzige Sache, die der
-eifersüchtige Egoismus verbarg: ihren Glauben an den
-Nutzen ihres Opfers. Und diesen Glauben wollten sie sich
-nicht erschüttern lassen, um keinen Preis. Sie verboten es sich,
-daran zu zweifeln, daß es eine heilige Sache sei, für die ihre
-Toten gefallen waren. Und das wußten die Herren des
-Krieges wohl und verstanden es auf das beste, dieses Lockmittel
-auszunützen! — Nein, in diesen Trauerhäusern war kein
-Raum für den Zweifel Clerambaults und für sein Mitleid!</p>
-
-<p>„Wer hat Mitleid mit uns gehabt?“ dachten diese Unglücklichen.
-„Und warum sollen dann wir welches haben?“</p>
-
-<p>Es gab unter ihnen einige, die weniger hart getroffen waren.
-Aber was alle diese Leute der Bourgeoisie charakterisierte,
-war die Hypnose der großen Worte der Vergangenheit,
-unter der sie lebten, „der Wohlfahrtsausschuß... das
-Vaterland in Gefahr... Plutarchs Biographien... der
-alte Horaz“. Es war für sie unmöglich, die Gegenwart mit
-den Augen von heute zu sehen. Aber hatten sie denn überhaupt
-noch Augen, um zu sehen? Wieviele innerhalb der
-Bürgerwelt unserer Tage haben denn außerhalb des engen
-Kreises ihrer Geschäfte in den letzten dreißig Jahren die
-Kraft und den Willen gehabt, aus Eigenem denken zu
-wollen? Das fiel ihnen nicht einmal im Traume ein. So
-wie ihr Essen, servierte man ihnen ihre Gedanken fertig und
-gar gekocht und sogar noch bedeutend billiger. Für ein Geringes
-fanden sie sie täglich in der Zeitung. Die Begabteren,
-die sie in den Büchern suchten, gaben sich nicht die nötige
-Mühe, sie im Leben zu suchen, und behaupteten, daß
-sich das Leben in den Büchern spiegle. Wie bei Greisen
-verkalkten ihre Gliedmaßen, versteinerte ihr Geist.</p>
-
-<p>In der breiten Herde dieser Wiederkäuerseelen, die ihr Futter
-von den Weiden der Vergangenheit nahmen, zeichneten sich
-damals besonders die Gruppen der strenggläubigen französischen
-Revolutionäre aus. Zur Zeit des 16. Mai und
-lange nachher noch, hatten sie als Brandstifter in der immer
-rückständigen Bourgeoisie gegolten. Nun aber, als gesetzte
-und wohlbestallte Fünfzigjährige, erinnerten sie sich mit
-Stolz, wie Erwachsene eben auf ihre Jungenstreiche stolz
-sind, an das Entsetzen, das ihre einstige, längst vergangene
-Kühnheit verursacht hatte. Vor ihrem eigenen Spiegel hatten
-sie sich nicht verändert, aber die Welt um sie war eine andere
-geworden, ohne daß sie dessen gewahr wurden, denn sie
-blickten ja immer nur auf die abgelebten Modelle, deren Gedanken
-sie nachbeteten. Es gibt einen merkwürdigen Nachahmungsinstinkt,
-ein Knechtschaftsbedürfnis des Denkens,
-das von einem losgelösten Stück Weltgeschichte nicht mehr
-loskommt. Statt Proteus, das ewige wandelhafte Leben, in
-seinem Fortgange zu verfolgen, rafft es die alte Haut auf,
-aus der die junge Schlange längst ausgebrochen ist, und
-versucht sie wieder darin einzunähen. Diese fanatischen
-Pedanten verblichener Revolutionen behaupten, daß alle
-zukünftigen Umwälzungen notwendig nach dem Modell der
-alten, toten Formen zurechtgeschnitten werden müssen, und
-vor allem dulden sie nicht, daß irgendeine neue Freiheit
-ein anderes Tempo einschlage und die Grenzen überschreite,
-an denen jene großmütterliche von 1793 erschöpft haltgemacht
-hatte. Ihr Zorn richtet sich darum weit mehr gegen
-die Respektlosigkeit der Jugend, die über sie hinaus will,
-als gegen das Gekläff der Greise, über die sie selbst hinausgekommen
-sind. Und das hat seinen guten Grund, denn
-an der Existenz dieser Jungen erkennen sie, daß sie selbst
-alt geworden sind. Und darum kläffen sie gegen sie.</p>
-
-<p>In diesen Dingen wird sich nichts ändern. Ganz selten nur
-gestatten einige seltene Geister, wenn sie altern, dem Leben,
-daß es über sie hinaus seinen Lauf weiter nehme, und genießen
-großmütig, wenn ihre eigenen Augen erlöschen, die
-Zukunft mit den Augen ihrer Nachfolger. Aber die meisten
-von jenen, die als Junge die Freiheit geliebt hatten, wollen
-aus ihr einen Käfig für die neue Brut machen, sobald sie
-selber nicht mehr fliegen können.</p>
-
-<p>Der Internationalismus von heute fand keine erbitterteren
-Gegner als jene Diener des national-revolutionären Kultes
-im Sinne Dantons oder Robespierres. Sie selber verstanden
-sich nicht untereinander, die Anhänger Dantons
-und Robespierres, zwischen denen sich noch immer der Schatten
-der Guillotine aufrichtet, sie beschimpften sich gegenseitig
-drohend als Ketzer. Aber in einem waren sie ganz
-einig: alle jene der äußersten Bestrafung zuzuführen, die
-nicht glauben wollten, daß man die Freiheit mit Kanonenmündungen
-verbreiten kann, die jede Gewalt gleicherweise
-verwarfen, ob sie nun von Cäsar oder von Demos und seinen
-Lederzurichtern kam, gleichgültig, ob sie im Namen des
-„alten Gottes“ gepredigt wurde oder des „jungen“, der
-Freiheit und des Rechts. Die Masken ändern sich, aber
-das blutige Maul unter der Maske bleibt immer dasselbe.</p>
-
-<p>Clerambault kannte eine ganze Reihe solcher Fanatiker,
-aber es war ebenso wenig möglich, sich mit ihnen darüber
-auszusprechen, ob sich das Gerade und das Krumme nicht
-vielleicht doch auf beiden Seiten fände, wie für einen Manichäer,
-mit der heiligen Inquisition zu streiten. Auch die
-sozialen, die bürgerlichen Religionen haben ihre großen
-Seminare und geheimen Gesellschaften, in denen das Beweismaterial
-der Lehre sorgfältig aufgestapelt wird. Wer
-sich davon ausschließt, wird exkommuniziert, so lange wenigstens,
-bis er selbst der Vergangenheit angehört. Dann
-winkt ihm die Möglichkeit, selbst vergöttlicht und zur Exkommunizierung
-Späterer mißbraucht zu werden.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>A</span>ber wenn Clerambault sich nicht versucht fühlte, diese
-harten Intellektuellen, die hinter ihrer engen Wahrheit
-verschanzt waren, zu einer Änderung ihrer Gesinnung zu
-bewegen, so kannte er doch andere, die diesen Sicherheitsdünkel
-durchaus nicht hatten. Ganz im Gegenteil: Ihr
-Fehler war wiederum allzu große Wandlungsfähigkeit und
-dilettantische Nachgiebigkeit. Arsène Asselin war einer dieser
-Art, ein liebenswürdiger Pariser Junggeselle aus der
-guten Gesellschaft, klug und skeptisch zugleich. Jeder Verstoß
-im Geschmack oder im Ausdruck beleidigte sein Empfinden.
-Wie hätte ihm also diese Übertriebenheit des Denkens
-gefallen sollen, diese Treibhaushitze, in der der Krieg
-hochgezüchtet wurde. Seine kritische Vernunft, seine Ironie
-mußten dem Zweifel geneigt sein. So gab es also keinen
-rechten Grund, daß er die Ansichten Clerambaults nicht teilen
-sollte.... Und wirklich, im Anfang hatte nur ein Haar
-gefehlt, daß er so dachte wie Clerambault, seine Entscheidung
-war nur ganz zufällig anders gefallen. Aber sobald
-er einmal den Fuß in die eine Richtung gesetzt hatte, schien
-es ihm unmöglich umzukehren, und je mehr er hineintrieb,
-um so trotziger wurde er. Die französische Eigenliebe
-wird nie einen Irrtum eingestehen, sondern eher sich für ihn
-töten lassen. Aber überhaupt, Franzose oder nicht, wie viele
-Menschen gibt es denn in der Welt, die den Mut haben zu
-sagen:</p>
-
-<p>„Ich habe mich getäuscht, jetzt heißt es von vorn anfangen.“
-Nein, lieber die Tatsachen leugnen... Bis ans Ende durch!...
-Und krepieren.</p>
-
-<p>In einem anderen Sinn merkwürdig war Alexander Mignon,
-ein Vorkriegspazifist, ein alter Freund Clerambaults,
-ungefähr im gleichen Alter mit ihm, Bourgeois, Intellektueller
-und Hochschullehrer, von würdiger Haltung, die
-mit Recht Respekt einflößte. Man durfte ihn nicht verwechseln
-mit jenen ordensgeschmückten Bankettpazifisten,
-die Dekorationen aus allen Ländern haben und denen der
-Schwatz vom Frieden in windstillen Jahren ein sorgloses
-Dasein sichert. Mignon hatte durch dreißig Jahre aufrecht
-die gefährlichen Quertreibereien der Politiker und die verdächtigen
-Spekulanten seines Landes bekämpft, er gehörte
-der Liga der Menschenrechte an und hatte das unwiderstehliche
-Gelüst, für jeden, der da kam und im Unglück war,
-eilig das Wort zu nehmen. Ihm genügte es schon, wenn
-einer sich unterdrückt nannte, er fragte sich nie, ob der sogenannte
-Unterdrückte nicht bloß einer war, dem bisher nur
-die Gelegenheit gefehlt hatte, selbst zu unterdrücken. Seine
-unruhige Gutmütigkeit hatte ihn bei aller Hochachtung
-ein wenig lächerlich gemacht, und er war darüber nicht
-böse. Sogar ein wenig Unpopularität hätte ihn durchaus
-nicht erschreckt, vorausgesetzt freilich, daß er sich von
-seiner Gruppe gedeckt fühlte, deren warme Zustimmung
-ihm aber unbedingt nötig war. Er war durchaus kein Unabhängiger,
-wie er glaubte, sondern nur das Mitglied einer
-Gruppe, die sich so lange unabhängig fühlte, als alle ihre
-Mitglieder zusammenhielten. Die Gemeinschaft macht
-die Kraft, sagt man, das ist wahr. Aber sie gewöhnt einen
-auch daran, der Gemeinschaft nicht mehr entbehren
-zu können. Und das mußte Alexander Mignon an sich
-erfahren.</p>
-
-<p>Der Hingang Jaurès’ hatte die ganze Gruppe in Verwirrung
-gebracht. Sobald die eine Stimme fehlte, die immer
-als erste das Wort nahm, verstummten auch alle anderen,
-denn sie warteten auf das Stichwort, und keiner wagte es zu
-geben. Unsicher im Augenblick, wo der Sturm einbrach,
-wurden diese hochherzigen und schwachen Menschen durch
-den Wirbel der ersten Tage mitgerissen. Sie verstanden
-die Begeisterung nicht, sie rechtfertigten sie nicht, aber sie
-hatten ihr nichts entgegenzustellen. Schon die erste Stunde
-riß einige Lücken in ihre Reihen, es zeigten sich Desertionen,
-die verschuldet waren durch die schrecklichen Redner, die den
-Staat beherrschten, durch jene demagogischen Advokaten,
-die mit allen Sophismen der republikanischen Ideologie
-geschmiert waren, „Krieg für den Frieden“, „der Weltfriede
-als Ziel“ (<span class='it'>requiescat!</span>), und diese armen Pazifisten sahen
-in diesen Verdrehungen eine einzige Gelegenheit — allerdings
-keine rühmliche, keine, auf die sie sehr stolz waren —
-aus der Sackgasse zu kommen. Sie redeten sich ein, durch
-einen kleinen Kunstgriff, dessen verbrecherische Größe sie
-nicht merkten, ihre Friedensideen mit der Tatsache der
-Gewalt glücklich in Einklang gebracht zu haben. Widerstand
-hätte bedeutet, sich den Kriegsbestien auszuliefern, die sie
-mitleidslos zerrissen hätten.</p>
-
-<p>Alexander Mignon hätte wohl den Mut gehabt, diesen blutigen
-Mäulern entgegenzutreten, hätte er nur seine kleine
-Gemeinschaft um sich gesehen. Aber allein zu kämpfen, das
-war über seine Kraft. Ohne sich zuerst offen auszusprechen,
-ließ er doch alles geschehen. Er litt, er war verstört und
-machte eine ähnliche geistige Krise durch wie Clerambault,
-aber er konnte sich nicht wie Clerambault ihr entringen. Er
-war weniger leidenschaftlich, aber intellektueller; um seine
-letzten Bedenken wegzutilgen, umkleidete er sich mit einem
-Netz logischer Vernunftgründe. Mit Hilfe seiner Kameraden
-bewies er mühselig nach der Methode <span class='it'>a + b</span>, daß der
-Krieg eine Pflicht für den zielbewußten Pazifismus sei.
-Seine Liga hatte leichte Arbeit, die verbrecherischen Akte des
-Feindes aufzudecken; freilich verlor sie keine Zeit damit,
-auf jene im eigenen Lager hinzuweisen. In manchen Augenblicken
-sah Alexander Mignon deutlich die Unaufrichtigkeit
-auf allen Seiten. Unerträglicher Anblick ..... er schloß
-rasch seine Läden....</p>
-
-<p>Und je blinder er sich in seine Kriegslogik verstrickte, um
-so schwerer war es für ihn, sich daraus zu befreien. So
-verbrannte er seine Schiffe hinter sich, eins nach dem andern.
-Er wurde böse wie ein Kind, das durch einen unbedachten
-Akt ungeschickter Nervosität einem Insekt den Flügel ausgerissen
-hat. Das Insekt ist nun verloren, und das Kind,
-beschämt über seine Handlung, rächt sein Leid und seine
-Scham an dem Tier, das es nun ganz in Stücke reißt.</p>
-
-<p>So war es leicht vorauszusehen, mit welcher Freude er Clerambault
-sein „<span class='it'>mea culpa</span>“ vortragen hörte. Die Wirkung
-war überraschend. Mignon, innerlich ganz unsicher, wurde
-wütend gegen Clerambault, denn Clerambault schien ihn
-anzuklagen, indem er sich beschuldigte. Von dieser Stunde
-an wurde er sein erbitterter Feind, und keiner bekämpfte
-später gehässiger als Mignon dieses sein lebendiges schlechtes
-Gewissen.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault hätte mehr Verständnis bei einigen Politikern
-finden können, denn die wußten von diesen Dingen
-ebensoviel, wie er selbst wußte, und sogar noch einiges mehr,
-aber das störte durchaus nicht ihren guten Schlaf. Seit
-ihrem ersten Sündenfall praktizierten sie munter die Technik
-der <span class='it'>combinazioni</span>, der Gedankenschwindeleien, sie gaben
-sich mit Recht der Täuschung hin, ihrer Partei zu dienen auf
-Kosten von ein paar Kompromissen. Eins weniger, eins
-mehr, was macht das aus?... Geradeaus zu gehen, geradeaus
-zu denken, war das einzig Unmögliche für diese Mollusken,
-die immer krumme Wege nahmen, sich schlangenhaft
-vorwärtsschoben, gleichsam nach rückwärts vorrückten,
-die, um den Triumph ihres Banners sicher zu machen, es
-durch den Schmutz schleiften und bäuchlings zum Kapitol
-emporgerutscht wären.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>S</span>chließlich gab es auch da und dort unterirdisch einige
-Klarblickende. Aber sie waren mehr zu ahnen als zu
-sehen. Diese melancholischen Glühwürmchen löschten vorsichtig
-ihre Laternen aus, sie hatten Todesangst, daß man
-einen Schimmer wahrnehmen könnte. Zwar waren sie frei
-von dem Wahn des Krieges, aber sie waren nicht gläubig
-genug zur Tat wider den Krieg, sie blieben bloß Fatalisten
-und Pessimisten.</p>
-
-<p>Clerambault erkannte, daß auch die höchsten Fähigkeiten des
-Herzens und des Geistes nur die öffentliche Knechtschaft
-verstärken, wenn sie nicht mit persönlicher Energie gepaart
-sind. Der Stoizismus, der sich den Gesetzen des Weltalls
-unterwirft, ist ein Hemmnis im Kampf gegen die Grausamkeit
-einzelner Gesetze. Statt zum Schicksal zu sagen:
-„Nein, hier ist kein Weg für dich“ (man wird ja sehen, ob
-es doch hindurchgeht), tritt der Stoiker höflich zurück und
-sagt: „Bitte, treten Sie ein!“</p>
-
-<p>Der kultivierte Heroismus, die Neigung für das Übermenschliche,
-für das Unmenschliche, macht die Seele durch die
-Opfer trunken, und je toller sie sind, um so herrlicher
-erscheinen sie. Die Christen von heute, großmütiger als ihr
-Meister, geben <span class='gesp'>alles</span> dem Cäsar hin. Sobald er geruht,
-sie für irgendeinen Anlaß hinzuopfern, erklären sie diesen
-Anlaß schon für heilig. Fromm geben sie der Schande des
-Krieges die Glut ihres Glaubens hin und ihre Körper dem
-Scheiterhaufen. Die duldende, nachgiebige Resignation der
-Völker macht den Rücken krumm und läßt sich die Last aufladen:
-„Mach’ dir nichts draus!“ Zweifellos sind Jahrhunderte
-des Elends über diesen Stein dahingerollt. Aber
-auch der Stein verbraucht sich schließlich und wird Schlamm.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault versuchte mit dem einen oder dem andern
-zu sprechen. Überall aber stieß er auf denselben Mechanismus
-unterirdischen, halb unbewußten Widerstandes. Sie
-waren alle mit dem Willen, nicht zu verstehen, oder eigentlich
-mit einem beharrlichen Gegenwillen ehern umgürtet. Von
-Gegenargumenten wurde ihre Vernunft so wenig berührt,
-wie eine Ente vom Wasser. Im allgemeinen sind die Menschen
-zum Zweck ihrer Bequemlichkeit mit einer ganz unschätzbaren
-Eigenschaft ausgerüstet, sie können sich nämlich
-auf Wunsch blind und taub machen, wenn sie etwas
-nicht sehen oder hören wollen. Und haben sie schon durch
-irgendeinen peinlichen Zufall irgend etwas bemerkt, was
-ihnen lästig ist, so verstehen sie die Kunst, es sofort wieder zu
-vergessen. Wieviele Bürger gab es doch in allen Vaterländern,
-die genau wußten, wie es um die beiderseitige Verantwortlichkeit
-im Kriege stand, die genau die verhängnisvolle
-Rolle ihrer politischen Führer kannten, aber sie
-zogen vor, sich selbst zu betrügen und sich so zu stellen, als
-wüßten sie nichts davon. Schließlich gelang es ihnen sogar,
-das genaue Gegenteil zu glauben.</p>
-
-<p>Wenn nun schon jeder, so rasch er konnte, vor sich selber auswich,
-kann man sich vorstellen, wie hastig sie erst vor jenen
-flohen, die wie Clerambault ihnen behilflich sein wollten,
-sich selber zu erwischen. Um sich davonzumachen, schämten
-sich diese klugen, ernsten und ehrenwerten Männer nicht,
-alle jene kleinen Schliche und unredlichen Kniffe anzuwenden,
-deren sich sonst nur rechthaberische Frauen und Kinder bedienen.
-Aus Angst vor der Diskussion, die sie beunruhigen
-könnte, sprangen sie beim ersten ungeschickten Worte Clerambaults
-auf, rissen es aus dem Zusammenhange, fälschten
-es, wie es ihnen paßte, um sich darüber dann künstlich aufzuregen,
-laut mit aufgerissenen Augen zu schreien, sich entrüstet
-zu stellen und es schließlich wirklich im höchsten Maße zu
-werden. Sie schrien Zetermordio, und wenn man ihnen das
-Gegenteil bewies und sie zur Richtigstellung zwang, sprangen
-sie auf, schlugen die Türen zu: „Jetzt habe ich genug“. Um
-dann zwei Tage oder zehn nachher die breitgeschlagenen
-Themen aufzunehmen, als ob nichts vorgefallen wäre.</p>
-
-<p>Andere wieder, die noch heimtückischer waren, forderten in
-bewußter Absicht die Unvorsichtigkeit Clerambaults heraus,
-sie reizten ihn durch freundliches Entgegenkommen, mehr
-zu sagen, als er eigentlich wollte, um dann plötzlich loszubrechen.
-Die Wohlwollendsten beschuldigten ihn, daß es
-ihm an gesundem Menschenverstand fehlte. („Gesund“ sollte
-natürlich heißen: an „meinem“, an „unserem“.)</p>
-
-<p>Andere wieder waren Schönredner, die vor einem Wortturnier
-keine Angst hatten und gern die Diskussion aufnahmen
-in der Hoffnung, das verirrte Schaf wieder zur
-Herde heim zu führen. Sie diskutierten nicht die Anschauung
-Clerambaults selbst, sondern nur, ob sie zeitgemäß sei,
-und appellierten an seine gute Gesinnung.</p>
-
-<p>„Gewiß, gewiß. Sie haben im Grunde recht, im Grunde
-denke ich ganz so wie Sie, fast so wie Sie. O, ich verstehe
-Sie, lieber Freund... Aber, lieber Freund, seien Sie vorsichtig,
-vermeiden Sie es doch, die Gewissen der Kämpfer
-zu beunruhigen... Schwächen wir doch nicht ihre Kraft.
-Man darf nicht jede Wahrheit aussprechen, wenigstens nicht
-sofort. Die Ihre wird sehr schön sein... in fünfzig Jahren.
-Man darf nicht hastiger sein wollen als die Natur, man
-muß warten..., warten bis die Zeit für sie reif sein wird...“</p>
-
-<p>„Abwarten? Was abwarten? Bis der Appetit der Ausbeuter
-oder die Dummheit der Ausgebeuteten müde geworden
-ist? Können Sie denn nicht verstehen, daß die klaren
-und durchdringenden Gedanken der Besseren, wenn sie zugunsten
-der Blinden und der Denkungsart niedriger Menschen
-auf das Wort verzichten, geradewegs dem Lauf der
-Natur widerstreben, der sie zu dienen vorgeben, daß sie
-gegen den Sinn der Geschichte handeln, unter den sich zu
-beugen sie als ihre eigenste Ehre empfinden? Heißt das die
-Absichten der Natur in Ergebenheit anerkennen, wenn man
-einen Teil, und gerade den besten ihres Sinnes, zum
-Schweigen bringt? Diese Auffassung, die dem Leben seine
-kühnste Kraft entzieht und sie den Leidenschaften der Masse
-unterordnet, würde dahin führen, die Vorhut zu vernichten,
-die große Masse der Armee ohne Führung zu lassen....
-Wenn ein Kahn sich nach einer Seite neigt, wollt ihr mich
-hindern, mich auf die andere zu setzen, um ein Gegengewicht
-zu schaffen? Oder soll sich die ganze Besatzung auf
-die Seite setzen, wo er schon überneigt? Die fortgeschrittenen
-Ideen sind das von der Natur gewollte Gegengewicht
-gegen die schwere Vergangenheit, die ihnen entgegenwirkt.
-Ohne sie geht der Kahn unter. — Wie man diese Ideen aufnimmt,
-das ist für mich nebensächlich. Wer sie ausspricht,
-muß sich darauf gefaßt machen, gesteinigt zu werden, wer
-sie aber nicht ausspricht, macht sich ehrlos. Er ist gleichsam
-ein Soldat, der mit gefährlicher Botschaft während der
-Schlacht ausgesandt wird. Hat er das Recht, sich solchem
-Auftrag zu entziehen?“</p>
-
-<p>Sobald sie sahen, daß ihr Zureden ohne Wirkung auf
-Clerambault blieb, demaskierten sie ihre Batterien und beschuldigten
-ihn erbittert einer lächerlichen und gefährlichen
-Eitelkeit. Sie fragten ihn, ob er sich klüger dünke als alle
-anderen, weil er seine Meinung der der Nation entgegensetze,
-und worauf er denn eigentlich sein ungeheuerliches
-Selbstgefühl stütze. Es sei Pflicht, demütig zu sein, bescheiden
-an seinem Platze inmitten der Gemeinschaft zu verharren,
-sich zu beugen, wo sie gesprochen habe, und — ob
-man sie für nützlich halte oder nicht — sich ihren Befehlen zu
-unterwerfen. Wehe dem Aufrührer gegen die Seele seines
-Volkes! Gegen sie recht behalten wollen, heißt unrecht haben.
-Und das Unrecht wird zum Verbrechen, in der Stunde der
-Tat. Die Republik verlangt, daß ihre Kinder ihr gehorchen.</p>
-
-<p>„Die Republik oder der Tod“, sagte Clerambault ironisch.
-„Schönes Land der Freiheit. Frei! Ja, es ist frei, aber nur
-deshalb, weil es dort immer Seelen wie die meine gegeben
-hat und geben wird, Seelen, die sich weigern, ein Joch zu
-tragen, gegen das sich ihr Gewissen wehrt. Aber welche Nation
-von Tyrannen auch! Wir haben nichts damit gewonnen,
-daß wir die Bastille eroberten. Einst gebot man
-ewige Gefängnishaft, wenn sich einer gestattete, anders zu
-denken als sein Fürst, und fand den Scheiterhaufen ganz
-am Platze für den, der anders dachte als die Kirche. Heute
-muß man genau so denken wie vierzig Millionen Menschen,
-ihnen nachlaufen in ihren leidenschaftlichen Widersprüchen,
-heute brüllen „Nieder mit England!“, dann morgen wieder
-„Nieder mit Deutschland!“, übermorgen vielleicht „Nieder
-mit Italien!“, jede Woche etwas anderes, heute einem
-Mann oder einem Gedanken zujubeln, den man morgen
-wird beschimpfen müssen. Und wenn man sich weigert, so
-setzt man sich der Unehre oder einem Revolverschuß aus.
-Was für eine erbärmliche Knechtschaft, die erbärmlichste
-von allen!... Was für ein Recht haben denn hundert Seelen,
-tausend Seelen oder vierzig Millionen Seelen, von
-mir zu verlangen, daß ich meine Seele verleugne? Jeder
-von Ihnen hat doch wie ich selbst nur eine. Vierzig Millionen
-Seelen zusammen bilden allzu oft nur eine Seele,
-die sich vierzigmillionenmal verleugnet... Ich denke, was
-ich denke, so denkt auch ihr, was ihr denkt!</p>
-
-<p>Die lebendige Wahrheit kann nur aus dem Gleichgewicht
-entgegengesetzter Ideen entstehen. Damit alle Bürger den
-Staat ehren können, tut es not, daß der Staat auch seine
-Bürger ehre. Jeder von Ihnen hat seine Seele und hat
-sein Recht darauf, und seine erste Pflicht ist, sie nicht zu verraten,
-niemals den Zusammenhang mit seinem Gewissen
-zu verlieren.... Ich gebe mich keinem Wahn hin, ich maße
-meinem Gewissen keine übertriebene Bedeutung in einem
-stürzenden Weltall bei. Aber so wenig wir auch sein mögen,
-so wenig wir auch tun mögen, das, was man ist, muß man
-schlicht und stark sein, das, was man tut, schlicht und stark
-tun. Jeder kann sich täuschen, aber ob er sich täuscht oder
-nicht, er muß aufrichtig sein. Ein aufrichtiger Irrtum ist
-keine Lüge, er ist nur ein Schritt auf die Wahrheit zu. Lüge
-ist, vor der Wahrheit Angst haben und sie ersticken wollen.
-Wenn ihr tausendmal recht habt gegen einen aufrichtigen
-Irrtum — im Augenblick, wo ihr zur Gewalt greift, um
-ihn zu vernichten, begeht ihr das niedrigste Verbrechen
-gegen die Vernunft selbst. Wo die Vernunft verfolgt und
-der Irrtum verfolgt wird, bin ich für den Verfolgten, denn
-der Irrtum ist ebenso ein Recht wie die Wahrheit... Wahrheit?
-Wahrheit?... Wahrheit ist das ewige Suchen
-nach der Wahrheit. Achtet die Anstrengungen jener, die
-sich mühen, sie zu finden. Wenn man einen Menschen, der
-sich mühsam auf einem anderen Wege durchringt, verfolgt,
-weil er eine für den menschlichen Fortschritt weniger unmenschliche
-Bahn finden will — und sie vielleicht niemals
-findet —, so macht man aus ihm einen Märtyrer. Ihr sagt,
-euer Weg sei der bessere, der einzig gute? So geht ihn doch
-und laßt mich den meinen gehen! Ich zwinge euch ja nicht,
-mir zu folgen. Was regt ihr euch so auf? Habt ihr am Ende
-Angst, ich könnte recht haben?“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault beschloß, noch einmal Perrotin aufzusuchen.
-Trotz des Gefühls traurigen Mitleids, das jene letzte
-Begegnung in ihm hervorgerufen hatte, verstand er nun
-Perrotins ironische und kluge Haltung gegenüber der Welt
-besser. Und so sehr auch seine Achtung für den Charakter des
-alten Gelehrten nachgelassen hatte, seine Bewunderung für
-die hohe geistige Kraft desselben blieb doch unversehrt:
-noch immer betrachtete er ihn als einen Führer, der ihm
-helfen könnte, sich selbst zu erleuchten.</p>
-
-<p>Man kann sich leicht denken, daß Perrotin sich nicht übermäßig
-entzückt zeigte, Clerambault wiederzusehen. Er war doch
-zu fein veranlagt, um nicht eine unangenehme Erinnerung
-an die kleine Feigheit bewahrt zu haben, die er damals nicht
-nur begangen (denn daraus machte er sich längst nichts
-mehr, daran war er zu gewöhnt), sondern die er stillschweigend
-vor dem Blicke eines makellosen Zeugen hatte bekennen
-müssen. Er sah eine Auseinandersetzung voraus, und
-Auseinandersetzungen mit Menschen von feststehender
-Überzeugung waren ihm ein Greuel. (Es gibt ja dann
-gar kein Amusement mehr, solche Leute nehmen alles
-ganz ernst.) Aber als höflicher, eigentlich gutmütiger und
-schwacher Mensch war er unfähig sich zu wehren, wenn
-man ihn geradeaus anpackte. Er versuchte zuerst, alle ernsten
-Gespräche auszuschalten. Als er aber merkte, daß Clerambault
-wirklich seiner bedurfte, und er ihn vielleicht von
-irgendeiner Unbedachtheit zurückhalten könnte, entschloß er
-sich mit einem Seufzer, ihm seinen Vormittag zu opfern.</p>
-
-<p>Clerambault entwickelte ihm das Resultat seiner Bemühungen.
-Er war nun vollkommen klar darüber, daß die gegenwärtige
-Welt sich einem andern Ideal als dem seinen unterwarf.
-Er selbst hatte ja früher gleichfalls dies Ideal geteilt,
-ihm gedient und es gefeiert, und noch heute war er gerecht
-genug, ihm eine gewisse Schönheit zuzuerkennen. Bei den
-letzten Prüfungen war er aber auch des Sinnlosen und Widrigen
-dieses Ideals bewußt geworden und er fühlte, da er
-sich von ihm losgelöst hatte, sich nun genötigt, sich zu einem
-andern zu bekennen, das verhängnisvollerweise ihn mit dem
-früheren in Konflikt brachte. In kurzen und leidenschaftlichen
-Ausdrücken entwickelte Clerambault dieses neue Ideal und
-bat Perrotin, ihm klar und offen mit Hintansetzung jeder
-Höflichkeit und jeder Schonung zu sagen, ob er es richtig
-fände oder falsch. Perrotin nun, betroffen von Clerambaults
-tragischem Ernst, änderte sofort seinen Ton und
-stimmte ihm zu.</p>
-
-<p>„Habe ich also unrecht?“ fragte Clerambault ganz voll
-Angst, „ich sehe gut, daß ich allein bin, aber ich kann nicht
-anders. Sagen Sie also, ohne mich zu schonen: ist es ein
-Unrecht von mir, daß ich das denke, was ich denke?“</p>
-
-<p>Perrotin antwortete mit Ernst:</p>
-
-<p>„Nein, mein Freund, Sie haben vollkommen recht.“</p>
-
-<p>„Also ist es meine Pflicht, den mörderischen Irrtum der
-andern zu bekämpfen?“</p>
-
-<p>„Das ist wieder eine andere Sache.“</p>
-
-<p>„Habe ich also die Wahrheit nur dazu, um sie zu verraten?“</p>
-
-<p>„Die Wahrheit, mein Freund... (nein, sehen Sie mich nicht
-so an!) Sie glauben jetzt, daß ich so wie jener andere sagen
-werde: „Was ist Wahrheit?“ Nein.... Ich liebe sie ebenso
-wie Sie und vielleicht länger als Sie.... Aber die Wahrheit,
-mein Freund, ist höher, weiter als Sie, als wir, als
-alle, die jemals lebten, leben und leben werden.... Immer
-wenn wir meinen, dieser großen Göttin zu dienen, dienen
-wir nur den <span class='it'>Di minores</span>, den Heiligen der Seitenkapellen,
-die von der großen Masse abwechselnd vergöttert und verlassen
-werden. Gewiß kann das nicht unsere, nicht Ihre
-und nicht meine Wahrheit sein, zu deren Ehre sich die heutige
-Welt mit korybantischer Leidenschaft hinschlachtet und verstümmelt.
-Das Ideal des Vaterlandes ist das eines großen
-grausamen Gottes, das der Zukunft im mythischen Bilde
-eines Chronos als Schreckgespenst, oder seines olympischen
-Sohnes, den Christus entthronte, erscheinen wird. Ihr
-Menschheitsideal ist auf einer höheren Stufe und kündigt
-einen neuen Gott an. Aber auch dieser Gott wird später von
-einem anderen entthront werden, der noch höher steht und
-noch mehr vom Weltall umfängt. Das Ideal wie das Leben
-hören nicht auf, sich zu entwickeln, und dieses unablässige
-Werden ist für einen freien Geist der wirkliche Inhalt der
-Welt. — Aber wenn es auch dem Geist gegeben ist, die
-Stufen dieser Entwicklung ungestraft im Fluge zu überspringen,
-so kommt man doch in dieser Welt der Tatsachen
-nur Schritt für Schritt vorwärts. In einem ganzen Leben
-dringt man vielleicht nur um ein paar Zoll vor.</p>
-
-<p>Die Menschheit hat lahme Beine und Ihr ganzes Unrecht,
-Ihr einziges Unrecht ist, daß Sie ihr voraus sind um einen
-oder mehrere Tagemärsche. Aber gerade dieses Unrecht verzeiht
-man einem Menschen am wenigsten.... Und das geschieht
-vielleicht nicht ohne Grund. Denn wenn ein Ideal,
-wie jetzt jenes des Vaterlandes, gleichzeitig mit der Gesellschaftsform,
-von der es getragen wird, altert, so wird
-es bösartig und speit sein gefährlichstes Feuer aus. Der
-kleinste Zweifel an seiner Berechtigung macht es toll, denn
-der Zweifel steckt schon in ihm selbst. Täuschen wir uns nicht
-darüber: Die Millionen Menschen, die sich heute im Namen
-des Vaterlandes hinschlachten lassen, haben nicht mehr das
-junge gläubige Vertrauen von 1792 oder 1813, obwohl
-heute viel größere Ruinen und Trümmer aufrufen. Viele
-derer, die sterben, und selbst die, die sich bewußt töten lassen,
-fühlen im tiefsten Grunde ihrer Seele das furchtbare
-Nagen des Zweifels. Aber einmal in die Falle gegangen,
-zu schwach, aus ihr auszubrechen oder sich einen Ausweg
-zu erdenken, verbinden sie sich die Augen und werfen sich
-in den Abgrund, während sie gleichzeitig voll Verzweiflung
-ihren schon erloschenen Glauben bekennen. Aber vor
-allem schleudern sie in der Erbitterung einer uneingestandenen
-Rache diejenigen hinein, die durch ihre Worte oder
-ihre Haltung den Zweifel in ihnen erweckt haben. Denjenigen,
-die für einen Wahn sterben, diesen Wahn nehmen
-wollen, heißt, sie zweimal sterben lassen.“</p>
-
-<p>Clerambault faßte ihn bei der Hand, damit er nicht weiterspräche.
-„O, Sie brauchen mir das nicht zu sagen, was mich
-ohnehin quält! Glauben Sie denn, daß ich nicht selbst die
-Angst fühle, diese Unglücklichen noch mehr zu verwirren?
-Ja, ich möchte den Glauben dieser armen Jungen schonen,
-nicht einen einzigen dieser Armen unglücklich machen, aber,
-mein Gott, was soll ich tun? Helfen Sie mir, aus diesem
-Zwiespalt herauszukommen, ob man das Böse ruhig geschehen
-lassen soll, die andern ruhig sich vernichten lassen,
-oder es wagen, ihnen noch mehr wehe zu tun, sie in ihrem
-Glauben zu verletzen und sich ihrem Haß auszuliefern eben dadurch,
-daß man sie retten will. Welches ist das richtige Gebot?“</p>
-
-<p>„Sich selbst zu retten!“</p>
-
-<p>„Mich selbst retten, heißt mich vernichten, wenn ich etwas
-auf Kosten der andern tue. Wenn wir nichts für sie tun —
-Sie, ich, denn wenn wir uns auch alle verbinden, sind wir
-doch noch immer zu wenige — dann geht Europa, dann
-geht die Welt zugrunde....“</p>
-
-<p>Perrotin, die Ellbogen auf die Lehne gestützt, die Hände
-über seinem Buddhabauch gefaltet und die Daumen drehend,
-sah Clerambault auf das gutmütigste an, hob den
-Kopf und sagte:</p>
-
-<p>„Ihre Menschengüte, Ihre künstlerische Empfindsamkeit täuschen
-Sie glücklicherweise, mein Freund. Die Welt ist noch
-nicht am Ende, die hat schon andere Dinge gesehen und
-wird noch andere sehen. Das, was heute geschieht, ist sicherlich
-sehr schmerzlich, aber keineswegs abnormal. Niemals
-noch hat ein Krieg die Erde gehindert sich weiter zu drehen,
-noch das Leben sich weiter zu entwickeln, ja, er ist sogar
-selbst eine Form dieser Entwicklung. Erlauben Sie einem
-alten, gelehrten Philosophen, Ihrem Heiligen Schmerzensmanne
-die ruhige Inhumanität seines Gedankens
-entgegenzustellen. Vielleicht finden Sie trotz allem sogar
-eine Erleichterung. — Diese Krise, die Sie so erschreckt, dieser
-Wirrwarr ist im Grunde eigentlich nichts als ein Zusammenziehungsphänomen,
-eine kosmische, lärmende, aber
-doch gesetzmäßige Kontraktion, ähnlich jenen Faltungen
-bei der Zusammenziehung der Erdkruste, die ja auch immer
-von zerstörenden Erdbeben begleitet sind. Die Menschheit
-zieht sich zusammen. Und der Krieg ist die eine solche Kontraktion
-begleitende Erschütterung. Gestern waren es noch
-in jeder Nation die Provinzen, die einander bekriegten, vorgestern
-in jeder Provinz die Städte, und heute, da die völkische
-Einheit schon ausgestaltet ist, bereitet sich eine viel umfassendere
-Einheit vor. Es ist natürlich sehr bedauerlich,
-daß diese Entwicklung durch Gewalt geschieht, aber Gewalt
-ist eben das natürliche Mittel in diesem Prozeß. Aus dem
-Explosivgemenge der zusammenstoßenden Elemente wird
-sich ein neuer chemischer Körper entwickeln. Wird es das
-einige Abendland, wird es Europa sein? — ich weiß es
-nicht. Aber sicher wird die neue Zusammensetzung neue
-Eigenschaften haben und viel reichere als die der einzelnen
-zusammensetzenden Elemente. Und dies ist noch nicht
-die letzte Etappe. So schön der gegenwärtige Krieg ist
-(ich bitte Sie um Entschuldigung, ich meine „schön“ im
-Hinblick auf den Geist, für den das Leiden nicht existiert),
-so werden noch schönere, noch großzügigere sich entfalten.
-Diese armen Kinder von Völkern, die sich einbilden, sie
-erbauten schon mit ihrem Kanonendonner den ewigen
-Frieden — sie werden noch warten müssen, bis das ganze
-Weltall durch diese Retorte hindurchgegangen ist. Der
-Krieg der beiden Amerika, der des neuen Kontinents und
-des gelben Kontinents, dann jener des Siegers mit der
-übrigen Erde — das wird uns noch ein paar Jahrhunderte
-zu schaffen machen. Und dabei sehe ich nicht einmal weit
-genug, ahne ich noch nicht einmal alles. Außerdem wird
-natürlich noch jeder dieser Zusammenstöße ausgiebige soziale
-Kriege zur Folge haben. Und erst dann, wenn dies
-alles erledigt ist, vielleicht in zehn Jahrhunderten (obwohl
-ich glaube, daß es vielleicht rascher geschehen könnte, als man
-meint, wenn man die Gegenwart mit der Vergangenheit
-in Vergleich setzt, weil sich im Fall die Geschwindigkeit beschleunigt),
-erst dann werden wir zu einer ein wenig ärmeren
-Synthese gelangen, denn von den Elementen der Zusammensetzung
-werden die besten und die schlechtesten unterwegs
-vernichtet worden sein; die ersten, weil sie zu zart waren,
-um den Unbilden zu widerstehen, die zweiten, weil sie zu
-widersetzlich waren und sich zu stark gegen die Amalgamierung
-wehrten. Dann werden jene sagenhaften Vereinigten
-Staaten der Erde erstehen, und ihr Bündnis wird um so
-dauerhafter sein, je mehr sich dann die Menschheit wahrscheinlich
-von gemeinsamen Gefahren bedroht sehen wird; die
-Marskanäle, die Eintrocknung der Planeten, die Erkaltung
-der Erdkruste, die geheimnisvollen Erkrankungen, die Pendeluhr
-Edgar Poes, die Vision des endgültigen Erlöschens
-der irdischen Geschlechter.... Ach, was für schöne Dinge
-wird es zu betrachten geben. In jenen letzten Ängsten wird
-das Genie der Rasse überreizt sein. Freilich, Freiheit wird’s
-wenig geben. Die menschliche Vielfalt muß gerade im Verschwinden
-notwendig zur Einheit des Gedankens und des
-Willens drängen (eine Richtung, in die sie übrigens auch
-heute schon ganz deutlich zielt); so wird sich ohne plötzliche
-Umkehr das Verschiedene in das Eine wieder zurückverwandeln,
-der Haß in die Liebe des alten Empedokles.“</p>
-
-<p>„Und dann?“</p>
-
-<p>„Dann? Dann wird wahrscheinlich alles nach einem Weltzeitraum
-von neuem anfangen. Ein anderer Kreis, eine
-andere Kalpa. Die Welt wird sich auf einem frisch geschmiedeten
-Rad wieder zu drehen beginnen.“</p>
-
-<p>„Und des Rätsels Lösung?“</p>
-
-<p>„Ein Hindu würde darauf antworten: Schiwa, der Zerstörer
-und der Schaffer, der Schaffer und der Zerstörer.“</p>
-
-<p>„Welch ein entsetzliches Traumbild!“</p>
-
-<p>„Das ist Auffassungssache. Die Weisheit macht einen
-immer frei. Für den Hindu ist Buddha der Befreier, mir
-für meinen Teil hilft schon die Neugierde über alles
-hinweg.“</p>
-
-<p>„Aber nicht mir: ich kann mich nicht bescheiden mit der
-Weisheit des selbstsüchtigen Buddha, der nur sich frei macht
-und die anderen im Stiche läßt. Ich kenne wie Sie die Hindus
-und ich liebe sie. Aber auch bei ihnen hat Buddha nicht
-das letzte Wort der Weisheit gesprochen. Erinnern Sie sich
-an jenen Bodhisattva, den Meister des Mitleids, der den
-Eid geleistet, nicht früher Buddha zu werden, nicht früher
-sich ins Nirwana zurückzuflüchten, ehe er nicht alle Übel geheilt,
-alles Unrecht gesühnt, alle Seelen getröstet hätte.“</p>
-
-<p>Perrotin neigte sich mit einem sanften Lächeln zu Clerambaults
-schmerzlichem Gesicht, streichelte ihm zärtlich die
-Hand und sagte:</p>
-
-<p>„Mein lieber Bodhisattva, was wollen Sie also tun? Wen
-wollen Sie also retten? Was wollen Sie also retten?“</p>
-
-<p>„Ja, ich weiß wohl“, sagte Clerambault und senkte den
-Kopf, „ich weiß wohl, wie wenig ich bin, wie wenig ich vermag.
-Ich kenne die Nichtigkeit meiner Wünsche und meines
-Protestes. Halten Sie mich nicht für eingebildet, aber was
-kann ich dagegen tun, wenn meine Pflicht mir zu sprechen
-gebietet?“</p>
-
-<p>„Ihre Pflicht ist, etwas zu tun, was nützlich und vernünftig
-ist, nicht aber, sich vergeblich zu opfern.“</p>
-
-<p>„Was ist das, was Sie „vergeblich“ nennen? Können Sie
-im vorhinein bei Samenkörnern dasjenige unterscheiden,
-das gedeihen wird, und jenes, das zugrunde geht? Und
-ist dies ein Grund, den Samen nicht auszuwerfen? Welcher
-Fortschritt wäre jemals geschehen, wenn der, in dessen Brust
-das Samenkorn wuchs, zurückgeschreckt wäre vor dem ungeheuren
-Block der gewohnheitsträgen Vergangenheit, der
-ihn zu zerschmettern droht?“</p>
-
-<p>„Ich verstehe, daß der Gelehrte die Wahrheit verteidigt, die
-er gefunden hat. Aber ist diese soziale Betätigung denn
-Ihre Mission? Dichter, bleibe deinen Träumen treu, auf
-daß deine Träume dir treu bleiben.“</p>
-
-<p>„Ich bin zuerst Mensch, und dann erst Dichter. Jeder anständige
-Mensch hat eine Mission.“</p>
-
-<p>„Aber Sie tragen geistige Werte in sich, die zu kostbar sind,
-und es wäre Mord, sie hinzuopfern.“</p>
-
-<p>„Ja, nicht wahr, man soll also nur den kleinen Leuten das
-Opfer überlassen, die nicht viel zu verlieren haben?“</p>
-
-<p>Er schwieg einen Augenblick und sagte dann:</p>
-
-<p>„Perrotin, es ist mir oft in den Sinn gekommen, daß wir
-alle nicht unsere Pflicht tun, wir geistigen Menschen und
-Künstler alle.... Nicht nur heute sondern seit langem schon,
-seit immer. Wir haben bei uns einen Teil Wahrheit und
-Erleuchtung, die wir aus Vorsicht in uns zurückbehalten.
-Mehr als einmal habe ich das mit dunkeln Gewissensbissen
-gefühlt. Aber damals hatte ich noch Angst, in mich hineinzuschauen.
-Erst die Prüfung hat mich sehen gelehrt. Wir
-sind Bevorzugte, wir sind eine privilegierte Klasse, das gibt
-uns auch Pflichten, Pflichten, die wir nicht erfüllen, denn
-wir haben Angst, uns zu kompromittieren. Die Elite des
-Geistes ist eine Aristokratie, die vorgibt, jener des Blutes
-nachzufolgen; aber sie vergißt, daß jene im Anfang die Privilegien
-mit ihrem Blute bezahlte. Seit Jahrhunderten
-hört die Menschheit viele Worte von weisen Männern, aber
-nur selten sieht sie einen dieser Weisen sich hinopfern. Und
-das würde der Welt ganz gut tun, wenn sie hie und da
-einmal einen sehen würde, der sein Leben für seinen Gedanken
-hingibt. Nichts wahrhaft Fruchtbares kann ohne
-das Opfer geschaffen werden. Um die anderen glauben zu
-machen, muß man selbst gläubig sein, muß beweisen, daß
-man gläubig ist. Es genügt nicht das bloße Dasein einer
-Wahrheit, damit der Mensch zu ihr aufblicke, es ist nötig,
-daß dieses Dasein ein lebendiges Leben habe. Und dieses
-Leben können, dieses Leben müssen wir ihr geben — das
-unsere! Sonst sind all unsere Gedanken nur Dilettantenspiele,
-eine Theaterspielerei, die einzig auf Theaterapplaus
-ein Anrecht hat. Nur solche Menschen haben die Menschheit
-vorwärtsgebracht, die ihr eigenes Leben zur Stufe
-machten. Dieses ist es auch, was den Zimmermannssohn
-von Galiläa über alle unsere großen Männer erhoben
-hat. Die Menschheit wußte wohl einen Unterschied zu
-machen zwischen den anderen und dem Heiland.“</p>
-
-<p>„Und der Heiland? Hat er sie gerettet?.... ‚Wenn Gott
-Zebaoth so beschlossen hat, so schaffen die Völker für das
-Feuer.‘ “</p>
-
-<p>„Ihr Feuerkreis ist das letzte Schreckbild. Der Mensch ist
-nur dazu da, um ihn zu zerbrechen, um zu versuchen, sich
-ihm zu entringen, frei zu sein.“</p>
-
-<p>„Frei?“, sagte Perrotin mit seinem ruhigen Lächeln.</p>
-
-<p>„Ja, frei! Freiheit ist das höchste Gut, ein ebenso seltenes, wie
-ihr Name ein abgebrauchter ist, so selten wie das wahre
-Schöne, wie das wahre Gute. Frei nenne ich den, der sich
-von sich selbst, von seinen Leidenschaften, seinen blinden Instinkten,
-von jenen der Umgebung und des Augenblickes
-loslösen kann, zwar nicht um seiner Vernunft zu gehorchen,
-wie man meist sagt (denn die Vernunft in dem Sinne, wie
-Sie sie verstehen, ist ja nur ein anderes Wahnbild, eine
-andere verhärtete, vergeistigte und darum fanatisierte Leidenschaft),
-sondern um zu versuchen, über die Staubwolken
-hinauszusehen, die sich von den Menschenherden auf den
-Straßen der Gegenwart erheben, um zu versuchen, den Horizont
-zu umfassen und alles Geschehen in der Gesamtheit der
-Dinge und der Weltordnung zu begreifen.“</p>
-
-<p>„Und sich dann“, unterbrach ihn Perrotin, „den Weltgesetzen
-zu unterwerfen und anzupassen.“</p>
-
-<p>„Nein“, erwiderte Clerambault, „um sich ihnen mit vollem
-Bewußtsein entgegenzustellen, sobald sie dem Glück und dem
-wahrhaft Guten nachteilig sind. Denn darin besteht ja die
-Freiheit, daß der freie Mensch in sich selbst ein Weltgesetz ist,
-ein bewußtes Gesetz, dessen einzige Aufgabe es ist, das Gegengewicht
-für die zerschmetternde Maschine, für den Automaten
-Spittelers, die eherne Ananke zu bilden. Ich sehe
-das Weltwesen noch zu drei Vierteilen in der Scholle, in der
-Rinde, im Stein gebunden, den unbarmherzigen Gesetzen
-der Materie unterworfen, in die es eingebannt ist. Nur der
-Blick und der Atem sind frei. „Ich hoffe“, sagt der Blick.
-„Ich will“, sagt der Atem. Mit diesen beiden sucht es sich
-loszuringen. Der Blick, der Atem, das sind wir, das ist der
-freie Mensch.“</p>
-
-<p>„Mir genügt der Blick“, sagte sanft Perrotin.</p>
-
-<p>Clerambault erwiderte:</p>
-
-<p>„Habe ich keinen Atem, so gehe ich zugrunde.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>B</span>eim geistigen Menschen bedarf es immer einiger Zeit vom
-Wort bis zur Tat, und selbst wenn er schon zu handeln
-beschlossen hat, findet er noch immer verschiedene Vorwände,
-um die Ausführung auf den nächsten Tag zu verschieben. Er
-sieht zu deutlich alles, was kommen wird, sieht die Kämpfe
-und Mühen voraus, und bezweifelt von vornherein den Erfolg.
-Um sich aber selbst über seine Unruhe hinwegzutäuschen,
-verausgabt er sich in Kraftreden entweder mit sich allein oder
-im engsten Freundeskreise, und verschafft sich so die billige
-Illusion, schon tätig zu sein. Im tiefsten Grunde seines Wesens
-glaubt er jedoch selbst nicht daran, er wartet wie Hamlet
-auf die Gelegenheit, die ihn zur Tat zwingen soll.</p>
-
-<p>So tapfer auch Clerambault in seinem Gespräche mit dem
-nachgiebigen Perrotin gewesen war, fand er doch, kaum
-heimgekehrt, alle seine Bedenken wieder. Seine durch
-das Unglück geschärfte Feinfühligkeit spürte nur zu gut
-die Erregung der Seinen rings um ihn und ließ ihn den
-Zwiespalt vorausahnen, den seine einmal ausgesprochenen
-Worte zwischen seiner Frau und ihm hervorrufen
-würden. Und noch mehr: er fühlte sich der Zustimmung
-seiner Tochter nicht mehr sicher, er hätte nicht sagen können,
-weshalb, aber er fürchtete die Probe zu machen. Für ein
-zärtliches Gemüt wie das seine war schon der Versuch eine
-Qual....</p>
-
-<p>Inzwischen schrieb ihm ein befreundeter Arzt, er hätte in
-seinem Hospital einen Schwerverwundeten, der an der
-Offensive in der Champagne teilgenommen und Maxime
-gekannt hatte. Clerambault eilte sofort hin, um ihn zu
-sehen.</p>
-
-<p>Er fand auf einem Bett einen Mann unbestimmbaren Alters
-auf dem Rücken liegend, unbeweglich ausgestreckt, umschnürt
-wie eine Mumie. Aus den weißen Bandagen starrte
-das magere Gesicht eines Bauern, gegerbt, zerfaltet, mit
-großer Nase und grauem Bart. Der freie rechte Unterarm
-stützte eine massige und entstellte Hand auf die Decke, vom
-Mittelfinger fehlte ein Glied, aber das zählte nicht, das war
-eine Friedenswunde. Unter den buschigen Brauen sahen
-die Augen ruhig und klar: man hätte ein so mildes graues
-Licht in dem verbrannten Antlitz nicht erwartet.</p>
-
-<p>Clerambault trat an ihn heran, erkundigte sich nach seinem
-Zustande, der Mann dankte höflich, aber ohne sich auf Einzelheiten
-einzulassen, gleichsam als ob es nicht nötig wäre,
-von sich zu sprechen.</p>
-
-<p>„Ich danke Ihnen, mein Herr, es geht gut, es geht ganz
-gut.“</p>
-
-<p>Aber Clerambault erneuerte liebevoll seine Fragen und
-es dauerte nicht lange, so fühlten die grauen Augen, daß
-in den blauen Augen, die sich zu ihnen niederneigten, mehr
-als Neugier sich regte.</p>
-
-<p>„Wo sind Sie denn verwundet“, fragte Clerambault.</p>
-
-<p>„Ach! Das wäre zu lang zu erzählen, mein Herr! Eigentlich
-ein wenig überall.“</p>
-
-<p>Und als jener weiterfragte:</p>
-
-<p>„Ich habe es hier und da abgekriegt, überall wo gerade ein
-Platz war — und dabei bin ich nicht einmal besonders dick.
-Ich hätte nie gedacht, daß es in einem Körper soviel Platz
-dafür gibt.“</p>
-
-<p>Schließlich erfuhr Clerambault, daß jener ungefähr zwanzig
-— oder genauer gesagt siebzehn — Verwundungen
-hatte. Er war buchstäblich von einem Schrapnell überschüttet
-(oder wie er sagte „gespickt“) worden.</p>
-
-<p>„Siebzehn Verwundungen!“, schrie Clerambault.</p>
-
-<p>Der Mann berichtigte:</p>
-
-<p>„Um der Wahrheit völlig die Ehre zu geben: ich habe jetzt
-nur mehr etwa zehn.“</p>
-
-<p>„Sind die anderen schon geheilt?“</p>
-
-<p>„Man hat mir die Füße abgeschnitten.“</p>
-
-<p>Clerambault war so erschüttert, daß er fast den Zweck seines
-Besuches vergaß. O, diese Fülle von Unglück! Mein Gott!
-Was ist da das unsere, dieser Tropfen im Meer! Er legte
-seine Hand auf die harte Hand des Mannes und drückte
-sie. Die ruhigen Augen des Verwundeten betrachteten Clerambault
-von oben bis unten, bemerkten das Trauerband
-am Hute und er sagte: „Sie haben auch Unglück gehabt?“</p>
-
-<p>Clerambault raffte sich auf.</p>
-
-<p>„Ja“, sagte er, „nicht wahr, Sie haben ihn gekannt, den
-Sergeanten Clerambault?“</p>
-
-<p>„Natürlich habe ich ihn gekannt.“</p>
-
-<p>„Das war mein Sohn.“</p>
-
-<p>Ein Bedauern kam in den Blick.</p>
-
-<p>„Ach, Sie armer Herr... Natürlich habe ich ihn gekannt,
-Ihren tapferen kleinen Jungen! Wir waren fast ein ganzes
-Jahr zusammen, und das zählt, dieses Jahr! Durch Tage
-und Tage wie die Maulwürfe im selben Loch... Ach, man
-hat zusammen viel Elend erlebt.“</p>
-
-<p>„Hat er viel gelitten?“</p>
-
-<p>„Na, mein Herr, manchmal war es hart. Den Kleinen hat
-es manchmal fest gepackt, besonders im Anfang. Er war
-es eben nicht gewöhnt; wir, wir kennen das.“</p>
-
-<p>„Sie sind vom Lande?“</p>
-
-<p>„Ich war Gutsknecht, da lebt man das Leben mit den
-Tieren, lebt ein wenig wie sie selbst... Obwohl, mein Herr,
-um es offen zu sagen, der Mensch heutzutage von den Menschen
-schlechter als das Vieh behandelt wird... „Seid gut
-zu den Tieren“, diese amtliche Mahnung hatte irgendein
-Spaßvogel in unserem Schützengraben aufgehängt. Aber
-was für sie nicht gut ist, war noch immer gut genug für
-uns... Tut nichts!... Ich beklage mich ja nicht. Es ist
-nun einmal so. Und wenn es sein muß, muß es eben
-sein. Aber der kleine Sergeant, bei dem merkte man’s, daß
-er nicht gewöhnt war an all das. An den Regen und an den
-Schlamm und die Niedertracht und vor allem an den Schmutz.
-Was immer man anrührte, was man aß, und dann auf
-einem selbst: das Ungeziefer... Im Anfang, da sah ich’s, da
-war er ein paarmal ganz nahe daran zu weinen. Da versuchte
-ich ihm ein bißchen zu helfen. Mich lustig zu machen
-über die Sachen, um ihm zu helfen — aber so, daß er nicht
-merkte, daß man ihm helfen wolle, denn er war stolz, der
-Kleine, und wollte nicht, daß man ihm helfe — aber er war
-doch froh, wenn man’s tat. Und ich war es auch. Dort hat
-man ja nötig, zueinander zu rücken und sich zu helfen.
-Schließlich war er soweit und so abgehärtet wie ich, hat mir
-seinerseits auch geholfen. Hat nie geklagt, wir lachten
-sogar zusammen, denn man muß doch lachen: Es gibt
-ja kein Unglück, das ewig dauert, und das hilft einem über
-das Elend hinweg.“</p>
-
-<p>Clerambault hörte bedrückt zu. Er fragte:</p>
-
-<p>„So war er also weniger traurig am Ende?“</p>
-
-<p>„Ja, mein Herr, er hatte sich abgefunden, wie schließlich wir
-alle. Man weiß nicht, wieso das kommt, man steht jeden
-Tag, fast jeder mit demselben Fuß auf, man ist einander
-nicht ähnlich, aber schließlich ist man schon mehr die andern
-als man selbst. Und das ist besser so, man leidet nicht mehr
-so viel, man fühlt sich selbst weniger, man wird eine einzige
-Masse. Außer, wenn es Urlaub gibt — dann wird es schlecht
-für die, die zurückkommen — und so war’s auch gerade bei
-dem kleinen Sergeanten, als er zum letztenmal wiederkam...
-da geht es dann nicht mehr gut....“</p>
-
-<p>Clerambault sagte hastig aus gepreßtem Herzen: „Wie, damals,
-als er zurückkam...?“</p>
-
-<p>„Ja, da war er sehr niedergedrückt. Niemals hatte ich ihn
-so kleinmütig gesehen wie in jenen Tagen.“</p>
-
-<p>Ein schmerzlicher Ausdruck malte sich in Clerambaults Gesicht.
-Bei einer Bewegung, die er machte, wendete sich der
-Verwundete, der, bisher die Augen zur Zimmerdecke gerichtet,
-gesprochen hatte, mit dem Blick gegen ihn, sah und
-verstand offenbar alles, denn er fügte hinzu:</p>
-
-<p>„Aber er hat sich schon wieder herausgerappelt nachher.“</p>
-
-<p>Clerambault faßte von neuem die Hand des Kranken.</p>
-
-<p>„Sagen Sie mir, was er Ihnen erzählte, sagen Sie mir
-alles.“</p>
-
-<p>Der Mann zögerte, dann sagte er:</p>
-
-<p>„Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau.“</p>
-
-<p>Er schloß die Augen und blieb unbeweglich. Clerambault,
-über ihn gebeugt, suchte zu sehen, was diese Augen unter
-ihren geschlossenen Lidern in sich erblickten.</p>
-
-<hr class='tbk101'/>
-
-<p>Mondlose Nacht. Eisige Luft. Aus der Tiefe des gehöhlten
-Grabens sieht man den kalten Himmel und die starren
-Sterne. Geschosse schlagen in dem harten Boden auf. Im
-Schützengraben zusammengeknäuelt, die Knie unter dem
-Kinn, rauchen Maxime und sein Gefährte Seite an Seite.
-Der Kleine war eben an diesem Tage von Paris zurückgekommen.</p>
-
-<p>Er war bedrückt und gab auf Fragen keine Antwort, er verschloß
-sich in einem bösen Schweigen. Der andere hatte ihn
-den ganzen Nachmittag mit Absicht allein gelassen, damit
-er mit seiner Qual fertig werde; aus dem Augenwinkel
-heraus beobachtete er ihn, und als er dann im Dunkeln
-den Augenblick gekommen sah, näherte er sich ihm. Er
-wußte, der Kleine würde jetzt von selbst mit ihm sprechen. Der
-Anschlag einer Kugel, die über ihre Köpfe fuhr, ließ eine
-vereiste Scholle Erde sich loslösen.</p>
-
-<p>„Heda, du Totenvogel“, sagte der andere, „du hast es
-eilig.“</p>
-
-<p>„Wenn es nur schon vorüber wäre“, sagte Maxime, „sie
-wollen es ja alle.“</p>
-
-<p>„Was, um den Boches eine Freude zu machen, ließest du
-dich umbringen? Du bist wirklich ein guter Kerl.“</p>
-
-<p>„Es sind nicht nur die Boches allein, alle schaufeln sie zusammen
-an unserem Grab...“</p>
-
-<p>„Wer denn?“</p>
-
-<p>„Alle! Die von dort hinten, von wo ich komme, die von
-Paris, die Freunde, die Verwandten, die Lebendigen, die
-vom anderen Ufer. Wir, wir sind ja schon tot.“</p>
-
-<p>Ein Schweigen. Der Flug eines Projektils heulte durch den
-Himmel. Der Kamerad tat einen tiefen Zug aus der Pfeife.</p>
-
-<p>„Also, es hat dir hinten nicht gefallen, mein Kleiner? Ich
-habe es mir gleich gedacht.“</p>
-
-<p>„Warum denn?“</p>
-
-<p>„Weil, wenn der eine schuftet und der andere nicht, so
-haben die beiden einander nichts zu sagen.“</p>
-
-<p>„Aber sie leiden ja auch....“</p>
-
-<p>„Ja, aber es ist nicht dasselbe Brot. Du kannst noch so geschickt
-sein, du wirst niemals einem, der ihn nicht kennt, den
-Zahnschmerz erklären können. So versuche mal denen da
-hinten, die in ihren Betten liegen, begreiflich zu machen,
-was hier vorgeht. Für mich ist es nicht neu, ich habe den
-Krieg nicht nötig gehabt... Ich habe das mein ganzes Leben
-gekannt. Aber glaubst du, wenn ich mich auf der Erde abrackerte
-und mir das Mark aus den Knochen schwitzte, daß
-andere sich darüber beunruhigt haben? Ich sage damit
-nicht, daß sie deshalb schlecht sind. Sie sind nicht gut, sind
-nicht schlecht, sind eben wie fast alle Welt ist. Können’s halt
-nicht auffassen. Um etwas zu verstehen, muß man’s selber
-spüren, die Sache auf sich nehmen, die ganze Qual auf
-sich nehmen. Wenn nicht — und man tut es ja nicht, mein
-Junge — da muß man eben das Kreuz darüber machen,
-versuch’s nicht zu erklären. Die Welt ist eben so wie sie ist.
-Da ist nichts zu ändern.“</p>
-
-<p>„Das wäre zu furchtbar. Dann lohnte es ja nicht mehr zu
-leben.“</p>
-
-<p>„Warum denn nicht, zum Teufel? Ich habe es ganz gut ertragen,
-und du bist nicht weniger wert als ich. Du bist
-klüger, du kannst lernen, man lernt alles ertragen. Alles.
-Und dann — etwas zusammen zu ertragen, ist zwar noch
-keine Freude, aber es ist nicht mehr ganz eine Qual. Allein
-zu sein, das ist das härteste. Du bist nicht allein, mein
-Kleiner.“ Maxime sah ihm ins Gesicht und sagte:</p>
-
-<p>„Dort hinten war ich’s, hier bin ich es nicht mehr...“</p>
-
-<hr class='tbk102'/>
-
-<p>Aber der Mann, der mit geschlossenen Augen auf seinem
-Bette hingestreckt lag, sagte nichts von dem, was er in sich
-sah. Als er jetzt wieder ruhig die Augen aufschlug, fand er
-den verängstigten Blick des Vaters auf sich gerichtet, der ihn
-anflehte, zu sprechen.</p>
-
-<p>Und da versuchte er mit einer linkischen und zärtlichen Gutmütigkeit
-zu erklären, daß der Kleine offenbar deshalb traurig
-gewesen war, weil er die Seinen hatte verlassen müssen,
-aber daß „man“ ihn schon wieder aufgerichtet hätte. „Man“
-verstand ja seine Not.... Er selbst, der Krüppel, hätte
-ja nie einen Vater gekannt, aber als Kind hätte er davon geträumt,
-welches Glück es für die, die einen haben, sein müsse.</p>
-
-<p>„So habe ich mir erlaubt... und habe zu ihm gesprochen,
-mein Herr, so, als ob ich Sie wäre... und der Kleine hat
-sich beruhigt. Er sagte mir, daß man doch eine Sache diesem
-verfluchten Krieg danke, nämlich daß er einem gezeigt habe,
-es gäbe viel arme Teufel auf der Erde, die sich nicht kennen
-und die aus demselben Holz geschnitzt sind. Man hört es
-oft genug, daß wir Brüder seien, von den Anschlagzetteln
-oder aus den Predigten, nur glaubt man’s eben nicht. Um
-es wirklich zu wissen, muß man einmal miteinander geschuftet
-haben... und da hat er mich umarmt.“</p>
-
-<p>Clerambault stand auf, neigte sich über das umwickelte
-Gesicht des Verwundeten und küßte ihn auf die rauhe
-Wange.</p>
-
-<p>„Sagen Sie, was ich für Sie tun kann“, fragte er.</p>
-
-<p>„Sie sind sehr gut, mein Herr, aber viel ist nicht mehr zu
-tun. Ich bin sozusagen fertig. Ohne Beine, mit einem gebrochenen
-Arm, mit fast nichts Gesundem mehr, wozu wäre
-ich noch gut? Übrigens ist ja noch gar nicht gesagt, daß ich
-überhaupt davonkomme. Na, es wird eben gehen, wie es
-geht. Fahre ich ab, dann gute Reise, und bleibe ich, so wird
-man schon sehen. Man muß warten, es gibt ja immer Züge.“</p>
-
-<p>Clerambault bewunderte seine Geduld. Der andere wiederholte
-immer seinen Refrain: „Ich bin halt eben daran gewöhnt,
-es ist kein großes Verdienst, geduldig zu sein, wenn
-man nicht anders kann... und dann, wir kennen das ja
-schon, ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger... für
-uns dauert der Krieg das ganze Leben lang.“</p>
-
-<p>Clerambault bemerkte, daß er in seinem Egoismus noch gar
-nicht nach Einzelheiten aus dem Leben des andern gefragt
-hatte, ja nicht einmal seinen Namen wußte.</p>
-
-<p>„Mein Name? Der paßt gut zu mir: Courtois Aimé. Aimé
-ist der Vorname. Paßt wie ein Handschuh zu einem, der im
-Dreck sitzt.... Und dazu noch Courtois, ein guter Witz.
-Meine Eltern habe ich nicht gekannt, ich bin ein Findelkind.
-Der Pfleger vom Hilfshaus, ein Pächter in der Champagne,
-hat es übernommen, mich aufzuziehen, und er verstand sich
-darauf, der Kerl.... Ich bin gut herausgearbeitet worden!
-Na, ich habe wenigstens zu rechter Zeit schon gewußt, was
-mich im Leben erwartet. Es hat gut in meinen Napf geregnet.“</p>
-
-<p>Und dann erzählte er mit ein paar kurzen trockenen Sätzen,
-ohne irgendwelche Erregung, die ganze Reihe der Unglücksfälle,
-die sein Leben zusammensetzten: die Ehe mit einem
-Mädchen, wie er ohne einen Pfennig Geld, der „Hunger,
-der den Durst heiratet“, Krankheiten, Todesfälle, den Kampf
-gegen die Natur — und das alles wäre noch nichts gewesen,
-hätte nicht noch der Mensch vom Seinen dazugetan. <span class='it'>Homo
-homini</span>... <span class='it'>homo</span>.... Die ganze soziale Ungerechtigkeit, die
-auf den Leuten der unteren Schichten lastet. — Clerambault
-konnte seine Erbitterung nicht verbergen, wie er ihm so zuhörte,
-aber Aimé Courtois regte sich durchaus nicht auf.
-Es ist eben so, es war immer so und wird immer so sein.
-Die einen sind da, um zu leiden, die anderen nicht. Es
-gibt keine Berge ohne Täler. Der Krieg war ihm als ein
-Blödsinn erschienen, aber er hätte nicht einen Finger gerührt,
-um ihn zu verhindern. In seiner Art war die
-ganze fatalistische Passivität des Volkes, das auf gallischer
-Erde sich in eine ironische Sorglosigkeit hüllt, das
-„Man darf sich nichts daraus machen“ der Schützengräben.
-Und es war auch die ganze falsche Scham der
-Franzosen darin, die vor nichts so Furcht haben wie vor
-dem Lächerlichen, die tausendmal lieber für eine Tollheit
-und sogar für eine, die sie selbst als solche erkennen, sich
-opfern würden, als sich dem Spott für irgendeine vernünftige
-Handlung auszusetzen, die nur nicht an der Tagesordnung
-war. Sich dem Kriege entgegenstellen, das wäre
-so, wie sich gegen das Gewitter stellen. Wenn’s hagelt, kann
-man halt nichts tun als, wenn es noch geht, die Fenster zuschließen
-und nachher sich die zugrunde gerichtete Ernte anschauen.
-Und dann fängt man wieder an bis zum nächsten
-Hagel, bis zum nächsten Krieg — in alle Ewigkeit. „Man
-darf sich halt nichts daraus machen“ — nie kam ihm der
-Gedanke, daß der Mensch den Menschen ändern könnte.</p>
-
-<p>Clerambault erbitterte sich innerlich über diese heroische und
-dumme Resignation, die wohl dazu angetan ist, die privilegierten
-Klassen zu begeistern, denn ihr verdanken sie ja
-die eigene Erhaltung, — die aber andererseits aus der
-menschlichen Rasse und ihrer tausendjährigen Anstrengung
-ein Danaidenfaß macht, da sich ihr ganzer Mut, ihre ganze
-Tugend, ihre ganze Arbeit darin erschöpfen, auf anständige
-Art zu sterben.... Als aber seine Augen sich wieder auf das
-verstümmelte Stück Mensch richteten, das da vor ihm lag,
-bedrückte ihn ein unendliches Mitleid. Was konnte er tun,
-was konnte er wollen, dieser Mann des Elends, dieses
-Symbol des hingeschlachteten und verstümmelten Volkes?
-So viele Jahrhunderte leidet und blutet es schon vor unseren
-Augen, ohne daß wir, seine glücklicheren Brüder, ihm mehr
-geben als irgendein nachlässiges Lob von fern, das unser
-Wohlergehen gar nicht stört und das Volk sogar aufmuntert,
-nur so fort zu tun! Welche Hilfe bringen wir ihm
-denn? Da wir schon nichts für dieses Volk tun, widmen
-wir ihm nicht einmal unser Wort! Von der freien Entfaltung
-unseres Denkens — die wir doch seinen Opfern
-danken — bewahren wir die Frucht für uns, ja wir wagen
-nicht einmal, es davon kosten zu lassen. Wir haben Furcht
-vor dem Lichte, Furcht vor der frechen Meinung und den
-Herren der Stunde, die sagen: „Löschet das Licht! Ihr, die
-ihr es habt, trachtet es zu verbergen, damit man nichts davon
-sieht, wenn ihr wollt, daß man es euch verzeihe.“ — Genug
-der Feigheit! Wer soll sprechen, wenn nicht wir? Die anderen
-sterben mit dem Knebel im Munde....</p>
-
-<p>Ein Schatten von Qual lief über das Antlitz des Verwundeten.
-Seine Augen sahen starr zur Decke, sein großer verkrümmter
-Mund, hartnäckig verschlossen, wollte keine Antwort
-mehr geben. — Clerambault entfernte sich. Er hatte
-seinen Entschluß gefaßt. Das Schweigen des Volkes auf
-seinem Totenbett hatte ihn bestimmt, das Wort zu ergreifen.</p>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<div><h1>Dritter Teil</h1></div>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault kam vom Spital zurück, schloß sich in sein
-Zimmer ein und begann zu schreiben. Madame Clerambault
-versuchte einmal einzudringen, sah mit einer Art
-Mißtrauen nach, was er machte. Es war, als ob ein bei
-dieser Frau sehr seltenes Ahnungsvermögen — sie merkte
-sonst nie etwas — ihr ein dunkles Angstgefühl vor dem, was
-ihr Mann vorbereitete, einjagte. Es gelang ihm, seine Abgeschlossenheit
-zu verteidigen, bis er fertig war. Sonst ersparte
-er den Seinen nichts von dem, was er geschrieben
-hatte, es war ein Genuß für seine naive, liebevolle Eitelkeit,
-aber auch zärtliche Pflicht, auf die er ebensowenig wie die
-anderen hätte verzichten können. Diesmal nahm er davon
-Abstand, ohne sich den Grund dafür selbst klar zu machen.
-Obwohl er noch weit davon entfernt war, die ganze Tragweite
-seiner Tat zu überschauen, hatte er doch Furcht vor
-Widerspruch, denn er fühlte sich seiner noch nicht sicher genug,
-sich ihm auszusetzen. So zog er es vor, die anderen lieber
-vor die vollendete Tatsache zu stellen.</p>
-
-<p>Sein erster Schrei war eine Selbstanklage:</p>
-
-<p class='line' style='text-align:center;'>„<span class='gesp'>Ihr Toten verzeihet uns</span>!“</p>
-
-<p>Diese öffentliche Beichte trug als Motto die Melodie einer
-alten Klage des Königs David, der an der Leiche seines
-Sohnes Absalon weint:</p>
-
-<div class='figcenter'>
-<img src='images/illo133.png' alt='' id='iid-0001' style='width:100%;height:auto;'/>
-<p class='caption'><span class='it'>Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi!</span></p>
-</div>
-
-<p>„Ich hatte einen Sohn. Ich liebte ihn. Und ich habe ihn
-getötet. Ihr Väter des trauernden Europa, nicht für mich
-allein, für euch alle spreche ich, ihr Millionen Väter, verwitwet
-an euren Söhnen, Feinde oder Freunde, und alle
-bedeckt von ihrem Blute gleich mir. Ihr alle sprecht durch
-die Stimme eines der Euren, durch meine arme Stimme,
-die leidet und Buße tut.</p>
-
-<p>Mein Sohn ist für die Euren, durch die Euren (ich weiß
-es nicht), ist wie die Euren getötet worden. Und wie ihr
-habe ich den Feind dafür angeklagt und den Krieg. Aber den
-Hauptschuldigen sehe ich erst heute und ich klage ihn an: ich
-bin es. Ich bin es, und dieses Ich seid Ihr. Wir sind es.
-Könnte ich Euch doch zwingen, das zu hören, was Ihr wohl
-wißt und nicht wissen wollt!</p>
-
-<p>Mein Sohn war zwanzig Jahre alt, als er dem Krieg zur
-Beute fiel. Zwanzig Jahre lang habe ich ihn zärtlich geliebt,
-habe ihn geschützt gegen Hunger, Kälte, Krankheiten,
-gegen die geistige Dunkelheit, gegen Unwissenheit, Irrtum,
-gegen alle Fallstricke, die das Leben in seinem Schatten
-birgt. Aber was habe ich getan, um ihn zu verteidigen gegen
-die aufsteigende große Gefahr?</p>
-
-<p>Dabei habe ich niemals zu jenen gehört, die mit den Leidenschaften
-des eifersüchtigen Nationalismus gemeinsame
-Sache machten. Ich liebte die Menschen, und es war mir
-eine Freude, an ihre zukünftige Brüderlichkeit zu denken.
-Warum habe ich also nichts getan gegen das, was sie bedrohte,
-gegen das schleichende Fieber, gegen den lügnerischen
-Frieden, der mit einem Lächeln auf den Lippen schon
-zum Mordanschlag ausholte? Es war vielleicht Furcht,
-zu mißfallen, Furcht vor Feindschaften? Ich liebte es zu
-sehr, zu lieben und vor allem geliebt zu werden. Ich
-fürchtete, erworbenes Wohlwollen zu gefährden, hielt zu
-viel auf die zerbrechliche und kraftlose Gemeinschaft mit
-jenen, die um uns sind, auf diese Komödie, die man mit
-sich und den anderen spielt und mit der man sich ja gar
-nicht selbst betrügt, denn von beiden Seiten fürchtet man
-immer, das Wort auszusprechen, das den Mörtel abfallen
-ließe und das zerfressene Haus zeigte. Ich hatte Furcht,
-klar in mich selbst zu sehen, war erfüllt von jener inneren
-opportunistischen Unsicherheit, die alles schonen will, die
-die alten Instinkte und den neuen Glauben verbinden will,
-die Kräfte, die sich gegenseitig vernichten und aufheben,
-Vaterland, Menschheit, Krieg und Frieden. Ich habe nie genau
-gewußt, auf welche Seite ich mich hinneigen sollte, und
-bin von der einen zur anderen wie eine Schaukel geschwankt.
-Ich hatte Angst vor der Anstrengung, mich zu entscheiden und
-eine Wahl zu treffen.... Faulheit war es und Feigheit!
-Ich übertünchte all das mit einem gefälligen Glauben an
-die Güte der Dinge, die alles schon — so dachte ich — von
-selbst in schönste Ordnung bringen würden. Und wir begnügten
-uns, zuzuschauen, den unfehlbaren Lauf des Schicksals
-noch zu verherrlichen — wir Höflinge der Gewalt! Da
-wir verzichtet haben, Einfluß zu erlangen, so haben die
-Dinge — oder die Menschen, andere Menschen als wir —
-für uns entschieden. Und wir haben das erst bemerkt, als
-wir schon getäuscht waren. Aber das Eingeständnis war
-für uns so entsetzlich, wir waren so dessen entwöhnt, wirklich
-wahrhaft zu sein, daß wir auch dann weiter so getan
-haben, als wären wir mit dem Verbrechen im vollen Einverständnis.
-Und als Bürgschaft unseres Einverständnisses
-haben wir unsere Söhne ausgeliefert....</p>
-
-<p>Ach, wir haben sie sehr geliebt! Sicher mehr als unser eigenes
-Leben — ach, hätte es sich nur darum gehandelt, unser
-Leben hinzugeben! Aber wir haben sie nicht mehr geliebt
-als unseren Stolz, der verzweifelt bemüht war, unsere moralische
-und sittliche Verwirrung zu verbergen, die Leere
-unseres Geistes und die Nacht unseres Herzens.</p>
-
-<p>Alle diese Dinge wären aber noch verzeihlich bei solchen, die
-an das alte Idol, an das heimtückische, neidische, mit getrocknetem
-Blut überdeckte Götzenbild glaubten — an das
-barbarische Vaterland. Wenn jene ihre und der anderen
-Kinder opferten, so töteten sie, aber sie wußten wenigstens
-nicht, was sie taten — diejenigen aber, die nicht mehr daran
-glauben, die nur mehr daran glauben wollen (und das
-bin ich, das sind wir) — die opfern ihre Kinder, indem sie
-sie einer Lüge darbieten (denn im Zweifel Ja sagen, heißt
-lügen), und sie opfern sie, um sich selbst ihre Lüge zu beweisen.
-Und jetzt, da unsere Lieben für unsere Lüge gestorben
-sind, arbeiten wir uns, statt den Irrtum offen zuzugeben,
-nur noch tiefer, bis über die Augen hinein, nur um
-nichts mehr zu sehen, denn wir wollen, daß nach den unseren
-noch die anderen, alle anderen, für unsere Lüge sterben.</p>
-
-<p>Aber ich, ich kann das nicht mehr, ich denke an die noch
-lebenden Söhne. Was soll mir das Gutes tun, daß andern
-Böses geschieht? Bin ich ein Barbar aus den Zeiten Homers,
-um zu glauben, daß ich den Schmerz meines toten Sohnes,
-seinen Hunger nach Licht lindern könne, wenn ich auf die
-Erde, die ihn hinabgeschlungen hat, das Blut anderer Söhne
-hingieße? Haben wir noch immer diese Vorstellungen? —
-Nein! Jeder neue Mord tötet meinen Sohn noch einmal,
-läßt auf seinem Gebein den schmutzigen Schlamm des Verbrechens
-lasten. Mein Sohn war die Zukunft, und wenn
-ich ihn retten will, muß ich die Zukunft retten, muß ich
-künftigen Vätern den Schmerz ersparen, der auf mich gefallen
-ist. Zu Hilfe! Helft mir! Verwerfen wir diese Lüge!
-Geht denn der Kampf zwischen den Staaten, dieses Brigantentum
-des Weltalls, wirklich um unseretwillen vor sich?
-Was tut uns denn wahrhaft not? Die erste Freude, das
-erste Gesetz, ist es nicht jenes Lebensgesetz des Menschen, der
-gleich einem Baum gerade aufsteigt und sich in dem zugewiesenen
-Kreis Erde erfüllt, der durch seinen freien Saft und
-seine stille Arbeit, sein vielfältiges Leben in sich und seinen
-Söhnen sich ruhig entfalten sieht? Wer von uns Brüdern
-der Welt ist eifersüchtig auf den anderen, wer will ihm solch
-gerechtes Glück nehmen? Was haben wir zu tun mit den
-Ambitionen und Rivalitäten, mit der Habgier und den
-geistigen Krankheiten, mit denen die Schänder des Wortes
-den Namen des Vaterlandes bedecken? Das Vaterland sind
-wir, die Väter. Das Vaterland sind unsere Söhne. All
-unsere Söhne. Retten wir sie!“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>O</span>hne irgend jemand zu fragen, überbrachte er diese Seiten,
-kaum daß er sie geschrieben hatte, einem kleinen
-sozialistischen Verleger seines Viertels. Er kam erleichtert
-zurück und dachte:</p>
-
-<p>„So, jetzt habe ich gesprochen. Jetzt beschäftigt es mich
-nicht mehr.“</p>
-
-<p>Aber in der kommenden Nacht belehrte ihn plötzlich ein
-Stich in der Brust, daß es ihm mehr als je naheging.
-Er wachte auf. „Was habe ich denn getan?“ Er fühlte eine
-schmerzliche Scham, der Öffentlichkeit seinen heiligen Schmerz
-ausgeliefert zu haben. Ohne daran zu denken, daß seine
-Worte Zorn erregen könnten, hatte er doch ein Vorgefühl
-von Unverständnis, von grobschlächtiger Auslegung, die
-er als Profanation empfand.</p>
-
-<p>Die nächsten Tage gingen vorüber. Es geschah nichts.
-Schweigen. Der Aufruf war in der allgemeinen Unaufmerksamkeit
-untergegangen. Der Verleger gehörte zu den
-wenig bekannten, die Versendung der Broschüre war nachlässig
-geschehen, und es gibt keinen gefährlicheren Tauben
-als den, der nicht hören will. Die wenigen Leser,
-die der Name Clerambault angezogen hatte, legten nach
-den ersten Zeilen die unwillkommene Lektüre zur Seite.
-Sie dachten: „Der arme Mann, sein Unglück ist im Begriff,
-ihm den Kopf ganz zu verdrehen“, was ein guter Vorwand
-für sie war, das Gleichgewicht ihres Herzens nicht
-in Erschütterung zu bringen.</p>
-
-<p>Ein zweiter Artikel folgte. Clerambault nahm darin Abschied
-von dem alten, blutigen Götzenbild Vaterland, oder
-vielmehr, er stellte dem großen fleischfressenden Untier, dem
-sich die armen Menschen jener Zeit als Fraß hinwarfen,
-der römischen Wölfin, die erhabene Mutter alles Lebendigen
-entgegen: das Weltvaterland!</p>
-
-<p class='line' style='text-align:center;margin-top:1em;margin-bottom:1em;'>„<span class='gesp'>An die einst Geliebte!</span>“</p>
-
-<p>„Kein bittererer Schmerz, als Abschied zu nehmen von der,
-die man einst geliebt. Sie aus meinem Herzen zu reißen,
-heißt mein Herz selbst ausreißen. Du Teure, Du Gute, Du
-Schöne — ach, hätte man wenigstens den blinden Vorzug
-jener leidenschaftlichen Liebhaber, die alles vergessen können,
-die ganze Liebe, das ganze Gute und Schöne von einst, um
-nur das Böse zu sehen, das man heute von der Geliebten
-erleidet, und zu erkennen, wie tief sie gesunken ist! Aber ich
-kann nicht, ich kann nicht vergessen. Ich werde Dich immer
-so sehen, wie ich Dich liebte, als ich noch an Dich glaubte,
-als Du mein Leitstern warst und mein bester Freund —
-Du, mein Vaterland! Warum hast Du mich verlassen?
-Warum hast Du uns verraten? Wäre ich allein mit meinem
-Leiden, ich verhehlte vielleicht die traurige Erkenntnis unter
-meiner hingegangenen Zärtlichkeit. Aber ich sehe Deine Opfer,
-die Völker, die jungen gläubigen und begeisterten Männer
-(und erkenne unter ihnen den, der ich einst war)... Wie
-hast Du uns betrogen! Deine Stimme schien uns die der
-brüderlichen Liebe, Du riefst uns zu Dir, um uns zu vereinen.
-Es sollte keine Einsamen mehr geben, alle sollten wir
-Brüder sein! Jedem liehest Du die Kräfte von tausend anderen,
-Du ließest uns unseren Himmel, unsere Erde und das
-Werk unserer Hände lieben, und wir liebten uns alle, indem
-wir Dich liebten..... Wohin hast Du uns jetzt geführt?
-Waren Deine Absichten, indem Du uns vereintest, einzig die,
-uns zahlreicher zu machen für den Haß und den Mord? Ach,
-wir hatten ja genug an unserem Einzelhaß. Jeder hatte
-sein Bündel von schlechten Gedanken, aber zumindest wußten
-wir, wenn wir ihnen nachgaben, daß es schlechte waren.
-Du aber, Du Vergifterin der Seele, Du nennst sie heilige...</p>
-
-<p>Wofür diese Kämpfe? Für unsere Freiheit? Du machst ja
-Sklaven aus uns. Für unser Gewissen? Das schändest Du
-ja. Für unser Glück? Das plünderst Du doch. Für unser
-Wohlergehen? Unsere Erde ist zerstampft.... Wozu bedürfen
-wir neuer Eroberungen, da schon das Feld unserer
-Väter uns zu groß wurde: einzig nur für die Habgier von
-einigen Ausbeutern? Ist es denn die Aufgabe des Vaterlandes,
-diese Bäuche mit dem allgemeinen Elend zu füllen?</p>
-
-<p>Vaterland, das Du Dich den Reichen verkauft hast, den
-Händlern mit der Seele und den Körpern der Völker, Vaterland,
-das Du Mithelferin und Verbündete geworden bist
-und ihre Niederträchtigkeit mit Deiner heroischen Gebärde
-deckst — hüte Dich! Die Stunde ist gekommen, wo die
-Völker ihr Ungeziefer von sich abschütteln, ihre Götter und
-ihre Herren, die sie mißbrauchen. Mögen sie unter sich
-selbst die Schuldigen verfolgen. Ich gehe geradeaus zum
-Herrn, dessen Schatten sie alle bedeckt. Du aber, das Du
-unbewegt thronst, indes die Massen sich in Deinem Namen
-hinschlachten, Du, das sie alle anbeten, indem sie einander
-alle hassen, Du, das Du Dich ergötzst, die blutige Brunst der
-Völker zu entzünden, Du Weibwesen, beutegierige Gottheit,
-Du falsche Christin, die Du über dem Gemetzel schwebst mit
-kreuzgefalteten Flügeln und Habichtsklauen — wer wird
-Dich aus unserem Himmel herabreißen, wer gibt uns die
-Sonne und die Liebe unserer Brüder zurück?...</p>
-
-<p>Ich bin allein. Ich habe nichts als meine Stimme, die ein
-Hauch auslöschen kann, aber ehe sie hinschwindet, schreie ich
-auf:</p>
-
-<p>Du wirst fallen, Tyrann, Du wirst fallen! Die Menschheit
-will leben. Die Zeit wird kommen, wo der Mensch
-Dein lügnerisches Joch zerbrechen wird. Die Zeit kommt.
-Die Zeit ist da.“</p>
-
-<p class='line' style='text-align:center;margin-top:1em;'>„<span class='gesp'>Die Antwort der Geliebten</span>“</p>
-
-<p>„Dein Wort, mein Sohn, ist wie der Stein, den ein Kind
-gegen den Himmel wirft. Es erreicht mich nicht, es fällt
-auf Dich selbst zurück. Die Du schmähst und die meinen
-Namen fälschlich angenommen, ist ein Götzenbild, das Du
-Dir selbst geformt hast. Nach Deinem Bilde ist es geschaffen,
-nicht nach dem meinen. Das wahre Vaterland ist das des
-Allvaters, gemeinsam alle umfangend, und es ist nicht seine
-Schuld, wenn Ihr es klein macht nach Eurem eigenen
-Wuchs.... Ihr Unglücklichen, Ihr beschmutzt alle Eure
-Götter, es gibt nicht eine große Idee, die Ihr nicht erniedrigt.
-Das Gute, das man Euch erweisen will, verwandelt Ihr in
-Gift, das Licht, mit dem man Euch überschüttet, dient, Euch
-zu verbrennen. Ich war zu Euch gekommen, um Eure Einsamkeit
-zu erwärmen, ich habe Eure fröstelnden Seelen zu
-Herden vereinigt, aus Eurer zerstreuten Schwäche ein Bündel
-geformt. Denn ich bin die brüderliche Liebe, die große
-Bindung. Und gerade meinen Namen, o Tolle, habt ihr
-gewählt als Vorwand, um Euch zu vernichten.</p>
-
-<p>Seit Jahrhunderten bemühe ich mich, Euch von den Ketten
-der Roheit zu befreien, Euch aus Eurer harten Selbstigkeit
-herauszutreiben. Keuchend schreitet Ihr vorwärts auf
-der Straße der Zeit. Die Provinzen und die Nationen sind
-die tausendjährigen Grenzen, die bisher als Rastpunkt
-Eurer Erschöpfung gesteckt waren. Eure Hinfälligkeit allein
-hat sie aufgerichtet. Um Euch weiter zu führen, muß ich
-warten, bis Ihr wieder Atem geholt habt.... Aber Ihr
-seid so schwach an Atem und am Herzen, daß Ihr aus Eurer
-Unfähigkeit eine Tugend macht. Ihr bewundert Eure Helden
-um der Grenze willen, vor denen sie erschöpft halt
-machen mußten, und nicht deshalb, weil sie sie als erste
-erreichten. Ihr aber, die Ihr mühelos dorthin gekommen
-seid, wo jene heldischen Vorläufer hingesunken sind, glaubt
-nun, selbst schon Helden zu sein.... Was habe ich mit
-Euren Schatten der Vergangenheit heute noch zu schaffen?
-Das Heldentum, dessen ich bedarf, ist nicht mehr das
-eines Bayard, einer Jeanne d’Arc, der Ritter und Märtyrer
-einer längst überwundenen Sache. Ich fordere
-Apostel der Zukunft, große Herzen, die sich für ein größeres
-Vaterland, für ein höheres Ideal aufopfern. Vorwärts!
-Überschreitet die Grenzen! Da Ihr aber noch
-Krücken braucht für Eure Schwäche, so rückt die Grenzen
-wenigstens weiter hinaus, an die Tür des Abendlandes,
-an das Ende Europas, bis Ihr Schritt um Schritt zum
-Ziel kommt, und die ganze Menschheit Hand in Hand
-rings den Erdball umschlingt.</p>
-
-<p>Du erbärmlicher Schreiber, der Du Schmähreden gegen
-mich richtest, steige in Dein Selbst hinab und prüfe Dich
-selbst! Ich habe Dir die Macht des Wortes gegeben, daß
-Du die Männer Deines Volkes führest, und Du hast
-sie benützt, um Dich selbst zu betrügen und sie zu verwirren.
-Du hast die, die Du retten solltest, tiefer in
-ihren Irrtum hinabgestoßen, Du hattest den traurigen
-Mut, Deiner Lüge jenen hinzuopfern, den Du liebtest —
-Deinen Sohn. Wirst Du wenigstens jetzt, Du arme Ruine,
-wagen, Dich den anderen als Schaubild hinzustellen und zu
-sagen: „Da, sehet mein Werk, ahmt es nicht nach!“ Geh
-hin, und möge Dein Unglück andere, die später kommen,
-vor gleichem Schicksal beschützen! Wage es zu sprechen,
-schreie ihnen zu: Völker, ihr seid toll, ihr tötet das Vaterland,
-indes ihr glaubt, es zu verteidigen. Das Vaterland
-seid ihr, ihr alle, eure Feinde sind eure Brüder! Umarmt
-euch, ihr Millionen Lebendiger.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>as gleiche Schweigen schien auch diesen neuen Schrei
-hinabzuschlucken.</p>
-
-<p>Clerambault lebte außerhalb jener niederen Volkskreise, wo
-die warme Sympathie der schlichten und gesunden Herzen
-ihm gewiß nicht gefehlt hätte. So aber bemerkte er nichts
-von irgendeinem Echo seiner Ideen.</p>
-
-<p>Aber obwohl er sich allein sah, wußte er doch, daß er es
-nicht war. Zwei verschiedene Gefühle, die einen Gegensatz
-zu bilden schienen — seine Bescheidenheit und sein
-Glaube — vereinten sich, um ihm zu sagen: „Was du
-denkst, denken auch andere, deine Wahrheit ist zu groß, und
-du bist zu klein, als daß sie nur in dir allein existieren
-könnte. Das, was du mit deinen schlechten Augen hast
-wahrnehmen können, dieses Licht strahlt, so wie zu dir, auch
-in andere Augen. In diesem Augenblicke neigt sich der
-Große Bär zum Horizont, tausend Blicke schauen vielleicht
-zu ihm auf, du siehst nicht diese Blicke, aber das ferne Licht
-vereint sie mit dem deinen.“</p>
-
-<p>Die Einsamkeit des Geistes ist nur eine Illusion, eine bittere
-und schmerzhafte, aber eine, der keine tiefe Wirklichkeit entspricht.
-Selbst die Losgelöstesten von uns gehören doch alle zu
-einer sittlichen Familie, und diese Gemeinschaft der Geister
-ist nicht innerhalb eines Landes oder einer Zeit, sondern
-ihre Elemente sind verstreut durch die Völker und Jahrhunderte.
-Für einen konservativen Geist sind sie in der
-Vergangenheit, die Revolutionäre und die Verfolgten
-finden sie in der Zukunft. Zukunft und Vergangenheit sind
-nicht weniger wirklich als die augenblickliche Gegenwart,
-deren Mauer die zufriedenen Blicke der großen Menge
-einengt. Und selbst die Gegenwart ist nicht so, wie es die
-willkürlichen Abgrenzungen der Staaten, Nationen und
-Religionen glauben machen möchten. Die gegenwärtige
-Menschheit stellt einen Jahrmarkt von Gedanken dar.
-Ohne sie voneinander zu scheiden, hat man sie in Haufen
-aufgeschichtet, die rasch aufgerichtete Regale voneinander
-trennen: so sind oft Brüder von den Brüdern
-geschieden und unter Fremde geschichtet. Jeder Staat umschließt
-ganz verschiedene Rassen, die keineswegs geartet
-sind, gemeinsam zu denken und zu handeln, und jede der
-ideellen Familien oder Schwägerschaften, die man Vaterland
-nennt, umschließt Naturen, die in Wirklichkeit zu ganz anderen
-Familiengruppen der Gegenwart, der Vergangenheit
-oder der Zukunft gehören. Da die Staaten sie nicht aufsaugen
-können, so unterdrücken sie sie, und sie können sich
-der Vernichtung nur durch allerlei Schleichwege entziehen
-— entweder durch scheinbare Unterwerfung und innere Auflehnung,
-oder durch die Flucht, indem sie freiwillige Emigranten
-werden — „Heimatslose“. Wirft man ihnen vor,
-daß sie dem Vaterland unbotmäßig seien, so ist das ebenso
-unberechtigt, als wollte man den Irländern oder Polen vorwerfen,
-daß sie sich der Aufsaugung durch England oder
-Preußen zu entziehen suchen. Hier wie dort bleiben diese
-Menschen ihren wahren Vaterländern treu.</p>
-
-<p>Oh, ihr, die ihr vorgebt, dieser Krieg habe die Aufgabe, jedem
-Volke das Selbstbestimmungsrecht zu geben, wann
-werdet ihr dies Recht der über die Welt hin verstreuten Republik
-der freien Seelen geben?</p>
-
-<p>Diese Republik fühlte Clerambault in all seiner Einsamkeit
-als eine Wirklichkeit. Wie das Rom des Sartorius lebte
-sie in ihm. Und ganz in all jenen einander Unbekannten,
-für die sie das wahre Vaterland ist.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>P</span>lötzlich fiel die Mauer von Schweigen, die das Wort Clerambaults
-umschloß. Aber es war nicht die Stimme
-eines Bruders, die der seinen Antwort gab. Wo die Kraft
-der Sympathie zu schwach gewesen war, um die Schranken
-zu zerbrechen, hatten die Dummheit und der Haß blindlings
-eine Bresche geschlagen.</p>
-
-<p>Schon glaubte sich Clerambault nach einigen Wochen vergessen
-und dachte an eine neue Veröffentlichung, als eines
-Morgens Leo Camus mit Getöse bei ihm eintrat. Er
-krümmte sich vor Zorn. Mit tragisch erhobener Stirne
-reichte er Clerambault eine aufgefaltete Zeitung hin.</p>
-
-<p>„Lies!“</p>
-
-<p>Und während Clerambault las, sagte er, hinter ihm stehend:</p>
-
-<p>„Was hat diese Niedertracht zu bedeuten?“</p>
-
-<p>Clerambault sah ganz niedergeschmettert sich von einer
-Hand gemeuchelt, die er für eine Freundeshand hielt. Ein
-bekannter Schriftsteller, zu dem er in guter persönlicher Beziehung
-stand, ein Kollege Perrotins, ein ernster ehrenwerter
-Mensch, hatte, ohne zu zögern, die Rolle übernommen, ihn
-in der Öffentlichkeit zu denunzieren. Obwohl er Clerambault
-lange genug kannte, um an der Reinheit seiner Absichten
-nicht zweifeln zu können, stellte er ihn doch in einer
-entehrenden Weise vor die Öffentlichkeit. Als Historiker
-darin geübt, mit Texten umzugehen, hatte er aus der Broschüre
-Clerambaults einige verstümmelte Sätze herausgelöst
-und schwenkte sie empor wie einen Beweis von Verrat. Seine
-tugendhafte Erbitterung hatte sich nicht mit einem privaten
-Brief begnügt, gerade die lärmendste Tageszeitung, das
-niedrigste Erpresserblatt hatte sie sich ausgesucht, das eine
-Million Franzosen verachtet, während sie gleichzeitig seine
-Aufschneidereien mit offenen Mäulern einschluckt.</p>
-
-<p>„Das ist nicht möglich“, stammelte Clerambault, den diese
-unerwartete Gehässigkeit wehrlos überfiel.</p>
-
-<p>„Da ist kein Augenblick zu verlieren“, sagte Camus, „du
-mußt antworten.“</p>
-
-<p>„Antworten? Was denn?“</p>
-
-<p>„Zuerst natürlich diese niederträchtige Erfindung dementieren.“</p>
-
-<p>„Aber das ist doch keine Erfindung“, sagte Clerambault,
-der den Kopf gehoben hatte und Camus ansah.</p>
-
-<p>Nun war es an Camus, wie vom Donner gerührt zu sein.</p>
-
-<p>„Das ist keine...? Das ist keine...?“ stammelte er vor
-Überraschung.</p>
-
-<p>„Die Broschüre ist von mir“, sagte Clerambault, „aber ihr
-Sinn ist durch den Artikel entstellt...“</p>
-
-<p>Camus hatte das Ende des Satzes nicht abgewartet, er
-brüllte los:</p>
-
-<p>„Du hast so etwas geschrieben, du, du,...“</p>
-
-<p>Clerambault versuchte seinen Schwager zu beruhigen, bat
-ihn, doch nicht zu urteilen, ehe er alle Einzelheiten wüßte.
-Aber der andere behandelte ihn hartnäckig wie einen Wahnsinnigen
-und schrie:</p>
-
-<p>„Ich kümmere mich nicht um das alles. Hast du gegen
-den Krieg, gegen das Vaterland geschrieben oder nicht?“</p>
-
-<p>„Ich habe geschrieben, daß der Krieg ein Verbrechen ist, und
-daß alle Vaterländer sich damit beschmutzt haben.“</p>
-
-<p>Camus fuhr auf, ohne Clerambault die Möglichkeit zu geben,
-sich weiter zu erklären, machte eine Bewegung, als ob
-er ihn am Halse fassen wollte, hielt sich aber zurück und
-schleuderte ihm ins Gesicht, daß <span class='gesp'>er</span> der Verbrecher sei, und
-daß er verdiente, sofort vor das Kriegsgericht zu kommen.</p>
-
-<p>Auf sein Geschrei hin begann das Mädchen an der Tür zu
-horchen, Madame Clerambault lief herbei, versuchte mit
-einem Strom von Worten über sein aufgebrachtes Wesen
-ihren Bruder zu beruhigen. Clerambault, ganz betäubt,
-bot vergebens Camus an, ihm die beschuldigte Broschüre
-vorzulesen, aber Camus verweigerte es mit einem Zornesausbruch
-und sagte, ihm genüge schon, das von diesem
-Dreck zu kennen, was die Zeitungen davon gebracht hatten.
-(Er nannte die Zeitungen Lügner, bestätigte aber ihre
-Lügen.) Schließlich trat er als Richter auf, forderte Clerambault
-auf, unverzüglich und in seiner Gegenwart eine
-briefliche öffentliche Abschwörung zu schreiben. Clerambault
-zuckte die Achseln und sagte, er sei niemandem
-Rechenschaft schuldig als seinem Gewissen, er sei frei.</p>
-
-<p>„Nein!“ schrie Camus.</p>
-
-<p>„Wie? Ich bin nicht frei, ich habe nicht das Recht zu sagen,
-was ich denke?“</p>
-
-<p>„Nein, du bist nicht frei! Nein, du hast nicht dieses Recht“,
-schrie Camus ganz außer sich. „Du hast Rücksichten zu
-nehmen auf das Vaterland und vor allem auf deine Familie.
-Sie hätte das Recht, dich einsperren zu lassen.“ Er verlangte,
-daß der Brief sofort geschrieben würde, augenblicklich!
-Clerambault wandte ihm den Rücken. Camus ging weg,
-schlug die Tür zu und schrie, er würde nie mehr den Fuß
-hierher setzen, zwischen ihnen sei alles zu Ende.</p>
-
-<p>Nachher mußte Clerambault noch die Fragen seiner in Tränen
-aufgelösten Frau über sich ergehen lassen, die, ohne zu
-wissen, was er getan hatte, seine Unvorsichtigkeit beklagte
-und ihn fragte, warum in aller Welt er denn nicht schweige.
-Hätten sie denn noch nicht Unglück genug, wozu dieses Bedürfnis
-zu reden und vor allem diese unsinnige Sucht, anders
-reden zu wollen als die anderen.</p>
-
-<p>Rosine kam von einer Besorgung zurück. Clerambault
-nahm sie zum Zeugen, erzählte ihr wirr die peinliche Szene,
-die sich eben abgespielt hatte, bat sie, sich an seinen Tisch zu
-setzen, damit er ihr den Artikel vorlesen könne. Ohne sich die
-Zeit zu nehmen, die Handschuhe auszuziehen oder den Hut
-abzulegen, setzte sich Rosine zu ihrem Vater, hörte still und
-klug zu. Als er geendigt hatte, stand sie auf, umarmte ihn
-und sagte:</p>
-
-<p>„Ja, das ist schön!... Aber, Papa, wozu hast du das
-getan?“</p>
-
-<p>Clerambault war ganz verstört.</p>
-
-<p>„Wie? Wie? Wozu ich das getan habe? Ist es denn nicht
-richtig?“</p>
-
-<p>„Ich weiß nicht, ja, ich glaube... es muß wohl richtig sein,
-da du es sagst.... Aber vielleicht war es nicht nötig, es
-zu schreiben.“</p>
-
-<p>„Nicht nötig? Wenn es richtig ist, so ist es auch nötig.“</p>
-
-<p>„Aber es macht ja einen solchen Lärm.“</p>
-
-<p>„Ist das ein Grund dagegen?“</p>
-
-<p>„Aber wozu die Leute aufreizen?“</p>
-
-<p>„Sieh, Kind, du glaubst doch auch, was ich geschrieben habe?“</p>
-
-<p>„Ja, ich glaube, Papa...“</p>
-
-<p>„Warte. Du glaubst... Du verabscheust den Krieg; wie
-ich, möchtest du ihn beendet sehen. Alles, was ich hier gesagt
-habe, habe ich dir schon früher gesagt, und du dachtest
-genau so wie ich....“</p>
-
-<p>„Ja, Papa.“</p>
-
-<p>„Also du findest es richtig?“</p>
-
-<p>„Ja, Papa.“</p>
-
-<p>Sie legte ihre Arme um seinen Hals.</p>
-
-<p>„Aber es ist doch nicht notwendig, alles niederzuschreiben.“</p>
-
-<p>Clerambault versuchte, traurig, ihr zu erklären, was ihm
-ganz klar schien. Rosine hörte zu und gab ruhig Antwort.
-Aber das einzig Klare war, daß sie nichts verstand. Um
-ein Ende zu machen, umarmte sie nochmals ihren Vater
-und sagte:</p>
-
-<p>„Ich habe dir meine Ansicht gesagt, aber du weißt das
-ja besser als ich. Es steht mir nicht zu, darüber zu entscheiden.“</p>
-
-<p>Sie lächelte ihrem Vater zu und kehrte in ihr Zimmer zurück,
-ohne zu ahnen, daß sie ihm seine beste Stütze genommen
-hatte.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>er beschimpfende Angriff blieb nicht vereinzelt. Sobald
-einmal die Schellen gelöst waren, hörten sie nicht mehr
-auf zu klingeln. Nur hätte sich in der allgemeinen Verwirrung
-ihr Lärm verloren ohne die erbitterte Anstrengung
-einer Stimme, die gegen Clerambault den ganzen
-Chor vielfältigster Bösartigkeit dirigierte.</p>
-
-<p>Es war die eines seiner ältesten Freunde, des Schriftstellers
-Octave Bertin. Sie waren zusammen im Lyzeum Henri
-<span style='font-size:smaller'><span class='it'>IV.</span></span> Schüler gewesen. Dort hatte der junge, feine, elegante,
-frühreife Pariser Bertin das linkische und enthusiastische
-Entgegenkommen dieses großen Burschen gern angenommen,
-der aus der Provinz kam, geistig ebenso unbeholfen
-wie körperlich (seine Arme und Beine schienen in
-den zu kurz gewordenen Kleidern kein Ende nehmen zu
-wollen), und der ein ganz seltsames Gemisch von Unschuld,
-naiver Unwissenheit, schlechtem Geschmack, von Pathos und
-überschäumender Kraft, von originellen Einfällen und
-packenden Bildern darstellte. Weder die Lächerlichkeiten
-noch der innere Reichtum Clerambaults waren den klugen
-und scharfen Augen Bertins entgangen, und er hatte ihn
-schließlich als intimen Freund aufgenommen, wobei die
-Bewunderung Clerambaults für ihn keinen geringen Einfluß
-auf diesen seinen Entschluß hatte. Durch mehrere
-Jahre hatten sie im geschwätzigen Überschwang ihre jugendlichen
-Gedanken geteilt. Beide träumten davon, Künstler
-zu werden, lasen einander ihre Versuche vor und bekämpften
-einander in endlosen Diskussionen. Bertin behielt
-immer das letzte Wort, wie er ja in allem die Überlegenheit
-behielt, die übrigens Clerambault ihm zu bestreiten
-niemals die Absicht hatte. Er hätte sie viel eher
-mit Faustschlägen jedem aufgezwungen, der sie geleugnet
-hätte. Mit offenem Munde bestaunte er die gedankliche
-und stilistische Virtuosität dieses blendenden jungen
-Mannes, der gleichsam im Spiel auf der Universität alle
-Erfolge davontrug, und den seine Lehrer von vornherein
-zu den höchsten Stellungen berufen sahen — womit sie
-natürlich meinten, zu allen offiziellen und akademischen.
-Auch Bertin verstand es so. Er hatte Eile emporzukommen
-und dachte, daß die Frucht des Ruhmes am besten schmecke,
-wenn man sie mit den Zähnen eines Zwanzigjährigen zerbeiße.
-Noch ehe er die Schule verlassen hatte, fand er eine
-Möglichkeit, in einer großen Pariser Revue eine Serie von
-Essays zu veröffentlichen, die sofort seinen Namen bekannt
-machten, und ohne nur Atem zu schöpfen, brachte er dann
-Schlag auf Schlag einen Roman in der Art d’Annunzios,
-eine Komödie im Stile Rostands, ein Buch über die Liebe, ein
-anderes über die Reform der Gesetzgebung, eine Enquete
-über den Modernismus, eine Monographie Sarah Bernhardts
-und schließlich jene „Dialoge der Lebendigen“ heraus,
-deren sarkastische und klug abgewogene Geschmeidigkeit
-ihm die Pariser Chronik in einem der ersten Boulevardblätter
-verschaffte. Nun einmal in den Journalismus
-eingetreten, blieb er darin. Er gehörte schon zu den Sternen
-des literarischen <span class='it'>Tout Paris</span>, als der Name Clerambaults
-noch unbekannt war. Clerambault dagegen nahm erst
-ganz langsam von seiner inneren Welt Besitz. Er hatte zuviel
-damit zu tun, gegen sich selbst zu kämpfen, als daß er
-viel Zeit auf die Eroberung der Öffentlichkeit hätte verwenden
-können. So kamen auch seine ersten Bücher, die er mit
-Not hatte zum Druck bringen können, kaum über einen
-Kreis von zehn Lesern hinaus. Man muß Bertin die Gerechtigkeit
-widerfahren lassen, daß er zu diesen Zehn gehörte,
-daß er das Talent Clerambaults zu schätzen wußte und dies
-sogar gelegentlich aussprach. Und solange Clerambault
-noch unbekannt war, leistete er sich den Luxus, ihn zu verteidigen,
-allerdings nicht ohne dem Lob einige freundschaftliche
-Ratschläge von oben herab beizufügen, die Clerambault
-nicht immer befolgte, aber immer mit dem gleichen zärtlichen
-Respekt anhörte.</p>
-
-<p>Dann wurde Clerambault bekannt, schließlich sogar berühmt.
-Bertin war darüber sehr erstaunt, eigentlich aufrichtig zufrieden
-mit dem Erfolg seines Freundes und doch darüber
-ein wenig verärgert. Er ließ durchblicken, daß er ihn übertrieben
-fände, daß für ihn der beste Clerambault der unbekannte
-war — jener vor dem Ruhm. Er versuchte es
-manchmal, dies Clerambault zu erklären, der nicht nein und
-nicht ja sagte, denn er wußte nichts darüber und befaßte
-sich damit kaum, er hatte immer nur ein neues Werk im
-Kopfe. Die beiden alten Kameraden waren in ausgezeichneten
-Beziehungen verblieben, aber sie waren allmählich
-mehr voneinander abgerückt.</p>
-
-<p>Der Krieg hatte aus Bertin einen wilden Scharfmacher gemacht.
-Früher im Lyzeum hatte er den provinzlerischen Clerambault
-immer erschreckt durch seine freche Respektlosigkeit
-gegen alle politischen oder gesellschaftlichen Werte, gegen
-Vaterland, Moral und Religion, und hatte auch dann in
-seinen literarischen Werken diesen Anarchismus wohlgefällig
-zur Schau getragen, allerdings in einer skeptischen,
-mondänen und matten Form, mit der er ja dem Geschmacke
-seines reichen Leserkreises am besten entsprach.
-Mit diesem Leserkreis und dessen Lieferanten, den Kollegen
-von der Boulevardpresse und den Boulevardtheatern, diesen
-Enkelchen eines Parny und des jüngeren Crébillon,
-richtete er sich plötzlich als Brutus auf, der bereit ist, seine
-Söhne zu opfern. Er hatte vielleicht dafür die Entschuldigung,
-daß er keine besaß, aber das tat ihm möglicherweise leid.</p>
-
-<p>Clerambault hatte ihm nichts vorzuwerfen und dachte auch
-nicht daran. Aber noch weniger dachte er daran, daß sein
-alter Kamerad, der Amoralist, ihm gegenüber den Anwalt
-des beleidigten Vaterlandes spielen würde; war er aber wirklich
-nur der des Vaterlandes? Die zornerbitterte Schmähschrift,
-die Bertin Clerambault entgegenschleuderte, schien
-ihm irgendwie einen persönlichen Haß zu enthüllen, den
-Clerambault sich nicht erklären konnte. Bei der allgemeinen
-Verwirrung der Geister wäre es verständlich gewesen, daß
-Bertin von den Gedanken Clerambaults empört gewesen
-und sich dann offen unter vier Augen mit ihm auseinandergesetzt
-hätte. Aber ohne ihn vorher zu verständigen, begann
-er mit einer öffentlichen Abschlachtung. Auf der
-ersten Seite seines Blattes fiel er ihn mit einer unerhörten
-Heftigkeit an und beschimpfte nicht nur seine Ideen,
-sondern auch seinen Charakter. Die tragische Gewissenskrise
-Clerambaults deutete er als einen Anfall literarischer
-Großmannssucht, die durch den übermäßigen Erfolg seiner
-Werke verursacht sei, und es machte den Eindruck, als
-hätte er eigens die Ausdrücke gesucht, die für Clerambaults
-Selbstgefühl am verletzendsten sein mußten. Der Aufsatz
-endete in einem Ton beleidigender Überhebung und forderte
-die sofortige Zurücknahme des Irrtums.</p>
-
-<p>Die Vehemenz des Artikels, der bekannte Name des Chronisten
-machten sofort aus dem „Fall Clerambault“ ein
-Pariser Ereignis. Er beschäftigte die Presse beinahe eine
-ganze Woche, was für jene Spatzenhirne viel bedeutet.
-Fast niemand nahm sich die Mühe, die Texte Clerambaults
-selbst zu lesen: das war ja nicht nötig, Bertin
-hatte sie ja gelesen. Die Kollegenschaft hat nicht die Gewohnheit,
-eine überflüssige Arbeit noch einmal zu machen,
-es handelte sich auch nicht darum, zu lesen, es handelte
-sich darum, jemand zu richten. Eine seltsame Art von
-Burgfrieden kam auf Kosten Clerambaults zustande.
-Klerikale, Jakobiner waren darin einig, ihn tot zu machen.
-Von einem Tag zum andern war ohne Übergang
-der gestern bewunderte Mann in den Schlamm gezogen,
-der nationale Dichter ein Feind der Gemeinschaft geworden.
-Alle die Myrmidonen der Zeitung beteiligten sich an der
-heroischen Beschimpfung und die meisten brachten gleichzeitig
-mit ihrer ursprünglichen bösen Absicht auch eine ganz
-unwahrscheinliche Unbildung zutage. Denn nur wenige von
-ihnen kannten die Werke Clerambaults, kaum wußten sie
-seinen Namen und den Titel eines seiner Bücher, aber
-das hinderte sie ebensowenig, ihn heute herunterzureißen,
-wie es sie gestern gestört hatte, ihn in den Himmel zu heben,
-als er noch in Mode war. Jetzt fanden sie in allem, was er
-geschrieben hatte, Spuren von „Bochismus“. Ihre Zitate
-waren übrigens regelmäßig ungenau, einer von ihnen bedachte
-sogar Clerambault im Feuer seiner Anklage mit der
-Autorschaft des Werkes eines andern, der dann, bleich vor
-Furcht, sofort mit Entrüstungsprotesten jede Solidarität
-mit dem gefährlichen Kollegen öffentlich ablehnte. Clerambaults
-Freunde, beunruhigt über ihre Intimität mit
-ihm, warteten nicht darauf, daß man sie ihnen vorwarf.
-Sie trafen ihre Vorkehrungen und richteten an ihn „offene
-Briefe“, die die Zeitungen an bester Stelle veröffentlichten.
-Die einen, wie Bertin, fügten ihrem öffentlichen Tadel
-eine pathetische Beschwörung bei, <span class='it'>mea culpa</span> zu machen,
-andere wandten sich, selbst ohne diesen milden Vorbehalt,
-in bitteren und beleidigenden Worten von ihm ab. Diese
-Fülle von Gehässigkeit machte Clerambault ganz wirr. Sie
-konnte doch nicht durch seine Aufsätze allein verursacht sein,
-sie mußte doch längst schon in den Herzen dieser Menschen
-gebrütet haben. Mein Gott, soviel verborgener Haß....
-Was hatte er ihnen denn getan?... Der erfolgreiche
-Künstler ahnt nicht, daß mehr als einer unter denen, die
-ihm mit einem freundlichen Lächeln folgen, unter diesem Lächeln
-die Zähne verbirgt, die nur auf die Stunde warten,
-da sie zuschnappen können.</p>
-
-<p>Clerambault bemühte sich, vor seiner Frau die Beschimpfungen
-der Zeitungen verborgen zu halten. Wie ein Schulbub,
-der seine schlechten Noten verschwinden läßt, lauerte
-er auf den Postboten, um die bösartigen Zeitungen rechtzeitig
-beiseite zu schaffen. Aber ihr Gift drang schließlich
-bis in die Luft, die sie atmeten. Frau Clerambault und
-Rosine bekamen in der Gesellschaft verletzende Anspielungen,
-kleine Beleidigungen und Beschimpfungen zu hören.
-Mit dem eingebornen Instinkt für Gerechtigkeit, der für
-das menschliche Wesen und besonders für die Frau so
-charakteristisch ist, machte man sie verantwortlich für die
-Ideen Clerambaults, die sie kaum kannten und nicht guthießen.
-(Diejenigen, die sie beschuldigten, kannten sie allerdings
-ebensowenig.) Die Höflichsten unter ihnen übten die
-Technik des Verschweigens, sie vermieden es sichtlich, nach
-Clerambault zu fragen oder seinen Namen auch nur auszusprechen....
-„Man spricht nicht vom Strick des Henkers
-im Hause des Gehenkten.“ Dieses berechnete Schweigen
-wirkte dann noch beleidigender als ein Tadel: es war, als
-ob Clerambault eine betrügerische Schwindelei oder ein
-Sittlichkeitsverbrechen begangen hätte. Frau Clerambault
-kam erbittert heim. Rosine tat so, als kümmerte sie sich
-nicht darum, aber Clerambault merkte, daß sie daran litt.
-Eine Freundin, die ihnen auf der Straße begegnete, ging
-auf das andere Trottoir hinüber und wandte den Kopf
-weg, um nicht grüßen zu müssen. Rosine wurde aus einem
-Wohltätigkeitskomitee ausgeschlossen, wo sie seit mehreren
-Jahren aufopferungsvolle Arbeit tat.</p>
-
-<p>In dieser allgemeinen patriotischen Mißbilligung zeichneten
-sich vor allem die Frauen durch ihre Erbitterung aus.
-Nirgends fand der Ruf Clerambaults zur Annäherung
-und Versöhnung wütendere Gegner. Und so war es überall.
-Die Tyrannei der öffentlichen Meinung, diese vom
-modernen Staat geschaffene Unterdrückungsmaschine, die
-noch despotischer ist als er selbst, hat während des Krieges keinen
-grausameren Handlanger gefunden als gewisse Frauen.
-Bertrand Russel erzählte den Fall eines armen Kerls, eines
-Straßenbahnschaffners, der, verheiratet, Familienvater
-und vom Heere zurückgestellt, sich aus Verzweiflung über die
-Beschimpfungen, mit denen die Frauen von Middlesex ihn
-verfolgten, das Leben nahm. In allen Ländern sind tausende
-Unglückliche wie er von diesen Bacchantinnen des Krieges
-gehetzt, verrückt gemacht und an die Schlachtbank
-geliefert worden.... Seien wir darüber nicht überrascht.
-Um diese fanatische Wildheit nicht erwartet zu haben,
-mußte man zu jenen gehören, die so wie Clerambault bisher
-im Einklange mit der öffentlichen Meinung und in
-der Idealistik des allgemeinen Ruhezustandes gelebt haben.
-Trotz aller Anstrengung der Frauen, immer dem lügnerischen
-Ideal zu gleichen, das sich der Mann zu seiner Zufriedenheit
-und seiner Beruhigung ersonnen hat, ist doch
-die Frau, mag sie selbst so bleichsüchtig, verfeinert und veredelt
-sein wie die von heute, doch noch mehr dem Urmenschen
-verwandt als der Mann. Sie lebt näher der
-Quelle der Instinkte und ist stärker begabt mit jenen Kräften,
-die weder moralisch noch unmoralisch, sondern ganz
-einfach animalisch sind. Wenn auch die Liebe ihre wesentliche
-Funktion ist, so ist es doch keineswegs die durch die
-Vernunft sublimierte Liebe, sondern die blinde und überschwengliche
-Liebe im Urzustand, wo sich Egoismus und
-Opfertum vermengen, beide gleich unbewußt und beide
-im Dienste der dunkeln Ziele der Rasse. Alle die zarten
-und blütenhaften Verzierungen, unter denen dieses Paar
-jene Gewalten zu verbergen sucht, vor denen es selbst
-erschrickt, sind gleichsam ein Geflecht von Schlingpflanzen
-über einem Sturzbach. Ihr Zweck ist, über die Wirklichkeit
-hinwegzutäuschen. Würden die schwächlichen Seelen der
-Menschen geradeaus den ungeheuren Kräften, von denen
-sie fortgerissen werden, ins Auge schauen, so könnten
-sie das Leben nicht ertragen. Darum bemüht sich ihre erfindungsreiche
-Feigheit, sich geistig ihrer Schwäche anzupassen.
-Sie lügen in ihrer Liebe, sie lügen im Hasse, lügen
-in Bezug auf die Frau, lügen in Bezug auf das
-Vaterland und seine Götter. Aus Angst, die sichtbar werdende
-Wirklichkeit könnte sie aus dem Gleichgewicht bringen
-und erschüttern, ersetzen sie sich diese Wirklichkeit durch
-die matten Farben ihres Idealismus.</p>
-
-<p>Der Krieg nun hatte diesen schwächlichen Schutzwall hinstürzen
-lassen. Clerambault sah, wie das Kleid der katzenhaften
-Höflichkeit, mit der sich die Zivilisation umhüllte,
-zu Boden fiel. Nun wurde das grausame Tier sichtbar.</p>
-
-<p>Die Nachsichtigsten unter den früheren Freunden Clerambaults
-waren jene, die zur politischen Welt gehörten, die
-Abgeordneten, die Minister von gestern oder von morgen.
-Gewohnt, die Menschenherde an der Nase herumzuführen,
-wußten jene, wie wenig sie wert ist. Ihnen schien die
-kühne Äußerung Clerambaults recht naiv. Sie selbst
-dachten noch zehnmal Böseres, fanden es aber töricht,
-diese Erkenntnis auszusprechen, gefährlich, sie niederzuschreiben,
-und am allergefährlichsten, auf sie zu antworten.
-Denn was man offen angreift, macht man dadurch bekannt,
-und was man verurteilt, dem mißt man doch eine Bedeutung
-bei. Nach ihrer Meinung wäre es daher am besten gewesen,
-klug zu den unbequemen Schriften zu schweigen, die
-ja die verschlafene und verdöste öffentliche Meinung von
-selbst gar nie bemerkt hätte.</p>
-
-<p>Diese Art Technik war ja während des Krieges in Deutschland
-von oben aus anbefohlen und befolgt worden. Dort
-erstickten die öffentlichen Machthaber die unbotmäßigen
-Schriftsteller, wenn sie sie nicht ohne Lärm erdrosseln konnten,
-unter Blumengewinden. Aber der politische Geist der
-französischen Demokratie ist offener und gleichzeitig beschränkter.
-Sie verstehen sich dort nicht auf Schweigen.
-Statt ihren Haß zu verstecken, reißen sie ihn auf die Tribüne,
-um ihn dort in die Welt zu donnern. Die französische
-Freiheit ist so, wie Rude sie dargestellt hat: brüllend,
-mit aufgerissenem Mund. Wer nicht ganz so denkt wie sie,
-ist allsogleich ein Verräter; es findet sich gleich irgendein
-kleiner Journalist, der erzählt, um wie viel Geld diese freie
-Stimme gekauft sei, und zwanzig Besessene hetzen gegen sie
-die Tollwut der Maulaffen. Ist dann einmal der Tanz im
-Gang, so kann man nichts tun, als warten, bis sich die
-Tollheit durch ihr Übermaß erschöpft hat; solange: rette
-sich, wer kann! Die Vorsichtigen bringen sich in Sicherheit
-oder heulen mit den Wölfen.</p>
-
-<p>Der Leiter jener Tageszeitung, die seit einigen Jahren sich
-eine Ehre daraus gemacht hatte, die Gedichte Clerambaults
-zu veröffentlichen, ließ ihm vertraulich sagen, er fände diesen
-ganzen Lärm lächerlich, und die ganze Sache sei kein Hundshaar
-wert, aber zu seinem großen Bedauern sehe er sich genötigt,
-um seiner Abonnenten willen ihm eins zu versetzen...
-natürlich in aller Höflichkeit... Selbverständlich
-in aller Form.... Und nichts für ungut, nicht wahr?
-Und wirklich, der Angriff war gar nicht gewalttätig, er
-beschränkte sich bloß darauf, Clerambault lächerlich zu
-machen. Und selbst Perrotin — wie kläglich ist doch das
-Menschengeschlecht! — ironisierte ihn in einem Interview
-auf geistreichste Weise, ließ die Leute auf seine Kosten
-lachen, gedachte aber dabei heimlich sein Freund zu bleiben.</p>
-
-<p>In seinem eigenen Hause fand Clerambault keine Unterstützung
-mehr. Seine alte Gefährtin, die seit dreißig Jahren
-nur durch ihn dachte und seine Gedanken wiederholte, ehe
-sie sie selber verstand, war erschrocken und zornig über
-seine neuen Worte, warf ihm bitter vor, diesen Skandal
-heraufbeschworen, seinen Namen und den der ganzen
-Familie ins Unrecht gesetzt und das Andenken ihres
-toten Kindes, die Idee der heiligen Rache und des Vaterlandes
-geschädigt zu haben. Rosine ihrerseits liebte ihn
-noch immer, aber sie verstand ihn nicht mehr. Eine Frau
-kann selten die Forderungen des Geistes anerkennen, sie
-kennt nur die Forderungen des Herzens. Ihr hatte es genügt,
-daß ihr Vater sich nicht mit Worten des Hasses verband,
-daß er mitleidsvoll und gut blieb, doch wünschte sie
-keineswegs, daß er diese Gefühle in Theorien verwandelte,
-und noch weniger, daß er sie öffentlich aussprach. Sie hatte
-den zugleich zärtlichen und praktischen gesunden Menschenverstand
-einer, die die Forderungen des Herzens gewahrt
-wissen will und sich mit dem Übrigen abfindet. Aber das unbeugsame
-logische Bedürfnis, das den Mann treibt, die äußersten
-Konsequenzen seines Glaubens zu ziehen, war ihr unverständlich.
-Soweit konnte sie nicht mit. Ihre Stunde war
-vorüber, die Stunde, wo sie unbewußt die Aufgabe übernommen
-und erfüllt hatte, mütterlich ihren schwachen, unsicheren
-und zerbrochenen Vater aufzurichten und ihn unter
-ihrem Flügel zu bergen, sein Gewissen zu retten und ihm die
-Fackel wieder in die Hand zu drücken, die er fallen gelassen
-hatte. Jetzt, da er sie wieder in Händen trug, war ihre Aufgabe
-erfüllt. Sie war wieder das liebende, unscheinbare
-„kleine Mädchen“ geworden, das die großen Geschehnisse der
-Zeit mit ein wenig gleichgültigen Blicken sieht, und nur im
-Grunde ihrer Seele blieb etwas zurück von dem feurigen
-Licht der überirdischen Stunde, die sie gelebt hatte, die sie
-fromm bewahrte und deren Sinn sie nicht mehr verstand.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>U</span>ngefähr um dieselbe Zeit empfing Clerambault den Besuch
-eines jungen Urlaubers aus einer befreundeten
-Familie. Daniel Favre, Sohn eines Ingenieurs und selbst
-Ingenieur, dessen lebendige Intelligenz aber nicht durch
-seinen Beruf beschränkt wurde, hatte seit langem eine Leidenschaft
-für Clerambault gefaßt: der mächtige Aufschwung
-der modernen Wissenschaft hatte sein Gebiet seltsam jenem
-der Dichtung angenähert, war doch die Technik gewissermaßen
-selbst das größte der zeitgenössischen Gedichte geworden.
-Daniel war ein enthusiastischer Leser Clerambaults.
-Sie hatten innige Briefe gewechselt und der junge Mann,
-dessen Familie mit der Clerambaults in Beziehungen stand,
-kam oft zu ihnen, und vielleicht auch nicht bloß, um dem
-Dichter zu begegnen. Die Besuche dieses liebenswerten,
-etwa dreißigjährigen Menschen, eines großen, gutgewachsenen
-Burschen mit festen Zügen, einem scheuen Lächeln, mit
-hellen Augen im sonnverbrannten Gesicht, wurden immer
-freudig aufgenommen, und Clerambault war nicht der einzige,
-den sie erfreuten. Für Daniel wäre es leicht gewesen,
-sich einen Hinterlandsdienst in irgendeiner Metallfabrik
-zu sichern, aber er hatte selbst gefordert, seinen gefährlichen
-Posten an der Front nicht verlassen zu müssen, wo er
-sich rasch den Leutnantsgrad erworben hatte. Der Urlaub
-bot ihm Gelegenheit, Clerambault zu besuchen.</p>
-
-<p>Clerambault war allein, seine Frau und seine Tochter waren
-ausgegangen. Freudig empfing er den jungen Freund. Aber
-Daniel schien befangen, und nachdem er längere Zeit auf
-die Fragen Clerambaults recht und schlecht geantwortet
-hatte, schnitt er geradewegs die Sache an, die ihm am Herzen
-lag. Er sagte, er hätte an der Front von den Artikeln
-Clerambaults gehört, und dies hätte ihn verwirrt. Man
-sagte... oder man behauptete... schließlich, man sei ja
-so streng... er wisse ja, daß es ungerecht sei... aber er
-sei gekommen — und dabei faßte er die Hand Clerambaults
-in einer Art zärtlicher Scheu — um ihn zu bitten, sich nicht
-von jenen zu trennen, die ihn liebten. Er erinnerte ihn an
-die Ehrfurcht, die der Dichter, der einst die französische Erde
-und die innere Größe der Rasse gefeiert hatte, allgemein
-einflöße.... „Bleiben Sie, bleiben Sie mit uns in dieser
-Stunde der Prüfungen....“</p>
-
-<p>„Nie bin ich mehr mit euch gewesen“, antwortete Clerambault.
-Und er fragte ihn:</p>
-
-<p>„Sie sagen mir, lieber Freund, daß man das, was ich
-geschrieben hätte, verunglimpfe. Was denken Sie selbst
-davon?“</p>
-
-<p>„Ich habe es nicht gelesen“, sagte Daniel. „Ich wollte es
-nicht lesen. Ich hatte Furcht, in meiner Zuneigung für Sie
-gekränkt oder an der Erfüllung meiner Pflicht gehindert
-zu sein.“</p>
-
-<p>„Dann haben Sie wenig Vertrauen zu sich, wenn Sie fürchten,
-durch das Lesen von ein paar Zeilen in Ihrer Überzeugung
-erschüttert zu werden.“</p>
-
-<p>„Ich bin meiner Überzeugung sicher“, antwortete Daniel
-ein wenig gereizt, „aber es gibt gewisse Dinge, für die
-es besser ist, wenn man sie nicht in die Diskussion zieht.“</p>
-
-<p>„Seltsam“, sagte Clerambault, „das ist ein Wort, das ich
-mir nicht von einem Mann der Wissenschaft erwartete. Was
-hat die Wahrheit dabei zu verlieren, wenn man sie untersucht?“</p>
-
-<p>„Die Wahrheit nichts, aber die Liebe. Die Liebe zum Vaterland.“</p>
-
-<p>„Mein lieber Daniel, Sie sind viel kühner als ich. Ich stelle
-die Wahrheit nicht in einen Gegensatz zur Vaterlandsliebe.
-Ich versuche nur, sie in Einklang zu bringen.“</p>
-
-<p>Daniel schnitt kurz ab. „Man diskutiert nicht über das
-Vaterland.“</p>
-
-<p>„Es ist also“, sagte Clerambault, „ein Glaubensartikel?“</p>
-
-<p>„Ich glaube an keine Religion“, protestierte Daniel, „an
-keine, und gerade darum denke ich so. Was bliebe denn
-noch auf Erden, wenn es nicht das Vaterland gäbe?“</p>
-
-<p>„Nun, ich denke, es gibt auf der Erde viele gute und schöne
-Dinge, das Vaterland ist bloß eines davon. Ich liebe es
-auch. Und ich stelle auch nicht die Liebe zum Vaterland
-in Frage, sondern nur die Art, es zu lieben.“</p>
-
-<p>„Es gibt nur eine“, sagte Daniel.</p>
-
-<p>„Und die wäre?“</p>
-
-<p>„Ihm gehorchen.“</p>
-
-<p>„Also die Liebe mit geschlossenen Augen, so wie im antiken
-Symbol. Ich meinerseits möchte sie ihr lieber öffnen.“</p>
-
-<p>„Nein, lassen Sie uns, wie wir sind! Unsere Aufgabe ist
-schon ohnehin hart genug, machen Sie sie uns nicht noch
-grausamer.“ Und mit einigen nüchternen, abgehackten, von
-Erregung bebenden Sätzen stellte Daniel die furchtbaren
-Bilder jener Wochen hin, die er eben im Schützengraben
-verlebt hatte, den Ekel und den Abscheu vor all dem, was er
-gelitten hatte, leiden gesehen und leiden gemacht hatte.</p>
-
-<p>„Aber mein lieber Freund“, sagte Clerambault, „wenn Sie
-diese erbärmliche Schande selber sehen, warum sollen wir sie
-denn nicht verhindern?“</p>
-
-<p>„Weil es unmöglich ist.“</p>
-
-<p>„Um das zu wissen, käme es erst auf einen Versuch an.“</p>
-
-<p>„Das Gesetz der Natur ist der Kampf der Wesen gegeneinander.
-Zerstören oder zerstört werden. So und nur so
-ist es.“</p>
-
-<p>„Und wird sich das nie ändern?“</p>
-
-<p>„Nein“, sagte Daniel mit einem Ton hartnäckigen Schmerzes,
-„es ist ein Gesetz.“</p>
-
-<p>Es gibt Männer der Wissenschaft, denen die Wissenschaft so
-sehr die Wirklichkeit, die sie umschließt, verbirgt, daß sie
-sie unter dem Netz nicht mehr sehen; sie hat sich ihnen
-entzogen. Sie umfassen die ganze von der Wissenschaft
-umspannte Zone, halten es aber für unmöglich und sogar
-lächerlich, dieses Reich über die einmal von der Vernunft
-gezogene Grenze hinaus zu erweitern. Sie glauben bloß
-an einen Fortschritt, der an die Innenseite der Umfriedung
-gekettet ist. Clerambault kannte nur zu gut das spöttische
-Lächeln, mit dem die großen Gelehrten der offiziellen
-Schulen ohne jede nähere Prüfung die Eingebungen der
-Erfinder ablehnen. Eine gewisse Art der Wissenschaft ist
-mit Folgsamkeit vollkommen vereinbar. Wenigstens verband
-Daniel mit der seinen keine Ironie, vielmehr den Ausdruck
-einer stoischen und unbeirrbaren Traurigkeit. Es
-fehlte ihm nicht an geistiger Kühnheit, aber die hatte er
-einzig in den abstrakten Dingen. Dem Leben selbst gegenübergestellt,
-bot er eine Mischung — oder besser eine Aufeinanderfolge
-— von Ängstlichkeit und Starrsinn dar, von
-zögernder Bescheidenheit und trotziger Überzeugung. Wie
-die meisten Menschen war er ein zusammengesetztes, zwiespältiges
-Wesen, aus einzelnen Teilen und Stücken bestehend,
-nur daß bei einem Intellektuellen und besonders
-bei einem Mann der Wissenschaft die einzelnen Stücke
-nicht ganz ineinanderpassen und daß die Fugen sichtbar
-werden.</p>
-
-<p>„Aber“, sagte Clerambault, die Betrachtungen, die in der
-Stille durch seinen Sinn gingen, laut zu Ende führend,
-„selbst die Voraussetzungen der Wissenschaft sind doch in
-Umformung begriffen. Seit zwanzig Jahren durchlaufen
-die Grundvorstellungen der Chemie und der Physik eine
-Krise der Erneuerung, die sie gleichzeitig erschüttert und doch
-fruchtbar macht. Und einzig die sogenannten Gesetze, die die
-menschliche Gesellschaft oder, besser gesagt, das chronische
-Räubertum der Nationen regieren, sollten unveränderlich
-sein? Habt ihr in eurem Gedankenkreis keinen Raum für
-die Hoffnung einer höheren Zukunft?“</p>
-
-<p>„Wir könnten nicht kämpfen“, sagte Daniel, „hätten wir
-nicht die Hoffnung, eine gerechtere und menschlichere Weltordnung
-zu begründen. Viele meiner Gefährten sind der
-Überzeugung, dieser Krieg mache allen Kriegen ein Ende.
-Ich teile diese Hoffnung nicht, ich verlange nicht so viel.
-Ich weiß nur das eine, daß unser Frankreich in Gefahr
-ist, und daß seine Niederlage die der ganzen Menschheit
-wäre.“</p>
-
-<p>„Die Niederlage jedes Volkes ist eine der ganzen Menschheit,
-denn alle sind für sie notwendig. Die Vereinigung
-aller Völker wäre der einzige wahrhafte Sieg. Jeder andere
-richtet ebenso die Sieger wie die Besiegten zugrunde. Jeder
-Tag, der diesen Krieg verlängert, läßt das kostbare Blut
-Frankreichs fließen, und es ist in Gefahr, für immer erschöpft
-zu werden.“</p>
-
-<p>Daniel gebot diesen Worten mit einer erregten und schmerzlichen
-Geste Einhalt. Ja, das wußte er.... Das wußte er....
-Wer wußte es besser als er, daß Frankreich hinstarb, Tag für
-Tag, an seiner heroischen Anstrengung, daß die Blüte seiner
-Jugend, seiner Kraft, seiner Intelligenz, das lebendige Mark
-der Rasse in Sturzbächen hinströmte und zugleich der Reichtum,
-die Arbeit und der Kredit des französischen Volkes....
-Frankreich, blutend an allen Gliedern, ging den Weg, den
-Spanien vier Jahrhunderte zuvor gegangen war und der
-zu den Einsamkeiten des Eskurial führt.... Aber er wollte
-nicht, daß man ihm von den Möglichkeiten eines Friedens,
-der diese Qual beendigte, spräche, ehe der Feind gänzlich zu
-Boden geschmettert. Man dürfe nicht auf die Angebote, die
-Deutschland damals machte, antworten, nicht einmal, um
-sie in Erwägung zu ziehen. Man dürfe nicht einmal sprechen
-darüber. Und wie die Politiker, die Generale, die Journalisten
-und die Millionen armer Geschöpfe, die tollwütig die
-Lektion, die man ihnen eingelernt hatte, wiederholten, schrie
-auch Daniel: „Bis zum letzten Mann!“</p>
-
-<p>Clerambault sah mit zärtlichem Mitleid diesen wackeren,
-scheuen und heldenmütigen Burschen an, der von dem Gedanken
-erschreckt wurde, das Dogma in Frage zu ziehen,
-dessen Opfer er war. Hatte dieser wissenschaftliche Geist gar
-keinen Widerstand gegen den Widersinn eines solchen
-blutigen Spieles, dessen Einsatz der Tod ebenso für Frankreich
-wie für Deutschland — und vielleicht für Frankreich
-mehr als für Deutschland — war?</p>
-
-<p>Ja, er wehrte sich dagegen, aber er raffte sich trotzig zusammen,
-um es sich nicht einzugestehen. Von neuem beschwor
-Daniel Clerambault. „Ja, diese Gedanken mögen vielleicht
-wahr und gerecht sein, aber nur nicht jetzt, jetzt sind sie
-nicht an der Zeit... in zwanzig oder fünfzig Jahren!...
-Lassen Sie uns nur zuerst unsere Aufgabe erfüllen, zu
-siegen und die Freiheit der Welt, die Brüderlichkeit der
-Menschen durch den Sieg Frankreichs begründen.“</p>
-
-<p>Ach, der arme Daniel! Sah er denn nicht selbst im günstigsten
-Falle die Überhebung voraus, die verhängnisvoll diesen
-Sieg beschmutzen würde, und daß es dann am Besiegten
-sein würde, den krankhaften Wunsch und Willen zur
-Revanche und zum gerechten Sieg für sich zu erneuern?
-Jede Nation will das Ende aller Kriege durch ihren eigenen
-Sieg. Und von Sieg zu Sieg stürzt die Menschheit tiefer
-in ihre Niederlage hinab.</p>
-
-<p>Daniel erhob sich, um Abschied zu nehmen. Er drückte
-Clerambaults Hand und erinnerte ihn mit Ergriffenheit an
-seine Gedichte von einst, in denen er das heroische Wort
-Beethovens wiederholte, um das schöpferische Leiden zu
-feiern, das Wort: „Durch Leiden Freude.“</p>
-
-<p>„Ach! ach! Wie ihr uns mißversteht!... Wir besingen
-das Leiden, um uns davon zu befreien, aber ihr begeistert
-euch dafür. So wird unser Hymnus der Befreiung für die
-anderen Menschen ein Sang der Knechtung.“</p>
-
-<p>Clerambault gab keine Antwort. Er liebte diesen jungen
-Menschen; diese armen Kerle, die sich aufopfern, wissen
-wohl, daß sie nichts im Kriege zu gewinnen haben. Aber je
-mehr Opfer man von ihnen verlangt, desto gläubiger werden
-sie. Mögen sie dafür gesegnet sein!... Aber wenn sie
-nur nicht mit sich selbst auch die ganze Menschheit hinopfern
-wollten!</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault hatte Daniel gerade bis zur Wohnungstür
-geleitet, als Rosine zurückkam. Als sie den Besucher
-sah, hatte sie eine Bewegung entzückter Überraschung.
-Auch das Antlitz Daniels erhellte sich, und Clerambault
-entging nicht die freudige Belebtheit der beiden jungen
-Leute. Rosine forderte Daniel auf, noch einmal zurückzukommen
-und die Unterhaltung fortzusetzen, Daniel war
-schon im Begriff es zu tun, zögerte dann, lehnte ab, sich noch
-einmal niederzusetzen, und schützte dann mit einem schmerzlich
-gespannten Gesichtsausdruck irgendeinen vagen Vorwand
-vor, der ihn zwinge fortzugehen. Clerambault, der
-im Herzen seiner Tochter las, bestand freundschaftlich darauf,
-daß er wenigstens noch einmal vor seinem Urlaubsende
-wiederkäme. Daniel, in die Enge getrieben, sagte zuerst
-nein, dann ja, ohne sich fest zu verpflichten, um dann schließlich,
-dem Drängen Clerambaults nachgebend, einen bestimmten
-Tag festzusetzen. Dann nahm er in einer etwas kühlen
-Weise Abschied. Clerambault kehrte wieder in sein Arbeitszimmer
-zurück und setzte sich nieder. Rosine blieb unbeweglich
-und gedankenverloren mit schmerzlichem Ausdruck
-stehen. Clerambault lächelte ihr zu. Sie kam zu ihm und
-umarmte ihn.</p>
-
-<p>Der festgesetzte Tag ging vorüber, Daniel kam nicht zu ihnen
-herauf. Man wartete noch den nächsten Tag und den übernächsten,
-aber er war schon an die Front zurückgegangen.
-Auf Betreiben Clerambaults machte kurz darauf seine Frau
-mit Rosine den Eltern Daniels einen Besuch. Sie wurden
-von ihnen mit eisiger und beinahe verletzender Kälte empfangen.
-Frau Clerambault erklärte, als sie zurückkam, sie
-wolle nie mehr in ihrem Leben diese unerzogenen Leute
-sehen. Rosine hatte Mühe, ihre Tränen zu verbergen.</p>
-
-<p>In der Woche darauf kam ein Brief von Daniel an Clerambault.
-Ein wenig beschämt über sein Verhalten und
-das seiner Eltern, versuchte er weniger, es zu entschuldigen
-als zu erklären. Er machte eine zarte Anspielung, er hätte
-Hoffnung gehabt, einmal Clerambault näher zu stehen als
-bloß durch die Bande der Bewunderung, des Respektes und
-der Freundschaft. Aber, fuhr er fort, Clerambault hätte
-seine Zukunftsträume durch seine bedauerliche Rolle zunichte
-gemacht, die er glaubte in der Tragödie auf sich
-nehmen zu müssen, bei der es um das Leben des Vaterlandes
-ginge, und durch den Widerhall, den seine Stimme gefunden
-hätte. Seine Worte, die zweifellos falsch verstanden
-aber sichtlich unklug gewesen waren, hätten einen frevelhaften
-Charakter enthüllt, der die öffentliche Meinung aufgewühlt
-hätte. Unter den Offizieren der Front sei ebenso wie
-bei seinen Freunden im Hinterland die Erbitterung darüber
-die gleiche. Seine Eltern, die von jenem Traum des Glückes
-gewußt hätten, legten jetzt Protest ein, und so sehr er darunter
-leide, glaube er doch nicht das Recht zu haben, die Bedenken
-beiseite zu stoßen, deren Quelle ein tiefes Mitleid mit dem gekränkten
-Vaterland sei. Die öffentliche Meinung würde es
-nicht verstehen können, daß ein Offizier, der die Ehre hatte,
-sein Blut dem Vaterlande darbieten zu dürfen, an eine Verbindung
-denken könne, die man als eine Zustimmung zu so
-verderblichen Ideen ausdeuten könne. Freilich, die öffentliche
-Meinung hätte zweifellos unrecht, aber man müsse
-immer mit der öffentlichen Meinung rechnen. Denn die
-öffentliche Meinung eines Volkes, selbst wenn sie scheinbar
-übertrieben und ungerecht ist, will doch geachtet sein, und
-dies gerade sei der Irrtum Clerambaults gewesen, sie herausfordern
-zu wollen. Daniel drängte Clerambault noch einmal,
-seinen Irrtum zu bekennen und öffentlich abzuschwören,
-durch neue Aufsätze den beklagenswerten Eindruck zu verwischen,
-den die ersten hervorgebracht hätten. Er stellte es
-ihm als eine Pflicht dar, eine Pflicht gegen das Vaterland, eine
-Pflicht gegen sich selbst, und eine Pflicht — er ließ es deutlich
-durchblicken — gegen jene, die ihnen beiden so teuer war. —
-Der Brief schloß mit verschiedenen anderen Betrachtungen,
-in denen noch zwei- oder dreimal der Name der öffentlichen
-Meinung wiederkehrte; sie nahm in seinem Denken den Rang
-der Vernunft und selbst des Gewissens ein.</p>
-
-<p>Clerambault erinnerte sich lächelnd an die Szene Spittelers,
-wo der König Epimetheus, der Mann der entschlossenen
-Überzeugung, in der Stunde, da er sie auf die Probe
-stellen soll, sie nicht mehr in die Hand bekommt, sie entwischen
-sieht, ihr nachsetzt und, um sie zu fassen, sich bäuchlings
-auf die Erde wirft und sie unter seinem Bette sucht.
-Clerambault erkannte, daß man gleichzeitig ein Held vor
-dem Feuer des Feindes und doch ein ganz kleiner Junge
-vor der öffentlichen Meinung seiner Mitbürger sein könne.</p>
-
-<p>Er zeigte Rosine den Brief. Und so ungerecht auch die Liebe
-sonst sein mag, Rosine war doch in ihrem Herzen durch
-die Heftigkeit verletzt, die ihr Freund der Überzeugung ihres
-Vaters antun wollte. Sie dachte, Daniel liebe sie nicht genug,
-und sagte, sie ihrerseits liebe ihn nicht genug, um solche
-Forderungen anzunehmen. Selbst wenn Clerambault ihm
-nachgeben wolle, so würde sie es nicht erlauben, denn es
-sei eine Ungerechtigkeit.</p>
-
-<p>Hier umarmte sie ihren Vater, zwang sich, tapfer zu lachen
-und ihr grausames Mißgeschick zu vergessen. Aber man vergißt
-nicht ein erträumtes Glück, solange noch irgendeine
-schwache Möglichkeit vorhanden ist, es wiederzufinden. Sie
-mußte immer daran denken, und nach einiger Zeit fühlte
-Clerambault, wie sie sich von ihm entfernte. Wer die Verleugnung
-besitzt, sich aufzuopfern, besitzt nur selten auch jene
-andere, dann nicht jenen gram zu sein, für die er sich aufgeopfert
-hat. Gegen ihren eigenen Willen zürnte Rosine ihrem
-Vater um ihr verlornes Glück.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>in seltsames geistiges Phänomen trat nun bei Clerambault
-zutage. Er fühlte sich niedergeschlagen und doch
-gleichzeitig gefestigt. Er litt daran, gesprochen zu haben, und
-fühlte doch, daß er von neuem sprechen würde. Er gehörte
-sich selbst nicht mehr. Seine Schriften hielten ihn fest,
-seine Schriften übten einen Zwang auf ihn aus: kaum hatte
-er seine Gedanken ausgesprochen, so war er schon an sie gebunden.
-Das aus dem Herzen entsprungene Werk wirkt
-wieder auf das Herz zurück. Geboren aus einer Stunde geistiger
-Erregung, verlängert und erneuert es sich diese Stunde
-im Geiste, der ohne diesen Aufschwung erschöpft in sich
-zusammenstürzte. Denn diese Stunde ist Lichtstrahl aus den
-letzten Tiefen, ist das Beste des inneren Wesens, das Ewigste
-und reißt den tierhaften Teil des irdischen Wesens mit sich fort.
-Ob er will oder nicht, schreitet der Mensch, von seinen Werken
-getragen und gezogen, weiter, sie leben außerhalb seiner selbst,
-erneuern in ihm die verlorne Kraft, erinnern ihn an seine
-Pflicht, führen ihn und befehlen ihm. Clerambault hatte die
-Absicht zu schweigen. Und doch begann er immer wieder
-zu sprechen.</p>
-
-<p>Er war sich seiner Schwäche freilich recht bewußt. „Du zitterst,
-Kadaver, weil du weißt, wohin ich dich jetzt führe“, pflegte
-Turenne vor einer Schlacht zu seinem Leibe zu sagen. Die
-Leiblichkeit Clerambaults bot keinen stolzen Anblick. Wenn
-auch die Schlacht, in die er sie führte, eine viel unscheinbarere
-war, so war es doch kein geringerer Kampf, denn er stand darin
-allein und ohne Armee. Das Schauspiel, das er sich selbst
-in der Nacht vor der Schlacht darbot, war beschämend: er
-sah sich selbst nackt, in seiner Mittelmäßigkeit, einen schwachen
-Menschen, scheu von Natur, ein wenig feig, einen Menschen,
-der der anderen bedurfte, ihrer Liebe, ihrer Zustimmung.
-Und es war furchtbar schwer, alle diese Beziehungen
-mit ihnen zu zerreißen, gesenkten Kopfes gegen ihren
-Haß anzurennen.... Würde er stark genug sein, um Widerstand
-leisten zu können?... Wieder stürmten die schon
-verjagten Zweifel gewaltsam auf ihn ein. Wer zwang ihn
-denn dazu, zu sprechen? Wer würde auf ihn hören? Und
-wozu das alles? Warum hielt er sich nicht an das Beispiel
-der Klügeren, die schwiegen?</p>
-
-<p>Und doch fuhr sein entschlossenes Hirn fort, ihm das zu
-diktieren, was er schreiben sollte, und die Hand schrieb es
-nieder, ohne ein Wort zu mildern. Er bestand gewissermaßen
-aus zwei Menschen, aus einem, der hingestreckt lag,
-Angst hatte und schrie: „Ich will mich nicht herumschlagen“,
-und aus einem anderen, der voll Verachtung für den Feigling
-ihn am Genick fortschleppte und sagte: „Vorwärts,
-du wirst gehen.“</p>
-
-<p>Und doch wäre es zu viel Ehre, wollte man ihm zuerkennen,
-daß er aus Mut so handelte. Er handelte so, weil er nicht
-anders konnte. Selbst wenn er hätte innehalten wollen,
-so mußte er doch nach vorwärts und sprechen.... „Es ist
-deine Mission.“ Clerambault verstand das nicht und fragte
-sich, warum gerade er ausersehen worden war, er, der Dichter,
-der Zärtliche, geschaffen zu einem stillen, kampflosen, opferlosen
-Leben, indessen doch andere, starke, krieggewohnte, kampfgeartete
-Menschen mit Athletenseelen da waren, die unbeschäftigt
-blieben. „Es hat keinen Sinn sich darüber den
-Kopf zu zerbrechen. Gehorche! Es ist nun einmal so.“</p>
-
-<p>Und gerade diese Zwiespältigkeit seiner Natur zwang ihn,
-sobald einmal eine der beiden Seelen in ihm die Oberhand
-behalten hatte, sich ihr restlos hinzugeben. Ein normalerer
-Mensch hätte die beiden Naturen verschmolzen
-oder verbunden, hätte ein Kompromiß gefunden, bei dem
-die Anforderungen der einen und die Vorsicht der anderen
-zu ihrem Recht gekommen wären. Aber ein Clerambault
-war immer nur einseitig, dem einen oder dem anderen unterworfen.
-Hatte er einmal einen Weg gewählt, so ging er
-ihn ganz geradeaus, ob er ihm gefiel oder nicht. Und aus
-dem gleichen Grunde, der ihn früher so leichtgläubig für
-den Glauben der Welt rings um ihn gemacht hatte, mußte
-er jetzt rücksichtslos die Lügen, denen er zum Opfer gefallen
-war, offenbaren, sobald er sie erkannt hatte. Andere, die sich
-anfangs nicht so hemmungslos hatten narren lassen, hätten
-sie nie zu enthüllen vermocht.</p>
-
-<p>So begann der Mutige wider seinen eigenen Willen, ein
-anderer Ödipus, den Kampf mit der Sphinx des Vaterlandes,
-die ihn am Kreuzweg erwartete.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>er Angriff Bertins lenkte auf Clerambault die Aufmerksamkeit
-einiger Politiker der äußersten Linken, die
-nicht recht wußten, wie sie ihre Opposition gegen die Regierung
-(die ja ihre Existenzbedingung war) mit jener „heiligen
-Eintracht“ in Einklang bringen sollten, die zu Kriegsbeginn
-gegen den feindlichen Einbruch beschlossen war. Sie druckten
-die beiden ersten Artikel Clerambaults in einem jener sozialistischen
-Blätter nach, deren Gedankengang damals zwischen
-diesen Gegensätzen pendelte. Man bekämpfte dort den Krieg
-und votierte gleichzeitig Kriegskredite. Begeisterte internationale
-Bekenntnisse standen dort dicht neben Mahnreden von
-Ministern, die eine nationalistische Politik trieben. In diesem
-Schaukelspiel hätten die Seiten Clerambaults mit ihrem
-vagen Lyrismus, wo der Angriff maßvoll war und die
-Kritik der Vaterlandsideen von tiefem Mitleid umhüllt, den
-ganz wertlosen Charakter eines platonischen Protests gehabt,
-wenn nicht die Zensur darin einzelne Sätze mit der Zähigkeit
-einer Termite ausgefressen hätte. Die Spuren ihrer Zähne
-lenkten aber gerade die Blicke auf das, was der allgemeinen
-Unaufmerksamkeit sonst entgangen wäre. So kratzte die Zensur
-in dem Aufsatz „An die einst Geliebte“ das Wort Vaterland,
-nachdem sie es zum erstenmal in Verbindung mit einem
-liebenden Anruf ruhig hatte stehen lassen, bei allen anderen,
-bedeutend weniger schmeichelhaften Stellen rücksichtslos heraus.
-Ihre Dummheit sah nicht, daß nun das Wort, linkisch
-vom Lichtschirm bedeckt, nur noch besser im Geiste des Lesers
-aufleuchtete. So gelang es ihr, einem Aufsatz, der eigentlich
-recht bedeutungslos war, Bedeutung zu verleihen, wobei allerdings
-hinzuzurechnen war, daß in dieser Stunde allgemeiner
-Passivität das geringste Wort freier Menschlichkeit, insbesondere
-aber ein von einem bekannten Namen ausgesprochenes,
-sofort eine ganz außerordentliche und weite Wirkung gewann.
-Der andere Artikel, „Ihr Toten verzeihet uns“, war oder konnte
-durch seinen schmerzlichen Akzent noch gefährlicher für die
-große Masse der einfachen, vom Krieg aufgewühlten Seelen
-sein. So versuchte die bisher gleichgültige Zensur bei dem
-ersten Wind, den sie davon bekam, ihn glatt vor der Öffentlichkeit
-zu unterdrücken. Geschickt genug, um nicht auf
-Clerambault durch eine öffentliche Maßnahme besondere
-Aufmerksamkeit zu lenken, verstand sie es, auf das Journal
-auf Umwegen einzuwirken. Ein heftiger Widerstand
-gegen den Schriftsteller zeigte sich plötzlich in der internen
-Redaktion der Zeitung selbst. Natürlich warfen sie
-ihm nicht den Internationalismus seines Gedankens vor,
-sondern sie beschuldigten ihn bourgeoiser Empfindsamkeit.</p>
-
-<p>Dafür bot ihnen nun Clerambault selbst Argumente mit
-einem dritten Artikel, in dem sein Widerstand gegen jede
-Gewalt ebenso die Revolution wie den Krieg zu verurteilen
-schien. Die Dichter sind eben immer schlechte Politiker.</p>
-
-<p>Es war eine erbitterte Antwort auf jenen „Anruf an die
-Toten“, den Barrès, die zitternde Nachteule, von einer
-Friedhofzypresse herabwimmerte.</p>
-
-<p class='line' style='text-align:center;margin-top:1em;'>„<span class='gesp'>Anruf an die Lebendigen</span>“</p>
-
-<p>„Der Tod beherrscht die Welt. Ihr, die ihr lebendig seid,
-schüttelt sein Joch ab! Es genügt ihm nicht, die Völker
-zu vernichten, er will, daß sie ihn auch noch verherrlichen,
-daß sie ihm singend entgegenlaufen, und ihre Herren
-verlangen, daß sie ihre eigene Aufopferung verherrlichen.
-„Es ist das schönste Los, das beneidenswerteste, das man
-erlangen kann!...“ Sie lügen! Es lebe das Leben! Einzig
-das Leben ist heilig, und die Liebe zum Leben ist die erste
-Tugend. Aber die Menschen von heute besitzen sie nicht
-mehr. Dieser Krieg beweist — und beweist bei vielen schon
-seit fünfzehn Jahren — (gesteht es euch nur ein!) das Vorhandensein
-einer wahnwitzigen Hoffnung auf eine solche Katastrophe.
-Ihr liebt das Leben nicht, wenn ihr keine bessere Verwendung
-dafür habt, als es dem Tod zum Fraß hinzuwerfen.
-Euer Leben ist euch eine Last, euch, ihr Reichen, ihr Bürger,
-ihr Diener der Vergangenheit, ihr Konservativen, die ihr darüber
-greint aus Mangel an Appetit, aus moralischem Übelbefinden,
-mit euren vor Überdruß schleimigen und sauren
-Seelen und Mäulern — und euch, ihr Proletarier, ihr Armen
-und Unglücklichen aus Mutlosigkeit über das Schicksal, das
-euch zugefallen ist. In der dumpfen Mittelmäßigkeit eures
-Lebens, in der Hoffnungslosigkeit, es jemals zu verwandeln
-(ihr Kleingläubigen!), wartet ihr einzig darauf, ihm durch
-einen Gewaltakt zu entrinnen, der euch dem Sumpf, zumindest
-für die Spanne einer Minute, nämlich der letzten,
-entreißt. Die Stärksten unter euch, jene, die am besten die
-Energie der ursprünglichen Instinkte bewahrt haben, die
-Anarchisten und Revolutionäre, appellieren bloß an sich
-selbst, um diese befreiende Tat zu erfüllen. Aber die große
-Volksmasse ist zu müde, um die Initiative zu ergreifen.
-Deshalb begrüßt sie mit solcher Gier die mächtige Welle,
-die ihre Vaterländer aufrührt: den Krieg! Sie gibt sich ihm
-mit einer düsteren Wollust hin. Denn er ist der einzige
-Augenblick im Leben, wo diese verschatteten Existenzen sich
-vom Atem des Unendlichen durchweht fühlen. Und gerade
-dieser Augenblick ist der der Vernichtung.</p>
-
-<p>Ah, eine schöne Art, sein Leben anzuwenden.... Es einzig
-dadurch zu bejahen, daß man es verneint zugunsten irgendeines
-menschenfresserischen Gottes, mag er Vaterland oder
-Revolution heißen, der zwischen seinen Kinnladen die Gebeine
-von Millionen Menschen zerkrachen läßt....</p>
-
-<p>Sterben, Zerstören, was liegt da für ein Ruhm darin! Das
-einzige Wichtige wäre, zu leben. Und das versteht ihr nicht.
-Ihr seid des Lebens nicht würdig. Nie habt ihr die Segnungen
-der lebendigen Minute empfunden, der Freude, die
-im Lichte tanzt. Oh, ihr hinsterbenden Seelen, ihr wollt,
-daß alles mit euch sterbe, kranke Brüder, denen wir die
-Hand hinreichen, sie zu retten, und die uns wütend mit
-sich in den Abgrund reißen....</p>
-
-<p>Aber nicht mit euch, ihr Unglücklichen, will ich abrechnen,
-sondern mit euren Gebietern. Mit euch, den Herren der
-Stunde, unsern geistigen Gebietern, den politischen Machthabern,
-den Herren des Geldes, des Eisens, des Blutes
-und des Gedankens! Mit euch, die ihr diese Staaten in
-Händen haltet, die ihr diese Armeen in Bewegung setzt, die
-ihr mit euren Zeitungen, Büchern, Schulen und Kirchen
-diese Generation geformt und aus diesen freien Seelen
-Herden gemacht habt. Ihre ganze Erziehung — euer Werk
-der Knechtung — die Laienerziehung wie die christliche,
-lobpreist gleicherweise mit ungesundem Jubel den nichtigen
-militärischen Ruhm und seine Glückseligkeit. Am Ende
-der Angel hält sowohl die Kirche als auch der Staat den
-Tod als Köder hin.</p>
-
-<p>Ihr heuchlerischen Schriftgelehrten und Pharisäer, Schande
-über euch! Politiker und Priester, Künstler und Schriftsteller,
-ihr Chorführer des Todes, ihr seid innen voll von Totengebein
-und Verwesung. Ach, ihr seid so recht die Söhne
-jener, die Christus getötet haben. Wie jene beschwert ihr
-die Schultern der Menschen mit entsetzlichen Lasten, zu denen
-ihr selbst nicht den Finger aufhebt. Wie jene, so kreuzigt
-ihr gerade solche, die den unglücklichen Völkern helfen wollen,
-solche, die zu euch kommen, in den Händen den Frieden, den
-gesegneten Frieden. Ihr sperrt sie ein und schmäht sie und
-jagt sie, so wie es geschrieben steht in der Schrift, von Stadt
-zu Stadt, bis daß das ganze vergossene Blut der Erde
-in Strömen auf euch zurückfällt.</p>
-
-<p>Ihr Kuppler des Todes, ihr arbeitet nur für ihn! Das
-Vaterland dient euch nur dazu, um die Zukunft der Vergangenheit
-hörig zu machen und die lebendigen Menschen
-an die vermoderten Toten zu ketten. Ihr verurteilt das
-neue Leben in alle Ewigkeit, einzig die leeren Gebräuche
-der Gräber ängstlich zu erfüllen.... Aber laßt uns auferstehen!
-Lassen wir die Glocken klingen zum Osterfest der
-Lebendigen!</p>
-
-<p>Ihr Menschen, es ist nicht wahr, daß ihr die Sklaven der
-Toten seid und durch sie wie Hörige an die Erde gebunden.
-Laßt die Toten ihre Toten begraben und selbst in die Grube
-fahren. Ihr aber seid Söhne der Lebendigen und selbst
-lebendig! Ihr jungen, gesunden Brüder, zerbrecht die nervenschwache
-Müdigkeit eurer Seelen, die sich den vergangenen
-Vaterländern verschrieben haben und die nur manchmal
-in plötzlichen Krämpfen der Raserei sich aufraffen.
-Werdet selbst die Herren der Stunde, die Herren der Vergangenheit,
-Väter und Söhne eurer Werke! Seid frei!
-Jeder von euch ist Mensch — nicht der verweste Leib der in
-den Gräbern stinkend Vermoderten, sondern das knisternde
-Feuer des Lebens, das die Verwesung tilgt, das die Leichen
-der vergangenen Jahrhunderte zerstört, das immer neue
-junge Feuer, das die Erde mit seinen brennenden Armen
-umschlingt. Seid frei! Ihr Eroberer der Bastille, ihr habt
-noch nicht jene andere erobert, die in euch selbst ist, das falsche
-Schicksal, das seit Jahrhunderten alle jene zu eurer Niederhaltung
-gebaut haben, die — entweder Sklaven oder Tyrannen
-(sie sind von der gleichen Galeere) — Furcht haben,
-daß ihr euch eurer Freiheit bewußt würdet. Der wuchtige
-Schatten der Vergangenheit — Religionen, Rassen,
-Vaterländer, die materialistische Wissenschaft — verdeckt
-eure Sonne. Geht ihr entgegen! Die Freiheit ist jenseits
-all jener Wälle und Türme von Vorurteilen, jener toten
-Gesetze, jener geheiligten Lügen, die die Interessen einzelner
-Auguren, die Meinung der militarisierten Massen und
-euere eigenen Zweifel an euch selbst noch behüten. Wagt es,
-zu wollen! Und ihr werdet plötzlich hinter der Mauer des
-trügerischen Schicksals, kaum daß sie hinstürzt, wieder die
-Sonne und die unbegrenzte Ferne sehen.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>S</span>tatt die revolutionäre Flamme dieses Aufrufes zu erkennen,
-klammerte sich das Redaktionskomitee der Zeitung
-nur an die drei oder vier Zeilen, in denen Clerambault
-die Gewalttätigkeiten aus beiden Lagern, von rechts und
-links, in denselben Sack zu stecken schien. Woher nahm dieser
-Dichter das Anrecht, in einem Parteiblatte den Sozialisten
-Lektionen erteilen zu wollen? Im Namen welcher Theorien
-tat er es? War er denn überhaupt Sozialist? Ein solcher
-Bourgeois sollte nur mit diesen tolstoianischen und anarchistischen
-Schreibübungen bei der Bourgeoisie bleiben.
-Vergebens protestierten einige weitsichtigere Köpfe dagegen
-und betonten, jeder freie Gedanke, ob mit, ob ohne politische
-Etikette, müsse willkommen geheißen werden, und jener
-Clerambaults, so wenig er auch die Parteitheorie kenne, sei
-in Wahrheit sozialistischer als mancher der Sozialisten, die
-sich der nationalen Schlächterei beigesellt hätten. Dennoch
-ging man glatt darüber hinweg, und der Artikel wurde,
-nachdem er ein paar Wochen in einer Schublade geschlafen
-hatte, Clerambault zurückgegeben unter dem Vorwand,
-sie hätten zuviel aktuelle Aufsätze und zu wenig Raum.</p>
-
-<p>Clerambault brachte den Artikel einer kleinen Revue, die
-sich mehr von seinem literarischen Ruf als von seinen Ideen
-zum Abdruck verleiten ließ. Das Resultat war, daß auf Befehl
-der Polizei die Revue am Tage nach dem Erscheinen des
-fast ganz unterdrückten Artikels verboten wurde.</p>
-
-<p>Clerambault aber wurde nur noch hartnäckiger. Gerade
-diejenigen, die ihr ganzes Leben unterwürfig gewesen waren,
-werden die erbittertsten Revolutionäre, wenn man sie dazu
-zwingt. Ich erinnere mich, einmal ein großes Lamm gesehen
-zu haben, das, von einem Hund beunruhigt, endlich auf
-ihn losstürmte, und der Hund, durch diese unerwartete Umkehrung
-der Naturgesetze erschreckt, floh vor Entsetzen und
-Angst bellend davon. Der Köter Staat ist seiner Zähne
-zu sicher, um sich über ein paar unbotmäßige Lämmer zu
-beunruhigen, aber das Lamm Clerambault berechnete nicht
-mehr den Widerstand, sondern stieß mit dem Kopf kreuz
-und quer. Die Eigentümlichkeit schwacher aber edler Herzen
-ist es, ohne Übergang aus einer Übertreibung in die andere
-zu verfallen. Aus dem Übermaß eines Massengefühls
-war Clerambault mit einem Ruck zu einem Übermaß des isolierten
-Individualismus hinübergesprungen, und eben weil
-er die Geißel des Gehorsams so gut kannte, sah er überall
-nur sie, diese soziale Suggestion, deren Folgen in allen Gesellschaftsklassen
-gleich sichtbar waren: die heroische Passivität
-der Armeen, die man bis zum Irrsinn gepriesen hatte,
-die Millionen der von der Hauptschar eingeschlossenen Ameisen,
-die Unterwürfigkeit der Parlamente, die den Chef der
-Regierung zwar mißachteten, aber doch solange mit ihrer
-Stimme unterstützten, bis zufällig einmal der Ausbruch
-eines einzelnen Revoltierenden eine Explosion hervorrief, die
-griesgrämige, aber doch militärische Unterwürfigkeit selbst
-der linksstehenden Parteien, die dem absurden Idol einer
-abstrakten Einigkeit selbst ihre Existenzberechtigung aufopfern.
-Und diese Leidenschaft, den eigenen Willen preiszugeben,
-war für ihn der Feind. Er erkannte seine Aufgabe
-darin, den Zweifel zu erwecken, den Geist, der die Kette
-zernagt, und möglicherweise den großen Wahn zu zerstören.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>ie Wurzel des Übels war die Idee der Nation. Und
-diese geschwürige Stelle durfte man nicht anrühren,
-ohne daß die Bestie aufschrie. Clerambault attackierte sie
-schonungslos.</p>
-
-<p>„... Was habe ich mit euren Nationen zu tun? Ihr verlangt
-von mir, ich solle einzelne Völker lieben und einzelne hassen.
-Ich liebe oder hasse Menschen. Und es gibt innerhalb jeder
-Nation vornehme, niederträchtige und mittelmäßige, nur daß
-in jeder einzelnen Nation die vornehmen und die niederträchtigen
-selten sind, die mittelmäßigen dagegen die große
-Masse bilden. Ich liebe einen Menschen oder liebe ihn nicht
-um dessentwillen, was er ist, und nicht dafür, was die anderen
-sind. Und gäbe es in einer Nation nur einen einzigen
-Menschen, den ich liebe, so würde mir das schon genug sein,
-um sie nicht als Gesamtheit zu verurteilen. — Ihr sprecht
-mir von den Kämpfen und dem eingebornen Haß der
-Rassen? Die Rassen sind die Farben im Prisma des Lebens,
-erst aus ihrem leuchtenden Zusammenspiel entsteht das
-Licht. Wehe dem, der dieses Prisma bricht! Ich gehöre
-nicht einer Rasse an, ich gehöre dem Leben, dem ganzen
-Leben. Ich habe Brüder bei allen Nationen, ob sie freundlich
-oder feindlich sind, und die mir zunächst Stehenden sind
-nicht immer jene, die ihr mir als Landsleute aufzwingen
-wollt. Die seelischen Familien sind über die ganze Welt hin
-zerstreut. Führen wir sie wieder zusammen! Unsere Aufgabe
-ist es, die chaotischen Nationen zu zerstören und an
-ihrer Stelle harmonische Gruppen zu bilden. Nichts wird
-dies verhindern können, und selbst die Verfolgungen werden
-aus dem allgemeinen Leiden nur die allgemeine Liebe
-der gemarterten Völker formen.“</p>
-
-<p>Und andere Male betonte er in schonungsloser Weise seine
-persönliche Loslösung von dem Wettstreit der Nationen, obwohl
-er die Idee der Nation nicht leugnete, ja sogar als
-eine natürliche Tatsache anerkannte; denn Clerambault versteifte
-sich nicht auf die Logik, ihm kam es nur darauf an,
-das Götzenbild durch alle Lücken seines Harnisches zu treffen.
-Diese seine Haltung war nicht minder gefährlich.</p>
-
-<p>„Ich kann keinen Anteil nehmen an den Streitigkeiten
-eurer Nationen um die Überlegenheit. Mir ist es gleichgültig,
-ob im Wettrennen diese oder jene Farbe den Sieg
-behält. Wer auch gewinnt, es ist doch immer die Menschheit,
-die den Sieg davonträgt. Für mich ist es nur gerecht,
-daß das lebendigste, das klügste, das arbeitsamste Volk in
-dem friedlichen Kampfe der Arbeit den Triumph erringe.
-Entsetzlich dagegen wäre, wenn die zurückgedrängten Nebenbuhler
-oder diejenigen, die eine Zurückdrängung befürchten,
-zur Gewalt griffen, um sich die Konkurrenz vom Halse zu
-schaffen. Dies würde die Unterordnung des Interesses aller
-Menschen unter einen geschäftlichen Gesichtspunkt bedeuten.
-Das Vaterland ist aber kein geschäftlicher Gesichtspunkt. Es
-ist nun gewiß traurig, daß das Aufsteigen der einen Nation
-den Niedergang der anderen verursacht, aber warum sagt
-ihr nicht, wenn der große Handel des eigenen Landes den
-kleinen Handel des eigenen Landes zugrunde richtet, dies
-sei ein Majestätsverbrechen gegen den Staat? Und doch
-richtet dieser Kampf viel traurigere und unverdientere Verheerungen
-an. Das ganze gegenwärtige ökonomische Gesellschaftssystem
-der Welt ist verhängnisvoll und lasterhaft,
-hier müßte man mit der Heilung einsetzen. Der Krieg aber,
-der versucht, den glücklicheren oder geschickteren Konkurrenten
-zugunsten des ungeschickteren oder trägeren zu begaunern,
-vergrößert nur die Mängel dieses Systems, denn er bereichert
-einzelne Wenige und ruiniert die ganze Gemeinschaft.</p>
-
-<p>Es ist unmöglich, daß alle Völker auf derselben Straße
-im selben Schritt vorwärtsmarschieren. Abwechselnd überholen
-bald die einen die anderen und werden wieder selbst
-überholt. Aber was tut es, wenn sie nur im selben Zuge
-schreiten! Nur keine dumme Eigenliebe! Der Pol der Weltenergie
-verändert ständig seine Stelle, selbst im gleichen
-Lande verlegt er oft seinen Ruhepunkt. In Frankreich ist
-er von der römischen Provence an die Loire der Valois
-übergegangen, jetzt ist er in Paris, wird aber nicht immer
-dort bleiben. Die ganze Erde gehorcht einem wechselnden
-Rhythmus fruchtbaren Frühlings und einschlummernden
-Herbstes, die großen geschäftlichen Routen bleiben nicht unveränderlich,
-und die Schätze unter der Erde sind nicht unerschöpflich.
-Ein Volk, das sich durch Jahrhunderte ohne zu
-rechnen verausgabt hat, geht durch seinen Glanz dem Ende
-entgegen. Es kann sich nur erhalten, wenn es auf die Reinheit
-seines Blutes verzichtet und sich den anderen vermengt.
-Es ist zwecklos, es ist verbrecherisch, seine vergangene Zeit der
-Reife angeblich verlängern zu wollen, indem man andere
-hindert heranzuwachsen oder, wie unsere alten Leute von
-heutzutage, die Jungen in den Tod schickt. Das macht sie
-nicht jünger, aber sie töten die Zukunft damit.</p>
-
-<p>Ein gesundes Volk versucht, statt sich gegen die Lebensgesetze
-entrüstet aufzulehnen, sie zu verstehen. Es sieht
-seinen wahren Fortschritt nicht im stupiden Willen, durchaus
-nicht alt werden zu wollen, sondern in einer unablässigen
-Bemühung, mit dem Alter fortzuschreiten, anders und
-größer zu werden. Jedes Alter hat seine Aufgabe. Ein
-ganzes Leben sich an die selbe anzuklammern, ist Faulheit
-und Schwäche. Lernt euch zu verwandeln, der Wandel
-ist das Leben. Die Werkstätte der Menschheit hat Arbeit für
-alle! So arbeiten wir Völker jedes für seinen Teil, und
-jedes sei stolz auf die Arbeit aller. Die Mühe und das Genie
-aller anderen sind auch die unseren.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>iese Artikel erschienen da und dort, wo es ihnen eben gelang,
-in irgendeinem jener kleinen fortschrittlichen,
-anarchistischen oder literarischen Blätter unterzukommen,
-in denen sonst die gewalttätigen Angriffe gegen Einzelpersonen
-den wohlbedachten Kampf gegen das Regime zu
-ersetzen versuchten. Die Aufsätze waren fast ganz unleserlich,
-so hatte die Zensur sie zugerichtet, die übrigens, wenn
-der Artikel dann in einer anderen Zeitung nachgedruckt
-wurde, manchmal mit launischer Vergeßlichkeit das durchrutschen
-ließ, was sie gestern verboten hatte, und das
-wieder wegschnappte, was sie gestern hatte durchgehen
-lassen. Es gehörte eine wirkliche Anstrengung dazu, ihren
-Sinn zu erfassen. Seltsamerweise waren es aber nicht die
-Freunde, sondern die Gegner Clerambaults, die sich dieser
-Mühe unterzogen. In Paris sind sonst die Polemiken von
-kurzer Dauer, denn die gefährlichsten Gegner, die wahrhaft
-Geschulten im Federkrieg, wissen sehr genau, daß Schweigen
-mehr schadet als Beschimpfung, und so gebieten sie oft ihrer
-Gehässigkeit Stille, um sich gewissere Wirkung zu sichern.</p>
-
-<p>Aber in der hysterischen Krise, die damals die Seelen Europas
-schüttelte, gab es keine Richtschnur mehr, nicht einmal
-mehr eine für den Haß. Die Heftigkeit der Attacken
-Octave Bertins brachte Clerambault jeden Augenblick wieder
-der Öffentlichkeit in Erinnerung. Es half nichts, daß
-Bertin selbst verächtlich die anderen aufforderte: „Reden
-wir nicht mehr davon!“ Er redete selbst davon am Ende
-jedes einzelnen Artikels, in dem er seine Galle entlud.</p>
-
-<p>Nun kannte Bertin zu genau alle geheimen Schwächen,
-alle geistigen Mängel und alle kleinen Lächerlichkeiten seines
-einstigen Freundes, als daß er sich das Vergnügen versagen
-konnte, sie mit sicherem Pfeil zu treffen. Clerambault,
-im Tiefsten verwundet und nicht klug genug, seinen Ärger
-zu verbergen, ließ sich in den Kampf hineinreißen, antwortete
-und zeigte, daß auch er den anderen bis aufs Blut
-verletzen könne. Eine brennende Gehässigkeit brach zwischen
-den beiden los.</p>
-
-<p>Das Resultat war vorauszusehen. Bisher war Clerambault
-ungefährlich gewesen. Er beschränkte sich im ganzen
-auf die sittliche Abhandlung, seine Polemik trat nicht aus
-dem gedanklichen Kreis hervor und hätte ebensogut sich auf
-Deutschland, England oder auf das Rom von einst beziehen
-können wie auf das Frankreich von heute. In Wahrheit
-verstand er eigentlich höchst wenig von den politischen Dingen,
-über die er sich verbreitete, ebensowenig wie neun Zehntel
-aller Männer seiner Gesellschaftsklasse und seines Berufes.
-So konnte auch das, was er aufspielte, nicht die Herren
-der Stunde verwirren. Der lärmende Federkrieg Clerambaults
-und Bertins aber, inmitten des Durcheinanders und
-Getöses der Zeitungen, hatte eine doppelte Folge. Einerseits
-gewöhnte er Clerambault in seinem Gefecht zu feinerer Technik,
-und das zwang ihn, sich einen sichereren Grund
-unter den Füßen zu suchen als den der bloß logischen Streitigkeiten,
-andererseits brachte er ihn in Zusammenhang mit
-Männern, die die Tatsachen besser kannten und ihm Unterlagen
-für seine Aufsätze brachten. Seit einiger Zeit hatte
-sich in Frankreich ein kleiner, halb unterirdischer Zirkel gebildet,
-der sich mit einer unbeeinflußten Untersuchung und
-freien Kritik des Krieges und seiner Ursachen befaßte.
-Der Staat, der sonst so wachsam jeden Versuch freien
-Denkens zermalmte, hielt diese klugen, ruhigen Menschen,
-die meist Gelehrte waren, kein lärmendes Aufsehen zu bewirken
-suchten und sich mit Privatdebatten begnügten, für
-ungefährlich. Es schien ihm politischer, sie bloß zu bewachen,
-als zwischen vier Mauern einzusperren. Aber er täuschte
-sich in seiner Berechnung. Ist einmal die Wahrheit in
-bescheidener Mühe gefunden, und sei sie auch nur fünf
-oder sechs Menschen offenbar, so kann sie nicht mehr entwurzelt
-werden: sie steigt aus der Erde mit unwiderstehlicher
-Kraft. Clerambault erfuhr damals zum erstenmal,
-daß es solche leidenschaftliche Wahrheitssucher gab, die an
-jene aus der Zeit des Dreyfusprozesses erinnerten, und ihr
-geheimes Apostolat unter der allgemeinen Unterdrückung erinnerte
-ihn irgendwie an die kleine christliche Gemeinschaft
-zur Zeit der Katakomben. Mit ihrer Hilfe entdeckte er jetzt
-neben den Ungerechtigkeiten auch die Lüge des „großen
-Krieges“. Bisher hatte er davon nur ein dunkles Vorgefühl
-gehabt, doch vermochte er nicht zu ahnen, bis zu welchem
-Grade unsere nächste Zeitgeschichte gefälscht worden
-war. Sein Entsetzen war ungeheuer. Selbst in den Stunden
-eindringlichster Prüfung hatte sich seine naive Vorstellungsweise
-niemals die trügerischen Untergründe ausdenken
-können, auf denen ein solcher Kreuzzug für das Recht
-beruhte. Und da er nicht der Mann war, seine Entdeckung
-für sich zu behalten, schrie er sie in Aufsätzen offen aus, die
-sofort von der Zensur untersagt wurden, schob sie dann in
-satirischer, ironischer oder symbolischer Form in kleine Erzählungen
-und Fabeln in der Art Voltaires ein, die manchmal
-infolge Unachtsamkeit des Zensors glücklich durchgingen,
-aber Clerambault den Machthabern als einen ausgesprochen
-gefährlichen Menschen erscheinen ließen.</p>
-
-<p>Die ihn zu kennen meinten, waren sehr von ihm überrascht.
-Von seinen Gegnern war er bisher allgemein als Sentimentaler
-behandelt worden, der er ja auch im Grunde gewiß
-war. Weil er es aber wußte und gleichzeitig Franzose war,
-besaß er die Gabe, selbst darüber zu lachen und sich lustig zu
-machen. Deutschen Sentimentalen mag es passen, blindlings
-an sich zu glauben; aber im Grunde der Seele des so
-beredten und empfindsamen Clerambault wachte der Blick
-des Galliers, der immer auf der Hut ist im tiefsten Dickicht
-seiner großen Wälder, der beobachtet, nichts übersieht und
-immer bereit ist, zu lachen. Und das Seltsamste war, daß
-dieser urhafte Trieb gerade in jenem Augenblick bei ihm ausbrach,
-wo man es am wenigsten erwartet hätte, in der Zeit
-der härtesten Prüfung und drohenden Gefahr. Das Gefühl
-für das Lächerliche der Welt belebte Clerambault gleichsam
-von neuem. Sein Charakter bekam plötzlich, kaum daß
-er sich von den Konventionen, in denen er gefangen war,
-freigemacht hatte, eine lebendige Vielfalt. Gut, zärtlich,
-kampfsüchtig, reizbar, über das Ziel hinausschießend, den
-Mißgriff anerkennend und heiter darüber hinweggehend,
-sentimental, ironisch, skeptisch und gläubig — immer erstaunte
-er selbst von neuem, wenn er sich im Spiegel dessen
-sah, was er schrieb. Sein ganzes Leben, das er bisher vorsichtig
-und bürgerlich in sich verschlossen hatte, brach nun,
-durch die moralische Einsamkeit und die gesunde Luft des
-Kampfes verstärkt, aus ihm heraus.</p>
-
-<p>Und Clerambault merkte, daß er sich selber nicht kannte.
-Er war wie neugeboren seit jener Nacht der Angst, er hatte
-eine Art Freude kennen gelernt, von der er nie gewußt
-hatte, die schwindelige und losgelöste Freude des freien
-Mannes im Kampfe. Alle seine Sinne waren wie ein
-Bogen, gut und straff gespannt. Und er genoß im Tiefsten
-dieses vollkommene Wohlgefühl.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>J</span>ene aber in seiner nächsten Umgebung hatten von diesem
-Wohlergehen keinen Gewinn. Frau Clerambault bekam
-von dem Kampf nur die Unannehmlichkeiten zu fühlen,
-eine allgemeine Feindseligkeit, die schließlich selbst bei den kleinen
-Lieferanten ihres Bezirkes zutage trat. Rosine siechte sichtlich
-dahin. Die Wunden ihres Herzens, die sie verbarg, ließen
-sie schweigend verbluten. Sie selbst beklagte sich nie, aber
-ihre Mutter tat es für zwei. Ihre Verbitterung erstreckte
-sich gleicherweise auf die Dummköpfe, die sie beschimpften,
-und den unvorsichtigen Clerambault, der ihr diese Beschimpfung
-einbrachte. Bei jeder Mahlzeit gab es ungeschickte
-Vorwürfe, die ihn zum Schweigen bewegen sollten. Aber
-sie richtete nichts aus, die stummen wie die lärmenden Anklagen
-glitten machtlos an Clerambault ab. Zweifellos war
-er oft traurig und bedrückt, aber er gab sich jetzt ganz der
-Leidenschaft des Kampfes hin, und ein unbewußter, ja sogar
-ein wenig kindlicher Egoismus ließ ihn alles ausschalten,
-was ihm dieses neue Vergnügen hätte stören können.</p>
-
-<p>Äußere Umstände kamen Frau Clerambault zu Hilfe. Eine
-alte Verwandte, die sie aufgezogen hatte, starb und hinterließ
-den Clerambaults ihren kleinen Besitz im Berry, den sie
-bewohnt hatte. Frau Clerambault benützte diesen Trauerfall,
-um sich von Paris zu entfernen, das ihr jetzt zum Abscheu
-geworden war, und vor allem um ihren Mann
-diesem gefährlichen Milieu zu entreißen. Sie schützte außer
-ihrem Schmerz praktische Gründe und die Gesundheit
-Rosinens vor, der diese Luftveränderung gut tun würde.
-Clerambault gab nach. Sie reisten alle drei ab, um ihre
-kleine Erbschaft in Besitz zu nehmen, und blieben den Sommer
-und Herbst über im Berry.</p>
-
-<p>Das altbürgerliche Haus lag auf dem Lande, am Ausgang
-eines Dorfes. Aus der Erregung von Paris war Clerambault
-plötzlich in eine stockende Ruhe versetzt. Die Stille
-der Tage unterbrach nur der Ruf der Hähne in den Bauernhöfen,
-das Brüllen des Viehes auf der Weide. Aber das
-Herz Clerambaults war zu sehr fieberhaft geworden, um
-sich dem friedfertigen und langsamen Rhythmus der Natur
-anzupassen. Einst hatte er ihn bis zur Vergötterung geliebt,
-einst war er in Harmonie mit dem Landvolk gewesen,
-dem seine eigene Familie entstammte, aber heute machten
-ihm die Bauern, mit denen er zu sprechen versuchte, den Eindruck
-von Menschen eines anderen Planeten. Zwar waren
-sie nicht vom Kriegsgift verseucht, sie zeigten keine Leidenschaft
-und keinen Haß gegen den Feind, aber sie zeigten auch
-keinen gegen den Krieg. Sie nahmen ihn als eine Tatsache
-hin, ließen sich nichts über ihn vormachen (gewisse Bemerkungen
-voll gutmütiger Ironie verrieten, daß sie wußten,
-was er wert sei), aber zunächst beschränkten sie ihre Bemühung
-darauf, ihn auszunützen. Sie machten gute Geschäfte.
-Sie verloren zwar ihre Söhne, aber sie verloren
-nicht ihr Hab und Gut. Wenn ihre Trauer sich auch nicht sehr
-offensichtlich ausdrückte, so konnte man ihnen doch deutlich
-anmerken, daß sie für das Leid nicht unempfindlich waren.
-Aber schließlich: ein Menschenleben geht dahin und die Erde
-bleibt. Sie hatten wenigstens nicht wie die Bourgeoisie der
-Städte ihre Kinder aus nationalem Fanatismus in den
-Tod geschickt, aber, sobald es einmal geschehen war, wußten
-sie ihre Opfer in gute Werte umzusetzen und wahrscheinlich
-hätten das sogar ihre hingeopferten Söhne ganz natürlich
-gefunden. Muß man denn, wenn man das, was man liebt,
-verliert, immer auch gleich den Kopf dazu verlieren? Die
-Bauern hatten ihn nicht verloren. Man erzählt, der
-Krieg habe im französischen Flachland etwa eine Million
-neuer Grundbesitzer geschaffen. Die Gedankenwelt Clerambaults
-fühlte sich hier ganz einsam und ausgeschlossen.
-Sein Denken und das ihre sprachen nicht dieselbe Sprache.
-Hie und da tauschten sie mit ihm einige allgemeine bekümmerte
-Reden aus. Aber die Bauern beklagen sich ja
-immer, wenn sie mit dem Städter sprechen. Es ist bei ihnen
-schon so Sitte, eine Art, sich gegen einen möglichen Appell
-an ihren Geldsack zu schützen. Sie hätten im selben Ton
-über Maul- und Klauenseuche gesprochen. Clerambault
-blieb für sie der Pariser. Was immer sie auch denken mochten,
-ihm hätten sie es nie gesagt. Er war für sie von einer
-anderen Rasse.</p>
-
-<p>Dieses Fehlen jeder Resonanz erstickte das Wort Clerambaults.
-Leicht zu beeinflussen, wie er war, kam er dahin, es
-selbst nicht mehr zu hören. Stille war um ihn. Die Stimmen
-der unbekannten und fernen Freunde, die ihn zu erreichen
-versuchten, wurden durch die Spionage der Post aufgefangen
-— einen jener Schandmale, mit dem sich diese Zeit entehrt
-hat. Unter dem Vorwand, die Spionage des Auslandes
-zu unterdrücken, machte der Staat damals aus
-seinen eigenen Bürgern Spione. Er begnügte sich nicht damit,
-die Politik zu überwachen, er vergewaltigte auch das
-Denken und erzog seine Agenten zum gemeinen Dienst von
-Horchern an der Wand. Die Vorteile, die er ihnen für eine
-solche Niedrigkeit bot, erfüllten bald das Land (alle Länder)
-mit freiwilligen Spitzeln, Leuten der guten Gesellschaft,
-drückebergerischen Schriftstellern in großer Zahl, die ihre
-Sicherheit dadurch erkauften, daß sie die der andern verrieten
-und ihre Angebereien mit dem Worte „Vaterland“
-deckten. Dank diesen Angebern war es den frei Denkenden,
-die sich suchten, nicht möglich, einander die Hände zu reichen.
-Das ungeheure Untier Staat hatte eine mißtrauische
-Angst vor dem halben Dutzend freier, alleinstehender,
-schwacher machtloser Menschen, so sehr brannte es der Dorn
-seines schlechten Gewissens. Und jede dieser freien Seelen
-siechte hin in ihrem Kerker, umschlossen von einer unsichtbaren
-Überwachung. Und da einer vom anderen nicht wußte, daß
-sie alle das gleiche litten, starben sie langsam hin in ihrer
-eisigen Einsamkeit, ihrer Verzweiflung.</p>
-
-<p>Die Seele, die Clerambault in seinem eigenen Leibe trug,
-war zu brennend, um sich durch dieses Leichentuch von
-Schnee ersticken zu lassen. Aber die Seele allein reicht nicht
-aus in solchen Krisen. Der Körper ist eine Pflanze, die der
-menschlichen Erde bedarf. Der Sympathie beraubt, gezwungen,
-sich von seiner eigenen Substanz zu nähren,
-kränkelt er hin. Alle Überlegungen Clerambaults, mit denen
-er sich zu beweisen suchte, daß sein Gedankengang jenem
-von Tausenden Unbekannten entspräche, konnten nicht den
-lebendigen, leibhaftigen Kontakt mit einem einzigen schlagenden
-Herzen ersetzen. Der Geist kann sich mit dem Glauben
-begnügen. Aber das Herz ist der ungläubige Thomas,
-der berühren muß, um zu glauben.</p>
-
-<p>Clerambault hatte diese seine physische Schwäche nicht vorausgesehen.
-Es war wie eine Erstickung: die Haut wird
-trocken, das Blut vom brennenden Körper aufgesogen, die
-Quellen des Lebens versiegen im luftleeren Raum.</p>
-
-<p>Da geschah es eines Abends, als er wie ein Schwindsüchtiger
-an einem drückenden Tage von Zimmer zu Zimmer
-auf der Suche nach einem Atemzug frischer Luft durch das
-Haus geirrt war, daß ein Brief ankam, dem es gelungen
-war, zwischen den Maschen des Netzes durchzuschlüpfen.
-Ein Mann etwa seines Alters, ein Dorflehrer in irgendeinem
-verlorenen Tale des Dauphiné, schrieb ihm:</p>
-
-<p>„Der Krieg hat mir alles genommen. Von denen, die ich
-kannte, hat er die einen getötet, die anderen erkenne ich
-nicht mehr. Auf allem, was mir einst das Leben lebenswert
-erscheinen ließ, auf meiner Hoffnung eines Fortschrittes,
-auf meinem Vertrauen in eine Zukunft geistiger
-Brüderlichkeit, stampfen sie mit ihren Füßen herum. Ich
-siechte hin vor Verzweiflung, als ich durch einen Zufall dank
-einer Zeitung, die Sie beschimpfte, Ihre Aufsätze „Ihr Toten“
-und „An die einst Geliebte“ kennen lernte. Ich habe
-sie gelesen und vor Freude geweint. Man ist also doch nicht
-ganz allein? Man leidet also doch nicht allein? Und nicht
-wahr, mein Herr, Sie glauben noch an diesen Glauben,
-sagen Sie es mir, Sie glauben doch noch an ihn? Er lebt
-also immer noch und sie werden ihn nicht töten können?
-Ach, wie wohl das tut, ich fing schon an zu zweifeln! Verzeihen
-Sie es mir, aber man ist alt, man ist allein, man ist
-recht müde.... Ich segne Sie, mein Herr. Jetzt werde ich
-ruhig sterben können, jetzt weiß ich, dank Ihnen, daß ich
-mich nicht getäuscht habe!“</p>
-
-<p>Und es war sofort, als ob die Luft durch irgendeine plötzliche
-Öffnung einbräche. Die Lunge spannte sich aus, das
-Herz begann wieder zu schlagen, die Quelle des Lebens
-wieder zu sprudeln, um das ausgetrocknete Strombett der
-Seele von neuem zu füllen. O wie doch immer ein liebender
-Mensch des andern bedarf! Du Hand, zu mir hinübergereicht
-in der Stunde der Angst, du Hand, die du mich
-fühlen ließest, daß ich nicht ein abgerissener Zweig war vom
-Baum des Lebens, sondern hinabreiche bis zu seinem Herzen
-— ich rette dich und du rettest mich. Ich gebe dir meine
-Kraft und sie stirbt hin, wenn du sie nicht nimmst. Die einsame
-Wahrheit ist wie ein Funke, der als einziger, züngelnd
-und vergänglich vom Kiesel springt. Wird er nicht verlöschen?
-Nein. Er hat eine andere Seele berührt, und ein Stern
-flammt in der Tiefe des Horizonts auf.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>N</span>ur einen Augenblick war es Clerambault vergönnt, ihn
-zu sehen. Dann trat er hinter dem Gewölk zurück und
-verschwand für immer.</p>
-
-<p>Clerambault schrieb noch am selben Abend dem unbekannten
-Freunde. Er vertraute ihm mit voller Hingabe
-seine Prüfungen und seine gefährlichen Überzeugungen an.
-Der Brief blieb ohne Antwort. Nach einigen Wochen schrieb
-Clerambault nochmals, hatte aber auch diesmal keinen
-Erfolg; doch sein Hunger nach einem Freund, mit dem er
-leiden und hoffen konnte, war so gierig geworden, daß er
-mit der Eisenbahn nach Grenoble fuhr und von dort zu
-Fuß bis zu dem Dorf ging, dessen Adresse er bewahrt hatte.
-Aber als er, das Herz schon ganz selig über die Überraschung,
-die er bereiten würde, an die Tür der Schule klopfte, verstand
-der Mann, der ihm auftat, nichts von dem, was er ihm
-sagte. Nach kurzer Auseinandersetzung erfuhr er, daß der
-Lehrer, mit dem er sprach, neu in das Dorf gekommen sei.
-Sein Vorgänger war vor einem Monat versetzt und strafweise
-in eine entfernte Gegend geschickt worden, aber es blieb
-ihm erspart, die Reise zu machen. Eine Lungenentzündung
-hatte ihn am Tage, ehe er den Ort verlassen sollte, den er
-dreißig Jahre bewohnt, dahingerafft. Nun durfte er noch
-weiter darin wohnen, aber unter der Erde. Clerambault
-sah das Kreuz auf dem noch frischen Hügel und erfuhr niemals,
-ob der entschwundene Freund wenigstens seine zärtlichen
-Worte empfangen hatte. Es war besser für ihn, im
-Zweifel zu verharren, denn niemals hatte der entschwundene
-Freund seine Briefe erhalten, selbst jenes letzten Lichtscheins
-hatte man ihn beraubt.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>as Ende jenes Sommers im Berry war eine der unfruchtbarsten
-Epochen im Leben Clerambaults. Er
-sprach mit niemandem mehr, er schrieb nicht mehr. Mit der
-arbeitenden Bevölkerung in direkten Verkehr zu kommen,
-bot sich keine Möglichkeit. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo
-er vordem dem Volke nahetreten konnte (bei Massenaufläufen,
-bei Festlichkeiten und bei der Arbeit an der Volksuniversität),
-war es ihm immer lieb geworden. Aber eine Scheu,
-übrigens eine, die beiderseitig war, hinderte ihn, sich ganz
-hinzugeben. Beide Teile hatten immer das bald stolze, bald
-peinliche Gefühl der eigenen Minderwertigkeit. Denn Clerambault
-dünkte sich in vielen Dingen, und zwar in den wesentlichsten,
-geringwertiger, als die intelligenten Arbeiter (und
-er hatte auch recht, denn aus ihren Reihen werden die Führer
-der Zukunft erstehen). Unter der Auslese der Arbeiterschaft
-gab es damals anständige und männliche Geister, die Clerambault
-wohl hätte verstehen können. Mit ihrem ungebrochenen
-Idealismus hielten sie sich fest an die Wirklichkeit und, gewöhnt
-an den täglichen Kampf, seine Täuschungen und seinen
-Betrug, hatten sich diese Männer, von denen einige, obzwar
-noch jung, schon Veteranen im sozialen Kampf waren,
-zur Geduld erzogen. Sie hätten Clerambault darin belehren
-können. Diese Leute wußten wohl, daß alles erarbeitet sein
-muß, daß man nichts umsonst bekommt, daß alle diejenigen,
-die das Glück der zukünftigen Generation wollen, es mit
-ihren persönlichen Leiden bezahlen müssen. Sie wissen, daß
-der geringste Fortschritt nur Schritt für Schritt erobert wird
-und oft zwanzigmal verloren geht, ehe er endgültig erreicht
-wird. (Es gibt ja nichts wirklich Endgültiges...) Clerambault
-hatte großes Verlangen nach diesen Menschen, die
-stark und geduldig wie die Erde waren. Und seine heiße
-Intelligenz hätte sie bestrahlt und erwärmt.</p>
-
-<p>Aber zwischen ihnen und ihm bestand das altväterliche, verletzende
-und der Gemeinschaft nicht weniger als dem Einzelnen
-verhängnisvolle System der Kasten, das zwischen den
-angeblich gleichen Bürgern unserer verlogenen Demokratien
-steht, und das aus der übergroßen Verschiedenheit der Vermögensverhältnisse,
-der Erziehung und der Lebensform
-stammt. Zwischen den einzelnen Kasten bestand nur eine
-Verbindung durch die Journalisten, die, eine Kaste für
-sich bildend, weder die eine noch die andere wirklich darstellten.
-Einzig die Stimme der Zeitungen durchhallte das
-Schweigen Clerambaults. Nichts war imstande, ihr „Quorax
-quorax breke-ke-kex“ zu stören.</p>
-
-<p>Die unglücklichen Folgen einer neuen Offensive fanden die
-Journale wie immer unerschütterlich auf ihrem Posten.
-Wieder einmal waren die optimistischen Orakel der Hinterlandspriester
-zunichte geworden, aber niemand schien es zu
-bemerken. Sie ließen nur andere Orakel folgen, die mit der
-gleichen Zuversicht verabreicht und verschluckt wurden. Weder
-diejenigen, die sie schrieben, noch die, die sie lasen, wollten
-eingestehen, daß sie sich getäuscht hatten, und, so aufrichtig
-sie auch gegen sich sein mochten, sie merkten nichts davon.
-Sie erinnerten sich selber nicht mehr an das, was sie tags
-zuvor gesagt hatten. Und wie wollte man auch dies seltsame
-Wesen mit dem Vogelgehirn fassen? Kopf oben, Kopf unten
-— man mußte schließlich ihre Gabe anerkennen, nach allen
-Kapriolen immer wieder auf die Füße zu fallen. Jeden Tag
-hatten sie eine andere Überzeugung. Sie brauchte nicht
-dauerhaft zu sein, nachdem man am anderen Tage wieder
-eine andere hatte. Zu Ende des Herbstes begann man in
-den Zeitungen, um die sinkende Moral des Hinterlandes,
-die bei dem Vorgefühl des traurigen Winters nachzugeben
-begann, wieder neu zu kräftigen, eine neue Propaganda
-deutscher Greuel. Sie erfüllte vortrefflich ihren Zweck. Das
-Thermometer der öffentlichen Meinung stieg plötzlich wieder
-zur Fiebertemperatur auf. Selbst in dem friedlichen Städtchen
-des Berry äußerten sich während einiger Wochen alle
-Leute in erbittertster Weise. Sogar der Priester steuerte sein
-Scherflein bei und hielt eine Rachepredigt. Clerambault,
-der es von seiner Frau beim Mittagessen erfuhr, sprach
-seine Ansicht darüber in Gegenwart des bedienenden Mädchens
-ohne Rücksicht aus. Am Abend wußte schon das ganze
-Dorf, daß er ein Boche sei, und seitdem konnte es Clerambault
-jeden Morgen an seiner Tür angeschrieben lesen. Die
-Laune Frau Clerambaults wurde dadurch nicht gebessert.
-Rosine wiederum, die in ihrem jugendlichen Kummer über
-die getäuschte Liebe eine religiöse Krise durchmachte, war zu
-sehr mit ihrem eigenen Schmerz und seinen Verwandlungen
-beschäftigt, um an die Qual der anderen zu denken. Selbst
-die zärtlichsten Naturen haben ihre Stunde eines naiven und
-vollkommenen Egoismus.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>G</span>anz allein sich selbst hingegeben und der Möglichkeit
-des Wirkens beraubt, wandte Clerambault sein ganzes
-fieberndes Denken gegen sich. Nichts konnte ihn nunmehr
-auf dem Wege der bitteren Wahrheit zurückhalten,
-nichts mehr ihr grausam scharfes Licht abdämpfen. Er
-fühlte in sich die brennende Seele jener <span class='it'>fuorusciti</span>, die,
-verstoßen aus den Mauern ihrer harten Stadt, sie von
-außen mit mitleidslosen Augen betrachteten. Nun war es
-nicht mehr die schmerzhafte Vision jener ersten Nacht der
-Prüfung, da die blutenden Wunden ihn noch mit seinem
-menschlichen Kreise verbanden. Jetzt waren alle Bande gelöst.
-Sein überklarer Geist schwebte, den Abgrund umkreisend,
-immer tiefer in langsamen Spiralen einsamen Schweigens
-in die Hölle hinab....</p>
-
-<p>„Ich sehe euch, ihr Herden, ihr Völker, ihr Myriaden Wesen,
-die ihr es nötig habt, euch wie Austern zusammenzudrängen,
-nur um euch vermehren und denken zu können. Jede
-eurer Gruppen hat ihren besonderen Geruch, der ihr heilig
-scheint. Ganz wie bei den Bienen, wo die Ausdünstung
-der Königin die Einheit des Bienenstockes und die Arbeitsfreude
-schafft. Ganz wie bei den Ameisen: Wer dort
-nicht riecht wie das Ich und seine Rasse, wird getötet. Ihr
-Menschenwaben, jede von euch hat ihren besonderen Geruch
-von Rasse, Religion, Moral und althergebrachten Sitten.
-Dieser Geruch durchdringt eure Körper, euer Werk und eure
-Brut. Er bestimmt euer Leben von der Geburt bis zum
-Tode. Weh dem, der ihn von sich abzuwaschen sucht.</p>
-
-<p>Wer die Dumpfheit dieses Bienenschwarmgedankens, diesen
-Schweiß berauschter Nächte eines Volkes recht genießen will,
-möge doch einmal die Gebräuche und Glaubensformeln aus
-der Distanz der Geschichte betrachten; er möge sich von
-Herodot, dem ironischen Spötter, den Film der menschlichen
-Verirrungen aufrollen lassen, das lange Panorama
-der bald erbärmlichen, bald lächerlichen, aber immer hochgeehrten
-Gebräuche bei den Skythen, Issedonen, Geten,
-Nasomonen, Gindaren, Sauromaten, Lydiern, Lybiern und
-Ägyptern, den Zweifüßlern aller Farben von Ost nach West
-und von Nord nach Süd. Der Großkönig, ein kluger Kopf,
-fordert zum Scherz die Griechen, die ihre Toten verbrennen,
-auf, sie zu verzehren, und die Hindus wiederum, die sie verspeisen,
-sie zu verbrennen, und belustigt sich dann über ihre
-beiderseitige Empörung. Der weise Herodot aber verneigt
-sich vor seinem Publikum und, unmerklich lächelnd, enthält
-er sich zwar eines Urteils, weist aber die zurecht, die sich
-über jene lustig machen; denn: würde man allen Menschen
-vorschlagen, eine Wahl unter den besten Gesetzen der verschiedenen
-Länder zu treffen, so würde sich doch jeder für die
-seines Vaterlandes entscheiden, denn es ist gewiß, daß jeder
-überzeugt ist, es gäbe keine besseren. Es gibt kein wahreres
-Wort als jenes Pindars: ‚Die Gewohnheit ist die Königin
-aller Menschen.‘</p>
-
-<p>Jeder trinkt gern aus seinem Napf; so sollte er es wenigstens
-ertragen, daß der andere aus dem seinigen trinkt.
-Aber gerade das Gegenteil gilt: Um sich an dem seinen zu
-erfreuen, muß man dem andern in seinen Napf spucken. So
-will es Gott, denn man braucht ja einen Gott — mag er sein
-wie er sei, Mensch oder Tier, oder bloß ein Gegenstand, eine
-schwarze oder rote Linie, oder wie im Mittelalter eine Amsel,
-ein Rabe, irgendein Wappenschild — nur damit man dann
-auf ihn die eigenen Torheiten abladen kann.</p>
-
-<p>Heute, da die Fahne das Wappenschild ersetzt hat, erklären
-wir uns frei von jedem Aberglauben. Doch wann
-war er undurchdringlicher als heute? Jetzt zwingt uns das
-neue Dogma der Gleichheit, genau so zu riechen wie die anderen,
-wir haben nicht einmal mehr die Freiheit zu sagen,
-daß wir nicht frei sind. Das wäre ein Gottesfrevel. Mit
-dem Tragsattel auf dem Rücken muß man brüllen: ‚Es lebe
-die Freiheit!‘ Die Tochter des Königs Cheops war auf Befehl
-ihres Vaters Dirne geworden, um mit dem Schandgeld
-ihres Körpers die Pyramide aufrichten zu helfen. Um
-die Pyramide unserer massigen Republiken zu errichten,
-müssen Millionen Bürger ihr Gewissen, ihre Seele und ihre
-Körper der Lüge und dem Haß prostituieren.... Oh, wir
-sind Meister in der großen Kunst des Lügens geworden!...
-Allerdings, man hat ja immer gelogen, aber der Abstand
-zu jenen Frühern besteht darin, daß sie sich ihrer Lüge bewußt
-waren, und es beinahe naiv eingestanden wie ein natürliches
-Bedürfnis, das man — wie es ja bei den Menschen
-des Südens Sitte ist — ungeniert in Gegenwart von Vorübergehenden
-abtut. ‚Ich werde immer lügen‘, sagt ganz
-unschuldig Darius, ‚denn wenn es nützlich ist zu lügen, so
-soll man sich darüber keine Skrupel machen. Diejenigen, die
-lügen, wünschen dasselbe zu erreichen wie jene, die die Wahrheit
-sagen: man lügt in der Hoffnung, irgendeinen Gewinn
-davon zu haben, man sagt die Wahrheit, um daraus Vorteil
-zu ziehen und sich das Vertrauen zu sichern. So gehen
-wir zwar nicht den gleichen Weg, aber doch zum selben Ziele.
-Denn ohne Hoffnung auf Vorteil wäre es ja für den, der
-die Wahrheit sagt, gleichgültig, zu lügen, und für den, der
-lügt, ebensogut, er sagte die Wahrheit.‘ Aber wir, meine
-lieben Zeitgenossen, wir sind bedeutend schamhafter. Wir
-schauen uns selbst nicht zu, wenn wir auf offener Straße
-lügen... Wir lügen hinter geschlossenen Türen und Fenstern,
-wir belügen uns selbst. Aber wir gestehen es uns
-niemals ein, selbst nicht in aller Intimität. Nein, nein,
-wir lügen nicht, wir „idealisieren“ nur.... Ach, ich möchte,
-daß man euer Auge sehe und daß euer Auge sehend würde,
-ihr freien Menschen!</p>
-
-<p>Frei! Worin, wovon seid ihr frei? Wer von euch ist heute
-frei innerhalb eures gegenwärtigen Staates? Habt ihr die
-Freiheit, zu handeln? Nein, da ja der Staat über euer
-Leben verfügt, euch zu Schlächtern oder Hingeschlachteten
-macht. Seid ihr frei, zu sprechen und zu schreiben, was
-ihr wollt? Nein, denn man sperrt euch ein, wenn ihr eure
-Gedanken aussprecht. Seid ihr frei, wenigstens für euch
-allein zu denken? Nein, außer ihr verbergt eure Gedanken
-gut, und selbst ein tiefer Keller ist für sie nicht sicher genug.
-Schweigt! Hütet euch! Ihr seid gut überwacht...
-Es gibt Galeerenhüter für die Tat: Unteroffiziere und
-Betreßte. Und es gibt Galeerenhüter für den Geist: Kirchen
-und Universitäten, die genau vorschreiben, was man
-glauben und was man leugnen muß... Worüber beklagt
-ihr euch? (Aber ihr beklagt euch ja gar nicht!) Macht euch
-ja kein Kopfzerbrechen, wiederholt nur die Worte des Katechismus!</p>
-
-<p>Nun sagt ihr, daß dieser Katechismus in freier Wahl von
-dem selbständigen und selbstherrlichen Volk genehmigt
-worden sei! Eine schöne Selbstherrlichkeit! Einfaltspinsel,
-die die Backen aufblasen mit ihrem Worte Demokratie...
-Demokratie, das ist die Kunst, sich an die Stelle des Volkes
-zu setzen und ihm feierlich in seinem Namen, aber zum
-Vorteil einiger guter Hirten die Wolle abzuscheren. In
-Friedenszeiten weiß das Volk nichts von dem, was vorgeht,
-außer dem, was die Leute, die ein Interesse daran haben,
-es zu prellen, ihm in ihren geknechteten Zeitungen zu
-sagen Lust haben. Die Wahrheit ist unter Verschluß. In
-Kriegszeiten macht man das besser, da ist das Volk unter
-Verschluß. Selbst wenn es wirklich je gewußt hätte, was
-es will, so hat es doch keine Möglichkeit mehr, ein Wort davon
-zu sagen. Kadavergehorsam... Zehn Millionen Kadaver...
-und die Lebendigen taugen auch nicht viel mehr, nachdem
-sie vier Jahre im niederdrückenden Regime von patriotischen
-Aufschneidereien, von Jahrmarkts-Paraden gestanden
-haben und dem Tam-Tam, den Drohungen, Betrügereien,
-Gehässigkeiten, Angebereien, Hochverratsprozessen
-und dem Standgericht ausgesetzt waren. Die Demagogen
-haben das letzte Aufgebot der Dunkelmännerei zusammengerafft,
-um den letzten verzweifelten Lichtschein der Vernunft
-in ihren Völkern zu ersticken und sie völlig zu verblöden.</p>
-
-<p>Ihnen genügt es nicht, sie zu knechten. Man muß die
-Völker so dumm machen, daß sie selbst geknechtet sein
-wollen. Die gewaltigen Autokratien Ägyptens, Persiens
-und Assyriens, die mit dem Leben von Millionen ihr Spiel
-trieben, schöpften das Geheimnis ihrer Macht aus dem
-übernatürlichen Glanz ihrer falschen Göttlichkeit. Jede absolute
-Monarchie war unbedingt bis an die äußersten Grenzen
-der gläubigen Jahrhunderte eine Theokratie gewesen.
-In unseren Demokratien aber ist es unmöglich, an die Göttlichkeit
-irgend so eines Hanswursts, wie es unsere höchst anrüchigen
-und mißachteten Minister sind, zu glauben. Man
-hat sie zu sehr von der Nähe gesehen und kennt ihre Schäbigkeiten....
-So haben sie die Erfindung gemacht, die Götter
-hinter die Leinwand ihres Jahrmarktzeltes zu stecken. Gott,
-das ist jetzt die Republik, das Vaterland und die Gerechtigkeit,
-die Zivilisation. Am Eingang des Zeltes sind sie aufgemalt,
-jede Jahrmarktsbude zeigt in mannigfachen Farben
-ihre schöne Riesin, und die Millionen drängen sich nur
-so hinein, um sie zu sehen. Freilich, was sie denken, wenn
-sie aus der Bude herauskommen, das wird nicht gesagt,
-und sie wären selbst sehr verlegen, wenn sie sich etwas dabei
-denken sollten. Die einen kommen überhaupt nicht mehr
-heraus, die andern haben nichts gesehen. Nur jene, die
-draußen geblieben sind vor der großen Bude, um zu gaffen,
-die sehen, für die ist Gott da (schön aufgemalt). Die Götter
-sind nichts als das Verlangen, an sie zu glauben.</p>
-
-<p>Warum aber dann die brennende Wut dieses Verlangens?
-Weil man die Wirklichkeit nicht sehen kann. Oder eigentlich:
-gerade weil man sie sieht. Das ist ja die ganze Tragik
-der Menschheit, daß sie nicht sehen und nichts wissen will.
-Sie hat nur das verzweifelte Bedürfnis, irgendwie ihren
-Schmutz göttlich zu machen. Wir aber wollen ihr ins Gesicht
-sehen!</p>
-
-<p>Der Instinkt des Mordes ist in das Herz der Natur geschrieben.
-Ein wahrhaft teuflischer Instinkt, weil er die
-Wesen nicht bloß geschaffen zu haben scheint, um zu essen,
-sondern auch, um gegessen zu werden. Eine Spielart des
-Kormorans nährt sich von Meerfischen. Die Fischer rotteten
-nun diese Vögel aus, da verschwanden die Fische, denn sie
-wiederum nährten sich von den Exkrementen der Vögel, die
-sich von ihnen nährten. So ist die Kette der Wesen eine Schlange,
-die sich in den Schwanz beißt und sich selber frißt....
-Wäre nun wenigstens nicht auch noch das Bewußtsein geschaffen,
-daß der Mensch selbst dieser eigenen Marter zusehen
-muß! Oh, wie dieser Hölle entfliehen?... Zwei Wege gibt
-es, zwei einzige Wege, den Weg Buddhas, der den schmerzhaften
-Wahn des Lebens zum Erlöschen bringt — und den
-Weg des religiösen Wahns, der über Verbrechen und Schmerzen
-den Schleier einer blendenden Lüge wirft! Das Volk,
-das die andern vernichtet, wird da zum auserwählten Volke,
-es wirkt für seinen Gott. Das Gewicht der Ungerechtigkeiten,
-das die eine Waagschale des Lebens niederdrückt, findet
-sein Gegengewicht im Jenseits der Träume, wo alle
-Wunden und Qualen gelindert werden. Die Formen dieses
-Himmelreiches sind verschieden von Volk zu Volk, von
-Zeit zu Zeitalter, und diese Verschiedenheit nennt man dann
-Fortschritt. Aber es ist doch immer ein und dasselbe
-Verlangen nach einem Wahn. Man muß dieser furchtbaren
-Bewußtheit das Maul stopfen, die alles sieht und Rechenschaft
-verlangt für jede Ungerechtigkeit des Gesetzes. Wirft
-man ihr nun nicht rasch einen Brocken zum Fraße hin,
-irgendeinen Glauben, so heult sie vor Hunger und Angst.
-Man muß glauben. Glauben oder krepieren.... Und darum
-haben sich die Menschen zu Herden zusammengedrängt, um
-sich gegenseitig zu bestärken und zu stützen. Um aus ihren
-einzelnen persönlichen Zweifeln eine gemeinsame Sicherheit
-zu machen.</p>
-
-<p>Was tun wir aber jetzt mit der Wahrheit? Die Wahrheit
-— jetzt ist sie ja für jene der Feind. Freilich, das gestehen
-sie nicht ein. In einem stillschweigenden Übereinkommen
-nennen sie Wahrheit das widerliche Gemisch von ein bißchen
-Wahrheit und vieler Lüge, wobei das bißchen Wahrheit
-dazu dient, die Lüge zu übertünchen, die Lüge und die Knechtschaft,
-die ewige Knechtschaft... Nicht die Monumente des
-Glaubens und der Liebe sind die dauerhaftesten, sondern
-weit mehr jene der Knechtschaft. Reims und das Parthenon
-stürzen in Ruinen, aber die Pyramiden Ägyptens
-inmitten der Wüste, den Luftspiegelungen und dem wandernden
-Sand trotzen den Jahrhunderten... Wenn ich
-an die Tausende unabhängiger Menschen denke, die der Geist
-der Knechtschaft im Laufe der Jahrhunderte verschlungen
-hat — die Ketzer und Revolutionäre, die Unbotmäßigen
-gegen Staat und Kirche —, so wundere ich mich nicht mehr
-über die Mittelmäßigkeit, die nun über der Welt wie eine
-dicke fettige Brühe schwimmt...</p>
-
-<p>Wir aber, die wir uns noch auf der düstern Oberfläche
-halten, die wir noch nicht untergetaucht sind, was sollen wir
-gegenüber dieser unbarmherzigen Welt tun, wo ewig
-der Starke den Schwächeren zermalmt und ewig wieder
-einen noch Stärkeren findet, der ihn seinerseits vernichtet?
-Sollen wir uns aus schmerzlichem Mitleid und aus Ermüdung
-zur freiwilligen Hinopferung entschließen, oder
-sollen wir mittun an der ewigen Erdrückung des Schwachen,
-ohne innerlich nur den Schatten einer Erkenntnis zu haben
-von der blinden Grausamkeit des Weltalls? Was bleibt uns
-denn sonst noch? Sollen wir etwa versuchen, uns aus
-dem hoffnungslosen Kampf wegzuschleichen aus Egoismus
-oder aus Weisheit, die ja doch nur eine andere Form des
-Egoismus ist?...“</p>
-
-<p>In dieser Krise ätzenden Pessimismusses, die Clerambault
-in jenen Monaten der menschenfremden Isolierung durchwühlte,
-sah er überhaupt keine Möglichkeit des Fortschrittes
-mehr, jenes Fortschrittes, an den er einst geglaubt
-hatte wie andere an den lieben Gott. Jetzt sah er die
-menschliche Rasse einem mörderischen Geschick rettungslos
-geweiht. Nachdem sie soviel andere Wesen auf ihrer
-Erde vernichtet hatte, war es ihr Schicksal, sich nun mit
-eigener Hand zu vernichten und damit ein Gesetz der Gerechtigkeit
-zu erfüllen. Denn der Mensch ist Herr dieser Erde
-nur durch Raub, durch Betrug und Kraft geworden (hauptsächlich
-aber durch Betrug), wertvollere Wesen, als er ist,
-sind vielleicht, gewiß sogar, unter seinen Schlägen hingeschwunden,
-die einen hat er zerstört, die anderen erniedrigt,
-zu Tieren gemacht. Seit den Tausenden von Jahren, die
-er das Dasein mit den andern Wesen teilt, tut er so, als
-verstünde er sie nicht (er lügt), als wüßte er nicht, daß sie
-zu ihm Bruderwesen wären, leidend, liebend und träumend
-wie er. Um sie besser ausbeuten und ohne Gewissensbisse
-quälen zu können, hat er sich von seinen geistigen Führern
-bestätigen lassen, daß diese Wesen nicht denkfähig seien,
-daß er allein dieses Privileg besitze. Heute ist er nicht mehr
-weit davon entfernt, dies auch von den anderen Menschenvölkern
-zu sagen, die er bekämpft und vernichtet... Henker!
-Henker, du bist mitleidslos gewesen. Mit welchem
-Recht verlangst du heute Mitleid für dich?</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>V</span>on den alten Freundschaften, die einst zum Kreise Clerambaults
-gehört hatten, war ihm eine einzige noch geblieben,
-die mit Frau Mairet, deren Mann vor kurzem im
-Argonnenwald gefallen war.</p>
-
-<p>François Mairet, der noch nicht das vierzigste Lebensjahr
-erreicht hatte, als er unbemerkt im Schützengraben zugrunde
-ging, war einer der ersten französischen Biologen, ein bescheidener
-Gelehrter, ein großer Arbeiter gewesen, in dem
-ein geduldiges Genie schlummerte, das der Ruhm später
-gewiß entdeckt hätte. Er hatte aber gar keine Eile, den Besuch
-dieser schönen Dirne zu empfangen, man teilt ja ihre
-Gunst mit zu vielen Undankbaren. Ihm genügte die stille
-Freude, die die innige Beziehung zur Wissenschaft ihren Auserwählten
-gewährt, und ein einziges Herz auf Erden, um
-diese Freude mit ihm gemeinsam zu genießen. Seine Frau
-war die Hälfte all seiner Gedanken. Ein wenig jünger als
-er, aus Hochschulkreisen stammend, gehörte sie zu jenen
-ernsten, liebevollen, zugleich schwachen und stolzen Seelen,
-die das Bedürfnis haben, sich hinzugeben, die sich aber nur
-ein einzigesmal hingeben können. Sie lebte ganz im geistigen
-Leben Mairets. Vielleicht hätte sie ebensogut das eines
-anderen Mannes teilen können, wenn die Umstände sie mit
-ihm verbunden hätten. Aber sobald sie Mairet geheiratet
-hatte, hatte sie ihn restlos geheiratet. Wie viele Frauen,
-und gerade die besten von ihnen, befähigte sie ihre Intelligenz,
-gerade den zu verstehen, den ihr Herz erwählt hatte.
-Sie hatte sich zu seiner Schülerin gemacht, um seine Gefährtin
-zu werden, sie nahm Teil an seiner Arbeit, an seinen
-Experimenten. Kinder hatten sie keine. Ihre Gemeinschaft
-war eine der Gedanken. Beide waren sie freie Geister, voll
-hoher freigeistiger und übernationaler Ideale.</p>
-
-<p>Als im Jahre 1914 Mairet einberufen wurde, folgte er
-dem Rufe, bloß um seiner Pflicht zu genügen, aber ohne
-innere Täuschung über die Sache, die der Zufall der Zeiten
-und der Vaterländer ihm zu vertreten auferlegte. Von der
-Front sandte er stoische und klare Briefe. Nie hatte er aufgehört,
-den Krieg als etwas Erbärmliches zu betrachten,
-aber er glaubte sich zum Opfer verpflichtet aus Gehorsam
-gegen das Geschick, das ihn eben den Irrtümern, den Leiden
-und Kämpfen jener armen Menschenrasse beigemengt hatte,
-die sich langsam einem unbekannten Ziel entgegen entwickelte.</p>
-
-<p>Er kannte Clerambault. Familienbeziehungen in der Provinz,
-aus der Zeit, ehe die einen oder die anderen nach
-Paris übersiedelten, waren die Grundlage ihres freundschaftlichen
-Verhältnisses geworden, das eigentlich mehr dauerhaft
-war als intim — denn Mairet gab nur seiner Frau
-sein Herz hin — dessen unzerstörbare Grundlage aber eine
-beiderseitige reine Achtung war.</p>
-
-<p>Seit Kriegsbeginn hatte jeder einzelne mit seinen Sorgen
-zu tun, und sie hatten nicht in Korrespondenz gestanden.
-Die draußen im Felde schickten nicht Briefe an viele Freunde
-herum, sie konzentrierten sie auf ein einzelnes Wesen, dem
-sie dann alles sagten. Mairet hatte mehr als jemals seine
-Gefährtin zum einzigen Verwalter seines Vertrauens gemacht,
-seine Briefe waren ein Tagebuch, wo er gewissermaßen
-mit lauter Stimme dachte. In einem seiner letzten
-Briefe sprach er von Clerambault. Er hatte von seinen ersten
-Artikeln durch die nationalistischen Zeitungen (die einzigen,
-die an der Front geduldet wurden) erfahren, die zu
-polemischen Zwecken Auszüge daraus brachten. Er schrieb
-seiner Frau, welche Erleichterung er bei diesen Worten eines
-anständigen und empörten Mannes empfunden hätte,
-und bat sie, Clerambault wissen zu lassen, daß seine alte
-Freundschaft für ihn dadurch nur noch inniger und wärmer
-geworden sei. Kurze Zeit darauf fiel er, noch ehe er
-die folgenden Aufsätze erhielt, die er seine Frau gebeten
-hatte ihm zu senden.</p>
-
-<p>Als er hingegangen war, suchte sie, die einzig für ihn
-lebte, sich jenen Menschen zu nähern, die ihm in den
-letzten Stunden seines Lebens nahegestanden hatten. Sie
-schrieb an Clerambault. Er, der sich in seinem Provinzwinkel
-innerlich verzehrte, ohne die Energie zu finden, sich
-daraus loszureißen, empfing den Ruf der Frau Mairet wie
-eine Erlösung. Er kam nach Paris zurück. Es bedeutete für
-sie beide ein bitteres Wohlgefühl, gemeinsam das Wesen des
-Dahingegangenen wieder zu erwecken, und sie teilten es
-sich so ein, daß sie sich einen Abend jeder Woche einzig dafür
-frei hielten, um gemeinsam mit ihm beisammen zu sein. Clerambault
-war der einzige aus dem Freundeskreis Mairets,
-der die geheime Tragödie eines Opfers verstehen konnte, das
-von keinem vaterländischen Wahn künstlich vergoldet war.</p>
-
-<p>Zuerst fühlte Frau Mairet eine Erleichterung darin, ihm
-alles zu zeigen, was sie empfangen hatte. Sie las ihm die
-Briefe vor, die vertraulichen Mitteilungen seiner Enttäuschung.
-Mit Ergriffenheit durchschritten sie seine Gedankenkreise
-und kamen dazu, alle die Probleme aufzurollen, die
-den Tod Mairets und jenen von Millionen anderer verschuldet
-hatten. Nichts konnte Clerambault bei dieser unerbittlichen
-Fragestellung zurückhalten. Auch sie war nicht
-die Frau, einer Suche nach der Wahrheit auszuweichen. —
-Und doch...</p>
-
-<p>Clerambault bemerkte bald, daß seine Worte ihr ein gewisses
-Unbehagen verursachten, sobald er laut aussprach,
-was sie nur zu gut selbst wußte und was die Briefe
-Mairets feststellten, nämlich die verbrecherische Sinnlosigkeit
-solchen Sterbens, die Fruchtlosigkeit einer solchen Aufopferung.
-Sie versuchte, das, was sie ihm anvertraut hatte,
-gleichsam wieder zurückzunehmen, sie stritt über den Sinn
-des Wortlautes mit einer Leidenschaft, die nicht immer ganz
-aufrichtig schien, und gab auf einmal vor, sich gewisser
-Worte Mairets zu erinnern, die eher eine Übereinstimmung,
-ja sogar Zustimmung zur öffentlichen Meinung bekundeten.
-Eines Tages bemerkte Clerambault, als sie ihm einen Brief,
-den sie schon früher einmal gelesen hatte, wieder vorlas, wie
-sie über einen Satz hinwegglitt, in dem sich der heroische
-Pessimismus Mairets deutlich verriet. Und als er darauf
-bestand, schien sie ein wenig beleidigt. Sie wurde ablehnend,
-allmählich verwandelte sich ihr peinliches Gefühl in Kälte,
-dann in Erregtheit, schließlich sogar in eine Art geheimer
-Feindseligkeit. Es endete damit, daß sie Clerambault mied,
-und ohne daß ihr Bruch offen eingestanden war, fühlte
-er, daß sie ihm böse war und ihn nicht mehr sehen wollte.</p>
-
-<p>Denn in gleichem Maße, wie sich die unerbittliche Analyse
-Clerambaults verschärfte und die Grundlagen der ganzen
-zeitgenössischen Meinungen negierte, bildete sich bei Frau
-Mairet ein gegensätzlicher Prozeß im Sinne einer Wiederherstellung
-idealer Begriffe heraus. Ihre Trauer bedurfte
-der Überzeugung, daß sie trotz allem irgendeinen heiligen
-Grund habe. Es fehlte ihr eben der Verstorbene, um ihr zu
-helfen, die Wahrheit zu ertragen. Denn zu zweien ist selbst
-die furchtbarste Wahrheit noch eine Freude. Aber für den,
-der allein zurückbleiben muß, wird sie tödlich.</p>
-
-<p>Clerambault verstand dies, seine bebende Feinfühligkeit
-spürte, daß er die Frau leiden gemacht hatte, und er
-fühlte ihr Leiden in sich selbst. Es fehlte nicht viel, so hätte
-er ihrem Widerstande gegen sich selbst zugestimmt, denn er
-sah, welch ungeheurer Schmerz in ihr verborgen war und
-sah zugleich die ganze Kraftlosigkeit seiner Wahrheit, die ihr
-keine Erleichterung brachte. Ja noch mehr: er sah, daß er
-einem Leiden, das schon vorhanden war, nur noch ein neues
-Leiden hinzugefügt hatte....</p>
-
-<p>Unlösbares Problem! Solche unglücklichen Menschen können
-nicht ohne den mörderischen Wahn leben, dessen Opfer sie
-sind. Und man kann ihnen den Wahn nicht wegnehmen,
-ohne ihre Leiden unerträglich zu machen. Familien, die
-Söhne oder Gatten oder Väter verloren haben, bedürfen
-eben des Glaubens, es sei für eine gerechte und wahre Sache
-geschehen. Die lügnerischen Staatsmänner sind gezwungen,
-diese Lüge um der anderen willen und um ihrer selbst
-willen aufrechtzuerhalten, denn wenn sie nur einen Augenblick
-aufhörten, wäre das Leben weder für sie noch für die,
-über die sie gebieten, erträglich. Der unglückliche Mensch ist
-eben die Beute seiner eigenen Ideen, und wenn er ihnen
-auch alles schon hingegeben hat, so muß er ihnen jeden
-Tag noch immer mehr hingeben, oder er findet unter seinen
-Schritten das Leere und stürzt hinab.... Was? Nach vier
-Jahren namenloser Qual und Zerstörung sollten wir zugeben,
-daß das alles umsonst war...? ... Nicht nur zugeben,
-daß selbst der Sieg eine Vernichtung wäre, sondern
-daß er es immer sein muß, daß der Krieg ein Wahnwitz ist
-und wir uns getäuscht haben.... Niemals! Lieber sterben
-bis zum letzten Mann. Schon ein einziger Mensch, dem
-man die Erkenntnis aufzwingt, daß sein Leben sinnlos war,
-gibt sich der Verzweiflung hin. Wie aber erst, wenn man es
-einem Volke, zehn Völkern, der ganzen Menschheit sagt?</p>
-
-<p>Clerambault hörte den Schrei der menschlichen Menge:</p>
-
-<p>„Leben um jeden Preis! Retten wir uns um jeden Preis!“</p>
-
-<p>„Aber ihr wollt euch ja gerade nicht retten! Euer Weg
-führt euch in neue Katastrophen, in eine Unzahl neuer
-Qualen.“</p>
-
-<p>„Mögen sie noch so arg sein, sie sind doch nicht so furchtbar
-als das, was du uns darbietest. Lieber mit einem Wahn
-sterben, als ohne einen Wahn leben! Ohne Wahn, ohne
-Illusionen leben... das wäre der lebendige Tod.“</p>
-
-<p>„Derjenige, der das Geheimnis des Lebens erkannt hat und
-sein Wort gelesen“, sagt die harmonische Stimme Amiels,
-des Enttäuschten, „entgeht dem großen Rad des Lebens,
-er ist ausgetreten aus der Welt der Lebendigen.... Ist
-einmal der Wahn dahin, so tritt wieder das Nichts in
-sein ewiges Reich, die farbige Seifenblase ist zergangen im
-ungeheuren Raum, die Qual des Gedankens aufgelöst in
-die regungslose Ruhe des unbegrenzten Nichts.“</p>
-
-<p>Aber gerade diese Ruhe im Nichts ist ja die fürchterlichste
-Qual für den Menschen der weißen Rasse. Lieber alle
-Qualen, alle Qualen des Lebens! Nein, nehmt mir sie
-nicht weg! Wer mir die mörderische Lüge wegnimmt, von
-der ich lebe, ist mein Mörder!...</p>
-
-<p>Und Clerambault legte sich bitter den Titel bei, den ihm
-zum Spott ein nationalistisches Blatt gegeben hatte: „<span class='it'>L’un
-contre tous</span>“. „Der Eine gegen Alle.“ Ja, er war der
-gemeinsame Feind, der Zerstörer des Wahns, von dem die
-andern leben....</p>
-
-<p>Aber er wollte es eigentlich gar nicht. Er litt zu sehr unter
-dem Gedanken, Leiden zu verursachen. Wie aus dieser
-tragischen Sackgasse herauskommen? Wohin immer er sich
-wandte, überall fand er den unlösbaren Zwiespalt: entweder
-todbringenden Wahn oder den Tod ohne Wahn.</p>
-
-<p>„Ich will nicht das eine und will nicht das andere.“</p>
-
-<p>„Ob du es willst oder nicht, gib nach! Hier ist kein Durchlaß.“</p>
-
-<p>„Aber ich werde trotzdem zu meinem Ziele kommen.“</p>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<div><h1>Vierter Teil</h1></div>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault durchschritt eine neue Gefahrzone. Sein
-Wandeln in der Einsamkeit glich einer Bergbesteigung,
-bei der man sich plötzlich vom Nebel umhüllt sieht und an den
-Felsen klammern muß, ohne weiter vorwärts zu können.
-Vor sich sah er nichts mehr, und nach welcher Seite immer
-er sich wandte, von überall hörte er aus der Tiefe den
-Sturzbach des Leidens brausen. Aber doch: er konnte nicht
-unbeweglich verharren, obwohl er über dem Abgrund hing
-und sein letzter Halt nachzugeben drohte.</p>
-
-<p>Er stand, von Dämmerung umgeben, an einem Wendepunkt.
-Dazu kam, daß gerade an diesem Tage die Neuigkeiten,
-die die Zeitungen belferten, ihm mit ihrem Wahnsinn
-die Seele niederdrückten. Wiederum vergebliche Menschenhekatomben,
-die der hypnotisierte Egoismus der Hinterlandleser
-natürlich fand, wiederum Grausamkeiten auf allen
-Seiten, verbrecherische Repressalien für Verbrechen, die aber
-von diesen, einst doch anständigen Leuten stürmisch gefordert
-und bejubelt wurden! Niemals war ihm der Horizont, der
-die armen Menschentiere in ihren irdischen Niederungen
-umschließt, umdüsterter und mitleidsloser erschienen.</p>
-
-<p>Clerambault fragte sich, ob dieses Gesetz der Liebe, das er
-in sich fühlte, nicht vielleicht nur für andere Welten und eine
-andere Menschheit Geltung habe. Unter seiner Post fand
-er einige neue Drohbriefe, und im Vorgefühl, daß sein Leben
-in der tragischen Sinnlosigkeit der Zeiten in den Händen
-des erstbesten Narren stünde, wünschte er im stillen, diese
-Begegnung möge nicht allzulange auf sich warten lassen.
-Aber dennoch, von guter Rasse und fest verwurzelt, wie er
-war, führte er sein Leben unverändert weiter, erfüllte methodisch
-seine täglichen Pflichten und hielt sich zusammen, um
-aufrecht und ungebeugt den Weg bis zum Ziele zu schreiten,
-wohin auch immer er ihn führen sollte.</p>
-
-<p>An diesem Tage nun erinnerte er sich, daß er seine Nichte
-Aline besuchen wollte, die eben eines Kindes genesen war;
-sie war die Tochter einer verstorbenen und von ihm geliebten
-Schwester, nur ein wenig älter als Maxime und
-dessen einstige Jugendgespielin. Als Mädchen hatte sie
-einen komplizierten Charakter gezeigt: unruhig, unbefriedigt,
-alles nur auf sich beziehend, gefallsüchtig, herrschsüchtig,
-allzu neugierig und von gefährlichen Abenteuern seltsam
-angezogen, dabei ein wenig trocken und doch leidenschaftlich,
-nachträgerisch, zornig und dann wieder plötzlich voll
-der Fähigkeit, zärtlich und verführerisch zu werden.
-Zwischen Maxime und ihr war es schon ziemlich weit geraten.
-Man mußte acht haben auf die beiden. Maxime ließ
-sich trotz seiner ironischen Veranlagung von diesen harten
-kleinen Augensternen leicht verlocken, die ihn manchmal mit
-ihren elektrischen Blitzen tief anstrahlten. Aline wiederum
-wurde erregt und angezogen von Maximes Ironie. Sie
-hatten sich recht geliebt, und recht aufeinander wütend gemacht.
-Dann waren sie beide zu anderen Erfahrungen
-übergegangen. Sie hatte in zwei oder drei andere Herzen
-Verwirrung gebracht und sich schließlich höchst vernünftig,
-als sie die Stunde und Gelegenheit für günstig hielt —
-alles hat ja seine Zeit —, mit einem ehrbaren Handelsmann,
-der gute Geschäfte in seinem Kunst- und Kirchenmöbelladen
-in der Rue Bonaparte machte, verheiratet. Sie befand sich
-gerade in andern Umständen, als ihr Mann an die Front
-mußte. Selbstverständlich war sie glühende Patriotin, denn
-„wer sich selbst liebt, liebt auch die Seinen“. Und sie wäre eine
-der letzten gewesen, bei denen Clerambault Verständnis
-für seine Gedanken des brüderlichen Mitempfindens erhofft
-hätte. Mitempfinden hatte sie wenig für Freunde, und
-keines für die Feinde. Sie hätte sie am liebsten in einem
-Mörser zerstampft, mit derselben kalten Freude, mit der sie
-einst Herzen und Insekten gequält hatte, um sich für irgendwelche,
-ihr von anderen zugefügte Unannehmlichkeiten zu
-rächen.</p>
-
-<p>Aber in demselben Maße, wie die in ihr wachsende Frucht
-reifte, wandte sich all ihre Aufmerksamkeit dieser zu,
-alle Kräfte ihres Herzens strömten nach innen. Der Krieg
-entfernte sich für sie, sie hörte nicht mehr die Kanonade von
-Noyon. Wenn sie davon sprach — immer weniger jeden
-Tag —, so schien es, als handelte es sich dabei um eine
-Kolonialexpedition. Sie erinnerte sich wohl der Gefahren
-ihres Mannes, und sicherlich, sie hatte ein mitleidiges
-„Armer Kerl“ für ihn, zugleich mit einem kleinen gerührten
-Lächeln, das zu sagen schien: „Er hat wirklich Pech,
-er ist ein wenig ungeschickt.“ Aber sie hielt sich bei diesem
-Thema nie lange auf, und es ließ, Gott sei Dank, keine
-Spuren in ihr zurück. Ihr Gewissen war ja ruhig, sie
-hatte ihre Zeche bezahlt. Und schleunigst kehrten Alinens
-Gedanken zur einzig wichtigen Aufgabe zurück. Im ganzen
-weiten Universum war das Ei, das sie zu legen hatte, anscheinend
-die einzige Sache von Belang für sie.</p>
-
-<p>Clerambault, mit seinen Kämpfen vollauf beschäftigt, hatte
-Aline seit Wochen nicht gesehen und nichts von dieser Änderung
-ihrer Gesinnung wahrgenommen. Wenn Rosine
-einige Worte darüber fallen ließ, so hatte seine abgewandte
-Aufmerksamkeit nicht darauf gehört. Ganz plötzlich, Schlag
-auf Schlag, innerhalb vierundzwanzig Stunden, empfing
-er die beiden Neuigkeiten zugleich: daß das Kind geboren sei
-und daß Alinens Gatte, so wie seinerzeit Maxime, „vermißt“
-werde. Und sofort malte er sich den Schrecken
-der armen jungen Mutter aus. Er sah sie so, wie er
-sie immer gekannt hatte, geteilt zwischen einer Freude
-und einem Leid, immer befähigter, dieses als jene zu empfinden.
-Er sah sie, wie sie sich dem Schmerz ganz hingab
-und selbst in ihrer Freude irgendeinen Vorwand für ihr
-Leiden suchte, sah sie schon leidenschaftlich, bitter, aufgeregt,
-herausfordernd gegen das Schicksal und böse gegen alle.
-Ja, er war sogar nicht einmal sicher, ob sie nicht gerade jetzt
-aus dem Gefühl des Hasses und der Rache gegen ihn persönlich
-verärgert sein würde, um seiner Gedanken des Friedens
-und der Versöhnung willen. Daß seine Haltung die
-ganze Familie skandalisierte, wußte er, und bei niemandem
-vermeinte er dafür weniger Duldung zu finden als bei
-Aline. Aber es war ihm ein Bedürfnis, ob sie ihn nun
-gut oder schlecht aufnehmen wollte, mit seinen zärtlichen
-Gefühlen ihr zu Hilfe zu kommen. Und den Rücken gleichsam
-schon beugend vor dem kalten Wassersturz, dem er entgegenging,
-stieg er die Treppe empor und klingelte an
-Alinens Tür.</p>
-
-<p>Er fand sie auf dem Bett hingestreckt, ausgeruhten Antlitzes,
-verjüngt, verschönt, zärtlichen Wesens und strahlend vor
-Glück, neben ihr das kleine Kind, das sie an die Seite
-ihres Bettes hatte stellen lassen. Wie eine leuchtende, ältere
-Schwester des weißgewickelten Säuglings sah sie aus, den
-sie mit dem Lächeln heiterer Bewunderung betrachtete, wie
-er, mit offenem Mäulchen auf dem Rücken liegend, in der
-Luft seine Fingerchen spreizte wie ein Maikäfer seine Beine.
-Er schien noch ganz in die Dumpfheit des unbewußten
-Lebens versunken, im Traum noch von der goldenen Nacht
-und der Wärme des mütterlichen Schoßes.</p>
-
-<p>Sie begrüßte Clerambault mit triumphierendem Überschwang:
-„Ah, mein guter Onkel, wie lieb Sie sind! Kommen
-Sie rasch, schauen Sie mein Süßes an, meinen
-Schatz!“</p>
-
-<p>Sie frohlockte, ihr Meisterwerk zeigen zu dürfen, und war
-jedem dankbar, der es beschaute. Nie hatte Clerambault
-sie so zärtlich und so hübsch gesehen. Er beugte sich über
-das Kind, aber er sah es fast nicht an, obwohl er ihm
-alle höflichen Gesten machte und seiner Bewunderung in
-begeisterten Ausrufen Ausdruck gab, die die Mutter zu erwarten
-schien und im Flug wie eine Schwalbe einstreifte.
-Er sah sie an, sah nur dieses selige Antlitz, diese guten
-lachenden Augen, dieses gute Kinderlächeln. Oh, wie schön
-ist das Glück, wie tut es wohl!... Alles, was er hatte sagen
-wollen, war seinem Gedächtnis entschwunden. Er fühlte,
-es war hier unnötig, nicht am Platze. Jetzt mußte er nur
-das Wunder beschauen und höflich die Ekstase der kleinen
-Bruthenne teilen. Ach, welches entzückende, eitle, unschuldige
-Jubellied!</p>
-
-<p>Manchmal freilich überflog seine Augen der Schatten des
-Krieges, der niedrigen und sinnlosen Metzelei, das Bild
-des toten Sohnes, des verschwundenen Gatten, und mit
-einem traurigen Lächeln über das Kind hingebeugt, mußte
-er denken: „Ach, wozu Kinder in die Welt setzen, für
-eine solche Schlächterei! Was wird der arme Kleine in
-zwanzig Jahren vielleicht sehen müssen!“</p>
-
-<p>Aber sie, sie dachte nicht daran. Jeder Schatten schwand
-hin an dem Licht, das von ihr strahlte. Von all den nahen
-und fernen Sorgen — ach, alle waren jetzt ferne! — nahm
-sie nichts wahr. Sie strahlte nur: „Ich habe einen Menschen
-geboren.“ Den Menschen, den Menschen, in dem sich
-für jede Mutter immer alle Hoffnungen der Menschheit
-verkörpern.... Trauer und Torheit der Stunde, wo seid
-ihr? Ach, was tut’s! Er ist es ja vielleicht, er, der sie
-enden wird! Für jede Mutter ist das Kind ja immer das
-Wunder, der Heiland!</p>
-
-<p>Erst am Ende seines Besuches wagte Clerambault ein
-Wort betrübter Sympathie in bezug auf ihren Gatten.
-Sie tat einen tiefen Seufzer: „Ach, der arme Armand“,
-sagte sie, „sie haben ihn wohl gefangen genommen.“</p>
-
-<p>Clerambault fragte: „Hast du darüber etwas gehört?“ —</p>
-
-<p>„O nein, aber es ist doch wahrscheinlich.... Ich bin fast
-ganz sicher.... Man hätte doch sonst was gehört.“ Sie
-strich mit der Hand wie eine Fliege den peinlichen Gedanken
-fort („Weg mit dir, wie kommst du daher?“). Und
-schon trat das kleine Lachen wieder in ihre Augen. „Weißt
-du“, fügte sie bei, „es ist vielleicht besser für ihn so... jetzt
-kann er sich wenigstens ausruhen... mir ist es lieber, ihn
-dort zu wissen als im Schützengraben...?“</p>
-
-<p>Und dann, ganz ohne Übergang, floß das Gespräch wieder
-zu der weißen Amsel zurück. „Ach, wie wird er selig sein, wenn
-er mein Kleines, mein Liebes, mein Gotteskind sieht!“</p>
-
-<p>Erst als Clerambault sich zum Fortgehen erhob, ließ sie sich
-herab, auch daran zu denken, daß es auf dieser Erde noch
-für andere ein Leiden gäbe. Sie besann sich des Todes
-Maximes, und sie sagte ihm freundlich irgendein kleines
-Wort der Sympathie. Wie gleichgültig, wie im Grunde
-gleichgültig klang es... aber immerhin, es war guten
-Willens gesagt. Und der gute Wille war etwas so Neues
-an ihr. Und Wunder über Wunder! Mitten in der Zärtlichkeit,
-mit der das Glück sie überflutete, sah sie eine Sekunde
-das müde Antlitz, das müde Herz des alten Mannes.
-Sie erinnerte sich dunkel, daß er Unklugheiten begangen
-und dafür Unannehmlichkeiten gehabt hatte, und statt ihn
-auszuschelten, wie es ihre Pflicht war, gewährte sie ihm
-schweigend, mit einem großmütigen Lächeln Verzeihung.
-Wie eine kleine Prinzessin sagte sie zärtlichen Tones, in
-dem eine gönnerhafte Nuance durchschimmerte: „Beunruhige
-dich nicht, mein guter Onkel... es wird schon wieder
-alles in Ordnung kommen... komm, gib mir einen Kuß.“</p>
-
-<p>Und Clerambault ging lächelnd fort, erheitert von der Trösterin,
-die er hatte trösten wollen. Er fühlte, wie wenig
-unsere Leiden gegenüber der lächelnden Gleichgültigkeit der
-Natur sind. Für sie ist es allein wichtig, im Frühjahr zu
-blühen. Fallet ab, sterbet hin, tote Blätter! Der Baum
-schlägt nur um so schöner aus, und der Frühling blüht
-dann für andre.... O Frühling, o du lieber Frühling!</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>A</span>ber wie unbarmherzig bist du, Frühling, gegen alle jene,
-denen du nicht mehr entgegenblühst, für alle, die ihre
-Geliebten, ihre Hoffnungen, ihre Kraft, ihre Jugend, ihren
-ganzen Lebenssinn verloren haben!</p>
-
-<p>Die Welt war voll von verstümmelten Seelen und Körpern,
-die von Bitterkeiten zerfressen waren, die einen um ihres
-verlorenen Glückes, die anderen, noch Bemitleidenswerteren,
-um eines Glückes willen, das sie noch gar nicht gekannt
-hatten und um das man sie in der schönsten Entfaltung
-ihrer Liebesfähigkeit und ihrer zwanzig Jahre gebracht
-hatte!</p>
-
-<p>An einem nebelnassen und kalten Januarabend kehrte Clerambault
-vom Anstellen vor einem Holzlager zurück. Der
-Menge, innerhalb derer er wartete, bis an ihn die Reihe kam,
-war schließlich, nachdem sie stundenlang auf der Straße gewartet
-hatte, mitgeteilt worden, daß heute nichts mehr verteilt
-werde. An der Tür seines Hauses hörte er seinen
-Namen aussprechen: ein junger Mann, der einen Brief
-überbrachte, fragte nach ihm beim Hausmeister. Clerambault
-trat auf ihn zu. Der junge Mensch schien von der
-Begegnung verwirrt. Sein rechter Ärmel war an die Schulter
-aufgesteckt, sein rechtes Auge war unter einer Binde verborgen.
-Man sah an seiner blassen Farbe, daß er eine
-monatelange Krankheit überstanden hatte. Clerambault
-sprach ihn auf das herzlichste an und wollte den Brief entgegennehmen,
-aber der junge Mann zog ihn rasch zurück und
-sagte, es sei jetzt nicht mehr nötig. Clerambault lud ihn ein,
-zu einem Gespräch zu ihm hinaufzukommen. Der andere
-zögerte und wäre Clerambault ein feiner Beobachter gewesen,
-so hätte er bemerkt, daß der Besucher von ihm fort
-wollte. Aber ein wenig langsam im Gedankenlesen sagte er
-nur gutmütig:</p>
-
-<p>„Es ist ja wahr, ich wohne ein wenig hoch....“</p>
-
-<p>Sofort in seiner Eitelkeit gereizt, antwortete der andere:</p>
-
-<p>„Ich kann noch ganz gut hinaufsteigen.“</p>
-
-<p>Und er begann sogleich die Treppen hinaufzusteigen.</p>
-
-<p>Clerambault merkte sofort, daß er außer seinen anderen
-Wunden noch eine im Herzen hatte.</p>
-
-<p>Sie setzten sich in seinem ungeheizten Arbeitszimmer zusammen
-hin. Wie das Zimmer, so war auch ihre Unterhaltung
-anfänglich kalt. Clerambault konnte von seinem
-Besucher nur steife, harte, ein wenig unklare Antworten
-herausbekommen und alle in einem ein wenig gereizten
-Ton. Er erfuhr, daß jener sich Julien Moreau nannte, daß
-er Universitätsstudent war und drei Monate im Spital Val
-de Grace gelegen hatte. Er lebte allein in Paris in einem
-Zimmer des Quartier Latin, obwohl seine verwitwete Mutter
-und einige Verwandten in Orleans waren. Er sagte
-nicht gleich, warum er nicht zu ihnen gezogen war.</p>
-
-<p>Plötzlich, nach einem Schweigen, entschloß er sich zu sprechen.
-Mit erstickter Stimme, die nur mühsam sich durchzuringen
-vermochte und erst allmählich weicher wurde, sagte
-er Clerambault, welche Wohltat ihm die Lektüre seiner Aufsätze
-gewesen wäre, die ein Urlauber an die Front gebracht
-hatte, und die dort von Hand zu Hand gingen. Sie entsprachen
-dem erstickten Schrei seiner Seele: „Nicht lügen!“
-Die Zeitungen und die Schriften, die die Schamlosigkeit
-hatten, der Armee ein verlogenes Bild ihrer selbst zu
-zeichnen, die gefälschten Briefe von der Front, der schauspielerische
-Heroismus, die übel angebrachten Scherze und
-die widerlichen Windbeuteleien jener Drückebergerschriftsteller,
-die aus dem Tod der anderen pathetische Phrasen
-drechselten, alle diese Dinge hatten sie in Wut gebracht. Ein
-Greuel waren für sie die fetten und schmutzigen Küsse, mit
-denen diese Prostituierten von der Presse sie feucht bedeckten,
-ein Spott schienen sie ihnen auf ihr Leiden. In
-ihm, in Clerambault, hatten sie endlich ein Echo gefunden....
-Nicht als ob Clerambault sie verstanden hätte,
-denn keiner, der ihr Los nicht geteilt hatte, konnte sie verstehen.
-Aber er hatte Mitleid für sie gehabt, er hatte einfach
-und mit Menschlichkeit von jenen Unglücklichen unter
-allen Fahnen gesprochen, hatte gewagt, die allen Völkern
-gemeinsamen Ungerechtigkeiten einmal auszusprechen, die
-sie alle in gleiche Not getrieben. Er hatte nicht ihre Qual
-verschwiegen, sondern sie in eine Höhe des Verstandenwerdens
-erhoben, in der sie erträglich war.</p>
-
-<p>„Wenn Sie wüßten, wie sehr man eines Wortes wahrer
-Sympathie bedarf! Es hilft nichts, daß man nach alledem,
-was man gesehen, gelitten und leiden gemacht hat, hart geworden
-ist, daß man alt geworden ist (es gibt unter uns
-Grauköpfe mit gekrümmten Schultern), wir sind doch alle in
-gewissen Augenblicken nur verlorene Kinder, die sich nach ihrer
-Mutter sehnen, um sich trösten zu lassen. Und die Mütter...
-Ach, die Mütter, sie sind ja so fern von uns!... Man
-bekommt von seiner eigenen Familie Briefe, die einen niederschmettern....
-Das eigene Blut liefert uns aus.“</p>
-
-<p>Clerambault verbarg sein Gesicht in den Händen und stöhnte.</p>
-
-<p>„Was ist Ihnen?“ sagte Moreau. „Ist Ihnen nicht wohl?“</p>
-
-<p>„Aber Sie bringen mir ja gerade all das Böse, das ich getan
-habe, in Erinnerung.“</p>
-
-<p>„Sie? Nein, Sie nicht! Die anderen!“</p>
-
-<p>„Ich ebenso wie alle anderen. Wir alle haben Vergebung
-zu erflehen.“</p>
-
-<p>„Sie sind der Letzte, der das sagen sollte.“</p>
-
-<p>„Ich muß der Erste sein, denn ich bin einer der wenigen, die
-sich über ihr Verbrechen selbst Rechenschaft ablegen.“</p>
-
-<p>Und er begann mit einer Anklage gegen seine ganze Generation,
-unterbrach sich aber bald mit einer entmutigten
-Gebärde.</p>
-
-<p>„Ach, das alles macht ja nichts mehr gut. Erzählen Sie
-mir lieber, was Sie gelitten haben!“</p>
-
-<p>Es war in seiner Stimme so viel Demütigkeit, daß sich
-Moreau von Liebe für diesen alten Mann, der sich selbst anklagte,
-gleichsam überflutet fühlte. Sein Mißtrauen schwand
-gänzlich hin. Er tat die geheime Tür seiner bitteren und
-schmerzgeprüften Gedanken auf. Er erzählte, daß er schon
-mehrmals bis an die Tür dieses Hauses gekommen wäre,
-ohne daß er sich habe entschließen können, seinen Brief abzugeben
-(den er übrigens noch immer nicht zeigen wollte). Seitdem
-er das Spital verlassen, war es ihm nicht möglich gewesen,
-mit einem einzigen Menschen zu sprechen. Die Leute im Hinterland
-erbitterten ihn durch die Zurschaustellung ihrer kleinlichen
-Sorgen, ihrer Geschäfte, Vergnügungen und der Einschränkung
-ihrer Vergnügungen, sie erbitterten ihn durch
-ihren Egoismus, ihre Unwissenheit und ihre Verständnislosigkeit.
-Er fühlte sich unter ihnen fremder als unter den
-Wilden Afrikas. Übrigens — er unterbrach sich und fuhr
-dann erst wieder mit befangenen und erregten Andeutungen
-fort, die ihm nicht aus der Kehle wollten — nicht nur unter
-ihnen, sondern unter allen Menschen fühlte er sich ein Fremder,
-denn er sei vom Leben, von der allgemeinen Freude und
-Arbeit durch seine Gebrechen jetzt für immer abgeschnitten,
-die aus ihm ein Wrack machten. Es verzehre ihn die törichte
-Scham, einäugig und einarmig zu sein. Die Blicke
-eiligen Bedauerns, die er auf der Straße bemerkte, ließen
-ihn erröten, denn sie waren so von der Seite zugeworfen
-wie ein Almosen, das man nebenhin gibt, das Antlitz vom
-widerlichen Schauspiel abgewandt. In seiner aufgereizten
-Eigenliebe übertrieb er seine eigene Entstellung. Er verabscheute
-sein Gebrechen, dachte an die verlorenen Freuden, an
-seine zerstörte Jugend. Wenn er Liebespaare vorübergehen
-sah, so fühlte er Eifersucht und schloß sich ein, um zu weinen.</p>
-
-<p>Aber das war noch nicht alles. Und als er den Hauptteil
-seiner Bitterkeit dem Mitgefühl Clerambaults, der ihn zu
-sprechen ermutigte, anvertraut hatte, kam er zum eigentlichen
-Grund der Qual, die er und seine Gefährten, schauernd
-wie ein Geschwür, das man nicht anzusehen wagt,
-in sich trugen. Aus dem Durcheinander seiner heftigen,
-dunklen und gequälten Worte erkannte Clerambault, was
-eigentlich die Seele all dieser jungen Menschen zerstörte. Es
-war nicht allein ihre vernichtete Jugend, ihr hingeopfertes
-Leben (obwohl dies schon an sich ein furchtbarer Schmerz
-war.... Es ist ja sehr leicht für kalte Herzen, für alte Egoisten
-und vertrocknete Intellektuelle, von oben herab diese
-Liebe, dies Anklammern an das junge Leben und die Verzweiflung,
-es zu verlieren, zu verurteilen). Das Allerfurchtbarste
-aber für sie war, daß sie nicht wußten, wofür sie
-dieses Leben hingeopfert hatten, und dann der alles vergiftende
-Verdacht, es sei umsonst vertan. Denn der gemeine
-Wille nach sinnloser Weltherrschaft irgendeiner Rasse
-oder nach einem Stück Land an der Grenze zweier Staaten,
-konnte nicht genug sein, um den Schmerz der Opfer zu
-mindern. Sie wußten zu gut, daß der Mensch nur ein
-Fußbreit Erde braucht, um zu sterben, und daß das Blut
-aller Rassen die gleiche Quelle des Lebens ist, die darein
-verströmt.</p>
-
-<p>Clerambault, dem das Bewußtsein seiner Pflicht, des weitaus
-Älteren in der Nähe dieser Jungen, eine ruhige Sicherheit
-gab, die er sonst für sich allein nicht besaß, sagte ihrem
-Vertreter, ihrem Boten Worte der Hoffnung und der Tröstung.</p>
-
-<p>„Nein, euer Leiden ist nicht verloren. Es ist zwar die Frucht
-eines grausamen Irrtums, aber auch der Irrtum ist nicht
-ohne Sinn. Das Unglück von heute ist der gewaltsame Ausbruch
-eines Übels, das Europa seit Jahrhunderten zerfrißt,
-das Übel des Stolzes und der Gier, des gewissenlosen
-Staatenfanatismusses, der kapitalistischen Pest, jenes
-lügnerischen Triebwerkes der Zivilisation, das aus Unduldsamkeit,
-Heuchelei und Gewalttätigkeit zusammengesetzt ist.
-Jetzt bricht alles zusammen, jetzt ist alles neu aufzubauen.
-Die Aufgabe ist ungeheuer. Mutlosigkeit ist jetzt nicht erlaubt,
-denn keiner Generation war ein größeres Werk je
-zugedacht als der euren. Es handelt sich jetzt darum, klar
-zu sehen durch das Feuer der Schützengräben und die
-giftigen Gase, mit denen euch ebenso wie der Feind die Antreiber
-des Hinterlandes den Blick verwirren. Es handelt
-sich darum, den wahren Kampf zu erkennen, und der
-geht nicht gegen ein einzelnes Volk, sondern gegen eine
-ganze ungesunde Gesellschaft, die auf die Ausbeutung und
-die Eifersucht der Völker gegründet ist, auf die Knechtung
-des freien Gewissens unter die Staatsmaschine. Nie hätten
-die resignierten oder skeptischen Völker diesen wahren Kampf
-mit solcher tragischen Gewißheit erkannt, ohne die Leiden
-dieses Krieges, der sie zerwühlt. Nicht, daß ich damit das
-Leiden segnete — lassen wir diesen Irrtum den Gläubigen
-der Religionen von einst; wir von heute lieben nicht den
-Schmerz, wir wollen die Freude. Kommt aber ein Schmerz
-über uns, so soll er uns wenigstens dienlich sein. Das, was
-ihr gelitten habt, sollen andere nicht mehr leiden! Deshalb
-gebt nicht nach. Man hat euch da draußen gelehrt, daß,
-wenn in der Schlacht einmal Order zum Angriff gegeben
-ist, es noch gefährlicher ist, zurückzuweichen, als vorzurücken.
-Seht euch deshalb nicht um, laßt eure Ruinen
-hinter euch und stürmt nur nach vorwärts, der neuen
-Welt entgegen.“</p>
-
-<p>Clerambault merkte, wie die Augen seines jungen Zuhörers,
-während er sprach, zu sagen schienen:</p>
-
-<p>„Mehr! Noch mehr! Gib mir mehr als Hoffnung! Gib
-mir die Gewißheit, gib mir den nahen, den baldigen Sieg!“</p>
-
-<p>Allen Menschen, selbst den Besten, ist so sehr das Bedürfnis
-nach Betrogenwerden angeboren; es genügt ihnen nicht,
-ihr Opfer einem künftigen Ideal zu bringen, sondern sie
-wollen, daß man ihnen die Verwirklichung dieses Ideals
-für recht bald verspricht, oder daß die Belohnung dann wenigstens
-ewig währe, wie die Religionen es verheißen.
-Jesus fand nur Gläubige, weil man in ihm die Gewißheit
-eines Sieges in dieser Welt oder in jener andern sah.
-Wer aber wahr bleiben will, darf niemals einen Sieg versprechen.
-Er darf nicht die Gefahren außer acht lassen;
-vielleicht wird das Ziel überhaupt nicht erreicht werden
-und keinesfalls vor Ablauf längerer Zeit. Den Anhängern
-scheint natürlich ein solcher Gedankengang niederschmetternd
-in seinem Pessimismus: der die Lehre aber ausspricht, ist
-selbst nicht Pessimist. Er hat die Ruhe des Menschen, der
-nach einem Aufstieg von der Höhe aus die ganze Landschaft
-umfängt. Sie aber sehen nur den nackten Hang, den sie
-noch hinaufklimmen müssen. Wie nun kann er ihnen diese
-Ruhe übermitteln?... Wenn die Schüler die Lehre ihres
-Meisters schon nicht mit seinen Augen zu sehen vermögen,
-so können sie doch wenigstens seine Augen selbst sehen, in
-denen jene Vision widerglänzt, die ihnen noch versagt ist.
-Sie können daraus die Gewißheit schöpfen, daß er um die
-Wahrheit wisse (sie glauben es wenigstens...) und von
-ihrer Unruhe befreit sei.</p>
-
-<p>Diese seelische Sicherheit, diese innere Harmonie, die die
-Augen Julien Moreaus in denen Clerambaults suchten, besaß
-Clerambault, der Gequälte und Beunruhigte, nicht!...
-Aber besaß er sie wirklich nicht?... Wie er, demütig lächelnd,
-gleichsam um sich zu entschuldigen, Julien ansah... da sah
-er, daß Julien diese Sicherheit in ihm entdeckt hatte. Und
-wie man gleichsam mitten aus dem Nebel aufsteigend plötzlich
-im Lichte ist, fühlte er, daß das Licht in ihm war. Es
-war in ihn gedrungen, weil er einen andern erleuchten
-sollte.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>rleichtert und erheitert hatte ihn der Unglückliche verlassen.
-Clerambault blieb zurück, betäubt von einer
-leisen Trunkenheit. Er schwieg, um das ganz seltsame
-Glück einer im eigenen Leben unglücklichen Seele zu genießen,
-die mit einemmal fühlt, daß sie teil hat am Glücke
-anderer Seelen in Gegenwart oder Zukunft. Alle Wesen
-erstreben Glück, tiefes Erfühlen, Fülle des Seins, aber diese
-Begriffe bedeuten nicht für alle das Gleiche. Die einen
-wollen das Glück als Besitz, für die andern genügt als Besitz
-schon das bloße Schauen, für andere wieder ist der
-Glaube schon das wahre Sehen. Und sie alle, die dieser
-Instinkt verbindet, bilden eine einzige Kette, angefangen
-von jenen, die nur ihr eigenes Glück suchen, über jene,
-die es für ihre Familie und ihr Volk suchen, bis auf zu jenen
-Wesen, die die ganzen Millionen der Menschen, das Glück
-des Alls umfassen. Wer selbst nicht im Glück lebt, schafft es
-doch den andern, so wie jetzt Clerambault, und weiß
-nicht darum; denn die andern sehen schon das Licht auf seiner
-Stirn, indes seine Augen noch im Schatten sind.</p>
-
-<p>Der Blick des jungen Freundes hatte den armen Clerambault
-über seinen unbekannten Reichtum belehrt, und dieses
-Bewußtsein einer göttlichen Botschaft, die ihm auferlegt
-war, stellte seine verlorene Bindung mit den Menschen wieder
-her. Sie bekämpften ihn nur, weil er ihr verwegener Pfadfinder
-war, ihr Christoph Kolumbus, der mitten auf dem
-öden Ozean im Trotz darauf beharrte, den Weg zur neuen
-Welt zu finden. Sie beschimpften ihn, aber sie folgten ihm
-doch. Denn jeder wahre Gedanke, sei er verstanden oder
-nicht, ist ein ausgesandtes Schiff, das die nachzüglerischen
-Seelen im Schlepptau mit sich schleift.</p>
-
-<p>Von diesem Tage an wandte er die Augen von der unabänderlichen
-Tatsache des Krieges und der Toten ab, um
-sich den Lebenden und der Zukunft, die in unserer Hand
-ruht, zuzuwenden. Möge die Anziehung derjenigen, die
-wir verloren haben, noch so mächtig sein und uns schmerzlich
-locken, zu ihnen hinabzusteigen, so müssen wir uns doch
-dem gefährlichen Hauch entreißen, der, wie in Rom, von der
-Gräberstraße aufsteigt. „Vorwärts! Halte dich nicht auf,
-du hast noch kein Recht, so wie jene zu ruhen! Denn andere
-bedürfen deiner. Sieh nur auf sie, wie sie gleich den Trümmern
-der großen Armee sich hinschleppen und in der düsteren Weite
-den verlorenen Weg suchen.“</p>
-
-<p>Clerambault wurde des düsteren Pessimismus gewahr, der
-sich dieser jungen Leute nach dem Kriege zu bemächtigen
-drohte, und diese Erkenntnis quälte ihn. Die moralische
-Gefahr war groß, aber um sie kümmerte sich die Regierung
-natürlich am wenigsten. Sie handelte wie die schlechten
-Kutscher, die mit Peitschenschlägen das Pferd antreiben, um
-im Galopp über einen steilen Abhang hinaufzukommen.
-Das Pferd kommt auch wirklich hinauf, aber der Weg ist
-droben noch nicht zu Ende und das Pferd bricht zusammen.
-Es ist krumm für sein Leben... Mit welcher Begeisterung
-waren doch die jungen Menschen in den ersten
-Monaten des Krieges in den Sturm gerast! Dann war
-die Leidenschaft verraucht, aber das Tier blieb angeschirrt
-und von der Deichsel aufrecht gehalten; man peitschte
-rings um das müde Wesen eine künstliche Erregung auf,
-man mischte wundervolle Hoffnungen in sein tägliches
-Futter und, ob auch der Alkohol der Betäubung darin jeden
-Tag mehr verdunstete, so konnte es doch nicht zusammenbrechen.
-Und das gequälte Tier beklagte sich nicht einmal,
-ihm fehlte die Kraft zu denken. Und worüber und bei wem
-hätte es sich beklagen sollen? Es gab eine stillschweigende
-Vereinbarung gegen alle diese armen Opfer, nicht auf sie zu
-hören, sich taub zu stellen und zu lügen.</p>
-
-<p>Aber Tag für Tag warf die rücklaufende Flut der Schlachten
-ihre Trümmer auf den Sand hin — die Verstümmelten
-und Verwundeten. Und durch sie kam zum erstenmal das
-Brausen der Tiefe dieses menschlichen Ozeans ans Licht.
-Die Unglücklichen, die plötzlich von dem Polypen, dessen
-Glieder sie bildeten, losgerissen waren, fühlten, daß sie sich
-im Leeren regten und nichts mehr erfassen konnten, weder
-ihre Leidenschaft von gestern, noch den Traum der Zukunft.
-Und voll Angst fragten sie sich, die einen nur dumpf, wenige
-andre mit einer grausamen Klarheit, wofür sie gelebt
-hätten, wofür man lebt....</p>
-
-<p>„Da jener, der zerstört wird, leidet, und derjenige, der vernichtet,
-daran keinen Genuß findet und bald ebenso vernichtet
-wird, so sage mir, was kein Philosoph zu beantworten weiß,
-wessen Gefallen, oder wessen Nutzen dient dieses unglückselige
-Leben des Weltalls, das sich zum Schaden und durch
-den Tod aller Kreaturen, aus denen es gebildet ist, einzig
-erhält?“ fragt Leopardi.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>s war dringend notwendig, darauf eine Antwort zu
-geben und für jene einen Sinn des Lebens zu
-finden. Ein Mann im Alter Clerambaults hat einen Sinn
-des Lebens nicht so nötig. Er hat schon gelebt, ihm kann es
-genug sein, sein Gewissen freizumachen: das ist für ihn
-gleichsam sein öffentliches Testament. Aber für diese jungen
-Leute, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben, kann es nicht
-genug sein, die Wahrheit auf einem Leichenfelde zu sehen.
-Wie immer auch die Vergangenheit gewesen sei, für sie
-zählt doch nur die Zukunft. Ihnen muß man die Trümmer
-aus dem Wege räumen!</p>
-
-<p>Woran leiden diese jungen Menschen am meisten? An ihrer
-eigenen Qual? — Nein! Sondern an ihrem Zweifel
-an dem Glauben, dem sie diese Qual zum Opfer dargebracht
-haben. (Würde man denn irgendein Bedauern haben, sich
-für die Frau geopfert zu haben, die man liebt, oder für sein
-Kind?) Und dieser Zweifel vergiftet sie, er nimmt ihnen die
-Kraft, auf ihrem Weg weiter fortzuschreiten, weil sie fürchten,
-an seinem Ausgang die Verzweiflung zu finden. Deshalb
-ruft man euch ja zu: „Hütet euch, das Ideal des Vaterlandes
-zu erschüttern! Trachtet lieber, es wiederherzustellen.“
-Welch ein Hohn! Kann man denn wirklich durch
-seinen Willen einen Glauben wiederherstellen, den man
-einmal verloren hat? Man kann sich höchstens selbst belügen,
-und das weiß man in seiner tiefsten Seele. Und gerade
-dieses uneingestandene Bewußtsein tötet den Mut und die
-Freude.</p>
-
-<p>So habt den Mut und verwerft den Glauben, an den ihr
-nicht mehr glaubt! Die Bäume müssen, um neu zu
-grünen, ihr Herbstlaub abschütteln. So sollt ihr aus
-euren verlorenen Illusionen, wie die Bauern aus dem welken
-Laub, ein Feuer machen, dann wird das neue Grün,
-der neue Glaube nur schöner aufwachsen. Denn der neue
-Glaube kann warten. Die Natur stirbt nicht, sie verwandelt
-nur ewig ihre Formen. Laßt doch, wie sie, das
-abgestorbene Kleid der Vergangenheit hinsinken!</p>
-
-<p>Seht nur recht hin, zieht die Bilanz dieser harten Jahre!
-Ihr habt gekämpft und für das Vaterland gelitten. Und
-was habt ihr dabei gewonnen? Ihr habt die Brüderlichkeit
-der Völker entdeckt, die sich bekämpfen und miteinander
-leiden. Ist diese Erkenntnis zu teuer bezahlt? Nein, wenn
-ihr nur euer Herz sprechen laßt, wenn ihr wagt, es dem
-neuen Glauben aufzutun, der gerade, als ihr es am wenigsten
-erwartetet, zu euch gekommen ist.</p>
-
-<p>Das Täuschende und Niederdrückende ist, daß der Mensch an
-sein anfängliches Ziel gebunden bleibt. Glaubt er dann nicht
-mehr an dieses Ziel, so glaubt er, jetzt sei alles verloren. Nun
-bringt niemals eine große Tat gerade jene Wirkung hervor,
-die man von ihr erwartete, und es ist gut so, denn fast immer
-übertrifft die tatsächliche Wirkung die erwartete und ist ganz
-anderer Art als sie. Weise sein heißt nicht, mit seiner fertigen
-Weisheit schon auszuziehen, sondern sie erst unterwegs
-in Aufrichtigkeit zu entdecken. Wagt es, euch einzugestehen,
-daß ihr nicht mehr dieselben Menschen seid wie 1914, und
-wagt es zu sein: Dies wird dann der Hauptgewinn oder
-vielleicht der einzige Gewinn dieses Krieges sein.... Aber
-werdet ihr es wirklich wagen? So viele Beweggründe vereinen
-sich ja, euch zu entmutigen; die Müdigkeit aller dieser
-Jahre, die alten Gewohnheiten, die Furcht vor der Anstrengung,
-in das eigene Ich hinabzublicken, das Abgestorbene
-auszujäten, das Lebendige zu bejahen und dann
-irgendein abergläubischer Respekt vor dem Alten, die
-faule Vorliebe für das, was man schon kennt (sei es selbst
-schlecht, sei es selbst tödlich), das träge Bedürfnis nach billiger
-Klarheit, das einen lieber ins alte Geleise zurückkehren
-läßt als neuen selbstgebahnten Wegen entgegengehen. Ist es
-denn nicht das Ideal der meisten Franzosen von Kindheit
-an, irgendeinen fertigen Lebensplan in die Hand zu
-bekommen und ihn nicht mehr zu ändern?... Ach, daß doch
-wenigstens dieser Krieg, der so viele eurer Heimstätten zerstört
-hat, euch zwingen würde, aus eurem Schutt herauszutreten,
-eine neue Heimstatt zu gründen und neue Wahrheiten
-zu suchen!</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>V</span>ielen dieser jungen Leute fehlte es nicht an Verlangen,
-mit der Vergangenheit zu brechen und in neue Welten
-einzutreten — im Gegenteil: sie hatten es allzu hastig damit.
-Noch waren sie aus ihrer alten Welt nicht heraus, so begannen
-sie schon, die neue gründen zu wollen. Nur rasch,
-nur keinen Übergang! Eine reinliche Scheidung! Entweder
-bewußte Unterwerfung unter das Vergangene
-oder Revolution!</p>
-
-<p>So empfand auch Moreau. Er machte aus der Hoffnung
-Clerambaults auf eine soziale Erneuerung eine Gewißheit.
-Und in seiner Aufforderung, geduldig Tag für Tag sich
-die neue Wahrheit zu erobern, hörte er nur einen Appell
-zur gewaltsamen Aktion, die sie sogleich erzwingt!</p>
-
-<p>Er führte Clerambault in zwei oder drei Kreise junger Intellektueller
-revolutionärer Richtung ein. Sie waren nicht
-sehr zahlreich, in allen Zusammenkünften begegnete man
-immer wieder den selben. Von Staats wegen wurden sie
-überwacht, was ihnen eher mehr Bedeutung gab, als wenn
-das nicht geschehen wäre. Elende Macht, bis an die Zähne
-bewaffnet, über Millionen von Bajonetten, über eine Polizei
-und eine Justiz, beide folgsam und zu allem bereit, verfügend,
-bist du dennoch stets furchtsam und kannst es nicht
-ertragen, daß ein Dutzend freier Geister sich versammelt,
-um über dich zu richten! Dabei hatten diese jungen Leute
-durchaus nicht die Art von geheimen Verschwörern. Im Gegenteil,
-sie taten alles mögliche, um verfolgt zu werden, aber
-ihre ganze Tätigkeit beschränkte sich auf Worte. Was hätten
-sie auch anders tun können? Sie waren isoliert von der
-großen Menge ihrer geistigen Gefährten, die die große
-Maschine des Krieges aufsog, die die Armee verschlang
-und nur dann zurückgab, wenn sie für sie unbrauchbar
-geworden waren. Was gab es denn noch an europäischer
-Jugend im Hinterland? Abgesehen von den Drückebergern,
-die sich nur allzuoft zu den traurigsten Diensten
-mißbrauchen ließen und die anderen zum Kampfe hetzten,
-damit man vergesse, daß sie selber nicht kämpften, setzten
-sich die Repräsentanten der jungen Generation — <span class='it'>rari
-nantes</span> —, die im Zivildienst verblieben waren, nur
-aus gänzlich Kriegsuntauglichen zusammen, zu denen sich
-allmählich die Schwerverwundeten wie Moreau gesellten.
-In diesen verstümmelten und untergrabenen Körpern war
-die Seele gleich brennenden Kerzen in einer Laterne mit
-zerbrochenen Fenstern: sie verzehrte sich, sie züngelte und
-rauchte, ein Windstoß konnte sie auslöschen. Aber da sie mit
-ihrem Leben nicht mehr rechneten, schlug die Glut daraus
-nur um so höher.</p>
-
-<p>Diese Seelen hatten übergangslose Stimmungen vom
-äußersten Optimismus bis zum äußersten Pessimismus.
-Und diese heftigen Schwankungen des Barometers entsprachen
-nicht immer dem Luftdruck der äußeren Ereignisse.
-Der Pessimismus war nur zu leicht erklärlich. Erstaunlicher
-war aber der Optimismus, für den man kaum hätte Vernunftsgründe
-finden können. Sie waren ja nur eine
-Handvoll, die nichts tun konnte, gar keine Möglichkeit zur
-Tat hatte, und jeder neue Tag schien ihre Gedanken sinnloser
-zu machen. Aber je schlechter es stand, um so zufriedener
-schienen sie zu sein. Sie besaßen einen Desperadooptimismus,
-jene tolle Gläubigkeit der fanatischen und
-unterdrückten Minorität, die den Antichrist braucht,
-damit der Christus wiederkehre. Sie erwarteten gerade
-aus den Verbrechen der alten stürzenden Weltordnung die
-neue Weltordnung, und es war ihnen gleichgültig, ob sie
-selbst dabei zugrunde gingen mit all ihren Träumen. Diese
-jungen Unbedingten, die Clerambault kennen lernte, sahen
-ihr Hauptziel darin, eine bloß teilweise Verwirklichung ihrer
-Träume innerhalb der alten Ordnung zu verhindern. Alles
-oder nichts! Die Welt zu verbessern, schien ihnen lächerlich.
-Entweder eine vollendete Welt, oder sie soll zugrunde gehen.
-Dieser mystische Glaube an den großen Umsturz, an eine
-Weltrevolution spukte gerade in jenen Fieberköpfen am
-leidenschaftlichsten, die am wenigsten an die Träume der Religionen
-glaubten.... Und dabei waren sie selber religiöser
-als alle Gläubigen der Kirche.... O tolle irdische Rasse! Es
-ist immer derselbe Glaube an das Absolute, der die Narren
-des Völkerkrieges, die Narren des Klassenkampfes, die
-Friedensnarren in dieselbe Trunkenheit, in dieselbe Vernichtung
-reißt! Fast möchte man glauben, daß die Menschheit,
-als sie aus dem brennenden Schlamm der Schöpfung
-auftauchte, einen Sonnenstich empfing, von dem sie
-nie geheilt ward und der sie von Zeit zu Zeit mit solchen
-Fieberanfällen durchschüttelt.</p>
-
-<p>Oder sind vielleicht diese Mystiker der Revolution Wegbereiter
-von Verwandlungen, die in der Rasse keimen —
-vielleicht noch Jahrhunderte keimen — und die vielleicht niemals
-aufblühen werden? Denn es gibt in der Natur immer
-Tausende von schlummernden Möglichkeiten für eine einzige
-Erfüllung innerhalb jener Frist, die unserer Menschheit
-zuteil geworden ist.</p>
-
-<p>Vielleicht ist es gerade das dunkle Gefühl dessen, was sein
-könnte und doch nie sein wird, das manchmal dem revolutionären
-Mystizismus eine andere, seltenere und tragischere
-Form gibt — den ekstatischen Pessimismus, der
-fieberig zum Selbstopfer drängt. Wie viele dieser Revolutionäre
-haben wir gekannt, die im geheimen von der
-zerschmetternden Übermacht des Bösen, von der unausbleiblichen
-Niederlage ihres Glaubens überzeugt waren
-und sich doch liebend begeisterten für das besiegte Ideal —
-„... <span class='it'>sed victa Catoni</span>“ — und für die Hoffnung, für es
-zu sterben, zu vernichten und vernichtet zu werden. Wie
-viel tolle Glut hat die zerschmetterte Kommune, nicht durch
-ihren Sieg, sondern durch die Art ihrer Zerschmetterung
-aufflammen lassen! Es scheint, daß selbst in den Herzen
-der ärgsten Materialisten ein Funke der ewigen Flamme,
-der mißhandelten, verleugneten und doch immer neu
-bekundeten Hoffnung lebt, jenes unzerstörbaren Traumes
-aller Unterdrückten von einer besseren jenseitigen
-Welt.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>iese jungen Leute nahmen Clerambault mit verehrungsvoller
-Zuneigung auf. Sie versuchten, ihn ganz
-zu dem ihrigen zu machen, die einen, weil sie in seinen Gedanken
-das zu lesen glaubten, was sie selber glaubten, die anderen
-in der Überzeugung, dieser gute alte Bürger, für den
-das Gefühl bisher der einzige, zwar edle aber unzulängliche
-Führer gewesen, würde sich nun durch ihr gestrafftes
-Wissen überzeugen lassen und mit ihnen bis an die
-äußersten logischen Konsequenzen ihrer Anschauungen
-gehen. Clerambault setzte sich nur schwach zur Wehr, denn
-er wußte, daß nichts in der Welt einen jungen Menschen
-überzeugen konnte, der sich eben auf ein System festgelegt
-hat. In diesem Lebensalter ist jede Diskussion vergebens.
-Etwas früher, in den vorausgehenden Jahren, wo
-der Einsiedlerkrebs noch seine Schale sucht, kann man auf
-ihn wirken, und dann wiederum später, wenn die Muschel
-abfällt oder schon, wenn sie ihn in seinen Bewegungen stört.
-Aber solange das Kleid noch neu ist, gilt nur eines: es ihm
-zu lassen, denn es ist ihm ja angepaßt. Wächst er es
-aus oder wird es ihm zu groß, so drängt es ihn schon selbst,
-ein anderes zu suchen. Nur keinen Zwang, aber sich auch
-von niemandem zwingen lassen!</p>
-
-<p>Niemand in diesem Kreise dachte, zum mindestens anfangs,
-daran, Clerambault zu vergewaltigen. Aber seine Gedanken
-wurden manchmal ganz seltsam nach dem Geschmack seiner
-Gäste verändert und seine Ideen hatten eine höchst
-sonderbare Resonanz in ihrem Munde. Clerambault ließ
-seine Freunde reden, er selbst sprach nicht viel, und wenn
-er dann nach Hause kam, war er verwirrt und ein wenig
-ironisch.</p>
-
-<p>„Sind das wirklich meine Gedanken?“ fragte er sich.</p>
-
-<p>Wie ist es doch schwer, seine Seele anderen Wesen mitzuteilen.
-Vielleicht unmöglich sogar. Und wer weiß — die
-Natur ist ja um so viel klüger als wir — vielleicht ist es für
-uns gut so.</p>
-
-<p>Seine Ideen vollständig aussprechen — kann man es überhaupt,
-soll man es überhaupt? Langsam ist man zu ihnen
-gelangt, mit Mühe, auf dem Wege vieler Prüfungen, und
-nun halten sie gewissermaßen die Gleichgewichtsschwebe zwischen
-unseren inneren Elementen. Ändert man diese Elemente,
-ihre Zusammensetzung und ihre Art, so ist die Formel
-natürlich sofort ungültig und bringt ganz andere Wirkungen
-hervor. Könnten wir unsere Gedanken plötzlich in
-ihrer Gänze auf einmal in einen anderen Menschen hineinschleudern,
-so bestünde die Gefahr, daß er toll würde, ja es
-gibt sogar Fälle, wo der andere, wenn er sie verstände,
-daran sterben würde. Aber die weise Natur hat ihre Vorsichtsmaßregeln
-getroffen. Der andere versteht uns nicht,
-er kann uns nicht verstehen. Sein Instinkt wehrt sich dagegen.
-Er fühlt nur den Anstoß unserer Idee gegen die
-seine, und wie auf dem Billard wird die Kugel wieder
-weggestoßen, nur ist es hier weniger leicht vorauszusehen,
-gegen welche Stelle der grünen Wand. Die Menschen hören
-nicht bloß mit dem reinen Geist, sondern auch gleichzeitig
-mit ihren Leidenschaften und ihrem Temperament.
-Von dem, was man ihnen gibt, nimmt sich jeder nur,
-was ihm paßt und wirft den Rest zurück, und zwar
-aus einem dunkeln Instinkt der Verteidigung. Die Vernunft
-tut sich nie einem neuen Gedanken sofort auf, sie
-kontrolliert ihn gleichsam am Schalter, ehe sie ihn hereinläßt,
-und sie läßt nur das herein, was ihr genehm ist. Was
-hat man aus den hohen Gedanken eines Jesus und eines
-Sokrates gemacht! Zu ihrer Zeit hat man sie getötet, um
-dann zwanzig Jahrhunderte später aus ihnen Götter zu
-machen, was ja nur eine andere Form ist, sie noch einmal
-zu töten; denn man wirft damit ihren Gedanken ins
-Himmelreich zurück. Würde man ihn sich in dieser unserer
-irdischen Welt verwirklichen lassen, so wäre ihr Ende gekommen.
-Das wußten sie selbst, und das Größte ihrer
-Seele ist vielleicht nicht, was sie ausgesprochen, sondern
-was sie verschwiegen haben. Wie pathetisch ist doch die
-Beredsamkeit des Schweigens bei Jesus, wie schön der
-Schleier über den antiken Symbolen und uralten Mythen,
-um die schwachen und furchtsamen Augen zu schonen! Allzu
-oft ist das Wort, das für einen das Leben bedeutet, für den
-anderen der Tod oder, was noch ärger ist, der Mord.</p>
-
-<p>Was also tun, wenn man die Hände voll hat mit Wahrheiten?
-Soll man die Saat im vollen Wurfe ausstreuen?
-Aber dem Samen des Gedankens kann Unkraut oder
-Gift entwachsen!....</p>
-
-<p>Vorwärts! Zage nicht! Du bist nicht der Herr des Schicksals,
-aber du bist auch selbst Schicksal, du bist eine seiner Stimmen.
-So sprich! Das ist die dir zugeteilte Aufgabe! Sag alles,
-was du denkst, aber sage es mit Güte! Sei wie eine gute
-Mutter, der es nicht gegeben ist, aus ihren Kindern vollkommene
-Menschen zu machen, sondern nur zu versuchen,
-sie geduldig zu unterrichten, damit sie es werden, wenn sie
-es selber werden wollen. Man kann andere nicht gegen ihren
-Willen oder ohne ihre Mithilfe befreien. Und selbst wenn
-dies möglich wäre, was hätte es für einen Sinn? Denn
-wenn sie sich nicht selbst befreien, fallen sie schon morgen
-wieder in ihre Sklaverei zurück. Man muß ein Beispiel
-geben und sagen: „Hier ist der Weg! Seht, man kann sich
-befreien!“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>T</span>rotz all seinen Bemühungen, männlich zu handeln und
-die Folgen seines Tuns den Göttern zu überlassen, war
-es doch ein Glück für Clerambault, daß er nicht die ganze
-Tragweite seiner Ideen überblickte. Denn seine eigentliche
-Absicht war ja, ein Reich des Friedens zu gründen, in Wirklichkeit
-aber wirkte seine Idee wohl in beträchtlichem Maße
-an der Entfesselung des sozialen Kampfes mit. So paradox
-es scheint, es ist dies das Schicksal jedes wahren
-Pazifismus, weil er eine Verurteilung des Gegenwärtigen
-bedeutet.</p>
-
-<p>Aber Clerambault war sich im unklaren darüber, daß gefährliche
-Mächte eines Tages sich auf ihn berufen würden.
-Und in einer seltsamen Gegenwirkung auf die Gewalttätigkeit
-dieser jungen Leute arbeitete sich sein Geist gerade unter
-ihnen immer mehr zu einer gewissen Harmonie durch. Je
-weniger jene — sie unterschieden sich darin gar nicht von
-vielen Nationalisten, die sie bekämpften — auf das Leben
-gaben, um so höher schätzte er es für seinen Teil. Jenen
-war die Idee fast durchweg wichtiger als das Leben. (In
-diesem Wahn erblickt ja die allgemeine Meinung eine
-Größe der Menschheit.)</p>
-
-<p>Dennoch fühlte sich Clerambault sehr beglückt, unter ihnen
-auch einen Menschen zu finden, der das Leben um des
-Lebens willen liebte. Es war ein Kamerad Moreaus namens
-Gillot, schwer verwundet wie jener, und in seinem Zivilberufe
-Zeichner in einer Fabrik. Ein Geschoß hatte ihn von
-oben bis unten mit Splittern übersät. Er hatte ein Bein
-verloren und sein Trommelfell war gesprengt. Aber Gillot
-wehrte sich mit mehr Energie gegen das Schicksal als Moreau.
-In den lebhaften Augen dieses kleinen dunkelbraunen
-Burschen brannte trotz allem eine Flamme der Heiterkeit.
-Er war ganz einig mit Moreau in der Verurteilung der
-Sinnlosigkeit des Krieges und der Verbrechen der modernen
-Gesellschaft, sie hatten dieselben Dinge und dieselben Menschen
-gesehen, aber mit verschiedenen Augen. Und es kam
-oft zu Diskussionen zwischen beiden.</p>
-
-<p>„Ja“, sagte Gillot eines Tages, als Moreau gerade Clerambault
-eine grauenhafte Erinnerung aus dem Schützengraben
-erzählte, „ja so war es..., nur steckt noch etwas
-Ärgeres dahinter, nämlich, daß das alles auf uns keinen,
-gar keinen Eindruck machte.“</p>
-
-<p>Moreau protestierte empört.</p>
-
-<p>„Auf dich vielleicht, und vielleicht auf zwei oder drei andere,
-da und dort. Aber die große Masse!... Schließlich hat man
-bei den Dingen überhaupt nichts mehr gefühlt.“</p>
-
-<p>Und Gillot fuhr rasch fort, um einen neuen Protest Moreaus
-im voraus zu unterdrücken:</p>
-
-<p>„Ich sage das ja nicht, mein Lieber, um etwas aus uns zu
-machen — dazu ist ja wahrhaftig kein Anlaß. Ich sage es
-nur, weil es eben so ist.... Sehen Sie (er wendete sich jetzt
-an Clerambault), die Leute, die von dort zurückkommen
-und die das in Büchern erzählen, die sagen ja wirklich, was
-sie fühlen. Aber diese Leute fühlen eben viel mehr als die
-meisten Sterblichen, weil sie Künstler sind. So einen reizt
-eben alles in den Nerven auf. Unsereins ist abgebrüht, und
-wenn ich jetzt daran denke, scheint mir diese Fühllosigkeit
-das Ärgste von allem. Wenn Sie hier eine von den Geschichten
-lesen, die Ihnen die Haare zu Berge stehen lassen oder
-bei denen sich Ihnen der Magen umdreht, so fehlt noch
-immer die Pointe daran: nämlich, daß ein paar Burschen
-dort vorne stehen, ihre Pfeife rauchen, Witze reißen oder
-an etwas anderes denken. Und das ist ja nötig, denn sonst
-krepierte man ja.... Der Mensch hat eben eine grauenhafte
-Fähigkeit, sich an alles anzupassen.... Ich glaube,
-er würde ganz gut in einer Düngergrube gedeihen. Es
-ist ja wahr, man kann ein Grausen vor sich kriegen, aber
-ich, der ich da zu Ihnen rede, ich bin selbst so gewesen. Ich
-habe nicht, wie es der Kleine da tut, meine Zeit damit verbracht,
-herumzusinnieren. Wie alle Welt, fand ich das, was
-ich zu tun hatte und tun mußte, blödsinnig. Aber da das
-ganze Leben eben blödsinnig ist — ich habe doch recht? —,
-so tat man eben, was man tun mußte, tat, soviel eben
-nötig war und wartete, bis es aufhörte.... Wartete
-auf irgendein Ende, auf dieses oder jenes, auf das meines
-Kadavers oder das des Krieges. Irgend etwas mußte ja
-doch einmal zu Ende sein... Zwischendurch hat man
-eben gelebt, geschlafen, gefressen, geschissen, Verzeihung,
-— aber man muß die Wahrheit sagen — und wenn Sie,
-mein Herr, den Grund von dem allen wissen wollen — der
-Grund ist eben, daß man das Leben nicht liebt. Ja, man
-liebt es nicht genug. Sie haben sehr recht, wenn Sie in einem
-Ihrer Aufsätze sagen, es ist wundervoll, das Leben. Aber
-jetzt sind nicht eben sehr viele, die danach aussehen, als ob
-sie das glauben würden, zumindest unter denen, die wirklich
-wach leben. Eher schon unter jenen, die schlafen und auf den
-letzten großen Schlaf warten. Die sagen sich: „So liegt man
-wenigstens schon und braucht sich nicht mehr zu rühren.“
-Nein, man liebt es nicht genug, das Leben, man lehrt es
-uns ja auch nicht, es zu lieben, im Gegenteil, man tut alles,
-was man kann, um es uns widerlich zu machen. Von Kindheit
-an singt man uns Lobpreisungen auf den Tod, auf
-die Schönheit des Todes oder einen Hymnus auf die, die
-schon gestorben sind. Die Geschichte, der Katechismus,
-der „Heldentod für das Vaterland“! Pfaffen und Patrioten
-blasen es in einem Atem, und schließlich wird einem
-das Leben selber ekelhaft. Man möchte sagen, es geschieht
-heute das Möglichste, um es einem so dreckig als möglich
-erscheinen zu lassen. Nirgends eine eigene Initiative mehr,
-alles Mechanismus, und dabei nicht einmal Ordnung:
-keiner leistet mehr ganze Arbeit, jeder nur Stückwerk, und
-man weiß gar nicht mehr, was für einen Sinn es hat, und
-meist hat es auch gar keinen Sinn. Es ist ein verdammtes
-Durcheinander, von dem man nicht einmal etwas hat. Wie
-ein Hering ist man irgendwo eingepackt und hingeschmissen.
-Man weiß nicht, warum man lebt. Man lebt und kommt
-nicht weiter. Vor grauen Tagen haben, so sagt man, die
-Großväter für uns die Bastille erstürmt, und jetzt tun
-diese Lumpen, die das Heft in der Hand haben, so, als gäbe
-es für uns nichts mehr zu tun, als wäre schon das Paradies
-auf Erden fertig. Steht es denn nicht auf allen unseren Denkmälern
-geschrieben? Und doch weiß man, daß es nicht wahr
-ist, daß irgend ein anderer Sturm sich vorbereitet, eine andere
-Revolution.... Freilich! Jene von damals ist so schlecht gelungen!
-Und alles ist so unklar... Nein, man hat kein
-Vertrauen, man sieht nicht, wohin man geht, es ist keiner
-da, der uns über diesem Kot und Sumpf irgend etwas
-Schönes und Hohes zeigt.... Ja, sie tun alles, was sie
-können, jetzt, um uns in Schwung zu bringen: Gerechtigkeit,
-Freiheit, Brüderlichkeit.... Aber der Schwindel zieht
-nicht mehr.... Man kann zwar dafür sterben, dazu sagt
-man niemals nein... aber leben, das ist etwas anderes.“</p>
-
-<p>„Und nun?“ fragte Clerambault.</p>
-
-<p>„Ah, jetzt, jetzt, wo man nicht mehr zurück kann, jetzt denke
-ich immer nur: Wenn man noch einmal von vorne anfangen
-könnte.“</p>
-
-<p>„Und wann hat sich das Gefühl bei Ihnen so geändert?“</p>
-
-<p>„Das ist das Tollste! Sofort nach meiner Verwundung.
-Kaum war ich mit einem Bein aus dem Leben draußen, so
-wollte ich schon wieder ins Leben zurück. Wie schön es doch
-eigentlich war — nur hatte man, Esel, der man war, es
-nicht bemerkt.... Denken Sie, ich sehe mich noch, wie ich
-zum erstenmal zum Bewußtsein kam, dort auf jenem
-Trümmerfeld, noch mehr zerfetzt als die Leichen, die dort
-kunterbunt übereinander und durcheinander, wie bei
-einem Kegelspiel, lagen. Die ganz besudelte Erde schien
-selbst zu bluten. Es war vollkommen Nacht, und ich fühlte
-zuerst nichts, als daß es mich fror. Ich lag ganz starr....
-Welches Stück von mir fehlte mir eigentlich? Ich hatte
-keine Eile, mit dem Nachsehen zu beginnen, denn mir graute
-vor dem, was da zutage kommen könnte, und ich wollte
-mich nicht rühren. Sicher war, daß ich noch lebte, vielleicht
-nur noch einen Augenblick, aber ich gab verteufelt acht,
-diesen nicht zu verlieren....</p>
-
-<p>Ich sah am Himmel ein Raketensignal. Was es bedeutete,
-darum bekümmerte ich mich nicht mehr. Aber wie es aufstieg,
-sich bog und die feurigen Blumen dann ausschüttete
-— ich kann Ihnen nicht sagen, wie schön ich das fand, ich
-sog es mit allen Sinnen ein.... Und auf einmal sah ich mich
-als ganz kleines Kind, bei der Samaritaine am Ufer der Seine,
-an einem Abend, wo es Feuerwerk gab, und ich sah dieses
-Kind, als ob es ein anderes wäre, das mich amüsierte und
-mir leid tat. Und dann dachte ich, daß es doch gut sei, in
-das Leben hineingepflanzt zu sein und zu wachsen und
-irgendetwas, irgendjemand, gleichgültig wen, zu haben und
-ihn zu lieben. Sehen Sie, das kam nur von dieser Rakete....
-Dann kamen die Schmerzen, ich begann zu brüllen, ich steckte
-wieder den Kopf in das Loch hinein.... Dann kamen die
-Leute vom Hilfsplatz... ich hatte dort kein gutes Leben,
-der Schmerz fraß mir wie ein Hund an den Knochen...
-fast wäre es besser gewesen, dort im Loch geblieben zu sein...
-und doch... selbst dort, und gerade dort... welches Paradies
-schien es mir, noch einmal so leben zu können wie einst, nur
-zu leben, zu leben ohne Schmerzen, so wie man jeden Tag
-lebte... Und man merkte es nicht! Ohne Schmerzen...
-ohne Schmerzen... und leben!... Aber das ist ein Traum.
-Wenn der Schmerz nur einen Augenblick aufhörte, wenn
-man nur eine Minute Ruhe hatte und bloß den Geschmack
-der Luft auf der Zunge fühlte und den Körper so leicht nach
-aller Qual.... Himmel, wie schön das war.... Und so war
-früher das ganze Leben gewesen, und man hatte es nur
-nicht bemerkt.... Mein Gott, wie dumm man ist, erst
-dann das alles zu verstehen, wenn man’s nicht mehr hat.
-Und wenn man es dann endlich liebt und um Verzeihung
-bittet, daß man’s nicht zu schätzen wußte, dann antwortet
-einem das Leben: Zu spät!“</p>
-
-<p>„Es ist nie zu spät“, sagte Clerambault.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>G</span>illot verlangte nichts sehnlicher, als ihm zu glauben.
-Dieser gebildete Arbeiter war für den Lebenskampf
-viel besser ausgerüstet als Moreau und selbst als Clerambault.
-Nichts konnte ihn dauernd niederdrücken: fällt man
-einmal hin, so steht man wieder auf. Man wird schon einmal
-Rache dafür nehmen. In seinem tiefsten Herzen dachte
-er bei allen Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg
-stellten: „Man wird’s schon schaffen“, und war bereit, mit
-der einzigen Pfote, die ihm blieb, darauf loszumarschieren,
-so weit es nottat, und je früher, je lieber. Denn auch er, wie
-alle anderen, glaubte inbrünstig an die Revolution und
-reimte sie mit seinem Optimismus zusammen, der den
-Umsturz von vornherein in Milde vollendet sah. Er war
-ohne jede Gehässigkeit.</p>
-
-<p>Und doch konnte man sich darauf nicht verlassen, denn in
-diesen Seelen aus dem Volke sind viele Überraschungen versteckt.
-Sie sind zu leicht zu verführen und jeder Veränderung
-geneigt... So hörte Clerambault eines Tages, wie Gillot
-mit seinem Frontkameraden Lagneau, der gerade auf
-Urlaub da war, davon sprach, alles krumm und klein zu
-schlagen, wenn die Eingerückten wiederkämen und der Krieg
-zu Ende sei, oder vielleicht noch früher.... Der Franzose
-aus dem Volk, der oft so bezaubernd, lebhaft und munter
-ist und einen Gedanken, fast ehe man ihn noch ausgesprochen
-hat, erfaßt — mein Gott, wie rasch vergißt er
-auch! Vergißt alles, was man gesagt hat, was er selber gesagt
-hat, was er gesehen, geglaubt, gewollt hat, und
-glaubt dabei immer dessen sicher zu sein, was er will, was
-er sagt, sieht und glaubt. Vor Lagneau entwickelte Gillot
-ganz ruhig genau die entgegengesetzten Ideen wie jene, die
-er gestern gegen Clerambault verteidigt hatte, und nicht
-nur seine Ideen hatten sich verwandelt, sondern auch gewissermaßen
-sein Temperament. Am Morgen war ihm
-nichts wild genug gewesen für sein Bedürfnis nach Tat und
-Zerstörung, abends träumte er wiederum von nichts anderem,
-als irgendwo ein kleines Geschäft zu haben, dick zu
-verdienen, gut zu essen, ein paar Kinder aufzuziehen und
-sich den Teufel um alles andere zu scheren. Obwohl diese
-Leute sich in aller Aufrichtigkeit Internationalisten nannten,
-gab es unter den Soldaten doch genug, die den alten französischen
-Rassenhochmut — gar nicht bösartig aber fest verankert
-— gegenüber der ganzen übrigen Welt hatten, ob
-sie mit ihnen verbündet oder ihr Feind war. Und
-selbst in Frankreich mißachteten die Pariser die aus der
-Provinz, oder, wenn sie selber aus der Provinz waren, Paris.
-Sie waren männliche, offene Kerle, immer bereit, loszuschlagen
-wie Gillot, und sicher die Rechten, um eine Revolution
-zu machen, sie zu zerstören und noch einmal zu
-machen, aber dann gelangweilt das Ganze hinzuschmeißen
-als Beute für den ersten besten Abenteurer, der gerade des
-Weges kommt. Und das wissen die politischen Schleicher
-allzu gut. Sie wissen, die beste Taktik, die Revolution zu
-töten, ist, wenn die Stunde gekommen ist, sie ruhig vorbeigehen
-zu lassen und das Volk dabei zu amüsieren.</p>
-
-<p>Und diese Stunde schien sehr nahe. Etwa ein Jahr vor dem
-Ende des Krieges gab es in beiden Lagern einige Monate,
-einige Wochen, wo die unermeßliche Geduld der
-gemarterten Völker zu schwinden und ein Schrei loszubrechen
-drohte: „Genug!“ Zum erstenmal hatte sich
-unter ihnen die Empfindung verbreitet, daß sie blutig genarrt
-würden, und man kann die Erbitterung der Menschen
-aus dem Volke verstehen, wenn sie feststellten, wie
-toll die Milliarden im Kriege ausgegossen wurden, während
-vor dem Kriege ihre Herren wegen ein paar hunderttausend
-Franken für die soziale Hilfe knauserten. Mehr als
-alle Reden besaßen gewisse Ziffern die Fähigkeit, die Leute
-aufzureizen. Man hatte berechnet, daß im Kriege ungefähr
-75000 Franken verbraucht würden, um einen Menschen
-zu töten, und man aus derselben Summe, die zehn Millionen
-Tote macht, zehn Millionen Rentner hätte schaffen
-können. Selbst die Dümmsten wurden nun des ungeheuerlichen
-Reichtums der Erde und der verbrecherischen
-Verschwendung, die man damit trieb, gewahr, der schamlosen
-Verschwendung für einen leeren Wahn. Und vor
-allem der schändlichsten Schändlichkeit: daß von einem
-Ende Europas zum anderen an diesen Toten sich das
-Geschmeiß der Kriegsgewinner und Leichenschänder dick
-fraß.</p>
-
-<p>„Ah“, dachten die jungen Leute, „man rede uns nichts mehr
-vor vom Kampfe der Demokratien gegen die Autokratien, es
-ist immer derselbe Schwindel.“ Überall hat der Krieg den
-Völkern die Schuldigen für die Rache kenntlich gemacht:
-die herrschende Klasse, die erbärmliche, politische, geschäftliche
-und geistige Bourgeoisie, die während eines einzelnen
-Jahrhunderts der Allmacht mehr verbrach an Gewalttätigkeit,
-Ruinen und Tollheiten, als in zehn Jahrhunderten
-die Geißel der Könige und der Kirchen.</p>
-
-<p>Und kaum, daß sie fern aus dem Walde die Hacke Lenins
-und Trotzkis, dieser heroischen Holzhauer, hallen hörten,
-zitterten viele dieser niedergepreßten Herzen von neuer Hoffnung.
-Mehr als einer in jedem Lande bereitete schon damals
-sein Beil vor, um mit loszuschlagen — die herrschende
-Klasse aber in beiden feindlichen Lagern, von einem
-Ende Europas bis zum andern, sträubte sich gegen die gemeinsame
-Gefahr. Es war keine besondere Verständigung
-nötig, damit sie sich untereinander in diesem Punkte
-verstanden: hier sprach ihr Instinkt. Die bürgerlichen Zeitungen
-der Gegner Deutschlands ließen stillschweigend
-dem Kaiser freie Hand, um die russische Freiheit zu erdrosseln,
-weil sie die soziale Ungerechtigkeit, von der sie
-alle gleicherweise lebten, bedrohte. In der Tollwut ihres
-Hasses verbargen sie nur schlecht ihre Freude, als sie sahen,
-wie der preußische Militarismus, das Untier, das sich dann
-gegen sie selbst wenden sollte, sie an diesen großen Empörern
-rächte. Aber gerade dadurch entflammte sich in den großen
-Massen der Leidenden und bei den kleinen Gruppen der Unabhängigen
-eine glühende Bewunderung für jene Ausgestoßenen,
-die dem ganzen Weltall Schach boten.</p>
-
-<p>Es kochte im Kessel. Um seine Kraft zu ersticken, hatte ihn
-die Regierung hermetisch verschlossen und sich selbst daraufgesetzt.
-Die blödsinnige Bourgeoisie aber, die am Ruder
-war und ständig noch neues Feuer unter dem Kessel entzündete,
-war verwundert über das dumpfe gefahrdrohende
-Grollen. Sie schob diese Revolte der Elemente dem bösen
-Geist einiger freier Sprecher in die Schuhe, oder geheimnisvollen
-Intrigen, oder dem feindlichen Geld, oder
-den Pazifisten. Und sie sah nicht ein, was ein kleines
-Kind gesehen hätte, nämlich daß man vor allem, um die
-Explosion zu verhindern, das Feuer löschen mußte. Der
-Gott aller dieser Mächte, wie immer sie sich nannten, ob
-Kaiserreich oder Republik, war doch die Faust, die Kraft,
-mochte sie sich noch so verschleiern und überpudern. Innen
-blieb die harte, selbstsichere Gewalttätigkeit. Und in natürlichem
-Rückstoß wurde der Glaube an die Gewalt auch
-das Evangelium der Unterdrückten. So entstand ein dumpfer
-unterirdischer Kampf zwischen sich entgegenarbeitenden
-Druckwirkungen. Wo das Metall verbraucht war —
-zunächst in Rußland — explodierte der ganze Kessel.
-Wo der Deckel nicht so streng niedergehalten wurde — wie
-in den neutralen Ländern — fuhr zischend der heiße Dampf
-aus. In den kämpfenden Ländern, auf denen die Unterdrückung
-lastete, herrschte eine trügerische Stille, die dem
-Unterdrücker recht zu geben schien. Dort waren sie ebenso
-wie gegen den Feind auch gegen ihre Mitbürger gepanzert,
-denn die Kriegsmaschine war nach beiden Seiten
-hin, nach vorn und nach rückwärts, drohend aufgestellt. Der
-Verschluß aus härtestem Stahl schien noch gut zu schließen,
-die Schrauben preßten ihn eisern an, so daß es unmöglich
-war oder schien, daß er jemals aufging. Es sei denn, daß
-plötzlich alles in die Luft flöge.</p>
-
-<p>Clerambault, nicht minder unter die furchtbare Schraube
-gepreßt als die anderen, sah ringsum die Revolte sich vorbereiten.
-Er begriff sie, er hielt sie sogar für unvermeidlich.
-Aber deshalb liebte er sie noch nicht. Er fand sich nicht ab
-mit der bequemen „<span class='it'>amor fati</span>“. Ihm genügte es, zu verstehen.
-Aber keine Tyrannei schien ihm ein Recht auf Liebe
-zu haben.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>ie jungen Leute aber verweigerten ihr die ihre durchaus
-nicht und waren erstaunt, daß Clerambault so wenig
-Begeisterung für das neue Idol aus dem Norden zeigte,
-für die Diktatur des Proletariats. Sie hielten sich nicht
-lange bei vorsichtigen Bedenken und halben Maßregeln auf,
-um die Welt glücklich zu machen — auf ihre Art, wenn nicht
-auf die seine —, sie diktierten gleich im ersten Anlauf die
-Unterdrückung jeder Freiheit, die ihrer Idee von Freiheit
-entgegengesetzt wäre. Die abgesetzte Bourgeoisie sollte des
-Versammlungsrechtes, des Stimmrechtes, des Rechtes der
-öffentlichen Meinungsäußerung beraubt werden.</p>
-
-<p>„Schön“, sagte Clerambault, „aber dann wird sie das
-neue Proletariat werden. Dann ändert nur die Gewalt
-ihren Posten.“</p>
-
-<p>„Aber das wird nur eine Zeitlang dauern. Wir werden
-die letzte Unterdrückung sein, die eben die Unterdrückung in
-alle Ewigkeit töten wird.“</p>
-
-<p>„Ja, immer der Krieg für Recht und Freiheit; immer
-der letzte Krieg, der den Krieg für alle Zeiten töten soll.
-Aber er befindet sich bisher recht wohl, und das Recht wie
-die Freiheit bekommen dabei ihre Fußtritte.“</p>
-
-<p>Sie protestierten unwillig gegen den Vergleich. Sie sahen
-im Krieg, und an denen, die ihn führten, nur Gemeinheit.</p>
-
-<p>„Und doch“, sagte Clerambault sanft, „haben eine ganze
-Reihe von euch mitgetan und fast alle daran geglaubt....
-Nein, nein, protestiert nicht! Auch in dem Gefühl, das euch
-damals dazu trieb, war etwas Edles. Man zeigte euch ein
-Verbrechen, und ihr seid darauf losgegangen, um es zu
-vernichten. Euer Eifer war wundervoll. Nur habt ihr geglaubt,
-es gäbe nur dieses eine Verbrechen, und hätte man
-das aus der Welt geschafft, so würde sie unschuldig und
-rein sein wie im goldenen Zeitalter. Die selbe seltsame Naivität
-ist mir schon in der Zeit der Dreyfusaffäre aufgefallen.
-Damals war es so, als ob alle anständigen Leute
-Europas (ich gehörte auch dazu) noch nie gehört hätten, daß
-bisher jemals ein Unschuldiger ungerechter Weise verurteilt
-worden sei. Ihr ganzes Leben war von dieser Erkenntnis
-einfach umgestürzt, und sie setzten das Weltall in Bewegung,
-um diesen Flecken auszutilgen.... Mein Gott, als die Wäsche
-fertig war — eigentlich wurde sie ja nicht einmal fertig,
-denn die Wäscher wurden müde mitten in der Arbeit und
-der Reingewaschene selbst auch — nun, da war die ganze
-Welt genau so schmutzig wie vorher. Es scheint eben, daß
-der Mensch nicht fähig ist, die Gesamtheit des menschlichen
-Elends mit seinem Blick zu umfassen. Er hat zu viel
-Angst, die Ungeheuerlichkeit des Bösen zu sehen, und
-um davon nicht ganz niedergeschmettert zu sein, sucht er
-sich immer irgendeine einzelne Sache aus, lokalisiert in ihr
-das ganze Böse der Welt und hütet sich, auf alles andere zu
-schauen. Das alles, meine Freunde, ist mir verständlich,
-weil es menschlich ist. Aber man muß eben mehr Mut haben.
-In Wirklichkeit ist das Böse überall, beim Feinde sowohl,
-wie bei uns selbst. Ihr habt es allmählich in unserem
-Staatswesen entdeckt und jetzt wendet ihr euch mit der
-gleichen Leidenschaft, die früher alles Böse nur im Feinde
-sah, gegen die Regierungsformen, deren Fehler euch aufgegangen
-sind. Erst wenn ihr einmal erkennen werdet, daß diese
-Fehler auch in euch sind — und das ist zu befürchten, nach
-den Erfahrungen aller Revolutionen, die immer leidenschaftlich
-geworden sind, und in denen jene, die das
-Recht bringen wollten, schließlich, ohne es selbst recht zu
-verstehen, ihre eigenen Hände und ihr Herz beschmutzt
-fanden —, dann werdet ihr euch mit einer düsteren Verzweiflung
-gegen euch selbst wenden.... Ihr großen
-Kinder, wann werdet ihr es euch abgewöhnen, gleich das
-Absolute zu wollen.“</p>
-
-<p>Sie hätten ihm darauf antworten können, man müsse das
-Absolute wollen, um das Wirkliche zu erreichen. Für den
-Gedanken könne es Nuancen geben, aber die Tat dulde keine.
-Clerambault solle sich zwischen ihnen oder ihren Gegnern entscheiden!
-Hier gebe es keine Zwischenmöglichkeit.</p>
-
-<p>Und Clerambault verstand dies. Auf dem Feld der Tat gibt
-es keine andere Wahl. Dort ist alles vorausbestimmt.
-Ebenso wie der ungerechte Sieg mit notwendiger Gewißheit
-die Revanche erzeugt, die dann wieder ihrerseits ungerecht
-sein wird, so führt die kapitalistische Unterdrückung
-zur proletarischen Revolution, die dann wieder nach ihrem
-Vorbild unterdrückt werden wird. Es ist eine Kette ohne
-Ende, in der eine eherne Dike waltet, die eine klare Vernunft
-erkennt und sogar als ein Weltgesetz ehren kann. Aber das
-Herz weigert sich, diese Gesetze anzuerkennen, sich ihnen zu
-unterwerfen, denn seine Aufgabe ist es ja, das Gesetz des
-ewigen Krieges zu zerbrechen. Wird es ihm jemals gelingen?
-... Wer weiß? Jedenfalls ist eines gewiß, daß dieses Hoffen,
-dieses Wollen des Herzens außerhalb der gewöhnlichen
-Ordnung steht, daß es aus einer überirdischen, aus einer
-geradezu religiösen Welt stammt.</p>
-
-<p>Aber Clerambault, der davon durchdrungen war, wagte
-noch nicht, sich dies einzugestehen. Oder er wagte zum mindesten
-nicht, das Wort „religiös“ auf sich zu beziehen, das
-Wort, das die Religionen von heute — die so wenig religiösen
-— diskreditiert haben.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>H</span>atte Clerambault also selbst noch nicht volle Klarheit in
-sein Denken gebracht, so war es für seine Freunde noch
-schwieriger, sich in seiner Weltauffassung auszukennen. Und
-wäre ihnen selbst Gelegenheit dazu geboten gewesen, sie übersichtlich
-zu erfassen, so hätten sie sie doch nie verstanden. Sie
-konnten es nicht ertragen, daß ein Mann, der so energisch
-den momentanen Zustand der Dinge als schlecht und mörderisch
-verurteilte, trotzdem nicht ihre radikalsten Maßnahmen
-billigte, um diesen Zustand aus der Welt zu schaffen. Von
-ihrem Gesichtspunkt, demjenigen der sofortigen Aktion,
-hatten sie nicht unrecht. Aber das Feld des Geistigen ist
-viel weiter; seine Kämpfe spielen sich in größeren Räumen
-ab und verzetteln sich nicht in blutigen Plänkeleien.
-Clerambault erkannte das ewige Axiom der Tat „Der Zweck
-heiligt die Mittel“ nicht an, selbst nicht unter der Voraussetzung,
-daß diese von seinen Freunden gepriesene Kampfmethode
-die erfolgreichste sei. Er war im Gegenteil der
-Meinung, daß die Mittel für den wirklichen Fortschritt von
-höherer Wichtigkeit seien als die Ziele. Denn Ziele ... gibt
-es denn wirklich ein endgültiges Ziel?</p>
-
-<p>Diese allzu umfassende und verschwommene Art des Denkens
-erbitterte aber die jungen Menschen und bestärkte sie
-in jener gefährlichen Abneigung gegen die Intellektuellen,
-die sich seit fünf Jahren bei der arbeitenden Bevölkerung
-herausgebildet hatte. Sicherlich hatten die Intellektuellen
-nichts Besseres verdient, denn wie weit waren
-die Zeiten, wo die Geistigen an der Spitze der Revolutionen
-standen! Jetzt schlossen sie sich mit allen reaktionären
-Kräften zusammen, und selbst die verschwindend
-kleine Zahl derer, die sich außerhalb des Clans gehalten
-hatten und seine Irrtümer tadelten, zeigte sich, wie Clerambault,
-unfähig, auf ihren Individualismus zu verzichten,
-der sie einmal gerettet und nun zu Gefangenen
-gemacht hatte. Kaum hatten nun die Revolutionäre die
-Unfähigkeit selbst der Besten erkannt, sich den neuen Massenbewegungen
-einzuordnen, so gingen sie einen Schritt
-weiter und proklamierten den Niedergang der Intellektuellen.
-Der Stolz der Arbeiterklasse, der sich schon in
-Artikeln und Reden äußerte, ungeduldig, sich wie in
-Rußland bald in Taten manifestieren zu können, dieser
-Stolz verlangte, daß die Intellektuellen sklavisch ihren proletarischen
-Herren gehorchten. Das Seltsamste dabei war,
-daß einige unter den Intellektuellen selbst am leidenschaftlichsten
-diese Erniedrigung ihres Standes verlangten — sie
-hätten gern damit glauben gemacht, daß sie nicht mehr dazu
-gehörten und vergaßen es sogar selbst.... Moreau freilich
-vergaß es nicht. Aber nur mit noch größerer Bitterkeit
-verabscheute er die Klasse, deren Nessushemd ihm auf der
-Haut brannte. Seine Erbitterung war ohne Maß.</p>
-
-<p>Er trug jetzt gegen Clerambault seltsam aggressive Gefühle
-zur Schau. Er unterbrach ihn in der Diskussion ohne jede
-Höflichkeit, mit einer gewissen Art ironischer und gereizter
-Schärfe, daß man oft das Gefühl hatte, er wolle ihn bewußt
-verletzen.</p>
-
-<p>Clerambault nahm es ihm nicht übel. Er war voll Mitleid
-mit ihm, denn er wußte, daß Moreau litt, und konnte sich
-die Bitterkeit eines hingeopferten jungen Lebens gut vorstellen,
-dem die sittliche Nahrung, die für einen fünfzigjährigen
-Magen gehört — Geduld und Resignation —
-nicht recht munden wollte.</p>
-
-<p>Eines Abends, als sich Moreau gegen Clerambault besonders
-unangenehm gezeigt hatte und doch ihn durchaus nach
-Hause begleiten wollte, gleichsam als könnte er sich nicht
-entschließen, ihn zu verlassen, und als er da vor sich hinschweigend
-und verschlossen an seiner Seite schritt, blieb
-Clerambault einen Augenblick stehen und sagte, indem er
-freundschaftlich seinen Arm nahm, lächelnd:</p>
-
-<p>„Mein armer Junge, dir geht es wohl nicht gut?“</p>
-
-<p>Moreau war verdutzt, raffte sich zusammen und fragte
-trockenen Tones, woran man denn merken könnte, daß
-„es nicht gut ginge“.</p>
-
-<p>„Nun daran, daß Sie so bösartig waren heute abend“,
-antwortete Clerambault gutmütig.</p>
-
-<p>Moreau protestierte.</p>
-
-<p>„O doch! Was für Mühe haben Sie sich gegeben, um mir
-weh zu tun: Ja, doch, ein wenig, nur ein ganz klein wenig....
-Ich weiß es sehr gut, daß Sie es nicht ganz ernstlich
-wollen, aber wenn ein Mensch wie Sie einen andern
-leiden machen will, so ist das ein Zeichen, daß er selber
-leidet.... Habe ich nicht recht?“</p>
-
-<p>„Verzeihen Sie mir“, sagte Moreau, „es ist wahr. Mir
-tat es weh, zu sehen, daß Sie nicht an unsere Aktion
-glauben.“</p>
-
-<p>„Und Sie selbst?“ fragte Clerambault.</p>
-
-<p>Moreau verstand nicht.</p>
-
-<p>„Und Sie selbst“, wiederholte Clerambault, „glauben Sie
-denn daran?“</p>
-
-<p>„Und ob ich daran glaube“, rief Moreau entrüstet.</p>
-
-<p>„Aber nein“, sagte Clerambault ganz sanft.</p>
-
-<p>Moreau war nahe daran, zornig auszubrechen. Dann sagte
-er nachgiebiger: „Doch, durchaus!“</p>
-
-<p>Clerambault war weitergegangen.</p>
-
-<p>„Nun gut“, sagte er, „das ist ja Ihre Sache, Sie müssen
-ja besser wissen als ich, was Sie eigentlich glauben.“</p>
-
-<p>Sie gingen nebeneinander her, ohne zu sprechen. Nach
-einigen Minuten faßte Moreau Clerambault am Arm und
-sagte:</p>
-
-<p>„Wieso konnten Sie das wissen?“</p>
-
-<p>Sein Widerstand war gebrochen. Er enthüllte die Verzweiflung,
-die sich unter seinem aggressiven Willen zur
-Gläubigkeit und zur Tat verbarg. Innerlich war er von Pessimismus
-zerfressen, der ja immer eine natürliche Folge
-jedes in seinen Illusionen schmerzhaft enttäuschten, übermäßigen
-Idealismus ist. Die religiöse Seele von einst war
-ganz ruhevoll: sie stellte das Gottesreich hinüber in ein
-Jenseits, das kein irdisches Geschehnis erreichen oder zerstören
-konnte. Aber die religiöse Seele von heute, die das
-Gottesreich mitten in unsere Welt stellen will und es auf
-dem Grunde der menschlichen Vernunft und der Liebe aufbaut,
-die wird lebensüberdrüssig, sobald das Leben ihren
-Traum einstürzen läßt. Es gab Tage, wo Moreau sich am
-liebsten die Adern aufgeschnitten hätte! Die Menschheit
-schien ihm wie eine faulende Frucht, voll Verzweiflung sah
-er den Zusammenbruch, den Untergang, die Niederlage,
-die von allem Anfang im Schicksal der menschlichen Rasse
-wie ein Wurm in der Frucht eingesponnen sitzt, und er
-konnte die Idee dieses unsinnigen und tragischen Schicksals,
-dem die Menschen nie entrinnen werden, nicht ertragen.
-Wie Clerambault fühlte er in seinen Adern das
-Gift des Wissens und der Vernunft; aber indes Clerambault
-die Krise überstanden hatte und die Gefahr nur in
-der Zügellosigkeit des Geistes sah und nicht schon in seinem
-Wesen, war Moreau von der Vorstellung besessen, die
-Vernunft sei selbst schon von Gift durchtränkt. Seine
-krankhaft erregte Phantasie erschöpfte sich selbstquälerisch
-in immer neuen Vorstellungen, sie zeigte ihm die Menschheit
-mit dem unauslöschlichen Brandmal der Krankheit ihrer
-Geistigkeit behaftet. Im vorhinein sah er alle Möglichkeiten
-von Katastrophen, denen sie zudrängte. Sah man denn
-nicht schon das tragische Schauspiel, wie die Vernunft vor
-Hochmut taumelte angesichts der ihr von der Wissenschaft
-ausgelieferten Gewalten, angesichts jener Dämonen der
-Natur, die ihr durch die magische Formel der Chemie untertan
-waren, und wie sie in Verwirrung über die zu rasch
-überhandnehmende Macht diese zu ihrem eigenen Selbstmord
-mißbrauchte?</p>
-
-<p>Aber Moreau war zu jung, um unter dem Druck solcher Wahnvorstellung
-zu verbleiben. Man mußte etwas tun, etwas tun
-um jeden Preis, um nicht allein mit dieser Vision zu bleiben.</p>
-
-<p>„Nein, hindern Sie uns nicht an der Tat! Im Gegenteil,
-feuern Sie uns dazu an!“</p>
-
-<p>„Mein Freund“, sagte Clerambault, „man darf die anderen
-nur dann zu einer gefährlichen Tat ermutigen, wenn man
-selber mittut. Mir sind die Aufhetzer, selbst wenn sie aufrichtig
-sind, unerträglich, all jene, die andere treiben, Märtyrer
-zu werden, ohne selbst das Beispiel zu geben. Es gibt
-nur einen Typus des wahrhaft heiligen Revolutionärs:
-das ist der Gekreuzigte. Aber nur sehr wenige Menschen
-sind für die Aureole des Kreuzes geboren. Der
-Hauptfehler besteht darin, sich selbst übermenschliche und unmenschliche
-Pflichten zu setzen. Es ist ungesund für die
-Mehrheit der Menschen, sich zum Übermenschen erheben
-zu wollen, und vielleicht für sie selbst nur eine Quelle unnützer
-Qualen. Aber jeder Mensch kann trachten, in seinem
-kleinen Kreise das innere Licht auszustrahlen, Ordnung,
-Frieden und Güte. Und das ist das wahre Glück.“</p>
-
-<p>„Aber das genügt mir nicht“, sagte Moreau. „Das läßt
-zuviel Raum für den Zweifel. Alles oder nichts.“</p>
-
-<p>„Ja, eure Revolution hat keinen Raum für den Zweifel.
-Für euch heiße und harte Herzen, für euch geometrische Gehirne
-heißt es: alles oder nichts. Nur keinen Übergang!
-Aber, was wäre das Leben ohne Übergänge? Sind sie denn
-nicht seine Schönheit und seine Güte? Eine zerbrechliche
-Schönheit freilich, eine kraftlose Güte, überall Schwäche
-und Hunger nach Liebe. Man muß lieben, man muß
-helfen, Tag für Tag und Schritt für Schritt. Die Welt verwandelt
-sich nicht mit einem Schlag und niemals ganz,
-weder durch Gewaltstreiche, noch durch Gnadenstöße. Aber
-Sekunde für Sekunde geht sie ins Unendliche hinüber, und
-der schlichteste Mann, der das fühlt, hat Teil an der Unendlichkeit.
-Nur Geduld! Eine einzige Ungerechtigkeit, die
-man beseitigt, erlöst noch nicht die Menschheit, aber sie verklärt
-einen Tag. Und es werden andere kommen und andere
-Verklärungen, und jeder Tag bringt seine Sonne.
-Möchten Sie das verhindern?“</p>
-
-<p>„Wir können nicht warten“, sagte Moreau. „Wir haben
-keine Zeit. Jeder Tag, den wir leben, stellt uns Probleme,
-die uns ganz aufzehren und die wir sofort lösen
-müssen. Wenn wir sie nicht beherrschen, werden wir ihnen
-untertan. Wir, damit meine ich nicht so sehr unsere Personen,
-wir sind ja schon Hingeopferte. Aber alles, was wir
-lieben, was uns noch dem Leben verbindet: die Hoffnung
-auf die Zukunft, das Heil der Menschheit.... Fühlen Sie
-doch, wie diese quälenden Fragen um aller Zukünftigen
-willen uns bedrücken, um aller, die Kinder haben. Dieser
-Krieg ist ja noch nicht zu Ende, und es ist nur allzu klar,
-daß er durch seine Verbrechen und seine Lügen neue, nahe
-Kriege heraufbeschwört. Wofür zieht man Kinder auf?
-Wofür wachsen sie heran? Vielleicht für ähnliche Schlächtereien?
-Welcher Ausweg ist da möglich? Man hat rasch
-ihre ganze Reihe erschöpft.... Man könnte diese toll gewordenen
-Nationen, diese närrischen alten Kontinente verlassen
-und auswandern, aber wohin? Gibt es denn irgendwo
-auf dem Erdball noch fünfzig Joch Erde, die den
-freien anständigen Menschen Unterschlupf gewähren? Oder
-eine Wahl treffen? Sie sehen wohl, man muß sich entscheiden.
-Entweder für die Nation oder für die Revolution.
-Was bleibt denn sonst noch? Das Nichtwiderstreben
-gegen das Übel? Scheint Ihnen das wünschenswert?
-Das hat doch nur einen Sinn, wenn man gläubig ist,
-religiös gläubig, sonst wäre es nur die Resignation von
-Schafen, die sich hinschlachten lassen. Aber die meisten,
-leider Gottes, entscheiden sich für nichts und ziehen es vor,
-gar nicht zu denken, schauen krampfhaft von der Zukunft
-weg und lügen sich vor, daß das, was sie gesehen und gelitten
-haben, nun für ewige Zeiten vorüber sei ... Darum
-müssen wir für jene eine Entscheidung fällen, ob sie wollen
-oder nicht, sie nach vorwärts treiben, sie retten gegen ihren
-eigenen Willen. Die Revolution, das sind immer nur einzelne
-Menschen, die für die ganze Menschheit etwas wollen.“</p>
-
-<p>„Mir paßte es nicht sehr“, antwortete Clerambault, „wenn
-jemand anderer für mich wollte, und ebensowenig,
-für einen anderen zu wollen. Ich möchte lieber jedem helfen,
-frei zu sein, und selbst der Freiheit keines anderen Menschen
-im Wege stehen. Aber ich weiß, ich verlange zuviel.“</p>
-
-<p>„Sie verlangen das Unmögliche“, sagte Moreau. „Wenn
-man einmal beginnt, zu wollen, darf man nicht auf halbem
-Wege stehen bleiben. Es gibt nur zwei Arten Menschen:
-diejenigen, welche zuviel wollen — Lenin und alle Großen
-(es gibt ihrer wohl kaum mehr als zwei Dutzend in der
-ganzen Weltgeschichte) und dann die anderen, die zu wenig
-wollen, die das Wollen nicht verstehen. Das ist der große
-Rest, das sind wir, das bin ich selbst.... Sie haben es nur
-zu gut erkannt.... Mein ganzer Wille kommt nur aus Verzweiflung.“</p>
-
-<p>„Warum denn verzweifeln?“ sagte Clerambault. „Das
-Schicksal des Menschen formt sich jeden Tag und keiner
-kennt es. Unser Schicksal ist das, was wir sind. Sind wir
-mutlos, so entmutigen wir es.“</p>
-
-<p>Aber Moreau sagte niedergeschlagen:</p>
-
-<p>„Nein, wir werden nicht stark genug sein, wir werden nicht
-stark genug sein.... Glauben Sie, ich wüßte nicht, was für
-lächerlich geringe Erfolgsaussichten bei uns jetzt die Revolution
-hat? Jetzt, in der gegenwärtigen Zeit, nach den
-Verwüstungen, der ökonomischen Vernichtung, der Demoralisation,
-der tödlichen Müdigkeit, nach all diesen Dingen,
-die von den vier Kriegsjahren verschuldet sind?“</p>
-
-<p>Und er fügte das Geständnis bei:</p>
-
-<p>„Ich habe schon das erstemal gelogen, als ich Sie sah, als
-ich behauptete, alle meine Kameraden fühlten so stark wie
-wir das Leiden und die Erbitterung darüber. Gillot hat
-Sie richtig belehrt: wir sind nur ganz wenige. Die anderen
-sind meistens gute Kerle, aber schwache, schwache Naturen ...
-Sie beurteilen die Dinge ziemlich richtig, aber statt mit
-dem Kopf gegen die Mauer zu rennen, ziehen sie vor, lieber
-gar nicht daran zu denken und sich mit Ironie schadlos zu
-halten. Ach, dieses französische Lachen, das ist unser Reichtum
-und auch unser Untergang! Es ist ja so schön, aber eine wie
-gute Handhabe für alle Unterdrücker. „Mögen sie Spottlieder
-singen, wenn sie nur ihre Steuern zahlen“, sagte jener
-Italiener, und bei uns heißt es: „Mögen sie lachen, wenn sie
-nur sterben.“ Dazu kommt noch diese furchtbare Anpassungsfähigkeit,
-von der Gillot zu Ihnen sprach. Man kann den
-Menschen zu den tollsten und qualvollsten Lebensbedingungen
-treiben — wenn sie nur lange genug dauern und er sie
-innerhalb der Herde mitmacht, so gewöhnt er sich an alles,
-an das Warme und an das Kalte, an den Tod und das
-Verbrechen. Die ganze Kraft, die für den Widerstand nötig
-wäre, verbraucht man auf die Gewöhnung, und dann rollt
-man sich in irgendeine Ecke, ohne sich zu rühren, aus Angst,
-man könne mit irgendeiner Veränderung die eingeschläferte
-Qual wieder aufwecken. Ach, es lastet eine solche Müdigkeit
-auf uns allen! Wenn die Soldaten zurückkommen werden,
-dann werden sie nur einen Wunsch haben: zu vergessen und
-zu schlafen.“</p>
-
-<p>„Und Lagneau, der Hitzkopf, der Tollkopf, der davon redet,
-alles krumm und klein zu schlagen?“</p>
-
-<p>„Lagneau? Den kenne ich seit Kriegsausbruch. Ich habe
-gesehen, wie er eins nach dem andern war, Kriegsbegeisterter,
-Revanchetrompeter, Annexionist, Internationaler, Sozialist,
-Anarchist, Bolschewist und „<span class='it'>Je-m’en-fichiste</span>“. Er
-wird schließlich als Reaktionär enden und sich wieder hinausschicken
-lassen, um sich mit Hurra und Heil auf jeden
-Feind, den sich die Regierung unter unseren heutigen Feinden
-oder Freunden aussuchen wird, zu werfen. Und das
-Volk? Es ist unserer Ansicht, aber gleichzeitig auch der Ansicht
-der Gegner. Das Volk hat immer hintereinander alle
-Ansichten.“</p>
-
-<p>„Sie sind also Revolutionär aus Verzweiflung?“ sagte
-lachend Clerambault.</p>
-
-<p>„Es gibt viele dieser Art unter uns.“</p>
-
-<p>„Aber Gillot ist doch aus dem Krieg optimistischer zurückgekommen,
-als er jemals war?“</p>
-
-<p>„Gillot kann vergessen“, sagte bitter Moreau. „Ich neide
-ihm dieses Glück nicht.“</p>
-
-<p>„Aber wir dürfen es ihm nicht zerstören“, sagte Clerambault.
-„Helfen Sie Gillot. Er hat Sie nötig.“</p>
-
-<p>„Mich?“ staunte Moreau ungläubig.</p>
-
-<p>„Er hat zu seiner Stärke notwendig, daß man an seine
-Kraft glaubt. So glauben Sie daran.“</p>
-
-<p>„Kann man denn glauben wollen?“</p>
-
-<p>„Sie wissen ja etwas davon.... Nicht wahr, nein, man
-kann es nicht ... Aber man kann glauben aus Liebe“.</p>
-
-<p>„Aus Liebe zu jenen, die gläubig sind?“</p>
-
-<p>„Glaubt man denn nicht immer nur aus Liebe, kann man
-denn anders gläubig sein als aus Liebe?“</p>
-
-<p>Moreau war gerührt. Seine intellektuelle, von Wissensdurst
-brennende und verzehrte Jugend hatte, wie die der
-besten in der bürgerlichen Klasse, am Mangel brüderlicher
-Zuneigung gelitten. Menschliche Verbrüderung und
-Seelengemeinschaft ist ja aus der modernen Erziehung verbannt.
-Erst allmählich und mißtrauisch war dieses konstant
-unterdrückte Urgefühl in den Schützengräben, in diesen
-Gräbern der lebendig zusammengedrängten leidenden
-Leiber, wieder erwacht. Aber man hatte Scham, sich ihm
-hinzugeben. Die gemeinsame Verhärtung, die Furcht vor
-Sentimentalität, die Ironie umkrusteten das Herz. Erst seit
-der Krankheit Moreaus war die Umschalung von Stolz
-nachgiebiger geworden, und es kostete Clerambault keine
-Mühe, sie gänzlich zu zerbrechen. Die Wohltat, die von
-diesem Manne ausging, war, daß bei der Berührung mit
-ihm die Eigensucht in den Menschen hinschwand, denn er
-besaß selbst keine. Man zeigte sich ihm, wie er sich selbst allen
-zeigte, mit seiner wahren Natur, seinen Schwächen und all
-den Aufschreien, die sonst ein falscher Stolz zu ersticken sucht.
-Moreau, der an der Front, ohne es sich offen einzugestehen,
-die Überlegenheit seiner Kameraden oder der Unteroffiziere,
-also von Menschen aus einer niedrigeren Schicht, erkannt
-hatte, fühlte für Gillot Sympathie und war glücklich, daß
-Clerambault an sie appellierte. Clerambault hatte seinen
-geheimsten Wunsch erweckt, einem andern eine Notwendigkeit
-zu sein.</p>
-
-<p>Und ebenso flüsterte Clerambault Gillot die Anregung ein,
-Optimist für zwei zu sein und Moreau zu helfen. So fanden
-beide, in ihrem Bedürfnis, dem andern zu helfen, selbst
-eine Hilfe nach dem Gesetz des Lebens: „Wer gibt, der hat.“</p>
-
-<p>In welcher Zeit immer man lebt, und sei es auch eine der
-Zertrümmerung, so ist doch nichts verloren, solange noch in
-der Seele einer Rasse ein Funke der männlichen Freundschaft
-lebendig bleibt. Man muß ihn erwecken, muß die frierenden
-einsamen Herzen einander annähern, damit wenigstens
-eine der Früchte dieses Völkerkrieges die Vereinigung
-der Elite der Klassen, die Verbrüderung der beiden Jugenden
-sei — jener aus der Welt der Arbeit und jener aus der des
-Gedankens —, die, indem sie sich ergänzen, die Zukunft erneuern
-sollen.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>I</span>st der beste Weg zur Einigung der, daß keiner den andern
-beherrschen will, so muß auch das Gegenteil gültig
-sein, nämlich, daß keiner sich vom andern unterdrücken
-lassen darf. Gerade dazu aber trieb diese jungen Intellektuellen
-dieser revolutionären Gruppen eine seltsame Eigenliebe.
-Sie schulmeisterten verächtlich Clerambault im
-Namen des neuen Prinzips, das die Intellektuellen in
-den Dienst des Proletariats stellen wollte ... „Dienen, dienen!“
-Das war das Schlußwort des einst so stolzen Richard
-Wagner, aber auch das Wort manch eines enttäuschten
-Stolzes. Manche wollen, sobald sie sehen, daß sie nicht
-Herr sein können, sofort Sklaven sein.</p>
-
-<p>„Am schwersten ist es in dieser Welt“, dachte Clerambault,
-„anständige Menschen zu finden, die einfach meinesgleichen
-sein wollen. Sind diese aber unauffindbar und bedarf es unbedingt
-einer Tyrannei, so ziehe ich noch diejenige, die einen
-Aesop und Epiktet körperlich zu Sklaven machte, aber ihren
-Geist vollkommen frei gab, jener vor, die äußere Freiheit
-mit Seelenknechtschaft verbindet.“</p>
-
-<p>Durch diese Unduldsamkeit wurde er sich erst so recht seiner
-Unfähigkeit bewußt, sich irgendeiner Partei anzuschließen.
-Zwischen den beiden Möglichkeiten, der der Revolution und
-der des Krieges, konnte er (und er tat es auch offen) seine
-Vorliebe für die Revolution bekunden, denn sie allein bot
-ihm eine Hoffnung auf Erneuerung, indes die andere jede
-Zukunft tötete. Aber eine Partei vorziehen, bedeutet noch
-lange nicht, damit schon seine geistige Unabhängigkeit aufzugeben.
-In den Demokratien ist gerade die Auffassung
-so irrig und so widersinnig, daß alle die gleichen Pflichten
-hätten und dieselben Aufgaben. In einer kämpfenden Gemeinschaft
-sind die Aufgaben sehr verschieden. Während der
-Hauptteil der Armee dafür ficht, einen sofortigen Erfolg
-zu erzielen, müssen andere die ewigen Werte gegen den Sieger
-von morgen, wie gegen den von gestern behaupten,
-denn sie schreiten ihnen voraus und erleuchten sie alle: ihr
-Licht glänzt fernhin auf den Weg, weit hinaus über den
-Qualm des Kampfes. Clerambault hatte sich zu lange von
-diesem Qualm den Blick trüben lassen, als daß er sich
-neuerdings in ein solches Getümmel stürzen wollte. Aber
-in dieser Welt der Blinden ist schon die Bemühung, sehen
-zu wollen, ein Ungehöriges und vielleicht sogar ein Verbrechen.</p>
-
-<p>Diese ironische Wahrheit wurde ihm während einer Unterhaltung
-so recht bewußt, in der einer dieser kleinen Saint-Justs
-ihm gerade den Text gelesen und ihn recht frech mit dem
-„Astrologen, der sich in die Tiefe des Brunnens fallen ließ“,
-verglichen hatte.</p>
-
-
- <div class='poetry-container' style=''>
- <div class='lgp'> <!-- rend=';' -->
-<div class='stanza-outer'>
-<p class='line0'><span class='it'>... On lui dit: Pauvre bête,</span></p>
-<p class='line0'><span class='it'>Tandis qu’à peine à tes pieds tu peux voir,</span></p>
-<p class='line0'><span class='it'>Penses-tu lire au-dessus de ta tête?</span></p>
-</div>
-</div></div> <!-- end poetry block --><!-- end rend -->
-
-<p class='noindent'>Und da er nicht humorlos war, fand er den Vergleich nicht
-ganz unberechtigt. Gewiß, er gehörte ein wenig der Gemeinschaft
-jener an....</p>
-
-
- <div class='poetry-container' style=''>
- <div class='lgp'> <!-- rend=';' -->
-<div class='stanza-outer'>
-<p class='line0'><span class='it'>... De ceux qui bayent aux chimères,</span></p>
-<p class='line0'><span class='it'>Cependant qu’ils sont en danger,</span></p>
-<p class='line0'><span class='it'>Soit pour eux soit pour leurs affaires....</span></p>
-</div>
-</div></div> <!-- end poetry block --><!-- end rend -->
-
-<p class='noindent'>Aber wollte denn diese Republik auf die Astrologen verzichten,
-wie die erste Republik noch auf die Chemiker? Oder
-meint ihr sie in Reih und Glied disziplinieren zu können?
-Dann ist zu erwarten, daß wir alle zusammen in den
-Grund des Brunnens hineinfallen. Wollt ihr das wirklich?
-Ich würde nicht Nein sagen, handelte es sich nur darum,
-euer Schicksal zu teilen. Aber euern Haß will ich
-nicht teilen!</p>
-
-<p>„Auch Sie haben Ihren Haß“, antwortete ihm einer der
-jungen Leute.</p>
-
-<p>Gerade in diesem Augenblick trat ein anderer mit einer
-Zeitung in der Hand herein und rief Clerambault zu:
-„Meinen Glückwunsch, Ihr Feind Bertin ist tot....“</p>
-
-<p>Der reizbare Journalist war innerhalb weniger Stunden von
-einer ansteckenden Lungenentzündung dahingerafft worden.
-Seit sechs Monaten hatte er wütend alle jene verfolgt, die er
-im Verdacht hatte, den Frieden zu suchen oder auch nur zu
-wünschen. Denn allmählich war er dazu gekommen, nicht
-nur im Vaterlande, sondern auch im Kriege selbst eine
-heilige Sache zu sehen. Unter den Opfern seiner Böswilligkeit
-war Clerambault sein beliebtestes. Bertin konnte nicht
-verzeihen, daß er gewagt hatte, seinen Angriffen standzuhalten.
-Die Erwiderung Clerambaults hatte ihn anfangs
-wütend gemacht. Als Clerambault aber dann verächtlich auf
-seine Anschuldigungen und Beschimpfungen kein Wort mehr
-erwiderte, verlor er jedes Maß. Seine gewaltsam aufgeblähte
-übermütige Eitelkeit war davon so verletzt, daß einzig
-die vollständige, restlose Vernichtung des Gegners ihn noch
-befriedigen konnte. Clerambault erschien ihm nicht mehr
-bloß als persönlicher Feind, sondern als Feind des Staates,
-als Hochverräter, und er setzte alle Mühe daran, dafür Beweise
-zu erbringen, stempelte ihn zum Zentrum eines großen
-pazifistischen Komplotts, dessen Lächerlichkeit zu jeder anderen
-Zeit jedem in die Augen gesprungen wäre. Aber damals
-hatte man keine Augen mehr. Gerade in den letzten
-Wochen überstieg die Polemik Bertins in Ansprung und
-Heftigkeit alles, was er bisher geschrieben hatte. Sie bedeutete
-eine wirkliche Drohung für all jene, die der Ketzerei
-des Friedenswillens schuldig oder verdächtig waren.</p>
-
-<p>Mit lärmender Befriedigung wurde daher die Nachricht
-von seinem Tode in der kleinen Versammlung aufgenommen,
-und man hielt ihm seine Grabrede in einer Tonart,
-die an Energie nichts den Meistern dieser Gattung
-nachgab. Clerambault, in die Zeitung vertieft, hörte kaum
-zu, als einer, der an seiner Seite saß, ihm auf die Schulter
-klopfte und sagte:</p>
-
-<p>„Nicht wahr, das macht Ihnen Vergnügen?“</p>
-
-<p>Clerambault fuhr auf.</p>
-
-<p>„Vergnügen!“ sagte er. „Vergnügen!“ wiederholte er.</p>
-
-<p>Er nahm seinen Hut und ging weg.</p>
-
-<p>Er trat auf die dunkle Straße, deren Lichter wegen eines
-Luftangriffalarms abgelöscht waren.</p>
-
-<p>In seinen Gedanken sah er ein feines Knabengesicht voll
-warmer Blässe, mit schönen, zärtlichen, braunen Augen, gelocktem
-Haar, belebtem und lachendem Munde, mit klingendem
-Stimmfall.... Bertin zur Zeit ihrer ersten Begegnung,
-als sie beide noch siebzehn Jahre alt waren. Und
-er gedachte ihrer langen, einsamen Nachtwachen, ihrer teuren
-Vertrautheit, ihrer Gespräche und Träume — denn
-auch Bertin träumte damals. Trotz all seines praktischen
-Sinnes, seiner frühreifen Ironie konnte er sich nicht unerfüllbarer
-Hoffnungen erwehren, nicht der edlen Projekte
-für eine neue Menschheit. Ach, wie die Zukunft doch ihren
-Kinderblicken schön erschienen war, und wie bei solchen Visionen
-in verzückten Augenblicken ihre beiden Herzen sich
-leidenschaftlich in liebender Freundschaft hingaben!</p>
-
-<p>Und was hatte nun das Leben aus ihnen beiden gemacht!
-Was für eine hartnäckige Erbitterung, was für ein haßvolles
-Bestreben Bertins, seine eigenen Träume von einst
-und den Freund, der ihnen treu geblieben, zu Boden zu
-stampfen! Und er selbst, Clerambault, der sich vom gleichen
-mörderischen Sturm hinreißen ließ, und versuchte, Schlag
-auf Schlag den Gegner blutig zu treffen... der — voll
-Entsetzen gestand er sich’s ein — im ersten Augenblick, als
-er vom Tode des einstigen Freundes hörte, eine Art Erleichterung
-empfunden hatte.... Was für ein Dämon
-wirkt doch in uns, was für schlechte Instinkte steigen in uns
-auf?</p>
-
-<p>In diesen Gedanken verloren, hatte er seinen Weg verfehlt.
-Er bemerkte, daß er in die entgegengesetzte Richtung
-ging, statt nach Hause. Vom Himmel her, der vom Lichtkeil
-der Scheinwerfer durchschnitten war, hörte man furchtbare
-Explosionen. Zeppeline waren über der Stadt. Von den
-Festungswerken donnerten die Kanonen, Luftkämpfe spielten
-sich ab. Wofür zerrissen sich denn diese rasenden Völker?
-Um alle dorthin zu gelangen, wo jetzt Bertin war, in jenes
-Nichts, das gleichermaßen alle Menschen und alle Vaterländer
-erwartet, sie und alle anderen, die Revolutionäre, die
-andere Gewalttätigkeiten vorbereiten, andere mörderische
-Ideale den bisherigen entgegenstellen, neue Götzen der
-Schlächterei, die der Mensch sich selbst unablässig erschafft,
-um seine bösen Instinkte zu adeln.</p>
-
-<p>Mein Gott, fühlen sie denn nicht die Dummheit ihres rasenden
-Tuns, im Angesicht der Sterbenden, mit deren jedem
-die ganze Menschheit in den Abgrund stürzt? Wie können
-Millionen Wesen, die doch nur einen Augenblick zu leben
-haben, sich so abmühen, diesen Augenblick durch ihren erbitterten
-und lächerlichen Ideenkampf sich so zur Hölle zu
-machen? Bettler sind sie alle, die einander für eine Handvoll
-Kupfermünzen, die man ihnen hinwirft und die überdies
-falsch sind, gegenseitig erschlagen! Alle sind sie gleicher
-Weise verurteilte Opfer, und statt sich zusammenzuschließen,
-kämpfen sie wider einander.... Ach, ihr Unglücklichen,
-geben wir einander doch den Friedenskuß! Auf jeder Stirn,
-die an mir vorübergleitet, sehe ich den Schweiß des Todeskampfes....</p>
-
-<p>Aber ein Menschenhaufen, Männer und Weiber, an denen
-er vorüberkam, brüllte und heulte vor Freude.</p>
-
-<p>„Er fällt! Einer fällt! Die Schweinehunde verbrennen!...“</p>
-
-<p>Und die beutegierigen Vögel wiederum, die da oben schwebten,
-jauchzten in ihrem Herzen bei jedem Todeswurf, den
-sie über die Stadt säten. Waren sie nicht wie Gladiatoren,
-die sich gegenseitig in der Arena die Brust durchstoßen, nur
-damit ein unsichtbarer Nero zufrieden sei?</p>
-
-<p>Oh, meine armen Brüder in Ketten!</p>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<div><h1>Fünfter Teil</h1></div>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<div class='blockquote-right30percent'>
-
-<p class='noindent'><span class='it'>They also serve who only
-stand and wait.</span>&nbsp;&nbsp;&nbsp;<span class='gesp'>Milton</span></p>
-
-</div>
-
-<p><span class='dropcap'>N</span>och einmal fand er sich in der Einsamkeit wieder. Nun
-aber schien ihm die Einsamkeit, so wie er sie nie gesehen,
-schön und still, mit einem gütigen Antlitz, zärtlichen
-Augen und sanften Händen, die ihre beruhigende Kühle auf
-seine Stirn legten. Und diesmal wußte er, daß die göttliche
-Gefährtin ihn erwählt hatte.</p>
-
-<p>Es ist nicht jedermanns Sache, allein zu sein. Viele klagen
-mit einem geheimen Stolz darüber, es zu sein, und durch
-Jahrhunderte klingt diese Klage, aber sie beweist, den
-Klagenden unbewußt, daß sie nicht Erwählte der Einsamkeit
-waren, nicht ihre Vertrauten. Sie haben nur die
-erste Tür aufgetan und warten gelangweilt im Vorraum.
-Doch sie haben nicht die Geduld gehabt zu warten, bis sie
-an die Reihe kamen, einzutreten, oder ihr Aufbegehren hat sie
-wieder ausgestoßen. Man dringt nicht in das Herz der
-Einsamkeit ohne die Gabe der Gnade oder ohne fromm erduldete
-Prüfung. Es tut not, vor der Türe den Staub des
-Weges zurückzulassen, die lärmenden Stimmen der Außenwelt,
-die kleinen eigensüchtigen, eitlen Gedanken, den klagenden
-Aufruhr enttäuschter Liebe und verwundeten Strebens.
-Gleich den reinen orphischen Schatten, deren sterbende
-Stimme uns auf goldenen Täfelchen erhalten blieb, muß
-man nackt und allein die „dem Kreise der Schmerzen entflohene
-Seele der eisigen Quelle darbieten, die dem See
-des Erinnerns entspringt.“</p>
-
-<p>Es ist das Wunder der Auferstehung. Wer seinen sterblichen
-Leib verläßt und meint, alles verloren zu haben, entdeckt,
-daß er erst jetzt in sein wahres Wesen tritt. Und nicht
-nur er selbst, auch die anderen sind ihm nun zurückgegeben,
-und er sieht, daß er sie bis jetzt noch nie besessen. Draußen
-im Getümmel konnte er nie über die Köpfe der Nächsten
-hinwegsehen und selbst dem Nächsten, der, gegen seine Brust
-gepreßt, ihn fortschob, konnte er nicht lange in die Augen
-schauen. Es fehlt an Zeit und fehlt an Abstand. Man spürt
-nur das Zusammenstoßen von Körpern, die sich in ihren gemeinsam
-enggedrängten Schicksalen zerpressen und die der
-dichte Strom des Massenschicksals weiterdrängt. Seinen
-Sohn hatte Clerambault erst erkannt, als er schon tot war.
-Und die flüchtige Stunde, da er und seine Tochter sich erfühlten,
-war jene, wo schon alle Bande des verhängnisvollen
-Wahns vom Übermaß des Schmerzes gelöst waren.</p>
-
-<p>Nun da er auf dem Weg allmählichen Ausschaltens und Auslesens
-in die Einsamkeit gelangt und, wie man meinen sollte,
-von der Leidenschaft der Lebendigen abgeschieden war, nun
-fand er sie alle wieder in einer leuchtenden Vertrautheit.
-Alle, nicht nur die Seinen, seine Frau, seine Kinder, sondern
-alle die Wesen, die er bisher irrig mit seiner schönrednerischen
-Liebe zu umfassen gemeint hatte — alle malten sich auf dem
-Grunde seiner inneren Dunkelkammer ab. Am nächtigen
-Strom des Schicksals, der die Menschheit hinreißt, des
-Schicksals, das er mit ihr selbst verwechselt hatte, schienen
-ihm die Millionen Kämpfender wie ringende Balken in der
-Flut, und jeder Mensch war für sich eine Welt von Freude
-und Leiden, Traum und Bemühung. Und jeder Mensch war
-auch das Ich. Ich neige mich über ihn und sehe mich selbst.
-„Ich“ sagen mir seine Augen, „Ich“ sagt mir sein Herz.
-Ach, wie ich euch jetzt verstehe, wie doch eure Irrtümer die
-meinen sind. Selbst in der Erbitterung jener, die mich bekämpfen,
-erkenne ich dich, mein Bruder, ich lasse mich nicht
-täuschen: ich bin es selbst.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>V</span>on nun ab begann Clerambault die Menschen nicht mehr
-mit seinen Augen zu sehen, mit den Augen unter seiner
-Stirn, sondern mit seinem Herzen. Er sah sie nicht mehr
-mit seiner Idee als Pazifist, als Tolstoianer (was ja nur
-wiederum ein anderer Wahn ist), sondern aus dem Denken
-jedes einzelnen heraus, indem er sich in ihn verwandelte.
-Und er entdeckte, er durchschaute die Menschen seiner Umgebung,
-gerade diejenigen, die ihm die feindlichsten waren,
-die Intellektuellen und die Politiker, er sah ihre Falten,
-ihre weiß gewordenen Haare, den bitteren Zug um den
-Mund, ihren gekrümmten Rücken und ihre gebrechlichen
-Beine, sah, wie sie angespannt, angekrampft waren und jeden
-Augenblick in Gefahr, zusammenzubrechen.... Wie waren
-sie doch gealtert in den letzten sechs Monaten! Im Anfang hatte
-die Kampfbegeisterung sie noch aufgestrafft, aber je länger
-der Krieg fortdauerte, je mehr (was immer auch für einen
-Ausgang er nehmen würde) seine ungeheuren Verheerungen
-zur Gewißheit wurden, desto mehr lastete auf jedem die
-Trauer um Gefallene und die Furcht, das Wenige, was ihm
-geblieben war und das für ihn ein Unendliches bedeutete, zu
-verlieren. Sie taten alles, um ihre Angst nicht zu verraten,
-mit der äußersten Qual preßten sie die Zähne zusammen, aber
-selbst bei den Gläubigsten unter ihnen war die Wunde des
-Zweifels offen.... Freilich, man mußte schweigen! Darüber
-durfte man nicht sprechen; es aussprechen, hieß sich selbst vernichten....
-Clerambault, der sich an Madame Mairet erinnerte,
-gelobte sich, von Mitleid durchdrungen, zu schweigen.
-Aber es war schon zu spät, man kannte seine Anschauungen,
-er war gewissermaßen die lebendige Verneinung, das wandelnde
-Gewissen. Man haßte ihn, aber Clerambault war
-ihnen darum nicht mehr böse. Am liebsten hätte er ihnen
-geholfen, ihre Illusionen wieder neu aufzubauen.</p>
-
-<p>Von welch tragischer Größe, wie bemitleidenswert wird doch
-diese Leidenschaft einer Überzeugung im Innern einer Seele
-gerade dann, wenn sie sich selbst ihrer nicht mehr sicher fühlt.
-Bei den Politikern bedient sich diese Leidenschaft des lächerlichen
-Apparats der scharlatanhaften Deklamation, bei den
-Intellektuellen des tollen Trotzes krankhaft überreizter Gehirne.
-Aber des ungeachtet sah man überall die unheilbare
-Wunde, hörte den Angstschrei nach Gläubigkeit, den Schrei
-nach dem heroischen Wahn. Bei den jungen und schlichteren
-Menschen nahm diese Gläubigkeit einen rührenden
-Charakter an, bei ihnen gab es nicht dieses Pathos, dieses
-vorgetäuschte Allwissen. Nur den Schwur ekstatischer Liebe
-kannte sie, die alles hingegeben hat und dafür nur ein Wort
-erwartet, die Antwort: „Ja, es ist wahr, du lebst, meine Geliebte,
-mein Vaterland, du göttliche Macht, die mir das
-Leben und alles, was ich liebte, genommen hat....“ Und
-man fühlte ein Verlangen, sich hinzuknien vor diesen armen,
-kleinen Trauerkleidern, diesen Müttern, Bräuten und Schwestern,
-ihre abgemagerten Hände zu küssen, die vor Hoffnung
-und Furcht eines Jenseits zitterten, und zu sagen: „Weint
-nicht! Ihr werdet getröstet sein!“</p>
-
-<p>Aber wie sie trösten, wenn man nicht an jenes Ideal glaubt,
-das sie leben läßt und das sie tötet? Ohne daß er sie kommen
-gefühlt, war die lange gesuchte Antwort endlich ihm
-nahe geworden, die Antwort: „Man muß die Menschen
-mehr als den Wahn und mehr als die Wahrheit lieben.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>ie Liebe Clerambaults fand keine Gegenliebe. Niemals
-war er mehr attackiert worden, obwohl er schon seit Monaten
-keine Zeile mehr veröffentlicht hatte, und im Herbst
-1917 erreichten die Angriffe gegen ihn ein ganz unerhörtes
-Maß von Gewalttätigkeit. Lächerlich war dieses Mißverhältnis
-zwischen der schwachen Stimme dieses einzelnen Mannes
-und jenen Wutausbrüchen, doch dieses Mißverhältnis ergab
-sich gleicherweise in allen Ländern der Welt. Ein Dutzend armseliger,
-isolierter, engumschlossener Pazifisten, die keine Möglichkeit
-besaßen, in irgendeiner großen Zeitung zu Worte zu
-kommen, und die ihre gewiß rechtliche, aber doch nicht weitklingende
-Stimme kaum erheben konnten, entfesselte eine
-wahre Frenesie von Beschimpfungen und Drohungen gegen
-sich. Beim kleinsten Widerspruch verfiel das vielköpfige Ungeheuer,
-die öffentliche Meinung, sofort in Epilepsie. — Der
-weise Perrotin, der sich sonst über nichts wunderte, der klug
-abseits geblieben war und Clerambault in sein Verderben
-rennen ließ (da sein Herz es so wollte), erschrak im stillen
-vor diesem aufschäumenden Übermaß tyrannischer Dummheit.
-Ist man einmal in der Geschichte um Jahre über
-solche Zeiten hinaus, so wird man darüber lächeln, aber von
-nahe gesehen, merkte man, daß die menschliche Vernunft damals
-dicht vor dem Zusammenbruche stand. Man mußte sich
-fragen, warum gerade in diesem Kriege die Menschen viel
-allgemeiner ihre Ruhe verloren hatten als in jedem anderen
-der Vergangenheit. Ist er denn wirklich gewalttätiger gewesen?
-Kinderei! Und bewußtes Vergessen alles dessen,
-was zu unserer Zeit vor unseren Augen geschehen ist in
-Armenien, auf dem Balkan, bei der Niederdrückung der
-Kommune, in Kolonialkriegen und bei den neuen Konquistadoren
-Chinas und des Kongos.... Von allen Wesen
-der Erde ist, wir wissen es ja, der Mensch das grausamste
-Tier. — Oder kam es davon, daß sich die Menschen besonders
-auf diesen Krieg vorbereitet hatten? Im Gegenteil!
-Die Völker des Abendlandes waren an einem Punkt
-der Entwicklung angelangt, wo der Krieg dermaßen absurd
-wird, daß es unmöglich ist, ihn bei voller, bewußt bewahrter
-Vernunft durchzuführen. Deshalb war es nötig,
-die Vernunft zu betäuben, zu delirieren, wollte man nicht
-den Tod erleiden, den Tod durch Verzweiflung oder durch den
-schwärzesten Pessimismus. Deshalb regte auch die Stimme
-eines einzelnen, der seine Vernunft behalten hatte, die anderen,
-die alle gewaltsam vergessen wollten, so zum Zorn
-auf, denn sie hatten Angst, diese Stimme könne sie selbst
-erwecken und sie würden ernüchtert, nackt sich selbst und ihrer
-ganzen Schmach ins Auge sehen müssen.</p>
-
-<p>Überdies war damals die Situation für den Krieg ungünstig.
-Die große neuangefachte Hoffnung auf den Sieg
-und den Ruhm verflüchtigte sich, denn immer klarer wurde
-es, von welcher Seite man auch das Problem betrachtete,
-daß der Krieg für alle Beteiligten ein sehr schlechtes Geschäft
-sein würde. Weder die materiellen Interessen, noch der
-Ehrgeiz, noch der Idealismus schienen auf ihre Rechnung
-zu kommen, und diese bittere bald bevorstehende Enttäuschung,
-daß Millionen Menschen ohne Resultat aufgeopfert
-sein sollten, ließ die Menschen, die sich moralisch verantwortlich
-fühlten, vor Wut schäumen. Sie hatten nur zwei Möglichkeiten,
-entweder sich selbst anzuklagen oder sich an anderen
-zu rächen. Und da fiel ihnen die Wahl natürlich nicht
-schwer. Wer diesen Mißerfolg vorausgesehen und alles
-daran gesetzt hatte, ihn zu verhindern, den machten sie nun
-verantwortlich für das Mißlingen. Jeder Rückzug in der
-Armee, jede Dummheit der Diplomaten suchte sich sofort
-mit einer pazifistischen Machination zu entschuldigen. Diesen
-Menschen, die niemand kannte, die bei niemand beliebt
-waren und auf die niemand hörte, schrieben ihre Gegner
-eine ungeheure Macht zu, eine ganze Organisation der Niederlage.
-Und damit niemand sich darüber täusche, daß sie
-nicht den starken Sieg wollten, hing man ihnen das Wort
-„Flaumacher“ um den Hals. Es fehlte nur noch, daß man, so
-wie einst in der guten alten Zeit die Ketzer, sie auch verbrannte.
-Der Henker war noch nicht zur Stelle, wohl aber
-die Henkersknechte.</p>
-
-<p>Um in Schwung zu kommen, hielt man sich zunächst an ungefährliche
-Leute, an Frauen, Lehrer, die niemand kannte,
-und die sich schlecht zu verteidigen wußten. Dann erst suchte
-man sich die saftigeren Bissen aus. Für gerissene Politiker
-war das eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich gefährlicher
-Rivalen zu entledigen, die einige unangenehme Geheimnisse
-ihrer Herren von gestern wußten. Und nach dem alten
-Rezept vermischte man dann in geschickter Weise die Anklagen,
-nähte gemeine Schwindler und jene Menschen, deren
-Charakter oder Geist beunruhigte, in denselben Sack, damit
-bei diesem Mischmasch das verdutzte Publikum nicht einmal
-mehr versuchen konnte, einen anständigen Menschen von
-einem Lumpen zu unterscheiden. Wer noch nicht genügend
-durch seine Tätigkeit kompromittiert war, galt dann als
-kompromittiert durch seine Bekanntschaften und seine Beziehungen.
-Und fehlten auch diese, so konnte man sie ja
-herbeischaffen, sie wurden ganz nach Maß des Anklageaktes
-jederzeit rasch zurechtgeschnitten.</p>
-
-<p>War es festzustellen, ob Xavier Thouron im bestellten Auftrage
-Clerambault aufsuchte? Es wäre wohl möglich gewesen,
-daß er aus eigenem Antrieb kam, freilich, wer konnte
-sagen, zu welchem Zweck. Wußte er es selbst? Im Sumpf
-der Großstadt gibt es immer skrupellose, fieberhaft tätige
-arbeitsscheue Abenteurer, die überall wie die Wölfe herumschnüffeln
-und suchen, „<span class='it'>quem devorent</span>“. Ihr Hunger
-und ihre Neugier sind ungeheuer und alles dient ihnen
-dazu, dieses bodenlose Faß zu füllen. Schwarz oder Weiß,
-sie tun alles ohne Gewissensbedenken, sie sind ebenso bereit,
-einen ins Wasser zu werfen, wie hineinzuspringen, um ihn
-herauszuziehen. Um ihr Leben haben sie keine Angst, sie
-wollen nur das Tier in sich füttern und amüsieren. Wenn
-solche Menschen nur für einen Augenblick aufhörten, ihre
-Grimassen zu schneiden und zu schlingen, würden sie an
-Langeweile und Selbstabscheu zugrunde gehen. Aber damit
-hat es keine Not, dazu sind sie zu klug; sie verlieren keine
-Zeit damit, darüber nachzudenken, wie sie „in Schönheit
-sterben“ könnten.</p>
-
-<p>Niemand hätte recht sagen können, was Thouron eigentlich
-wollte, als er Clerambault aufsuchte. Wie immer war
-er ausgehungert, herumgehetzt, ziellos und nach einem Braten
-schnuppernd. Er gehörte zu den Seltenen seiner Klasse
-(und damit zum Typ der großen Journalisten), die, ohne
-sich die Mühe zu nehmen, das, worüber sie sprechen, zuvor
-zu lesen, sich doch rasch eine lebendige, blendende und oft
-wie durch ein Wunder sogar ziemlich richtige Vorstellung
-machen können. Ohne zuviel Irrtümer entwickelte er Clerambaults
-„Evangelium“ und tat so, als ob er daran
-glaube. Vielleicht glaubte er wirklich daran, solange er
-sprach. Warum auch nicht? Er war ja auch zu gewissen
-Stunden Pazifist. Das hing vom Wind ab, der gerade
-wehte, von der Haltung gewisser Kollegen, denen er gerade
-nachbetete oder denen er widersprach. Clerambault war von
-seinen Worten berührt. Nie hatte er sich ganz das kindliche
-Vertrauen in den ersten Besten, der ihn um Hilfe bat, abgewöhnen
-können, und dann war er von den gegnerischen
-Zeitungen nicht allzu verwöhnt. In der Überfülle des
-Herzens ließ er sich also seine geheimsten Gedanken entlocken.
-Der andere nahm sie in scheinbarer Ergebenheit auf.</p>
-
-<p>Eine so eng eingegangene Bekanntschaft konnte nicht auf
-diesem Punkt stehen bleiben. Ein Briefwechsel begann zwischen
-den beiden, in dem der eine sprach und der andere ihn
-zum Sprechen verlockte. Thouron wollte durchaus Clerambault
-bereden, seine Gedanken in kleinen populären
-Traktaten auszusprechen, und bot sich an, sie in den Arbeiterkreisen
-zu verbreiten. Clerambault zögerte und sagte
-schließlich nein, und zwar nicht deshalb, weil er aus Prinzip
-(wie es heuchlerisch die Anhänger der bestehenden Ordnung
-und Ungerechtigkeit tun) die geheime Propaganda einer
-neuen Wahrheit mißbilligte, wenn keine öffentliche möglich
-war — jede unterdrückte Wahrheit flüchtet sich ins
-Unterirdische, in die Katakomben —, sondern er sagte
-nein, weil er sich seinerseits für eine solche Form der Wirksamkeit
-nicht bestimmt fühlte. Seine Aufgabe war, ganz
-offen zu sagen, was er dachte, und die Folgen seiner
-Worte auf sich zu nehmen. Das Wort mußte sich dann
-durch sich selbst verbreiten — seine Aufgabe konnte
-nicht sein, es den Menschen ins Haus zu tragen. Überdies
-warnte ihn ein geheimer Instinkt — er wäre errötet,
-hätte er sich erlaubt, ihn wach werden zu lassen —, eine
-Art von Mißtrauen gegen die dienstfertig angebotene Hilfe
-seines neuen Commis voyageur. Freilich konnte er dessen
-Eifer nicht immer im Zaume halten. Thouron veröffentlichte
-in seiner Zeitung eine Verteidigung Clerambaults,
-erzählte darin über seine Gespräche und Besuche, entwickelte
-die Gedanken seines Meisters und kommentierte sie. Clerambault
-war sehr erstaunt, als er seine eigenen Gedanken
-dort las, denn er kannte sie in dieser Form nicht wieder.
-Dennoch konnte er aber seine Vaterschaft nicht verleugnen,
-denn in die Kommentare Thourons waren Zitate aus seinen
-Briefen eingefügt, deren Text vollkommen korrekt war. Freilich
-erkannte er sich in diesen noch weniger, denn die selben
-Sätze nahmen in den Zusätzen, in die sie eingepfropft
-waren, einen Akzent und eine Farbe an, die er ihnen nie
-gegeben hatte. Dazu kam, daß die Zensur, besorgt um das
-Heil des Staates, hie und da aus den Zitaten eine halbe
-Zeile oder ganze Zeilen und ganz unschuldige Absätze herausgeschnitten
-hatte, deren Unterdrückung natürlich dem
-überreizten Gefühl des Lesers die ungeheuerlichsten Dinge
-suggerierte. Die Wirkung dieser Veröffentlichung ließ selbstverständlich
-nicht auf sich warten; es war Öl ins Feuer,
-und Clerambault wußte nicht, welche Heiligen er anrufen
-sollte, um seinen Verteidiger zum Schweigen zu bringen.
-Böse konnte er ihm freilich nicht sein, denn Thouron bekam
-auch sein gutes Teil an Drohungen und Beschimpfungen
-ab, nahm sie aber entgegen, ohne mit der Wimper zu
-zucken. Sein Fell war schon von früher reichlich gegerbt.</p>
-
-<p>Daß sie beide gemeinsam beschimpft worden waren, schien
-Thouron ein Verfügungsrecht über Clerambault zu geben.
-Zuerst versuchte er, ihm Aktien seiner Zeitung anzuhängen,
-und nahm ihn dann, ohne ihn vorher zu verständigen, öffentlich
-in das Ehrenkomitee seines Blattes auf. Er war
-sehr ungehalten darüber, daß Clerambault, der erst einige
-Wochen später davon erfuhr, damit nicht zufrieden war, und
-von nun ab erkalteten ihre Beziehungen, obwohl Thouron
-nicht aufhörte, deshalb doch von Zeit zu Zeit in seinen Artikeln
-den Namen seines „berühmten Freundes“ wie eine Fahne
-zu hissen.... Clerambault ließ es ruhig geschehen, überglücklich,
-ihn um diesen Preis los zu sein. Und er hatte ihn
-schon ganz aus den Augen verloren, als er eines Tages
-hörte, Thouron sei verhaftet. Man beschuldigte ihn irgendeiner
-schmutzigen Geldangelegenheit, in der die öffentliche
-Erregtheit natürlich die Hand des Feindes sehen wollte.
-Die dem von höherer Stelle gegebenen Wink immer gehorsame
-Justiz fand natürlich zwischen diesen Mogeleien und
-der sozusagen pazifistischen Tätigkeit, die Thouron in seinem
-Blatte abwechselnd mit plötzlichen Anfällen von Kriegswut
-ab und zu, aber nie regelmäßig und bewußt, entwickelt
-hatte, Zusammenhänge. Selbstverständlich machte man
-ihn zum Teilhaber an dem Defaitistenkomplott. Und die
-Beschlagnahme seiner Korrespondenz gab nun gute Gelegenheit,
-alle diejenigen zu kompromittieren, die man
-gerade kompromittieren wollte. Thouron hatte sich sorgfältig
-alle an ihn gerichteten Briefe aufbewahrt, es waren
-darunter solche von allen Parteien, und nun konnte man
-nach Belieben auswählen. Und man wählte.</p>
-
-<p>Clerambault erfuhr durch die Zeitungen, daß auch er zu den
-Erwählten zählte. Nun jubelten sie! Endlich hatte man
-ihn erwischt! Jetzt erklärte sich ja alles. Denn nicht wahr,
-dafür, daß irgendein Mensch anders denkt, als die ganze
-Welt, dafür muß doch irgendein unterirdischer niedriger Beweggrund
-vorhanden sein! Man muß ihn nur suchen, dann
-wird man ihn schon finden.... Nun hatte man ihn gefunden.
-Ohne weiteres abzuwarten, kündigte ein Pariser
-Blatt öffentlich den „Verrat“ Clerambaults an. In den
-Akten der Justiz war dafür natürlich kein Beleg, aber die
-Justiz ließ es ruhig sagen und berichtigte nicht, es ging sie
-ja nichts an. Vergebens bat Clerambault den Untersuchungsrichter,
-zu dem er berufen ward, man möchte ihm
-doch sagen, was für ein Delikt er begangen habe. Der
-Richter war höflich, zeigte alles Entgegenkommen, das
-einem Mann seines Namens gebührte, schien aber keine
-Eile zu haben, zu einem Ende zu kommen. Es war, als ob
-er noch auf irgendetwas wartete ... Worauf?... Auf das
-Delikt.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>F</span>rau Clerambault hatte nichts von einer antiken Römerin
-oder von dem Geiste der stolzen Jüdin in der berühmten
-Affäre, die Frankreich vor ungefähr zwanzig Jahren in
-einem leidenschaftlichen Widerspruch zerriß — von jenen
-Frauen, die gerade durch die öffentliche Ungerechtigkeit
-gegen ihren Mann nur noch enger mit ihm verbunden werden.
-Ihr wohnte jener Instinkt ängstlichen Respekts der
-französischen Bourgeoisie vor der staatlichen Justiz inne,
-und obwohl sie guten Grund hatte zu wissen, daß die Beschuldigungen
-gegen Clerambault nicht stichhaltig waren, so
-schien ihr die Tatsache selbst, daß er überhaupt unter Anklage
-stand, schon eine Unehre, von der sie sich beschmutzt
-fühlte. Sie konnte nicht schweigend darüber hinwegkommen.
-Clerambault fand als Antwort auf ihre Vorwürfe,
-ohne es selbst zu wollen, gerade die Form, die sie am meisten
-außer sich brachte. Statt ihr zu entgegnen oder zum mindesten
-sich zu verteidigen, sagte er nur:</p>
-
-<p>„Du Arme.... Ja, ja, ich verstehe dich ja.... Es ist ein Unglück
-für dich.... Ja, ja, du hast ja recht ...“</p>
-
-<p>Und er wartete, bis das Unwetter vorüber war. Diese ruhige
-Hinnahme brachte Frau Clerambault, die wütend war,
-ihm nicht beikommen zu können, gänzlich aus der Fassung.
-Denn sie fühlte vollkommen, daß er nichts an seiner Handlungsweise
-ändern würde, obwohl er ihr recht gab. Aus
-Verzweiflung ließ sie ihm das letzte Wort und schüttete
-ihre ganze Erbitterung vor ihrem Bruder aus. Leo Camus
-war der Letzte, ihr zur Nachsicht zu raten, er schlug ihr
-vielmehr vor, sich scheiden zu lassen, ja, er stellte ihr dies
-sogar als ihre Pflicht hin. Aber das war zuviel verlangt.
-Der traditionelle Abscheu vor der Ehescheidung ließ in
-dieser braven Bürgerfrau erst so recht das Bewußtsein ihrer
-tiefen Treue erwachen. Das Heilmittel schien ihr schlimmer
-als das Übel. So blieben die beiden Eheleute beisammen,
-aber die Innigkeit ihrer Gemeinschaft war dahin.</p>
-
-<p>Rosine war fast immer abwesend. Um ihre Qual zu vergessen,
-bereitete sie sich für eine Krankenpflegerinprüfung
-vor und verbrachte den größten Teil des Tages außerhalb
-des Hauses. Aber auch wenn sie daheim war, weilten
-ihre Gedanken anderwärts. Clerambault hatte die einstige
-Stellung im Herzen seiner Tochter verloren, ein anderer
-hatte sie inne: Daniel. Sie blieb kühl gegenüber den zärtlichen
-Annäherungen ihres Vaters: es war dies für sie eine
-Art, ihn dafür zu bestrafen, daß er absichtslos den Bruch mit
-dem Freunde verursacht hatte. Sie war sich vollkommen
-dieser Abwehr bewußt und zu gerecht, um sich daraus nicht
-einen Vorwurf zu machen. Aber das änderte nichts an
-ihrem Verhalten: ungerecht sein erleichtert das Herz.</p>
-
-<p>Auch Daniel vergaß nicht, daß er unvergessen war. Er
-mochte seine Handlungsweise nicht sehr rühmenswert finden
-und schob, um allen Gewissensbissen auszuweichen, die Verantwortung
-dafür seiner Umgebung zu, deren tyrannischer
-Meinungszwang ihn gebunden hätte. Aber im Innersten
-war er nicht recht befriedigt.</p>
-
-<p>Der Zufall kam den beiden schmollenden Verliebten zu
-Hilfe. Ernstlich, wenn auch nicht gefährlich verletzt, wurde
-Daniel nach Paris zurückgebracht. Während seiner Rekonvaleszenz
-begegnete er Rosine vor dem Bon Marché. Er
-zögerte einen Augenblick, doch sie tat nicht desgleichen, sondern
-kam auf ihn zu; sie gingen zusammen über den Platz
-und begannen eine lange Unterhaltung, die nach anfänglichem
-Zögern und einem Hin und Her von Vorwürfen und
-Geständnissen schließlich zu einer völligen Einigung führte.
-Und so sehr waren die beiden in ihre zärtliche Auseinandersetzung
-vertieft, daß sie Frau Clerambault nicht vorüberkommen
-sahen. Die gute Frau, wütend über diese für sie
-unerwartete Begegnung, lief schleunigst nach Hause, die
-Neuigkeit Clerambault zu übermitteln, denn trotz ihrer
-Unstimmigkeiten konnte sie vor ihm nicht schweigen. Auf ihre
-aufgeregte Erzählung — denn die Intimität ihrer Tochter
-mit einem Manne, dessen Familie sie beleidigt hatte, schien
-ihr unerhört unstatthaft — erwiderte Clerambault nach seiner
-neuen Gewohnheit zunächst nichts. Dann lächelte er, hob
-den Kopf und sagte schließlich:</p>
-
-<p>„Das ist ja ausgezeichnet.“</p>
-
-<p>Frau Clerambault unterbrach sich, zuckte mit den Achseln
-und machte Miene, aus dem Zimmer zu gehen. Bei der Tür
-aber wandte sie sich noch einmal um und sagte empört:</p>
-
-<p>„Diese Leute haben dich und deine Tochter beleidigt, und
-ihr waret beide einer Meinung, man solle nicht mehr mit
-ihnen verkehren. Jetzt macht deine Tochter, die sich von
-ihnen hat zurückweisen lassen, ihnen wieder Avancen und
-du findest das ausgezeichnet! Das soll der Teufel verstehen....
-Ihr seid ja Narren.“</p>
-
-<p>Clerambault versuchte ihr zu erklären, daß das Glück seiner
-Tochter nicht darin bestünde, seiner Meinung zu sein, und
-daß Rosine nur recht hatte, für ihren Teil die Dummheiten
-ihres Vaters gutzumachen.</p>
-
-<p>„Deine Dummheiten ... nun“, sagte Frau Clerambault,
-„das ist das erste vernünftige Wort, das du in deinem ganzen
-Leben ausgesprochen hast.“</p>
-
-<p>„Siehst du“, antwortete Clerambault.</p>
-
-<p>Er ließ sich von ihr versprechen, Rosine nichts zu sagen,
-damit sie ganz frei ihren kleinen Liebesroman durchführen
-könne.</p>
-
-<p>Als Rosine heimkehrte, strahlte ihr Gesicht, aber sie erzählte
-nichts. Für Frau Clerambault war es eine große
-Anstrengung, zu schweigen, Clerambault dagegen beobachtete
-mit zärtlichem Behagen, wie das Glück wieder im Gesicht
-seiner Tochter strahlte. Er wußte nicht genau, was vorgefallen
-war, aber er konnte es sich wohl denken — nämlich,
-daß Rosine ihn ganz einfach über Bord geworfen hatte.
-Zweifellos hatten die beiden Verliebten sich auf Kosten ihrer
-Eltern geeinigt und mit wundervoller Gleichmütigkeit die
-gegenseitigen Übertreibungen ihrer alten Leute einander
-preisgegeben. Daniel war in den Leidensjahren des Schützengrabens,
-ohne in seinem Patriotismus erschüttert zu
-sein, doch vom engherzigen Fanatismus seiner Familie frei
-geworden, Rosine wiederum — sie handelten Zug um Zug
-— hatte sanft zugegeben, daß ihr Vater im Irrtum war.
-Ihr frommes und ein wenig gleichgültiges Herz fand sich
-leicht mit der stoischen Unterwerfung Daniels unter die herrschende
-Ordnung zusammen, und sie hatten beschlossen, gemeinsam
-ihren Weg zu gehen, ohne sich weiterhin zu kümmern
-um die Zänkereien der Alten, die vor ihnen waren, und
-die sie nun hinter sich zurückließen. Über die Zukunft machten
-sie sich weiter keine Sorgen. So wie all die Millionen
-Wesen verlangten sie von der großen Welt nichts als ihr
-Teil an augenblicklichem Glück und schlossen die Augen
-vor dem Rest.</p>
-
-<p>Frau Clerambault war aus dem Zimmer gegangen, verärgert
-darüber, daß ihre Tochter nichts von der Begegnung
-erzählt hatte. Clerambault und Rosine träumten vor sich
-hin, er vor dem Fenster, seine Zigarre rauchend, Rosine eine
-Zeitung in der Hand, in der sie nicht las. Vor ihren inneren
-Augen versuchte sie, sich noch einmal die Einzelheiten ihrer
-eben erlebten Augenblicke wieder vorzumalen, da begegneten
-sie dem müden Gesicht ihres Vaters. Es war ein Ausdruck
-von Melancholie darin, der sie erschütterte. Sie stand auf,
-stellte sich hinter ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter
-und sagte mit einem kleinen Seufzer von Mitleid, der aber
-doch ihre innere Zufriedenheit nicht ganz verbergen konnte:</p>
-
-<p>„Armer Papa!“</p>
-
-<p>Clerambault hob die Augen, sah Rosine an, deren Züge
-gegen ihren eigenen Willen noch ganz hell und strahlend
-waren.</p>
-
-<p>„Das kleine Mädchen aber“, sagte er, „ist also nicht mehr
-arm?“</p>
-
-<p>Rosine errötete.</p>
-
-<p>„Warum sagst du das?“ fragte sie.</p>
-
-<p>Clerambault drohte mit dem Finger. Rosine neigte sich von
-rückwärts über ihn, lehnte ihre Wange an die Wange ihres
-Vaters.</p>
-
-<p>„Es ist also nicht mehr arm?“ wiederholte er.</p>
-
-<p>„Nein“, sagte Rosine, „im Gegenteil, sie ist jetzt sehr reich.“</p>
-
-<p>„So sag doch ein wenig, was hat sie alles?“</p>
-
-<p>„Sie hat ... natürlich zunächst ihren lieben Papa ...“</p>
-
-<p>„Oh, die kleine Lügnerin“, sagte Clerambault, während er
-versuchte, sich von ihr loszumachen und ihr in die Augen
-zu sehen.</p>
-
-<p>Aber Rosine bedeckte ihm die Augen und den Mund mit
-der Hand.</p>
-
-<p>„Nein, ich will nicht, daß du mich anschaust, ich will nicht,
-daß du noch weiterredest.“ Und sie umarmte ihn und sagte
-dann nochmals, während ihre Hand ihn umschmeichelte:</p>
-
-<p>„Armer Papa!“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>en Sorgen des Hauses war sie nun glücklich entkommen,
-und bald flog sie ganz aus dem Nest. Nach
-erfolgreicher Absolvierung ihrer Pflegerinprüfung wurde
-sie in ein Provinzspital gesandt: nun fühlten die Clerambaults
-noch schmerzlicher die Leere ihres Heims.</p>
-
-<p>Der Einsamere von ihnen war aber nicht Clerambault. Er
-wußte es und beklagte aufrichtig seine Frau, die weder stark
-genug war, ihm zu folgen, noch sich von ihm loszulösen. Er
-für seinen Teil konnte, was immer auch geschah, auf gewisse
-Sympathien zählen, ja, es war sogar gewiß, daß gerade
-eine Verfolgung neue erwecken und die bisher zurückgehaltenen
-ans Tageslicht bringen würde. Und eben in diesem
-Augenblick war eine sehr teure Zuneigung zu ihm gekommen.</p>
-
-<p>Eines Tages, als er allein in seinem Zimmer saß, läutete
-es, er ging hinaus und öffnete die Tür. Eine Dame, die er
-nicht kannte, überreichte ihm einen Brief und sagte, er sei
-für ihn bestimmt. Im Dunkel des Vorraumes glaubte sie
-anfangs, es mit einem Diener zu tun zu haben, und merkte
-erst später ihren Irrtum. Er wollte sie bitten, einzutreten,
-aber sie sagte:</p>
-
-<p>„Nein, ich bin nur die Überbringerin.“</p>
-
-<p>Sie ging wieder fort, aber kaum daß sie gegangen war, bemerkte
-er ein kleines Veilchensträußchen, das sie auf den
-Schrank bei der Tür hingelegt hatte.</p>
-
-<p>Im Briefe aber stand:</p>
-
-<p class='line' style='text-align:center;'>„<span class='it'>Tu ne cede malis, sed contra audentior ito.</span>“</p>
-
-<p>„Sie kämpfen für uns, und Ihr Herz ist in uns. Geben Sie
-uns Ihre Leiden, ich gebe Ihnen meine Hoffnung, meine
-Kraft, meine Liebe — ich, der ich nicht mehr tätig sein kann,
-der nur durch Sie tätig zu sein vermag.“</p>
-
-<p>Die jugendliche Inbrunst und die letzten, ein wenig mysteriösen
-Worte bewegten und erregten Clerambault. Er versuchte,
-sich das Bildnis seiner Besucherin zu erwecken. Sie
-war nicht mehr ganz jung gewesen: ziemlich scharfe Züge,
-dunkle und ernste Augen, die leise aus dem matten Antlitz
-lächelten. Wo hatte er sie nur schon gesehen? Aber trotz
-aller inneren Mühe verschwand das Bild immer mehr.</p>
-
-<p>Schon einige Tage später fand er die Fremde in einer Allee
-des Luxembourggartens einige Schritte vor sich wieder. Sie
-ging an ihm vorbei, aber er überquerte die Allee, um ihr
-zu begegnen. Sie blieb stehen, als sie ihn kommen sah. Er
-dankte ihr und fragte sie, warum sie so rasch fortgegangen
-sei, ohne sich ihm bekanntzumachen? In diesem Augenblick
-bemerkte er, daß er sie seit langem kannte. Schon oft war
-er ihr früher im Luxembourggarten oder den umliegenden
-Straßen mit einem großen Jungen, offenbar ihrem Sohne,
-begegnet, und immer, wenn er an ihnen vorbei kam, hatten
-ihn ihre Blicke mit einem leisen Lächeln vertrauter Ehrfurcht
-begrüßt und, ohne daß er ihren Namen wußte, ohne
-daß er jemals mit ihnen ein Wort gewechselt hatte, gehörten
-sie für ihn zu jenen lieben und vertrauten Schatten, die
-unser tägliches Leben begleiten, und die wir nicht immer bemerken,
-solange sie neben uns sind, die uns aber sofort eine
-Leere fühlen lassen, sobald sie verschwinden. Deshalb übertrug
-sich unbewußt auch sein Gedanke von der Frau vor
-ihm auf den jungen Begleiter, der ihm an ihrer Seite fehlte,
-und er sagte mit einer plötzlichen unvorsichtigen Eingebung
-(unvorsichtig, denn wer weiß in diesen Zeiten der Trauer
-jene, die noch in der Welt der Lebendigen sind?):</p>
-
-<p>„War es Ihr Sohn, der an mich geschrieben hat?“ „Ja“,
-sagte sie, „er liebt Sie sehr. Wir lieben Sie seit langem.“</p>
-
-<p>„Er soll doch zu mir kommen!“</p>
-
-<p>Ein Schatten von Traurigkeit verhüllte das Antlitz der
-Mutter.</p>
-
-<p>„Er kann ja nicht.“</p>
-
-<p>„Wo ist er denn? An der Front?“</p>
-
-<p>„Nein, hier.“</p>
-
-<p>Nach einem Augenblick des Schweigens fragte Clerambault:</p>
-
-<p>„Ist er verwundet?“</p>
-
-<p>„Wollen Sie ihn sehen?“ antwortete die Mutter.</p>
-
-<p>Clerambault begleitete sie. Sie schwieg, und er wagte nicht,
-zu fragen. Er sagte nur:</p>
-
-<p>„Zum mindesten haben Sie ihn um sich.“</p>
-
-<p>Sie verstand und reichte ihm die Hand.</p>
-
-<p>„Wir stehen einander sehr nahe.“</p>
-
-<p>Er wiederholte:</p>
-
-<p>„Aber Sie haben ihn wenigstens noch.“</p>
-
-<p>„Ich habe seine Seele“, sagte sie.</p>
-
-<p>Sie waren zu dem Haus gelangt, einem jener alten Gebäude
-aus dem siebzehnten Jahrhundert, in einer der engen
-und noch historisch erhaltenen Straßen zwischen dem Luxembourg
-und Saint-Sulpice, in denen noch die zusammengehaltene
-Schönheit des alten Paris sichtbar geblieben ist.
-Die große Tür selbst war tagsüber geschlossen, Frau Froment
-ging Clerambault voraus, stieg am Ende des steingepflasterten
-Hofes ein paar Schwellen empor und schloß
-die Tür der ebenerdig gelegenen Wohnung auf.</p>
-
-<p>„Mein kleiner Edme“, sagte sie, während sie die Zimmertür
-auftat, „eine Überraschung für dich!... Rate einmal ...“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault sah im Bett einen jungen Mann ausgestreckt,
-der ihn ansah. Das blonde Antlitz des Fünfundzwanzigjährigen,
-dem die Abendsonne einen rötlichen
-Schein gab, war von klugen Augen erhellt und schien so
-gesund und ruhevoll, daß man gar nicht auf den Gedanken
-einer Krankheit kam, wenn man ihn sah.</p>
-
-<p>„Sie!...“ sagte er, „Sie hier!“</p>
-
-<p>Eine freudige Überraschung verjüngte noch mehr seine knabenhaften
-Züge, aber weder sein Leib noch seine Arme
-machten eine Bewegung unter der Decke. Und Clerambault
-merkte, daß nur sein Kopf wirklich lebendig war.</p>
-
-<p>„Mama hat mich verraten“, sagte Edme Froment.</p>
-
-<p>„Sie wollten mich also nicht sehen?“ fragte Clerambault
-und neigte sich über sein Kissen. „Das will ich nicht sagen“,
-antwortete Edme, „ich möchte nur nicht gern gesehen
-werden.“</p>
-
-<p>„Und warum denn?“ fragte Clerambault gutmütig, mit
-einer leichten Anstrengung, heiter zu scheinen.</p>
-
-<p>„Weil man niemand einladet, wenn man nicht mehr zu
-Hause ist.“</p>
-
-<p>„Wo sind Sie denn?“</p>
-
-<p>„Mein Gott, ich möchte fast darauf schwören ... in einer
-ägyptischen Mumie....“</p>
-
-<p>Und er deutete mit einem Blick auf das Bett, in dem sein
-Körper unbeweglich lag.</p>
-
-<p>„Es ist kein Leben mehr darin“, sagte er.</p>
-
-<p>„Du bist der Lebendigste von uns allen“, protestierte eine
-Stimme neben ihm.</p>
-
-<p>Clerambault bemerkte auf der anderen Seite des Bettes
-einen jungen Mann etwa im Alter Edme Froments, der
-voll Gesundheit und Kraft schien. Edme Froment lächelte
-und sagte zu Clerambault:</p>
-
-<p>„Mein Freund Chastenay hat so viel Leben in sich, daß er
-mir davon leiht.“</p>
-
-<p>„Ach, wenn ich es dir geben könnte“, sagte der andere.</p>
-
-<p>Die beiden Freunde wechselten einen zärtlichen Blick.</p>
-
-<p>Chastenay fuhr fort:</p>
-
-<p>„Ich würde dir dann doch nur einen Teil dessen geben, was
-ich dir verdanke ...“</p>
-
-<p>Und indem er sich an Clerambault wandte:</p>
-
-<p>„Er ist es, der uns alle aufrecht hält, nicht wahr, Frau
-Fanny?“</p>
-
-<p>Die Mutter sagte zärtlich:</p>
-
-<p>„Mein guter Sohn, das ist wohl wahr.“</p>
-
-<p>„Ihr macht euch den Umstand zunutze“, sagte Edme, „daß ich
-mich nicht verteidigen kann....“ (Und zu Clerambault
-sprechend:) „Sie sehen, ich bin gefangen und kann mich
-nicht rühren.“</p>
-
-<p>„Sie sind verwundet?“</p>
-
-<p>„Gelähmt.“</p>
-
-<p>Clerambault wagte nicht, nach Einzelheiten zu fragen.</p>
-
-<p>„Sie haben aber keine Schmerzen?“</p>
-
-<p>„Ach, ich wünschte es mir vielleicht, denn der Schmerz ist
-immerhin noch ein Band, das uns mit dieser Welt verknüpft.
-Aber ich gebe es zu, daß ich mich an das schwere
-Schweigen dieses Körpers, in den ich eingetan bin, langsam
-gewöhne ... übrigens, sprechen wir nicht mehr davon,
-jedenfalls der Geist ist frei. Wenn es auch nicht wahr ist,
-daß er „<span class='it'>agitat molem</span>“, so schlüpft er doch gern heraus.“</p>
-
-<p>„Jüngst“, sagte Clerambault, „war er bei mir zu Gaste.“</p>
-
-<p>„Das war nicht zum erstenmal, er ist oft zu Ihnen gekommen.“</p>
-
-<p>„Und ich glaubte mich so allein....“</p>
-
-<p>„Erinnern Sie sich“, sagte Edme, „an das Wort Randolphs
-zu Cecil: Die Stimme eines einzigen Menschen ist
-imstande, in einer Stunde mehr Leben in uns zu bringen,
-als der Lärm von 500 Trompeten, die unaufhörlich blasen.“</p>
-
-<p>„Das gilt aber auch von dir“, sagte Chastenay.</p>
-
-<p>Froment schien seine Worte nicht gehört zu haben und
-sagte wieder zu Clerambault:</p>
-
-<p>„Sie haben uns erweckt!“</p>
-
-<p>Clerambault betrachtete die schönen, tapferen und ruhigen
-Augen des vor ihm Liegenden und sagte:</p>
-
-<p>„Diese Augen bedurften dessen nicht!“</p>
-
-<p>„Jetzt bedürfen sie dessen nicht mehr“, antwortete Edme.
-„Man sieht besser aus der Entfernung, wenn man aus den
-Dingen heraus ist. Aber solange ich nahe, ganz nahe war,
-konnte ich nichts unterscheiden.“</p>
-
-<p>„So sagen Sie mir, was Sie jetzt sehen?“</p>
-
-<p>„Es ist spät“, antwortete Edme, „und ich bin ein wenig
-müde. Wollen Sie vielleicht ein andermal kommen?“</p>
-
-<p>„Ich komme morgen wieder.“</p>
-
-<p>Clerambault trat aus dem Zimmer, Chastenay ging ihm
-nach. Er fühlte das Bedürfnis, die Geschichte der Tragödie,
-deren Held und Opfer sein Freund geworden war,
-jemandem anzuvertrauen, der die Qual und die Größe
-eines solchen Aktes würdigen konnte.</p>
-
-<p>Edme Froment, den ein Granatsplitter an der Wirbelsäule
-getroffen und in seiner Vollkraft gelähmt hatte, war
-einer der jungen geistigen Führer seiner Generation, schön,
-leidenschaftlich, beredt, übervoll von Leben und Träumen,
-liebend und geliebt, ehrgeizig im schönsten Sinne, und nun
-ein lebendig Toter. Seine Mutter, die ihren ganzen Stolz
-und ihre ganze Liebe in ihn gesetzt hatte, sah ihn auf Lebenszeit
-verurteilt, und ihre Qual mußte ungeheuer sein. Aber
-beide verbargen sie voreinander. Diese gegenseitige Spannung
-hielt sie aufrecht. Beide waren sie aufeinander stolz.
-Sie pflegte ihn, wusch ihn, reichte ihm das Essen wie einem
-kleinen Kinde, er wiederum zwang sich zur Ruhe, um sie zu
-beruhigen, und trug sie auf den Schwingen des Geistes
-empor.</p>
-
-<p>„Ach“, sagte Chastenay, „man muß sich schämen, zu leben
-und gesund zu sein, noch Arme zu haben, um das Leben
-zu umfassen, und Gelenke, um zu gehen und zu springen,
-und mit vollem Bewußtsein die Frische der Luft zu trinken.“</p>
-
-<p>Er breitete beim Sprechen die Arme aus, hob den Kopf,
-und atmete tief ein.</p>
-
-<p>„Und das Traurigste“, fuhr er fort, indem er Kopf und
-Stimme beschämt senkte, „das Traurigste ist, daß ich diese
-Scham gar nicht wirklich fühle.“</p>
-
-<p>Clerambault mußte unwillkürlich lächeln.</p>
-
-<p>„Ja, es ist nicht sehr heroisch von mir“, fuhr Chastenay
-fort, „und doch liebe ich Froment wie niemand anderen
-auf der Welt. Sein Schicksal quält mich unablässig ....
-und doch, es ist stärker als ich. Wenn ich daran denke, daß
-ich unter so vielen Hingeschlachteten das Glück habe, jetzt
-hier zu sein, zu fühlen mit allen meinen lebendigen Sinnen,
-so ist es mir schwer, meine Freude zu verbergen.... Ach,
-es ist ja so schön, so ganz leben zu dürfen!... Der arme
-Froment ... Aber Sie werden mich furchtbar egoistisch
-finden?“</p>
-
-<p>„Nein, durchaus nicht“, sagte Clerambault. „Sie sprechen,
-wie die gesunde Natur spricht. Wären alle so aufrichtig wie
-Sie, so wäre die Menschheit nicht eine Beute jener gefährlichen
-Lust der Vergötterung des Leidens; Sie haben übrigens
-alles Recht, das Leben zu genießen, nachdem sie seine
-härtesten Proben bestanden haben.“</p>
-
-<p>(Und er deutete auf das Kriegskreuz des jungen Mannes.)</p>
-
-<p>„Ich bin hingegangen und gehe wieder zurück“, sagte Chastenay,
-„aber glauben Sie mir, es ist meinerseits kein Verdienst
-dabei. Ich täte es ja nicht, wenn ich dem Zwang ausweichen
-könnte. Es hat keinen Sinn, sich Staub in die
-Augen zu streuen: wenn man in das dritte Jahr des Krieges
-kommt, so hat man nicht mehr jene Liebe zum Wagnis und
-jene Gleichgültigkeit wie im Anfang. Damals, das muß ich
-zugestehen, hatte ich sie noch, damals war ich eine reine
-Unschuld an Heldentum. Aber es ist schon lange her, daß
-ich diese Jungfernschaft verloren habe, die aus Unbildung
-und Schönrederei zusammengeflickt war. Ist die einmal
-weg, so wird der Irrsinn des Krieges, die Idiotie der
-Massaker, die Häßlichkeit und Schauerlichkeit dieser Opfer
-auch dem Beschränktesten klar. Wenn es auch gar zu unmännlich
-wäre, vor dem Unvermeidlichen die Flucht zu
-ergreifen, so drängt man sich wenigstens nicht dazu, irgend
-etwas Unnötiges zu tun. Der große Corneille war
-eben auch ein Held des Hinterlandes. Die an der Front,
-die ich gekannt habe, die waren fast alle Helden gegen ihren
-Willen.“</p>
-
-<p>„Aber das ist ja der wahre Heroismus“, sagte Clerambault.</p>
-
-<p>„Und das ist jener Froments“, antwortete Chastenay, „er
-ist Held, weil er nicht anders kann, weil er nicht mehr bloß
-ein Mensch sein kann. Aber was ihn uns so teuer macht, ist,
-daß er trotzdem ein Mensch geblieben ist.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>ie ganze Richtigkeit dieser Worte wurde Clerambault in
-der langen Unterhaltung klar, die er am nächsten Nachmittag
-mit Froment hatte. Es war um so mehr Verdienst
-darin, wenn sich der Stolz Froments im Zusammenbruch
-seines Lebens nicht verleugnete, als er vordem niemals den
-Kult des Verzichts betrieben hatte. Im Gegenteil, er hatte
-immer große Hoffnungen und einen starken Ehrgeiz gehabt,
-den seine geistigen Gaben und seine glückliche Jugend durchaus
-rechtfertigten. Nicht einen einzigen Tag hatte er sich
-wie Chastenay einer Illusion über den Krieg hingegeben,
-sondern sofort seine gefährliche Torheit durchschaut. Diese
-Erkenntnis verdankte er nicht nur seinem starken Intellekt,
-sondern vor allem der geistigen Führerin, die von Kindheit
-an die Seele ihres Sohnes aus dem Reinsten ihres Wesens
-geformt hatte.</p>
-
-<p>Frau Froment, die Clerambault fast täglich bei seinen Besuchen
-antraf, hielt sich abseits beim Fenster und warf von
-Zeit zu Zeit von ihrer Arbeit einen Blick voll Zärtlichkeit auf
-ihren Sohn. Sie war eine jener Frauen, die zwar nicht eine
-außerordentliche Intelligenz, aber doch ein Genie des Herzens
-besitzen. Als Witwe eines Arztes, der viel älter war
-als sie, und dessen weitreichender Geist den ihren befruchtet
-hatte, waren ihr in ihrem Leben nur zwei sehr tiefe, untereinander
-sehr verschiedene Neigungen bewußt geworden:
-die fast kindliche Neigung für ihren Gatten und die fast
-zärtliche für ihren Sohn.</p>
-
-<p>Doktor Froment, ein Mann von großer Bildung und eigenartiger
-Denkweise, die er unter einer aufmerksamen Höflichkeit
-verbarg, um die anderen, von denen er sich unterschied,
-nicht zu verletzen, war lange Zeit seines Lebens auf
-Reisen gewesen. Er hatte fast ganz Europa, Ägypten,
-Persien und Indien bereist, und zwar nicht nur aus wissenschaftlichem,
-sondern auch aus religiösem Interesse; ihn beschäftigten
-ganz besonders die neue Glaubensbewegung
-in der Welt, der Babismus, die <span class='it'>Christian Science</span> und
-die theosophischen Lehren. In inniger Beziehung zu der
-pazifistischen Bewegung, ein Freund der Baronin Suttner,
-der er in Wien begegnet war, sah er seit langem die große
-Katastrophe voraus, der Europa und diejenigen, die er
-liebte, entgegengingen. Aber als Mann von Mut und
-innerlich längst gewohnt, dem ewig Ungerechten der Natur
-ins Auge zu schauen, versuchte er weder sich noch die
-Seinigen über das Drohende hinwegzutäuschen, sondern
-einzig ihre Seele gegen die kommenden Anstürme dieser
-Wogen zu stärken. Noch mehr aber als durch seine Worte
-war er für seine Frau — der Sohn war noch ein Kind zur
-Zeit seines Todes — durch sein Beispiel eine heilige Erinnerung
-geworden, denn im langsamen und grausamen
-Leiden, das ihn gefangen gehalten hatte — ein Darmkrebs
-— hatte er bis zum letzten Tage ruhig seine Aufgabe erfüllt
-und überdies noch die Nächsten seiner Umgebung durch
-seine Ruhe getröstet.</p>
-
-<p>Frau Froment bewahrte in ihrem Herzen dieses edle Bild
-wie einen inneren Gott. Die ehrfürchtige Erinnerung für
-den toten Gefährten wurde in ihrem Leben das, was bei
-anderen der religiöse Glaube ist. Da sie an kein anderes
-Leben in der Zukunft glaubte, wandte sich ihr Gebet, insbesondere
-in den Stunden der Sorge, an ihn, wie an einen
-immer gegenwärtigen Freund, der bei einem wacht und
-einen berät. Durch das eigenartige Phänomen der Wiedererneuerung,
-das oft nach dem Tode eines geliebten Wesens
-eintritt, schien das Innerste der Seele ihres Mannes in sie
-übergegangen zu sein. So erwuchs ihr Sohn in einer von
-ruhigen Ausblicken umhüllten Gedankenatmosphäre, die
-ganz verschieden war von jener tropisch fieberigen Landschaft,
-in der die junge Generation vor 1914, unruhig, glühend,
-aggressiv und vom Warten ungeduldig gemacht,
-mannbar wurde.... Als dann der Krieg ausbrach, mußte
-Frau Froment weder sich noch ihren Sohn gegen die Verführung
-der nationalen Leidenschaft schützen: sie war beiden
-von vornherein fremd. Sie versuchten auch nicht, dem Unvermeidlichen
-zu widerstehen, wußten sie doch schon so lange,
-daß dieses Unglück unterwegs war. Für sie handelte es sich
-einzig darum, alles zu ertragen, ohne sich ihm zu beugen,
-um das zu retten, was gerettet sein mußte: die Treue der
-Seele zu ihrem Glauben. Frau Froment glaubte nicht, daß
-es nötig sei, „über dem Getümmel“ zu bleiben, um es zu
-beherrschen, und was zwei oder drei französische, englische,
-deutsche Schriftsteller durch ihre Artikel für die internationale
-Versöhnung versuchten, das erfüllte sie von sich aus
-in ihrem beschränkten Kreis viel einfacher und viel wirksamer.</p>
-
-<p>Sie hatte ihre alten Beziehungen aufrechterhalten, und
-ohne sich in dem vom Kriegswahn verseuchten Milieu gehemmt
-zu fühlen, ohne jemals leere Demonstrationen gegen
-den Krieg zu versuchen, schuf sie durch ihre bloße Gegenwart,
-durch ihr ruhiges Wort, ihren klaren Blick, ihr beherrschtes
-Urteil, durch den Respekt, den ihre Güte einflößte, eine Art
-Hemmung gegen die sinnlosen Übertreibungen des Hasses.
-Sie war es auch, die in den Kreisen, die sie dafür empfänglich
-hielt, die Botschaft der freien Europäer und die Artikel
-Clerambaults verbreitete, der davon niemals erfuhr, und
-sie hatte die Genugtuung, daß sie in den Herzen Widerklang
-fanden. Aber ihre größte Freude war, daß ihr Sohn selbst
-daran geformt wurde.</p>
-
-<p>Edme Froment hatte nichts von einem Tolstoianer in seinem
-Pazifismus. Zu Anfang betrachtete er den Krieg noch
-viel mehr als Dummheit wie als Verbrechen. Wäre ihm
-Freiheit gelassen worden, so hätte er sich, wie Perrotin, aus
-der Welt der Tat in den erhabenen Dilettantismus der
-Kunst und der Ideen zurückgezogen und niemals versucht,
-die öffentliche Meinung zu bekämpfen, weil er diesen Kampf
-für aussichtslos hielt. Ihm flößte damals die Narrheit der
-Welt eher Verachtung als Mitleid ein. Zur Teilnahme am
-Kriege gewaltsam gezwungen, sah er erst ein, daß diese
-Narrheit durch das Leiden längst überzahlt war, und es
-überflüssig sei, auf die Verurteilung des Krieges noch die
-Verachtung zu häufen. Der Mensch schuf sich selbst seine
-Hölle auf Erden, es war nicht notwendig, ihn noch einmal
-dafür zu richten. Zu gleicher Zeit hatten ihm die Worte Clerambaults,
-die er während seiner Urlaubszeit in Paris kennen
-lernte, gezeigt, daß er Besseres zu tun habe, als sich als
-Richter seiner gefesselten Kameraden aufzuspielen: nämlich
-zu versuchen, deren Last zu teilen und sie davon zu befreien.</p>
-
-<p>Nur ging der junge Schüler darin weiter als sein Lehrer,
-dessen liebebedürftige, ein wenig schwächliche Natur glücklich
-war in einer Gemeinschaft mit den Menschen, der daran litt,
-sich von ihnen zu trennen, selbst wenn sie im Irrtum waren.
-Clerambault zweifelte stets an sich. Er sah nach rechts und
-links, suchte in den Augen der menschlichen Masse nach einer
-Zustimmung zu seinen Ideen und erschöpfte sich im unfruchtbaren
-Bemühen, sein inneres Gesetz mit den sozialen Bestrebungen
-und Kämpfen seiner Zeit in Einklang zu bringen.
-Für Froment, den Hingestreckten, der in seinem unterjochten
-Körper die Seele eines Führers hatte, bestand kein Zweifel
-an der absoluten Pflicht für jeden, dem die Flamme eines
-großen Ideals anvertraut ist, sie über die Häupter seiner
-Gefährten zu erheben. Warum versuchen, das Licht ängstlich
-zuzudecken oder es im Schein der andern Leuchten aufgehen
-zu lassen? Der Gemeinplatz der Demokratien: „Die ganze
-Welt ist klüger als der eine Voltaire“, war für ihn ein
-Irrtum ... Demokritos sagt: „<span class='it'>Unus mihi pro populo
-est</span>.“ „Ein einziger zählt für mich soviel wie tausend.“ Nach
-der Meinung unserer Zeit stellt die staatliche Gesellschaft den
-Gipfel der menschlichen Entwicklung dar. Wer kann die
-Wahrheit dieser Hypothese beweisen? „Für mich“, sagte
-Froment, „ist der höchste Gipfelpunkt einzig im überlegenen
-Individuum. Millionen Menschen haben gelebt und sind
-gestorben, um eine einzige höchste Gedankenblüte zu entfalten.
-In verschwenderischer Art geht die Natur zu diesem
-Ziele, sie opfert ganze Völker, um einen Jesus, einen
-Buddha, einen Äschylos, einen Leonardo, einen Newton,
-einen Beethoven zu schaffen. Was wären denn die Völker,
-was wäre die Menschheit ohne diese Menschen?.... Wir wollen
-damit nicht das egoistische Ideal des Übermenschen aufnehmen.
-Ein großer Mann ist groß für, ist groß statt aller
-anderen Menschen. Seine Persönlichkeit drückt Millionen
-Menschen aus und führt sie empor, denn sie ist die Verkörperlichung
-ihrer geheimsten Kräfte, ihrer höchsten Wünsche. Sie
-drängt sie alle in ihrem Wesen zusammen — und schon sind sie
-verwirklicht. Die einzige Tatsache, daß ein Mensch Christus
-gewesen ist, hat Jahrhunderte der Menschheit erhoben und
-über die Erde hinweggetragen und sie mit göttlichen Kräften
-erfüllt. Und obwohl neunzehn Jahrhunderte seitdem
-vergangen sind, haben doch die Millionen Menschen niemals
-die Höhe des Vorbildes erreicht und mühen sich noch
-immer, ihm nachzukommen. — Wird das individualistische
-Ideal in dieser Weise verstanden, so ist es fruchtbarer für die
-menschliche Gesellschaft als das kommunistische, das nur
-zu der mechanisch-technischen Vollendung eines Ameisenhaufens
-führt. Zum mindesten ist es aber unentbehrlich als
-Korrektiv und als Ergänzung des anderen.“</p>
-
-<p>Dieser stolze Individualismus, den Froment in heißen
-Worten ausdrückte, richtete den immer ein wenig schwankenden
-Geist Clerambaults auf, der leicht unentschieden
-blieb, teils aus Güte, teils aus Zweifel an sich selbst, teils
-durch die Bemühung, immer auch die anderen zu verstehen.</p>
-
-<p>Noch einen anderen Dienst erwies ihm Froment dadurch,
-daß er mehr als Clerambault über die internationalen Gedanken
-informiert war. Da er durch seine Familie unter
-den Intellektuellen aller Länder Beziehungen hatte und
-vier oder fünf fremde Sprachen beherrschte, konnte Froment
-dem älteren Freunde Kenntnis geben von den anderen
-großen Einsamen, die in jeder Nation für das Recht des
-freien Gewissens kämpften. Er zeigte ihm die ganze unterirdische
-Arbeit des niedergehaltenen Gedankens, der sich
-bemühte, die Wahrheit zu finden. Und es war dies ein
-tröstliches Schauspiel, daß selbst das Zeitalter der furchtbarsten
-moralischen Tyrannei, die seit der Inquisition auf
-der Seele der Menschheit lastete, es doch nicht zuwege
-brachte, in der Elite jedes Volkes den unbändigen Lebenswillen
-nach Freiheit und Wahrheit zu ersticken.</p>
-
-<p>Freilich, diese unabhängigen Persönlichkeiten waren selten,
-aber darum war ihre moralische Macht eine um so größere.
-Ergreifend zeichnete sich ihre Silhouette gegen den leeren
-Horizont ab, und im Sturz der Völker in die Tiefe des
-Abgrundes, wo Millionen Seelen zu einem formlosen Brei
-sich vermengten, erklang ihre Stimme als das einzige menschliche
-Wort. Daß sie tätig waren, wurde vor allem sichtbar
-durch die Wut derjenigen, die ihr Tun zu leugnen suchten.
-Schon vor einem Jahrhundert schrieb Chateaubriand:</p>
-
-<p>„Kämpfe haben keinen Sinn mehr. Man muß <span class='gesp'>sein</span>, das
-ist die einzige Sache, die notwendig ist.“</p>
-
-<p>Doch er sah nicht voraus, daß in unserer Zeit „sein“, das
-heißt „man selbst sein“, „frei sein“, gerade den allergrößten
-Kampf erforderte. Aber die Menschen, die ganz ihr wahres
-Ich sind, dominieren schon durch diese einzige Tatsache der
-Gleichförmigkeit der anderen.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault war nicht der Einzige, der die Energie Froments
-als so wohltuend empfand und empfing. Bei
-jedem seiner Besuche begegnete er am Krankenlager des
-jungen Mannes irgendeinem Freund, der gekommen war,
-um ihn aufzurichten und — ohne daß er es sich eingestand —
-von ihm aufgerichtet zu werden. Zwei oder drei waren junge
-Leute im Alter Froments, die anderen ältere Männer, meist
-schon über fünfzig hinaus, entweder alte Freunde der Familie
-oder solche, die Froment schon vor dem Kriege gekannt
-hatten. Einer von ihnen, ein alter Hellenist mit
-feinem und zerstreutem Lächeln, war sein Lehrer gewesen.
-Unter den anderen war noch ein Bildhauer mit grauem
-Haar, schlaffen und von tragischen Falten durchzogenem
-Gesicht, ein Landjunker mit kurzgeschorenen Haaren, roter
-Gesichtsfarbe, dem viereckigen Kopf eines Bauern, schließlich
-noch ein weißbärtiger Arzt mit einem Ausdruck von Sanftmut
-in seinem müden Gesicht, dessen Blick durch den verschiedenen
-Ausdruck der beiden Augen überraschte: das eine schien
-scharf mit einem Zwinkern von Zweifel zu beobachten, das
-andere melancholisch vor sich hinzuträumen.</p>
-
-<p>Diese Menschen, die sich manchmal bei dem Kranken vereint
-fanden, glichen einander in keiner Weise. Man konnte in
-dieser kleinen Gruppe alle Gedankenformen vertreten finden
-vom Katholiken zum Freigeist und selbst zum Bolschewisten,
-als welcher sich einer der jungen Kameraden Froments bekannte.
-In ihnen war der Einfluß der verschiedensten
-geistigen Ahnen sichtbar wirksam: im alten Hellenisten derjenige
-des ironischen Lucian, bei dem Grafen de Coulanges
-derjenige der alten französischen Chronisten der Collection
-Michaud. (Er liebte es, auf seinem Landgut sich abends
-von der Tierzucht und den chemischen Düngungen dadurch
-zu erholen, daß er die dunkelgoldfarbige Sprache Froissarts
-und die gleichzeitig dornige und saftige des spitzbübischen
-Gondi las.) Der Bildhauer zermürbte seine Stirn,
-um eine Metaphysik in Beethoven und Rodin herauszufinden,
-der Doktor Verrier, der für Religion das mitleidige
-Lächeln des Wissenschaftlers hatte, versetzte die Wunderwelt,
-deren er bedurfte, in das Reich der biologischen Hypothesen
-und der blendenden Gleichungen der modernen Physik und
-Chemie. So schmerzlich ihm auch das Leiden der Zeit war,
-so entschwand die Ära des Krieges mit all ihrem blutnassen
-Ruhm in die Ferne gegenüber den heroischen geistigen
-Entdeckungen, die der freie Deutsche Einstein inmitten der
-menschlichen Verirrung, ein neuer Newton, vollbrachte.</p>
-
-<p>So schien alles zwischen diesen Menschen widersprechend zu
-sein, sowohl ihre geistige Form als auch ihr Temperament.
-Aber in einem waren sie alle einig, daß sie keiner Partei zugehörten,
-nur aus sich selbst heraus dachten und Ehrfurcht
-und Liebe für die Freiheit hatten, für die ihre und für
-die der anderen! Und das ist doch das Wesentliche! In
-unserer gegenwärtigen Epoche zerbrechen die alten Formen,
-stürzen die politischen, religiösen oder sozialen Parteien zusammen.
-Es bedeutet ja nur einen kleinen Fortschritt, sich
-statt einen Monarchisten einen Sozialisten oder Republikaner
-zu nennen, insolange diese Gruppen sich noch dem
-Nationalismus ihres Staates, dem Glauben oder der
-Klasse unterwerfen. In Wahrheit gibt es heute nur noch
-zwei Formen des Geistes: die einen, die sich in ihre Grenze einschließen,
-und die anderen, die allem Lebendigen aufgetan
-sind, die in sich die ganze Menschheit fühlen, sogar ihre
-Feinde. So wenig zahlreich diese Männer auch sein mögen,
-sie formen, ohne es zu wissen, die wahre Internationale,
-jene, die auf dem Kultus der Wahrheit und des umfassenden
-und allen gleich zugehörigen Lebens ruht. Einzeln zu schwach
-(sie wissen es wohl), ihr unermeßliches Ideal zu umfassen,
-umfaßt doch das Ideal sie alle. Und alle in ihm geeint,
-wandern sie, jeder auf einem verschiedenen Wege, dem unbekannten
-Gott entgegen.</p>
-
-<p>Was nun in diesem Augenblick diese so verschiedenen freien
-Seelen um Edme Froment versammelte, war das dunkle
-Gefühl, er sei der Punkt, wo sich ihre Zielrichtungen begegneten,
-der Kreuzweg, von dem man alle Wege ausstrahlen
-sieht. Froment war nicht immer ein solcher
-Mittelpunkt gewesen; solange er noch Herrschaft über
-seinen Körper und seine Gesundheit hatte, ging auch er
-seinen Weg abseits von den anderen. Aber seit sein Lauf
-unterbrochen war, hatte er sich nach einer Periode kurzer
-Verzweiflung — die er aber sorgsam den Blicken seiner
-Umgebung verbarg — gleichsam als Wegkreuz aufgestellt:
-gerade weil er selbst nicht mehr tätig sein konnte, vermochte
-er die Tat der anderen besser zu überblicken und im Geist
-daran teilzunehmen. Er sah in den verschiedenen Strömungen
-— Vaterland, Revolution, Staats- und Klassenkampf,
-Wissenschaft und Glauben — nur die vermengten
-Kräfte eines Wildbaches mit seinen Stromschnellen, Wirbeln
-und sandigen Stellen; manchmal scheint er zurückgeworfen
-oder gebrochen zu werden oder zu schlafen. Aber
-die Strömungen gehen doch unwiderstehlich nach vorwärts:
-selbst die Reaktion wird immer weiter gerissen. Und er, der
-junge Gekreuzigte am Kreuzweg, vermählte sich allen Strömungen,
-dem ganzen Strom.</p>
-
-<p>Clerambault fand in ihm einige Züge Perrotins wieder.
-Aber Welten trennten Froment von Perrotin. Wenn auch
-er so wie jener nichts Vorhandenes leugnete und alles zu verstehen
-suchte, so tat er es doch mit einer begeisterten Seele.
-Alles wurde in seinem Herzen Bewegung und beherrschte
-Leidenschaft. Alles, Tod und Leben, war bei ihm Gang und
-Aufstieg — unbeweglich nur er selbst, sein eigener Leib.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>I</span>nzwischen war eine dunkle Stunde gekommen. Man hatte
-die Wende der Jahre 1917/18 überschritten. Die nebligen
-Winternächte waren schwer von der Erwartung des
-letzten Ansturms der deutschen Armeen. Seit Monaten war er
-durch drohende Gerüchte angekündigt, die Streifzüge der Flieger
-über Paris schienen schon seine Vorboten zu sein. Die
-Verfechter des Krieges „bis zum endgültigen Siege“ spiegelten
-vollkommene Sicherheit vor, die Zeitungen fuhren fort zu
-prahlen, und Clemenceau behauptete, nie besser geschlafen
-zu haben. Aber die geistige Spannung verriet sich in der
-wachsenden Schärfe des Hasses zwischen den Nichtkämpfern.
-Man lenkte die öffentliche Beunruhigung auf die Verdächtigen
-des Hinterlandes, auf die Flaumacher ab. Hochverratsprozesse
-erhitzten und beschäftigten die Moral des
-Hinterlandes, die Angeber mit der Heldengeste Corneilles,
-die patriotischen Denunzianten, die fanatischen Zeugen
-vervielfältigten sich, und das Gebell der öffentlichen Ankläger
-kläffte durch Tage zornig hinter den armen, gehetzten
-Opfern her. Als dann zu Ende März die über Paris hängende
-deutsche Offensive losbrach, erreichte der überhitzte
-Bürgerhaß seinen Zenith, und es war gewiß, daß, wenn ein
-Durchbruch gelungen wäre, noch ehe die feindliche Armee
-Paris erreicht hätte, der Galgen von Vincennes, dieser
-Altar des rächenden und bedrohten Vaterlandes, seine
-Opfer empfangen hätte, gleichgültig, ob sie schuldig oder
-unschuldig, ob sie nur angeklagt oder abgeurteilt waren.</p>
-
-<p>Clerambault wurde öfters in den Straßen beschimpft. Er
-regte sich darüber nicht auf, vielleicht, weil er sich des Gefährlichen
-der Situation nicht ganz bewußt war. Eines
-Tages traf Moreau ihn inmitten einer Gruppe von Passanten
-in einer Diskussion mit einem wutschäumenden jungen
-Menschen, der ihn in verletzender Weise angegangen hatte.
-Während er noch sprach, hörte man ganz in der Nähe die
-Explosionen der „dicken Berta“. Clerambault schien es
-nicht zu merken, er fuhr ruhig fort, vor dem Zornigen seine
-Ideen zu entwickeln. In dieser Beharrlichkeit war eine gewisse
-Komik, und die Zuhörer, die als gute Franzosen das
-gleich merkten, tauschten darüber allerhand, zwar nicht sehr
-höfliche, aber doch auch nicht böswillige Witze aus. Moreau
-faßte Clerambault am Arm, um ihn wegzuziehen. Clerambault
-schaute auf, sah die lachenden Leute, erfaßte nun
-seinerseits das Komische der Situation und lachte mit den
-anderen.</p>
-
-<p>„Was für ein alter Narr ... Nicht wahr?“ sagte er zu
-Moreau, der ihn wegzog.</p>
-
-<p>„Es gibt aber auch andere Narren. Man muß sich in acht
-nehmen“, antwortete Moreau in recht energischer Weise.
-Aber Clerambault wollte ihn nicht verstehen.</p>
-
-<p>Inzwischen war das Untersuchungsverfahren seines Prozesses
-in eine neue Phase getreten. Clerambault war des
-Vergehens gegen das Gesetz vom 5. August 1914, das „staatsgefährliche
-Äußerungen während des Krieges“ verhindern
-sollte, beschuldigt; man klagte ihn der pazifistischen Propaganda
-in den Arbeiterskreisen an, in denen Thouron die Schriften
-Clerambaults mit seinem Einverständnis verbreitet hätte.
-Nichts konnte unrichtiger sein, denn weder wußte Clerambault
-von einer Propaganda dieser Art, noch hatte er sie
-autorisiert, was Thouron auch bezeugen konnte. Aber nun
-ergab sich das Seltsame, daß Thouron dies nicht bezeugte.
-Sein Verhalten erwies sich als äußerst merkwürdig; statt die
-Dinge richtig zu stellen, machte er allerhand Winkelzüge,
-tat so, als ob er etwas zu verbergen hätte, ja, er tat es
-sogar in einer gewissen absichtlichen Weise und hätte sich gar
-nicht gefährlicher benehmen können, wenn es seine innerste
-Absicht gewesen wäre, solch einen Verdacht zu erwecken.
-Verhängnisvollerweise lenkte sich dieser Verdacht nun gegen
-Clerambault. Zwar sagte Thouron nichts gegen ihn oder
-gegen irgend jemanden aus, er weigerte sich, irgendetwas
-zu sagen, aber er ließ immer durchblicken, daß, wenn er
-reden wollte.... Aber er wollte nicht. Man konfrontierte
-ihn mit Clerambault. Er benahm sich tadellos, geradezu
-ritterlich, legte die Hand auf das Herz und versicherte den
-„Meister“, den „Freund“ seiner kindlichen Verehrung. Clerambault
-versuchte ihn voll Ungeduld endlich zu einer klaren
-Darstellung dessen zu bringen, was zwischen ihnen vorgegangen
-war, der andere aber fuhr immer nur fort, seine
-„unerschütterliche Ergebenheit“ zu bezeugen. Mehr könne
-er nicht sagen, nichts seinen Aussagen hinzufügen, er nehme
-alles auf sich.</p>
-
-<p>Dieses Benehmen ließ ihn nach außen sympathisch erscheinen,
-Clerambault aber in den Verdacht kommen, als
-wolle er sich durch Aufopferung seines Vasallen aus der
-Affäre ziehen. Die Zeitungen zögerten nicht lange und beschuldigten
-ihn der Feigheit. Inzwischen folgte eine Vorladung
-der anderen, seit zwei Monaten mußte sich Clerambault
-zu ganz nichtigen Verhören begeben, zu denen ihn
-die Richter zitierten, ohne daß sich irgendeine Entscheidung
-anzeigte. Nun sollte man glauben, daß ein Mann, der solange
-ohne die geringsten Beweise angeklagt und unter dem
-schimpflichen Verdacht gehalten wurde, bei der Öffentlichkeit
-Sympathien gefunden hätte. Aber im Gegenteil: sie
-wurde noch gereizter gegen ihn, man verzieh es ihm nicht,
-daß er nicht schon verurteilt war. Die tollsten Erfindungen
-zirkulierten in der Presse, man behauptete, die Sachverständigen
-hätten an der Form gewisser Buchstaben und an
-einzelnen besonderen Schriftzeichen entdeckt, daß eine der
-Flugschriften Clerambaults von Deutschen gedruckt und
-verbreitet worden war. So dumm diese Erfindungen waren,
-sie fanden doch Zugang bei der ungeheuren Leichtgläubigkeit
-der Leute, die (man behauptete es wenigstens)
-vor dem Krieg vernünftig gewesen waren. Es waren erst
-vier Jahre seitdem vergangen, aber es schienen schon Jahrhunderte
-zu sein.</p>
-
-<p>Kurz, die braven Leute verurteilten einen der Ihren ohne
-weitere Nachfrage; es war nicht das erstemal und wird nicht
-das letztemal sein. Die gut abgerichtete öffentliche Meinung
-empörte sich darüber, daß Clerambault noch frei herumging,
-und die reaktionären Blätter, die fürchteten, ihre Beute
-könne ihnen entgehen, klagten die Justiz an, versuchten sie
-einzuschüchtern und verlangten, die Affäre müsse dem Zivilgerichte
-entzogen und dem Militärgerichte übergeben werden.
-Rasch erreichte die Erregung einen jener Paroxismen,
-die in Paris im allgemeinen kurz, aber furchtbar zügellos
-sind. Denn dieses sonst so vernünftige Volk deliriert von
-Zeit zu Zeit. Man muß sich fragen, wie die Leute, die zum
-großen Teil gar nicht böse sind und von Natur aus zu gegenseitiger
-Nachsicht, ja Gleichgültigkeit geneigt, plötzlich zu
-solchen Explosionen von zornigem Fanatismus kommen,
-bei denen sie gleichzeitig ihren Kopf und ihr Herz verlieren.
-Manche sagen, dieses Volk hätte eine Frauennatur, sowohl
-in seinen Tugenden wie in seinen Lastern, und daß die Feinheit
-seiner Nerven und die Sensibilität, der ja seine Kunst
-und sein Geschmack den Vorrang verdanken, es plötzlich in
-hysterische Krisen verfallen lassen. Ich glaube vielmehr, daß
-jedes Volk nur durch Zufall einmal menschlich ist — wenn
-man unter Mensch ein vernünftiges Tier versteht (was ja sehr
-schmeichelhaft, aber gänzlich unbewiesen ist). Die Menschen
-machen von ihrer Vernunft nur selten Gebrauch. Im allgemeinen
-sind sie von der Anstrengung zu denken, gleich ermattet,
-und man tut ihnen wohl, wenn man ihnen das Wollen
-abnimmt und für sie nur das will, was die wenigste Anstrengung
-erfordert. Die Anstrengung nun, irgendeine neue
-Idee zu hassen, ist wirklich keine allzugroße. Aber brechen
-wir nicht den Stab über sie! Der Freund aller Verfolgten
-hat mit seinem nachsichtigen Heroismus gesagt: „Sie wissen
-nicht, was sie tun.“</p>
-
-<p>Eine nationalistische Zeitung fand sich bereit, die bösartigen
-Instinkte, die in diesen armen Menschen schlummerten, aufzuwecken.
-Sie lebte ja einzig nur von der Ausbeutung
-der Verdächtigung und des Hasses, was sie „für die Erneuerung
-Frankreichs arbeiten“ nannte. Für sie bestand
-eben Frankreich einzig aus ihr selbst und ihren Gesinnungsgenossen.
-Sie veröffentlichte gegen „Cleramboche“ eine
-Reihe mörderischer Artikel, ähnlich jenen, die so gut ihr Ziel
-gegen Jaurès erreicht hatten, sie hetzte die öffentliche Meinung
-auf, indem sie schrie: geheimnisvolle Einflüsse seien
-am Werk, den Verräter zu schützen, und man müsse darüber
-wachen, daß er nicht entkomme. Und schließlich appellierte
-sie an die Justiz des Volkes.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>V</span>iktor Vaucoux haßte Clerambault.</p>
-
-<p>Er kannte ihn nicht. Der Haß braucht ja seinen Gegner
-nicht zu kennen. Aber hätte Vaucoux Clerambault gekannt,
-so hätte er ihn noch mehr gehaßt. Ehe er wußte, daß es
-einen Clerambault gebe, war er schon sein geborener Feind.
-Es gibt in jedem Land geistige Rassen, die sich feindlicher sind
-als die des Blutes oder die der Uniformen.</p>
-
-<p>Er stammte aus begüterter Bürgerschaft im Westen Frankreichs,
-aus einer Beamtenfamilie des Kaiserreiches und des
-Systems von Zucht und Ordnung, die sich seit vierzig Jahren
-in den Schmollwinkel einer sterilen Opposition zurückgezogen
-hatte. Er besaß Güter in der Charente, dort verbrachte er
-den Sommer, die übrige Zeit war er in Paris. Es war eine
-dekadente Familie, wie es die jener Gesellschaftsklasse ja gewöhnlich
-sind, und sowohl gegen seine Klasse als gegen die eigene
-Familie wandte sich sein Herrschinstinkt, für den er im
-Leben keine andere Verwendung fand. Die Unterdrückung
-seiner Herrschbegierde gab ihm einen tyrannischen Charakter,
-er despotierte, ohne es zu wissen, die Seinen, gleichsam aus
-einem Recht und einer unbestreitbaren Pflicht heraus. Das
-Wort Toleranz hatte keinen Sinn für ihn. Für ihn war
-es gewiß: er konnte sich nicht irren. Dabei war er intelligent,
-hatte eine gewisse sittliche Gesundheit — ja sogar
-ein Herz, aber das alles unter einer dicken Rinde wie
-bei einem alten überwucherten Stamm zusammengepreßt
-und gebunden. Seine Kräfte, die sich nicht auswirken
-konnten, stauten sich und stockten. Von außen nahm er
-nichts auf. Wenn er las, wenn er reiste, tat er es mit feindlichen
-Augen und dem Verlangen, <span class='gesp'>sich</span> wieder zu finden.
-Nichts schnitt durch die Rinde in sein innerstes Wesen hinein.
-Was er an Leben hatte, kam von unten, von der
-Wurzel, von der Erde — von den Toten.</p>
-
-<p>Er war der Typus jener Rassenschicht, die, zwar stark, aber
-doch schon gealtert, nicht mehr genug Leben hat, um sich
-nach außenhin zu entwickeln, und sich im Gefühl einer aggressiven
-Verteidigung zusammenschließt. Sie beobachtet
-mit Mißtrauen und Antipathie die neuen jungen Kräfte,
-die sich rings um sie, innerhalb und außerhalb ihres Volkes,
-entwickeln, die aufsteigenden Nationen und Klassen, alle
-die leidenschaftlichen und ungeschickten Versuche sittlicher
-und sozialer Erneuerung. Solche Leute brauchen, wie der
-arme Barrès und sein verkrüppelter Held<a id='rB'/><a href='#fB' style='text-decoration:none'><sup><span style='font-size:0.9em'>[B]</span></sup></a>, Mauern,
-Schranken, Grenzen und Feinde.</p>
-
-<p>In diesem Belagerungszustand lebte auch Vaucoux und
-ließ die Seinen so leben. Seine sanfte, gleichmütige, verblühte
-Frau hatte das einzige Mittel gefunden, diesem Zustand
-zu entkommen: sie war gestorben. Allein mit seiner
-Trauer zurückgeblieben, die er eifersüchtig behütete — wie
-alles, was ihm gehörte —, errichtete er einen Schutzwall um
-die Jugend seines einzigen, dreizehnjährigen Sohnes und
-lehrte ihn, mit dem Vater zusammen diesen Schutzwall zu
-bewachen. Wie seltsam, Söhne zu zeugen, um mit ihnen
-gegen die Zukunft zu kämpfen! Sich selbst überlassen, hätte
-der junge Bursche vielleicht das Leben von sich aus entdeckt,
-aber im Gefängnis des Vaters wurde er eine Beute des
-Vaters. Sie lebten in einem versperrten Haus mit wenig
-Beziehungen, wenig Büchern, wenig Zeitungen, mit Ausnahme
-einer einzigen, deren versteinerte Prinzipien am besten
-Vaucoux’ Bedürfnis nach Erhaltung (im Sinne von Mumifizierung)
-entsprachen. Sein Opfer, sein Sohn, konnte ihm
-nicht entkommen. Er impfte ihm seine geistige Abirrung ein,
-wie Insekten ihre Eier in den lebendigen Körper eines anderen
-Tieres einpflanzen, und als der Krieg ausbrach, führte er
-ihn in das Rekrutierungsbureau und ließ ihn einschreiben.
-Für einen Mann seiner Art war das Vaterland das reinste
-aller Wesen, das heiligste der heiligen. Er mußte nicht erst,
-um sich zu begeistern, die heiße Luft und den Rausch der
-Menge eintrinken (er hielt sich weit weg von der großen
-Masse). Das Vaterland war in ihm. Das Vaterland: die
-Vergangenheit, die ewige Vergangenheit.</p>
-
-<p>Und sein Sohn wurde getötet wie derjenige Clerambaults,
-wie diejenigen von Millionen Vätern für den Glauben
-jener Väter an ein vergangenes Ideal, an das sie selbst gar
-nicht glaubten.</p>
-
-<p>Aber Vaucoux kannte nicht die Zweifel Clerambaults.
-Zweifeln? Er wußte gar nicht, was Zweifeln bedeutete, und
-hätte er es sich erlaubt, er würde sich verachtet haben. Dieser
-harte Mensch liebte seinen Sohn leidenschaftlich, obwohl er
-es ihm nie gezeigt hatte, und er wußte keine andere Art, es
-nun zu beweisen, als durch einen leidenschaftlichen Haß
-gegen diejenigen, die ihn getötet hatten. Freilich zählte er
-sich nicht selber zu jenen, die ihn hingeschlachtet hatten.</p>
-
-<p>Für seine Rache waren ihm aber nur begrenzte Möglichkeiten
-gegeben. Obwohl er Rheumatiker war und einen
-steifen Arm hatte, wollte er in die Armee eintreten, wurde
-aber nicht angenommen. Er mußte aber doch etwas tun
-und vermochte es nur durch Denken. Allein in seinem
-Haus, als Gefährten nur seine tote Frau und seinen toten
-Sohn, gab er sich durch Stunden leidenschaftlichen Betrachtungen
-hin. Wie ein Tier im Gefängnis, das an den
-Stäben rüttelt, drehten sie sich rasend im Kreise des Krieges,
-soweit ihn die Schützengräben zogen, voll Gier auszubrechen
-und nach einer Öffnung suchend.</p>
-
-<p>Die Artikel Clerambaults, die ihm durch das Wutgeheul
-seiner Zeitung bekannt wurden, brachten ihn außer sich.
-Was?... Man versuchte ihm den Knochen des Hasses
-aus den Zähnen zu reißen?... Schon aus dem wenigen,
-was er von Clerambault vor dem Kriege kannte,
-war dieser ihm unerträglich gewesen. Der Schriftsteller
-durch seine Bemühung um neue Kunstformen, der Mann
-durch seine Lebens- und Menschenliebe, seinen demokratischen
-Idealismus, seinen ein wenig einfältigen Optimismus
-und seine europäischen Wünsche. Auf den ersten
-Blick, mit dem Instinkt des Rheumatikers (in den Gelenken
-und im Geiste) hatte Vaucoux Clerambault unter jene eingereiht,
-die einen Luftzug im Hause mit den verschlossenen
-Fenstern und Türen, im Vaterlande, machen. Im Vaterlande,
-natürlich so, wie er es verstand, denn für ihn gab es
-kein anderes. So brauchte er nicht die besonderen Aufreizungen
-der Zeitungen, um in dem Verfasser des „Aufrufes
-an die Lebendigen“ und „Ihr Toten, verzeihet uns“ den
-Agenten des Feindes — den Feind zu sehen.</p>
-
-<p>Und das Rachefieber, das ihn verzehrte, warf sich auf diese
-Beute.</p>
-
-<hr class='footnotemark'/>
-
-<div class='footnote'>
-<p class='footnote'>
-<span class='footnote-id' id='fB'><a href='#rB'>[B]</a></span>
-
-„Simon und ich verstanden nun unseren Haß gegen die Fremden,
-gegen die Barbaren und unseren Egoismus, in den wir mit uns selbst
-unsere ganze kleine moralische Familie <span class='gesp'>einschließen</span>. Die erste Aufgabe
-dessen, der leben will, ist, sich mit <span class='gesp'>hohen Mauern zu umgeben</span>.
-Aber in seinen <span class='gesp'>geschlossenen</span> Garten läßt er jene ein, die von ähnlichen
-Formen des Gefühls und gleichen Interessen geleitet sind.“
-(<span class='it'>Un Homme libre.</span>) In drei Zeilen spricht dieser „freie Mensch“ also
-dreimal von „einschließen“, „sich mit Mauern umgeben“, „verschließen“.</p>
-
-</div>
-
-<hr class='footnotemark'/>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>M</span>ein Gott, wie bequem ist es, zu hassen, wenn man diejenigen
-nicht versteht, die anderer Meinung sind!</p>
-
-<p>Clerambault war diese Leichtigkeit nicht gegeben, denn er
-verstand vollkommen auch jene, die ihn verabscheuten, verstand
-sie bis ins Letzte! Diese guten Leute litten bis zur
-Tollwut an der Ungerechtigkeit des Feindes — zweifellos
-deshalb, weil sie ihnen weh tat, aber auch aus ganz rechtschaffenen
-Gründen, weil es eben <span class='gesp'>die</span> Ungerechtigkeit war,
-die Ungerechtigkeit sonder gleichen. Denn kurzsichtig, wie
-sie waren, erschien sie ihnen ganz einzigartig ungeheuerlich
-und erfüllte verwirrend ihr ganzes Gesichtsfeld. Wie beschränkt
-ist doch bei einem gewöhnlichen Menschen die Fähigkeit
-des Gefühls und des Urteils! Versinkend in der ungeheuren
-Weite, klammert er sich an die erstbesten vorübertreibenden
-Trümmer, und so wie der Mensch den tausendfältigen
-Strom des Lichtes sich zu einigen wenigen Farben
-vereinfacht, so wird ihm das Gute und das Böse in den
-Adern des Weltalls nur erkenntlich, wenn er es in ein
-paar selbsterlebte Beispiele wie in Flaschen füllen kann.
-Für ihn ist dann <span class='gesp'>das</span> ganze Gute, <span class='gesp'>das</span> ganze Böse der
-Welt in diesen paar etikettierten Beispielen verschlossen,
-und er konzentriert auf sie seine ganze Kraft der Liebe
-und des Hasses. Für tausende sonst vortreffliche Leute ist
-die Verurteilung Dreyfus’ oder die Torpedierung der „Lusitania“
-<span class='gesp'>das</span> Verbrechen des Jahrhunderts geblieben.
-Diese guten Leute sehen eben nicht, daß der ganze Weg
-der menschlichen Gesellschaft mit Verbrechen gepflastert
-ist, über die sie ahnungslos hinwegschreiten, denn sie alle
-haben unbewußt ihren Vorteil von unbekannten Ungerechtigkeiten,
-die zu verhindern sie niemals die geringste Anstrengung
-gemacht haben. Und welche Ungerechtigkeiten
-sind eigentlich die schlimmeren, jene, die ein langdauerndes
-und tiefes Echo im Gewissen der Welt erwecken, oder die
-anderen, um die einzig das niedergetretene Opfer weiß?...
-Aber diese braven Leute haben nicht genügend lange Arme,
-um alles Elend der Welt zu umfassen. Wer zu viel umfaßt,
-eignet sich nur wenig an. Deshalb klammern sie sich
-gewöhnlich nur an irgendeine einzelne Ungerechtigkeit. Aber
-die machen sie dann ganz zu ihrer Angelegenheit. Haben sie
-sich einmal irgendein Verbrechen ausgewählt für ihren Haß,
-dann verbrauchen sie dabei die ganze Kraft der Erbitterung,
-die in ihren Eingeweiden lebt. Der Hund hat seinen Knochen
-gefunden und knabbert daran. Weh’ dem, der daran
-rührt!</p>
-
-<p>Clerambault hatte daran gerührt. So hatte er kein Recht,
-sich zu beklagen, wenn er nun gebissen ward. Und er beklagte
-sich auch nicht. Die Menschen haben ein Anrecht, die
-Ungerechtigkeit, die sie sehen, zu bekämpfen, und es ist nicht
-ihre Schuld, wenn sie davon nur die große Zehe sehen, so
-wie Gulliver in Brobdignac. Jeder tut, was er kann.</p>
-
-<p>Und so bissen sie zu.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>s war am Karfreitag. Die große Sturzflut der Offensive
-warf sich gegen das Herz Frankreichs. Auch der Tag der
-heiligen Trauer unterbrach das Massaker nicht, denn der
-bürgerliche Krieg kennt keinen Gottesfrieden mehr. Christus
-war in einer seiner Kirchen bombardiert worden, und die
-Nachricht von der mörderischen Explosion in der Kirche
-Saint-Gervais gerade um die Vesperstunde verbreitete sich
-nachts im lichtlosen Paris, das von Trauer, Zorn und
-Furcht erfüllt war.</p>
-
-<p>Die Freunde hatten sich in ihrer Betrübnis bei Froment
-versammelt. Ohne Verabredung waren sie hingekommen,
-weil sie sicher waren, einander dort zu finden. Überall
-sahen sie Gewalt: in der Vergangenheit, in der Zukunft, bei
-dem Feinde, bei den Ihren, im Lager der Reaktion ebenso
-wie in dem der Revolution. Ihre Angst und ihre Zweifel
-vereinigten sich in einem einzigen Gedanken, und der Bildhauer
-sagte:</p>
-
-<p>„Vergeblich beruhen unsere heiligsten Überzeugungen, unser
-Glaube an den Frieden und die menschliche Brüderlichkeit
-auf der Vernunft und der Liebe. Gibt es denn wirklich gar
-keine Hoffnung, daß sie jemals Macht gewinnen über die
-Menschen? Wir sind zu schwach!“</p>
-
-<p>Und Clerambault rezitierte, ganz ohne es zu wollen, die
-Worte des Jesaias, die ihm plötzlich in Erinnerung kamen:</p>
-
-<p>„Dunkel bedecken die Erde, und der Schatten umhüllt die
-Völker....“</p>
-
-<p>Er hielt inne. Aber von seinem kaum erhellten Bett fuhr
-Froment unsichtbar fort:</p>
-
-<p>„Stehet auf, denn von den Gipfeln der Berge erscheinet
-das Licht....“</p>
-
-<p>„Ja, es erscheint“, wiederholte aus dem Dämmer die
-Stimme der Frau Froment, die zu Füßen des Bettes an
-der Seite Clerambaults saß. Clerambault faßte ihre Hand.
-Es war wie ein kühler Schauer, der durch das Zimmer lief.</p>
-
-<p>„Warum sagen Sie das?“ fragte der Graf Coulanges.</p>
-
-<p>„Weil ich Ihn sehe!“</p>
-
-<p>„Ich sehe Ihn auch“, sagte Clerambault.</p>
-
-<p>Der Doktor Verrier fragte:</p>
-
-<p>„Wen?“</p>
-
-<p>Aber ehe die Antwort noch ausgesprochen war, wußten
-schon alle das Wort im voraus.</p>
-
-<p>„Der das Licht bringt ..., den Gott, der sie besiegt....“</p>
-
-<p>„Ihr wartet auf einen Gott!“ sagte der alte Hellenist, „Ihr
-glaubt also an das Wunder?“</p>
-
-<p>„Das Wunder sind wir. Ist es denn nicht ein Wunder,
-daß in dieser Welt unaufhörlicher Gewalttätigkeit wir den
-Glauben an die Liebe und die Gemeinschaft der Menschen
-bewahrt haben?“</p>
-
-<p>Coulanges sagte bitter:</p>
-
-<p>„Seit Jahrhunderten erwartet man den Christus, und
-immer, wenn er kommt, erkennt man ihn nicht und kreuzigt
-ihn. Und alle vergessen ihn dann mit Ausnahme einer
-Handvoll Bettler, die gut und beschränkt sind. Diese Handvoll
-vermehrt sich, und während eines Menschenalters blüht
-der Glaube. Dann aber wird er verfälscht, wird durch seinen
-Erfolg verraten, durch seine ehrgeizigen Diener, die Kirche.
-Und das geht dann durch Jahrhunderte so dahin....
-<span class='it'>Adveniat regnum tuum</span> ... Aber wo, wo ist denn das
-Gottesreich?“</p>
-
-<p>„In uns“, antwortete Clerambault. „Die Kette unserer
-Prüfungen und Hoffnungen formt den ewigen Christus.
-Wir sollten glücklich sein, wenn wir daran denken, daß uns
-das Vorrecht zuteil ward, den neuen Gott in unserem
-Herzen beherbergen zu dürfen wie das Kind in der Krippe.“</p>
-
-<p>„Aber was gibt uns das Zeichen, daß er gekommen ist?“
-fragte der Arzt.</p>
-
-<p>„Unser Sein“, antwortete Clerambault.</p>
-
-<p>„Unsere Leiden“, antwortete Froment.</p>
-
-<p>„Unser verkannter Glaube“, antwortete der Bildhauer.</p>
-
-<p>„Die einzige Tatsache schon, daß wir sind“, setzte Clerambault
-hinzu, „dieser Widersinn, den wir der Natur ins Antlitz
-schleudern, den diese aber bestreitet. Hundertmal entflammt
-sich die Flamme und verlöscht wieder, ehe sie leuchten bleibt.
-Jeder Christus, jeder Gott hat sich vorher zu gestalten versucht
-in einer ganzen Reihe von Vorläufern. Überall sind
-sie, verloren und vereinsamt im Raume und vereinsamt in
-den Jahrhunderten. Aber diese Einsamen, die einander nicht
-kennen, sehen alle am Horizont den gleichen leuchtenden
-Punkt, den Blick des Erlösers. Und er kommt!“</p>
-
-<p>Froment sagte:</p>
-
-<p>„Er ist gekommen!“</p>
-
-<hr class='tbk103'/>
-
-<p>Als sie voneinander in einem Gefühl gegenseitiger Liebe
-und fast wortlos geschieden waren, um nicht den gläubigen
-Zauber, der sie umfaßte, zu zerstören, und jeder sich allein in
-der Nacht der Straße fand, da bewahrten sie alle die Erinnerung
-eines Schauers der Erleuchtung, den sie nicht verstehen
-konnten. Der Vorhang war wieder vor ihnen niedergesunken.
-Aber sie konnten nicht vergessen, daß er sich für
-eine Sekunde ihnen aufgetan hatte.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>E</span>inige Tage später kam Clerambault, der einer Vorladung
-des Untersuchungsrichters Folge geleistet hatte,
-über und über mit Kot bedeckt nach Hause. Sein Hut, den er
-in der Hand hielt, war ganz zerfetzt und seine Haare naß vom
-Regen. Das Dienstmädchen stieß bei seinem Anblick einen
-Schrei aus, er bedeutete ihr zu schweigen und ging in sein
-Zimmer. Rosine war nicht zu Hause. Sonst sahen sich die
-beiden Eheleute, die allein in der leeren Wohnung geblieben
-waren, nur mehr bei den Mahlzeiten und sprachen sich auch
-dann so selten als möglich. Aber der Schrei des Dienstmädchens
-ließ Frau Clerambault ein neues Unglück vorausfühlen,
-und die Erklärungen des Mädchens bestätigten nur
-ihren Verdacht. Sie trat in das Zimmer Clerambaults
-und rief nun ihrerseits aus:</p>
-
-<p>„Mein Gott, was hast du denn schon wieder gemacht?“</p>
-
-<p>Clerambault in seiner Beschämung lächelte schüchtern und
-entschuldigte sich.</p>
-
-<p>„Ich bin ausgerutscht ...“</p>
-
-<p>Er versuchte die Spuren des Überfalls wegzusäubern.</p>
-
-<p>„Du bist ausgerutscht?... Drehe dich doch um ... Wie
-du dich zugerichtet hast.... Mein Gott, man hat doch mit
-dir keinen ruhigen Augenblick.... Du gibst wirklich gar nicht
-acht.... Bis zu den Augen hinauf hast du Kotspritzer ...
-und da auf der Wange....“</p>
-
-<p>„Ja, ich glaube, ich habe mich angeschlagen.“</p>
-
-<p>„Ach, was man für ein Unglück mit dir hat.... ‚du
-glaubst‘ ... daß du dich angestoßen hast?... Bist du ausgerutscht?...
-Bist du gefallen ...?“</p>
-
-<p>Sie sah ihm ins Gesicht. „Es ist nicht wahr!“</p>
-
-<p>„Aber ich sage dir doch ...“</p>
-
-<p>„Es ist nicht wahr ... sage mir doch die Wahrheit ... Man
-hat dich geschlagen ...?“</p>
-
-<p>Er antwortete nicht.</p>
-
-<p>„Sie haben dich geschlagen!... Ah, diese wilden Tiere....
-Du armer Mann! Sie haben dich geschlagen! Dich, der
-du so gut bist, dich, der in seinem ganzen Leben niemandem
-Böses getan hat.... Ah, das ist doch zu viel Gemeinheit....“</p>
-
-<p>Sie umarmte ihn schluchzend.</p>
-
-<p>„Du gute Frau“, sagte er sehr gerührt, „das ist doch nicht
-so wichtig. Und dann, ich mache dich ja schmutzig, du darfst
-mich jetzt nicht anrühren.“</p>
-
-<p>„Das macht nichts“, sagte sie, „ich habe zu viel auf dem
-Herzen! Verzeihe mir!“</p>
-
-<p>„Was soll ich dir denn verzeihen, ... was redest du denn
-da?“</p>
-
-<p>„Auch ich bin schlecht gegen dich gewesen. Ich habe dich
-nicht verstanden ... (ich werde dich ja nie verstehen), aber
-ich weiß doch gut, daß, was immer du tust, du nichts als
-das Rechte willst. Ich hätte dich verteidigen sollen und habe
-es nicht getan, ich war dir böse über deine Dummheit (und
-bin doch selbst die Dumme), ich war dir böse, daß du uns
-mit allen andern auseinandergebracht hast.... Aber jetzt
-... nein, das ist wirklich zu gemein.... Menschen, die nicht
-würdig sind, deine Schuhriemen zu lösen, ... und sie
-haben dich geschlagen! Laß mich doch dein armes beschmutztes
-Gesicht küssen!“</p>
-
-<p>Es war so gut, sich wiederzufinden, nachdem man sich so
-lange verloren hatte. Sie weinte lange am Halse Clerambaults.
-Dann half sie ihm sich umkleiden, wusch ihm die
-Wange mit Arnika und trug seine Kleider fort, um sie ausbürsten
-zu lassen. Bei Tisch behütete sie ihn mit treuen,
-unruhigen Augen und versuchte, ihn von seinen Sorgen abzulenken,
-indem sie von altvertrauten Dingen sprach. Und
-wie sie so beide an diesem Abend allein und ohne Kinder
-im Hause waren, kam die Erinnerung an lang vergangene
-Jahre, an die erste Zeit ihrer Ehe zurück. Und dieses geheime
-Wiedererinnern hatte eine melancholische und verklärte
-Milde, wie das Vesperläuten über das Dunkel noch
-ein letztes warmes Leuchten des verlorenen Mittagläutens
-hinklingen läßt.</p>
-
-<p>Gegen zehn Uhr abends ging noch einmal die Glocke. Es war
-Julian Moreau mit seinem Freunde Gillot. Sie hatten
-die Abendblätter gelesen, die auf ihre Art über den Vorfall
-berichteten. Die einen sprachen von einer exemplarischen
-Züchtigung durch die öffentliche Verachtung und rühmten
-die „spontane“ Entrüstung der Menge. Die anderen, die
-ernsten Blätter, taten so, als ob sie prinzipiell eine Volksjustiz,
-die sich auf der Straße Luft machte, für ungehörig erklärten,
-aber sie schoben die Verantwortung dafür auf die
-Schwäche der Regierung, die solange zögerte, Licht in die
-Affäre zu bringen. Es war gar nicht unwahrscheinlich, daß
-dieser Tadel der Regierung von der Regierung selbst inspiriert
-war, denn die geschickten Politiker lassen sich bei
-manchen Gelegenheiten zu gewissen Dingen zwingen, die
-sie gern selbst tun möchten, aber auf die sie nicht sehr stolz
-sind. Die Arretierung Clerambaults schien also unmittelbar
-bevorzustehen. Moreau und sein Freund waren darüber
-beunruhigt, aber Clerambault machte ihnen ein Zeichen,
-sie sollten in Gegenwart seiner Frau schweigen und führte
-sie, nachdem er einige Zeit über den Vorfall in heiterer
-Weise gescherzt hatte, in sein Zimmer. Dort fragte er sie,
-was sie beunruhigte. Sie zeigten ihm einen haßerfüllten
-Artikel jenes nationalen Blattes, das seit Wochen die Hetze
-gegen Clerambault aufführte. Die Manifestation von heute
-hatte jene auf den Geschmack gebracht, und sie forderten ihre
-Freunde auf, sie morgen zu wiederholen. Moreau und
-Gillot befürchteten Gewalttätigkeiten, wenn sich Clerambault
-in den Justizpalast begeben würde, und sie waren gekommen,
-um ihn zu überreden, nicht auszugehen. Sie
-kannten seinen ein wenig furchtsamen Charakter und glaubten,
-ihm nicht besonders zusprechen zu müssen. Aber ebensowenig
-wie damals, als Moreau ihn mitten in einer Ansammlung
-diskutierend getroffen hatte, schien Clerambault
-sie zu verstehen.</p>
-
-<p>„Ich soll nicht ausgehen? Warum denn nicht, mir fehlt
-doch nichts?“</p>
-
-<p>„Aber es wäre klüger!“</p>
-
-<p>„Im Gegenteil, es wird mir gut tun.“</p>
-
-<p>„Aber man weiß nicht, was Ihnen zustoßen kann.“</p>
-
-<p>„Das weiß man niemals, dazu hat man noch Zeit, sobald
-es einmal geschehen ist.“</p>
-
-<p>„Also, um aufrichtig zu sprechen: es ist gefährlich. Man
-reizt schon seit langem die Leute auf. Sie sind heute verhaßt
-und Ihr Name genügt, ein paar von den Dummköpfen,
-die Sie nur durch ihre Zeitungen kennen, bis zum
-Platzen zu ärgern. Und diese Antreiber suchen ja nur einen
-Eklat. Gerade durch die Ungeschicklichkeit Ihrer Gegner
-haben Ihre Worte mehr Echo gefunden, als Sie dachten.
-Nun fürchten sie, daß diese Ideen sich Bahn brechen und
-wollen ein Exempel statuieren, um alle abzuschrecken, die
-Ihrer Meinung sind.“</p>
-
-<p>„Ja, aber“, sagte Clerambault, „wenn es wirklich solche
-gibt, die meiner Meinung sind — ich war dessen bisher
-noch nicht gewiß — so darf ich mich in einem solchen Augenblick
-doch nicht zurückziehen. Will man an mir ein
-Exempel statuieren, so muß ich es über mich ergehen
-lassen.“</p>
-
-<p>Er schien so guten Mutes, daß die beiden sich fragten, ob er
-sie wirklich verstanden habe. „Ich wiederhole Ihnen“, sagte
-Gillot nochmals, „daß Sie viel riskieren.“</p>
-
-<p>„Mein Freund“, sagte Clerambault, „heute riskiert die
-ganze Welt sehr viel.“</p>
-
-<p>„Aber es muß doch wenigstens ein Nutzen bei so etwas sein;
-warum wollen Sie ihnen eine Gefälligkeit erweisen und sich
-in den Rachen des Löwen wagen?“</p>
-
-<p>„Nun, ich glaube wiederum, daß das uns im Gegenteil
-sehr nützlich sein kann“, sagte Clerambault, „und daß, was
-immer auch geschieht, der Löwe das Nachsehen haben wird.
-Ich möchte auch das auseinandersetzen.... Sie verbreiten
-ja nur unsere Ideen, denn die Gewalttätigkeit heiligt immer
-die Sache, die sie verfolgt. Sie wollen Schrecken verbreiten,
-und sie werden auch Schrecken verbreiten ... aber bei den
-Ihren ..., bei denen, die noch zögern und verängstigt sind.
-Lassen wir sie nur ungerecht sein, es geht auf ihre Kosten ...“</p>
-
-<p>Er schien zu vergessen, daß es auch auf die Kosten der Seinen
-ging.</p>
-
-<p>Als sie aber sahen, daß er entschlossen war, wuchs mit ihrer
-Unruhe auch ihr Respekt und sie erklärten:</p>
-
-<p>„In diesem Falle aber kommen wir mit unseren Freunden,
-um Sie zu begleiten.“</p>
-
-<p>„Nein, nein, was ist das für ein törichter Einfall! Ihr
-wollt mich doch nicht lächerlich machen ... und schließlich,
-ich bin ja doch sicher, daß nichts geschehen wird!“</p>
-
-<p>Ihr Drängen blieb ohne jeden Erfolg.</p>
-
-<p>„Mich werden Sie jedenfalls nicht verhindern können,
-zu kommen“, sagte Moreau, „ich habe einen ebenso
-harten Kopf wie Sie. Lieber will ich die ganze Nacht auf
-der Bank gegenüber der Tür verbringen, als Sie zu verfehlen
-und allein zu lassen.“</p>
-
-<p>„Gehen Sie nur heim in Ihr Bett“, sagte Clerambault,
-„und schlafen Sie ruhig. Wenn Sie unbedingt wollen, so
-kommen Sie eben morgen früh, aber Sie werden Ihre
-Zeit verlieren. Es wird nichts geschehen. Auf jeden Fall:
-umarmen wir uns.“</p>
-
-<p>Sie umarmten ihn zärtlich.</p>
-
-<p>„Sehen Sie“, sagte Gillot schon an der Türschwelle, „man
-hat irgendwie die Pflicht, Sie zu behüten, wir sind ein
-wenig Ihre Kinder.“</p>
-
-<p>„Ja, das ist wahr“, sagte Clerambault mit einem guten
-Lächeln.</p>
-
-<p>Er dachte an seinen Sohn. Als er die Tür schloß, vergingen
-einige Minuten, bis er bemerkte, daß er aufrechtstehend
-träumte, mit der Lampe in der Hand unbeweglich im Vorzimmer
-stehend, in dem er sich eben von seinen Freunden verabschiedet
-hatte. Es war fast Mitternacht, und Clerambault
-war müde. Dennoch trat er, statt in das gemeinsame Schlafgemach
-zu gehen, ganz unbewußt noch einmal in sein Zimmer
-zurück. Das Zimmer, das Haus, die Straße waren
-eingeschlafen; er setzte sich hin und fiel wieder in seine Starre
-zurück. Undeutlich, ohne es eigentlich zu sehen, betrachtete
-er den Lichtreflex vor sich auf der Glasscheibe einer Rembrandt-Radierung,
-der „Auferstehung des Lazarus“, die
-an einer Seitenwand seiner Bibliothek aufgehangen war....
-Er lächelte einem teuren Antlitz zu, das lautlos eingetreten
-und nun bei ihm war.</p>
-
-<p>„Bist du nun zufrieden?“ dachte er, „das wolltest du doch?...“</p>
-
-<p>Und Maxime sagte: „Ja.“</p>
-
-<p>Und er fügte mit leisem Spott bei:</p>
-
-<p>„Es war nicht ganz ohne Mühe, bis ich dich so weit gebracht
-habe, Papa.“</p>
-
-<p>„Ja“, sagte Clerambault, „wir haben viel von unseren Kindern
-zu lernen.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault legte sich zu Bett. Seine Frau war schon
-eingeschlafen. Keine Sorge ließ sie jemals den Frieden
-jenes tiefen Schlummers verlieren, in den manche Seelen
-wie in ein Grab hinabstürzen. Die Seele Clerambaults
-hatte weniger Ungeduld, sich zu versenken. Auf dem Rücken
-ausgestreckt, blieb er die ganze Nacht unbeweglich mit offenen
-Augen liegen.</p>
-
-<p>Blasses Licht erhellte die Straße, zarte Halbdämmerung.
-Stille Sterne standen am dunklen Himmel. Einer von
-ihnen glitt nieder und beschrieb einen Kreis: es war ein
-Flugzeug, das über der schlafenden Stadt wachte. Die
-Augen Clerambaults folgten seinem Flug und schwebten
-mit. Sein waches Ohr hörte nun auch das ferne Sausen
-des menschlichen Planeten, diese Sphärenmusik, die die
-Weisen Ioniens noch nicht geahnt hatten.</p>
-
-<p>Er war glücklich. Sein Körper und sein Geist schienen ihm
-gleichsam beschwingt, seine Glieder ebenso wie seine Gedanken
-entspannt, und so ließ er sich hinwegtragen und
-schwebte.... Die Bilder des fiebrigen und ermattenden
-Tages zogen noch einmal im Fluge vorbei, doch sie hielten ihn
-nicht mehr fest.... Ein alter Mann, von einer Bande junger
-Bürger gestoßen ... zuviel Lärm, zuviel Bewegung!...
-Aber schon sind sie wieder weit, so wie Gesichter, die man
-einen Augenblick an den Fenstern eines vorüberfliegenden
-Zuges grinsen sieht. Aber der Zug ist vorüber, das Bild
-stürzt in das Dunkel des donnernden Tunnels.... Aber
-auf dem nächtlichen Himmel gleiten noch immer geheimnisvolle
-Sterne, und rings um ihn sind die schweigenden
-Räume, die dunkle Durchsichtigkeit und eisige Frische der
-Luft über der nackten Seele. Oh, Unendlichkeit in einem
-Tropfen des Lebens, im Funken eines Herzens, das erlöschen
-will, das sich aber freigemacht hat und weiß, wie
-bald es in seine große Heimat wiederkehrt!</p>
-
-<p>Und wie der treue Verwalter eines ihm vertrauten Gutes
-machte Clerambault noch einmal die Bilanz seines Tages.
-Er überflog alle seine Versuche, seine Anstrengungen, seine
-Anläufe, seine Irrtümer. Wie wenig blieb übrig von
-seinem Leben? Fast alles, was er aufgebaut, hatte er nachher
-mit seinen eigenen Händen zerstört. Er hatte im gleichen
-Herzen verneint, was er vordem bejaht hatte, und nie aufgehört,
-im Walde der Zweifel und Widersprüche herumzuirren,
-müde, blutend, erschöpft und als einzige Wegzeiger
-die Sterne, die manchmal zwischen dem Gezweige
-auftauchten und wieder verschwanden. Was für
-ein Sinn war in diesem langen, stürmischen Lauf, der
-in Nacht mündete? Ein einziger! Er war frei gewesen.</p>
-
-<p>Frei ...! Was war denn dies, diese Freiheit, die ihn mit
-ihrer herrischen Trunkenheit übermannte, die Freiheit,
-deren Herrn und Beute er sich zugleich fühlte, <span class='gesp'>dieser Zwang, frei zu sein?</span>
-Er gab sich keiner Täuschung hin,
-er wußte wohl, daß er ebenso wie die anderen der ewigen Gebundenheit
-nicht entfliehen konnte, aber seine Fron war eine
-andere (es ist nicht jedem die gleiche bestimmt). Das Wort
-Freiheit drückt nur eines der hohen und klaren Gesetze der
-unsichtbaren Herrin der Welt aus — der Notwendigkeit.
-Sie ist es, die den Aufruhr der Vorkämpfer erweckt und sie
-in Feindschaft stellt zur ewigen Vergangenheit, die die
-dunklen Massen mit sich hinschleppt. Sie ist das Schlachtfeld
-der ewigen Gegenwart, wo ewig die Vergangenheit mit der
-Zukunft kämpft, und in diesem Kampfe zerbrechen unausgesetzt
-die alten Gesetze, um neuen Gesetzen Raum zu geben,
-die dann ihrerseits vernichtet werden.</p>
-
-<p>O Freiheit! Immer trägst du Ketten, aber es sind nicht
-mehr die zu engen der Vergangenheit. Jede deiner Bewegungen
-macht dein Gefängnis weiter. Wer weiß? Wer
-weiß?... Vielleicht später einmal ... wenn man die
-Mauern deines Gefängnisses zertrümmert....</p>
-
-<p>Inzwischen aber bemühen sich alle, die du retten willst, leidenschaftlich,
-dich zu verlieren. Du bist der Staatsfeind,
-„<span class='it'>L’Un contre tous</span>“, „der Eine gegen Alle“. (So hatten sie
-den schwachen, den unsicheren, den mittelmäßigen Clerambault
-genannt; aber nicht an sich selbst denkt er jetzt, sondern
-an <span class='gesp'>den</span>, der immer war, seit Menschen sind, an <span class='gesp'>den</span>, der
-nicht aufhört, ihre Torheit zu bekämpfen, um sie zu befreien,
-<span class='gesp'>der Eine, gegen den sie alle sind</span>.) Wie oft haben
-sie ihn im Laufe der Jahrhunderte zur Seite gestoßen und
-niedergeschmettert! Aber im Schoße der Angst überkommt
-ihn eine übernatürliche Freude und erfüllt ihn rauschend,
-denn er ist das heilige Korn, das Goldkorn der Freiheit. Im
-dunkeln Schicksal der Welt rollt seit dem Chaos — aus
-welcher Ähre mag es gefallen sein? — das Samenkorn des
-Lichtes. Schutzlos, hat es sich im Grunde des wilden Menschenherzens
-eingekapselt. Im Lauf der Jahrhunderte hat es
-dem Ansturm der Urgesetze widerstanden, die das Leben zerknicken
-und zerbrechen. Und das goldene Samenkorn wird
-größer und größer, unaufhaltsam.</p>
-
-<p>Der Mensch, das waffenloseste Tier, hat sich gegen die Natur
-erhoben und sie bekämpft. Jeder seiner Schritte war mit
-seinem Blut genetzt, und nicht nur außerhalb seiner selbst,
-sondern in sich selbst, mußte er die Natur verfolgen, da er
-ja selber ihr Teil ist. Und dies ist die schwerste Schlacht, die
-der zerteilte Mensch gegen sich selbst führt. Wer wird siegen?
-Einerseits die Natur auf ihren erzenen Wegen, die die Völker
-und die Welt in den Abgrund reißt, auf der anderen
-Seite das freie Wort. Verlacht es nur, ihr Sklaven!...
-„Lächerlich!“ sagen sie, diese Anbeter der Gewalt: „Ein armseliger
-Köter, der hinter den Rädern eines Schnellzuges
-herkläfft.“ Ja, so stünde es, wäre der Mensch nur ein Stück
-Materie unter dem Prägehammer des Schicksals, das blutet
-und vergeblich stöhnt. Aber jener Geist ist in ihm, der
-Achilles an der Ferse und Goliath an seiner Stirn zu treffen
-weiß. Er braucht nur eine Schraube auszureißen, und der
-reißende Zug entgleist und sein Lauf ist zerbrochen.... Rollt
-hin durch die Jahrhunderte, ihr Planetenkreise, ihr dunklen
-Menschenmassen, erhellt von den Blitzen des befreienden
-Geistes, von Buddha, Jesus, den Weisen, den Zerbrechern
-der Ketten.... Der Blitz naht, ich fühle ihn in meinem Gebein
-knistern, wie unter dem Hufschlag des Pferdes der
-Funken im Stein; die Luft bebt, die große Windwelle erhebt
-sich.... Der Schauer, der dem Geschehnis voranläuft....
-Die dicke Wolke des Hasses preßt sich zusammen, häuft und
-stößt sich.... O Feuer, bald bist du aufgesprungen!...
-Ihr, die ihr allein gegen alle seid, worüber klagt ihr? Ihr
-seid dem Joch, das euch niederdrückt, entronnen, und so wie
-man im Alpdruck sich dem schwarzen Wasser eines Traumes
-entringt, wieder kämpfend an die Oberfläche kommt, wieder
-hinabstürzt und fast schon erstickt, um dann plötzlich in
-einem verzweifelten Ruck aller Glieder sich aus dem Wasser
-zu reißen und — gerettet! — auf das harte Gestein des Ufers
-hinstürzt.... Möge es mein Fleisch schmerzend zerfetzen!
-Um so besser, ich erwache doch wieder in freier Luft.</p>
-
-<p>Nun bin ich, du drohende Welt, deiner Fesseln los, du
-kannst mich nicht mehr anschmieden. Und ihr, die ihr mich
-und meinen verabscheuten Willen bekämpft, wißt, daß dieser
-mein Wille in euch ist! Ihr wollt, wie ich, frei sein, und ihr
-leidet daran, es nicht zu sein. Dies euer Leiden macht euch
-zu meinen Feinden. Aber selbst wenn ihr mich tötet, dann
-ist es nicht mehr an euch, zu sagen, ihr hättet das Licht, das
-in mir war, nicht gesehen, oder, falls ihr es gesehen habt,
-es zurückzuweisen! Schlagt also zu! Indem ihr mich bekämpft,
-bekämpft ihr euch selbst. Von vornherein seid ihr
-die Besiegten. Und ich, indem ich mich verteidige, verteidige
-euch alle. Der „Eine gegen Alle“ ist der „Eine für
-Alle“, und er wird bald der „Eine mit Allen“ sein.</p>
-
-<p>Nein, ich werde nicht allein bleiben, ich bin es nie gewesen.
-Gruß euch, ihr Weltbrüder! So weit ihr auch sein möget, über
-die Welt hingestreut wie der Samen aus einer Hand, so seid
-ihr doch alle hier an meiner Seite: ich weiß es. Denn niemals
-ist der Gedanke eines einsamen Menschen so wie er
-selbst allein. Jede Idee, die in einem Menschen ersteht,
-keimt schon in anderen Menschen, und immer, wenn irgendein
-Unglücklicher, verkannt, geschmäht, sie in seinem Herzen
-erwachen fühlt, möge er freudig sein. Denn es ist die ganze
-Erde, die erwacht.... Der erste Funke, der in einer einsamen
-Seele erglänzt, ist schon die Spitze jenes Strahls, der
-die Nacht durchleuchten wird. So komme, Licht, verbrenne
-die Nacht, die mich umgibt und die mich erfüllt....!</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>U</span>nd es kam. Das klare Licht des Tages war so jung und
-hell wie nur je. Der Schmutz der Menschen kann es nicht
-beflecken, die Sonne trinkt ihn auf wie einen Nebel.</p>
-
-<p>Frau Clerambault erwachte und sah ihren Mann mit offenen
-Augen. Sie meinte, auch er sei eben erwacht, und
-sagte:</p>
-
-<p>„Du hast gut geschlafen. Du hast dich nicht ein einzigesmal
-in der Nacht gerührt.“</p>
-
-<p>Er widersprach nicht, lächelte aber bei dem Gedanken an die
-lange Fahrt, die er gemacht hatte. Der Geist, der unruhige
-Vogel, der durch die Nacht hinstreift, nun faßte er
-wieder Fuß. Clerambault stand vom Bette auf.</p>
-
-<p>Zur gleichen Stunde stand ein anderer auf, der ebensowenig
-wie er in dieser Nacht geschlafen hatte, und der ebenso das
-Bildnis seines toten Sohnes sich vor den Blick gerufen
-und der an ihn — an ihn, Clerambault, den er nicht kannte
-— mit der ganzen Starrheit des Hasses dachte.</p>
-
-<p>Die erste Post brachte einen Brief von Rosine. Sie vertraute
-ihrem Vater das Geheimnis an, das er seit langem
-ahnte. Daniel hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, und
-sie würden sich bei seiner nächsten Heimkehr von der Front
-vermählen. Der Form halber erbat sie sich die Zustimmung
-der Eltern, sie wußte wohl, daß ihr Wille auch der ihrige
-war. Der Brief strahlte von einem Glück, das sich seine
-jubelnde Gewißheit durch nichts zerstören ließ. Das traurige
-Rätsel der zerrissenen Welt hatte nun plötzlich einen Sinn
-bekommen, ihre junge, alles auftrinkende Seele empfand
-das Leiden einer Welt als nicht zu hohen Preis für die
-Blüte, die sie von diesem blutigen Rosenstrauch pflücken
-durfte.... Immerhin verriet sich auch ihr mitfühlendes
-Herz. Sie vergaß nicht die anderen und ihre Qual, den
-Vater und seine Sorgen. Aber sie rührte sie mit seligen
-Armen an, und es war, als wollte sie mit einer naiven und
-zärtlichen Übermütigkeit sagen:</p>
-
-<p>„Ihr guten Freunde, quält euch doch nicht immer mit
-euren Gedanken. Ihr seid wirklich unklug, man soll nicht
-traurig sein. Ihr seht, das Glück kommt schließlich doch.“</p>
-
-<p>Clerambault lächelte gerührt, während er den Brief las.</p>
-
-<p>„Ja, ja, ganz gewiß, das Glück kommt, nur hat nicht die
-ganze Welt Zeit, darauf zu warten.... Grüße es von mir,
-kleine Rosine, und lasse es nicht mehr von dir.“</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>G</span>egen elf Uhr kam der Graf Coulanges, sich nach ihm zu
-erkundigen. Er hatte Moreau und Gillot unten gefunden,
-sie bewachten die Tür. Getreu ihrem Versprechen, wollten
-sie Clerambault begleiten, aber sie waren eine Stunde früher
-gekommen, als es eigentlich notwendig war, und wagten
-nicht hinaufzugehen. Clerambault ließ sie heraufrufen und
-verspottete sie wegen ihres übermäßigen Eifers. Sie gaben
-zu, daß sie aus Mißtrauen gegen ihn gefürchtet hatten, er
-würde, ohne auf sie zu warten, aus dem Hause entwischen,
-und Clerambault mußte zugeben, eine ähnliche Absicht gehabt
-zu haben.</p>
-
-<p>Die letzten Nachrichten von der Front waren gut. Seit
-kurzer Zeit schien die deutsche Offensive ins Stocken geraten.
-Seltsame Zeichen der Ermattung wurden sichtbar und Gerüchte,
-die nicht unbegründet schienen, deuteten auf einen
-geheimen Desorganisationsprozeß in dieser gewaltigen
-Masse. Sie hatte, sagte man, die Grenzen ihrer Kraft erreicht
-und überschritten: der Riese wurde matt. Man sprach
-von einer Ansteckung durch den revolutionären Geist, den
-die deutschen Truppen von der Ostfront aus Rußland zurückgebracht
-hatten.</p>
-
-<p>Mit der Beweglichkeit, die für den französischen Geist so
-charakteristisch ist, verkündeten mit einem Male die Pessimisten
-von gestern den nahen Sieg. Moreau und Gillot
-sahen in kurzer Zeit ein Abflauen der Leidenschaft, die Rückkehr
-zur Vernunft, die Versöhnung der Völker und den
-Triumph der Ideen Clerambaults voraus. Clerambault
-warnte sie, sich allzufrüh den Illusionen hinzugeben, und es
-bereitete ihm Spaß, ihnen zu beschreiben, was geschehen
-würde, sobald der Frieden unterschrieben sei (denn das mußte
-doch, wann immer auch, einmal geschehen).</p>
-
-<p>„Mir ist“, sagte er, „als könnte ich, wie der hinkende Teufel
-nachts über die Stadt schwebend, den ersten Abend nach
-dem Waffenstillstand sehen. Und ich sehe in den Häusern,
-deren Vorhänge vor dem Jubelschrei der Straße herabgelassen
-sind, unendlich viel Herzen in Trauer, Herzen, die
-sich krampfhaft während all dieser Jahre mit dem Gedanken
-eines Sieges aufrechtgehalten haben, der ihrem Unglück einen
-Sinn oder den falschen Schein eines Sinnes gibt. Nun
-können sie endlich sich entspannen oder zerbrechen, schlafen
-oder endlich sterben. Die Politiker denken natürlich daran,
-wie sie auf das schnellste und ausgiebigste die gewonnene
-Partie ausnützen können oder, wenn sie sich verrechnet
-haben, an einen neuen Aufschwung auf dem Trapez. Die
-Fachleute des Krieges werden trachten, den Spaß solange
-als möglich fortdauern oder, wenn ihnen dies
-nicht gelingt, den Tanz so bald als möglich wieder beginnen
-zu lassen. Die Vorkriegspazifisten werden eilig aus
-ihren Winkeln und Löchern hervorkriechen und sich in rührenden
-Demonstrationen ergehen. Die alten Bonzen, die
-durch fünf Jahre die Trommel zum Vormarsch rührten,
-werden, Palmenzweige in den Händen, lächelnd und das
-Herz auf den Lippen, auftauchen und von Liebe reden.
-Und die Kämpfer selbst, die im Schützengraben geschworen
-haben, niemals zu vergessen, auch sie werden sich bereitwillig
-mit allen Erklärungen, Glückwünschen und Händedrücken,
-die man ihnen verabreicht, abfinden. Es ist ja auch
-zu viel verlangt, nicht zu vergessen. Fünf Jahre aufreibender
-Strapazen bereiten den Menschen gut zur Nachgiebigkeit
-vor, durch die Erschöpfung, durch das ewige Einerlei,
-durch den Wunsch nach einem Ende. Die rauschenden Klänge
-des Sieges werden die Schmerzensrufe der Besiegten
-ersticken. Und die meisten Menschen werden an nichts
-anderes denken, als wieder die alten, schläfrigen Gewohnheiten
-von vor dem Krieg aufzunehmen. Zuerst wird man
-auf den Gräbern tanzen, dann wird man wieder schlafen.
-Vom Krieg bleibt nichts als eine Prahlerei am Biertisch.
-Und wer weiß, vielleicht wird ihnen dies Sichnichterinnern
-so gut glücken, daß sie bald wieder dem Tanzmeister, dem
-Sensenmann, helfen werden, aufs neue anzufangen. Selbstverständlich
-nicht sofort, aber etwas später, wenn man gut
-ausgeschlafen hat.... So wird überall der Friede sein — solange,
-bis überall der neue Krieg da ist, denn Krieg und
-Friede, meine Freunde, sind im letzten Sinne, wie sie meist
-verstanden werden, nur zwei verschiedene Etiketten für dieselbe
-Flasche. Es ist ganz so, wie der König Bomba von seinen
-tapferen Soldaten sagt: „Zieht sie rot oder zieht sie grün
-an, sie werden doch Fersengeld geben.“ Ihr könnt es Frieden
-oder Krieg nennen, aber es gibt weder Frieden noch Krieg,
-es gibt nur die allgemeine Knechtschaft, die Bewegung der wie
-in Ebbe und Flut hingerissenen Massen und es wird solange
-so bleiben, bis sich starke Seelen über den menschlichen Ozean
-erheben und den scheinbar sinnlosen Kampf gegen das Schicksal
-beginnen, das diese schweren Massen in Bewegung setzt.“</p>
-
-<p>„Gegen die Natur kämpfen?“ fragte Coulanges. „Denken
-Sie daran, ihre Gesetze vergewaltigen zu wollen?“</p>
-
-<p>„Es gibt“, antwortete Clerambault, „kein einziges unabänderliches
-Gesetz. Gesetze leben, verwandeln sich und sterben
-wie alle irdischen Wesen, und es ist Pflicht des Geistes,
-nicht, wie die Stoiker es wollen, sie einfach hinzunehmen,
-sondern sie zu verändern, sie auf unser Maß zuzuschneiden.
-Die Gesetze sind die Form der Seele. Entfaltet sich die
-Seele, so müssen sie mit ihr wachsen. Ein gerechtes Gesetz ist
-nur jenes, das auf mich paßt.... Bin ich im Unrecht, wenn
-ich fordere, daß der Schuh sich dem Fuße anpasse und nicht
-der Fuß dem Schuh?“</p>
-
-<p>„Ich sage nicht, daß Sie im Unrecht sind“, erwiderte der
-Graf. „Den Versuch, die Natur zu vergewaltigen, machen
-wir ja auch in der Züchtung. Wir verändern nicht nur die
-Form, sondern auch den Instinkt der Tiere, warum sollte
-das nicht auch beim Menschen gelingen.... Nein, ich
-widerspreche Ihnen nicht, im Gegenteil, ich bin der Meinung,
-daß es das Ziel und die Pflicht jedes Menschen, der dieses
-Namens würdig ist, sein muß, so, wie Sie sagen, die menschliche
-Natur gewaltsam weiter fortzubringen. Das ist die
-Quelle des wahren Fortschrittes, und es ist ein wirklicher
-Wert darin, auch wenn man das Unmögliche will. Freilich,
-das soll nicht sagen, daß wir mit dem, was wir versuchen,
-auch Erfolg haben werden.“</p>
-
-<p>„Nein, wir werden keinen Erfolg haben, weder für uns noch
-für die Unseren. Es ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich,
-daß unsere unglückliche Nation, vielleicht unser ganzes
-Abendland, sich auf einem absteigenden Ast befindet, und ich
-fürchte, daß der Absturz bald erfolgen wird, infolge ihrer
-Laster und Tugenden, von denen diese wie jene mörderisch
-sind durch ihren Stolz und ihren Haß, ihre provinzlerische
-Eifersucht, durch die endlose Schraube der Revanchen, durch
-beharrliche Verblendung, durch die erdrückende Treue zur
-Vergangenheit und jene verjährte Auffassung von Ehre und
-Pflicht, die sie die Zukunft für Gräber hinopfern läßt. Ich
-fürchte nur allzusehr, daß auch die letzte Mahnung dieses
-Krieges ihren lärmenden und zugleich trägen Heroismus
-in nichts belehrt hat.... In früheren Zeiten hätte dieser
-Gedanke mich niedergedrückt. Jetzt aber fühle ich mich wie
-von meinem eigenen Leib von allem Todgeweihten losgelöst,
-ich bin ihm nicht mehr anders als durch das Mitleid verbunden.
-Aber dafür ist mein Geist brüderlich mit allem,
-das — auf welchem Punkte der Erde auch immer — das
-neue Licht empfängt. Kennt ihr die schönen Worte des
-Sehers von Saint-Jean d’Acre: ‚Die Sonne der Wahrheit
-ist wie das Himmelsgestirn, mit vielen Orten des Aufstieges.
-An einem Tage erhebt es sich im Zeichen des Krebses,
-ein andermal im Zeichen der Waage, aber die Sonne ist eine
-und eine einzige Sonne. Einmal ging der Strahl der
-Sonne der Wahrheit vom Wendekreis Abrahams auf und
-ging unter im Zeichen Moses und entflammte den Horizont.
-Dann erhob sie sich wieder im Zeichen Christi, glühend und
-Glanz verbreitend. Diejenigen, die Abraham dienten, wurden
-blind am Tage, da das Licht über dem Sinai glänzte. Aber
-meine Augen werden stets — von welchem Punkt immer
-sie sich erhebt — der aufgehenden Sonne entgegengerichtet
-sein. Und ginge die Sonne im Westen auf, es wäre doch
-die Sonne.‘ “</p>
-
-<p>„Und heute kommt uns von Norden das Licht“, sagte
-lächelnd Moreau.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>O</span>bwohl die Vorladung auf ein Uhr lautete und es
-kaum Mittag war, hatte es Clerambault doch eilig,
-fortzugehen. Er fürchtete, zu spät zu kommen.</p>
-
-<p>Er hatte nicht weit zu gehen. Seine Freunde hätten ihn
-nicht gegen die übrigens sehr spärliche Rotte zu verteidigen
-brauchen, die ihn beim Eingang des Justizpalastes erwartete,
-denn die Nachrichten des heutigen Tages lenkten von den
-gestrigen ab. Höchstens hätten einige feige Köter, die sich
-mehr lärmend als beunruhigend gebärdeten, versucht, ihm
-von rückwärts die Zähne zu zeigen.</p>
-
-<p>Sie waren an die Ecke der Rue Vaugirard und Rue d’Assas
-gekommen, als Clerambault bemerkte, daß er etwas vergessen
-hatte, und seine Freunde für einen Augenblick stehen
-ließ, um noch einmal hinaufzugehen und einige Papiere aus
-seiner Wohnung zu holen. Sie blieben unten, um auf ihn
-zu warten, und sahen, wie er den Fahrweg überquerte. Auf
-dem Trottoir gegenüber, bei einem Wagenplatz, trat ihn ein
-Mann seines Alters an, ein nicht sehr großer und ein wenig
-schwerfälliger Mann aus dem Bürgerstand. Alles geschah so
-schnell, daß sie nicht einmal Zeit hatten, einen Schrei auszustoßen:
-ein Wortwechsel, ein ausgestreckter Arm, ein Knall.
-Sie sahen Clerambault wanken und liefen hin. Aber es
-war schon zu spät.</p>
-
-<p>Sie streckten ihn auf eine Bank hin, die Menge —
-mehr neugierig als erregt — (ach, man hatte so viel
-solcher Dinge gesehen und gelesen) drängte sich herzu und
-gaffte.</p>
-
-<p>„Was ist denn?“</p>
-
-<p>„Ein Flaumacher.“</p>
-
-<p>„So, dann ist es schon gut! Die Schurken haben uns genug
-geschadet.“</p>
-
-<p>„Nun, es gibt schon ein größeres Verbrechen, als zu wünschen,
-daß dieser Krieg einmal zu Ende ist.“</p>
-
-<p>„Es gibt nur eine Möglichkeit, daß er zu einem Ende kommt,
-und die ist, ihn bis an das Ende zu führen. Nur die Pazifisten
-verlängern den Krieg.“</p>
-
-<p>„Sie sind sogar schuld daran! Ohne sie wäre nie einer gekommen,
-der Boche hat mit ihnen gerechnet.“</p>
-
-<p>Und Clerambault dachte im Halbbewußtsein an die alte
-Frau, die ihr Stück Holz zum Scheiterhaufen des Johann
-Huß hinschleppte .... <span class='it'>Sancta Simplicitas</span>!</p>
-
-<p>Vaucoux hatte nicht die Flucht ergriffen und sich widerstandslos
-den Revolver aus der Hand nehmen lassen. Man hielt
-ihn fest bei den Armen. Er blieb unbeweglich und sah nur
-sein Opfer an, das wiederum ihn betrachtete. Beide dachten
-an ihre Söhne.</p>
-
-<p>Moreau bedrohte Vaucoux. Aber unerschütterlich und starr
-in seinem Haßglauben sagte Vaucoux:</p>
-
-<p>„Ich habe den Feind getötet!“</p>
-
-<p>Gillot, der sich über Clerambault neigte, sah, wie er schwach
-lächelnd Vaucoux betrachtete.</p>
-
-<p>„Mein armer Freund“, dachte er, „in dir selbst ist der Feind.“</p>
-
-<p>Er schloß wieder die Augen .... Jahrhunderte gingen vorbei....</p>
-
-<p>„Es gibt keine Feinde mehr!“</p>
-
-<p>Und Clerambault empfand selig den Frieden kommender
-Welten.</p>
-
-<h3>§</h3>
-
-<p><span class='dropcap'>D</span>a ihn das Bewußtsein schon verlassen hatte, trugen ihn
-die Freunde in das nahe gelegene Haus Froments.
-Aber ehe sie es betreten hatten, war er verschieden.</p>
-
-<p>Sie legten ihn auf ein Bett in einem Zimmer neben jenem,
-in dem der junge Gelähmte, umgeben von seinen Freunden,
-ruhte. Die Tür stand offen und der Schatten des toten
-Freundes schien bei ihnen zu weilen.</p>
-
-<p>Moreau ereiferte sich bitter über den Widersinn dieses Mordes,
-der, statt einen der großen Verbrecher der triumphierenden
-Reaktion oder einen der bekannten Anführer der revolutionären
-Minderheiten zu treffen, sich gerade gegen einen
-ungefährlichen, unabhängigen, allen brüderlich gesinnten
-und fast zu nachsichtigen Menschen gewendet hatte.</p>
-
-<p>Aber Edme Froment sagte:</p>
-
-<p>„Der Haß täuscht sich nicht. Ihn leitet ein sicherer Instinkt...
-Nein, er hat sich sein Ziel gut gesucht. Oft sieht der Feind viel
-klarer als der Freund. Versuchen wir nicht, uns einer Illusion
-hinzugeben: der gefährlichste Feind der Gesellschaft und
-der bestehenden Ordnung ist und war in dieser Welt der
-Gewalttätigkeit, der Lüge und der anderen Kompromisse
-von je und immer her der Mann des vollkommenen Friedens
-und des freien Gewissens. Nicht durch Zufall ist Jesus
-gekreuzigt worden, es mußte so sein, und er wäre später auch
-immer wieder zum Schafott geschleppt worden. Der Mann
-des Evangeliums ist der radikalste Revolutionär von allen,
-denn er ist die unerreichbare Quelle, aus der durch den
-Spalt der harten Erde die Revolutionen aufspringen. Er
-ist das ewige Prinzip der Nichtunterwerfung des Geistes
-unter den Cäsar, wer immer es auch sei, der ewige Auflehner
-gegen die ungerechte Gewalt. So erklärt sich der Haß der
-Staatsknechte und der hörig gemachten Völker gegen den
-gemarterten Christ, der auf sie niederschaut und schweigt,
-und gegen seine Schüler, gegen uns, die ewigen Dienstverweigerer,
-die „<span class='it'>conscientious objectors</span>“ wider alle
-Tyranneien, mögen sie nun von oben kommen oder von
-unten, mögen sie jene von morgen oder jene von heute sein
-— gegen uns, die Verkünder dessen, der größer ist als wir,
-der der Welt das Wort des Heiles bringt, dessen, den sie ins
-Grab gelegt, des Meisters, den sie zu Tode martern werden
-bis ans Ende der Welt, und der doch immer wieder auferstehen
-wird — der freie Geist, unser Herr und Gott!“</p>
-
-<p class='line' style='text-align:left;margin-left:2em;margin-top:4em;'><span class='gesp'>Sierre</span> 1916 — <span class='gesp'>Paris</span> 1920</p>
-
-<hr class='pbk'/>
-
-<p class='line' style='text-align:center;margin-top:.5em;font-size:1.2em;font-weight:bold;'>Anmerkungen zur Transkription</p>
-
-<p>Offensichtliche Druck- und Rechtschreibfehler wurden korrigiert.
-Bei Varianten der Schreibweise wurde die häufigste verwendet.</p>
-
-<p>Die Zeichensetzung wurde nur bei eindeutigen Druckfehlern geändert.
-Für dieses eBook wurde ein Cover erstellt, das nun gemeinfrei ist.</p>
-
-<p class='noindent'>[Das Ende von <span class='it'>Clerambault</span>,
-von Romain Rolland.]</p>
-
-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK CLERAMBAULT ***</div>
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-
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-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
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-</div>
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-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
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-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
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-</div>
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-The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
-Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
-to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
-and official page at www.gutenberg.org/contact
-</div>
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-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
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-</div>
-
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-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
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-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
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-
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-
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-ways including checks, online payments and credit card donations. To
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-</div>
-
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-Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
-</div>
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-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
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-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg&#8482; eBooks with only a loose network of
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-</div>
-
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-Project Gutenberg&#8482; eBooks are often created from several printed
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-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
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-</div>
-
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