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If you are not located in the United States, you -will have to check the laws of the country where you are located before -using this eBook. - -Title: Clerambault - Geschichte eines freien Gewissens im Kriege - -Author: Romain Rolland - -Translator: Stefan Zweig - -Release Date: October 13, 2021 [eBook #66532] - -Language: German - -Character set encoding: UTF-8 - -Produced by: Delphine Lettau, Cindy Beyer and the online Distributed - Proofreaders Canada team at http://www.pgdpcanada.net with - images provided by TIA_CAN - -*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK CLERAMBAULT *** - - [Cover Illustration] - - - - - R o m a i n R o l l a n d - - C l e r a m b a u l t - - Geschichte eines freien Gewissens - im Kriege - - - 1 9 2 2 - L i t e r a r i s c h e A n s t a l t - R ü t t e n & L o e n i n g - F r a n k f u r t a . M . - - - - - Berechtigte Übertragung aus dem - Französischen von S t e f a n Z w e i g - - - Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig - - - - - A n d e n L e s e r - -Dieses Werk ist kein Roman, sondern das Bekenntnis einer freien Seele -inmitten der Qual, die Geschichte ihrer Irrungen, Ängste und Kämpfe. Man -möge keine Selbstschilderung darin erblicken — werde ich eines Tages -über mich selbst schreiben wollen, so wird es ohne Decknamen und Maske -geschehen. Einige meiner Anschauungen habe ich allerdings in meinem -Helden zum Ausdruck gebracht, doch sein Wesen, sein Charakter und seine -Lebensumstände gehören ihm ganz allein zu. Ich wollte in diesem Werke -das innere Labyrinth schildern, das eine schwache, unentschiedene, -erregbare und verführbare, aber doch aufrichtige und in ihrem -Wahrheitswillen leidenschaftliche Natur langsam vorwärtstastend -durchirrt. - -In einigen Kapiteln deutet das Werk auf die Art der „Meditationen“ -unserer altfranzösischen Moralisten, der stoischen Essays zu Ausgang des -sechzehnten Jahrhunderts zurück. In jenen Zeiten, die den unsern -glichen, ja sie sogar an tragischem Grauen noch übertrafen, schrieb -inmitten der Kämpfe der Liga der erste Präsident Guillaume du Vair mit -unerschütterlicher Seele seine erhabenen Dialoge „Über die -Standhaftigkeit und die Tröstung im allgemeinen Mißgeschick“. Während -die Belagerung von Paris ihren Höhepunkt erreicht hatte, hielt er in -seinem Garten Zwiesprache mit seinen Freunden Linus, dem Weitgereisten, -mit Musée, dem ersten Rektor der medizinischen Fakultät, und dem -Schriftsteller Orphée. Und den Blick noch erfüllt von den tragischen -Bildern, die sie auf der Gasse gesehen — arme Menschen, die vor Hunger -gestorben waren, Frauen, die schrien: die Landsknechte verzehrten im -Temple ihre Kinder — versuchten sie ihren bedrückten Geist zu jenen -Höhen zu erheben, von denen man die geistige Welt der Jahrhunderte -umfängt und das Überdauernde jeder Prüfung sieht. Als ich in den -Kriegsjahren jene Dialoge überlas, fühlte ich mich mehr als einmal -diesem guten Franzosen nahe, der schrieb: „Es heißt ein Unrecht an dem -Menschen begehen, der geschaffen ist, alles zu sehen und alles zu -erkennen, wenn man ihn an eine einzelne Stelle der Erde bindet. Jedes -Stück Erde ist Land für den Vernünftigen... Gott hat uns die Erde -gegeben, daß wir sie alle in Gemeinschaft genießen, freilich mit der -Pflicht, anständige Menschen zu bleiben...“ - - R. R. - P a r i s, Mai 1920 - - - - - E i n l e i t u n g[A] - -Gegenstand dieses Buches ist nicht der Krieg, obzwar der Krieg es -überschattet. Sein wirkliches Thema ist das Versinken der Einzelseele im -Abgrund der Massenseele. Und dies ist für mein Empfinden ein für die -Zukunft der Menschheit viel entscheidenderes Phänomen als die -vorübergehende Oberherrschaft einer oder der anderen Nation. - -Mit Absicht habe ich alle politischen Fragen in den Hintergrund -gestellt: ihnen steht gesonderte Betrachtung zu. Aber wie immer auch man -den Ursprung des Krieges begründe, mit welchen Thesen und Gründen man -ihn erklären möge — keine irdische Rechtfertigung entschuldigt das -Kapitulieren der Vernunft vor der öffentlichen Meinung. - -Die allgemeine Entwicklung zur Demokratie, die von einem abgestorbenen -Begriff, dem ungeheuerlichen der Staatsräson, gedeckt ist, hat die -Geistigen Europas verleitet, sich zu dem Glaubensartikel zu bekennen, es -gäbe für den Menschen kein höheres Ideal, als Diener der Gemeinschaft zu -sein. Und diese Gemeinschaft nennt man: Staat. - -Ich aber scheue mich nicht zu sagen: wer sich zum blinden Diener einer -so blinden — oder verblendeten — Gemeinschaft erniedrigt, wie es die -Staaten von heute sind, in denen eine Handvoll Menschen in ihrer -Unfähigkeit, die Vielfalt der Völker zu begreifen, durch die Lügen der -Presse, den unerbittlichen Mechanismus des vereinheitlichten -Staatswesens den Mitmenschen ihre eigenen Narrheiten, -Leidenschaftlichkeiten und Geschäfte als ihre Gedanken und Taten -aufzwingt — wer dies tut, der dient nicht in Wahrheit der Gemeinschaft, -sondern er knechtet und erniedrigt sie mit sich selbst. Wer den anderen -von Nutzen sein will, muß vorerst frei sein. Auch Liebe ist wertlos, -solange sie die eines Sklaven ist. - -Freie Seelen, starke Charaktere — das tut heute der Welt am meisten -not! Auf den verschiedensten Wegen — leichenhafte Unterwerfung durch -die Kirchen, dumpfe Unduldsamkeit der Vaterländer, abstumpfender -Unitarismus im Sozialismus — kehren wir zur Form des Herdenlebens -zurück. Nur langsam hat sich der Mensch dem heißen Lehm der Erde -entrungen. Nun scheint es, als ob seine tausendjährige Anstrengung -erschöpft sei, und er läßt sich wieder in das Weiche zurücksinken. Die -Massenseele schluckt ihn auf, der entnervende Atem der Tiefe reißt ihn -mit sich... Auf darum! Rafft euch zusammen, ihr, die ihr glaubt, daß der -Kreislauf noch nicht erfüllt sei! Wagt es, euch von der Herde -abzusondern, die euch fortzieht! Jeder Mensch muß, so er ein wahrer -Mensch ist, lernen, allein innerhalb aller zu stehen, allein für alle zu -denken — wenn es nottut, sogar auch gegen alle! Aufrichtig denken heißt -für alle denken, selbst wenn man gegen alle denkt. Die Menschheit bedarf -derer, die ihr aus Liebe Schach bieten und sich gegen sie auflehnen, -wenn es not tut! Nicht indem ihr der Menschheit zuliebe euer Gewissen -und eure Gedanken fälscht, dient ihr der Menschheit, sondern indem ihr -ihre Unantastbarkeit gegen gesellschaftlichen Machtmißbrauch verteidigt; -denn sie sind Organe der Menschheit. Werdet ihr euch untreu, so seid ihr -untreu gegen sie. - - S i e r r e, März 1917 - R. R. - ------ - -[A] Diese Einleitung wurde im Dezember 1917 mit einer Episode des Romans -in Schweizer Zeitungen veröffentlicht. Eine beigegebene Notiz erklärte -den ursprünglichen Titel des Romans „_L’Un contre Tous_“: - -„... Dieser Titel, der sich, nicht ohne Ironie, an jenen La Boëties „_Le -Contre-Un_“ durch Umkehrung anschließt, möge nicht zur Ansicht -verleiten, der Autor habe die Anmaßung, e i n e n Menschen der ganzen -Menschheit entgegenzustellen. Er ruft nur zu dem heute so notwendigen -Kampf des persönlichen Gewissens gegen die Masse auf.“ - ------ - - - - - Erster Teil - - - - - § - -Agénor Clerambault saß im Schatten der Laube seines Gartens von -Saint-Prix und las seiner Frau und den Kindern seine neue Ode vor, die -Ode _Ara Pacis Augustae_, die er zu Ehren des Friedens über den Menschen -und Dingen geschrieben hatte und in der er die nahe Erfüllung der -Weltbrüderlichkeit verkünden wollte. - -Es war ein Juliabend. Auf den Gipfeln der Bäume lag letzter rötlicher -Schein, und durch den leuchtenden Dunst, der wie ein Schleier über die -Hügelhänge, die grauen Ebenen und die Ferne geworfen war, flammten die -Fensterscheiben von Montmartre als goldene Funken. Die Abendmahlzeit war -eben zu Ende. Clerambault, auf den noch nicht abgeräumten Tisch -gestützt, ließ im Sprechen seinen Blick voll naiver Freude von einem zum -anderen seiner drei Zuhörer hinwandern, denn er war sicher, bei ihnen -einen Widerglanz seiner Zufriedenheit zu finden. - -Seine Frau Pauline hatte einige Mühe, dem Flug seiner dichterischen -Bilder zu folgen: Vorlesen ließ sie immer unaufhaltsam vom dritten Satze -an in einen Zustand von träumerischer Schläfrigkeit versinken, in dem -die häuslichen Sorgen einen ganz ungebührlichen Platz einnahmen. -Gewissermaßen lockte die Stimme des Vorlesenden die Häuslichkeiten -hervor, sich zu regen, wie Kanarienvögel im Käfig. Vergeblich mühte sie -sich, auf den Lippen Clerambaults den Worten zu folgen, deren Sinn sie -nicht mehr wahrnahm, und sie sogar mit den eigenen Lippen -nachzusprechen. Es half nichts: ihre Augen bemerkten doch unbewußt ein -Loch im Tischtuch, ihre Hände krümelten die Brotreste auf dem Tisch -zusammen, ihr Nachdenken beschäftigte sich mit irgendeiner -widerspenstigen Rechnung, bis dann plötzlich der Blick Clerambaults sie -zu ertappen schien. Dann klammerte sie sich hastig an die letzte, gerade -gehörte Silbe und redete sich in eine Begeisterung hinein, indem sie -irgendein Stück Vers nachstammelte (niemals hatte sie auch nur einen -Vers ganz richtig zitieren können): - -„Wie hast du das gesagt, Agénor? Geh, wiederhole noch einmal diesen -Satz... Ach, wie das hübsch ist.“ - -Ihre Tochter, die kleine Rosine, schob die Augenbrauen zusammen, Maxime, -der große Bursche, zog eine spöttische Grimasse und sagte gereizt: - -„Mama, unterbrich doch nicht immer.“ - -Aber Clerambault lächelte und tätschelte zärtlich die Hand seiner guten -Frau. Er hatte sie aus Liebe geheiratet, als er sehr jung, arm und -unbekannt war, sie hatten gemeinsam all die bitteren ersten Jahre -durchgelebt. Sie stand nicht ganz auf seinem geistigen Niveau, und -dieser Unterschied milderte sich mit den Jahren durchaus nicht, aber -Clerambault liebte und respektierte seine alte Gefährtin. Sie gab sich -mit wenig Erfolg viele Mühe, mit ihrem großen Mann, der ihr Stolz war, -gleichen Schritt zu halten; er wiederum hatte für sie eine besondere -Nachsicht. Der kritische Geist war nicht seine Stärke, und er befand -sich gerade dadurch, trotz zahlreicher Irrtümer in seinen Ansichten, im -Leben sehr wohl; denn da er sich immer zugunsten der andern irrte, die -er im schönsten Licht sah, wußten ihm seine Mitmenschen, allerdings mit -einiger Ironie, reichen Dank dafür. Er störte sie nicht in ihrer wilden -Jagd nach Erfolg, und seine provinzlerische Reinheit war für die -Blasierten ein so erfrischendes Schauspiel wie der Anblick eines Stückes -Grün inmitten eines Pariser Häusergeviertes. - -Maxime machte sich ein wenig über diese Schwäche seines Vaters lustig, -ohne deshalb seinen Wert zu verkennen. Dieser hübsche Bursche von -neunzehn Jahren hatte mit seinen hellen und lachenden Augen im Pariser -Milieu rasch die Fähigkeit der geschwinden, klaren und spöttischen -Beobachtung angenommen, die sich mehr auf die äußeren Nuancen der Dinge -und Menschen richtet, als auf die Ideen: ihm entging nirgendwo das -Komische, selbst nicht bei jenen, die er liebte. Aber das geschah ganz -ohne Böswilligkeit, und Clerambault war der erste, seiner jungen -Frechheit zuzulächeln. In Wirklichkeit verminderte sie in nichts die -Verehrung Maximes für seinen Vater, sie war nur gewissermaßen ihre -Würze: die jungen Burschen müssen ja auch, um den lieben Gott gern haben -zu können, ihn manchmal am Bart ziehen dürfen! - -Rosine blieb still, wie es ihre Art war, und es wäre schwer gewesen, -ihre Gedanken zu erraten. Sie hörte mit vorgeneigtem Körper, gekreuzten -Händen und aufgestützten Armen zu. Es gibt Naturen, die zum Empfangen -geschaffen scheinen wie die schweigende Erde, die sich jedem Korn -eröffnet: viele, die sich darin versenken, bleiben schlafend, und man -vermag nicht zu unterscheiden, welche Frucht tragen werden. So war die -Seele dieses jungen Mädchens. Die Worte des Vorlesenden spiegelten sich -nicht so sichtlich in ihr, wie in den klugen und beweglichen -Gesichtszügen Maximes, aber ein leichtes Rot auf ihren Wangen und der -feuchte Glanz der von den Wimpern überschatteten Augen bezeugten eine -innere Glut und Verwirrung wie auf jenen Bildern der florentinischen -Jungfrauen, die das magische Ave des Erzengels erweckt. - -Clerambault verkannte sie nicht. Wenn sein Blick den kleinen Kreis der -Seinen umwanderte, blieb er mit besonderer Freude auf dem blonden -geneigten Haupte ruhen, das dieser zärtlichen Betrachtung wohl bewußt -war. - -So bildeten die vier an diesem Juliabend einen reinen Ring von -Zärtlichkeit und Glück, dessen Mittelpunkt der Vater war, das Idol der -Familie. - - § - -Er wußte, wer er war, und seltsamerweise machte dieses Wissen um sich -ihn nicht antipathisch. Er hatte so viel Freude daran, zu lieben, hatte -so viel Zärtlichkeit für alle in Nähe und Ferne ständig bereit, daß er -es nur natürlich fand, wenn man ihm diese Liebe zurückgab. Eigentlich -war er ein großes Kind. Seit kurzem zur Berühmtheit gelangt, nach einem -Leben von keineswegs goldener Mittelmäßigkeit, hatte er an jener -vergangenen Zeit zwar nicht gelitten, aber die neue, die hellere, tat -ihm wohl, und er genoß sie. Daß er das fünfzigste Jahr überschritten -hatte, sah man ihm kaum an. Zwar glänzten schon einige weiße Haare in -seinem dicken, blonden, gallischen Schnurrbart, aber sein Herz war jung -geblieben mit seinen Kindern. Statt mit dem Strom seiner Generation zu -gehen, gab er sich jeder neuen Welle hin, das Schönste des Lebens schien -ihm im leidenschaftlichen Schwung seiner Erneuerung mit jeder neuen -Jugend zu bestehen, und er kümmerte sich nicht um die Gegensätze, mit -denen immer die neue Jugend sich gegen die frühere stellt, denn diese -Gegensätze lösten sich ganz auf in seinem mehr enthusiastischen als -logischen Gefühl, das überall Schönheit sah und immer von ihr trunken -war. Dazu kam noch ein besonderes Bestreben nach Güte, das zwar nicht -recht mit seinem ästhetischen Pantheismus zusammenstimmte, aber das -seinem eigensten tiefsten Wesen entsprang. - -Er hatte sich zum Wortführer aller edlen und menschlichen Ideen gemacht, -sympathisierte mit den radikalsten Parteien, den Arbeitern, den -Unterdrückten, dem Volke — das er übrigens nicht kannte, denn er war -ein reiner Bourgeois, voll von humanen und verschwommenen Ideen. Noch -mehr als das Volk vergötterte er die Menge, er liebte sich in ihr zu -baden, er genoß es als höchstes Glück, sich in der Gesamtseele -aufzulösen (wenigstens glaubte er es von sich). Diese letzte Neigung war -nun allerdings eine ziemlich verbreitete unter den Intellektuellen von -damals, die Mode unterstrich hier, wie gewöhnlich, nur einen besonders -ausgeprägten Zug des Zeitgefühls. Die Menschheit entwickelte sich in -dieser Epoche immer bewußter dem Ideal eines Ameisenhaufens entgegen, -und selbstverständlich drückten die empfindsamsten Wesen, die Künstler -und die Intellektuellen, als erste die Symptome dieser Entwicklung aus. -In ihrer Neigung erblickte man zunächst ein bloßes Spiel und verkannte -den Gesamtzustand, für den diese Symptome nur das Merkzeichen waren. - -Die demokratische Entwicklung der Welt seit vierzig Jahren hatte viel -weniger in der Politik die Herrschaft des Volkes verwirklicht, als in -der Gesellschaft den Triumph der Mittelmäßigkeit. Gegen diese -Nivellierung des Geistigen hatte im ersten Augenblick die Elite der -Künstler ganz richtig reagiert. Aber zu schwach, um gegen sie -anzukämpfen, hatte sie sich mit bewußter Übersteigerung ihrer Verachtung -und ihrer Isolierung in das Abseits zurückgezogen: sie predigte eine -seltene, eine artistische Kunst, die unzugänglich blieb für die Masse -und nur aufgetan für Eingeweihte. Nun gibt es nichts Fruchtbareres als -die Flucht in die Einsamkeit, wenn man in sie ein vollwirkendes -Gewissen, einen Überfluß des Gefühls, eine strömende Seele mit bringt. -Aber welch ein Abstand zwischen diesen literarischen Cenaclen des -neunzehnten Jahrhunderts und jenen fruchtbaren Eremitagen, in die sich -die mächtigen Gedanken einstens flüchteten! Diese neuen Abseitigen waren -mehr damit beschäftigt, ihr geistiges Kleingeld aufzuzehren statt es zu -erneuern; um es rein zu erhalten, hatten sie die Münze aus dem -allgemeinen Umlauf gezogen, was zur Folge hatte, daß sie bald jeden Wert -verlor. Das Leben der Gesamtheit ging an ihnen vorbei, ohne sich um sie -zu kümmern, die Kaste dieser Künstler wurde siech und bleichsüchtig bei -ihren raffinierten Spielen. Gewaltige Windstöße zur Zeit der -Dreyfus-Krise entrissen einige Stärkere unter ihnen der Erstarrung, und -kaum daß sie aus ihrem Orchideengarten ins Freie traten, berauschte sie -der Wind der Welt. Mit ebensolcher Übertreibung, wie ihre Vorgänger sie -an die Abseitigkeit von der Menge wandten, stürzten sie sich in die -große vorüberströmende Flut. Sie glaubten, daß das Volk das Heil sei, -das Gute, das Wahre, das Schöne, und trotz aller Enttäuschungen, die sie -bei ihren vergeblichen Versuchen der Annäherung erlebten, inaugurierten -sie eine neue Strömung in der europäischen Kunst und im europäischen -Geistesleben. Sie setzten ihren Stolz darein, sich Interpreten der -Massenseele zu nennen, in Wirklichkeit aber waren es nicht sie, die -eroberten, sondern die erobert wurden. Die Massenseele hatte Bresche -geschossen in den Elfenbeinturm, und die matten Persönlichkeiten der -Denker kapitulierten; um vor sich selbst ihre Abdankung zu verbergen, -nannten sie sie eine freiwillige Hingabe. In ihrem Bedürfnis, sich -selbst zu überzeugen, fabrizierten ihre Philosophen und Ästheten eigene -Theorien, die als Gesetz beweisen sollten, daß man sich dem -allgewaltigen Leben hingeben sollte, statt es zu lenken oder auch nur -bescheiden seinen eigenen braven Weg gelassen hinzugehen. Man trieb -einen Kult damit, nicht mehr sein eigenes Ich zu sein, keine eigene -Vernunft, keinen eigenen individuellen Willen mehr zu haben (die -Freiheit galt diesen Demokratien als alte abgetane Sache), man prahlte -damit, nur mehr ein Blutkügelchen in den Adern des blind dahinwirkenden -Stromes zu sein — die einen sagten, des Stromes der Rasse, die andern, -des Stromes des Instinkts oder des universellen Lebens. Und diese -ansprechenden Theorien, aus denen die Geschickteren in der Kunst und -Philosophie ihr Teil zu ziehen wußten, standen 1914 in schönster Blüte. - -Sie hatten auch ganz das Herz des naiven Clerambault gewonnen. Nichts -paßte besser zu seinem zärtlichen Herzen und zu seiner geistigen -Unsicherheit, denn für den, der sich nicht selbst besitzt, ist es -leicht, sich hinzugeben; den andern, dem All, der Vorsehung, dieser -unbekannten und undefinierbaren Macht, lädt man die ganze Last auf, für -einen zu denken und für einen zu wollen. Der große Strom zog vorbei, und -die trägen Seelen, statt ihren Weg selbst am Ufer hinzuziehen, fanden es -viel einfacher und viel berauschender, sich einfach von ihm tragen zu -lassen... Wohin?... Darüber nachzudenken, mühte sich keiner ab. Schön im -Warmen in ihrem Okzident, kamen sie niemals auf die Idee, daß die -Zivilisation einmal alle ihre Errungenschaften auch verlieren könne. Der -Gang des Fortschritts schien ihnen ebenso selbstverständlich wie die -Umdrehung der Erde, denn diese Überzeugung erlaubte ihnen ja, ruhig -zuzusehen und mit gekreuzten Armen alles geschehen zu lassen. Man gab -sich dem Schicksal einfach hin, das unterdessen den Abgrund höhlte und -sie unten erwartete. - -Aber als guter Idealist sah Clerambault selten auf seine Füße. Das -hinderte ihn zwar nicht, sich blindlings in die Politik zu mengen, wie -es ja die Leidenschaft der Literaten zu jener Zeit war. Er gab gern -seinen Senf dazu, wenn ihn Journalisten, die gerade ein paar Spalten -brauchten, darum angingen, und ging ganz ernsthaft mit aufrichtigem -Wichtigkeitsgefühl in ihre Netze. Im ganzen ein guter Dichter und guter -Mensch, gescheit und zugleich ein wenig beschränkt, ein reines Herz und -schwacher Charakter, der Bewunderung und dem Tadel sowie allen -Einflüsterungen seines Milieus zugänglich, zwar unfähig zu irgendeinem -häßlichen Gefühl des Neides und des Hasses, unfähig aber auch, es bei -andern zu vermuten, kurzsichtig für das Böse, weitsichtig für das Gute -im Chaos der menschlichen Gefühle, war er so recht der Typus eines -Schriftstellers, der geschaffen ist, den Lesern zu gefallen, weil er -ihre Fehler übersieht und ihre kleinen Tugenden verschönt. Denn selbst -diejenigen, die nicht darauf hineinfallen, sind solchen Schriftstellern -dankbar, denn man will das scheinen, was man nicht ist, und liebt die -Welt von Augen gesehen, in denen das Mittelmäßige des Lebens schön wird. - -Diese allgemeine Sympathie, die Clerambault beglückte, war nicht minder -schön für die drei Menschen zu genießen, die in diesem Augenblick bei -ihm weilten. Sie waren stolz auf ihn, als wäre er ihr Werk, denn was man -bewundert, ist immer ein wenig so, als hätte man es selbst getan. Und -wenn man dazu noch einem solchen Mann, einem so verehrten Wesen -zugehört, von seinem eigenen Blute ist, dann unterscheidet man nicht -mehr genau, inwieweit man von ihm stammt oder er von einem. Die beiden -Kinder und die Frau Agénor Clerambaults betrachteten ihren großen Mann -mit den zärtlichen und zufriedenen Augen des Besitzers, und er, der sie -mit seinem glühenden Wort und seinem hohen Wuchs mit den ein wenig -erhobenen Schultern überragte, ließ es ruhig geschehen. Er wußte, daß -der Besitz Herr des Besitzers ist. - - § - -Clerambault endete seine Vorlesung mit einer Schillerschen Vision der -nahenden brüderlichen Menschheitsfreude. Maxime, trotz seiner Ironie von -Enthusiasmus hingerissen, brach in Beifall zu Ehren des Dichters aus und -trommelte allein seinen begeisterten Applaus. Pauline erkundigte sich -geräuschvoll, ob Agénor sich beim Sprechen nicht zu sehr erhitzt habe. -Rosine, die einzig Schweigsame in der allgemeinen Erregung, legte -heimlich die Lippen auf die Hand des Vaters. - -Das Dienstmädchen brachte die Post und die Abendblätter. Keiner hatte -Eile, sie zu lesen. Im Augenblick, da sie aus so strahlender -Zukunftswelt traten, schienen ihnen die Nachrichten aus dem irdischen -Tag nicht sehr eilig; dennoch löste Maxime die Schleife von dem großen -bürgerlichen Tagesblatt, überlas mit einem Blick die vier gedrängten -Seiten und rief, die letzten Nachrichten überfliegend: „Donnerwetter, es -gibt Krieg!“ - -Keiner hörte auf ihn. Clerambault wiegte sich in den letzten -Schwingungen seiner verflogenen Worte, Rosine war in stiller -Begeisterung. Nur die Mutter, deren Denken auf nichts dauernd achtgeben -konnte und wie eine Fliege nach allen Richtungen hinflatterte, um auf -gut Glück etwas aufzulesen, hörte das letzte Wort und sagte erregt: - -„Maxime, sag’ doch keine Dummheiten.“ - -Maxime protestierte und zeigte in der Zeitung die Kriegserklärung -Österreichs an Serbien. - -„An wen?“ - -„An Serbien.“ - -„Ach so“, atmete die gute Frau erleichtert auf, als ob sie sagen wollte: -„Was da droben im Mond vorgeht...“ - -Aber Maxime gab nicht nach und bewies — _doctus cum libro_ — daß im -nächsten Augenblick dieser ferne Brand den Funken ins Pulverfaß werfen -könnte. Clerambault, der langsam aus seinem angenehmen Mattigkeitsgefühl -zu erwachen begann, erklärte sofort, daß nichts geschehen werde. - -„Ein Bluff, so wie man schon Dutzende seit dreißig Jahren im Frühjahr -und im Sommer gesehen hat... Eisenfresser, die mit dem Säbel klirren... -Keiner glaubt an den Krieg, keiner will ihn... Ein Weltkrieg ist ja -unmöglich, das ist heute genug bewiesen. Er ist nicht mehr als ein -Schreckgespenst, und man sollte es endlich aus dem Gehirn der freien -Demokratien austreiben.“ - -Und Clerambault verbreitete sich in ausführlichen Worten über das -Thema... - -Die Nacht war still, sanft und vertraulich. In den Feldern zirpten die -Grillen, ein Glühwürmchen leuchtete im Gras, ferne donnerte leise ein -Zug. Die Glyzinen dufteten, ein Springbrunnen tropfte murmelnd nieder, -und vor dem mondlosen Himmel drehte sich der Scheinwerfer vom -Eiffelturm. - -Die beiden Frauen gingen in das Haus zurück. Maxime, müde vom langen -Sitzen, lief im Garten mit seinem jungen Hunde um die Wette, durch die -offenen Fenster hörte man, wie Rosine am Klavier mit zurückhaltendem -Gefühl Schumann spielte. Clerambault, allein zurückgeblieben, -langhingestreckt in seinen Strohsessel, atmete, voll Glück zu leben und -Mensch zu sein, mit dankbarem Herzen die Güte dieser Sommernacht. - - § - -Sechs Tage später. - -Clerambault hatte den Nachmittag im Walde verbracht. Wie der Mönch in -der Legende konnte er, am Fuße einer Eiche hingelehnt, dem Vogelsang mit -offenem Mund lauschend, ein Jahrhundert wie einen Tag hinrinnen lassen. -Erst als es Abend wurde, entschloß er sich heimzukehren. Im Eingang trat -Maxime, ein wenig blaß und gezwungen lächelnd, auf ihn zu und sagte: - -„Papa, es geht los.“ - -Er erzählte ihm die letzten Neuigkeiten: Die russische Mobilisation, den -Kriegszustand in Deutschland. Clerambault sah ihn an, ohne ihn zu -verstehen. Seine Gedanken waren so weit weg von diesen traurigen -Torheiten! Er versuchte, die Tatsachen abzustreiten, aber sie waren -unwiderleglich. Alle setzten sich zu Tisch. Aber Clerambault konnte -nichts essen. - -Er suchte nach Vernunftgründen, um die Folgen dieser beiden -verbrecherischen Handlungen zu entwerten: das richtige Gefühl der -öffentlichen Meinung, die guten Absichten der Regierungen, die so oft -wiederholte Ankündigung der sozialistischen Partei, die entschlossenen -Worte Jaurès’. Maxime ließ ihn ruhig reden, seine Gedanken waren ganz wo -anders: wie sein junger Hund mit gespitztem Ohr horchte er hinaus auf -jede Regung der Nacht... Und es war eine so reine, eine so zärtliche -Nacht. Alle, die diese letzten Abende im Juli 1914 und jenen noch -schöneren des 1. August erlebt haben, bewahren in ihrer Erinnerung den -wunderbaren Glanz der Natur, die mit ihren zärtlichen Armen und einem -schönen Lächeln des Mitleids die unselige Menschheit umfing, die damals -schon bereit war, sich gegenseitig zu zerreißen. - -Es war schon fast zehn Uhr. Clerambault hatte aufgehört zu sprechen. Sie -schwiegen alle mit schwerem Herzen, irgendwie beschäftigt oder bemüht es -zu scheinen, die Frauen mit einer Handarbeit, Clerambault mit einem -Buche, das er aber nur mit den Augen überflog. Maxime war auf die -Terasse getreten und rauchte. An die Rampe gelehnt, sah er auf den -schlafenden Garten und die magische Welle von Mondlicht im Dunkel der -Alleen. - -Das Läuten des Telephons ließ sie alle aufschrecken. Man verlangte -Clerambault. Er ging mit schweren Schritten, bedrückt und zerstreut, zum -Apparat. Anfangs verstand er nicht. - -„Wer spricht?... Ach, Sie sind’s, lieber Freund?...“ (Ein Pariser -Kollege telephonierte ihm aus der Redaktion seines Blattes.) - -Clerambault verstand noch immer nicht: - -„Ich verstehe nicht... Jaurès?... wirklich Jaurès?... O mein Gott...!“ - -Maxime, der, von einer geheimen Ahnung getrieben, von fern dem Gespräche -zuhörte, stürzte an den Apparat, um das Hörrohr aus der Hand des Vaters -zu nehmen, das Clerambault mit einer verzweifelten Geste hatte sinken -lassen. - -„Hallo! Hallo!... Was sagen Sie? Jaurès ermordet...!“ - -Ausrufe der Trauer und des Zornes antworteten sich durch den Draht. -Maxime ließ sich die Details sagen, die er mit geknickter Stimme den -Seinen wiederholte. Rosine hatte Clerambault an den Tisch zurückgeführt. -Wie zerbrochen setzte er sich hin. Der Schatten eines ungeheuren -Unglücks lastete wie das antike Schicksal über dem Hause. Es war nicht -nur der Freund, dessen Hingang das Herz bedrängte — sein gutes, -heiteres Antlitz, seine herzliche Hand, die Stimme, die alles Trübe -hinwegfegte... es war Trauer auch um die letzte Hoffnung der bedrohten -Völker, um den einzigen Mann, der (sie glaubten es wenigstens mit -kindlichem und rührendem Vertrauen) den drohenden Sturm hätte -beschwichtigen können. Nun, da er gefallen war, stürzte, gleichsam als -ob Atlas der Träger hingesunken wäre, der Himmel ein. - -Maxime lief an den Bahnhof. Er wollte Neuigkeiten von Paris holen und -versprach, noch in der Nacht zurück zu sein. Clerambault blieb im -einsamen Haus zurück, aus dem man von fern die große Lichtausstrahlung -der Stadt sehen konnte. Er hatte sich nicht von dem Sessel gerührt, in -den er in einem Zustand von Starre gesunken war. Die Katastrophe war -unterwegs, jetzt gab es keinen Zweifel mehr, sie war schon da. Seine -Frau versuchte ihn zu veranlassen, schlafen zu gehen, er wollte nichts -davon hören. Seine Lebensidee war in Trümmer, nichts Festes, nichts -Sicheres konnte er mehr unterscheiden, keine Ordnung machen, keinem -Gedanken folgen. Sein inneres Haus war eingestürzt, und inmitten des -Staubes, der sich aus dem Schutt erhob, vermochte er nicht zu erkennen, -was noch aufrechtgeblieben, und es schien ihm: nichts! Ungeheuerliche -Massen von Leiden — das war alles. Und Clerambault betrachtete sie mit -stumpfem Blick, ohne die Tränen zu fühlen, die über seine Wangen -herabrollten. - -Maxime kam nicht zurück. Die Aufregung von Paris hatte ihn gepackt. Um -ein Uhr nachts kam Frau Clerambault, die sich schon schlafen gelegt -hatte, ihren Mann holen, und es gelang ihr, ihn in ihr gemeinsames -Schlafzimmer zu führen. Er legte sich sofort zu Bett. Aber kaum, daß -Pauline eingeschlafen war (die Unruhe hatte sie müde gemacht), stand er -wieder vom Bette auf und kehrte in das Nachbarzimmer zurück. Er stöhnte, -er seufzte, seine Qual war so drückend und dicht, daß sie ihm keinen -Raum zum Atmen ließ. Mit dem prophetisch überreizten Gefühl des -Künstlers, der oft deutlicher das Kommende als das Gegenwärtige sieht, -umfing er alles, was geschehen würde, mit erschreckten Blicken und -gekreuzigtem Herzen. Dieser unvermeidliche Krieg zwischen den größten -Völkern der Welt schien ihm der Bankbruch der Zivilisation, Vernichtung -seiner heiligsten Hoffnung auf die menschliche Brüderlichkeit. Mit -Entsetzen erfüllte ihn die Vision dieser tollen Menschlichkeit, die ihre -kostbarsten Schätze, ihre Kräfte, ihr Genie, ihre höchsten Werte dem -bestialischen Götzen des Krieges hinopferte. Ein moralisches Sterben war -es für ihn, eine schmerzhafte Gemeinschaft mit den Millionen -Unglücklicher. Wozu also, wozu die Mühe von Jahrhunderten! Die Leere -erdrückte ihm das Herz. Er fühlte, daß er nicht mehr leben könne, wenn -sein Glauben an die menschliche Vernunft und die gegenseitige Liebe -zerstört würde, wenn er zugeben müßte, daß sein Credo des Lebens und der -Kunst, daß all sein Hoffen ein Irrtum und die wahre Lösung des -Welträtsels ein dumpfer Pessimismus sei, und er fühlte sich zu schwach, -zu feige, dieser Wahrheit in das Gesicht zu sehen. Voller Grauen wendete -er die Augen ab. Aber das Ungetüm war da und fauchte ihm ins Gesicht. -Und Clerambault betete — er wußte nicht zu wem, und nicht, um was — -daß es nicht geschehen möge, daß es nicht wahr sei. Alles lieber als -eine solche Wahrheit! Doch die mörderische Wirklichkeit stand hinter der -Tür, die sich auftat. Clerambault kämpfte die ganze Nacht, um ihr den -Eingang zu sperren... - -Am Morgen aber begann allmählich irgendein Urinstinkt in ihm zu keimen, -der aus einer unbekannten Tiefe kam und die Verzweiflung abzulenken -suchte in das dumpfe Verlangen, eine genaue und sichere Ursache für -dieses Unglück zu finden, sie in irgendeinem Menschen oder einer Gruppe -von Menschen festzustellen und dann auf diese den ganzen Zorn über das -Unglück der Menschheit zu entladen... Nur ein kurzes Aufflammen war es, -aber dennoch schon erste ferne Ausstrahlung einer fremden, dunkeln, -gewalttätigen und finsteren Seele, die in ihn eindringen wollte — der -Massenseele... - -Sie nahm deutlichere Formen mit der Ankunft Maximes an, der von ihrem -Dunst durchdrungen war, den er in der Nacht in den Straßen von Paris -eingesogen. Alle Falten seiner Kleider, jedes Haar seines Körpers war -davon durchdrungen. Überreizt, exaltiert, wollte er sich nicht -niedersetzen, er dachte nur daran schon abzureisen. Heute würde ja das -Mobilisationsdekret erscheinen. Der Krieg war sicher, er war notwendig. -Er war eine Wohltat. Man mußte einmal Schluß machen. Die Zukunft der -Menschheit stand auf dem Spiel, die Freiheit der ganzen Welt war -bedroht. Sie hatten die Ermordung Jaurès ausgedacht, um das überfallene -Vaterland uneinig zu machen und zu revolutionieren, aber die ganze -Nation stand wie ein Mann hinter den Führern. Die herrlichen Tage der -großen Revolution würden sich erneuern... Clerambault widersprach keiner -Behauptung, kaum, daß er sagte: - -„Meinst du? Bist du wirklich sicher?“ - -Aber es war gleichsam eine geheime Bitte, Maxime möchte ja sagen und -noch mehr sagen. Die neuen Nachrichten vermehrten das Chaos noch und -trieben es zum Äußersten. Aber gleichzeitig begannen sich die verstörten -Geisteskräfte auf einen bestimmten Punkt hin zu ordnen. Es war wie das -erste Bellen des Hundes, auf das hin sich die Herde zusammenrottet. - -Clerambault hatte nur mehr ein Verlangen: sich der Herde anzuschließen, -sich zu reiben an den Menschenwesen, seinen Brüdern, so wie sie zu -fühlen, so wie sie zu handeln. Obwohl er vom vorigen Abend noch -erschöpft war, ging er trotz des Protestes seiner Frau mit Maxime fort, -um den Zug nach Paris zu nehmen. Sie mußten lange am Bahnhof, lange im -Zuge warten. Die Geleise waren verstellt und die Waggons überfüllt. In -der allgemeinen Erregung fanden die Clerambaults eine gewisse -Entlastung. Er fragte, er hörte zu: Alle verbrüderten sich, und alle, -ohne zu wissen, was sie dachten, wußten, daß sie dasselbe dachten: daß -dasselbe Rätsel, dieselbe Qual sie bedrohte. Aber man war nicht mehr -allein, um ihrer Herr zu werden oder ihr zu unterliegen, und das -beruhigte, das erleichterte ein wenig. Sie fühlten alle die gegenseitige -Wärme. Es gab keinen Unterschied der Klassen mehr, keine Bürger und -Arbeiter, man sah nicht auf die Kleider und Hände, man sah sich nur in -die Augen, wo dieselbe Flamme des Lebens leuchtete, wo derselbe Schauer -des Todes schattete. Und alle diese armen Leute waren so sichtlich den -Ursachen der Katastrophe fremd, daß das Gefühl ihrer Unschuld sie ganz -einfältig zwang, den Schuldigen anderswo zu suchen. Auch das war eine -Wohltat, eine Erleichterung für ihr Gewissen. - -Als Clerambault in Paris ankam, atmete er leichter; statt der Todesqual -der vergangenen Nacht fühlte er eine stoische und männliche Melancholie. - -Aber er stand erst vor der ersten Stufe. - - § - -Das Dekret der allgemeinen Einrückung war soeben an die Türen der -Gemeindehäuser angeschlagen worden. Schweigend lasen es die Leute, lasen -es noch einmal und gingen, ohne ein Wort zu sagen, weiter. Nach der -angstvollen Erwartung der vorhergehenden Tage, in denen sich die Menge -um die Zeitungskioske drängte, die Leute auf den Steinen saßen, um die -Stunde der Zeitungsausgabe zu erwarten, um sich, wenn die Blätter -endlich ankamen, auf sie zu stürzen, war dies endlich Gewißheit, und sie -bedeutete eine Entspannung. Das ungewisse Unheil, das man kommen fühlt, -ohne zu wissen, wann und woher, regt auf. Aber sobald es einmal da ist, -atmet man freier, sieht ihm ins Antlitz und streift sich die Hemdärmel -auf zum Kampf. Es gab einige Stunden mächtiger Sammlung, Paris hatte -wieder seinen Atem und rüstete seine Fäuste. Und dann: alles, was die -einzelnen Seelen zum Ersticken schwellte, stieß jetzt ins Freie. Die -Häuser leerten sich, und in den Straßen flutete ein Menschenstrom, -dessen Tropfen sich suchten, um sich zu vereinigen. - -Clerambault stürzte mitten hinein und wurde aufgetrunken mit einem -einzigen Schluck, kaum daß er aus dem Bahnhof getreten war und den Fuß -auf das Pflaster gesetzt hatte, ohne daß irgendein Wort fiel, ohne -Geste, ohne Zufall. Die ernste Begeisterung des Stromes rauschte auch in -ihm. Noch war dies große Volk frei von Gewalttätigkeit. Es wußte sich -(oder glaubte sich) unschuldig, seine Millionen Herzen glühten in dieser -ersten Stunde, wo der Krieg noch jungfräulich war, von Ernst und -heiligem Enthusiasmus. In diese ruhige und stolze Trunkenheit mengte -sich das Gefühl des erlittenen Unrechts, der berechtigte Stolz auf die -eigene Kraft, auf die Opfer, zu denen es bereit war, mengte sich das -Mitleid mit sich selbst, das Mitleid mit den anderen, die ein Stück -seiner selbst geworden waren. Brüder, Kinder, Geliebte, alle waren sie -aneinander, Leib an Leib, gepreßt, zusammengepreßt durch die -übermenschliche Umklammerung, und sie fühlten das Bewußtsein des -Riesenkörpers, der ihre Einheit bildete, und die Erscheinung des -Phantoms über ihren Häuptern, das der Sinn dieser Einheit war — das -Vaterland. Halb Tier, halb Gott, wie die ägyptische Sphinx oder der -assyrische Stier — aber in jenem Augenblicke sah jeder nur seine -leuchtenden Augen, seine Pranken waren verborgen. Es war das göttliche -Untier, in dem jeder Lebendige sich vervielfältigt fand, die mörderische -Unsterblichkeit, denn die, die sterben sollten, glaubten, daß sie in ihr -weiter leben würden, ein anderes, gesteigertes, von Ruhm umwölktes -Leben. Seine unsichtbare Gegenwart strömte in der Luft wie Wein, und -jeder brachte in die Kufe der großen Weinlese seinen Korb, seine Frucht, -seine Rebe, seine Ideen, seine Leidenschaften, seine Hingabe, seinen -Vorteil. Es gab wohl viel widerliches Gewürm in den Trauben, viel -Schmutz unter den Winzerschuhen, die sie traten, aber der Wein glühte -wie Rubin und ließ das Herz erglühen. Clerambault trank davon bis zum -Übermaß. - -In Wirklichkeit wurde er davon nicht verwandelt, seine Seele nicht -verändert. Sie vergaß sich nur. Kaum, daß er mit sich allein war, fand -er sie wieder zurück, stöhnend unter ihrer Qual wie von einer Wunde. -Darum ließ ihn auch sein Instinkt das Alleinsein fliehen. Er versteifte -sich darauf, nicht nach Saint-Prix zurückzukehren, wo die Familie sonst -gewöhnlich die Sommermonate verbrachte, sondern schlug seine Wohnung -wieder in Paris auf, im fünften Stock der Rue d’Assas. Er wollte nicht -einmal eine Woche warten, nicht einmal zurückkehren und bei der -Übersiedlung helfen, so sehr brauchte er diese tierische Wärme, die von -Paris aufstieg und die bis in seine Fenster hinein drang. Jede -Gelegenheit war ihm willkommen, um sich in den warmen Strom -hineinzustürzen, auf die Straße hinabzusteigen, sich den Gruppen -anzuschließen, den Manifestationen zu folgen und sich auf gut Glück alle -Zeitungen zu kaufen, die er sonst in gewöhnlichen Zeiten verachtet -hatte. Wenn er dann zurückkam, spürte er sich immer mehr entpersönlicht, -mehr unempfindlich geworden für alles, was in seiner wahren Tiefe -vorging, entwöhnt seinem eigenen Gewissen, fremd seinem inneren Haus — -seinem Ich. Und deshalb fühlte er sich auf der Gasse wohler als daheim. - - § - -Frau Clerambault war mit ihrer Tochter nach Paris zurückgekehrt. Gleich -am ersten Abend nach ihrer Ankunft nahm Clerambault Rosine auf die -Boulevards mit. - -Die feierliche Glut der ersten Tage war vorbei. Der Krieg hatte -begonnen, die Wahrheit war geknebelt, und die große Lügnerin, die -Presse, schüttete auf die Nationen, die mit offenem Maul zu ihr -aufstarrten, mit vollem Schwung den Alkohol kurzlebiger Siege und -vergifteter Berichte. Paris war beflaggt wie für einen Festtag. Vom Dach -bis zur Schwelle standen die Häuser mit den drei Farben geschmückt, in -den Arbeiterstraßen trug jedes Mansardenfenster ein kleines Fähnchen für -einen Sou wie eine Blume am Hut. - -An der Ecke Faubourg Montmartre begegneten sie einem seltsamen Zug. -Vorne marschierte ein großgewachsener Greis mit weißem Bart, ein Banner -in der Hand. Er ging mit großen, geschmeidigen und rhythmisch -abgehackten Schritten, als ob er springen oder tanzen wollte. Seine -Rockschöße schlugen hin und her im Wind. Hinter ihm marschierte eine -kompakte, unbestimmbare, brüllende Masse, Arbeiter und Bürger, Arm in -Arm, ein Mädel wurde hoch auf den Schultern getragen, ein roter -Dirnenschopf zwischen der Mütze eines Chauffeurs und dem Käppi eines -Soldaten. Alle gingen sie, die Brust herausgestemmt, das Kinn gehoben, -den Mund weit aufgerissen, schwarze Löcher, aus denen die Marseillaise -dröhnte. Rechts und links flankierten verdächtige Gesichter vom -Bürgersteig den Zug, bereit, jeden Vorübergehenden zu insultieren, der -zerstreut die Fahne zu grüßen vergessen hatte. Rosine sah mit Entsetzen, -wie ihr Vater barhaupt und singend sich dem Zuge anschloß; lachend und -laut sprechend zog er seine junge Tochter am Arme mit sich, ohne den -Druck der erschreckten Hand zu spüren, die ihn vergebens zurückzuziehen -versuchte. - -Heimgekehrt, blieb Clerambault gesprächig und aufgeregt. Er sprach ganze -Stunden hindurch. Die beiden Frauen hörten ihm geduldig zu. Frau -Clerambault gab wie gewöhnlich nicht recht acht und sagte zu allem ja. -Rosine hörte zu, aber sie sagte kein Wort; nur heimlich warf sie von -Zeit zu Zeit einen Blick auf ihren Vater, und dieser Blick war wie ein -tiefer Weiher, der langsam gefriert. - -Clerambault begeisterte sich immer mehr. Im tiefsten Grunde war er noch -gar nicht begeistert, aber er mühte sich mit leidenschaftlicher -Gewissenhaftigkeit, es zu werden. Es blieb ihm aber immer noch genug -Hellsichtigkeit übrig, um manchmal über die Fortschritte seiner -Begeisterung zu erschrecken. Der Künstler ist durch seine Sensibilität -mehr als ein anderer allen von außen kommenden Erregungen preisgegeben, -aber er hat auch, um ihnen zu widerstehen, Gegenkräfte, die jenen -anderen fehlen. Selbst der Unbesonnenste unter ihnen, selbst jener, der -sich seinem lyrischen Aufschwung ganz hingibt, besitzt mehr oder minder -eine Fähigkeit der Einsicht, von der Gebrauch zu machen ihm selbst -anheimgegeben bleibt. Verzichtet er darauf, so ist es Mangel an Willen -und nicht an Kraft: dann hat er Angst, sich von zu nahe zu sehen, ein -Bild zu finden, das ihm vielleicht nicht schmeichelhaft erschiene. -Menschen aber, die wie Clerambault statt psychologischer Begabung nur -die Fähigkeit der Aufrichtigkeit haben, waren hinlänglich geschützt, um -ihre Ekstasen überwachen zu können. - -Eines Tages, als er allein spazieren ging, sah er auf der anderen Seite -der Straße einen Zusammenlauf. Menschen drängten sich um eine -Kaffeehausterrasse. Vollkommen ruhig ging er über die Gasse hinüber; auf -dem anderen Trottoir kam er in ein wildes Getümmel, das rings um einen -unsichtbaren Punkt wogte. Er hatte einige Mühe, sich in den Wirbel -hineinzudrängen. Aber kaum daß er innerhalb dieses Mühlrades war, so -wurde er selbst ein Teil seiner kreisenden Felge; noch vollkommen -bewußt, bemerkte er, daß seine Vernunft sich mit ihm zu drehen beginne. -Inmitten des wirbelnden Kreises sah er einen Mann, der sich verteidigte, -und ehe er noch den Grund des Wutausbruches der Menge kannte, fühlte er -selbst schon diese Wut. Er wußte nicht, ob es sich um einen Spion -handelte oder um einen unvorsichtigen Schwätzer, der die -Volksleidenschaft aufgeregt hatte. Aber man schrie rings um ihn her, und -er merkte, daß... ja, daß er selbst, Clerambault, plötzlich schrie: - -„Schlagt ihn nieder!“ - -Ein Rückstrom der Menge stieß ihn vom Trottoir zurück, ein Wagen drängte -ihn einen Augenblick von dem Knäuel, und als er den Weg wieder frei -fand, entfernte sich schon die Meute mit ihrem Opfer. Clerambault sah -ihnen nach und hörte noch den Ton seiner eigenen Stimme. Er kehrte um -und ging heim. Aber er war nicht sehr stolz auf sich... - -Von diesem Tage an ging er seltener aus. Er mißtraute sich. In seinem -Zimmer aber fuhr er fort, diese Trunkenheit bewußt zu nähren. An seinem -Arbeitstisch glaubte er sich in Sicherheit. Doch er kannte noch nicht -die Ansteckungsgefahr dieser Seuche; sie gleitet durch die Fenster, -durch die Türritzen, durch das bedruckte Papier, durch die Luft, durch -die Gedanken. Die Feinfühlendsten spüren sie schon, bevor sie etwas -gesehen oder gelesen haben, kaum daß sie die Stadt betreten, andere -wieder brauchen sie bloß einmal im Vorübergehen gestreift zu haben: die -Ansteckung wirkt dann schon selbsttätig auch in der Isolierung fort. -Clerambault, obwohl von der Masse entfernt, war doch von ihr angesteckt -worden, und schon kündigte sich die Krankheit durch ihre gewöhnlichen -ersten Symptome an. Dieser mitfühlende und zärtliche Mensch haßte, haßte -aus Liebe. Im geheimen versuchte seine nicht sehr originelle, aber -glühende und aufrichtige Vernunft sich selbst zu betrügen, ihre -Haßinstinkte durch Gründe zu rechtfertigen, die dazu in gar keiner -Beziehung, ja sogar im Gegensatz standen. Er mußte sich die -Ungerechtigkeit und die leidenschaftliche Lüge erst beibringen. Er -versuchte sich zu überreden, daß er die Tatsache des Krieges hinnehmen, -ja sogar mitmachen dürfe, ohne darum seine Friedensliebe von gestern, -seinen Menschenkult von vorgestern und seinen ewigen Optimismus zu -verleugnen. Ganz einfach war dies zwar nicht, aber es gibt ja nichts, -was die Vernunft nicht irgendwie sich vorzureden vermöchte. Fühlt jemand -die zwingende Notwendigkeit, für einige Zeit moralische Grundsätze, die -ihm lästig sind, von sich abzutun, so findet die Vernunft, sein getreuer -Knecht, zu diesen Grundsätzen schon immer die Ausnahmen, die die Regel -bestätigen und sie doch durchbrechen. So begann Clerambault sich eine -Weltanschauung, ein absurdes, paradoxes Ideal zu fabrizieren, das die -Widersprüche irgendwie auflöste, indem er sich sagte: „Der Krieg gegen -den Krieg, der Krieg für den Frieden, für den ewigen Frieden.“ - - § - -Eine große Hilfe war ihm innerlich die Begeisterung seines Sohnes. -Maxime hatte sich sofort gemeldet. Eine Welle heroischer Freude riß -seine Generation hin. Zu lange hatte sie schon — sie wagte schon gar -nicht mehr zu hoffen — gewartet auf irgendeine Gelegenheit zur Tat und -zur Aufopferung. - -Die älteren Männer, die sich niemals Mühe gegeben hatten, diese -Generation zu verstehen, waren von ihrer Haltung begeistert. Sie -erinnerten sich ihrer eigenen mittelmäßigen und verpfuschten Jugend, die -nur erfüllt war von kleinlichem Ehrgeiz, beschränkten Ambitionen und -schalen Genüssen. Da sie sich selbst in ihren Kindern nicht erkannten, -schrieben sie dem Kriege das Aufblühen all dieser Tugenden zu, die seit -zwanzig Jahren doch schon neben ihrer Gleichgültigkeit aufwuchsen und -die dieser Krieg nun niedermähen sollte. Selbst neben einem so -großzügigen Vater wie Clerambault war Maxime immer verdunkelt gewesen. -Clerambault war zu beschäftigt, sein überströmendes und verwirrtes Ich -zu verbreiten, um die Menschen, die er liebte, wirklich gut erkennen und -ihnen helfen zu können. Er brachte ihnen den heißen Niederschlag seiner -Ideen, aber er verstellte ihnen das Licht. - -Diese jungen Menschen aber, gedrängt von ihrer eigenen Kraft, suchten -vergebens eine Betätigung und fanden sie nicht in der Linie des Ideals -selbst ihrer besten Väter und Vorgänger. Die Menschlichkeitsträumerei -eines Clerambault war für sie zu unbestimmbar, zu wenig greifbar, denn -sie begnügte sich mit angenehmen Hoffnungen ohne Gefahr und ohne Kraft, -wie sie ja einzig aus der Lässigkeit einer Generation entstehen konnte, -die im geschwätzigen Frieden der Parlamente und Akademien hingealtert -war. Die Gefahren der Zukunft boten jenen höchstens rednerische Themen, -aber nie suchten sie ernstlich ihnen entgegenzutreten und noch weniger -die eigene Haltung im voraus festzulegen für den Tag, da das Verhängnis -wirklich einbrechen sollte. Diese Generation hatte nicht die Kraft, -zwischen den entgegengesetzten Idealen der Betätigung innerlich zu -entscheiden. Man war gleichzeitig Patriot und international, man baute -gleichzeitig in Gedanken den Weltfrieden und in Wirklichkeit -Überdreadnoughts. Alles wollte diese Generation verstehen, mit allem -verbunden sein, alles lieben. Nun mochte ja dieser verwässerte -Whitmanismus ästhetisch seinen Wert haben, aber seine praktische -Unentschlossenheit bot den jungen Leuten am Wegkreuz der Entscheidung -keine bestimmte Richtung. Sie stapften immer auf derselben Stelle herum, -erregt von der ungewissen Erwartung und der Sinnlosigkeit ihrer -hinrinnenden Tage... - -Der Krieg machte dieser Unentschlossenheit ein Ende. Sie jubelten ihm -zu, denn er traf die Entscheidung für sie. Blindlings folgten sie ihm -nach. In den Tod gehen, gut; aber nur überhaupt gehen, denn gehen heißt -leben. Die Bataillone zogen singend auf den Kriegsschauplatz, bebend vor -Ungeduld, Blumen auf den Mützen, die Gewehre umwunden mit Grün. Die -Zurückgestellten boten sich freiwillig an, Knaben drängten sich zum -Dienst, und ihre eigenen Mütter stießen sie dazu. Man hätte glauben -können, es sei eine Abreise zu den olympischen Spielen. - -Auf der anderen Seite des Rheins war die Jugend die gleiche. Hier wie -dort begleiteten sie ihre Götter: Vaterland, Gerechtigkeit, Freiheit, -Fortschritt, die paradiesischen Träume einer erneuerten Welt, jene ganze -Phantasmagorie mystischer Ideen, mit denen sich die Leidenschaften -junger Menschen immer umhüllen. Keiner von ihnen zweifelte daran, daß -ihre Sache die einzig gerechte sei. Mochten andere darüber streiten, sie -waren sich selbst lebendiger Beweis; denn wer sein Leben hingibt, -braucht kein anderes Argument. - -Aber auch die alten Männer, die zurückgeblieben waren, meinten, ihr -Denken ausnützen zu müssen. Freilich nicht, um die Wahrheit zu -ergründen, sondern um den Sieg zu sichern. In den Kriegen von heute, die -ganze Völker mitreißen, ist auch der Gedanke dienstpflichtig geworden. -Er tötet ebenso wie die Kanonen, er tötet die Seele, er tötet über Land -und Meere hin, über Zeit und Jahrhunderte: er ist gewissermaßen die -schwere Artillerie, die auf weite Distanzen hin arbeitet. -Selbstverständlich richtete auch Clerambault seine Geschütze. Für ihn -war es längst nicht mehr wichtig, klar zu sehen, weit zu sehen, den -ganzen Horizont zu umfassen, sondern einzig: den Feind zu treffen. Er -war vom Wahn befangen, seinem Sohn im Kampfe beistehen zu müssen. - -Mit einer unbewußten und fieberhaften bösen Absicht, die im letzten aus -einem zärtlichen Gefühl stammte, suchte Clerambault in allem, was er -sah, hörte oder las, Argumente, um seinen festen Entschluß, an die -Heiligkeit der nationalen Sache zu glauben, noch stärker und stählerner -zu machen. Er suchte alles zusammen, was beweisen konnte, daß allein der -Feind den Krieg gewollt hätte und Feind des Friedens war, daß demnach -den Feind zu bekriegen gleichbedeutend mit dem Wunsch nach Frieden sei. -Die Beweise dafür fehlten ihm nicht. Sie fehlen ja niemals. Man muß nur -die Augen immer an rechter Stelle zu öffnen und immer an rechter Stelle -zu schließen wissen, dann sieht man alles, was man sehen will. — Aber -dennoch: Clerambault war im letzten Grunde nicht ganz befriedigt. Nur -fand das geheime Unbehagen seines im tiefsten rechtlichen Gewissens an -allen diesen halben Wahrheiten und Wahrheiten mit Lügenschwänzen keinen -andern Ausweg als in einer immer leidenschaftlicheren Erregung gegen den -Feind. Gleichzeitig aber — so wie von den beiden Eimern eines Brunnens -der eine steigt, wenn der andere hinabgeht — wuchs auch sein -patriotischer Enthusiasmus, der schließlich in einer wohltätigen -Trunkenheit seine letzten moralischen Bedenken wegschwemmte. - -Von nun an war er in beständiger Jagd auf neue Fakten in den Zeitungen, -die ihm seine neuen Thesen bekräftigen könnten. Obwohl er doch -eigentlich genau wußte, wie unzuverlässig die Wahrhaftigkeit dieser -Zeitungen war, so bezweifelte er doch nie irgendeine Behauptung, sobald -sie seiner gierigen und unruhigen Leidenschaft als Argument dienen -konnte. Dem Feind gegenüber hatte er das Prinzip angenommen: „Das -Schlechte ist eben das Rechte.“ In gewissem Sinne wurde er Deutschland -geradezu dankbar, wenn es ihm durch Akte der Grausamkeit und wiederholte -Verstöße gegen das Völkerrecht eine offenkundige Bestätigung für die -Behauptungen gab, die er auf jeden Fall schon im voraus ausgesprochen -hatte. - -Und Deutschland kam ihm darin wirklich zu Hilfe. Noch nie hatte ein -Staat im Kriege es eiliger gehabt, die Meinung der ganzen Welt gegen -sich zu entfesseln. Diese blutübervolle Nation, die an ihrer Kraft -erstickte, hatte sich in einem Delirium von Stolz, Zorn und Furcht auf -den Gegner gestürzt, die Bestie im Menschen, kaum losgelassen, zog -gleich mit den ersten Schritten einen Kreis methodischen Schreckens um -sich. Alle Brutalität des Instinkts und des Glaubens war bewußt von -jenen aufgestachelt worden, die das Volk am Zügel hielten, von seinen -Führern, seinem Generalstab, den einberufenen Professoren und -Militärgeistlichen. Krieg war und wird immer eins mit dem Verbrechen -sein. Aber Deutschland organisierte es, so wie alles, es erhob den -Totschlag und das Niederbrennen zum Kriegsgesetz. Ein zorniger -Mystizismus aus Bismarck, Nietzsche und der Bibel gemengt, goß sein Öl -ins Feuer, der Übermensch und Christus wurden mobilisiert, um die Welt -zu vernichten und zu erneuern. — Die Erneuerung begann in Belgien, und -in tausend Jahren wird man noch davon sprechen. Die entsetzte Welt -erlebte das höllische Schauspiel, wie die alte, mehr als -zweitausendjährige Zivilisation Europas unter den brutalen und -berechneten Schlägen der großen Nation hinbrach, die eine ihrer -Führerinnen war — Deutschlands, das so reich an Intelligenz, -Wissenschaft und geistiger Macht gewesen und das in fünfzehn Kriegstagen -sich dienstfertig erniedrigt hatte. Aber was die Organisatoren der -deutschen Tollheit nicht voraussahen, war, daß sie, so wie Cholera von -einer Armee zur andern, nun ins andere Lager übergehen und, in den -Feindesländern einmal heimisch, nicht mehr zu entfernen sein würde, ehe -nicht ganz Europa davon angesteckt und für Jahrhunderte unbewohnbar -geworden war. Für alle Tollheiten und Gewalttätigkeiten dieses -erbitterten Krieges gab Deutschland das Beispiel, sein kräftiger, besser -genährter Körper bot der Epidemie ein weiteres Wirkungsfeld, und sie -wütete furchtbar; und als das Gift sich in Deutschland abzuschwächen -begann, war es schon in die anderen Nationen in Form eines langsamen und -zähen Fiebers eingedrungen, das von Woche zu Woche tiefer wühlte und bis -in die Knochen hineinsickerte. - -Den unsinnigen Reden der deutschen Denker antworteten unverzüglich die -Übertreibungen der Schwätzer in Paris und überall. Wie homerische Helden -waren sie, mit der einzigen Ausnahme, daß sie nicht kämpften, aber sie -schrien dafür um so mehr. Man beschimpfte nicht nur den Gegner, sondern -auch seinen Vater, seinen Großvater, den ganzen Ursprung, ja man -leugnete sogar gegenseitig die vergangene Leistung. Der erbärmlichste -Akademiker arbeitete wie ein Verzweifelter, um den Ruhm großer Menschen, -die längst im Grabesfrieden schlummerten, zu beschmutzen und zu -beschimpfen. - -Clerambault hörte, hörte alles und trank es in sich ein... Und doch -gehörte er zu den wenigen französischen Dichtern, die vor dem Kriege -europäische Verbindungen gehabt und dessen Werke Sympathien in -Deutschland gefunden hatten. Als rechtes, altes, verwöhntes -französisches Kind, das sich ja nie die Mühe gibt, die anderen -aufzusuchen, allzu gewiß, daß man zu ihm kommen würde, sprach er keine -andere Sprache. Aber wenigstens nahm er die Fremden gut auf, wenn sie -vom Auslande zu ihm kamen, sein Geist war frei von allen nationalen -Vorurteilen, und die innere Intuition ersetzte genug die Lücken seiner -Bildung, daß er hingebungsvoll ausländische große Geister bewundern -konnte. Jetzt freilich, seit man ihn gelehrt hatte, daß man allem -mißtrauen müsse („Schweig’, sei immer vorsichtig!“), seit er hörte, daß -Kant nur eine Vorstufe für Krupp gewesen, wagte er nicht mehr ohne -offizielle staatliche Garantie irgendetwas zu bewundern. Die -sympathische Bescheidenheit, die ihn zur Friedenszeit wie einem Wort des -Evangeliums allem vertrauen ließ, was gelehrte und geachtete Männer -öffentlich mitteilten, nahm jetzt in der Kriegszeit die Formen einer -unbegrenzten Leichtgläubigkeit an. Er verschlang, ohne mit den -Augenwimpern zu zucken, die erstaunlichen Zeitungsentdeckungen der -Intellektuellen seines Landes, die jetzt die Kunst, die Wissenschaft, -den Geist und die Seele des andern Landes durch Jahrhunderte zurück -durchwühlten und zu Boden stampften — die ganze Arbeit rasender -Böswilligkeit, die dem Feind jede Größe absprach, in seinen erhabensten -Erscheinungen nur Beweise seiner gegenwärtigen Infamie finden wollte, -falls es ihm nicht überhaupt diese berühmten Männer wegnahm und sie -irgendeiner anderen Nation zuwies. - -Clerambault aber war davon ganz überwältigt, außer sich, und (freilich, -dies gestand er sich nicht ein) im tiefsten Herzen jubelte er. - - § - -Um für seine Begeisterung einen Gefährten zu finden und sie mit neuen -Argumenten zu nähren, beschloß Clerambault, seinen Freund Perrotin -aufzusuchen. - -Hippolyte Perrotin war eine jener Figuren, wie sie heute selten geworden -sind und die einen Ruhmestitel der französischen Hochschule bildeten, -einer jener großen Humanisten, deren weitblickendes und scharfes -Wissensbedürfnis mit ruhigem Schritt den Garten der Jahrhunderte prüfend -und klassierend, auslesend und pflückend durchwandert. Zu sehr -beobachtende Natur, als daß ihm irgend etwas der Gegenwart entgangen -wäre — die ihn eigentlich am wenigsten interessierte — wußte er jedem -ihrer Geschehnisse seinen Rang im Gesamtbild zuzuweisen. Was anderen als -das Wichtigste galt, war es keineswegs für ihn, und die politischen -Bewegungen dünkten ihm Blattläuse auf einem großen Blatt. Da er aber -nicht Gärtner, sondern nur wissenschaftlicher Beobachter war, glaubte er -sich nicht verpflichtet, die Rosenblätter zu reinigen: einzig sie mit -allen ihren Parasiten zu betrachten, war für ihn Gegenstand einer -dauernden Entzückung. Er hatte den feinsten Sinn für literarische -Schönheit und geistige Vollkommenheit, und seine Wissenschaft, weit -entfernt, ihn dabei zu stören, belebte nur diese Neigung dadurch, daß -sie seinen Gedanken ein festes und begrenztes Feld lebensvoller -Vergleiche und Proben bot. Er gehörte zu jener französischen Tradition -von Gelehrten, die gleichzeitig meisterliche Stilisten waren, jener -Tradition, die von Buffon bis zu Renan und Gaston Paris reichte. -Mitglied der Akademie und von zwei oder drei anderen Gesellschaften, -hatte er durch die Weite seiner Kenntnisse über die bloßen Literaten und -über seine wissenschaftlichen Kollegen nicht nur die Überlegenheit eines -sichern und klassischen Geschmacks, sondern auch eines freieren und dem -Neuen aufgetanen Geistes. Er dünkte sich nicht wie die meisten von -ihnen, sobald sie über die Schwelle der heiligen Kuppelhalle getreten -waren, schon aller Verpflichtung, weiter zu lernen, ledig: mitten in -seiner gereiften Meisterschaft fühlte er sich noch immer als Schüler. -Schon zur Zeit als Clerambault von den übrigen Unsterblichen gar nicht -gekannt war, außer von ein oder zwei lyrischen Kollegen, die, wenn sie -(was selten geschah) von ihm sprachen, es nur mit verächtlichem Lächeln -taten — schon damals hatte er ihn sich entdeckt und in sein Herbarium -eingegliedert. Einige Bilder hatten ihn stutzig gemacht, die -Originalität mancher Wortwendung, der primitive und gewissermaßen nur -naiv komplizierte Mechanismus seiner Phantasie zogen ihn an, schließlich -interessierte ihn dann der Mann selbst. Clerambault, dem er ein -glückwünschendes Wort hatte zukommen lassen, eilte, überströmend von -Erkenntlichkeit, ihm zu danken, und zwischen den beiden Männern entspann -sich allmählich eine Freundschaft. - -Sie waren einander durchaus nicht ähnlich, Clerambault mit seiner -lyrischen Gabe und seiner mittelmäßigen Intelligenz, die vom Herzen kam, -und Perrotin, der durchdringende Geist, der sich niemals von der -Leidenschaft der Phantasie verwirren ließ, aber beide verband die -gemeinsame Würdigkeit der Lebensführung, eine intellektuelle -Rechtschaffenheit sowie die reine Liebe zur Kunst und zur Wissenschaft, -die ihre Freude aus sich selbst zog und nicht aus dem möglichen Erfolge, -der ihr entspringen konnte. Freilich hatte das Perrotin niemals, wie man -sehen konnte, gehindert, Karriere zu machen. Die Ehrenstellen waren -gleichsam auf ihn zugekommen. Er suchte sie nicht, aber er wies sie auch -nicht zurück und verabsäumte nichts. - -Clerambault fand ihn gerade damit beschäftigt, die wirklichen Ideen -eines chinesischen Philosophen von all den nachträglichen Umhüllungen -rein loszulösen, unter denen sie die Lesarten und Erläuterungen von -Jahrhunderten verborgen hatten. Bei diesem Spiel, das für ihn ein -gewohntes war, kam er natürlich dazu, schließlich gerade das Gegenteil -des bisher augenscheinlichen Sinnes zu finden: ein Ideal wird ja immer -dunkler, wenn es von Hand zu Hand geht. - -In dieser geistigen Verfassung empfing Perrotin zerstreut und sehr -höflich Clerambault. Selbst wenn er in Salons anderen zuzuhören schien, -trieb er immer Textkritik. Seine Ironie vergnügte sich dabei auf fremde -Kosten. - -Clerambault entlud gegen ihn seine ganze neue Erkenntnis. Sein -Ausgangspunkt war die unbestreitbare Tatsache der offenkundigen -moralischen Minderwertigkeit der feindlichen Nation, und es war -eigentlich nur noch dies für ihn eine Frage, ob man darin den -unheilbaren Niedergang eines großen Volkes erkennen sollte oder einfach -ein Barbarentum feststellen, das von allem Anfang an bestanden, aber -sich nur gut zu verschleiern gewußt hatte. Clerambault neigte zur -letzten Auslegung. Noch ganz erfüllt von dem gerade Gelesenen, machte er -Luther, Kant und Wagner für die gewalttätige Verletzung der belgischen -Neutralität und für die Verbrechen der deutschen Armee verantwortlich. -Wie man gemeinhin zu sagen pflegt: er hatte die Nase nicht selbst -hineingesteckt, da er ja weder von Musik, noch von Theologie, noch von -Metaphysik etwas verstand; ihm genügte die Autorität der Akademiker. Als -Ausnahme ließ er einzig Beethoven gelten, weil er ein Flame war, und -Goethe als Bürger einer Freistadt, die so eine Art Straßburg, also zur -Hälfte französisch war, oder französisch und nur halb deutsch. Nun -wartete er auf eine Zustimmung. - -Aber zu seiner Überraschung stieß er bei Perrotin nicht auf eine -Leidenschaftlichkeit, die der seinen entsprach. Perrotin lächelte, hörte -zu, betrachtete Clerambault mit einer gutmütigen und neugierigen -Aufmerksamkeit. Er sagte nicht nein und sagte nicht ja. Bei einigen -Behauptungen machte er vorsichtige Einschränkungen, und als Clerambault -ihm ganz hitzwütig die schriftlichen Aussagen zeigte, die von zwei oder -drei berühmten Kollegen Perrotins unterschrieben waren, machte er nur -eine kleine Gebärde, die sagen konnte: - -„Ach, solche Dinge gibt’s in Menge.“ - -Clerambault wurde immer leidenschaftlicher, und nun veränderte auch -Perrotin den Ton, bezeigte ein „lebhaftes Interesse“ für die „sehr -interessanten“ Bemerkungen seines „verehrten Freundes“, nickte mit dem -Kopf zustimmend zu allem, was er sagte, wich seinen direkten Fragen mit -vagen Worten aus oder stimmte ihnen mit irgendeiner allgemeinen -Höflichkeit zu, wie man eben jemandem antwortet, dem man nicht -widersprechen will. - -Clerambault ging, ganz aus der Fassung gebracht und unzufrieden, fort. - -Aber er versöhnte sich mit seinem Freunde und war wieder seiner sicher, -als er einige Tage später den Namen Perrotins unter einem -leidenschaftlichen Protest der Akademie gegen die Barbaren fand. Er nahm -den Anlaß wahr, um ihn zu beglückwünschen, und Perrotin dankte ihm mit -einigen vorsichtigen und sybillinischen Worten: - -„Mein verehrter Herr — (er benutzte immer in seinen Briefen die -zeremoniösen und gemessenen Formeln derer von Port-Royal) — ich bin -immer bereit, den Wünschen des Vaterlandes zu gehorchen; sie sind -Befehle für mich. Auch mein Gewissen steht ihm zur Verfügung, so wie es -die Pflicht eines guten Bürgers ist...“ - - § - -Eine der merkwürdigsten geistigen Wirkungen des Kriegs war, daß er neue -Bindungen zwischen Menschen erzeugte. Leute, die nicht einen Gedanken -gemeinsam hatten, entdeckten plötzlich, daß sie gleichen Sinnes waren; -und sobald sie sich zusammenscharten, wurden sie einander wirklich -ähnlich. So entstand, was man die _Union Sacrée_, die „heilige -Eintracht“, nannte. Menschen aller Parteien und von verschiedenstem -Temperament, Choleriker, Phlegmatiker, Monarchisten, Anarchisten, -Klerikale, Calvinisten vergaßen plötzlich ihr wirkliches Ich, ihre -Leidenschaften, Narrheiten und Feindseligkeiten. Sie wechselten die -Haut, und man sah sich mit einemmal neuen Wesen gegenüber, die sich -unerwartet wie ein Häufchen gefeilten Eisenstaubes um einen Magneten -zusammenrotteten. Alle alten Beziehungen waren plötzlich verschwunden, -und man staunte gar nicht darüber, sich plötzlich einem Fremden näher zu -fühlen als den ältesten Freunden. Man hätte glauben mögen, daß die -Seelen unterirdisch, mit weitverbreiteten Wurzeln, im Dunkel des -Instinkts verbunden waren, jener allzuwenig bekannten Region, zu der die -Beobachtung selten hinabsteigt. Unsere Psychologie beschäftigt sich -ausschließlich mit jenem Teil unseres Ich, der aus dem Erdreich des -Unbewußten herausragt, sie beschreibt sorgfältig dort jede Einzelheit, -ohne auf alles das zu achten, was nicht gerade Schaft und Blüte der -Pflanze ist. Aber neun Zehntel sind unsichtbar eingegraben und mit den -Füßen anderer Pflanzen verschlungen. Diese ganze tiefe (oder niedere) -Region der Seele ist für gewöhnlich unbewußt und für das Gefühl nicht -merkbar, die Vernunft weiß nichts von ihr. Aber der Krieg ließ -plötzlich, indem er diese unterirdische Welt weckte, moralische -Bindungen zutage treten, die man nie vermutet hätte. So trat zum -Beispiel bei Clerambault eine plötzliche Intimität mit einem Bruder -seiner Frau zutage, den er bisher, und mit gutem Recht, als Typus eines -echten Philisters betrachtet hatte. - -Leo Camus war noch nicht fünfzig Jahre alt, groß, mager, ein wenig -vorgekrümmt, hatte einen schwarzen Bart, fahle Farben, schütteres Haar -(seine Kahlköpfigkeit war sogar schon sichtbar, wenn er den Hut noch auf -hatte), sein Gesicht war voll kleiner Falten, die sich nach allen -Richtungen überquerten, wie Maschen eines schlecht geflickten Netzes. Er -hatte meist ein ungesundes, unfreundliches Aussehen und war beständig -verschnupft. Seit dreißig Jahren war er Staatsbeamter, und seine ganze -Karriere war im Schatten eines Hofes im Ministerialgebäude -dahingegangen. Im Laufe der Jahre hatte er das Zimmer gewechselt, aber -er war nie aus diesem Schatten herausgekommen, sein ganzer Fortschritt -war immer im selben Hoftrakt. Für ihn gab es keine Möglichkeit mehr, -diesem Leben zu entrinnen, und jetzt war er endlich Unterdirektor -geworden, was ihm erlaubte, nun seinerseits Schatten zu verbreiten. Er -hatte fast gar keinen Zusammenhang mit Menschen und verkehrte mit der -äußeren Welt nur hinter einem Wall von Registraturen und aufgehäuften -Papierstößen. Er war Junggeselle und hatte keinen Freund, denn sein -Menschenhaß behauptete, es gäbe keine, außer solchen aus Interesse. -Seine einzige Zuneigung galt der Familie der Schwester, und auch diese -äußerte sich nur darin, daß er alles, was jene tat, für schlecht befand; -denn er gehörte zu jenen Leuten, deren unruhige Besorgtheit diejenigen, -die sie lieben, immer kritisiert, und wenn sie jene leiden sehen, nicht -müde werden, ihnen zu beweisen, daß sie durch eigenes Verschulden -unglücklich seien. Bei den Clerambaults machte er nicht sehr viel Effekt -damit, ja es mißfiel Frau Clerambault, die ein wenig träge war, sogar -nicht, ein bißchen gerüttelt zu werden. Was die Kinder betraf, so wußten -sie, daß diese Vorwürfe meistens von kleinen Geschenken begleitet waren: -so steckten sie die Geschenke ein und ließen das Übrige auf sich -niederprasseln. - -In bezug auf seinen Schwager hatte die Haltung Leo Camus’ im Laufe der -Jahre einige Veränderungen durchgemacht. Als seine Schwester Clerambault -heiratete, hielt Camus mit seiner Mißbilligung nicht zurück, ein -unbekannter Dichter schien ihm nicht jemand „ernst zu Nehmender“. -Dichter sein (ein unbekannter Dichter), das ist immer nur ein Vorwand, -um nicht zu arbeiten..., natürlich, wenn man „bekannt“ ist, das ist dann -etwas anderes! Camus verehrte sehr Victor Hugo, er kannte sogar Verse -aus den Châtiments und einige von August Barbier auswendig, die aber -waren „bekannt“, und „bekannt sein“ ist eben alles. Nun geschah es aber -eines Tages, daß Clerambault „bekannt“ wurde. Camus erfuhr es durch -seine eigene Zeitung. Von diesem Tag an hatte er sich endlich bewegen -lassen, die Gedichte Clerambaults zu lesen. Er verstand sie nicht, aber -er war darüber nicht ungehalten, denn so konnte er sich brüsten, noch -von der „alten Schule“ zu sein und sich dadurch überlegen dünken. Es -gibt ja viele dieser Art, die sich aus ihrer Verständnislosigkeit einen -Stolz zu machen wissen. Aber ist es nicht recht so in der Welt, daß der -eine auf das pocht, was er hat, und der andere auf das, was er nicht -hat? Übrigens gab Camus zu, daß Clerambault „schreiben“ könne (er mußte -es ja verstehen, da er auch vom Fach war). So hatte er im gleichen Maße, -wie die Zeitung ihn zu schätzen begann, ein immer größeres Interesse an -seinem Schwager und liebte es, mit ihm zu plaudern. Er hatte immer -schon, ohne es je zu sagen, seine herzliche Güte geachtet, und was ihm -besonders an diesem großen (denn jetzt nannte er ihn plötzlich so) -Dichter gefiel, war seine offenkundige Unfähigkeit in Geschäftsdingen, -seine praktische Ignoranz. Auf diesem Gebiete war Camus sein Meister, -und er ließ es ihn deutlich fühlen. Clerambault hatte ein naives -Vertrauen zu den Menschen und zu den Dingen, und nichts war Camus und -seinem aggressiven Pessimismus willkommener als diese Eigenschaft. Dies -hielt ihn immer in Atem. Die meiste Zeit seiner Besuche ging damit hin, -Clerambaults Illusionen in tausend Stücke zu zerpflücken, aber sie -hatten ein zähes Leben, und jedesmal mußte man anfangen, sie von neuem -zu zerstören. Camus ärgerte sich darüber, aber mit einem geheimen -Vergnügen. Er brauchte immer einen neuen Vorwand, um wieder beweisen zu -können, daß die Welt schlecht und die Menschen dumm waren, vor allem -aber fand kein Mann der Politik Gnade vor seinen Augen. Dieser -Staatsbeamte haßte alle Regierungen, ohne eigentlich sagen zu können, -wen oder was er an ihre Stelle gewünscht hätte. Die einzige Form der -Politik, die ihm verständlich war, blieb die Opposition. Er litt eben -daran, sein Leben verdorben, seine Natur unterdrückt zu haben. Als -Bauernsohn war er dazu geschaffen, wie sein Vater Weingärten zu pflegen -oder als Wächter über das kleine Landvolk seinen Autoritätsdrang -auszuleben. Aber es war damals der Rost über die Weingegend gekommen, -andererseits lockte der dumme Stolz zur Bureaukratie, so war die Familie -in die Stadt übersiedelt. Jetzt hätte er zu seiner wirklichen Natur -nicht mehr zurück können, ohne sich herabzuwürdigen, und hätte er es -selbst vermocht, so wäre sie daran verkümmert. Weil er seinen Platz in -der sozialen Gesellschaft nicht fand, machte er die Gesellschaft dafür -verantwortlich, er diente wie tausend Beamte dem Staate als schlechter -Diener, als heimlicher Feind. - -Man hätte meinen sollen, ein Wesen dieser Art, ein so düsterer, -verbitterter, menschenfeindlicher Geist müßte durch den Krieg ganz außer -sich geraten sein, aber gerade das Gegenteil trat ein: der Krieg -beruhigte ihn. Für die wenigen freien Geister, die auf das Weltall -hinblicken, war die Zusammenrottung zu bewaffneten Horden gegen den -Feind ein Zusammenbruch. Aber für die Menge all derer, die in der -schöpferischen Unfähigkeit eines ziellosen Egoismus leben, ist der Krieg -eine Erhebung, er trägt sie zur höheren Stufe des zielvollen, des -organisierten Egoismus empor. Camus wachte eines Tages mit dem Gefühl -auf, zum erstenmal nicht allein auf der Welt zu sein. - -Der Instinkt des Vaterlandes ist vielleicht der einzige, der in den -gegenwärtigen Zeitläuften dem Brandmal der Alltäglichkeit entgeht. Alle -anderen Instinkte, alle natürlichen Triebe, das Verlangen zu lieben und -zu handeln, werden in der Gesellschaft niedergehalten, erstickt oder -gezwungen, durch das Joch der Entsagung und der Kompromisse zu gehen. -Wenn ein Mann auf der Höhe seines Lebens sich zurückwendet, um seine -einstigen Neigungen zu betrachten, und sieht auf ihnen die Brandmarken -seiner Niederlage und seiner Nachgiebigkeit, dann schämt er sich ihrer -und seiner selbst, Bitternis im Munde. Einzig der Instinkt des -Vaterlandes bleibt in der gegenwärtigen Gesellschaft ausgeschaltet, er -tritt nicht in Aktion und wird deshalb nicht beschmutzt. Wenn er aber -einmal in Erscheinung tritt, so ist er unberührt, und die Seele, die -sich ihm hingibt, wirft ihm zugleich die Glut aller ihrer -niedergehaltenen und erniedrigten Instinkte, Liebe, Verlangen und -Ehrgeiz entgegen, die das Leben verraten hat. Ein halbes Jahrhundert -unterdrücktes Leben nimmt seine Rache, Millionen kleiner Zellen des -sozialen Gefängnisses öffnen sich, endlich, endlich einmal... die alten -Leidenschaften, die angeschmiedeten Instinkte recken ihre erstarrten -Glieder, sie fühlen, daß sie das Recht haben, ins Freie zu stürzen und -zu schreien. Das Recht? Sie haben jetzt die Pflicht, sich dahinstürmen -zu lassen, als mächtige, stürzende Masse. So werden plötzlich die -Millionen einzelner Schneeflocken zur Lawine. - -Die Lawine riß auch Camus mit. Der kleine Bureauchef ging ganz in ihr -auf, und zwar ohne irgendwelche Leidenschaft, ohne Gewalttätigkeit. Er -fühlte plötzlich eine große Kraft, eine große Ruhe, er fühlte sich -„wohl“, körperlich wohl, seelisch wohl. Seine Schlaflosigkeit war -verschwunden. Zum erstenmal seit Jahren quälte ihn nicht mehr sein -Magenleiden, vielleicht weil er es vergessen hatte, er verbrachte den -ganzen Winter — ein nie dagewesener Fall — ohne Schnupfen, man hörte -ihn nicht mehr das und jenes bekritteln und beklagen, er schimpfte nicht -über alles, was geschah oder nicht geschehen war. Irgendeine heilige -Ehrfurcht überkam ihn vor dem ganzen sozialen Organismus, vor diesem -Wesen, das das seine war, nur noch stärker, schöner und besser, er -fühlte sich brüderlich mit allen jenen, die durch ihren Zusammenhang -dieses Wesen bildeten wie ein Bienenschwarm, der an einem Ast hängt. Er -beneidete die jungen Menschen, die zur Front reisten, sein Vaterland zu -verteidigen, er betrachtete mit zärtlichen Augen seinen Neffen Maxime, -der sich heiter rüstete, und am Bahnhof, als der Zug die jungen Menschen -wegführte, umarmte er Clerambault, drückte unbekannten Eltern, die ihre -Söhne begleiteten, die Hand, Tränen der Verzweiflung und von Glück -zugleich standen in seinen Augen. In diesen Stunden hätte Camus alles -hingegeben. Es waren seine Flitterwochen mit dem Leben. Die einsame -Seele, die es sich immer versagt hatte, sieht plötzlich das geliebte -Leben nahekommen und umfaßt es... Doch das Leben geht weiter. Das -Wohlbefinden eines Camus war nicht angetan, zu dauern. Aber wer einmal -das Leben in einer solchen Stunde gekannt, lebt einzig nur mehr von -dieser Erinnerung und um sich immer wieder diesen Augenblick zu beleben. -Er dankte den seinen dem Kriege. So war der Friede sein Feind, und -Feinde alle, die den Frieden wollten. - - § - -Clerambault und Camus tauschten ihre Gedanken aus. Sie tauschten sie so -vollkommen aus, daß Clerambault am Ende gar nicht mehr wußte, wohin die -seinen gekommen waren. Und je mehr er sich selber verlor, um so -zwingender empfand er das Bedürfnis, etwas zu tun. Das war für ihn die -beste Form, sich zu betätigen... Sich zu betätigen...? -Verhängnisvollerweise war es Camus, den er betätigte. Trotz seiner -Überzeugung und seiner gewohnten Leidenschaft war er doch nur ein Echo -geworden, und ein Echo welch’ erbärmlicher Stimmen! - -Er begann Kriegsdithyramben zu schreiben. Darin wetteiferten ja damals -die Dichter hinter der Front. Ihre Schöpfungen laufen allerdings nicht -Gefahr, das Gedächtnis der Zukunft allzusehr zu belästigen. Nichts in -ihrer früheren künstlerischen Laufbahn bestimmte diese armen Gesellen zu -solcher Aufgabe, und, ob sie auch das möglichste taten, um ihre Stimmen -aufzublähen und alle Register der Rhetorik spielen zu lassen, die -Soldaten im Schützengraben zuckten doch darüber die Achseln. Aber den -Leuten des Hinterlandes gefiel ihr Pathos viel besser als jene -lichtlosen und gleichsam schmutzfarbenen Erzählungen, die aus dem -Schützengraben kamen. Die klare Vision eines Barbusse hatte damals noch -nicht diesen schattenhaften Schwätzern ihre Wahrheit aufgezwungen. Für -Clerambault bedeutete es keine große Anstrengung, in diesem Wettkampf -der Beredsamkeit die Palme zu erringen. Er hatte die verhängnisvolle -Gabe jener rhythmischen und wortreichen Beredsamkeit, die die Dichter -von der Wirklichkeit trennt, indem sie sie mit ihrem Spinnennetz -umhüllt. In Friedenszeiten hing dieses unschuldige Netz an Busch und -Baum, der Wind klang durch, und die sanfte Arachne suchte in ihren -Maschen nichts anderes einzufangen als das Licht. Jetzt aber, da die -Dichter in sich ihre blutgierigen (glücklicherweise schon zahnlosen) -Instinkte aufzüchteten, sah man in der Mitte ihres Netzes ein bösartiges -Tier eingefangen, dessen Auge auf eine Beute lauerte. Sie sangen den Haß -und die heilige Schlächterei. Clerambault tat wie die anderen, sogar -besser als die anderen, denn seine Stimme war besser als die der -anderen, und vor lauter Schreien kam dieser brave Mensch schließlich -dazu, selbst Leidenschaften zu fühlen, die er gar nicht hatte. Den Haß -„endlich zu kennen“ (es war das „erkennen“ im biblischen Sinn), dieses -neue Gefühl hatte etwas vom Kitzel niedrigen Stolzes, den ein Gymnasiast -empfindet, wenn er zum erstenmal aus einem zweifelhaften Hause -herauskommt. Denn jetzt erst fühlte er sich als ein ganzer Mann. Und -wirklich, es fehlte ihm nichts mehr, um der Niedrigkeit der anderen -ähnlich zu sein. - -Die ersten intimen Vorlesungen jedes seiner Gedichte waren Camus -vorbehalten, dem er sie ja verdankte. Und Camus wieherte vor -Begeisterung, denn er erkannte sich selbst darin. Clerambault fühlte -sich geschmeichelt, weil er jetzt hoffte, in einem Rhythmus mit dem -Volke zu fühlen und ganz in sein Blut zu dringen. Die beiden Schwäger -verbrachten die Abende zusammen. Clerambault las vor, Camus trank die -Verse in sich ein. Er wußte sie auswendig, er erzählte jedem, der es -hören wollte, Victor Hugo sei auferstanden und jedes dieser Gedichte -bedeute einen Sieg. Seine lärmende Bewunderung enthob die anderen -Mitglieder der Familie davon, ein Urteil aussprechen zu müssen. Rosine -suchte immer nach einem Vorwande, aus dem Zimmer hinauszuschlüpfen, wenn -die Vorlesung zu Ende war, was der Eigenliebe Clerambaults nicht -entging. Er hätte gern den Eindruck auf seine Tochter gewußt, fand es -aber klüger, sie nicht darum zu befragen, und redete sich lieber selbst -ein, daß dieses Zurückziehen ein Zeichen von Bewegung und Scheu sei. -Aber doch, es verstimmte ihn. — Bald aber ließ ihn die Zustimmung des -Publikums diese kleine Peinlichkeit vergessen. Seine Gedichte waren in -den großen bürgerlichen Blättern erschienen und wurden für Clerambault -der glänzendste Triumph seiner ganzen künstlerischen Laufbahn. Keines -seiner Werke hatte einen so einhelligen Enthusiasmus hervorgerufen. Ein -Dichter ist ja immer geneigt, seinem letzten Werk den Titel seines -besten zugebilligt zu hören und ist es in noch höherem Maße, wenn er -selbst weiß, daß es das wertloseste ist. Clerambault war sich darüber -vollkommen im klaren, und eben darum genoß er mit einer fast kindlichen -Eitelkeit die Speichelleckereien der Presse. Abends ließ er sie laut von -Camus im Familienkreise vorlesen. Er strahlte vor Vergnügen. Am liebsten -hätte er gesagt, sobald Camus fertig war: „Noch einmal.“ - -Der einzige leise Mißton in diesem Konzert der Lobeshymnen kam von -Perrotin. (Natürlich redete sich Clerambault ein, er hätte sich in ihm -getäuscht, er sei kein rechter Freund.) Der alte Gelehrte hatte -allerdings Clerambault, der ihm den Band seiner Kriegsgedichte -zugeschickt hatte, in höflicher Weise beglückwünscht. Er lobte sein -großes Talent, sagte aber durchaus nicht, daß dieses Buch sein schönstes -Werk sei. Ja er riet ihm sogar, „nun, nachdem er der kriegerischen Muse -seinen Tribut gebracht hätte, ein Werk des reinen Traumes, losgelöst von -der Gegenwart, zu schreiben“. Was wollte er damit sagen? Gehört sich -das, daß, wenn ein Künstler ein Werk vorlegt und Zustimmung fordert, man -ihm antwortet: „ich möchte ein anderes lesen, das diesem nicht gleicht?“ -— Clerambault sah darin ein neues Zeichen für die bedauerliche Lauheit -des Patriotismus, die er schon vorher bei Perrotin bemerkt hatte, und -dieser Mangel an Verständnis für seine Verse erkältete gänzlich sein -Gefühl für den alten Freund. Er sagte sich, der Krieg sei die Goldprobe -der Charaktere, eine Umwertung der Werte, wo man auch die Freundschaft -neu prüfen müsse, und gab sich nicht Rechenschaft darüber, daß der -Verlust eines Perrotin nur unzulänglich ersetzt sei durch die Erwerbung -eines Camus und so vieler neuer Freunde, die geistig freilich -minderwertiger waren, aber jedenfalls schlichten und warmen Herzens... - -Und doch, oft in der Nacht hatte Clerambault Minuten der Bedrängnis und -Angst. Er wachte plötzlich unruhig, erschreckt und gedemütigt auf. Er -fühlte sich unzufrieden und beschämt... Aber weshalb denn? Tat er denn -nicht seine Pflicht? - - § - -Die ersten Briefe Maximes waren ein Trost, ein Herzstärkungsmittel, von -dem ein Tropfen genügte, um alle Mutlosigkeit entschwinden zu lassen. -Man lebte ganz in ihnen während der langen Zwischenräume, in denen seine -Nachrichten eintrafen. Und trotz der Unruhe während dieser Pausen, wo -eine jede einzelne Sekunde dem geliebten Wesen verhängnisvoll werden -konnte, teilte sich doch diese seine Zuversicht (die er vielleicht aus -Liebe zu den Seinen oder aus einem Aberglauben übertrieb) allen mit. -Seine Briefe strömten über von Jugend und einer begeisterten Freude, die -ihren höchsten Gipfel in den Tagen erreichte, die dem Sieg an der Marne -folgten. Die ganze Familie war gleichsam gegen ihn hingestreckt, ein -einziger Körper, eine Pflanze, deren Blüte in Licht getaucht ist und zu -der der Schaft zitternd in mystischer Verehrung emporsteigt... - -Wie erstaunlich war auch dieses Licht, das jene Seelen badete, die -gestern noch verzärtelt und erschlafft gewesen waren und die nun das -Schicksal in den teuflischen Feuerkreis des Krieges warf! Es war das -Licht des Todes oder des Spiels mit dem Tode! Maxime, dieses große, -zarte, verzärtelte und gelangweilte Kind, das in der Friedenszeit sich -wie eine kleine Mätresse aufputzte, fand einen unerwarteten Genuß in den -Entbehrungen und harten Anforderungen seines neuen Lebens. Begeistert -von sich selbst, kehrte er dieses Gefühl in seinen ein wenig -großsprecherischen Briefen hervor, die das Herz seiner Eltern -entzückten. Nun war weder seine Mutter eine Heldin Corneilles, noch sein -Vater ein Römer, und der Gedanke, ihr Kind einer barbarischen Idee -hinzuopfern, wäre ihnen entsetzlich gewesen. Aber die plötzliche -Verwandlung ihres Kleinen in einen Helden gab ihnen eine Fülle nie -gefühlter Zärtlichkeit. Und trotz ihrer Unruhe erfüllte sie die Extase -ihres Maxime beide mit einer neuen Trunkenheit, die sie undankbar machte -für das Leben von einst, das gute, friedliche, stille Leben, das -zärtliche, mit seinen langen, eintönigen Tagen. Maxime hatte für jene -Zeit eine amüsante Verachtung. Sie schien ihm eng, klein, lächerlich, -wenn man einmal gesehen hatte, was „da draußen“ vorging... „Da draußen“ -war man zufrieden, drei Stunden jede Nacht auf der harten Erde zu -schlafen oder auf einem Bündel Stroh, zufrieden, sich um drei Uhr früh -auf die Beine zu machen und sie mit dreißig Kilometer Marsch zu -erwärmen, mit dem Tornister auf dem Rücken ein Schwitzbad von acht bis -zehn Stunden zu nehmen, und zufrieden vor allem, endlich einmal den -Feind zu erwischen und aus der gedeckten Stellung auf den Boche -hinzupfeffern... Der kleine Cyrano erzählte, daß der Kampf geradezu eine -Erholung nach dem Marschieren sei, und er schrieb über ein Scharmützel -wie über ein Konzert oder ein Kinostück. Der Rhythmus der Geschosse, der -Krach ihres Abschusses und ihre Explosion erinnerten ihn an die -Paukenschläge im göttlichen Scherzo der Neunten Symphonie, und wenn -diese stählernen Fliegen mutwillig, wild, heimtückisch, bösartig oder -bloß mit einer liebenswürdigen Ungezwungenheit über ihren Köpfen ihre -Luftmusik machten, hatte er das Gefühl eines Pariser Lausbuben, der aus -dem Hause stürzt, um eine schöne Feuersbrunst anzuschauen. Es gab keine -Müdigkeit mehr, der Geist und der Körper waren frisch. Wenn endlich das -lang erwartete „Vorwärts, marsch“ ertönte, sprang man mit einem Ruck -leicht wie eine Feder auf zur nächsten Deckung, quer durch den -Eisenschauer, mit einer wilden Freude am Aufspüren, wie ein Hund, der -das Wild wittert. Man kroch auf allen Vieren, man schlängelte sich auf -dem Bauch nach vorwärts, man lief gekrümmt geradeaus, machte schwedische -Gymnastik durch die Verhaue, und das ließ einen vergessen, daß man nicht -mehr marschieren konnte. Kam dann die Nacht, so sagte man sich: Was, es -ist schon Abend? Was haben wir denn heute gemacht? „Langweilig ist im -Kriege nur“, so beschloß der kleine gallische Hahn seine Erzählung, -„das, was man auch im Frieden macht, nämlich das Marschieren auf der -Landstraße.“ - -So sprachen die jungen Leute in den ersten Monaten des Feldzuges, die -Soldaten der Marneschlacht, des Bewegungskrieges. Hätte er weiter -angedauert, so wäre vielleicht die Rasse der Sansculotten der Revolution -neu erstanden, die, sobald sie einmal für die Eroberung der Welt -ausgezogen waren, nicht mehr haltmachen konnten. - -Aber sie mußten doch haltmachen. Und vom Augenblicke an, wo sie in den -Schützengräben eingepökelt waren, änderte sich der Ton. Er verlor seinen -Schwung, seine knabenhafte Sorglosigkeit, er wurde von Tag zu Tag -männlicher, stoischer, zurückhaltender, beherrschter; Maxime fuhr fort, -seine Überzeugung vom Endsieg zu betonen. Schließlich sprach er nicht -einmal davon mehr, er sprach nur noch von der notwendigen Pflicht, und -bald hörte er auch davon zu sprechen auf, seine Briefe wurden trocken, -grau, müde. - -Im Hinterland aber verminderte sich die Begeisterung durchaus nicht. -Clerambault ließ nicht nach, wie ein Orgelbalg weiterzudröhnen. Aber von -Maxime klang nicht mehr das erwartete und erhoffte Echo. - - § - -Plötzlich kam er auf einige Tage Urlaub zurück. Er hatte niemanden zuvor -verständigt. Auf der Treppe blieb er stehen, seine Füße waren ihm -schwer. Obwohl er kräftiger aussah, wurde er rascher müde, und dann: er -war erregt. Aber er faßte wieder Atem und stieg die Treppe vollends -empor. Seine Mutter öffnete auf sein Klingeln, sie schrie auf vor -Überraschung. Clerambault, der in der Wohnung in ewiger Langeweile und -Erwartung hin und her trottete, lief lärmend herbei. Es gab ein lautes -Wiedersehen. Nach einigen Minuten ließen die Umarmungen und das -zusammenhanglose Reden nach, Maxime mußte zum Fenster, sich ins Licht -hinsetzen und sich von ihren entzückten Blicken betrachten lassen. Sie -waren begeistert über seine braune Hautfarbe, seine vollen Wangen, sein -gutes Aussehen; sein Vater tat die Arme auf und rief ihn an: „Mein -Held!“ — Und Maxime, mit zusammengeballten Händen, fühlte plötzlich, -daß es ihm unmöglich sei, etwas zu sagen. - -Bei Tisch verzehrte man ihn mit den Blicken, man trank seine Worte. Aber -er sprach beinahe nichts. Die übertriebene Begeisterung der Seinen hatte -sein erstes leidenschaftliches Gefühl irgendwie gebrochen. -Glücklicherweise merkten sie es nicht. Sie schoben sein Schweigen der -Müdigkeit und dem Hunger zu. Übrigens sprach Clerambault für zwei, er -erzählte Maxime, wie es in den Schützengräben zugehe, und die gute Frau -Pauline wurde in seinen Worten die Cornelia des Plutarch. Maxime sah sie -an, aß, sah sie von neuem an: ein Abgrund war zwischen ihnen. - -Zu Ende der Mahlzeit, als er im Zimmer seines Vaters in einem Fauteuil -saß und seine Zigarre rauchte, konnte er nicht anders, als endlich die -Erwartung der guten Leute zufriedenzustellen. Er begann also, in -ruhiger, sachlicher Weise seine Tageseinteilung zu schildern, und in -einer besonderen Schamhaftigkeit war er darauf bedacht, in seinen -Erzählungen jedes übertriebene Wort und vor allem die tragischen Bilder -zu vermeiden. Sie hörten zu, zitternd vor Erwartung, und sie warteten -noch immer, als er schon zu Ende war. Dann gab es ihrerseits einen -ganzen Sturm von Fragen, Maxime antwortete darauf mit wenigen Worten, -hastig und ohne Feuer. Schließlich versuchte Clerambault, „seinen -lustigen Jungen“ aufzumuntern und gab ihm jovial einige Stöße. - -„Na also, erzähl’ ein bißchen... so von einem Gefecht bei euch..., das -muß aber schön sein..., was für eine schöne Sache doch dieser heilige -Glaube ist... bei Gott, das möchte ich einmal sehen, ich möchte gern an -deiner Stelle sein.“ - -Maxime antwortete: - -„Alle diese schönen Dinge siehst du besser von hier aus.“ - -Seit er im Schützengraben war, hatte er keinen Kampf mehr und kaum -irgendeinen Deutschen gesehen. Einzig den Dreck und das Wasser. — Aber -sie glaubten es ihm nicht, sie dachten, er rede so aus dem -Widerspruchsgeist, den sie bei ihm von Kind an kannten. - -„Du Spaßvogel“, sagte Clerambault lachend. „Also was macht ihr denn den -ganzen Tag da in euren Gräben?“ - -„Man verkriecht sich und schlägt die Zeit tot, die ist unser größter -Feind.“ - -Clerambault stieß mit dem Ellenbogen Maxime in die Seite. - -„Aber was, andere schlagt ihr doch auch tot!“ - -Maxime wendete sich zur Seite, sah den guten, neugierigen Blick seines -Vaters und seiner Mutter und sagte: - -„Nein, reden wir über andere Dinge.“ - -Und nach einem Augenblick: - -„Wollt ihr mir ein Vergnügen machen, dann fragt mich heute nichts mehr.“ - -Erstaunt gaben sie ihm nach und redeten sich ein, er sei erschöpft und -bedürfe der Ruhe. Sie erwiesen ihm alle möglichen kleinen -Aufmerksamkeiten, aber dennoch brach Clerambault jeden Augenblick gegen -seinen eigenen Willen in begeisterte Ansprachen aus, die eine Antwort -oder eine Zustimmung erforderten. Das Wort „Freiheit“ war der Kehrreim -aller dieser Tiraden. Maxime lächelte blaß und beobachtete Rosine, deren -Benehmen seltsam schien. Als ihr Bruder eingetreten war, hatte sie sich -ihm in die Arme geworfen, aber dann hielt sie sich zurück, fast in einer -gewissen Distanz. Sie nahm nicht teil an den Fragen ihrer Eltern, und -statt die Mitteilungen Maximes zu provozieren, schien sie sie eher zu -fürchten. Die Zudringlichkeit ihres Vaters war ihr peinlich, und die -Furcht vor dem, was ihr Bruder hätte sagen können, verriet sich in -unmerklichen Bewegungen oder flüchtigen Blicken, die einzig Maxime -erfaßte. Er wieder fühlte die gleiche Scheu und vermied es, mit ihr -allein zu bleiben, und doch waren sie einander nie im Geiste so nahe -gewesen. Nur wagten sie sich nicht einzugestehen, warum. - -Maxime mußte es sich gefallen lassen, allen Bekannten des Vaters -vorgeführt zu werden. Man schleppte ihn in Paris zu seiner Zerstreuung -herum. Trotz ihrer Trauerkleider zeigte die Stadt wieder ihr lachendes -Antlitz. Das Unglück und die Sorgen verbargen sich zu Hause oder in der -Tiefe der stolzen Herzen, der ewige Jahrmarkt aber breitete in den -Straßen, in den Zeitungen seine zufriedene Maske aus. Das Publikum der -Kaffeehäuser und der Teesalons war bereit, zwanzig Jahre durchzuhalten, -wenn es not tat. Maxime, der mit den Seinen an einem kleinen Tischchen -in der Konditorei inmitten des heiteren Geschwätzes und dem Duft der -Frauen saß, sah plötzlich den Unterstand, wo sie sechsundzwanzig Tage -mit Geschossen bombardiert worden waren, ohne aus dem glitschigen Graben -heraus zu können, in dem ihnen die Leichen als Schutzwand dienten... Die -Hand seiner Mutter legte sich auf die seine. Er wachte auf, sah die -zärtlichen Augen der Seinen, die nach seiner Sorge fragten, sofort -machte er sich Vorwürfe, die armen Leute zu beunruhigen, lachte, schaute -herum, und zwang sich, lustig zu sprechen. Seine übermütig knabenhafte -Leichtigkeit kam wieder, und das Antlitz Clerambaults, das sich für -einen Augenblick verdüstert hatte, wurde hell, sein Blick dankte -unbewußt Maxime. - -Aber er mußte noch weiter auf der Hut sein. Als sie aus der Konditorei -herauskamen (Clerambault stützte sich auf den Arm seines Sohnes), -begegneten sie auf der Straße einem Militärbegräbnis. Es gab Kränze, -Uniformen, irgendeinen Alten von der Akademie, seinen Säbel zwischen den -Beinen, und eine Blechmusik, die ihre heroische Klage anstimmte. Die -Menge bildete ernste Reihen. Clerambault blieb stehen und nahm mit -großer Geste den Hut ab. Seine linke Hand drückte den Arm Maximes -fester. Da fühlte er ihn zittern und sah seinen Sohn an. Er sah, daß er -eine seltsame Miene machte, glaubte, daß Maxime erschüttert sei und -wollte ihn wegziehen. Aber Maxime rührte sich nicht. Maxime war nur -erstaunt: - -„Ein Toter“, dachte er, „so viel Getue für einen Toten... dort draußen -trampelt man darüber hinweg... fünfhundert Tote in der Tagesmeldung, das -ist unser Durchschnitt...“ - -Ein kleines böses Lachen fuhr ihm über die Lippen. Erschrocken zog ihn -Clerambault am Arme fort. - -„Komm!“ sagte er. - -Sie gingen weiter. - -„Wenn sie sehen würden“, dachte sich Maxime, „wenn diese Leute einmal -wirklich sehen würden... die ganze Gesellschaft würde zusammenbrechen... -aber sie werden es ja nie einsehen, denn sie wollen ja nicht sehen.“ - -Und seine plötzlich schmerzhaft scharf sehenden Augen sahen mit einem -Male rings um sich... den Feind: die Gleichgültigkeit der Welt, die -Dummheit, den Egoismus, den Wucher, die Wurstigkeit, den Kriegsgewinn, -den Kriegsgenuß, die Lüge bis zu ihren letzten Wurzeln, die in -Sicherheit Sitzenden, die Drückeberger, die Polizeiknechte, die -Munitionsfabrikanten mit ihren frech fahrenden Autos, die Kanonen -glichen, sahen deren Frauen mit den hohen Schuhen und den knallroten -Lippen, diese gierigen Leckermäuler... ah, sie sind zufrieden, alles -geht gut... das kann noch lange dauern... Eine Hälfte der Menschheit -frißt die andere auf. - -Sie kehrten heim. Am Abend nach dem Essen war Clerambault schon ganz -ungeduldig, Maxime sein letztes Gedicht vorzulesen. Die Absicht, aus der -er es geschrieben, war rührend und ein wenig lächerlich, denn aus Liebe -zu seinem Sohn versuchte er wenigstens im Geiste, sein Gefährte im Ruhm -und in der Qual zu sein. Von ferne beschrieb er darin „das Morgenrot im -Schützengraben“. Zweimal stand er auf, um das Manuskript zu holen. Aber -immer, wenn er die Blätter schon hielt, hinderte ihn eine Scham. Er -setzte sich mit leeren Händen wieder hin. - -Die Tage gingen rasch vorbei. Sie fühlten sich körperlich nahe, aber -ihre Seelen berührten einander nicht. Keiner von ihnen wollte es -eingestehen, und jeder wußte es. Traurigkeit stand zwischen ihnen, und -sie zwangen sich, ihre wirkliche Ursache nicht zu sehen, und zogen vor, -sie der nahen Rückreise zuzuschieben. Von Zeit zu Zeit machte der Vater -oder die Mutter einen neuen Versuch, die alte Intimität -wiederherzustellen. Jedesmal war es die gleiche Enttäuschung, Maxime -fühlte, daß er sich mit ihnen und mit keinem vom Hinterland verständlich -machen könne, daß seine und ihre Welt zwei verschiedene geworden waren. -Würden sie einander niemals wiederfinden?... Und doch verstand er sie -nur zu gut! War er doch selbst dem gefährlichen Einfluß, der auf ihnen -lastete, früher unterlegen und erst dort draußen wach geworden an der -Berührung mit den Leiden und dem wirklichen Tode. Aber gerade weil er -selbst ein Opfer gewesen war, wußte er, daß es unmöglich sei, die -anderen mit Worten zu heilen. So schwieg er, ließ die anderen reden, -lächelte, nickte, ohne zuzuhören. Was das Hinterland beschäftigte, das -Gebrüll der Zeitungen, die persönlichen Streitigkeiten (und welcher -Persönlichkeiten, der alten Hanswurste und gierigen Politiker!), das -patriotische Geschwätz der Schreibtischstrategen, die Aufregung über das -schlechte Brot und die Zuckerkarte, oder über die Tage, an denen die -Konditoreien geschlossen waren — all das erfüllte ihn mit einem Ekel -der Langeweile, einem unendlichen Mitleid mit diesem Volk des -Hinterlandes, dem er sich bis ins Tiefste fremd fühlte. - -So schloß er sich immer mehr in ein rätselhaftes, dumpfes Schweigen ein. -Nur für Augenblicke zwang er sich heraus, wenn er an die kurze Zeit -dachte, die er noch mit den guten Menschen zu teilen hatte, die ihn so -sehr liebten. Dann begann er plötzlich belebt zu sprechen, gleichgültig -worüber. Das Wichtigste war ja doch, daß man Worte machte, wenn man -schon seine Gedanken nicht sagen durfte. Natürlich fiel man immer wieder -auf die Gemeinplätze des Tages zurück, die politischen, militärischen, -die allgemeinen Fragen, alle die Dinge, die sie ebenso gut in ihrer -Zeitung hätten lesen können. „Die Zerschmetterung der Barbaren“, der -„Triumph des Rechtes“ füllten die Reden, die Gedanken Clerambaults aus. -Maxime hörte seine Predigten gläubig an und sagte, wenn die Messe zu -Ende war, sein „_cum spirito tuo_“. Aber beide warteten nur auf eines: -d a ß d e r a n d e r e e n d l i c h a n f a n g e n w ü r d e z u -s p r e c h e n. - -Sie warteten so lange, bis schließlich der Tag der Trennung kam. Kurz -vor seiner Abreise trat Maxime in das Zimmer seines Vaters. Er war -entschlossen, sich mit ihm auseinanderzusetzen: - -„Papa, bist du eigentlich ganz sicher?...“ - -Die Verwirrung auf dem Antlitz seines Vaters hinderte ihn -weiterzusprechen. Ein plötzliches Mitleid überkam ihn. Und er fragte -nur, ob sein Vater wirklich sicher sei über die Stunde der Abfahrt. -Clerambault nahm das Ende dieser Frage mit allzu sichtlicher -Erleichterung auf, und kaum daß er nochmals die Auskunft gegeben hatte -— auf die Maxime gar nicht hörte — begann er von neuem, seinen -Redestrom loszulassen und sich in den gewöhnlichen idealistischen -Deklamationen zu ergehen. Maxime schwieg enttäuscht. Während der letzten -Stunde sagten sie sich nur Oberflächlichkeiten. Alle, außer der Mutter, -fühlten, daß sie das Wirkliche verschwiegen. Äußerlich hatten sie alle -heitere und vertrauensvolle Worte, sichtliche Erregung, im Herzen den -ewigen Seufzer: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ - -Schließlich ging Maxime. Im tiefsten Herzen war er erleichtert, wieder -an die Front zurückzukehren. Der Abgrund, den er zwischen der Front und -dem Hinterlande fühlte, schien ihm tiefer zu sein als alle -Schützengräben, und er wußte, daß das Mörderischste nicht die Kanonen -waren, sondern die Ideen. Wie er am Fenster des wegrollenden Waggons die -erschütterten Gesichter entschwinden sah, dachte er: - -„Arme Leute! Ihr seid ihre Opfer! Und wir sind die euren!...“ - - § - -Am Tage nach seiner Rückkehr an die Front brach die große -Frühlingsoffensive los, die dem Feind von den redseligen Zeitungen -bereits seit längeren Wochen angedroht worden war. Mit ihr hatte man die -Hoffnung der ganzen Nation während des dumpfen Winters der Erwartung und -der totenähnlichen Starre unablässig genährt. Ein Schauer ungeduldiger -Freude erhob sich im ganzen Volke, man war des Sieges sicher und rief -ihm das „endlich!“ zu. - -Die erste Nachricht schien dieser Hoffnung recht zu geben. Sie erzählte, -wie es der Brauch ist, natürlich nur von den Verlusten des Feindes. Alle -Gesichter strahlten. Die Eltern, deren Kinder, die Frauen, deren Männer -draußen waren, fühlten sich erhoben bei dem Gedanken, daß ihre Schöpfung -und ihre Liebe teil hatte am blutigen Liebesmahl. In ihrer Begeisterung -kamen sie kaum auf den Gedanken, daß der Ihre auch ein Opfer sein -konnte. Dieser Fieberzustand war derartig, daß Clerambault, der doch ein -zärtlicher, liebevoller und für die Seinen besorgter Vater war, nur -fürchtete, sein Sohn sei vielleicht noch nicht rechtzeitig zurück -gewesen, um an dem „glorreichen Tag“ teilzunehmen. Sein ganzer Gedanke -war, er möchte dabei gewesen sein, seine glühendsten Wünsche warfen ihn -in den Abgrund hinein. Er opferte ihn auf, er gab ihn und sein Leben -hin, ohne sich zu fragen, ob der Wille seines Kindes selbst damit -einverstanden war. Da er, Clerambault, sich selbst nicht mehr gehörte, -konnte er es einfach nicht mehr verstehen, daß ein anderer seiner -Nächsten sich noch selbst gehörte. Die dunkle Gewalt des Masseninstinkts -hatte alles aufgezehrt. - -Und doch, manchmal ließ ihn irgendein Rest von Selbstanalyse einige -Spuren seiner früheren Natur wiederfinden. Es war immer, wie wenn man -einen empfindlichen Nerv berührt — ein dumpfer Schlag, ein Schatten von -Schmerz. Aber er geht vorbei, und man leugnet ihn dann. - -Nach drei Wochen stapfte die erschöpfte Offensive noch immer auf den -blutgedüngten Kilometern herum. Die Zeitungen begannen die -Aufmerksamkeit abzulenken, indem sie das Interesse auf irgendein anderes -Thema lockten. Maxime hatte seit seiner Abreise nicht mehr geschrieben. -Man suchte, um sich zu gedulden, irgendeinen jener Vorwände, wie sie die -Vernunft ja so gefällig gibt, aber das Herz glaubt nicht an sie. Wieder -gingen acht Tage vorbei. Untereinander tat jeder der drei so, als ob er -zuversichtlich wäre. Aber in der Nacht, wenn jeder allein in seinem -Zimmer war, schrie die Seele in ihrer Angst auf. Ganze Stunden lang war -das Ohr auf der Lauer, horchte, die Nerven zum Zerreißen angespannt auf -jeden Schritt, der die Treppe emporkam, lauschte auf die Klingel oder -die Berührung einer Hand, die an die Tür streifte. - -Allmählich kamen die ersten offiziellen Nachrichten über die Verluste. -In mehreren befreundeten Familien zählte man schon einige Tote und -Verwundete. Jene, die alles verloren hatten, beneideten diejenigen, -denen ihre Lieben vielleicht blutend und verstümmelt, doch wenigstens -würden wiedergegeben werden. Einige hüllten sich in ihre Toten ein wie -in die Nacht, für sie war der Krieg zu Ende, das Leben zu Ende. Bei -anderen aber blieb in erstaunlicher Weise die ursprüngliche Exaltation -beharrlich: Clerambault sah eine Mutter, die ihr Patriotismus und ihre -Trauer so fieberig entflammten, daß man fast das Gefühl hatte, sie freue -sich am Tod ihres Sohnes. Sie sagte mit fanatischer und leidenschaftlich -zusammengeballter Freude: „Ich habe alles gegeben, ich habe alles -hingegeben“, so wie eine, die im Taumel der letzten Sekunden spricht, -ehe sie sich mit ihrem Geliebten ins Wasser stürzt. Aber Clerambault, -schwächeren Wesens oder schon aus seinem Taumel erwachend, dachte immer -nur: - -„Auch ich habe alles gegeben — sogar das, was mir nicht mehr gehörte.“ - -Er wandte sich an die militärische Behörde. Man wußte noch nichts. Acht -Tage später kam die Nachricht, daß der Sergeant Clerambault Maxime als -„vermißt“ seit der Nacht vom 27./28. des vergangenen Monats verzeichnet -war. In den Pariser Büros konnte Clerambault keine weiteren Einzelheiten -erfahren. Er fuhr nach Genf, suchte das Rote Kreuz, das Büro der -Gefangenen auf, erfuhr nichts, stürzte sich auf jede Fährte, erhielt die -Erlaubnis, in den Hospitälern und Etappendepots die Kameraden seines -Sohnes befragen zu dürfen, die ganz entgegengesetzte Auskünfte gaben. -(Die einen sagten, er sei gefangen, die anderen hatten ihn tot gesehen -— am nächsten Tage gaben beide zu, daß sie sich geirrt hatten... o -Qual... Gott, was für ein Henker bist du!...) Und nach zehn Tagen kam er -endlich von diesem Passionsweg gealtert, gebrochen, erschöpft heim. - -Er fand seine Frau in einem Paroxismus lauten Schmerzes, der sich bei -diesem gutmütigen Wesen in einen rasenden Haß gegen den Feind verwandelt -hatte. Sie schrie nur Rache und Rache. Zum erstenmal antwortete ihr -Clerambault nicht. Es blieb ihm keine Kraft mehr zu hassen — er -verbrauchte seine ganze im Leiden. - -Er schloß sich in sein Zimmer ein. Während dieser ganzen furchtbaren -zehntägigen Pilgerfahrt hatte er sich kaum ein einziges Mal seinen -Gedanken gegenübergestellt. Nur eine Idee hatte ihn Tag und Nacht -hypnotisiert, so wie einen Hund auf der Fährte: nur schneller, nur -rascher vorwärts kommen. Die Langsamkeit der Wagen und Züge hatte ihn -verzehrt. Es war vorgekommen, daß er ein Zimmer für die Nacht bestellte -und doch noch am selben Abend wieder abreiste, ohne sich Zeit zur -Erholung zu lassen, und dieses Fieber der Hast und Erwartung hatte alles -aufgeschluckt. Es machte ihn unfähigen (zu seinem Glück), irgendwie im -Zusammenhang zu denken. Aber jetzt war die Hetzjagd zu Ende, die -Vernunft fand sich wieder, atemlos und röchelnd. Clerambault war jetzt -gewiß, daß Maxime tot sei. Er hatte es seiner Frau nicht gesagt und ihr -einige Mitteilungen verschwiegen, die ihm jede Hoffnung raubten, denn -sie war eine jener Naturen, für die es ein Lebensbedürfnis ist, sich -selbst gegen alle Vernunft einen Schein von Lüge zu bewahren, der sie so -lange noch aufrecht hält, bis die große Flut des Schmerzes ein wenig -verebbt ist. Vielleicht wäre Clerambault vordem auch einer dieser -Menschen gewesen, aber jetzt erkannte er schon zu gut, wohin dieser -Selbstbetrug geführt hatte. Er wagte noch nicht zu richten, versuchte -überhaupt noch kein Urteil, er lag nur da in seiner Nacht, zu schwach, -sich aufzurichten, rings um sich zu tasten, lag wie einer, der nach -einem Sturz seinen zerschmetterten Körper regt und erst an seinem -Schmerze gewahr wird, daß er noch lebt und sich bemüht, zu verstehen, -was ihm eigentlich zugestoßen sei. Der weit aufgerissene tiefe Abgrund -dieses Todes starrte ihn an und bezauberte ihn. Dieses schöne Kind, das -man mit so viel Lust, mit so viel Mühe erzogen hatte, dieser Reichtum an -blühender Hoffnung, das kleine, unvergleichliche Weltall, das ein junger -Mensch bedeutet, dieser Baum von Jesse, dieses kommende Jahrhundert... -all das zerstört in einer Stunde... und wofür? Wofür? - -Er versuchte sich wenigstens zu überreden, daß es für etwas sehr Großes -und Notwendiges geschehen sei. Mit Verzweiflung klammerte sich -Clerambault in den folgenden Tagen und Nächten an diese Boje, er wußte, -wenn seine Finger sie losließen, müsse er ertrinken. Noch gewaltsamer -suchte er die Heiligkeit der Sache zu betonen, obwohl er es vermied, -darüber zu diskutieren. Aber seine Finger klammerten sich immer -schwächer an, bei jeder Bewegung sank er mehr hinab in die Tiefe, bei -jeder neuen Bekräftigung des Rechtes und der Gerechtigkeit erhob sich -aus seinem Gewissen wie ein finsterer Donner eine Stimme, die sagte: - -„Und wenn ihr auch zwanzigtausendmal mehr Recht hättet in eurem Kampf, -kauft dies, daß eure Vernunft recht behält, das entsetzliche Unglück -darum schon zurück, mit dem es bezahlt ist? Wiegt euer Recht die -Millionen Unschuldigen auf, die als Pfand des Unrechts und des Irrtums -der andern fallen? Wäscht ein Verbrechen das andere rein, ein Mord den -andern? War es wirklich nötig, daß eure Söhne nicht nur Opfer, sondern -auch Mitschuldige waren, nicht nur Ermordete, sondern auch Mörder?“ - -Er sah im Geiste noch einmal den letzten Besuch seines Sohnes, hörte -ihre letzten Gespräche, und alles wiederholte sich in seinem Herzen. -Wieviel Dinge verstand er jetzt, die er damals nicht verstanden hatte! -All das oftmalige Schweigen Maximes, die Vorwürfe seiner Augen... Aber -das Schlimmste von allem für ihn kam, als er sich darüber klar wurde, -daß er sie schon damals verstanden hatte, damals, als sein Sohn noch da -war, und daß er sie nur nicht hatte verstehen wollen. - -Und diese Entdeckung, die er schon seit einigen Wochen wie eine finstere -Drohung über sich schweben fühlte — diese Entdeckung seiner inneren -Lüge erdrückte ihn. - - § - -Rosine Clerambault war bis zum gegenwärtigen kritischen Augenblick -gleichsam verloschen gewesen. Die anderen, und beinahe sie selbst, -wußten nichts von ihrem Innenleben, kaum ihr Vater hatte davon eine -deutliche Ahnung. Ohne Freundinnen oder gleichalterige Kameradinnen -hatte sie die ganze Zeit unter dem Schutzmantel der Wärme -selbstsüchtiger und erstickender Familienzärtlichkeit dahingelebt. Die -Eltern standen zwischen ihr und der äußeren Welt, sie war schon daran -gewöhnt, in ihrem Schatten dahinzuleben; sehnte sie sich dann, als sie -herangewachsen war, aus dieser Sphäre herauszukommen, so wagte sie es -nicht, wußte auch gar nicht, was mit sich anfangen. Denn kaum, daß sie -aus dem Familienkreise heraustrat, fühlte sie sich gehemmt, ihre -Bewegungen wurden ungelenk, sie konnte kaum sprechen, und das allgemeine -Urteil fand sie unbedeutend. Sie wußte das und litt daran, denn sie war -nicht ohne Selbstgefühl. So ging sie so wenig als möglich aus, blieb in -ihrem Kreise, still, einfach und natürlich, und diese Stille war nicht -die Folge einer Trägheit des Denkens, sondern der Geschwätzigkeit der -anderen. Der Vater, die Mutter, der Bruder waren alle überschwänglich, -so schloß sich dieses kleine Wesen aus Gegensätzlichkeit in sich selbst -ein. Aber sie hielt Zwiesprache mit sich in ihrem Herzen. - -Sie war blond, groß und schmal, hatte die Formen eines Knaben, hübsches -Haar, dessen Locken leicht über die Wangen spielten, einen großen und -ernsten Mund. Die untere Lippe war gegen die Mundwinkel zu etwas voll, -sie hatte große, stille, träumerische Augen, fein und zart gezogene -Brauen und ein hübsches Kinn. Auch ihr Hals war hübsch, ihre Brust zart -und ebenso die Hüfte, nur die Hände etwas rot und groß mit vollen Adern. -Ein Nichts konnte sie erröten machen. Der Reiz ihrer Jugend lag in der -Stirn und im Kinn, die Augen fragten nur herum, träumten, aber verrieten -nichts. - -Ihr Vater hatte eine Vorliebe für sie, ebenso wie die Mutter für den -Sohn: es gab zwischen ihnen geheime Beziehungen. Ohne es zu wollen, -hatte Clerambault unaufhörlich sich des Mädchens seit dessen Kindheit -mit seiner Zärtlichkeit bemächtigt und hielt es unablässig darin -gefangen. Er hatte zum Teil selbst Rosinens Erziehung geleitet und sie -mit der oft ein wenig aufdringlichen Naivität des Künstlers zu seiner -Vertrauten gemacht. Dazu verführte ihn sein überströmendes Wesen, sein -Bedürfnis, sich mitzuteilen, und das geringe Echo, das er bei seiner -Frau fand: dieser guten Frau, die vor ihm auf den Knien lag und dort -gewissermaßen liegen geblieben war. Sie sagte „ja“ zu allem, was er -sagte, bewunderte ihn voll Vertrauen, aber sie verstand ihn nicht und -merkte es nicht einmal, daß sie ihn nicht verstand. Das Wichtigste waren -für sie nicht die Ideen ihres Mannes, sondern er selbst, seine -Gesundheit, seine Zufriedenheit, seine Bequemlichkeit, seine Kleidung -und Nahrung. Clerambault als dankbare Natur fällte kein Urteil über -seine Frau, ebensowenig wie Rosine über ihre Mutter, aber beider -Instinkt wußte wohl, was von ihr zu halten war, und dies war ein -geheimes Band, das sie einte. Clerambault bemerkte gar nicht, daß er -allmählich aus seiner Tochter seine wahre geistige Gattin und Gefährtin -gemacht hatte; erst in der letzten Zeit wurde er dessen ahnend gewahr, -als die politische Krise zwischen ihnen die stillschweigende -Übereinstimmung löste und ihm plötzlich die Zustimmung, die geheime -Neigung Rosinens fehlte. Rosine wußte all die Dinge längst vor ihm, sie -vermied nur, ihr Geheimnis näher zu untersuchen. Das Herz braucht für -sein Wissen nicht den Appell an den Verstand. - -Seltsames und wundervolles Geheimnis der Liebe, die die Seelen -verbindet! Sie weiß unabhängig zu bleiben von den Gesetzen der -Gesellschaft und selbst der Natur, aber nur wenige Menschen werden -dessen gewahr, und noch wenigere wagen es, sich es einzugestehen, aus -Furcht vor der Plumpheit der Welt, die immer nur Gesamturteile hören -will und sich an den engen Sinn der Gewohnheitssprache hält. Aber in -dieser konventionell abgeschliffenen Sprache, die aus gesellschaftlicher -Vereinfachung mit Absicht ungenau bleibt, sind die Worte weit davon -entfernt, die lebendigen Nuancen der vielfältigen Wirklichkeit zu -offenbaren und aufzuschließen, im Gegenteil, sie fesseln, uniformieren, -versteinern sie und stoßen sie in den Dienst der selbst an die Kette -gelegten Vernunft — jener Vernunft, die nicht aus den Tiefen des -Geistes entspringt sondern — wie eine Fontäne in Versailles — aus -weiten, in das Gefüge der zivilisierten Gesellschaft eingemauerten -Wasserflächen. In diesem gleichsam juristischen Vokabular ist die Liebe -an das Geschlecht, an das Alter, an gewisse gesellschaftliche Klassen -gebunden, und je nachdem, ob sie sich den geltenden Umständen fügt, -entweder als natürlich oder nicht, als legitim oder nicht anerkannt. - -Aber was diese Worte erhaschen, ist nur ein dünnes Rinnsal aus den -tiefen Quellen der Liebe. Die unendliche Liebe, gleichsam das -Schwergewichtsgesetz, das die Welten bewegt, kümmert sich nicht um den -Rahmen, den wir um ihr Wesen ziehen. Sie geschieht zwischen Seelen, die -alles innerhalb Raum und Zeit voneinander zu entfernen scheint, über -Jahrhunderte hinweg eint sie die Gedanken von Lebenden und Toten, sie -schlingt enge und keusche Bindung zwischen Alten und Jungen, bringt den -Freund dem Freunde und oft die Seele des Kindes der eines Greises näher, -als sie beide, Mann oder Frau, jemals vielleicht in ihrem Leben -Gefährtin oder Gefährten finden werden. Zwischen Vater und Kind gibt es -oft solche Bindungen, ohne daß beide ihrer gewahr würden. Und „des -Menschen Geschlechte“ (wie unsere Vorväter sagten) zählen so wenig im -ewigen Antlitz der Liebe, daß zwischen Vätern und Kindern die -Beziehungen vertauscht sind und die Kinder oft nicht die Jüngeren sind -von beiden, sondern der Vater das wahre Kind ist. Wieviel Söhne -empfinden fromm eine väterliche Liebe für ihre alte Mutter! Und -geschieht es nicht wieder auch uns, daß wir uns ganz demütig und klein -vor den Augen eines Kindes fühlen? Das Bambino Botticellis läßt auf der -reinen Jungfrau seinen Blick voll einer unbewußten schmerzlichen -Erfahrung ruhen, die so alt ist wie die Welt. - -Auch die Zuneigung Clerambaults und Rosinens war von solcher erhabenen -und frommen Wesensart, wie sie Vernunft allein nicht zu erklären vermag. -Und deshalb begann in den Tiefen des bewegten Meeres tief unterhalb -jener Schwankungen und Gewissenskämpfe, die der Krieg entfesselte, -zwischen diesen beiden Seelen, die durch solche heilige Liebe verbunden -waren, ohne Gesten, fast ohne Wort, ein geheimes Drama. Aus diesem -unbewußten Gefühl erklärte sich auch die Zartheit ihres beiderseitigen -Spürens. Zuerst war es das stumme Sichzurückziehen Rosinens, die, in -ihrer Zärtlichkeit enttäuscht, in ihrem geheimen Ehrfurchtskult durch -die Haltung ihres vom Krieg verführten Vaters ernüchtert, sich leise von -ihm weghielt wie eine kleine antike, keusch verhüllte Statue; schon aber -empfand die Unruhe Clerambaults, dessen Feinfühligkeit durch sein -zärtliches Gefühl geschärft war, dieses „_Noli me tangere_“. Es gab -zwischen dem Vater und der Tochter in jener Zeit kurz vor dem Tode -Maximes eine unausgesprochene Entfremdung, die man vielleicht (wenn die -Worte nicht zu grobschlächtig wären) einen Liebeskummer im reinsten -Sinne des Wortes hätte nennen können. Dieser geheime Zwiespalt, der nie -zu einem Wort zwischen ihnen aufschwebte, war für beide eine Kränkung, -er verwirrte das junge Mädchen und reizte Clerambault, denn dieser -kannte wohl die Ursache, nur sein Stolz weigerte sich, sie anzuerkennen. -Aber bald kam er soweit, sich eingestehen zu müssen, daß Rosine im Recht -war, und gern hätte er sich gedemütigt, aber er blieb in falscher Scham -verschlossen. So verschärften sich die Mißverständnisse noch im Geiste, -indes schon das Herz zur Nachgiebigkeit aufforderte. - -Während der inneren Verwirrung nach dem Tode Maximes lastete diese Bitte -dringlicher auf ihren schon mehr zur Nachgiebigkeit bereiten Seelen. -Eines Tages, als die drei sich zum Abendessen zusammenfanden — es war -dies die einzige Stunde, die sie verband, denn jeder lebte für sich, -Clerambault ganz seiner Trauer hingegeben, Frau Clerambault immer -ziellos beschäftigt und Rosine den ganzen Tag abwesend bei ihren -Hilfsaktionen — hörte Clerambault seine Frau heftig Rosinen Vorwürfe -machen. Rosine sprach von ihrer Absicht, die Pflege von feindlichen -Verwundeten zu übernehmen, und Frau Clerambault, die dies als Verbrechen -empfand, regte sich darüber auf. - -Sie rief ihren Mann als Richter an. Clerambault, dessen müde, dunkle und -leidende Augen zu verstehen begannen, sah Rosine an, die schweigend und -mit gesenkter Stirn seine Antwort erwartete. Dann sagte er: - -„Meine Kleine hat recht.“ - -Rosine errötete vor plötzlicher Erregung, denn das hatte sie nicht -erwartet. Dankend hob sie die Augen zu ihm auf; ihr Blick schien zu -sagen: - -„Endlich habe ich dich wiedergefunden.“ - -Nach der kurzen Abendmahlzeit trennten sich alle drei, jeder blieb für -sich. Clerambault, vor seinem Arbeitstisch, weinte, das Antlitz in den -Händen. Der Blick seiner Tochter hatte sein von Schmerz erstarrtes Herz -aufgelöst. Es war seine verlorene Seele, die seit Monaten erstickte, -dieselbe Seele, die er vor dem Kriege besessen und nun wiedergefunden -hatte. Und sie blickte ihn an.... - -Er trocknete seine Tränen und lauschte an der Tür... Seine Frau ordnete -wie allabendlich in dem doppelt verschlossenen Zimmer Maximes wieder und -wieder und wieder die Wäsche und die Gegenstände des Toten... Er trat in -das Zimmer seiner Tochter, wo Rosine allein nahe beim Fenster saß und -nähte. Sie war ganz in ihre Gedanken verloren und hörte sein Kommen -erst, als er schon dicht neben ihr stand. - -Er neigte seinen ergrauten Kopf gegen sie und sagte: - -„Mein kleines Mädchen.“ - -Da zerschmolz auch ihr Herz, sie ließ ihre Arbeit fallen, nahm das alte -Haupt mit den wirren Haaren zwischen ihre Hände und sagte, während ihre -Tränen sich mit jenen, die sie hinströmen sah, vermengten: - -„Lieber, lieber Vater!“ - -Aber weder der eine noch der andere bedurfte einer Erklärung, weshalb -sie zueinander gekommen waren. Nach einem langen Schweigen, als er seine -Ruhe wiedergefunden, sagte er mit einem Blick auf sie: - -„Mir ist, als ob ich aus einem furchtbaren Wahn erwachte.“ - -Sie streichelte ihm das Haar, ohne zu sprechen. - -„Aber du hast über mir gewacht, nicht wahr? Ich habe es gefühlt, immer -bemerkt... hat es dir sehr weh getan?“ - -Sie nickte mit dem Kopfe, ohne ihn anzusehen. Er küßte ihr die Hände, -richtete sich auf und sagte: - -„Mein guter Engel, du hast mich gerettet.“ - - § - -Er kehrte in sein Zimmer zurück. - -Sie blieb allein, ohne sich zu rühren, ganz durchdrungen von Erregung. -Lange verharrte sie so gesenkten Hauptes, die Hände über ihren Knien -gefaltet. Die Flut der Gefühle, die wild aus ihr aufquollen, ließen -ihren Atem stocken, ihr Herz war schwer von Liebe, Glück und Beschämung. -Die Demut ihres Vaters verwirrte sie... Plötzlich riß sie ein Schwall -von Zärtlichkeit und leidenschaftlichem Mitleid aus der Starre, die ihre -Glieder und ihre Seele umfing, sie streckte die Arme gegen den Fernen -aus, warf sich verwirrt vor ihrem Bett nieder, dankte Gott und bat ihn -im Gebete, er möge alle Schmerzen auf sie häufen und das Glück ihm -schenken, den sie liebte. - -Aber der Gott, den sie beschworen, hatte nicht acht auf ihren Wunsch. -Auf die Augen des Mädchens senkte er den guten Schlaf des Vergessens; -Clerambault indes mußte noch den Gipfel seines Kalvarienberges -erklimmen. - - § - -In der Nacht seines Zimmers, bei erloschener Lampe, blickte Clerambault -in sich hinein. Er war entschlossen, bis in die letzte Tiefe seiner -verlogenen und ängstlichen Seele, die der Wahrheit entflohen, -hinabzuforschen. Die Hand seiner Tochter, deren Kühle er noch auf seiner -Stirn fühlte, hatte das letzte Zögern weggestreift. Er war entschlossen, -dem Ungeheuer Wahrheit ins Auge zu sehen, auch auf die Gefahr hin, von -seinen Tatzen, die keinen mehr loslassen, den sie einmal erfaßt haben, -zerfleischt zu werden. - -Mit Angst, aber mit entschlossener Hand begann er in blutigen Stücken -die Haut der irdischen Vorurteile, der Leidenschaften und fremden Ideen, -die seine Seele ganz umwachsen hatte, von ihr loszulösen. - -Zuerst das dicke Fell des tausendköpfigen Tieres, der gemeinsamen -Herdenseele. Aus Angst und aus Schwäche hatte er sich in sie -hineingeflüchtet, denn sie hält warm, fast zum Ersticken warm, man ruht -gut darin, und doch ist sie ein schmutziges Kissen. Aber ist man einmal -drinnen in dieser weichen Masse, so ist es vorbei mit jedem Versuch, aus -ihr herauszukommen, und man will es auch gar nicht mehr. Man braucht -nicht mehr zu denken, zu wollen, man ist geschützt vor der kalten -Zugluft der Verantwortlichkeit. Trägheit und Feigheit... Fort! Weg -damit!... Sogleich stürzt durch die offenen Ritzen der eisige Wind! Man -schauert zurück — aber schon ist durch diesen kalten Stoß die -Schläfrigkeit abgeschüttelt. Die umnebelte Energie richtet sich wankend -wieder auf. Was wird sie draußen finden? Sei es, was es wolle, sie muß -es sehen. - -Er sah zuerst, das Herz von Ekel geschüttelt, was er nie geglaubt hätte -— wie tief dieses fettige Fell schon mit seinem Fleische verwachsen -war. Er witterte darinnen gleichsam eine späte faule Ausdünstung der -Urbestie, alle die wilden uneingestandenen Instinkte des Krieges, des -Mordes, des vergossenen Blutes, des von gierigen Kinnladen zerrissenen -Fleisches. Er fühlte die ganze Urkraft des Todes über das Leben, er -fühlte in der Tiefe des menschlichen Seins die Grube des Schlachthauses, -die die Zivilisation, statt sie zuzuschütten, nur mit dem Schwall ihrer -Lüge verhüllt und über der der dumpfe Dunst vergossenen Blutes -schwelt... Dieser widrige Geruch ernüchterte Clerambault vollständig. -Mit Grauen riß er die Haut der Bestie von sich ab, deren Beute er -geworden war. - -Ah, wie sie schwer war, heiß, zugleich stinkend und schön, seidenhaarig, -warm und doch blutig. Zusammengefügt aus den niedrigsten Instinkten und -den erlauchtesten Träumen. Was war nicht alles darin verwebt, das -Lieben, Sich-Hingeben, Sich-Aufopfern, ein Körper und eine Seele Sein im -Vaterland, dem einzig Lebendigen!... Aber was ist denn dieses Vaterland, -dieses einzige Leben, dem man nicht nur sein Leben, nein, alle Leben -hinwirft, und dazu noch sein Gewissen, alle Gewissen? Und was ist dies -für eine blinde Liebe, deren anderes Janusantlitz mit den ausgerissenen -Augen nur blinden Haß zeigt? - -„Man hat höchst fälschlich den Namen der Vernunft von dem der Liebe -getrennt und sie ohne guten Grund einander gegenübergestellt“, sagt -Pascal. „Die Liebe und die Vernunft sind ein und dasselbe. Es ist ein -vorschnelles Denken, das sich zu einer Seite hinwendet, ohne alles -geprüft zu haben, aber immerhin, es ist eine Art zu denken.“ - -Nun gut, durchdenken wir das Ganze! Birgt sich nicht gerade in dieser -Form der Liebe bei vielen Furcht, alles zu prüfen, tun sie nicht gleich -dem Kinde, das, um den Schatten an der Wand nicht zu sehen, den Kopf -unter die Decke steckt? - -Das Vaterland? Was ist es? Ein Hindutempel: Menschen, Ungetüme und -Götter. Was ist sein eigentliches Wesen? Die heimische Erde? Die ganze -Erde ist unsere gemeinsame Mutter. Oder ist es die Familie? Es gibt hier -Familien und drüben, beim Feind und bei uns, und beide wollen sie nur -den Frieden. Oder sind es die Armen, die Arbeiter, das Volk? Die sind -auf beiden Seiten gleich elend und gleich ausgebeutet. Oder sind es die -Geistigen? Die haben nur ein gemeinsames Feld, und ihre Eitelkeiten und -Streitigkeiten sind ebenso lächerlich im Morgenlande wie im Abendlande. -Die Welt hat anderes zu tun als sich wegen des Gezänkes eines Vadius und -eines Trissotin zu bekämpfen. Ist es also der Staat? Der Staat ist nicht -das Vaterland. Einzig jene, die davon Vorteil haben, mischen diese -beiden Begriffe ineinander. Der Staat ist unsere Kraft, die einige -Menschen ausnützen oder mißbrauchen. Menschen wie wir, die nicht mehr -wert sind als wir selbst und oft weniger, und von denen wir uns in -Friedenszeit sonst nicht narren lassen und die wir im allgemeinen -richtig zu beurteilen wissen. Aber kaum, daß der Krieg da ist, lassen -wir ihnen freie Hand, sie dürfen die niedrigsten Instinkte entfesseln, -jede Kontrolle ersticken, jede Freiheit hinmorden, jede Wahrheit, die -ganze Menschheit. Sie sind dann die Herren, man muß sich in Reih und -Glied drücken, um die Ehre und die Dummheit dieser in Herrenkleider -vermummten Bedienten zu verteidigen. Wir sind einig, sagt man? -Erbärmliches Wortnetz! Einig sind wir ohne Zweifel, wir haben die -schlechtesten und die besten in unseren Völkern beisammen, das ist wahr, -das wissen wir. Aber daß eine Pflicht uns bindet, ihre Ungerechtigkeiten -und Sinnlosigkeiten mitzumachen, das leugne ich... - -Die Gemeinsamkeit soll darum nicht verachtet sein. Niemand, denkt -Clerambault, hat mehr als ich ihre Lust gefühlt, ihre Größe gefeiert. Es -ist gut, gesund, stärkend und kräftigend, den nackten, starren und eisig -einsamen Egoismus in jenes Bad des Vertrauens und der brüderlichen -Aufopferung hinabzuwerfen, das die Massenseele bedeutet. Man entspannt -sich, man gibt sich hin, man atmet. Der Mensch bedarf der anderen, er -ist den anderen verpflichtet. Aber er ist ihnen nicht mit seinem ganzen -Wesen verpflichtet. Denn was bliebe ihm sonst für Gott? Er muß sich den -anderen hingeben, doch um geben zu können, muß man etwas haben, man muß -vor allem selbst etwas sein. Aber wie kann man selbst etwas sein, wenn -man ganz in die anderen zerfließt? So viel Pflichten es auch gibt, die -erste ist, sein eigenes Selbst zu sein und zu bleiben bis zur -Aufopferung und Hingabe seines Ich. Das Bad in der Massenseele als -Dauerzustand wäre eine Gefahr. Aus seelischer Hygiene in sie -hinabzutauchen, mag gut tun. Aber man muß wieder heraus, sonst läßt man -alle seine moralische Kraft darin. Und gerade in unserem Zeitalter ist -man ja schon von seiner Kindheit an, ob man will oder nicht, in die -demokratische Badekufe hinabgetaucht. Die Gesellschaft denkt für einen, -ihre Moral will, und ihr Staat handelt für uns, ihre Mode und Meinung -nehmen uns die Luft weg, die wir atmen, trinken unseren Hauch, unser -Herz, unser Licht. Man ward Diener dessen, das man mißachtet, man lügt -in allen seinen Bewegungen, seinen Worten, seinen Gedanken. Man -verzichtet und ist nicht mehr... Aber wer hat den Vorteil davon, wenn -alle verzichten? Zu wessen Wohl verzichtet man? Für die blinden -Instinkte oder für ein paar Lumpenkerle? Wem gehorchen wir? Einem Gott -oder ein paar Scharlatanen, die in seinem Namen die Orakel sprechen? Den -Schleier fort! Ich will sehen, was sich dahinter verbirgt... Das -Vaterland!... Was für ein großes Wort, was für ein schönes Wort. Der -Vater, umschlungen von seinen Brüdern... Aber das ist ja gar nicht das -Vaterland, das ihr mir zeigt, es ist ein falsches Vaterland, ein -Bretterverschlag, ein Tierkäfig, Schützengräben und Barrikaden, -Gefängniswände!... Meine Brüder! Wo sind meine Brüder? Wo sind sie alle, -die rings im Weltall leiden? Ihr Kains, was habt ihr aus ihnen gemacht? -Ich breite ihnen die Arme entgegen, und ein Strom von Blut trennt mich -von ihnen. In meinem eigenen Volke darf ich nicht mehr frei zu meinen -Brüdern reden, ich bin nur mehr ein namenloses Instrument, das morden -soll... Mein Vaterland! Aber ihr seid es ja, die es tötet... Mein -Vaterland war die große Gemeinschaft der Menschheit, und sie habt ihr -zerschlagen. Die Freiheit und der Gedanke haben keine Heimstatt mehr in -Europa... Ich will mir mein Haus wieder aufbauen, unser aller Haus, denn -ich habe keines mehr, das eure ist ein Gefängnis... Wie soll ich es tun? -Wo soll ich suchen? Wo mich verbergen...? Sie haben mir alles genommen! -Es gibt keine Fingerbreite mehr auf der Erde oder im Geiste, die noch -frei ist, alle Heiligtümer der Seele, der Kunst, der Wissenschaft haben -sie geschändet, alles haben sie sich hörig gemacht! Ich bin allein und -verloren, ich habe nichts mehr, ich stürze hin... - - § - -Als Clerambault alles von sich abgerissen hatte, blieb ihm nichts mehr -als seine eigene nackte Seele. Bis zum Ausgang dieser Nacht drückte sie -sich zitternd und erstarrt an ihn. Aber in dieser zitternden Seele, in -diesem winzigen Wesen, das im Weltall verloren war, glühte leise ein -Funke wie eines jener εἴδωλα, die die primitiven Maler über dem Munde -der Sterbenden schweben lassen. Als es gegen Morgen ging, begann die -fast unsichtbare Flamme, die beinahe in der schweren Umschalung der Lüge -erstickt war, zu erwachen. Im Atem der frischen Luft schlug sie hell -empor. Und nichts konnte sie mehr hindern, frei emporzuwachsen. - - § - -Langsamer, grauer Tag nach diesem Kampf oder dieser Geburt. Schwere -zerbrochene Ruhe. Tiefe, ungewohnte Stille... Ermattetes Wohlgefühl -vollbrachter Pflicht... Clerambault, das Haupt an die Lehne seines -Fauteuils gestützt, träumte unbeweglich vor sich hin, Fieber im Leib, -das Herz schwer von Erinnerung. Seine Tränen strömten, ohne daß er es -fühlte. Draußen erwachte die melancholische Natur der letzten -Wintertage, die Bäume zitternd, wie er selbst, und noch nackt. Aber -unter dem Eisglanz der Luft bebte schon ein neues Feuer. - -Bald wird es das All umfangen. - - - - - Zweiter Teil - - - - - § - -Nach acht Tagen begann Clerambault wieder auszugehen. Aus der -furchtbaren Krise, durch die er sich gerungen, ging er gebrochen, aber -entschlossen hervor. Der Überschwang der Verzweiflung war von ihm -gefallen, ihn beseelte einzig mehr ein stoischer Wille, der Wahrheit bis -in ihre letzten Schlupfwinkel nachzudringen. Aber das Erinnern an seine -geistige Verwirrung, in der er sich so wohl befunden, und die Halblüge, -die so lange seine Nahrung gewesen war, machte ihn unsicher und demütig. -Er mißtraute der eigenen Kraft, und um Schritt für Schritt -weiterzukommen, fühlte er sich bereit, den Rat von Erfahreneren als -Führung anzunehmen. Er erinnerte sich, wie Perrotin damals seinen -vertraulichen Überschwang mit ironischer Zurückhaltung aufgenommen. -Damals hatte sie ihn verwirrt, nun zog sie ihn an. Sein erster Besuch -nach der Genesung galt dem klugen Freunde. - -Obwohl Perrotin sich besser auf Bücher als auf Physiognomien verstand — -ziemlich kurzsichtig und ein wenig egoistisch, gab er sich selten Mühe, -etwas zu beachten, das er nicht unbedingt brauchte — so konnte er doch -nicht umhin, die Veränderung der Gesichtszüge Clerambaults sofort -staunend zu bemerken. - -„Was ist, mein guter Freund“, rief er ihm zu, „waren Sie krank?“ - -„Ja, wirklich sehr krank“, antwortete Clerambault, „aber es geht mir -schon besser, ich habe mich schon erholt.“ - -„Ja, das ist für uns der grausamste Schlag“, sagte Perrotin, „in unserem -Alter einen Freund zu verlieren, wie es für Sie Ihr armer Sohn war.“ - -„Das Grausamste ist noch nicht, ihn verloren zu haben“, antwortete -Clerambault, „sondern selbst mit Schuld an seinem Verlust zu sein.“ - -„Was sagen Sie da, mein Freund“, fuhr Perrotin erstaunt auf, „was haben -Sie sich da erfunden, um Ihre Qual noch zu steigern?“ - -„Ich hatte ihm die Augen verschlossen“, sagte bitter Clerambault, „und -er hat sie mir geöffnet.“ - -Perrotin ließ seine Arbeit liegen, über die er wie gewöhnlich nachsann, -während man zu ihm sprach, und sah Clerambault erstaunt an, der mit -gesenktem Kopf und einer dumpfen, schmerzvoll-leidenschaftlichen Stimme -zu erzählen begann. Es war, wie wenn ein Christ der ersten Zeiten -öffentlich seine Beichte ablegte. Er klagte sich der Lüge an, der Lüge -gegen seinen Glauben, der Lüge gegen sein Herz, der Lüge gegen seine -eigene Vernunft. Der Apostel hatte in seiner Feigheit den Gott -verleugnet, sobald er ihn in Ketten sah, aber soweit hatte er sich doch -nicht erniedrigt, den Henkern seines Gottes Hilfe zu leisten. Aber er, -Clerambault, hatte nicht nur die Sache der allmenschlichen -Brüderlichkeit verlassen, er hatte sie erniedrigt; er hatte nicht -abgelassen, von Brüderlichkeit zu sprechen, während er gleichzeitig zum -Haß aufrief, er hatte wie jene lügnerischen Priester, die das Evangelium -verdrehen, um es in den Dienst ihrer schlechten Absichten zu stellen, -geschickt die erhabensten Gedanken verfälscht, um mit ihrer Maske die -Leidenschaft zum Mord zu verdecken. Er hatte sich einen Pazifisten -genannt, während er den Krieg verherrlichte, und einen Menschenfreund, -indes er den Feind von vornherein aus dem Kreise der Menschheit -ausstieß.... Oh, um wieviel redlicher wäre es gewesen, sich vor der -brutalen Gewalt einfach zu beugen, als mit ihr erniedrigende Kompromisse -einzugehen! Gerade dank solchen Sophismen wie den seinen, war es -gelungen, den Idealismus der jungen Menschen in das Gemetzel zu hetzen. -Denn die Denker, die Künstler, sie, die alten Giftmischer, waren es, die -mit ihrer Rhetorik den grauenhaften Todestrunk versüßten, den ohne ihre -Mitschuld jedes reine Gewissen sofort mit Abscheu zurückgestoßen und -ausgespien hätte.... - -„Das Blut meines Kindes ist über mir“, sagte Clerambault schmerzlich, -„das Blut aller jungen Menschen Europas, in allen Nationen, spritzt der -Idee Europas ins Antlitz. Überall hat sich die Idee zum Knecht des -Henkers erniedrigt.“ - -„Mein armer Freund“, sagte Perrotin, indem er sich zu Clerambault neigte -und seine Hand nahm, „Sie übertreiben immer.... Gewiß, Sie tun gut, den -Gefühlsirrtum zu erkennen, in den Sie die öffentliche Meinung -mitgerissen hat, und ich kann Ihnen heute offen sagen, daß mich diese -Täuschung gerade bei Ihnen geschmerzt hat. Aber Sie haben unrecht, wenn -Sie sich und den Sprechenden überhaupt eine so große Verantwortung für -die Geschehnisse von heute zuschreiben. Die einen sprechen, die anderen -handeln, aber es sind nicht diejenigen, die sprechen, die die Tat der -anderen verursachen; beide sind Spielball der Strömung und haben keine -Kraft über diese.“ - -„Aber ihnen fällt doch die Schuld zu, andere aufgefordert zu haben, sich -mitreißen zu lassen“, antwortete Clerambault. „Statt die noch auf der -Oberfläche Schwimmenden festzuhalten und ihnen zuzuschreien: „Kämpft -gegen den Strom!“ haben sie gesagt: „Laßt euch nur fortreißen!“ Nein, -mein Freund, versuchen Sie nicht, unsere Verantwortlichkeit zu mildern. -Sie ist schwerer als irgend eine andere, denn unser Gedanke war so hoch -gestellt, daß er weit blicken konnte, seine Pflicht war, zu wachen, und -wenn er nicht das Richtige gesehen hat, so war es, weil er nicht sehen -wollte. Wir dürfen nicht unsere Augen anklagen, denn unsere Augen waren -gut, das wissen Sie wohl, und auch ich weiß es jetzt, da ich mich wieder -aufgerafft habe. Dieselbe Vernunft, die mir die Augen verbunden hat, hat -mir das Band wieder abgerissen. Seltsam, daß sie gleichzeitig ein -Instrument der Lüge und ein Instrument der Wahrheit ist!“ - -Perrotin schüttelte den Kopf. - -„Ja, die Vernunft ist so groß und so erhaben, daß sie sich nicht, ohne -sich zu erniedrigen, in den Dienst anderer Mächte stellen darf. Man muß -ihr alles aufopfern. Sobald sie nicht mehr freiwirkend und Herrin ihrer -selbst ist, erniedrigt sie sich, sie wird dann wie der Grieche, der von -dem Römer, seinem Herrn, trotz seiner Überlegenheit erniedrigt wird und -verpflichtet, sein Kuppler zu sein, ein Gräculus, ein Sophist, ein -_leno_... Der Durchschnittsmensch ist gewöhnt, seine Vernunft wie einen -Dienstboten zu allem möglichen zu mißbrauchen, und sie dient ihm dann -mit der unehrlichen und geschmeidigen Geschicklichkeit dieser Art Leute. -Bald begibt sie sich in den Dienst des Hasses, des Stolzes, bald in den -der eigenen Interessen, sie schmeichelt allen diesen kleinen Ungetümen -und verkleidet sie als Idealismus, Liebe, Glaube, Freiheit, soziale -Hingabe, denn wenn ein Mensch die Menschen nicht liebt, so sagt er -immer, er liebe Gott, das Vaterland oder die Menschheit. Bald wird dann -der arme Herr der Vernunft selbst zum Sklaven, zum Sklaven des Staates. -Mit ihrer Drohung zwingt ihn die soziale Maschine zu Handlungen, die ihm -innerlich widerstreben; die brave und gefällige Vernunft redet ihm aber -sofort ein, diese Handlungen seien schön und ruhmvoll, und daß er sie -aus freiem Willen tue. In dem einen Falle wie in dem andern weiß die -Vernunft wohl, woran sie sich zu halten hat. Sie steht immer zu unserer -Verfügung, sobald wir wirklich wollen, daß sie uns die Wahrheit sage. -Aber wir sind es, die sich wohl hüten, von ihr Gebrauch zu machen. Wir -vermeiden sorgsam, mit ihr allein zu sein, wir wissen es immer so -einzurichten, daß wir ihr nur in Gesellschaft begegnen und ihr Fragen -schon in jenem Ton stellen, der die Antwort von vornherein bestimmt..... -Schließlich dreht sich die Erde darum doch — _e pur si muove_ — die -Weltgesetze erfüllen sich, und der freie Geist erkennt sie. Alles andere -ist Eitelkeit. Was wir Leidenschaften und aufrichtigen oder falschen -Glauben nennen, bedeutet nur einen verhüllten Ausdruck für die -Notwendigkeit, die die Welt bewegt, gleichgültig um unsere Idole, -Familie, Rasse, Vaterland, Religion, Gesellschaft, Fortschritt... -Fortschritt? Das ist der größte Wahn von allen. Ist denn die Menschheit -nicht dem Gesetz der höchsten Spannung unterworfen, das verlangt, daß, -sobald sie überschritten ist, eine Klappe sich öffne und der Behälter -sich wieder leere? Kehrt er nicht immer wieder, dieser katastrophale -Rhythmus? Knapp an den Höhen der Zivilisation ist immer der Absturz. Man -steigt, und taucht wieder hinab.“ - -Perrotin entwickelte ruhig seinen Gedankengang. Seine Idee war sonst -nicht gewöhnt, sich vor anderen auszusprechen, aber sie hatte den Zeugen -vergessen, und so entkleidete sie sich, als wäre sie allein. Perrotins -Weltanschauung war von einer großen Kühnheit, wie es oft jene großer -Menschen sind, die in ihrem Zimmer leben und nicht zur Tat verpflichtet -sind, ja gar nichts auf sie halten und sie sogar verachten. Clerambault -hörte erstaunt, erschrocken, mit offenem Munde zu, manche Worte -erbitterten ihn, manche preßten ihm das Herz zu, er empfand eine Art -Schwindel. Aber er überwand seine Schwäche, um keinen Blick in die -aufgetanen Tiefen zu verlieren. Er bedrängte Perrotin mit Fragen, der -geschmeichelt seine zweiflerischen, gleichzeitig passiven und doch -zerstörenden Visionen gefällig und selbstgefällig vor ihm entrollte. - -Sie waren noch ganz vom Gewölke dieser Abgründe umhüllt, und Clerambault -bewunderte die Leichtigkeit dieses freien Geistes, der sicher und fast -zufrieden am Rande dieser Leere hauste, als die Tür sich auftat und der -Diener Perrotin eine Visitenkarte brachte. Sofort lösten sich die -gefährlichen Gespenster des Geistes in nichts auf. Eine Falltür schlug -über dem Abgrund zu und der gewohnte Teppich des Salons verdeckte seine -Spur.... Perrotin, aufgeschreckt, sagte eiligst und beflissen: - -„Ja, natürlich, bitte lassen Sie nur eintreten.“ - -Und indem er sich zu Clerambault wandte: „Sie gestatten doch, lieber -Freund, es ist der Herr Unterstaatssekretär vom Ministerium für -Unterricht und schöne Künste.“ - -Und schon war er aufgestanden und ging dem Besucher entgegen, einem -jungen Mann mit blau rasiertem Kinn, einem Priester-, Schauspieler- oder -Yankeegesicht. Er trug den Kopf hoch und die Brust breit in seinem -grauen Jackett, das die Rosette der Verdienstvollen und der Kriecher -verzierte. Der alte Mann stellte, nun wieder strahlend, vor: „Herr -Agénor Clerambault... Herr Hyacinthe Monchéri“ und fragte den „Herrn -Unterstaatssekretär“, was ihm die Ehre dieses Besuches verschaffe. - -Der „Herr Unterstaatssekretär“, keineswegs erstaunt über den -ehrerbietigen Empfang von seiten des alten Meisters, warf sich breit in -den Fauteuil mit jener familiären Überlegenheit, die ihm sein -offizieller Rang über die beiden Leuchten des französischen Gedankens -verlieh: er stellte ja den Staat dar. Er sprach näselnd, laut und -mißtönend, er schrie wie ein Dromedar. Er übermittelte Perrotin die -Einladung des Ministers, das Präsidium einer feierlichen Sitzung -kriegsbegeisterter Intellektueller von zehn Nationen im großen -Amphitheater der Sorbonne zu übernehmen — einer „Fluchsitzung“, wie er -sagte. Perrotin sagte eiligst zu, ganz beglückt von der großen Ehre. -Sein erniedrigendes Verhalten gegenüber dem staatlich legitimierten -Gimpel stand in seltsamem Gegensatz zu den verwegenen Gedanken, die er -eben entwickelt hatte, und Clerambault, im tiefsten abgestoßen, mußte an -den Gräculus denken. - -Sobald sie wieder allein waren, und nachdem Perrotin ihn bis zur -Schwelle begleitet hatte, seinen „Verehrten“, der steifen Halses und -gehobenen Kopfes ging, wie der mit Reliquien beladene Esel, wollte -Clerambault das Gespräch wieder aufnehmen. Er war etwas abgekühlt und -machte kein Geheimnis daraus. Er forderte Perrotin auf, öffentlich das -auszusprechen, was er ihm im Vertrauen gesagt hatte, eine Zumutung, die -Perrotin natürlich, seine Naivität belächelnd, ablehnte. Ja er warnte -ihn sogar in besorgter Weise bezüglich der Versuchung, vor der -Öffentlichkeit zu beichten. Clerambault wurde zornig, begann zu streiten -und blieb hartnäckig bei seiner Forderung. Perrotin, der gerade -aufrichtig gelaunt war, schilderte ihm, um ihn aufzuklären, seine -Umgebung, die großen Intellektuellen der Universität, deren offizieller -Vertreter er war, die Historiker, Philosophen und Schönredner. Er sprach -von ihnen mit einer verschleierten, höflichen, aber tiefen Mißachtung, -die mit ein wenig Bitterkeit gemengt war, denn trotz seiner Vorsicht war -er zu intelligent, um nicht den weniger klugen unter seinen Kameraden -schon verdächtig geworden zu sein. Er schilderte sich als einen alten -Hund, der einen Blinden führt, und sich inmitten der bellenden -Fleischerhunde gezwungen sieht, mit ihnen die Vorübergehenden -anzukläffen.... - -Clerambault verließ ihn, ohne mit ihm zu brechen, aber voll tiefen -Mitleids. - - § - -Es dauerte einige Tage, ehe er wiederum ausging. Jene erste Berührung -mit der äußeren Welt hatte ihn zu sehr enttäuscht. Der Freund, in dem er -einen Helfer und eine Stütze zu finden gehofft hatte, war kläglich vor -ihm zusammengebrochen. Clerambault fühlte sich ganz verwirrt, denn im -Grunde seines Wesens war er schwach und nicht gewohnt, selbst die -Richtung seines Weges zu finden. So aufrichtig er als Dichter war, er -hatte sich bisher doch noch nie verpflichtet gesehen, ohne die Hilfe der -anderen zu denken. Bisher hatte er sich immer nur von ihren Gedanken -tragen lassen, war mit ihnen eins geworden, um dann ihre ekstatische und -begeisterte Stimme zu werden.... Die Veränderung war nun zu plötzlich -gekommen. Trotz jener Nacht der Krise fiel er immer wieder in -Unsicherheit zurück, denn die Natur kann sich nicht mit einem Schlage -verändern und besonders nicht bei jenen, die — mag ihr Geist auch noch -so geschmeidig geblieben sein — das fünfzigste Jahr überschritten -haben. Und das Licht, das aus einer solchen Erkenntnis aufflammt, bleibt -durchaus nicht so unbeweglich, wie die blendende Schale der Sonne in -einem Sommerhimmel, sondern ähnelt mehr einer elektrischen Lampe, die -zittert und mehr als einmal auslöscht, ehe der Strom regelmäßig und -dauerhaft wird. In den Synkopen dieser zuckenden Pulsschläge des Lichtes -scheint dann natürlich das Dunkel noch viel dunkler und der Geist viel -verwirrter. — Clerambault konnte sich nicht entschließen, auf die -Meinung der anderen von vornherein zu verzichten. - -Er beschloß, einen seiner Freunde nach dem andern zu besuchen, deren er -viele in der Literatur und in den Kreisen der Universität und der -intelligenten Bourgeoisie besaß. Es war ja nicht möglich, daß in ihrer -großen Zahl sich nicht einer oder der andere fände, den so wie ihn und -noch besser als ihn ein ahnendes Gefühl jener Probleme bewegte, von -denen er selbst beunruhigt war, und der ihm zu einer Klärung verhelfen -könnte. Ohne sich vorläufig noch zu verraten, ganz vorsichtig, versuchte -er sie zu beobachten, sie auszuhorchen, die Gründe ihrer Gläubigkeit -aufzuspüren. Aber er wurde nicht gewahr, daß seine eigenen Augen schon -verwandelt waren. Und die Vision jener Welt schien ihm, so sehr er sie -zu kennen glaubte, ganz neu und ließ ihn erstarren. - -Der ganze Clan der Literatur hatte sich wehrhaft gemacht, man konnte die -einzelnen Persönlichkeiten kaum mehr voneinander unterscheiden. Die -Universität bildete gleichsam ein Ministerium der dienstbaren Vernunft -und hatte das Amt übernommen, die Taten ihres Herrn und Meisters, des -Staates, zu rechtfertigen. Und die einzelnen Arten der Dienstleistung -unterschieden sich einzig durch ihre gewerbsmäßigen Verdrehungen. - -Die schöngeistigen Professoren waren in erster Linie Experten für -moralischen Aufschwung und rednerischen Syllogismus. Sie hatten alle die -krankhafte Neigung, das Denken auf eine übermäßige Einfachheit zu -restringieren, verwendeten statt Vernunftsgründen große Worte und -werkelten immer einige wenige Ideen ab, aber Ideen ohne Tiefe, ohne -Nuancen und ohne Leben. Diese Ideen holten sie sich aus dem Arsenal -einer angeblich klassischen Antike, deren Schlüssel durch Jahrhunderte -Generationen akademischer Derwische eifersüchtig bewahrten, und diesen -geschwätzigen und alten Ideen, die man überdies noch „Menschheitsideen“ -nannte, obwohl sie in vieler Hinsicht das Gefühl und das Empfinden der -heutigen Menschheit verletzten, prägten sie den Stempel des Römerstaates -auf, als des Prototyps aller europäischen Staaten. Ihre bevollmächtigten -Interpreten waren die Schönredner im Staatsdienst. - -Die Philosophen herrschten im Reiche der abstrakten Konstruktion. Sie -exzellierten in der Kunst, das Konkrete durch Abstraktion, das Wirkliche -durch seinen Schatten zu erklären, einige rasch und parteiisch gewählte -Beobachtungen zum System zu erheben und dank ihrer Tüftelei aus diesen -Systemen wieder Gesetze herauszuschwindeln, nach denen das Weltall -wandeln sollte. Ihre ganze Mühe erschöpfte sich darin, das vielfältige -und wandlungsvolle Leben der Einheit des Geistes fügsam zu machen — -natürlich nur der Einheit ihres eigenen Geistes. Dieser Imperialismus -der Vernunft stützte sich auf die willfährige Büberei jahrelang geübter -Sophistik, die gewohnt war, mit Ideen zu spielen. Sie verstanden nur zu -gut, sie auseinander- und wieder zusammenzuziehen, sie zu formen und zu -pressen wie Knetgummi, für sie wäre es nicht schwer gewesen, ein Kamel -durch ein Nadelöhr gehen zu lassen. Sie wußten ebensogut das Weiße wie -das Schwarze zu beweisen, und fanden, ganz wie es ihnen beliebte, in -Immanuel Kant bald die Freiheit der Welt, bald den preußischen -Militarismus. - -Die Historiker wieder waren als bewährte Schriftführer, Notare und -Rechtsanwälte des Staates zum Schutz seiner Verträge und Rechte -beigestellt und bis an die Zähne bewaffnet für zukünftige Schikanen.... -Die Geschichte! Was ist denn die Geschichte? Einzig die Geschichte des -Erfolges, die Darstellung der vollzogenen Tatsachen, gleichgültig, ob -sie gerecht oder ungerecht waren. An den Besiegten geht die Geschichte -vorbei. Sie hat nur Schweigen für euch, ihr Perser von Salamis, ihr -Sklaven des Spartakus, ihr Gallier, ihr Araber von Poitiers, ihr -Albingenser, Irländer, Indier von West und Ost und ihr Eingebornen der -Kolonien!... Wenn ein ehrlich denkender Mann, der Ungerechtigkeit seiner -Zeit ausgesetzt, zu seinem eigenen Troste seine Hoffnung auf die -Nachwelt setzt, so verschließt er die Augen vor den geringen -Möglichkeiten, die jene Nachwelt hat, sich wahrhaft über die -Vergangenheit Rechenschaft zu geben. Die Nachwelt erfährt immer nur das, -was die Sachwalter der offiziellen Geschichte als vorteilhaft für die -Sache ihres Klienten, des Staates, empfanden, es sei denn, daß der -Rechtsanwalt der Gegenpartei, entweder der einer anderen Nation oder der -einer sozialen oder religiösen unterdrückten Gruppe, seinen Einwand -machte. Aber dafür besteht wenig Aussicht: das Geheimnis ist gut -gewahrt. - -Schönredner, Sophisten und Winkeladvokaten, das waren die drei -Korporationen der staatlich patentierten philosophischen Fakultät. - -Die „Wissenschaftler“ wären durch die Art ihrer Forschung ein wenig -besser in der Lage gewesen, außerhalb der Beeinflussung und Berührung -der Umwelt zu bleiben — vorausgesetzt, daß sie in ihrer Studienwelt -verharrt hätten. Aber man hatte sie daraus vertrieben. Die praktische -Anwendung der Wissenschaft hat eine so ungemeine Ausdehnung in der -lebendigen Wirklichkeit eingenommen, daß die Gelehrten in die erste -Reihe des Kampfes geschleudert wurden, wo sie unausweichlich der -ansteckenden Berührung der öffentlichen Meinung ausgesetzt waren. Ihre -Eigenliebe fand sich ganz unmittelbar an dem Siege der Allgemeinheit -interessiert, denn diese benötigte ebenso den Heroismus der Soldaten wie -die törichten Ansichten und die Lügen der Presse. Nur ganz wenige unter -ihnen hatten die Kraft sich freizumachen, die meisten aber brachten die -ganze Strenge, Härte und Unerbittlichkeit des geometrischen Geistes mit -sich, dazu noch die professionellen Eifersüchteleien, die ja zwischen -den verschiedenen Gelehrtengruppen der verschiedenen Länder immer sehr -scharfe sind. - -Die Schriftsteller schlechtweg, die Dichter, Romanciers, die Schaffenden -ohne staatliche Bindung hätten den Vorteil ihrer Unabhängigkeit -ausnützen können. Leider aber sind nur ganz wenige unter ihnen imstande, -von sich selbst aus Ereignisse zu beurteilen, die die Grenzen ihrer -gewöhnlichen ästhetischen oder geschäftlichen Betätigung überschreiten. -Die meisten unter ihnen, und oft gerade die berühmtesten, sind -ungebildet wie Karpfen. Das Beste wäre nun natürlich für sie gewesen, -sie wären in ihrem beschränkten Gesichtskreise verblieben, wozu sie ihr -natürlicher Instinkt eigentlich hätte leiten sollen. Aber ihre Eitelkeit -fühlte sich törichterweise angestachelt, sich in die öffentlichen -Geschehnisse einzumengen und auch ihrerseits ihr Wort über das Weltall -zu sprechen. Da sie nun selbst nichts darüber zu sagen wußten als -Verkehrtheiten, so inspirierten sie sich mangels persönlicher Meinung an -Gemeinplätzen. Ihre Äußerungen sind bei einem solchen gewaltsamen Anlaß -natürlich ungemein lebhaft, denn sie sind überempfindlich und von einer -krankhaften Eitelkeit, die, da sie keine eigenen Gedanken auszudrücken -vermag, diejenigen der anderen maßlos übertreibt. Dies ist ihre einzige -Originalität, und Gott weiß, wie reichlich sie davon Gebrauch gemacht -haben. - -Wer bleibt also? Die Diener der Kirche? Gerade sie handhabten das -schwere Geschütz: die Idee der Gerechtigkeit, der Wahrheit, des Guten -und Gottes, auch sie hatten diese Artillerie in den Dienst ihrer -Leidenschaften gestellt. Ihre unsinnige Anmaßung, die ihnen selbst nicht -mehr bewußt ist, hat von Gott einfach Besitz ergriffen und sich das -Privileg zugeschrieben, ihn _en gros_ oder _en détail_ zu verschleißen. -Es fehlt ihnen dabei nicht so sehr an Aufrichtigkeit, an Tugend und -selbst an Güte wie an Demut; gerade die Demut, die sie verkündigen, -haben sie am wenigsten. Sie besteht für sie einzig darin, ihren Nabel zu -betrachten, wie er sich im Talmud, der Bibel oder dem Evangelium -spiegelt. In ihrem unmäßigen Stolz sind sie nicht weit von jenem -mythischen Narren, der sich selbst für Gottvater hielt. Ist es wirklich -um so viel weniger närrisch und um so viel weniger gefährlich, sich für -seinen Stellvertreter oder seinen Schriftführer zu halten? - -Clerambault fühlte entsetzt den krankhaften und fast hinfälligen Zustand -der intellektuellen Klüngel. Das Übermaß der Organisation und der -Gedankenübermittlung in der bürgerlichen Klasse hat etwas Verzerrtes und -Mißgeburthaftes an sich. Das lebendige Gleichmaß ist zerstört, eine -Bureaukratie des Geistes dünkt sich dem einfachen Arbeiter ungemein -überlegen. Sicherlich ist sie nützlich — wer denkt daran das zu -leugnen! Sie rafft ja Gedanken zusammen und ordnet sie in Register, sie -verwandelt und verwendet sie im vielfältigsten Aufbau. Aber wie selten -kommt es ihr in den Sinn, die Substanz, die sie zu ihrem Werk verwendet, -zu prüfen und ihren Ideeninhalt zu erneuern. So bleibt sie die -eifersüchtige Hüterin eines wertlos gewordenen Schatzes. - -Wäre wenigstens dieser Irrtum ein ungefährlicher! Aber Ideen, die man -nicht unablässig mit der Wirklichkeit vergleicht, die sich nicht in -jeder Stunde im Strom der lebendigen Erfahrung baden, trocknen ein und -werden dann giftige Substanzen. Sie werfen über das neue Leben ihre -schweren Schatten, die Nacht verbreiten und Fieberschauer ausstreuen. - -Wie stupide ist doch diese Behexung durch abstrakte Worte! Was hat es -denn für einen Sinn, die Könige abzusetzen und diejenigen zu verlachen, -die für ihre Gebieter sterben, wenn man an ihre Stelle nur tyrannische -Wesenheiten setzt, die man mit den Flittern jener anderen bekleidet? -Besser ein Monarch mit Fleisch und Knochen, den man sieht, den man -fassen und unterdrücken kann, als diese Abstraktionen, diese Despoten, -die keiner kennt und keiner jemals gekannt hat.... Denn wir haben mit -den großen Eunuchen, mit den Priestern des „verborgenen Krokodils“, wie -Taine es nannte, mit den ränkeschmiedenden Ministern zu tun, die das -Götzenbild sprechen lassen. Ah, wenn diese Schleier doch endlich -zerreißen und wir die Bestie kennen würden, die sich in uns versteckt! -Es wäre weniger Gefahr für den Menschen darin, offenkundig eine Bestie -zu sein, als die Brutalität hinter einem lügnerischen, kranken -Idealismus zu verstecken, der die tierischen Instinkte nicht vernichtet, -sondern sie vergöttlicht. Er idealisiert sie, um sie später zu -rechtfertigen, und da er dies nicht vermag, ohne sie künstlich auf das -Äußerste zu vereinfachen (dies ist ein Gesetz seiner geistigen Natur, -die, um zu verstehen, ebensoviel zerstört als sie aufnimmt), so nimmt er -ihnen, indem er sie nach einer einzigen Richtung hin verstärkt, ihre -wahre Natur. Alles, was sich dann von dieser vorgeschriebenen Linie -entfernt, was die enge Logik seiner geistigen Konstruktion stört, das -leugnet er nicht bloß, sondern schafft es einfach zur Seite und befiehlt -seine Vernichtung im Namen der geheiligten Prinzipien. So richtet er in -der lebendigen Unendlichkeit der Natur riesige Verwüstungen an, damit -nur einzig jene Gedanken stehen bleiben, die er sich ausgewählt hat und -die sich dann in der Wüste und zwischen den Ruinen grauenhaft groß und -einsam entwickeln, wie zum Beispiel die bedrückende Macht der -despotischen Begriffsformen der Familie, des Vaterlandes und der -beschränkten, blinden, tyrannischen Moral, die man in deren Dienst -stellte. Der Unglückliche ist dann noch darauf stolz, obwohl er doch ihr -Opfer ist. Längst würde es die Menschheit nicht mehr wagen, zuzugeben, -daß sie sich für ihren bloßen Vorteil hinschlachtet. Ihres Vorteils, -ihrer Geschäfte, ihrer Interessen rühmen sie sich längst nicht mehr, sie -rühmen sich nur ihrer Ideen, die tausendmal mörderischer sind. Denn der -Mensch sieht in den Ideen, für die er kämpft, seine menschliche -Überlegenheit. Ich sehe seine Narrheit darin. Der kriegerische -Idealismus ist eine Krankheit, die ihm allein vorbehalten ist, und seine -Resultate sind denen des Alkoholismus ähnlich. Er schafft Einlaß für -tausendmal so viel Schlechtigkeit und Verbrechen, halluziniert das -geschwächte Denken mit Wahnbildern, denen er dann die Lebendigen -aufopfert. - -Welch ein tolles Schauspiel, wenn man sich in die Menschenschädel hinein -versetzt denkt! Eine wilde Jagd von Gespenstern, die aus fiebernden -Gehirnen aufsteigen: Gerechtigkeit, Freiheit, Recht und Vaterland... Und -alle diese armen Gehirne sind gleich aufrichtig und klagen alle anderen -an, es nicht zu sein. Und von diesem phantastischen Kampf zwischen -mythischen Schatten sieht man von außen nichts als die Zuckungen und die -Schreie der menschlichen Wesen, die von diesen Dämonenscharen besessen -sind.... Und unter diesen blitzgeladenen Wolken, wo diese großen -wütenden Vögel kämpfen, wimmeln und schieben sich die -Wirklichkeitsmenschen, die Geschäftsleute, wie Ungeziefer in einem Pelz -— offene Mäuler, gierige Hände — und hetzen heimtückisch zu dem Wahn, -den sie ausbeuten, ohne ihn zu teilen. - -O Gedanke, du furchtbare und schöne Blume, die aus dem Erdreich -jahrhundertealter Instinkte aufwächst, welch ein Element bist du! Du -dringst in den Menschen ein, du durchdringst ihn, aber du stammst nicht -aus ihm, dein Ursprung ist ihm fremd und deine Kraft geht über ihn -hinaus. Die Sinne des Menschen sind ihrem täglichen Gebrauch so ziemlich -angepaßt, der Gedanke aber ist es nicht, er strömt über den Menschen -hinaus. Er bringt ihn zur Verzweiflung. Eine unendlich kleine Zahl von -Menschen vermag es, in diesem Strom ihre eigene Richtung beizubehalten, -die große Masse aber wird ins Zufällige hingeschwemmt. Die ungeheure -Kraft des Gedankens steht nicht im Dienst des Menschen; er versucht -bloß, sich seiner zu bedienen, und die größte Gefahr ist, daß er -vermeint, er sei sein Herr. In Wirklichkeit ist er wie ein Kind, das mit -Explosivkörpern spielt. Es ist ein Mißverhältnis zwischen diesen -gewaltigen Sprengmitteln und dem Zweck, für den sie die schwachen Hände -des Menschen verwerten. Und manchmal sprengen sie eben alles in die -Luft... - -Wie dieser Gefahr begegnen? Den Gedanken ersticken? Die trunkenen Ideen -ausroden? Das hieße, den Menschengeist entmannen, ihn des stärksten -Anreizes zum Leben berauben. Und doch ist der Alkohol des Gedankens ein -um so gefährlicheres Gift, als es den Massen meist in gefälschten Drogen -eingegeben wird.... Mensch, werde nüchtern! Schau um dich, reiße dich -los von den fremden Ideen, werde unabhängig von deinen eigenen Gedanken. -Lerne den Riesenkampf dieser rasenden Phantome, die sich untereinander -zerreißen, beherrschen. Vaterland, Recht, Freiheit, ihr großen -Göttinnen, wir wollen euch vor allem eures Nimbusses entkleiden. Steigt -nieder aus dem Olymp, kommt herab in eine Krippe wie Jesus, ohne Schmuck -und ohne Waffen, reich nur durch eure Schönheit und unsere Liebe!... Ich -kenne keine Götter namens Gerechtigkeit und Freiheit! Ich kenne nur -meine Menschenbrüder und ihre Taten, die bald gerecht, bald ungerecht -sind. Und ich kenne die Völker, die alle der wahren Freiheit beraubt -sind, die alle sich nach der Freiheit sehnen und die doch alle sich mehr -oder minder unterdrücken lassen. - - § - -Der Anblick dieser Welt inmitten ihres hitzigen Fiebers hätte einem -Weisen das Verlangen eingeflößt, sich in irgendeinen Winkel -zurückzuziehen und den Anfall vorübergehen zu lassen. Aber Clerambault -war kein Weiser. Er wußte nur, daß er es nicht war. Er wußte, daß -Sprechen nutzlos sei, und wußte doch zugleich, daß man sprechen müsse, -wußte, daß er sprechen werde. Er trachtete nur, so lange als möglich den -gefährlichen Augenblick zu verzögern, und seine Ängstlichkeit, die es -sich noch nicht ausdenken konnte, allein im Kampfe gegen alle zu stehen, -suchte rings um sich einen Gedankengefährten. Wäre man nur zu zweit oder -dritt, so wäre es doch schon weniger hart, den Kampf zu beginnen. - -Die ersten, deren Sympathie er vorsichtig zu suchen begann, waren arme -Menschen, die, wie er, einen Sohn verloren hatten. Der Vater, ein -bekannter Maler, hatte ein Atelier in der Rue Notre-Dame des Champs. -Seit Jahren waren die Omer-Calvilles den Clerambaults liebe Nachbarn, -ein gutes altes Ehepaar, sehr bürgerlich und sehr zärtlich vereint. Sie -hatten jene Milde des Denkens, wie sie einer ganzen Reihe von Künstlern -jener Zeit gemeinsam war, die Carrière nahegestanden und von der Lehre -Tolstois von fern berührt worden waren. Ihre Schlichtheit, obwohl ein -wenig künstlich, kam doch aus einer natürlichen Gutmütigkeit: die -Tagesmode hatte sie nur ein wenig zu sehr unterstrichen. Niemand ist -unfähiger, die Leidenschaften des Krieges zu verstehen, als Künstler -dieser Art, die aufrichtig die religiöse Hochachtung vor allem -Lebendigen zu ihrem Bekenntnis gemacht haben. Selbst in den ersten -Kriegsmonaten hatten sich die Calvilles außerhalb der leidenschaftlichen -Strömung gehalten, sie protestierten nicht dagegen, sie nahmen sie -traurig, würdig hin, wie man eben Krankheit, Tod und die Schlechtigkeit -der Menschheit hinnimmt. Die glühenden Gedichte Clerambaults, die er -ihnen vorlas, hatten sie höflich angehört, doch sie fanden kein Echo bei -ihnen... Aber seltsam, in der gleichen Stunde, wo Clerambault, -ernüchtert vom kriegerischen Wahn, daran dachte, sich mit ihnen zu -vereinen, entfernten sie sich von ihm, denn nun rückten sie an jene -Stelle, die er eben verlassen hatte. Der Tod ihres Kindes hatte auf sie -gerade die gegenteilige Wirkung von jener, die Clerambault verwandelt -hatte: jetzt traten sie linkisch in den Kampf, gleichsam, um den -Verlorenen zu ersetzen; Clerambault fand sie mitten in ihrem Elend, ganz -beglückt durch die Nachricht, Amerika sei bereit, den Krieg zwanzig -Jahre lang zu führen. Er versuchte zu sagen: - -„Was bleibt denn noch in zwanzig Jahren von Frankreich, von Europa -übrig?“ - -Aber mit einer hastigen Erregung schoben jene diesen Gedanken sofort zur -Seite. Es schien, als sei es ihnen unbequem, daran zu denken oder davon -zu sprechen. Jetzt handelte es sich einzig darum, zu siegen. Um welchen -Preis? Das würde man nachher berechnen. — Siegen! — Wenn es dann in -Frankreich keine Sieger mehr gäbe? Gleichgültig! Wenn nur die anderen, -die da drüben, besiegt würden. Nein, das Blut ihres toten Kindes durfte -nicht vergebens vergossen sein! - -Und Clerambault dachte: - -„Ist es nötig, daß zur Rache für ihn noch andere unschuldige Opfer -hingeschlachtet werden?“ - -Und im Grunde dieser Seelen, dieser sonst wirklich guten Menschen las -er: - -„Warum denn nicht?“ - -Und er las es bei allen jenen, die wie die Calvilles im Kriege das -Teuerste verloren hatten, einen Sohn, einen Gatten, einen Bruder: - -„Mögen die anderen auch leiden! Wir haben auch gelitten! Wir haben -nichts mehr zu verlieren.“ - -Wirklich nichts mehr? Doch! Eine einzige Sache, die der eifersüchtige -Egoismus verbarg: ihren Glauben an den Nutzen ihres Opfers. Und diesen -Glauben wollten sie sich nicht erschüttern lassen, um keinen Preis. Sie -verboten es sich, daran zu zweifeln, daß es eine heilige Sache sei, für -die ihre Toten gefallen waren. Und das wußten die Herren des Krieges -wohl und verstanden es auf das beste, dieses Lockmittel auszunützen! — -Nein, in diesen Trauerhäusern war kein Raum für den Zweifel Clerambaults -und für sein Mitleid! - -„Wer hat Mitleid mit uns gehabt?“ dachten diese Unglücklichen. „Und -warum sollen dann wir welches haben?“ - -Es gab unter ihnen einige, die weniger hart getroffen waren. Aber was -alle diese Leute der Bourgeoisie charakterisierte, war die Hypnose der -großen Worte der Vergangenheit, unter der sie lebten, „der -Wohlfahrtsausschuß... das Vaterland in Gefahr... Plutarchs -Biographien... der alte Horaz“. Es war für sie unmöglich, die Gegenwart -mit den Augen von heute zu sehen. Aber hatten sie denn überhaupt noch -Augen, um zu sehen? Wieviele innerhalb der Bürgerwelt unserer Tage haben -denn außerhalb des engen Kreises ihrer Geschäfte in den letzten dreißig -Jahren die Kraft und den Willen gehabt, aus Eigenem denken zu wollen? -Das fiel ihnen nicht einmal im Traume ein. So wie ihr Essen, servierte -man ihnen ihre Gedanken fertig und gar gekocht und sogar noch bedeutend -billiger. Für ein Geringes fanden sie sie täglich in der Zeitung. Die -Begabteren, die sie in den Büchern suchten, gaben sich nicht die nötige -Mühe, sie im Leben zu suchen, und behaupteten, daß sich das Leben in den -Büchern spiegle. Wie bei Greisen verkalkten ihre Gliedmaßen, -versteinerte ihr Geist. - -In der breiten Herde dieser Wiederkäuerseelen, die ihr Futter von den -Weiden der Vergangenheit nahmen, zeichneten sich damals besonders die -Gruppen der strenggläubigen französischen Revolutionäre aus. Zur Zeit -des 16. Mai und lange nachher noch, hatten sie als Brandstifter in der -immer rückständigen Bourgeoisie gegolten. Nun aber, als gesetzte und -wohlbestallte Fünfzigjährige, erinnerten sie sich mit Stolz, wie -Erwachsene eben auf ihre Jungenstreiche stolz sind, an das Entsetzen, -das ihre einstige, längst vergangene Kühnheit verursacht hatte. Vor -ihrem eigenen Spiegel hatten sie sich nicht verändert, aber die Welt um -sie war eine andere geworden, ohne daß sie dessen gewahr wurden, denn -sie blickten ja immer nur auf die abgelebten Modelle, deren Gedanken sie -nachbeteten. Es gibt einen merkwürdigen Nachahmungsinstinkt, ein -Knechtschaftsbedürfnis des Denkens, das von einem losgelösten Stück -Weltgeschichte nicht mehr loskommt. Statt Proteus, das ewige wandelhafte -Leben, in seinem Fortgange zu verfolgen, rafft es die alte Haut auf, aus -der die junge Schlange längst ausgebrochen ist, und versucht sie wieder -darin einzunähen. Diese fanatischen Pedanten verblichener Revolutionen -behaupten, daß alle zukünftigen Umwälzungen notwendig nach dem Modell -der alten, toten Formen zurechtgeschnitten werden müssen, und vor allem -dulden sie nicht, daß irgendeine neue Freiheit ein anderes Tempo -einschlage und die Grenzen überschreite, an denen jene großmütterliche -von 1793 erschöpft haltgemacht hatte. Ihr Zorn richtet sich darum weit -mehr gegen die Respektlosigkeit der Jugend, die über sie hinaus will, -als gegen das Gekläff der Greise, über die sie selbst hinausgekommen -sind. Und das hat seinen guten Grund, denn an der Existenz dieser Jungen -erkennen sie, daß sie selbst alt geworden sind. Und darum kläffen sie -gegen sie. - -In diesen Dingen wird sich nichts ändern. Ganz selten nur gestatten -einige seltene Geister, wenn sie altern, dem Leben, daß es über sie -hinaus seinen Lauf weiter nehme, und genießen großmütig, wenn ihre -eigenen Augen erlöschen, die Zukunft mit den Augen ihrer Nachfolger. -Aber die meisten von jenen, die als Junge die Freiheit geliebt hatten, -wollen aus ihr einen Käfig für die neue Brut machen, sobald sie selber -nicht mehr fliegen können. - -Der Internationalismus von heute fand keine erbitterteren Gegner als -jene Diener des national-revolutionären Kultes im Sinne Dantons oder -Robespierres. Sie selber verstanden sich nicht untereinander, die -Anhänger Dantons und Robespierres, zwischen denen sich noch immer der -Schatten der Guillotine aufrichtet, sie beschimpften sich gegenseitig -drohend als Ketzer. Aber in einem waren sie ganz einig: alle jene der -äußersten Bestrafung zuzuführen, die nicht glauben wollten, daß man die -Freiheit mit Kanonenmündungen verbreiten kann, die jede Gewalt -gleicherweise verwarfen, ob sie nun von Cäsar oder von Demos und seinen -Lederzurichtern kam, gleichgültig, ob sie im Namen des „alten Gottes“ -gepredigt wurde oder des „jungen“, der Freiheit und des Rechts. Die -Masken ändern sich, aber das blutige Maul unter der Maske bleibt immer -dasselbe. - -Clerambault kannte eine ganze Reihe solcher Fanatiker, aber es war -ebenso wenig möglich, sich mit ihnen darüber auszusprechen, ob sich das -Gerade und das Krumme nicht vielleicht doch auf beiden Seiten fände, wie -für einen Manichäer, mit der heiligen Inquisition zu streiten. Auch die -sozialen, die bürgerlichen Religionen haben ihre großen Seminare und -geheimen Gesellschaften, in denen das Beweismaterial der Lehre -sorgfältig aufgestapelt wird. Wer sich davon ausschließt, wird -exkommuniziert, so lange wenigstens, bis er selbst der Vergangenheit -angehört. Dann winkt ihm die Möglichkeit, selbst vergöttlicht und zur -Exkommunizierung Späterer mißbraucht zu werden. - - § - -Aber wenn Clerambault sich nicht versucht fühlte, diese harten -Intellektuellen, die hinter ihrer engen Wahrheit verschanzt waren, zu -einer Änderung ihrer Gesinnung zu bewegen, so kannte er doch andere, die -diesen Sicherheitsdünkel durchaus nicht hatten. Ganz im Gegenteil: Ihr -Fehler war wiederum allzu große Wandlungsfähigkeit und dilettantische -Nachgiebigkeit. Arsène Asselin war einer dieser Art, ein liebenswürdiger -Pariser Junggeselle aus der guten Gesellschaft, klug und skeptisch -zugleich. Jeder Verstoß im Geschmack oder im Ausdruck beleidigte sein -Empfinden. Wie hätte ihm also diese Übertriebenheit des Denkens gefallen -sollen, diese Treibhaushitze, in der der Krieg hochgezüchtet wurde. -Seine kritische Vernunft, seine Ironie mußten dem Zweifel geneigt sein. -So gab es also keinen rechten Grund, daß er die Ansichten Clerambaults -nicht teilen sollte.... Und wirklich, im Anfang hatte nur ein Haar -gefehlt, daß er so dachte wie Clerambault, seine Entscheidung war nur -ganz zufällig anders gefallen. Aber sobald er einmal den Fuß in die eine -Richtung gesetzt hatte, schien es ihm unmöglich umzukehren, und je mehr -er hineintrieb, um so trotziger wurde er. Die französische Eigenliebe -wird nie einen Irrtum eingestehen, sondern eher sich für ihn töten -lassen. Aber überhaupt, Franzose oder nicht, wie viele Menschen gibt es -denn in der Welt, die den Mut haben zu sagen: - -„Ich habe mich getäuscht, jetzt heißt es von vorn anfangen.“ Nein, -lieber die Tatsachen leugnen... Bis ans Ende durch!... Und krepieren. - -In einem anderen Sinn merkwürdig war Alexander Mignon, ein -Vorkriegspazifist, ein alter Freund Clerambaults, ungefähr im gleichen -Alter mit ihm, Bourgeois, Intellektueller und Hochschullehrer, von -würdiger Haltung, die mit Recht Respekt einflößte. Man durfte ihn nicht -verwechseln mit jenen ordensgeschmückten Bankettpazifisten, die -Dekorationen aus allen Ländern haben und denen der Schwatz vom Frieden -in windstillen Jahren ein sorgloses Dasein sichert. Mignon hatte durch -dreißig Jahre aufrecht die gefährlichen Quertreibereien der Politiker -und die verdächtigen Spekulanten seines Landes bekämpft, er gehörte der -Liga der Menschenrechte an und hatte das unwiderstehliche Gelüst, für -jeden, der da kam und im Unglück war, eilig das Wort zu nehmen. Ihm -genügte es schon, wenn einer sich unterdrückt nannte, er fragte sich -nie, ob der sogenannte Unterdrückte nicht bloß einer war, dem bisher nur -die Gelegenheit gefehlt hatte, selbst zu unterdrücken. Seine unruhige -Gutmütigkeit hatte ihn bei aller Hochachtung ein wenig lächerlich -gemacht, und er war darüber nicht böse. Sogar ein wenig Unpopularität -hätte ihn durchaus nicht erschreckt, vorausgesetzt freilich, daß er sich -von seiner Gruppe gedeckt fühlte, deren warme Zustimmung ihm aber -unbedingt nötig war. Er war durchaus kein Unabhängiger, wie er glaubte, -sondern nur das Mitglied einer Gruppe, die sich so lange unabhängig -fühlte, als alle ihre Mitglieder zusammenhielten. Die Gemeinschaft macht -die Kraft, sagt man, das ist wahr. Aber sie gewöhnt einen auch daran, -der Gemeinschaft nicht mehr entbehren zu können. Und das mußte Alexander -Mignon an sich erfahren. - -Der Hingang Jaurès’ hatte die ganze Gruppe in Verwirrung gebracht. -Sobald die eine Stimme fehlte, die immer als erste das Wort nahm, -verstummten auch alle anderen, denn sie warteten auf das Stichwort, und -keiner wagte es zu geben. Unsicher im Augenblick, wo der Sturm einbrach, -wurden diese hochherzigen und schwachen Menschen durch den Wirbel der -ersten Tage mitgerissen. Sie verstanden die Begeisterung nicht, sie -rechtfertigten sie nicht, aber sie hatten ihr nichts entgegenzustellen. -Schon die erste Stunde riß einige Lücken in ihre Reihen, es zeigten sich -Desertionen, die verschuldet waren durch die schrecklichen Redner, die -den Staat beherrschten, durch jene demagogischen Advokaten, die mit -allen Sophismen der republikanischen Ideologie geschmiert waren, „Krieg -für den Frieden“, „der Weltfriede als Ziel“ (_requiescat!_), und diese -armen Pazifisten sahen in diesen Verdrehungen eine einzige Gelegenheit -— allerdings keine rühmliche, keine, auf die sie sehr stolz waren — -aus der Sackgasse zu kommen. Sie redeten sich ein, durch einen kleinen -Kunstgriff, dessen verbrecherische Größe sie nicht merkten, ihre -Friedensideen mit der Tatsache der Gewalt glücklich in Einklang gebracht -zu haben. Widerstand hätte bedeutet, sich den Kriegsbestien -auszuliefern, die sie mitleidslos zerrissen hätten. - -Alexander Mignon hätte wohl den Mut gehabt, diesen blutigen Mäulern -entgegenzutreten, hätte er nur seine kleine Gemeinschaft um sich -gesehen. Aber allein zu kämpfen, das war über seine Kraft. Ohne sich -zuerst offen auszusprechen, ließ er doch alles geschehen. Er litt, er -war verstört und machte eine ähnliche geistige Krise durch wie -Clerambault, aber er konnte sich nicht wie Clerambault ihr entringen. Er -war weniger leidenschaftlich, aber intellektueller; um seine letzten -Bedenken wegzutilgen, umkleidete er sich mit einem Netz logischer -Vernunftgründe. Mit Hilfe seiner Kameraden bewies er mühselig nach der -Methode _a + b_, daß der Krieg eine Pflicht für den zielbewußten -Pazifismus sei. Seine Liga hatte leichte Arbeit, die verbrecherischen -Akte des Feindes aufzudecken; freilich verlor sie keine Zeit damit, auf -jene im eigenen Lager hinzuweisen. In manchen Augenblicken sah Alexander -Mignon deutlich die Unaufrichtigkeit auf allen Seiten. Unerträglicher -Anblick ..... er schloß rasch seine Läden.... - -Und je blinder er sich in seine Kriegslogik verstrickte, um so schwerer -war es für ihn, sich daraus zu befreien. So verbrannte er seine Schiffe -hinter sich, eins nach dem andern. Er wurde böse wie ein Kind, das durch -einen unbedachten Akt ungeschickter Nervosität einem Insekt den Flügel -ausgerissen hat. Das Insekt ist nun verloren, und das Kind, beschämt -über seine Handlung, rächt sein Leid und seine Scham an dem Tier, das es -nun ganz in Stücke reißt. - -So war es leicht vorauszusehen, mit welcher Freude er Clerambault sein -„_mea culpa_“ vortragen hörte. Die Wirkung war überraschend. Mignon, -innerlich ganz unsicher, wurde wütend gegen Clerambault, denn -Clerambault schien ihn anzuklagen, indem er sich beschuldigte. Von -dieser Stunde an wurde er sein erbitterter Feind, und keiner bekämpfte -später gehässiger als Mignon dieses sein lebendiges schlechtes Gewissen. - - § - -Clerambault hätte mehr Verständnis bei einigen Politikern finden können, -denn die wußten von diesen Dingen ebensoviel, wie er selbst wußte, und -sogar noch einiges mehr, aber das störte durchaus nicht ihren guten -Schlaf. Seit ihrem ersten Sündenfall praktizierten sie munter die -Technik der _combinazioni_, der Gedankenschwindeleien, sie gaben sich -mit Recht der Täuschung hin, ihrer Partei zu dienen auf Kosten von ein -paar Kompromissen. Eins weniger, eins mehr, was macht das aus?... -Geradeaus zu gehen, geradeaus zu denken, war das einzig Unmögliche für -diese Mollusken, die immer krumme Wege nahmen, sich schlangenhaft -vorwärtsschoben, gleichsam nach rückwärts vorrückten, die, um den -Triumph ihres Banners sicher zu machen, es durch den Schmutz schleiften -und bäuchlings zum Kapitol emporgerutscht wären. - - § - -Schließlich gab es auch da und dort unterirdisch einige Klarblickende. -Aber sie waren mehr zu ahnen als zu sehen. Diese melancholischen -Glühwürmchen löschten vorsichtig ihre Laternen aus, sie hatten -Todesangst, daß man einen Schimmer wahrnehmen könnte. Zwar waren sie -frei von dem Wahn des Krieges, aber sie waren nicht gläubig genug zur -Tat wider den Krieg, sie blieben bloß Fatalisten und Pessimisten. - -Clerambault erkannte, daß auch die höchsten Fähigkeiten des Herzens und -des Geistes nur die öffentliche Knechtschaft verstärken, wenn sie nicht -mit persönlicher Energie gepaart sind. Der Stoizismus, der sich den -Gesetzen des Weltalls unterwirft, ist ein Hemmnis im Kampf gegen die -Grausamkeit einzelner Gesetze. Statt zum Schicksal zu sagen: „Nein, hier -ist kein Weg für dich“ (man wird ja sehen, ob es doch hindurchgeht), -tritt der Stoiker höflich zurück und sagt: „Bitte, treten Sie ein!“ - -Der kultivierte Heroismus, die Neigung für das Übermenschliche, für das -Unmenschliche, macht die Seele durch die Opfer trunken, und je toller -sie sind, um so herrlicher erscheinen sie. Die Christen von heute, -großmütiger als ihr Meister, geben a l l e s dem Cäsar hin. Sobald er -geruht, sie für irgendeinen Anlaß hinzuopfern, erklären sie diesen Anlaß -schon für heilig. Fromm geben sie der Schande des Krieges die Glut ihres -Glaubens hin und ihre Körper dem Scheiterhaufen. Die duldende, -nachgiebige Resignation der Völker macht den Rücken krumm und läßt sich -die Last aufladen: „Mach’ dir nichts draus!“ Zweifellos sind -Jahrhunderte des Elends über diesen Stein dahingerollt. Aber auch der -Stein verbraucht sich schließlich und wird Schlamm. - - § - -Clerambault versuchte mit dem einen oder dem andern zu sprechen. Überall -aber stieß er auf denselben Mechanismus unterirdischen, halb unbewußten -Widerstandes. Sie waren alle mit dem Willen, nicht zu verstehen, oder -eigentlich mit einem beharrlichen Gegenwillen ehern umgürtet. Von -Gegenargumenten wurde ihre Vernunft so wenig berührt, wie eine Ente vom -Wasser. Im allgemeinen sind die Menschen zum Zweck ihrer Bequemlichkeit -mit einer ganz unschätzbaren Eigenschaft ausgerüstet, sie können sich -nämlich auf Wunsch blind und taub machen, wenn sie etwas nicht sehen -oder hören wollen. Und haben sie schon durch irgendeinen peinlichen -Zufall irgend etwas bemerkt, was ihnen lästig ist, so verstehen sie die -Kunst, es sofort wieder zu vergessen. Wieviele Bürger gab es doch in -allen Vaterländern, die genau wußten, wie es um die beiderseitige -Verantwortlichkeit im Kriege stand, die genau die verhängnisvolle Rolle -ihrer politischen Führer kannten, aber sie zogen vor, sich selbst zu -betrügen und sich so zu stellen, als wüßten sie nichts davon. -Schließlich gelang es ihnen sogar, das genaue Gegenteil zu glauben. - -Wenn nun schon jeder, so rasch er konnte, vor sich selber auswich, kann -man sich vorstellen, wie hastig sie erst vor jenen flohen, die wie -Clerambault ihnen behilflich sein wollten, sich selber zu erwischen. Um -sich davonzumachen, schämten sich diese klugen, ernsten und ehrenwerten -Männer nicht, alle jene kleinen Schliche und unredlichen Kniffe -anzuwenden, deren sich sonst nur rechthaberische Frauen und Kinder -bedienen. Aus Angst vor der Diskussion, die sie beunruhigen könnte, -sprangen sie beim ersten ungeschickten Worte Clerambaults auf, rissen es -aus dem Zusammenhange, fälschten es, wie es ihnen paßte, um sich darüber -dann künstlich aufzuregen, laut mit aufgerissenen Augen zu schreien, -sich entrüstet zu stellen und es schließlich wirklich im höchsten Maße -zu werden. Sie schrien Zetermordio, und wenn man ihnen das Gegenteil -bewies und sie zur Richtigstellung zwang, sprangen sie auf, schlugen die -Türen zu: „Jetzt habe ich genug“. Um dann zwei Tage oder zehn nachher -die breitgeschlagenen Themen aufzunehmen, als ob nichts vorgefallen -wäre. - -Andere wieder, die noch heimtückischer waren, forderten in bewußter -Absicht die Unvorsichtigkeit Clerambaults heraus, sie reizten ihn durch -freundliches Entgegenkommen, mehr zu sagen, als er eigentlich wollte, um -dann plötzlich loszubrechen. Die Wohlwollendsten beschuldigten ihn, daß -es ihm an gesundem Menschenverstand fehlte. („Gesund“ sollte natürlich -heißen: an „meinem“, an „unserem“.) - -Andere wieder waren Schönredner, die vor einem Wortturnier keine Angst -hatten und gern die Diskussion aufnahmen in der Hoffnung, das verirrte -Schaf wieder zur Herde heim zu führen. Sie diskutierten nicht die -Anschauung Clerambaults selbst, sondern nur, ob sie zeitgemäß sei, und -appellierten an seine gute Gesinnung. - -„Gewiß, gewiß. Sie haben im Grunde recht, im Grunde denke ich ganz so -wie Sie, fast so wie Sie. O, ich verstehe Sie, lieber Freund... Aber, -lieber Freund, seien Sie vorsichtig, vermeiden Sie es doch, die Gewissen -der Kämpfer zu beunruhigen... Schwächen wir doch nicht ihre Kraft. Man -darf nicht jede Wahrheit aussprechen, wenigstens nicht sofort. Die Ihre -wird sehr schön sein... in fünfzig Jahren. Man darf nicht hastiger sein -wollen als die Natur, man muß warten..., warten bis die Zeit für sie -reif sein wird...“ - -„Abwarten? Was abwarten? Bis der Appetit der Ausbeuter oder die Dummheit -der Ausgebeuteten müde geworden ist? Können Sie denn nicht verstehen, -daß die klaren und durchdringenden Gedanken der Besseren, wenn sie -zugunsten der Blinden und der Denkungsart niedriger Menschen auf das -Wort verzichten, geradewegs dem Lauf der Natur widerstreben, der sie zu -dienen vorgeben, daß sie gegen den Sinn der Geschichte handeln, unter -den sich zu beugen sie als ihre eigenste Ehre empfinden? Heißt das die -Absichten der Natur in Ergebenheit anerkennen, wenn man einen Teil, und -gerade den besten ihres Sinnes, zum Schweigen bringt? Diese Auffassung, -die dem Leben seine kühnste Kraft entzieht und sie den Leidenschaften -der Masse unterordnet, würde dahin führen, die Vorhut zu vernichten, die -große Masse der Armee ohne Führung zu lassen.... Wenn ein Kahn sich nach -einer Seite neigt, wollt ihr mich hindern, mich auf die andere zu -setzen, um ein Gegengewicht zu schaffen? Oder soll sich die ganze -Besatzung auf die Seite setzen, wo er schon überneigt? Die -fortgeschrittenen Ideen sind das von der Natur gewollte Gegengewicht -gegen die schwere Vergangenheit, die ihnen entgegenwirkt. Ohne sie geht -der Kahn unter. — Wie man diese Ideen aufnimmt, das ist für mich -nebensächlich. Wer sie ausspricht, muß sich darauf gefaßt machen, -gesteinigt zu werden, wer sie aber nicht ausspricht, macht sich ehrlos. -Er ist gleichsam ein Soldat, der mit gefährlicher Botschaft während der -Schlacht ausgesandt wird. Hat er das Recht, sich solchem Auftrag zu -entziehen?“ - -Sobald sie sahen, daß ihr Zureden ohne Wirkung auf Clerambault blieb, -demaskierten sie ihre Batterien und beschuldigten ihn erbittert einer -lächerlichen und gefährlichen Eitelkeit. Sie fragten ihn, ob er sich -klüger dünke als alle anderen, weil er seine Meinung der der Nation -entgegensetze, und worauf er denn eigentlich sein ungeheuerliches -Selbstgefühl stütze. Es sei Pflicht, demütig zu sein, bescheiden an -seinem Platze inmitten der Gemeinschaft zu verharren, sich zu beugen, wo -sie gesprochen habe, und — ob man sie für nützlich halte oder nicht — -sich ihren Befehlen zu unterwerfen. Wehe dem Aufrührer gegen die Seele -seines Volkes! Gegen sie recht behalten wollen, heißt unrecht haben. Und -das Unrecht wird zum Verbrechen, in der Stunde der Tat. Die Republik -verlangt, daß ihre Kinder ihr gehorchen. - -„Die Republik oder der Tod“, sagte Clerambault ironisch. „Schönes Land -der Freiheit. Frei! Ja, es ist frei, aber nur deshalb, weil es dort -immer Seelen wie die meine gegeben hat und geben wird, Seelen, die sich -weigern, ein Joch zu tragen, gegen das sich ihr Gewissen wehrt. Aber -welche Nation von Tyrannen auch! Wir haben nichts damit gewonnen, daß -wir die Bastille eroberten. Einst gebot man ewige Gefängnishaft, wenn -sich einer gestattete, anders zu denken als sein Fürst, und fand den -Scheiterhaufen ganz am Platze für den, der anders dachte als die Kirche. -Heute muß man genau so denken wie vierzig Millionen Menschen, ihnen -nachlaufen in ihren leidenschaftlichen Widersprüchen, heute brüllen -„Nieder mit England!“, dann morgen wieder „Nieder mit Deutschland!“, -übermorgen vielleicht „Nieder mit Italien!“, jede Woche etwas anderes, -heute einem Mann oder einem Gedanken zujubeln, den man morgen wird -beschimpfen müssen. Und wenn man sich weigert, so setzt man sich der -Unehre oder einem Revolverschuß aus. Was für eine erbärmliche -Knechtschaft, die erbärmlichste von allen!... Was für ein Recht haben -denn hundert Seelen, tausend Seelen oder vierzig Millionen Seelen, von -mir zu verlangen, daß ich meine Seele verleugne? Jeder von Ihnen hat -doch wie ich selbst nur eine. Vierzig Millionen Seelen zusammen bilden -allzu oft nur eine Seele, die sich vierzigmillionenmal verleugnet... Ich -denke, was ich denke, so denkt auch ihr, was ihr denkt! - -Die lebendige Wahrheit kann nur aus dem Gleichgewicht entgegengesetzter -Ideen entstehen. Damit alle Bürger den Staat ehren können, tut es not, -daß der Staat auch seine Bürger ehre. Jeder von Ihnen hat seine Seele -und hat sein Recht darauf, und seine erste Pflicht ist, sie nicht zu -verraten, niemals den Zusammenhang mit seinem Gewissen zu verlieren.... -Ich gebe mich keinem Wahn hin, ich maße meinem Gewissen keine -übertriebene Bedeutung in einem stürzenden Weltall bei. Aber so wenig -wir auch sein mögen, so wenig wir auch tun mögen, das, was man ist, muß -man schlicht und stark sein, das, was man tut, schlicht und stark tun. -Jeder kann sich täuschen, aber ob er sich täuscht oder nicht, er muß -aufrichtig sein. Ein aufrichtiger Irrtum ist keine Lüge, er ist nur ein -Schritt auf die Wahrheit zu. Lüge ist, vor der Wahrheit Angst haben und -sie ersticken wollen. Wenn ihr tausendmal recht habt gegen einen -aufrichtigen Irrtum — im Augenblick, wo ihr zur Gewalt greift, um ihn -zu vernichten, begeht ihr das niedrigste Verbrechen gegen die Vernunft -selbst. Wo die Vernunft verfolgt und der Irrtum verfolgt wird, bin ich -für den Verfolgten, denn der Irrtum ist ebenso ein Recht wie die -Wahrheit... Wahrheit? Wahrheit?... Wahrheit ist das ewige Suchen nach -der Wahrheit. Achtet die Anstrengungen jener, die sich mühen, sie zu -finden. Wenn man einen Menschen, der sich mühsam auf einem anderen Wege -durchringt, verfolgt, weil er eine für den menschlichen Fortschritt -weniger unmenschliche Bahn finden will — und sie vielleicht niemals -findet —, so macht man aus ihm einen Märtyrer. Ihr sagt, euer Weg sei -der bessere, der einzig gute? So geht ihn doch und laßt mich den meinen -gehen! Ich zwinge euch ja nicht, mir zu folgen. Was regt ihr euch so -auf? Habt ihr am Ende Angst, ich könnte recht haben?“ - - § - -Clerambault beschloß, noch einmal Perrotin aufzusuchen. Trotz des -Gefühls traurigen Mitleids, das jene letzte Begegnung in ihm -hervorgerufen hatte, verstand er nun Perrotins ironische und kluge -Haltung gegenüber der Welt besser. Und so sehr auch seine Achtung für -den Charakter des alten Gelehrten nachgelassen hatte, seine Bewunderung -für die hohe geistige Kraft desselben blieb doch unversehrt: noch immer -betrachtete er ihn als einen Führer, der ihm helfen könnte, sich selbst -zu erleuchten. - -Man kann sich leicht denken, daß Perrotin sich nicht übermäßig entzückt -zeigte, Clerambault wiederzusehen. Er war doch zu fein veranlagt, um -nicht eine unangenehme Erinnerung an die kleine Feigheit bewahrt zu -haben, die er damals nicht nur begangen (denn daraus machte er sich -längst nichts mehr, daran war er zu gewöhnt), sondern die er -stillschweigend vor dem Blicke eines makellosen Zeugen hatte bekennen -müssen. Er sah eine Auseinandersetzung voraus, und Auseinandersetzungen -mit Menschen von feststehender Überzeugung waren ihm ein Greuel. (Es -gibt ja dann gar kein Amusement mehr, solche Leute nehmen alles ganz -ernst.) Aber als höflicher, eigentlich gutmütiger und schwacher Mensch -war er unfähig sich zu wehren, wenn man ihn geradeaus anpackte. Er -versuchte zuerst, alle ernsten Gespräche auszuschalten. Als er aber -merkte, daß Clerambault wirklich seiner bedurfte, und er ihn vielleicht -von irgendeiner Unbedachtheit zurückhalten könnte, entschloß er sich mit -einem Seufzer, ihm seinen Vormittag zu opfern. - -Clerambault entwickelte ihm das Resultat seiner Bemühungen. Er war nun -vollkommen klar darüber, daß die gegenwärtige Welt sich einem andern -Ideal als dem seinen unterwarf. Er selbst hatte ja früher gleichfalls -dies Ideal geteilt, ihm gedient und es gefeiert, und noch heute war er -gerecht genug, ihm eine gewisse Schönheit zuzuerkennen. Bei den letzten -Prüfungen war er aber auch des Sinnlosen und Widrigen dieses Ideals -bewußt geworden und er fühlte, da er sich von ihm losgelöst hatte, sich -nun genötigt, sich zu einem andern zu bekennen, das -verhängnisvollerweise ihn mit dem früheren in Konflikt brachte. In -kurzen und leidenschaftlichen Ausdrücken entwickelte Clerambault dieses -neue Ideal und bat Perrotin, ihm klar und offen mit Hintansetzung jeder -Höflichkeit und jeder Schonung zu sagen, ob er es richtig fände oder -falsch. Perrotin nun, betroffen von Clerambaults tragischem Ernst, -änderte sofort seinen Ton und stimmte ihm zu. - -„Habe ich also unrecht?“ fragte Clerambault ganz voll Angst, „ich sehe -gut, daß ich allein bin, aber ich kann nicht anders. Sagen Sie also, -ohne mich zu schonen: ist es ein Unrecht von mir, daß ich das denke, was -ich denke?“ - -Perrotin antwortete mit Ernst: - -„Nein, mein Freund, Sie haben vollkommen recht.“ - -„Also ist es meine Pflicht, den mörderischen Irrtum der andern zu -bekämpfen?“ - -„Das ist wieder eine andere Sache.“ - -„Habe ich also die Wahrheit nur dazu, um sie zu verraten?“ - -„Die Wahrheit, mein Freund... (nein, sehen Sie mich nicht so an!) Sie -glauben jetzt, daß ich so wie jener andere sagen werde: „Was ist -Wahrheit?“ Nein.... Ich liebe sie ebenso wie Sie und vielleicht länger -als Sie.... Aber die Wahrheit, mein Freund, ist höher, weiter als Sie, -als wir, als alle, die jemals lebten, leben und leben werden.... Immer -wenn wir meinen, dieser großen Göttin zu dienen, dienen wir nur den _Di -minores_, den Heiligen der Seitenkapellen, die von der großen Masse -abwechselnd vergöttert und verlassen werden. Gewiß kann das nicht -unsere, nicht Ihre und nicht meine Wahrheit sein, zu deren Ehre sich die -heutige Welt mit korybantischer Leidenschaft hinschlachtet und -verstümmelt. Das Ideal des Vaterlandes ist das eines großen grausamen -Gottes, das der Zukunft im mythischen Bilde eines Chronos als -Schreckgespenst, oder seines olympischen Sohnes, den Christus -entthronte, erscheinen wird. Ihr Menschheitsideal ist auf einer höheren -Stufe und kündigt einen neuen Gott an. Aber auch dieser Gott wird später -von einem anderen entthront werden, der noch höher steht und noch mehr -vom Weltall umfängt. Das Ideal wie das Leben hören nicht auf, sich zu -entwickeln, und dieses unablässige Werden ist für einen freien Geist der -wirkliche Inhalt der Welt. — Aber wenn es auch dem Geist gegeben ist, -die Stufen dieser Entwicklung ungestraft im Fluge zu überspringen, so -kommt man doch in dieser Welt der Tatsachen nur Schritt für Schritt -vorwärts. In einem ganzen Leben dringt man vielleicht nur um ein paar -Zoll vor. - -Die Menschheit hat lahme Beine und Ihr ganzes Unrecht, Ihr einziges -Unrecht ist, daß Sie ihr voraus sind um einen oder mehrere Tagemärsche. -Aber gerade dieses Unrecht verzeiht man einem Menschen am wenigsten.... -Und das geschieht vielleicht nicht ohne Grund. Denn wenn ein Ideal, wie -jetzt jenes des Vaterlandes, gleichzeitig mit der Gesellschaftsform, von -der es getragen wird, altert, so wird es bösartig und speit sein -gefährlichstes Feuer aus. Der kleinste Zweifel an seiner Berechtigung -macht es toll, denn der Zweifel steckt schon in ihm selbst. Täuschen wir -uns nicht darüber: Die Millionen Menschen, die sich heute im Namen des -Vaterlandes hinschlachten lassen, haben nicht mehr das junge gläubige -Vertrauen von 1792 oder 1813, obwohl heute viel größere Ruinen und -Trümmer aufrufen. Viele derer, die sterben, und selbst die, die sich -bewußt töten lassen, fühlen im tiefsten Grunde ihrer Seele das -furchtbare Nagen des Zweifels. Aber einmal in die Falle gegangen, zu -schwach, aus ihr auszubrechen oder sich einen Ausweg zu erdenken, -verbinden sie sich die Augen und werfen sich in den Abgrund, während sie -gleichzeitig voll Verzweiflung ihren schon erloschenen Glauben bekennen. -Aber vor allem schleudern sie in der Erbitterung einer uneingestandenen -Rache diejenigen hinein, die durch ihre Worte oder ihre Haltung den -Zweifel in ihnen erweckt haben. Denjenigen, die für einen Wahn sterben, -diesen Wahn nehmen wollen, heißt, sie zweimal sterben lassen.“ - -Clerambault faßte ihn bei der Hand, damit er nicht weiterspräche. „O, -Sie brauchen mir das nicht zu sagen, was mich ohnehin quält! Glauben Sie -denn, daß ich nicht selbst die Angst fühle, diese Unglücklichen noch -mehr zu verwirren? Ja, ich möchte den Glauben dieser armen Jungen -schonen, nicht einen einzigen dieser Armen unglücklich machen, aber, -mein Gott, was soll ich tun? Helfen Sie mir, aus diesem Zwiespalt -herauszukommen, ob man das Böse ruhig geschehen lassen soll, die andern -ruhig sich vernichten lassen, oder es wagen, ihnen noch mehr wehe zu -tun, sie in ihrem Glauben zu verletzen und sich ihrem Haß auszuliefern -eben dadurch, daß man sie retten will. Welches ist das richtige Gebot?“ - -„Sich selbst zu retten!“ - -„Mich selbst retten, heißt mich vernichten, wenn ich etwas auf Kosten -der andern tue. Wenn wir nichts für sie tun — Sie, ich, denn wenn wir -uns auch alle verbinden, sind wir doch noch immer zu wenige — dann geht -Europa, dann geht die Welt zugrunde....“ - -Perrotin, die Ellbogen auf die Lehne gestützt, die Hände über seinem -Buddhabauch gefaltet und die Daumen drehend, sah Clerambault auf das -gutmütigste an, hob den Kopf und sagte: - -„Ihre Menschengüte, Ihre künstlerische Empfindsamkeit täuschen Sie -glücklicherweise, mein Freund. Die Welt ist noch nicht am Ende, die hat -schon andere Dinge gesehen und wird noch andere sehen. Das, was heute -geschieht, ist sicherlich sehr schmerzlich, aber keineswegs abnormal. -Niemals noch hat ein Krieg die Erde gehindert sich weiter zu drehen, -noch das Leben sich weiter zu entwickeln, ja, er ist sogar selbst eine -Form dieser Entwicklung. Erlauben Sie einem alten, gelehrten -Philosophen, Ihrem Heiligen Schmerzensmanne die ruhige Inhumanität -seines Gedankens entgegenzustellen. Vielleicht finden Sie trotz allem -sogar eine Erleichterung. — Diese Krise, die Sie so erschreckt, dieser -Wirrwarr ist im Grunde eigentlich nichts als ein -Zusammenziehungsphänomen, eine kosmische, lärmende, aber doch -gesetzmäßige Kontraktion, ähnlich jenen Faltungen bei der -Zusammenziehung der Erdkruste, die ja auch immer von zerstörenden -Erdbeben begleitet sind. Die Menschheit zieht sich zusammen. Und der -Krieg ist die eine solche Kontraktion begleitende Erschütterung. Gestern -waren es noch in jeder Nation die Provinzen, die einander bekriegten, -vorgestern in jeder Provinz die Städte, und heute, da die völkische -Einheit schon ausgestaltet ist, bereitet sich eine viel umfassendere -Einheit vor. Es ist natürlich sehr bedauerlich, daß diese Entwicklung -durch Gewalt geschieht, aber Gewalt ist eben das natürliche Mittel in -diesem Prozeß. Aus dem Explosivgemenge der zusammenstoßenden Elemente -wird sich ein neuer chemischer Körper entwickeln. Wird es das einige -Abendland, wird es Europa sein? — ich weiß es nicht. Aber sicher wird -die neue Zusammensetzung neue Eigenschaften haben und viel reichere als -die der einzelnen zusammensetzenden Elemente. Und dies ist noch nicht -die letzte Etappe. So schön der gegenwärtige Krieg ist (ich bitte Sie um -Entschuldigung, ich meine „schön“ im Hinblick auf den Geist, für den das -Leiden nicht existiert), so werden noch schönere, noch großzügigere sich -entfalten. Diese armen Kinder von Völkern, die sich einbilden, sie -erbauten schon mit ihrem Kanonendonner den ewigen Frieden — sie werden -noch warten müssen, bis das ganze Weltall durch diese Retorte -hindurchgegangen ist. Der Krieg der beiden Amerika, der des neuen -Kontinents und des gelben Kontinents, dann jener des Siegers mit der -übrigen Erde — das wird uns noch ein paar Jahrhunderte zu schaffen -machen. Und dabei sehe ich nicht einmal weit genug, ahne ich noch nicht -einmal alles. Außerdem wird natürlich noch jeder dieser Zusammenstöße -ausgiebige soziale Kriege zur Folge haben. Und erst dann, wenn dies -alles erledigt ist, vielleicht in zehn Jahrhunderten (obwohl ich glaube, -daß es vielleicht rascher geschehen könnte, als man meint, wenn man die -Gegenwart mit der Vergangenheit in Vergleich setzt, weil sich im Fall -die Geschwindigkeit beschleunigt), erst dann werden wir zu einer ein -wenig ärmeren Synthese gelangen, denn von den Elementen der -Zusammensetzung werden die besten und die schlechtesten unterwegs -vernichtet worden sein; die ersten, weil sie zu zart waren, um den -Unbilden zu widerstehen, die zweiten, weil sie zu widersetzlich waren -und sich zu stark gegen die Amalgamierung wehrten. Dann werden jene -sagenhaften Vereinigten Staaten der Erde erstehen, und ihr Bündnis wird -um so dauerhafter sein, je mehr sich dann die Menschheit wahrscheinlich -von gemeinsamen Gefahren bedroht sehen wird; die Marskanäle, die -Eintrocknung der Planeten, die Erkaltung der Erdkruste, die -geheimnisvollen Erkrankungen, die Pendeluhr Edgar Poes, die Vision des -endgültigen Erlöschens der irdischen Geschlechter.... Ach, was für -schöne Dinge wird es zu betrachten geben. In jenen letzten Ängsten wird -das Genie der Rasse überreizt sein. Freilich, Freiheit wird’s wenig -geben. Die menschliche Vielfalt muß gerade im Verschwinden notwendig zur -Einheit des Gedankens und des Willens drängen (eine Richtung, in die sie -übrigens auch heute schon ganz deutlich zielt); so wird sich ohne -plötzliche Umkehr das Verschiedene in das Eine wieder zurückverwandeln, -der Haß in die Liebe des alten Empedokles.“ - -„Und dann?“ - -„Dann? Dann wird wahrscheinlich alles nach einem Weltzeitraum von neuem -anfangen. Ein anderer Kreis, eine andere Kalpa. Die Welt wird sich auf -einem frisch geschmiedeten Rad wieder zu drehen beginnen.“ - -„Und des Rätsels Lösung?“ - -„Ein Hindu würde darauf antworten: Schiwa, der Zerstörer und der -Schaffer, der Schaffer und der Zerstörer.“ - -„Welch ein entsetzliches Traumbild!“ - -„Das ist Auffassungssache. Die Weisheit macht einen immer frei. Für den -Hindu ist Buddha der Befreier, mir für meinen Teil hilft schon die -Neugierde über alles hinweg.“ - -„Aber nicht mir: ich kann mich nicht bescheiden mit der Weisheit des -selbstsüchtigen Buddha, der nur sich frei macht und die anderen im -Stiche läßt. Ich kenne wie Sie die Hindus und ich liebe sie. Aber auch -bei ihnen hat Buddha nicht das letzte Wort der Weisheit gesprochen. -Erinnern Sie sich an jenen Bodhisattva, den Meister des Mitleids, der -den Eid geleistet, nicht früher Buddha zu werden, nicht früher sich ins -Nirwana zurückzuflüchten, ehe er nicht alle Übel geheilt, alles Unrecht -gesühnt, alle Seelen getröstet hätte.“ - -Perrotin neigte sich mit einem sanften Lächeln zu Clerambaults -schmerzlichem Gesicht, streichelte ihm zärtlich die Hand und sagte: - -„Mein lieber Bodhisattva, was wollen Sie also tun? Wen wollen Sie also -retten? Was wollen Sie also retten?“ - -„Ja, ich weiß wohl“, sagte Clerambault und senkte den Kopf, „ich weiß -wohl, wie wenig ich bin, wie wenig ich vermag. Ich kenne die Nichtigkeit -meiner Wünsche und meines Protestes. Halten Sie mich nicht für -eingebildet, aber was kann ich dagegen tun, wenn meine Pflicht mir zu -sprechen gebietet?“ - -„Ihre Pflicht ist, etwas zu tun, was nützlich und vernünftig ist, nicht -aber, sich vergeblich zu opfern.“ - -„Was ist das, was Sie „vergeblich“ nennen? Können Sie im vorhinein bei -Samenkörnern dasjenige unterscheiden, das gedeihen wird, und jenes, das -zugrunde geht? Und ist dies ein Grund, den Samen nicht auszuwerfen? -Welcher Fortschritt wäre jemals geschehen, wenn der, in dessen Brust das -Samenkorn wuchs, zurückgeschreckt wäre vor dem ungeheuren Block der -gewohnheitsträgen Vergangenheit, der ihn zu zerschmettern droht?“ - -„Ich verstehe, daß der Gelehrte die Wahrheit verteidigt, die er gefunden -hat. Aber ist diese soziale Betätigung denn Ihre Mission? Dichter, -bleibe deinen Träumen treu, auf daß deine Träume dir treu bleiben.“ - -„Ich bin zuerst Mensch, und dann erst Dichter. Jeder anständige Mensch -hat eine Mission.“ - -„Aber Sie tragen geistige Werte in sich, die zu kostbar sind, und es -wäre Mord, sie hinzuopfern.“ - -„Ja, nicht wahr, man soll also nur den kleinen Leuten das Opfer -überlassen, die nicht viel zu verlieren haben?“ - -Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: - -„Perrotin, es ist mir oft in den Sinn gekommen, daß wir alle nicht -unsere Pflicht tun, wir geistigen Menschen und Künstler alle.... Nicht -nur heute sondern seit langem schon, seit immer. Wir haben bei uns einen -Teil Wahrheit und Erleuchtung, die wir aus Vorsicht in uns -zurückbehalten. Mehr als einmal habe ich das mit dunkeln Gewissensbissen -gefühlt. Aber damals hatte ich noch Angst, in mich hineinzuschauen. Erst -die Prüfung hat mich sehen gelehrt. Wir sind Bevorzugte, wir sind eine -privilegierte Klasse, das gibt uns auch Pflichten, Pflichten, die wir -nicht erfüllen, denn wir haben Angst, uns zu kompromittieren. Die Elite -des Geistes ist eine Aristokratie, die vorgibt, jener des Blutes -nachzufolgen; aber sie vergißt, daß jene im Anfang die Privilegien mit -ihrem Blute bezahlte. Seit Jahrhunderten hört die Menschheit viele Worte -von weisen Männern, aber nur selten sieht sie einen dieser Weisen sich -hinopfern. Und das würde der Welt ganz gut tun, wenn sie hie und da -einmal einen sehen würde, der sein Leben für seinen Gedanken hingibt. -Nichts wahrhaft Fruchtbares kann ohne das Opfer geschaffen werden. Um -die anderen glauben zu machen, muß man selbst gläubig sein, muß -beweisen, daß man gläubig ist. Es genügt nicht das bloße Dasein einer -Wahrheit, damit der Mensch zu ihr aufblicke, es ist nötig, daß dieses -Dasein ein lebendiges Leben habe. Und dieses Leben können, dieses Leben -müssen wir ihr geben — das unsere! Sonst sind all unsere Gedanken nur -Dilettantenspiele, eine Theaterspielerei, die einzig auf Theaterapplaus -ein Anrecht hat. Nur solche Menschen haben die Menschheit -vorwärtsgebracht, die ihr eigenes Leben zur Stufe machten. Dieses ist es -auch, was den Zimmermannssohn von Galiläa über alle unsere großen Männer -erhoben hat. Die Menschheit wußte wohl einen Unterschied zu machen -zwischen den anderen und dem Heiland.“ - -„Und der Heiland? Hat er sie gerettet?.... ‚Wenn Gott Zebaoth so -beschlossen hat, so schaffen die Völker für das Feuer.‘“ - -„Ihr Feuerkreis ist das letzte Schreckbild. Der Mensch ist nur dazu da, -um ihn zu zerbrechen, um zu versuchen, sich ihm zu entringen, frei zu -sein.“ - -„Frei?“, sagte Perrotin mit seinem ruhigen Lächeln. - -„Ja, frei! Freiheit ist das höchste Gut, ein ebenso seltenes, wie ihr -Name ein abgebrauchter ist, so selten wie das wahre Schöne, wie das -wahre Gute. Frei nenne ich den, der sich von sich selbst, von seinen -Leidenschaften, seinen blinden Instinkten, von jenen der Umgebung und -des Augenblickes loslösen kann, zwar nicht um seiner Vernunft zu -gehorchen, wie man meist sagt (denn die Vernunft in dem Sinne, wie Sie -sie verstehen, ist ja nur ein anderes Wahnbild, eine andere verhärtete, -vergeistigte und darum fanatisierte Leidenschaft), sondern um zu -versuchen, über die Staubwolken hinauszusehen, die sich von den -Menschenherden auf den Straßen der Gegenwart erheben, um zu versuchen, -den Horizont zu umfassen und alles Geschehen in der Gesamtheit der Dinge -und der Weltordnung zu begreifen.“ - -„Und sich dann“, unterbrach ihn Perrotin, „den Weltgesetzen zu -unterwerfen und anzupassen.“ - -„Nein“, erwiderte Clerambault, „um sich ihnen mit vollem Bewußtsein -entgegenzustellen, sobald sie dem Glück und dem wahrhaft Guten -nachteilig sind. Denn darin besteht ja die Freiheit, daß der freie -Mensch in sich selbst ein Weltgesetz ist, ein bewußtes Gesetz, dessen -einzige Aufgabe es ist, das Gegengewicht für die zerschmetternde -Maschine, für den Automaten Spittelers, die eherne Ananke zu bilden. Ich -sehe das Weltwesen noch zu drei Vierteilen in der Scholle, in der Rinde, -im Stein gebunden, den unbarmherzigen Gesetzen der Materie unterworfen, -in die es eingebannt ist. Nur der Blick und der Atem sind frei. „Ich -hoffe“, sagt der Blick. „Ich will“, sagt der Atem. Mit diesen beiden -sucht es sich loszuringen. Der Blick, der Atem, das sind wir, das ist -der freie Mensch.“ - -„Mir genügt der Blick“, sagte sanft Perrotin. - -Clerambault erwiderte: - -„Habe ich keinen Atem, so gehe ich zugrunde.“ - - § - -Beim geistigen Menschen bedarf es immer einiger Zeit vom Wort bis zur -Tat, und selbst wenn er schon zu handeln beschlossen hat, findet er noch -immer verschiedene Vorwände, um die Ausführung auf den nächsten Tag zu -verschieben. Er sieht zu deutlich alles, was kommen wird, sieht die -Kämpfe und Mühen voraus, und bezweifelt von vornherein den Erfolg. Um -sich aber selbst über seine Unruhe hinwegzutäuschen, verausgabt er sich -in Kraftreden entweder mit sich allein oder im engsten Freundeskreise, -und verschafft sich so die billige Illusion, schon tätig zu sein. Im -tiefsten Grunde seines Wesens glaubt er jedoch selbst nicht daran, er -wartet wie Hamlet auf die Gelegenheit, die ihn zur Tat zwingen soll. - -So tapfer auch Clerambault in seinem Gespräche mit dem nachgiebigen -Perrotin gewesen war, fand er doch, kaum heimgekehrt, alle seine -Bedenken wieder. Seine durch das Unglück geschärfte Feinfühligkeit -spürte nur zu gut die Erregung der Seinen rings um ihn und ließ ihn den -Zwiespalt vorausahnen, den seine einmal ausgesprochenen Worte zwischen -seiner Frau und ihm hervorrufen würden. Und noch mehr: er fühlte sich -der Zustimmung seiner Tochter nicht mehr sicher, er hätte nicht sagen -können, weshalb, aber er fürchtete die Probe zu machen. Für ein -zärtliches Gemüt wie das seine war schon der Versuch eine Qual.... - -Inzwischen schrieb ihm ein befreundeter Arzt, er hätte in seinem -Hospital einen Schwerverwundeten, der an der Offensive in der Champagne -teilgenommen und Maxime gekannt hatte. Clerambault eilte sofort hin, um -ihn zu sehen. - -Er fand auf einem Bett einen Mann unbestimmbaren Alters auf dem Rücken -liegend, unbeweglich ausgestreckt, umschnürt wie eine Mumie. Aus den -weißen Bandagen starrte das magere Gesicht eines Bauern, gegerbt, -zerfaltet, mit großer Nase und grauem Bart. Der freie rechte Unterarm -stützte eine massige und entstellte Hand auf die Decke, vom Mittelfinger -fehlte ein Glied, aber das zählte nicht, das war eine Friedenswunde. -Unter den buschigen Brauen sahen die Augen ruhig und klar: man hätte ein -so mildes graues Licht in dem verbrannten Antlitz nicht erwartet. - -Clerambault trat an ihn heran, erkundigte sich nach seinem Zustande, der -Mann dankte höflich, aber ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, -gleichsam als ob es nicht nötig wäre, von sich zu sprechen. - -„Ich danke Ihnen, mein Herr, es geht gut, es geht ganz gut.“ - -Aber Clerambault erneuerte liebevoll seine Fragen und es dauerte nicht -lange, so fühlten die grauen Augen, daß in den blauen Augen, die sich zu -ihnen niederneigten, mehr als Neugier sich regte. - -„Wo sind Sie denn verwundet“, fragte Clerambault. - -„Ach! Das wäre zu lang zu erzählen, mein Herr! Eigentlich ein wenig -überall.“ - -Und als jener weiterfragte: - -„Ich habe es hier und da abgekriegt, überall wo gerade ein Platz war — -und dabei bin ich nicht einmal besonders dick. Ich hätte nie gedacht, -daß es in einem Körper soviel Platz dafür gibt.“ - -Schließlich erfuhr Clerambault, daß jener ungefähr zwanzig — oder -genauer gesagt siebzehn — Verwundungen hatte. Er war buchstäblich von -einem Schrapnell überschüttet (oder wie er sagte „gespickt“) worden. - -„Siebzehn Verwundungen!“, schrie Clerambault. - -Der Mann berichtigte: - -„Um der Wahrheit völlig die Ehre zu geben: ich habe jetzt nur mehr etwa -zehn.“ - -„Sind die anderen schon geheilt?“ - -„Man hat mir die Füße abgeschnitten.“ - -Clerambault war so erschüttert, daß er fast den Zweck seines Besuches -vergaß. O, diese Fülle von Unglück! Mein Gott! Was ist da das unsere, -dieser Tropfen im Meer! Er legte seine Hand auf die harte Hand des -Mannes und drückte sie. Die ruhigen Augen des Verwundeten betrachteten -Clerambault von oben bis unten, bemerkten das Trauerband am Hute und er -sagte: „Sie haben auch Unglück gehabt?“ - -Clerambault raffte sich auf. - -„Ja“, sagte er, „nicht wahr, Sie haben ihn gekannt, den Sergeanten -Clerambault?“ - -„Natürlich habe ich ihn gekannt.“ - -„Das war mein Sohn.“ - -Ein Bedauern kam in den Blick. - -„Ach, Sie armer Herr... Natürlich habe ich ihn gekannt, Ihren tapferen -kleinen Jungen! Wir waren fast ein ganzes Jahr zusammen, und das zählt, -dieses Jahr! Durch Tage und Tage wie die Maulwürfe im selben Loch... -Ach, man hat zusammen viel Elend erlebt.“ - -„Hat er viel gelitten?“ - -„Na, mein Herr, manchmal war es hart. Den Kleinen hat es manchmal fest -gepackt, besonders im Anfang. Er war es eben nicht gewöhnt; wir, wir -kennen das.“ - -„Sie sind vom Lande?“ - -„Ich war Gutsknecht, da lebt man das Leben mit den Tieren, lebt ein -wenig wie sie selbst... Obwohl, mein Herr, um es offen zu sagen, der -Mensch heutzutage von den Menschen schlechter als das Vieh behandelt -wird... „Seid gut zu den Tieren“, diese amtliche Mahnung hatte irgendein -Spaßvogel in unserem Schützengraben aufgehängt. Aber was für sie nicht -gut ist, war noch immer gut genug für uns... Tut nichts!... Ich beklage -mich ja nicht. Es ist nun einmal so. Und wenn es sein muß, muß es eben -sein. Aber der kleine Sergeant, bei dem merkte man’s, daß er nicht -gewöhnt war an all das. An den Regen und an den Schlamm und die -Niedertracht und vor allem an den Schmutz. Was immer man anrührte, was -man aß, und dann auf einem selbst: das Ungeziefer... Im Anfang, da sah -ich’s, da war er ein paarmal ganz nahe daran zu weinen. Da versuchte ich -ihm ein bißchen zu helfen. Mich lustig zu machen über die Sachen, um ihm -zu helfen — aber so, daß er nicht merkte, daß man ihm helfen wolle, -denn er war stolz, der Kleine, und wollte nicht, daß man ihm helfe — -aber er war doch froh, wenn man’s tat. Und ich war es auch. Dort hat man -ja nötig, zueinander zu rücken und sich zu helfen. Schließlich war er -soweit und so abgehärtet wie ich, hat mir seinerseits auch geholfen. Hat -nie geklagt, wir lachten sogar zusammen, denn man muß doch lachen: Es -gibt ja kein Unglück, das ewig dauert, und das hilft einem über das -Elend hinweg.“ - -Clerambault hörte bedrückt zu. Er fragte: - -„So war er also weniger traurig am Ende?“ - -„Ja, mein Herr, er hatte sich abgefunden, wie schließlich wir alle. Man -weiß nicht, wieso das kommt, man steht jeden Tag, fast jeder mit -demselben Fuß auf, man ist einander nicht ähnlich, aber schließlich ist -man schon mehr die andern als man selbst. Und das ist besser so, man -leidet nicht mehr so viel, man fühlt sich selbst weniger, man wird eine -einzige Masse. Außer, wenn es Urlaub gibt — dann wird es schlecht für -die, die zurückkommen — und so war’s auch gerade bei dem kleinen -Sergeanten, als er zum letztenmal wiederkam... da geht es dann nicht -mehr gut....“ - -Clerambault sagte hastig aus gepreßtem Herzen: „Wie, damals, als er -zurückkam...?“ - -„Ja, da war er sehr niedergedrückt. Niemals hatte ich ihn so kleinmütig -gesehen wie in jenen Tagen.“ - -Ein schmerzlicher Ausdruck malte sich in Clerambaults Gesicht. Bei einer -Bewegung, die er machte, wendete sich der Verwundete, der, bisher die -Augen zur Zimmerdecke gerichtet, gesprochen hatte, mit dem Blick gegen -ihn, sah und verstand offenbar alles, denn er fügte hinzu: - -„Aber er hat sich schon wieder herausgerappelt nachher.“ - -Clerambault faßte von neuem die Hand des Kranken. - -„Sagen Sie mir, was er Ihnen erzählte, sagen Sie mir alles.“ - -Der Mann zögerte, dann sagte er: - -„Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau.“ - -Er schloß die Augen und blieb unbeweglich. Clerambault, über ihn -gebeugt, suchte zu sehen, was diese Augen unter ihren geschlossenen -Lidern in sich erblickten. - - * * * * * - -Mondlose Nacht. Eisige Luft. Aus der Tiefe des gehöhlten Grabens sieht -man den kalten Himmel und die starren Sterne. Geschosse schlagen in dem -harten Boden auf. Im Schützengraben zusammengeknäuelt, die Knie unter -dem Kinn, rauchen Maxime und sein Gefährte Seite an Seite. Der Kleine -war eben an diesem Tage von Paris zurückgekommen. - -Er war bedrückt und gab auf Fragen keine Antwort, er verschloß sich in -einem bösen Schweigen. Der andere hatte ihn den ganzen Nachmittag mit -Absicht allein gelassen, damit er mit seiner Qual fertig werde; aus dem -Augenwinkel heraus beobachtete er ihn, und als er dann im Dunkeln den -Augenblick gekommen sah, näherte er sich ihm. Er wußte, der Kleine würde -jetzt von selbst mit ihm sprechen. Der Anschlag einer Kugel, die über -ihre Köpfe fuhr, ließ eine vereiste Scholle Erde sich loslösen. - -„Heda, du Totenvogel“, sagte der andere, „du hast es eilig.“ - -„Wenn es nur schon vorüber wäre“, sagte Maxime, „sie wollen es ja alle.“ - -„Was, um den Boches eine Freude zu machen, ließest du dich umbringen? Du -bist wirklich ein guter Kerl.“ - -„Es sind nicht nur die Boches allein, alle schaufeln sie zusammen an -unserem Grab...“ - -„Wer denn?“ - -„Alle! Die von dort hinten, von wo ich komme, die von Paris, die -Freunde, die Verwandten, die Lebendigen, die vom anderen Ufer. Wir, wir -sind ja schon tot.“ - -Ein Schweigen. Der Flug eines Projektils heulte durch den Himmel. Der -Kamerad tat einen tiefen Zug aus der Pfeife. - -„Also, es hat dir hinten nicht gefallen, mein Kleiner? Ich habe es mir -gleich gedacht.“ - -„Warum denn?“ - -„Weil, wenn der eine schuftet und der andere nicht, so haben die beiden -einander nichts zu sagen.“ - -„Aber sie leiden ja auch....“ - -„Ja, aber es ist nicht dasselbe Brot. Du kannst noch so geschickt sein, -du wirst niemals einem, der ihn nicht kennt, den Zahnschmerz erklären -können. So versuche mal denen da hinten, die in ihren Betten liegen, -begreiflich zu machen, was hier vorgeht. Für mich ist es nicht neu, ich -habe den Krieg nicht nötig gehabt... Ich habe das mein ganzes Leben -gekannt. Aber glaubst du, wenn ich mich auf der Erde abrackerte und mir -das Mark aus den Knochen schwitzte, daß andere sich darüber beunruhigt -haben? Ich sage damit nicht, daß sie deshalb schlecht sind. Sie sind -nicht gut, sind nicht schlecht, sind eben wie fast alle Welt ist. -Können’s halt nicht auffassen. Um etwas zu verstehen, muß man’s selber -spüren, die Sache auf sich nehmen, die ganze Qual auf sich nehmen. Wenn -nicht — und man tut es ja nicht, mein Junge — da muß man eben das -Kreuz darüber machen, versuch’s nicht zu erklären. Die Welt ist eben so -wie sie ist. Da ist nichts zu ändern.“ - -„Das wäre zu furchtbar. Dann lohnte es ja nicht mehr zu leben.“ - -„Warum denn nicht, zum Teufel? Ich habe es ganz gut ertragen, und du -bist nicht weniger wert als ich. Du bist klüger, du kannst lernen, man -lernt alles ertragen. Alles. Und dann — etwas zusammen zu ertragen, ist -zwar noch keine Freude, aber es ist nicht mehr ganz eine Qual. Allein zu -sein, das ist das härteste. Du bist nicht allein, mein Kleiner.“ Maxime -sah ihm ins Gesicht und sagte: - -„Dort hinten war ich’s, hier bin ich es nicht mehr...“ - - * * * * * - -Aber der Mann, der mit geschlossenen Augen auf seinem Bette hingestreckt -lag, sagte nichts von dem, was er in sich sah. Als er jetzt wieder ruhig -die Augen aufschlug, fand er den verängstigten Blick des Vaters auf sich -gerichtet, der ihn anflehte, zu sprechen. - -Und da versuchte er mit einer linkischen und zärtlichen Gutmütigkeit zu -erklären, daß der Kleine offenbar deshalb traurig gewesen war, weil er -die Seinen hatte verlassen müssen, aber daß „man“ ihn schon wieder -aufgerichtet hätte. „Man“ verstand ja seine Not.... Er selbst, der -Krüppel, hätte ja nie einen Vater gekannt, aber als Kind hätte er davon -geträumt, welches Glück es für die, die einen haben, sein müsse. - -„So habe ich mir erlaubt... und habe zu ihm gesprochen, mein Herr, so, -als ob ich Sie wäre... und der Kleine hat sich beruhigt. Er sagte mir, -daß man doch eine Sache diesem verfluchten Krieg danke, nämlich daß er -einem gezeigt habe, es gäbe viel arme Teufel auf der Erde, die sich -nicht kennen und die aus demselben Holz geschnitzt sind. Man hört es oft -genug, daß wir Brüder seien, von den Anschlagzetteln oder aus den -Predigten, nur glaubt man’s eben nicht. Um es wirklich zu wissen, muß -man einmal miteinander geschuftet haben... und da hat er mich umarmt.“ - -Clerambault stand auf, neigte sich über das umwickelte Gesicht des -Verwundeten und küßte ihn auf die rauhe Wange. - -„Sagen Sie, was ich für Sie tun kann“, fragte er. - -„Sie sind sehr gut, mein Herr, aber viel ist nicht mehr zu tun. Ich bin -sozusagen fertig. Ohne Beine, mit einem gebrochenen Arm, mit fast nichts -Gesundem mehr, wozu wäre ich noch gut? Übrigens ist ja noch gar nicht -gesagt, daß ich überhaupt davonkomme. Na, es wird eben gehen, wie es -geht. Fahre ich ab, dann gute Reise, und bleibe ich, so wird man schon -sehen. Man muß warten, es gibt ja immer Züge.“ - -Clerambault bewunderte seine Geduld. Der andere wiederholte immer seinen -Refrain: „Ich bin halt eben daran gewöhnt, es ist kein großes Verdienst, -geduldig zu sein, wenn man nicht anders kann... und dann, wir kennen das -ja schon, ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger... für uns dauert -der Krieg das ganze Leben lang.“ - -Clerambault bemerkte, daß er in seinem Egoismus noch gar nicht nach -Einzelheiten aus dem Leben des andern gefragt hatte, ja nicht einmal -seinen Namen wußte. - -„Mein Name? Der paßt gut zu mir: Courtois Aimé. Aimé ist der Vorname. -Paßt wie ein Handschuh zu einem, der im Dreck sitzt.... Und dazu noch -Courtois, ein guter Witz. Meine Eltern habe ich nicht gekannt, ich bin -ein Findelkind. Der Pfleger vom Hilfshaus, ein Pächter in der Champagne, -hat es übernommen, mich aufzuziehen, und er verstand sich darauf, der -Kerl.... Ich bin gut herausgearbeitet worden! Na, ich habe wenigstens zu -rechter Zeit schon gewußt, was mich im Leben erwartet. Es hat gut in -meinen Napf geregnet.“ - -Und dann erzählte er mit ein paar kurzen trockenen Sätzen, ohne -irgendwelche Erregung, die ganze Reihe der Unglücksfälle, die sein Leben -zusammensetzten: die Ehe mit einem Mädchen, wie er ohne einen Pfennig -Geld, der „Hunger, der den Durst heiratet“, Krankheiten, Todesfälle, den -Kampf gegen die Natur — und das alles wäre noch nichts gewesen, hätte -nicht noch der Mensch vom Seinen dazugetan. _Homo homini_... _homo_.... -Die ganze soziale Ungerechtigkeit, die auf den Leuten der unteren -Schichten lastet. — Clerambault konnte seine Erbitterung nicht -verbergen, wie er ihm so zuhörte, aber Aimé Courtois regte sich durchaus -nicht auf. Es ist eben so, es war immer so und wird immer so sein. Die -einen sind da, um zu leiden, die anderen nicht. Es gibt keine Berge ohne -Täler. Der Krieg war ihm als ein Blödsinn erschienen, aber er hätte -nicht einen Finger gerührt, um ihn zu verhindern. In seiner Art war die -ganze fatalistische Passivität des Volkes, das auf gallischer Erde sich -in eine ironische Sorglosigkeit hüllt, das „Man darf sich nichts daraus -machen“ der Schützengräben. Und es war auch die ganze falsche Scham der -Franzosen darin, die vor nichts so Furcht haben wie vor dem -Lächerlichen, die tausendmal lieber für eine Tollheit und sogar für -eine, die sie selbst als solche erkennen, sich opfern würden, als sich -dem Spott für irgendeine vernünftige Handlung auszusetzen, die nur nicht -an der Tagesordnung war. Sich dem Kriege entgegenstellen, das wäre so, -wie sich gegen das Gewitter stellen. Wenn’s hagelt, kann man halt nichts -tun als, wenn es noch geht, die Fenster zuschließen und nachher sich die -zugrunde gerichtete Ernte anschauen. Und dann fängt man wieder an bis -zum nächsten Hagel, bis zum nächsten Krieg — in alle Ewigkeit. „Man -darf sich halt nichts daraus machen“ — nie kam ihm der Gedanke, daß der -Mensch den Menschen ändern könnte. - -Clerambault erbitterte sich innerlich über diese heroische und dumme -Resignation, die wohl dazu angetan ist, die privilegierten Klassen zu -begeistern, denn ihr verdanken sie ja die eigene Erhaltung, — die aber -andererseits aus der menschlichen Rasse und ihrer tausendjährigen -Anstrengung ein Danaidenfaß macht, da sich ihr ganzer Mut, ihre ganze -Tugend, ihre ganze Arbeit darin erschöpfen, auf anständige Art zu -sterben.... Als aber seine Augen sich wieder auf das verstümmelte Stück -Mensch richteten, das da vor ihm lag, bedrückte ihn ein unendliches -Mitleid. Was konnte er tun, was konnte er wollen, dieser Mann des -Elends, dieses Symbol des hingeschlachteten und verstümmelten Volkes? So -viele Jahrhunderte leidet und blutet es schon vor unseren Augen, ohne -daß wir, seine glücklicheren Brüder, ihm mehr geben als irgendein -nachlässiges Lob von fern, das unser Wohlergehen gar nicht stört und das -Volk sogar aufmuntert, nur so fort zu tun! Welche Hilfe bringen wir ihm -denn? Da wir schon nichts für dieses Volk tun, widmen wir ihm nicht -einmal unser Wort! Von der freien Entfaltung unseres Denkens — die wir -doch seinen Opfern danken — bewahren wir die Frucht für uns, ja wir -wagen nicht einmal, es davon kosten zu lassen. Wir haben Furcht vor dem -Lichte, Furcht vor der frechen Meinung und den Herren der Stunde, die -sagen: „Löschet das Licht! Ihr, die ihr es habt, trachtet es zu -verbergen, damit man nichts davon sieht, wenn ihr wollt, daß man es euch -verzeihe.“ — Genug der Feigheit! Wer soll sprechen, wenn nicht wir? Die -anderen sterben mit dem Knebel im Munde.... - -Ein Schatten von Qual lief über das Antlitz des Verwundeten. Seine Augen -sahen starr zur Decke, sein großer verkrümmter Mund, hartnäckig -verschlossen, wollte keine Antwort mehr geben. — Clerambault entfernte -sich. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Das Schweigen des Volkes auf -seinem Totenbett hatte ihn bestimmt, das Wort zu ergreifen. - - - - - Dritter Teil - - - - - § - -Clerambault kam vom Spital zurück, schloß sich in sein Zimmer ein und -begann zu schreiben. Madame Clerambault versuchte einmal einzudringen, -sah mit einer Art Mißtrauen nach, was er machte. Es war, als ob ein bei -dieser Frau sehr seltenes Ahnungsvermögen — sie merkte sonst nie etwas -— ihr ein dunkles Angstgefühl vor dem, was ihr Mann vorbereitete, -einjagte. Es gelang ihm, seine Abgeschlossenheit zu verteidigen, bis er -fertig war. Sonst ersparte er den Seinen nichts von dem, was er -geschrieben hatte, es war ein Genuß für seine naive, liebevolle -Eitelkeit, aber auch zärtliche Pflicht, auf die er ebensowenig wie die -anderen hätte verzichten können. Diesmal nahm er davon Abstand, ohne -sich den Grund dafür selbst klar zu machen. Obwohl er noch weit davon -entfernt war, die ganze Tragweite seiner Tat zu überschauen, hatte er -doch Furcht vor Widerspruch, denn er fühlte sich seiner noch nicht -sicher genug, sich ihm auszusetzen. So zog er es vor, die anderen lieber -vor die vollendete Tatsache zu stellen. - -Sein erster Schrei war eine Selbstanklage: - - „I h r T o t e n v e r z e i h e t u n s!“ - -Diese öffentliche Beichte trug als Motto die Melodie einer alten Klage -des Königs David, der an der Leiche seines Sohnes Absalon weint: - -[Illustration: _Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi!_] - -„Ich hatte einen Sohn. Ich liebte ihn. Und ich habe ihn getötet. Ihr -Väter des trauernden Europa, nicht für mich allein, für euch alle -spreche ich, ihr Millionen Väter, verwitwet an euren Söhnen, Feinde oder -Freunde, und alle bedeckt von ihrem Blute gleich mir. Ihr alle sprecht -durch die Stimme eines der Euren, durch meine arme Stimme, die leidet -und Buße tut. - -Mein Sohn ist für die Euren, durch die Euren (ich weiß es nicht), ist -wie die Euren getötet worden. Und wie ihr habe ich den Feind dafür -angeklagt und den Krieg. Aber den Hauptschuldigen sehe ich erst heute -und ich klage ihn an: ich bin es. Ich bin es, und dieses Ich seid Ihr. -Wir sind es. Könnte ich Euch doch zwingen, das zu hören, was Ihr wohl -wißt und nicht wissen wollt! - -Mein Sohn war zwanzig Jahre alt, als er dem Krieg zur Beute fiel. -Zwanzig Jahre lang habe ich ihn zärtlich geliebt, habe ihn geschützt -gegen Hunger, Kälte, Krankheiten, gegen die geistige Dunkelheit, gegen -Unwissenheit, Irrtum, gegen alle Fallstricke, die das Leben in seinem -Schatten birgt. Aber was habe ich getan, um ihn zu verteidigen gegen die -aufsteigende große Gefahr? - -Dabei habe ich niemals zu jenen gehört, die mit den Leidenschaften des -eifersüchtigen Nationalismus gemeinsame Sache machten. Ich liebte die -Menschen, und es war mir eine Freude, an ihre zukünftige Brüderlichkeit -zu denken. Warum habe ich also nichts getan gegen das, was sie bedrohte, -gegen das schleichende Fieber, gegen den lügnerischen Frieden, der mit -einem Lächeln auf den Lippen schon zum Mordanschlag ausholte? Es war -vielleicht Furcht, zu mißfallen, Furcht vor Feindschaften? Ich liebte es -zu sehr, zu lieben und vor allem geliebt zu werden. Ich fürchtete, -erworbenes Wohlwollen zu gefährden, hielt zu viel auf die zerbrechliche -und kraftlose Gemeinschaft mit jenen, die um uns sind, auf diese -Komödie, die man mit sich und den anderen spielt und mit der man sich ja -gar nicht selbst betrügt, denn von beiden Seiten fürchtet man immer, das -Wort auszusprechen, das den Mörtel abfallen ließe und das zerfressene -Haus zeigte. Ich hatte Furcht, klar in mich selbst zu sehen, war erfüllt -von jener inneren opportunistischen Unsicherheit, die alles schonen -will, die die alten Instinkte und den neuen Glauben verbinden will, die -Kräfte, die sich gegenseitig vernichten und aufheben, Vaterland, -Menschheit, Krieg und Frieden. Ich habe nie genau gewußt, auf welche -Seite ich mich hinneigen sollte, und bin von der einen zur anderen wie -eine Schaukel geschwankt. Ich hatte Angst vor der Anstrengung, mich zu -entscheiden und eine Wahl zu treffen.... Faulheit war es und Feigheit! -Ich übertünchte all das mit einem gefälligen Glauben an die Güte der -Dinge, die alles schon — so dachte ich — von selbst in schönste -Ordnung bringen würden. Und wir begnügten uns, zuzuschauen, den -unfehlbaren Lauf des Schicksals noch zu verherrlichen — wir Höflinge -der Gewalt! Da wir verzichtet haben, Einfluß zu erlangen, so haben die -Dinge — oder die Menschen, andere Menschen als wir — für uns -entschieden. Und wir haben das erst bemerkt, als wir schon getäuscht -waren. Aber das Eingeständnis war für uns so entsetzlich, wir waren so -dessen entwöhnt, wirklich wahrhaft zu sein, daß wir auch dann weiter so -getan haben, als wären wir mit dem Verbrechen im vollen Einverständnis. -Und als Bürgschaft unseres Einverständnisses haben wir unsere Söhne -ausgeliefert.... - -Ach, wir haben sie sehr geliebt! Sicher mehr als unser eigenes Leben — -ach, hätte es sich nur darum gehandelt, unser Leben hinzugeben! Aber wir -haben sie nicht mehr geliebt als unseren Stolz, der verzweifelt bemüht -war, unsere moralische und sittliche Verwirrung zu verbergen, die Leere -unseres Geistes und die Nacht unseres Herzens. - -Alle diese Dinge wären aber noch verzeihlich bei solchen, die an das -alte Idol, an das heimtückische, neidische, mit getrocknetem Blut -überdeckte Götzenbild glaubten — an das barbarische Vaterland. Wenn -jene ihre und der anderen Kinder opferten, so töteten sie, aber sie -wußten wenigstens nicht, was sie taten — diejenigen aber, die nicht -mehr daran glauben, die nur mehr daran glauben wollen (und das bin ich, -das sind wir) — die opfern ihre Kinder, indem sie sie einer Lüge -darbieten (denn im Zweifel Ja sagen, heißt lügen), und sie opfern sie, -um sich selbst ihre Lüge zu beweisen. Und jetzt, da unsere Lieben für -unsere Lüge gestorben sind, arbeiten wir uns, statt den Irrtum offen -zuzugeben, nur noch tiefer, bis über die Augen hinein, nur um nichts -mehr zu sehen, denn wir wollen, daß nach den unseren noch die anderen, -alle anderen, für unsere Lüge sterben. - -Aber ich, ich kann das nicht mehr, ich denke an die noch lebenden Söhne. -Was soll mir das Gutes tun, daß andern Böses geschieht? Bin ich ein -Barbar aus den Zeiten Homers, um zu glauben, daß ich den Schmerz meines -toten Sohnes, seinen Hunger nach Licht lindern könne, wenn ich auf die -Erde, die ihn hinabgeschlungen hat, das Blut anderer Söhne hingieße? -Haben wir noch immer diese Vorstellungen? — Nein! Jeder neue Mord tötet -meinen Sohn noch einmal, läßt auf seinem Gebein den schmutzigen Schlamm -des Verbrechens lasten. Mein Sohn war die Zukunft, und wenn ich ihn -retten will, muß ich die Zukunft retten, muß ich künftigen Vätern den -Schmerz ersparen, der auf mich gefallen ist. Zu Hilfe! Helft mir! -Verwerfen wir diese Lüge! Geht denn der Kampf zwischen den Staaten, -dieses Brigantentum des Weltalls, wirklich um unseretwillen vor sich? -Was tut uns denn wahrhaft not? Die erste Freude, das erste Gesetz, ist -es nicht jenes Lebensgesetz des Menschen, der gleich einem Baum gerade -aufsteigt und sich in dem zugewiesenen Kreis Erde erfüllt, der durch -seinen freien Saft und seine stille Arbeit, sein vielfältiges Leben in -sich und seinen Söhnen sich ruhig entfalten sieht? Wer von uns Brüdern -der Welt ist eifersüchtig auf den anderen, wer will ihm solch gerechtes -Glück nehmen? Was haben wir zu tun mit den Ambitionen und Rivalitäten, -mit der Habgier und den geistigen Krankheiten, mit denen die Schänder -des Wortes den Namen des Vaterlandes bedecken? Das Vaterland sind wir, -die Väter. Das Vaterland sind unsere Söhne. All unsere Söhne. Retten wir -sie!“ - - § - -Ohne irgend jemand zu fragen, überbrachte er diese Seiten, kaum daß er -sie geschrieben hatte, einem kleinen sozialistischen Verleger seines -Viertels. Er kam erleichtert zurück und dachte: - -„So, jetzt habe ich gesprochen. Jetzt beschäftigt es mich nicht mehr.“ - -Aber in der kommenden Nacht belehrte ihn plötzlich ein Stich in der -Brust, daß es ihm mehr als je naheging. Er wachte auf. „Was habe ich -denn getan?“ Er fühlte eine schmerzliche Scham, der Öffentlichkeit -seinen heiligen Schmerz ausgeliefert zu haben. Ohne daran zu denken, daß -seine Worte Zorn erregen könnten, hatte er doch ein Vorgefühl von -Unverständnis, von grobschlächtiger Auslegung, die er als Profanation -empfand. - -Die nächsten Tage gingen vorüber. Es geschah nichts. Schweigen. Der -Aufruf war in der allgemeinen Unaufmerksamkeit untergegangen. Der -Verleger gehörte zu den wenig bekannten, die Versendung der Broschüre -war nachlässig geschehen, und es gibt keinen gefährlicheren Tauben als -den, der nicht hören will. Die wenigen Leser, die der Name Clerambault -angezogen hatte, legten nach den ersten Zeilen die unwillkommene Lektüre -zur Seite. Sie dachten: „Der arme Mann, sein Unglück ist im Begriff, ihm -den Kopf ganz zu verdrehen“, was ein guter Vorwand für sie war, das -Gleichgewicht ihres Herzens nicht in Erschütterung zu bringen. - -Ein zweiter Artikel folgte. Clerambault nahm darin Abschied von dem -alten, blutigen Götzenbild Vaterland, oder vielmehr, er stellte dem -großen fleischfressenden Untier, dem sich die armen Menschen jener Zeit -als Fraß hinwarfen, der römischen Wölfin, die erhabene Mutter alles -Lebendigen entgegen: das Weltvaterland! - - „A n d i e e i n s t G e l i e b t e !“ - -„Kein bittererer Schmerz, als Abschied zu nehmen von der, die man einst -geliebt. Sie aus meinem Herzen zu reißen, heißt mein Herz selbst -ausreißen. Du Teure, Du Gute, Du Schöne — ach, hätte man wenigstens den -blinden Vorzug jener leidenschaftlichen Liebhaber, die alles vergessen -können, die ganze Liebe, das ganze Gute und Schöne von einst, um nur das -Böse zu sehen, das man heute von der Geliebten erleidet, und zu -erkennen, wie tief sie gesunken ist! Aber ich kann nicht, ich kann nicht -vergessen. Ich werde Dich immer so sehen, wie ich Dich liebte, als ich -noch an Dich glaubte, als Du mein Leitstern warst und mein bester Freund -— Du, mein Vaterland! Warum hast Du mich verlassen? Warum hast Du uns -verraten? Wäre ich allein mit meinem Leiden, ich verhehlte vielleicht -die traurige Erkenntnis unter meiner hingegangenen Zärtlichkeit. Aber -ich sehe Deine Opfer, die Völker, die jungen gläubigen und begeisterten -Männer (und erkenne unter ihnen den, der ich einst war)... Wie hast Du -uns betrogen! Deine Stimme schien uns die der brüderlichen Liebe, Du -riefst uns zu Dir, um uns zu vereinen. Es sollte keine Einsamen mehr -geben, alle sollten wir Brüder sein! Jedem liehest Du die Kräfte von -tausend anderen, Du ließest uns unseren Himmel, unsere Erde und das Werk -unserer Hände lieben, und wir liebten uns alle, indem wir Dich -liebten..... Wohin hast Du uns jetzt geführt? Waren Deine Absichten, -indem Du uns vereintest, einzig die, uns zahlreicher zu machen für den -Haß und den Mord? Ach, wir hatten ja genug an unserem Einzelhaß. Jeder -hatte sein Bündel von schlechten Gedanken, aber zumindest wußten wir, -wenn wir ihnen nachgaben, daß es schlechte waren. Du aber, Du -Vergifterin der Seele, Du nennst sie heilige... - -Wofür diese Kämpfe? Für unsere Freiheit? Du machst ja Sklaven aus uns. -Für unser Gewissen? Das schändest Du ja. Für unser Glück? Das plünderst -Du doch. Für unser Wohlergehen? Unsere Erde ist zerstampft.... Wozu -bedürfen wir neuer Eroberungen, da schon das Feld unserer Väter uns zu -groß wurde: einzig nur für die Habgier von einigen Ausbeutern? Ist es -denn die Aufgabe des Vaterlandes, diese Bäuche mit dem allgemeinen Elend -zu füllen? - -Vaterland, das Du Dich den Reichen verkauft hast, den Händlern mit der -Seele und den Körpern der Völker, Vaterland, das Du Mithelferin und -Verbündete geworden bist und ihre Niederträchtigkeit mit Deiner -heroischen Gebärde deckst — hüte Dich! Die Stunde ist gekommen, wo die -Völker ihr Ungeziefer von sich abschütteln, ihre Götter und ihre Herren, -die sie mißbrauchen. Mögen sie unter sich selbst die Schuldigen -verfolgen. Ich gehe geradeaus zum Herrn, dessen Schatten sie alle -bedeckt. Du aber, das Du unbewegt thronst, indes die Massen sich in -Deinem Namen hinschlachten, Du, das sie alle anbeten, indem sie einander -alle hassen, Du, das Du Dich ergötzst, die blutige Brunst der Völker zu -entzünden, Du Weibwesen, beutegierige Gottheit, Du falsche Christin, die -Du über dem Gemetzel schwebst mit kreuzgefalteten Flügeln und -Habichtsklauen — wer wird Dich aus unserem Himmel herabreißen, wer gibt -uns die Sonne und die Liebe unserer Brüder zurück?... - -Ich bin allein. Ich habe nichts als meine Stimme, die ein Hauch -auslöschen kann, aber ehe sie hinschwindet, schreie ich auf: - -Du wirst fallen, Tyrann, Du wirst fallen! Die Menschheit will leben. Die -Zeit wird kommen, wo der Mensch Dein lügnerisches Joch zerbrechen wird. -Die Zeit kommt. Die Zeit ist da.“ - - „D i e A n t w o r t d e r G e l i e b t e n“ - -„Dein Wort, mein Sohn, ist wie der Stein, den ein Kind gegen den Himmel -wirft. Es erreicht mich nicht, es fällt auf Dich selbst zurück. Die Du -schmähst und die meinen Namen fälschlich angenommen, ist ein Götzenbild, -das Du Dir selbst geformt hast. Nach Deinem Bilde ist es geschaffen, -nicht nach dem meinen. Das wahre Vaterland ist das des Allvaters, -gemeinsam alle umfangend, und es ist nicht seine Schuld, wenn Ihr es -klein macht nach Eurem eigenen Wuchs.... Ihr Unglücklichen, Ihr -beschmutzt alle Eure Götter, es gibt nicht eine große Idee, die Ihr -nicht erniedrigt. Das Gute, das man Euch erweisen will, verwandelt Ihr -in Gift, das Licht, mit dem man Euch überschüttet, dient, Euch zu -verbrennen. Ich war zu Euch gekommen, um Eure Einsamkeit zu erwärmen, -ich habe Eure fröstelnden Seelen zu Herden vereinigt, aus Eurer -zerstreuten Schwäche ein Bündel geformt. Denn ich bin die brüderliche -Liebe, die große Bindung. Und gerade meinen Namen, o Tolle, habt ihr -gewählt als Vorwand, um Euch zu vernichten. - -Seit Jahrhunderten bemühe ich mich, Euch von den Ketten der Roheit zu -befreien, Euch aus Eurer harten Selbstigkeit herauszutreiben. Keuchend -schreitet Ihr vorwärts auf der Straße der Zeit. Die Provinzen und die -Nationen sind die tausendjährigen Grenzen, die bisher als Rastpunkt -Eurer Erschöpfung gesteckt waren. Eure Hinfälligkeit allein hat sie -aufgerichtet. Um Euch weiter zu führen, muß ich warten, bis Ihr wieder -Atem geholt habt.... Aber Ihr seid so schwach an Atem und am Herzen, daß -Ihr aus Eurer Unfähigkeit eine Tugend macht. Ihr bewundert Eure Helden -um der Grenze willen, vor denen sie erschöpft halt machen mußten, und -nicht deshalb, weil sie sie als erste erreichten. Ihr aber, die Ihr -mühelos dorthin gekommen seid, wo jene heldischen Vorläufer hingesunken -sind, glaubt nun, selbst schon Helden zu sein.... Was habe ich mit Euren -Schatten der Vergangenheit heute noch zu schaffen? Das Heldentum, dessen -ich bedarf, ist nicht mehr das eines Bayard, einer Jeanne d’Arc, der -Ritter und Märtyrer einer längst überwundenen Sache. Ich fordere Apostel -der Zukunft, große Herzen, die sich für ein größeres Vaterland, für ein -höheres Ideal aufopfern. Vorwärts! Überschreitet die Grenzen! Da Ihr -aber noch Krücken braucht für Eure Schwäche, so rückt die Grenzen -wenigstens weiter hinaus, an die Tür des Abendlandes, an das Ende -Europas, bis Ihr Schritt um Schritt zum Ziel kommt, und die ganze -Menschheit Hand in Hand rings den Erdball umschlingt. - -Du erbärmlicher Schreiber, der Du Schmähreden gegen mich richtest, -steige in Dein Selbst hinab und prüfe Dich selbst! Ich habe Dir die -Macht des Wortes gegeben, daß Du die Männer Deines Volkes führest, und -Du hast sie benützt, um Dich selbst zu betrügen und sie zu verwirren. Du -hast die, die Du retten solltest, tiefer in ihren Irrtum hinabgestoßen, -Du hattest den traurigen Mut, Deiner Lüge jenen hinzuopfern, den Du -liebtest — Deinen Sohn. Wirst Du wenigstens jetzt, Du arme Ruine, -wagen, Dich den anderen als Schaubild hinzustellen und zu sagen: „Da, -sehet mein Werk, ahmt es nicht nach!“ Geh hin, und möge Dein Unglück -andere, die später kommen, vor gleichem Schicksal beschützen! Wage es zu -sprechen, schreie ihnen zu: Völker, ihr seid toll, ihr tötet das -Vaterland, indes ihr glaubt, es zu verteidigen. Das Vaterland seid ihr, -ihr alle, eure Feinde sind eure Brüder! Umarmt euch, ihr Millionen -Lebendiger.“ - - § - -Das gleiche Schweigen schien auch diesen neuen Schrei hinabzuschlucken. - -Clerambault lebte außerhalb jener niederen Volkskreise, wo die warme -Sympathie der schlichten und gesunden Herzen ihm gewiß nicht gefehlt -hätte. So aber bemerkte er nichts von irgendeinem Echo seiner Ideen. - -Aber obwohl er sich allein sah, wußte er doch, daß er es nicht war. Zwei -verschiedene Gefühle, die einen Gegensatz zu bilden schienen — seine -Bescheidenheit und sein Glaube — vereinten sich, um ihm zu sagen: „Was -du denkst, denken auch andere, deine Wahrheit ist zu groß, und du bist -zu klein, als daß sie nur in dir allein existieren könnte. Das, was du -mit deinen schlechten Augen hast wahrnehmen können, dieses Licht -strahlt, so wie zu dir, auch in andere Augen. In diesem Augenblicke -neigt sich der Große Bär zum Horizont, tausend Blicke schauen vielleicht -zu ihm auf, du siehst nicht diese Blicke, aber das ferne Licht vereint -sie mit dem deinen.“ - -Die Einsamkeit des Geistes ist nur eine Illusion, eine bittere und -schmerzhafte, aber eine, der keine tiefe Wirklichkeit entspricht. Selbst -die Losgelöstesten von uns gehören doch alle zu einer sittlichen -Familie, und diese Gemeinschaft der Geister ist nicht innerhalb eines -Landes oder einer Zeit, sondern ihre Elemente sind verstreut durch die -Völker und Jahrhunderte. Für einen konservativen Geist sind sie in der -Vergangenheit, die Revolutionäre und die Verfolgten finden sie in der -Zukunft. Zukunft und Vergangenheit sind nicht weniger wirklich als die -augenblickliche Gegenwart, deren Mauer die zufriedenen Blicke der großen -Menge einengt. Und selbst die Gegenwart ist nicht so, wie es die -willkürlichen Abgrenzungen der Staaten, Nationen und Religionen glauben -machen möchten. Die gegenwärtige Menschheit stellt einen Jahrmarkt von -Gedanken dar. Ohne sie voneinander zu scheiden, hat man sie in Haufen -aufgeschichtet, die rasch aufgerichtete Regale voneinander trennen: so -sind oft Brüder von den Brüdern geschieden und unter Fremde geschichtet. -Jeder Staat umschließt ganz verschiedene Rassen, die keineswegs geartet -sind, gemeinsam zu denken und zu handeln, und jede der ideellen Familien -oder Schwägerschaften, die man Vaterland nennt, umschließt Naturen, die -in Wirklichkeit zu ganz anderen Familiengruppen der Gegenwart, der -Vergangenheit oder der Zukunft gehören. Da die Staaten sie nicht -aufsaugen können, so unterdrücken sie sie, und sie können sich der -Vernichtung nur durch allerlei Schleichwege entziehen — entweder durch -scheinbare Unterwerfung und innere Auflehnung, oder durch die Flucht, -indem sie freiwillige Emigranten werden — „Heimatslose“. Wirft man -ihnen vor, daß sie dem Vaterland unbotmäßig seien, so ist das ebenso -unberechtigt, als wollte man den Irländern oder Polen vorwerfen, daß sie -sich der Aufsaugung durch England oder Preußen zu entziehen suchen. Hier -wie dort bleiben diese Menschen ihren wahren Vaterländern treu. - -Oh, ihr, die ihr vorgebt, dieser Krieg habe die Aufgabe, jedem Volke das -Selbstbestimmungsrecht zu geben, wann werdet ihr dies Recht der über die -Welt hin verstreuten Republik der freien Seelen geben? - -Diese Republik fühlte Clerambault in all seiner Einsamkeit als eine -Wirklichkeit. Wie das Rom des Sartorius lebte sie in ihm. Und ganz in -all jenen einander Unbekannten, für die sie das wahre Vaterland ist. - - § - -Plötzlich fiel die Mauer von Schweigen, die das Wort Clerambaults -umschloß. Aber es war nicht die Stimme eines Bruders, die der seinen -Antwort gab. Wo die Kraft der Sympathie zu schwach gewesen war, um die -Schranken zu zerbrechen, hatten die Dummheit und der Haß blindlings eine -Bresche geschlagen. - -Schon glaubte sich Clerambault nach einigen Wochen vergessen und dachte -an eine neue Veröffentlichung, als eines Morgens Leo Camus mit Getöse -bei ihm eintrat. Er krümmte sich vor Zorn. Mit tragisch erhobener Stirne -reichte er Clerambault eine aufgefaltete Zeitung hin. - -„Lies!“ - -Und während Clerambault las, sagte er, hinter ihm stehend: - -„Was hat diese Niedertracht zu bedeuten?“ - -Clerambault sah ganz niedergeschmettert sich von einer Hand gemeuchelt, -die er für eine Freundeshand hielt. Ein bekannter Schriftsteller, zu dem -er in guter persönlicher Beziehung stand, ein Kollege Perrotins, ein -ernster ehrenwerter Mensch, hatte, ohne zu zögern, die Rolle übernommen, -ihn in der Öffentlichkeit zu denunzieren. Obwohl er Clerambault lange -genug kannte, um an der Reinheit seiner Absichten nicht zweifeln zu -können, stellte er ihn doch in einer entehrenden Weise vor die -Öffentlichkeit. Als Historiker darin geübt, mit Texten umzugehen, hatte -er aus der Broschüre Clerambaults einige verstümmelte Sätze herausgelöst -und schwenkte sie empor wie einen Beweis von Verrat. Seine tugendhafte -Erbitterung hatte sich nicht mit einem privaten Brief begnügt, gerade -die lärmendste Tageszeitung, das niedrigste Erpresserblatt hatte sie -sich ausgesucht, das eine Million Franzosen verachtet, während sie -gleichzeitig seine Aufschneidereien mit offenen Mäulern einschluckt. - -„Das ist nicht möglich“, stammelte Clerambault, den diese unerwartete -Gehässigkeit wehrlos überfiel. - -„Da ist kein Augenblick zu verlieren“, sagte Camus, „du mußt antworten.“ - -„Antworten? Was denn?“ - -„Zuerst natürlich diese niederträchtige Erfindung dementieren.“ - -„Aber das ist doch keine Erfindung“, sagte Clerambault, der den Kopf -gehoben hatte und Camus ansah. - -Nun war es an Camus, wie vom Donner gerührt zu sein. - -„Das ist keine...? Das ist keine...?“ stammelte er vor Überraschung. - -„Die Broschüre ist von mir“, sagte Clerambault, „aber ihr Sinn ist durch -den Artikel entstellt...“ - -Camus hatte das Ende des Satzes nicht abgewartet, er brüllte los: - -„Du hast so etwas geschrieben, du, du,...“ - -Clerambault versuchte seinen Schwager zu beruhigen, bat ihn, doch nicht -zu urteilen, ehe er alle Einzelheiten wüßte. Aber der andere behandelte -ihn hartnäckig wie einen Wahnsinnigen und schrie: - -„Ich kümmere mich nicht um das alles. Hast du gegen den Krieg, gegen das -Vaterland geschrieben oder nicht?“ - -„Ich habe geschrieben, daß der Krieg ein Verbrechen ist, und daß alle -Vaterländer sich damit beschmutzt haben.“ - -Camus fuhr auf, ohne Clerambault die Möglichkeit zu geben, sich weiter -zu erklären, machte eine Bewegung, als ob er ihn am Halse fassen wollte, -hielt sich aber zurück und schleuderte ihm ins Gesicht, daß e r der -Verbrecher sei, und daß er verdiente, sofort vor das Kriegsgericht zu -kommen. - -Auf sein Geschrei hin begann das Mädchen an der Tür zu horchen, Madame -Clerambault lief herbei, versuchte mit einem Strom von Worten über sein -aufgebrachtes Wesen ihren Bruder zu beruhigen. Clerambault, ganz -betäubt, bot vergebens Camus an, ihm die beschuldigte Broschüre -vorzulesen, aber Camus verweigerte es mit einem Zornesausbruch und -sagte, ihm genüge schon, das von diesem Dreck zu kennen, was die -Zeitungen davon gebracht hatten. (Er nannte die Zeitungen Lügner, -bestätigte aber ihre Lügen.) Schließlich trat er als Richter auf, -forderte Clerambault auf, unverzüglich und in seiner Gegenwart eine -briefliche öffentliche Abschwörung zu schreiben. Clerambault zuckte die -Achseln und sagte, er sei niemandem Rechenschaft schuldig als seinem -Gewissen, er sei frei. - -„Nein!“ schrie Camus. - -„Wie? Ich bin nicht frei, ich habe nicht das Recht zu sagen, was ich -denke?“ - -„Nein, du bist nicht frei! Nein, du hast nicht dieses Recht“, schrie -Camus ganz außer sich. „Du hast Rücksichten zu nehmen auf das Vaterland -und vor allem auf deine Familie. Sie hätte das Recht, dich einsperren zu -lassen.“ Er verlangte, daß der Brief sofort geschrieben würde, -augenblicklich! Clerambault wandte ihm den Rücken. Camus ging weg, -schlug die Tür zu und schrie, er würde nie mehr den Fuß hierher setzen, -zwischen ihnen sei alles zu Ende. - -Nachher mußte Clerambault noch die Fragen seiner in Tränen aufgelösten -Frau über sich ergehen lassen, die, ohne zu wissen, was er getan hatte, -seine Unvorsichtigkeit beklagte und ihn fragte, warum in aller Welt er -denn nicht schweige. Hätten sie denn noch nicht Unglück genug, wozu -dieses Bedürfnis zu reden und vor allem diese unsinnige Sucht, anders -reden zu wollen als die anderen. - -Rosine kam von einer Besorgung zurück. Clerambault nahm sie zum Zeugen, -erzählte ihr wirr die peinliche Szene, die sich eben abgespielt hatte, -bat sie, sich an seinen Tisch zu setzen, damit er ihr den Artikel -vorlesen könne. Ohne sich die Zeit zu nehmen, die Handschuhe auszuziehen -oder den Hut abzulegen, setzte sich Rosine zu ihrem Vater, hörte still -und klug zu. Als er geendigt hatte, stand sie auf, umarmte ihn und -sagte: - -„Ja, das ist schön!... Aber, Papa, wozu hast du das getan?“ - -Clerambault war ganz verstört. - -„Wie? Wie? Wozu ich das getan habe? Ist es denn nicht richtig?“ - -„Ich weiß nicht, ja, ich glaube... es muß wohl richtig sein, da du es -sagst.... Aber vielleicht war es nicht nötig, es zu schreiben.“ - -„Nicht nötig? Wenn es richtig ist, so ist es auch nötig.“ - -„Aber es macht ja einen solchen Lärm.“ - -„Ist das ein Grund dagegen?“ - -„Aber wozu die Leute aufreizen?“ - -„Sieh, Kind, du glaubst doch auch, was ich geschrieben habe?“ - -„Ja, ich glaube, Papa...“ - -„Warte. Du glaubst... Du verabscheust den Krieg; wie ich, möchtest du -ihn beendet sehen. Alles, was ich hier gesagt habe, habe ich dir schon -früher gesagt, und du dachtest genau so wie ich....“ - -„Ja, Papa.“ - -„Also du findest es richtig?“ - -„Ja, Papa.“ - -Sie legte ihre Arme um seinen Hals. - -„Aber es ist doch nicht notwendig, alles niederzuschreiben.“ - -Clerambault versuchte, traurig, ihr zu erklären, was ihm ganz klar -schien. Rosine hörte zu und gab ruhig Antwort. Aber das einzig Klare -war, daß sie nichts verstand. Um ein Ende zu machen, umarmte sie -nochmals ihren Vater und sagte: - -„Ich habe dir meine Ansicht gesagt, aber du weißt das ja besser als ich. -Es steht mir nicht zu, darüber zu entscheiden.“ - -Sie lächelte ihrem Vater zu und kehrte in ihr Zimmer zurück, ohne zu -ahnen, daß sie ihm seine beste Stütze genommen hatte. - - § - -Der beschimpfende Angriff blieb nicht vereinzelt. Sobald einmal die -Schellen gelöst waren, hörten sie nicht mehr auf zu klingeln. Nur hätte -sich in der allgemeinen Verwirrung ihr Lärm verloren ohne die erbitterte -Anstrengung einer Stimme, die gegen Clerambault den ganzen Chor -vielfältigster Bösartigkeit dirigierte. - -Es war die eines seiner ältesten Freunde, des Schriftstellers Octave -Bertin. Sie waren zusammen im Lyzeum Henri _IV._ Schüler gewesen. Dort -hatte der junge, feine, elegante, frühreife Pariser Bertin das linkische -und enthusiastische Entgegenkommen dieses großen Burschen gern -angenommen, der aus der Provinz kam, geistig ebenso unbeholfen wie -körperlich (seine Arme und Beine schienen in den zu kurz gewordenen -Kleidern kein Ende nehmen zu wollen), und der ein ganz seltsames Gemisch -von Unschuld, naiver Unwissenheit, schlechtem Geschmack, von Pathos und -überschäumender Kraft, von originellen Einfällen und packenden Bildern -darstellte. Weder die Lächerlichkeiten noch der innere Reichtum -Clerambaults waren den klugen und scharfen Augen Bertins entgangen, und -er hatte ihn schließlich als intimen Freund aufgenommen, wobei die -Bewunderung Clerambaults für ihn keinen geringen Einfluß auf diesen -seinen Entschluß hatte. Durch mehrere Jahre hatten sie im geschwätzigen -Überschwang ihre jugendlichen Gedanken geteilt. Beide träumten davon, -Künstler zu werden, lasen einander ihre Versuche vor und bekämpften -einander in endlosen Diskussionen. Bertin behielt immer das letzte Wort, -wie er ja in allem die Überlegenheit behielt, die übrigens Clerambault -ihm zu bestreiten niemals die Absicht hatte. Er hätte sie viel eher mit -Faustschlägen jedem aufgezwungen, der sie geleugnet hätte. Mit offenem -Munde bestaunte er die gedankliche und stilistische Virtuosität dieses -blendenden jungen Mannes, der gleichsam im Spiel auf der Universität -alle Erfolge davontrug, und den seine Lehrer von vornherein zu den -höchsten Stellungen berufen sahen — womit sie natürlich meinten, zu -allen offiziellen und akademischen. Auch Bertin verstand es so. Er hatte -Eile emporzukommen und dachte, daß die Frucht des Ruhmes am besten -schmecke, wenn man sie mit den Zähnen eines Zwanzigjährigen zerbeiße. -Noch ehe er die Schule verlassen hatte, fand er eine Möglichkeit, in -einer großen Pariser Revue eine Serie von Essays zu veröffentlichen, die -sofort seinen Namen bekannt machten, und ohne nur Atem zu schöpfen, -brachte er dann Schlag auf Schlag einen Roman in der Art d’Annunzios, -eine Komödie im Stile Rostands, ein Buch über die Liebe, ein anderes -über die Reform der Gesetzgebung, eine Enquete über den Modernismus, -eine Monographie Sarah Bernhardts und schließlich jene „Dialoge der -Lebendigen“ heraus, deren sarkastische und klug abgewogene -Geschmeidigkeit ihm die Pariser Chronik in einem der ersten -Boulevardblätter verschaffte. Nun einmal in den Journalismus -eingetreten, blieb er darin. Er gehörte schon zu den Sternen des -literarischen _Tout Paris_, als der Name Clerambaults noch unbekannt -war. Clerambault dagegen nahm erst ganz langsam von seiner inneren Welt -Besitz. Er hatte zuviel damit zu tun, gegen sich selbst zu kämpfen, als -daß er viel Zeit auf die Eroberung der Öffentlichkeit hätte verwenden -können. So kamen auch seine ersten Bücher, die er mit Not hatte zum -Druck bringen können, kaum über einen Kreis von zehn Lesern hinaus. Man -muß Bertin die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er zu diesen Zehn -gehörte, daß er das Talent Clerambaults zu schätzen wußte und dies sogar -gelegentlich aussprach. Und solange Clerambault noch unbekannt war, -leistete er sich den Luxus, ihn zu verteidigen, allerdings nicht ohne -dem Lob einige freundschaftliche Ratschläge von oben herab beizufügen, -die Clerambault nicht immer befolgte, aber immer mit dem gleichen -zärtlichen Respekt anhörte. - -Dann wurde Clerambault bekannt, schließlich sogar berühmt. Bertin war -darüber sehr erstaunt, eigentlich aufrichtig zufrieden mit dem Erfolg -seines Freundes und doch darüber ein wenig verärgert. Er ließ -durchblicken, daß er ihn übertrieben fände, daß für ihn der beste -Clerambault der unbekannte war — jener vor dem Ruhm. Er versuchte es -manchmal, dies Clerambault zu erklären, der nicht nein und nicht ja -sagte, denn er wußte nichts darüber und befaßte sich damit kaum, er -hatte immer nur ein neues Werk im Kopfe. Die beiden alten Kameraden -waren in ausgezeichneten Beziehungen verblieben, aber sie waren -allmählich mehr voneinander abgerückt. - -Der Krieg hatte aus Bertin einen wilden Scharfmacher gemacht. Früher im -Lyzeum hatte er den provinzlerischen Clerambault immer erschreckt durch -seine freche Respektlosigkeit gegen alle politischen oder -gesellschaftlichen Werte, gegen Vaterland, Moral und Religion, und hatte -auch dann in seinen literarischen Werken diesen Anarchismus wohlgefällig -zur Schau getragen, allerdings in einer skeptischen, mondänen und matten -Form, mit der er ja dem Geschmacke seines reichen Leserkreises am besten -entsprach. Mit diesem Leserkreis und dessen Lieferanten, den Kollegen -von der Boulevardpresse und den Boulevardtheatern, diesen Enkelchen -eines Parny und des jüngeren Crébillon, richtete er sich plötzlich als -Brutus auf, der bereit ist, seine Söhne zu opfern. Er hatte vielleicht -dafür die Entschuldigung, daß er keine besaß, aber das tat ihm -möglicherweise leid. - -Clerambault hatte ihm nichts vorzuwerfen und dachte auch nicht daran. -Aber noch weniger dachte er daran, daß sein alter Kamerad, der -Amoralist, ihm gegenüber den Anwalt des beleidigten Vaterlandes spielen -würde; war er aber wirklich nur der des Vaterlandes? Die zornerbitterte -Schmähschrift, die Bertin Clerambault entgegenschleuderte, schien ihm -irgendwie einen persönlichen Haß zu enthüllen, den Clerambault sich -nicht erklären konnte. Bei der allgemeinen Verwirrung der Geister wäre -es verständlich gewesen, daß Bertin von den Gedanken Clerambaults empört -gewesen und sich dann offen unter vier Augen mit ihm auseinandergesetzt -hätte. Aber ohne ihn vorher zu verständigen, begann er mit einer -öffentlichen Abschlachtung. Auf der ersten Seite seines Blattes fiel er -ihn mit einer unerhörten Heftigkeit an und beschimpfte nicht nur seine -Ideen, sondern auch seinen Charakter. Die tragische Gewissenskrise -Clerambaults deutete er als einen Anfall literarischer Großmannssucht, -die durch den übermäßigen Erfolg seiner Werke verursacht sei, und es -machte den Eindruck, als hätte er eigens die Ausdrücke gesucht, die für -Clerambaults Selbstgefühl am verletzendsten sein mußten. Der Aufsatz -endete in einem Ton beleidigender Überhebung und forderte die sofortige -Zurücknahme des Irrtums. - -Die Vehemenz des Artikels, der bekannte Name des Chronisten machten -sofort aus dem „Fall Clerambault“ ein Pariser Ereignis. Er beschäftigte -die Presse beinahe eine ganze Woche, was für jene Spatzenhirne viel -bedeutet. Fast niemand nahm sich die Mühe, die Texte Clerambaults selbst -zu lesen: das war ja nicht nötig, Bertin hatte sie ja gelesen. Die -Kollegenschaft hat nicht die Gewohnheit, eine überflüssige Arbeit noch -einmal zu machen, es handelte sich auch nicht darum, zu lesen, es -handelte sich darum, jemand zu richten. Eine seltsame Art von -Burgfrieden kam auf Kosten Clerambaults zustande. Klerikale, Jakobiner -waren darin einig, ihn tot zu machen. Von einem Tag zum andern war ohne -Übergang der gestern bewunderte Mann in den Schlamm gezogen, der -nationale Dichter ein Feind der Gemeinschaft geworden. Alle die -Myrmidonen der Zeitung beteiligten sich an der heroischen Beschimpfung -und die meisten brachten gleichzeitig mit ihrer ursprünglichen bösen -Absicht auch eine ganz unwahrscheinliche Unbildung zutage. Denn nur -wenige von ihnen kannten die Werke Clerambaults, kaum wußten sie seinen -Namen und den Titel eines seiner Bücher, aber das hinderte sie -ebensowenig, ihn heute herunterzureißen, wie es sie gestern gestört -hatte, ihn in den Himmel zu heben, als er noch in Mode war. Jetzt fanden -sie in allem, was er geschrieben hatte, Spuren von „Bochismus“. Ihre -Zitate waren übrigens regelmäßig ungenau, einer von ihnen bedachte sogar -Clerambault im Feuer seiner Anklage mit der Autorschaft des Werkes eines -andern, der dann, bleich vor Furcht, sofort mit Entrüstungsprotesten -jede Solidarität mit dem gefährlichen Kollegen öffentlich ablehnte. -Clerambaults Freunde, beunruhigt über ihre Intimität mit ihm, warteten -nicht darauf, daß man sie ihnen vorwarf. Sie trafen ihre Vorkehrungen -und richteten an ihn „offene Briefe“, die die Zeitungen an bester Stelle -veröffentlichten. Die einen, wie Bertin, fügten ihrem öffentlichen Tadel -eine pathetische Beschwörung bei, _mea culpa_ zu machen, andere wandten -sich, selbst ohne diesen milden Vorbehalt, in bitteren und beleidigenden -Worten von ihm ab. Diese Fülle von Gehässigkeit machte Clerambault ganz -wirr. Sie konnte doch nicht durch seine Aufsätze allein verursacht sein, -sie mußte doch längst schon in den Herzen dieser Menschen gebrütet -haben. Mein Gott, soviel verborgener Haß.... Was hatte er ihnen denn -getan?... Der erfolgreiche Künstler ahnt nicht, daß mehr als einer unter -denen, die ihm mit einem freundlichen Lächeln folgen, unter diesem -Lächeln die Zähne verbirgt, die nur auf die Stunde warten, da sie -zuschnappen können. - -Clerambault bemühte sich, vor seiner Frau die Beschimpfungen der -Zeitungen verborgen zu halten. Wie ein Schulbub, der seine schlechten -Noten verschwinden läßt, lauerte er auf den Postboten, um die bösartigen -Zeitungen rechtzeitig beiseite zu schaffen. Aber ihr Gift drang -schließlich bis in die Luft, die sie atmeten. Frau Clerambault und -Rosine bekamen in der Gesellschaft verletzende Anspielungen, kleine -Beleidigungen und Beschimpfungen zu hören. Mit dem eingebornen Instinkt -für Gerechtigkeit, der für das menschliche Wesen und besonders für die -Frau so charakteristisch ist, machte man sie verantwortlich für die -Ideen Clerambaults, die sie kaum kannten und nicht guthießen. -(Diejenigen, die sie beschuldigten, kannten sie allerdings ebensowenig.) -Die Höflichsten unter ihnen übten die Technik des Verschweigens, sie -vermieden es sichtlich, nach Clerambault zu fragen oder seinen Namen -auch nur auszusprechen.... „Man spricht nicht vom Strick des Henkers im -Hause des Gehenkten.“ Dieses berechnete Schweigen wirkte dann noch -beleidigender als ein Tadel: es war, als ob Clerambault eine -betrügerische Schwindelei oder ein Sittlichkeitsverbrechen begangen -hätte. Frau Clerambault kam erbittert heim. Rosine tat so, als kümmerte -sie sich nicht darum, aber Clerambault merkte, daß sie daran litt. Eine -Freundin, die ihnen auf der Straße begegnete, ging auf das andere -Trottoir hinüber und wandte den Kopf weg, um nicht grüßen zu müssen. -Rosine wurde aus einem Wohltätigkeitskomitee ausgeschlossen, wo sie seit -mehreren Jahren aufopferungsvolle Arbeit tat. - -In dieser allgemeinen patriotischen Mißbilligung zeichneten sich vor -allem die Frauen durch ihre Erbitterung aus. Nirgends fand der Ruf -Clerambaults zur Annäherung und Versöhnung wütendere Gegner. Und so war -es überall. Die Tyrannei der öffentlichen Meinung, diese vom modernen -Staat geschaffene Unterdrückungsmaschine, die noch despotischer ist als -er selbst, hat während des Krieges keinen grausameren Handlanger -gefunden als gewisse Frauen. Bertrand Russel erzählte den Fall eines -armen Kerls, eines Straßenbahnschaffners, der, verheiratet, -Familienvater und vom Heere zurückgestellt, sich aus Verzweiflung über -die Beschimpfungen, mit denen die Frauen von Middlesex ihn verfolgten, -das Leben nahm. In allen Ländern sind tausende Unglückliche wie er von -diesen Bacchantinnen des Krieges gehetzt, verrückt gemacht und an die -Schlachtbank geliefert worden.... Seien wir darüber nicht überrascht. Um -diese fanatische Wildheit nicht erwartet zu haben, mußte man zu jenen -gehören, die so wie Clerambault bisher im Einklange mit der öffentlichen -Meinung und in der Idealistik des allgemeinen Ruhezustandes gelebt -haben. Trotz aller Anstrengung der Frauen, immer dem lügnerischen Ideal -zu gleichen, das sich der Mann zu seiner Zufriedenheit und seiner -Beruhigung ersonnen hat, ist doch die Frau, mag sie selbst so -bleichsüchtig, verfeinert und veredelt sein wie die von heute, doch noch -mehr dem Urmenschen verwandt als der Mann. Sie lebt näher der Quelle der -Instinkte und ist stärker begabt mit jenen Kräften, die weder moralisch -noch unmoralisch, sondern ganz einfach animalisch sind. Wenn auch die -Liebe ihre wesentliche Funktion ist, so ist es doch keineswegs die durch -die Vernunft sublimierte Liebe, sondern die blinde und überschwengliche -Liebe im Urzustand, wo sich Egoismus und Opfertum vermengen, beide -gleich unbewußt und beide im Dienste der dunkeln Ziele der Rasse. Alle -die zarten und blütenhaften Verzierungen, unter denen dieses Paar jene -Gewalten zu verbergen sucht, vor denen es selbst erschrickt, sind -gleichsam ein Geflecht von Schlingpflanzen über einem Sturzbach. Ihr -Zweck ist, über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen. Würden die -schwächlichen Seelen der Menschen geradeaus den ungeheuren Kräften, von -denen sie fortgerissen werden, ins Auge schauen, so könnten sie das -Leben nicht ertragen. Darum bemüht sich ihre erfindungsreiche Feigheit, -sich geistig ihrer Schwäche anzupassen. Sie lügen in ihrer Liebe, sie -lügen im Hasse, lügen in Bezug auf die Frau, lügen in Bezug auf das -Vaterland und seine Götter. Aus Angst, die sichtbar werdende -Wirklichkeit könnte sie aus dem Gleichgewicht bringen und erschüttern, -ersetzen sie sich diese Wirklichkeit durch die matten Farben ihres -Idealismus. - -Der Krieg nun hatte diesen schwächlichen Schutzwall hinstürzen lassen. -Clerambault sah, wie das Kleid der katzenhaften Höflichkeit, mit der -sich die Zivilisation umhüllte, zu Boden fiel. Nun wurde das grausame -Tier sichtbar. - -Die Nachsichtigsten unter den früheren Freunden Clerambaults waren jene, -die zur politischen Welt gehörten, die Abgeordneten, die Minister von -gestern oder von morgen. Gewohnt, die Menschenherde an der Nase -herumzuführen, wußten jene, wie wenig sie wert ist. Ihnen schien die -kühne Äußerung Clerambaults recht naiv. Sie selbst dachten noch zehnmal -Böseres, fanden es aber töricht, diese Erkenntnis auszusprechen, -gefährlich, sie niederzuschreiben, und am allergefährlichsten, auf sie -zu antworten. Denn was man offen angreift, macht man dadurch bekannt, -und was man verurteilt, dem mißt man doch eine Bedeutung bei. Nach ihrer -Meinung wäre es daher am besten gewesen, klug zu den unbequemen -Schriften zu schweigen, die ja die verschlafene und verdöste öffentliche -Meinung von selbst gar nie bemerkt hätte. - -Diese Art Technik war ja während des Krieges in Deutschland von oben aus -anbefohlen und befolgt worden. Dort erstickten die öffentlichen -Machthaber die unbotmäßigen Schriftsteller, wenn sie sie nicht ohne Lärm -erdrosseln konnten, unter Blumengewinden. Aber der politische Geist der -französischen Demokratie ist offener und gleichzeitig beschränkter. Sie -verstehen sich dort nicht auf Schweigen. Statt ihren Haß zu verstecken, -reißen sie ihn auf die Tribüne, um ihn dort in die Welt zu donnern. Die -französische Freiheit ist so, wie Rude sie dargestellt hat: brüllend, -mit aufgerissenem Mund. Wer nicht ganz so denkt wie sie, ist allsogleich -ein Verräter; es findet sich gleich irgendein kleiner Journalist, der -erzählt, um wie viel Geld diese freie Stimme gekauft sei, und zwanzig -Besessene hetzen gegen sie die Tollwut der Maulaffen. Ist dann einmal -der Tanz im Gang, so kann man nichts tun, als warten, bis sich die -Tollheit durch ihr Übermaß erschöpft hat; solange: rette sich, wer kann! -Die Vorsichtigen bringen sich in Sicherheit oder heulen mit den Wölfen. - -Der Leiter jener Tageszeitung, die seit einigen Jahren sich eine Ehre -daraus gemacht hatte, die Gedichte Clerambaults zu veröffentlichen, ließ -ihm vertraulich sagen, er fände diesen ganzen Lärm lächerlich, und die -ganze Sache sei kein Hundshaar wert, aber zu seinem großen Bedauern sehe -er sich genötigt, um seiner Abonnenten willen ihm eins zu versetzen... -natürlich in aller Höflichkeit... Selbverständlich in aller Form.... Und -nichts für ungut, nicht wahr? Und wirklich, der Angriff war gar nicht -gewalttätig, er beschränkte sich bloß darauf, Clerambault lächerlich zu -machen. Und selbst Perrotin — wie kläglich ist doch das -Menschengeschlecht! — ironisierte ihn in einem Interview auf -geistreichste Weise, ließ die Leute auf seine Kosten lachen, gedachte -aber dabei heimlich sein Freund zu bleiben. - -In seinem eigenen Hause fand Clerambault keine Unterstützung mehr. Seine -alte Gefährtin, die seit dreißig Jahren nur durch ihn dachte und seine -Gedanken wiederholte, ehe sie sie selber verstand, war erschrocken und -zornig über seine neuen Worte, warf ihm bitter vor, diesen Skandal -heraufbeschworen, seinen Namen und den der ganzen Familie ins Unrecht -gesetzt und das Andenken ihres toten Kindes, die Idee der heiligen Rache -und des Vaterlandes geschädigt zu haben. Rosine ihrerseits liebte ihn -noch immer, aber sie verstand ihn nicht mehr. Eine Frau kann selten die -Forderungen des Geistes anerkennen, sie kennt nur die Forderungen des -Herzens. Ihr hatte es genügt, daß ihr Vater sich nicht mit Worten des -Hasses verband, daß er mitleidsvoll und gut blieb, doch wünschte sie -keineswegs, daß er diese Gefühle in Theorien verwandelte, und noch -weniger, daß er sie öffentlich aussprach. Sie hatte den zugleich -zärtlichen und praktischen gesunden Menschenverstand einer, die die -Forderungen des Herzens gewahrt wissen will und sich mit dem Übrigen -abfindet. Aber das unbeugsame logische Bedürfnis, das den Mann treibt, -die äußersten Konsequenzen seines Glaubens zu ziehen, war ihr -unverständlich. Soweit konnte sie nicht mit. Ihre Stunde war vorüber, -die Stunde, wo sie unbewußt die Aufgabe übernommen und erfüllt hatte, -mütterlich ihren schwachen, unsicheren und zerbrochenen Vater -aufzurichten und ihn unter ihrem Flügel zu bergen, sein Gewissen zu -retten und ihm die Fackel wieder in die Hand zu drücken, die er fallen -gelassen hatte. Jetzt, da er sie wieder in Händen trug, war ihre Aufgabe -erfüllt. Sie war wieder das liebende, unscheinbare „kleine Mädchen“ -geworden, das die großen Geschehnisse der Zeit mit ein wenig -gleichgültigen Blicken sieht, und nur im Grunde ihrer Seele blieb etwas -zurück von dem feurigen Licht der überirdischen Stunde, die sie gelebt -hatte, die sie fromm bewahrte und deren Sinn sie nicht mehr verstand. - - § - -Ungefähr um dieselbe Zeit empfing Clerambault den Besuch eines jungen -Urlaubers aus einer befreundeten Familie. Daniel Favre, Sohn eines -Ingenieurs und selbst Ingenieur, dessen lebendige Intelligenz aber nicht -durch seinen Beruf beschränkt wurde, hatte seit langem eine Leidenschaft -für Clerambault gefaßt: der mächtige Aufschwung der modernen -Wissenschaft hatte sein Gebiet seltsam jenem der Dichtung angenähert, -war doch die Technik gewissermaßen selbst das größte der -zeitgenössischen Gedichte geworden. Daniel war ein enthusiastischer -Leser Clerambaults. Sie hatten innige Briefe gewechselt und der junge -Mann, dessen Familie mit der Clerambaults in Beziehungen stand, kam oft -zu ihnen, und vielleicht auch nicht bloß, um dem Dichter zu begegnen. -Die Besuche dieses liebenswerten, etwa dreißigjährigen Menschen, eines -großen, gutgewachsenen Burschen mit festen Zügen, einem scheuen Lächeln, -mit hellen Augen im sonnverbrannten Gesicht, wurden immer freudig -aufgenommen, und Clerambault war nicht der einzige, den sie erfreuten. -Für Daniel wäre es leicht gewesen, sich einen Hinterlandsdienst in -irgendeiner Metallfabrik zu sichern, aber er hatte selbst gefordert, -seinen gefährlichen Posten an der Front nicht verlassen zu müssen, wo er -sich rasch den Leutnantsgrad erworben hatte. Der Urlaub bot ihm -Gelegenheit, Clerambault zu besuchen. - -Clerambault war allein, seine Frau und seine Tochter waren ausgegangen. -Freudig empfing er den jungen Freund. Aber Daniel schien befangen, und -nachdem er längere Zeit auf die Fragen Clerambaults recht und schlecht -geantwortet hatte, schnitt er geradewegs die Sache an, die ihm am Herzen -lag. Er sagte, er hätte an der Front von den Artikeln Clerambaults -gehört, und dies hätte ihn verwirrt. Man sagte... oder man behauptete... -schließlich, man sei ja so streng... er wisse ja, daß es ungerecht -sei... aber er sei gekommen — und dabei faßte er die Hand Clerambaults -in einer Art zärtlicher Scheu — um ihn zu bitten, sich nicht von jenen -zu trennen, die ihn liebten. Er erinnerte ihn an die Ehrfurcht, die der -Dichter, der einst die französische Erde und die innere Größe der Rasse -gefeiert hatte, allgemein einflöße.... „Bleiben Sie, bleiben Sie mit uns -in dieser Stunde der Prüfungen....“ - -„Nie bin ich mehr mit euch gewesen“, antwortete Clerambault. Und er -fragte ihn: - -„Sie sagen mir, lieber Freund, daß man das, was ich geschrieben hätte, -verunglimpfe. Was denken Sie selbst davon?“ - -„Ich habe es nicht gelesen“, sagte Daniel. „Ich wollte es nicht lesen. -Ich hatte Furcht, in meiner Zuneigung für Sie gekränkt oder an der -Erfüllung meiner Pflicht gehindert zu sein.“ - -„Dann haben Sie wenig Vertrauen zu sich, wenn Sie fürchten, durch das -Lesen von ein paar Zeilen in Ihrer Überzeugung erschüttert zu werden.“ - -„Ich bin meiner Überzeugung sicher“, antwortete Daniel ein wenig -gereizt, „aber es gibt gewisse Dinge, für die es besser ist, wenn man -sie nicht in die Diskussion zieht.“ - -„Seltsam“, sagte Clerambault, „das ist ein Wort, das ich mir nicht von -einem Mann der Wissenschaft erwartete. Was hat die Wahrheit dabei zu -verlieren, wenn man sie untersucht?“ - -„Die Wahrheit nichts, aber die Liebe. Die Liebe zum Vaterland.“ - -„Mein lieber Daniel, Sie sind viel kühner als ich. Ich stelle die -Wahrheit nicht in einen Gegensatz zur Vaterlandsliebe. Ich versuche nur, -sie in Einklang zu bringen.“ - -Daniel schnitt kurz ab. „Man diskutiert nicht über das Vaterland.“ - -„Es ist also“, sagte Clerambault, „ein Glaubensartikel?“ - -„Ich glaube an keine Religion“, protestierte Daniel, „an keine, und -gerade darum denke ich so. Was bliebe denn noch auf Erden, wenn es nicht -das Vaterland gäbe?“ - -„Nun, ich denke, es gibt auf der Erde viele gute und schöne Dinge, das -Vaterland ist bloß eines davon. Ich liebe es auch. Und ich stelle auch -nicht die Liebe zum Vaterland in Frage, sondern nur die Art, es zu -lieben.“ - -„Es gibt nur eine“, sagte Daniel. - -„Und die wäre?“ - -„Ihm gehorchen.“ - -„Also die Liebe mit geschlossenen Augen, so wie im antiken Symbol. Ich -meinerseits möchte sie ihr lieber öffnen.“ - -„Nein, lassen Sie uns, wie wir sind! Unsere Aufgabe ist schon ohnehin -hart genug, machen Sie sie uns nicht noch grausamer.“ Und mit einigen -nüchternen, abgehackten, von Erregung bebenden Sätzen stellte Daniel die -furchtbaren Bilder jener Wochen hin, die er eben im Schützengraben -verlebt hatte, den Ekel und den Abscheu vor all dem, was er gelitten -hatte, leiden gesehen und leiden gemacht hatte. - -„Aber mein lieber Freund“, sagte Clerambault, „wenn Sie diese -erbärmliche Schande selber sehen, warum sollen wir sie denn nicht -verhindern?“ - -„Weil es unmöglich ist.“ - -„Um das zu wissen, käme es erst auf einen Versuch an.“ - -„Das Gesetz der Natur ist der Kampf der Wesen gegeneinander. Zerstören -oder zerstört werden. So und nur so ist es.“ - -„Und wird sich das nie ändern?“ - -„Nein“, sagte Daniel mit einem Ton hartnäckigen Schmerzes, „es ist ein -Gesetz.“ - -Es gibt Männer der Wissenschaft, denen die Wissenschaft so sehr die -Wirklichkeit, die sie umschließt, verbirgt, daß sie sie unter dem Netz -nicht mehr sehen; sie hat sich ihnen entzogen. Sie umfassen die ganze -von der Wissenschaft umspannte Zone, halten es aber für unmöglich und -sogar lächerlich, dieses Reich über die einmal von der Vernunft gezogene -Grenze hinaus zu erweitern. Sie glauben bloß an einen Fortschritt, der -an die Innenseite der Umfriedung gekettet ist. Clerambault kannte nur zu -gut das spöttische Lächeln, mit dem die großen Gelehrten der offiziellen -Schulen ohne jede nähere Prüfung die Eingebungen der Erfinder ablehnen. -Eine gewisse Art der Wissenschaft ist mit Folgsamkeit vollkommen -vereinbar. Wenigstens verband Daniel mit der seinen keine Ironie, -vielmehr den Ausdruck einer stoischen und unbeirrbaren Traurigkeit. Es -fehlte ihm nicht an geistiger Kühnheit, aber die hatte er einzig in den -abstrakten Dingen. Dem Leben selbst gegenübergestellt, bot er eine -Mischung — oder besser eine Aufeinanderfolge — von Ängstlichkeit und -Starrsinn dar, von zögernder Bescheidenheit und trotziger Überzeugung. -Wie die meisten Menschen war er ein zusammengesetztes, zwiespältiges -Wesen, aus einzelnen Teilen und Stücken bestehend, nur daß bei einem -Intellektuellen und besonders bei einem Mann der Wissenschaft die -einzelnen Stücke nicht ganz ineinanderpassen und daß die Fugen sichtbar -werden. - -„Aber“, sagte Clerambault, die Betrachtungen, die in der Stille durch -seinen Sinn gingen, laut zu Ende führend, „selbst die Voraussetzungen -der Wissenschaft sind doch in Umformung begriffen. Seit zwanzig Jahren -durchlaufen die Grundvorstellungen der Chemie und der Physik eine Krise -der Erneuerung, die sie gleichzeitig erschüttert und doch fruchtbar -macht. Und einzig die sogenannten Gesetze, die die menschliche -Gesellschaft oder, besser gesagt, das chronische Räubertum der Nationen -regieren, sollten unveränderlich sein? Habt ihr in eurem Gedankenkreis -keinen Raum für die Hoffnung einer höheren Zukunft?“ - -„Wir könnten nicht kämpfen“, sagte Daniel, „hätten wir nicht die -Hoffnung, eine gerechtere und menschlichere Weltordnung zu begründen. -Viele meiner Gefährten sind der Überzeugung, dieser Krieg mache allen -Kriegen ein Ende. Ich teile diese Hoffnung nicht, ich verlange nicht so -viel. Ich weiß nur das eine, daß unser Frankreich in Gefahr ist, und daß -seine Niederlage die der ganzen Menschheit wäre.“ - -„Die Niederlage jedes Volkes ist eine der ganzen Menschheit, denn alle -sind für sie notwendig. Die Vereinigung aller Völker wäre der einzige -wahrhafte Sieg. Jeder andere richtet ebenso die Sieger wie die Besiegten -zugrunde. Jeder Tag, der diesen Krieg verlängert, läßt das kostbare Blut -Frankreichs fließen, und es ist in Gefahr, für immer erschöpft zu -werden.“ - -Daniel gebot diesen Worten mit einer erregten und schmerzlichen Geste -Einhalt. Ja, das wußte er.... Das wußte er.... Wer wußte es besser als -er, daß Frankreich hinstarb, Tag für Tag, an seiner heroischen -Anstrengung, daß die Blüte seiner Jugend, seiner Kraft, seiner -Intelligenz, das lebendige Mark der Rasse in Sturzbächen hinströmte und -zugleich der Reichtum, die Arbeit und der Kredit des französischen -Volkes.... Frankreich, blutend an allen Gliedern, ging den Weg, den -Spanien vier Jahrhunderte zuvor gegangen war und der zu den Einsamkeiten -des Eskurial führt.... Aber er wollte nicht, daß man ihm von den -Möglichkeiten eines Friedens, der diese Qual beendigte, spräche, ehe der -Feind gänzlich zu Boden geschmettert. Man dürfe nicht auf die Angebote, -die Deutschland damals machte, antworten, nicht einmal, um sie in -Erwägung zu ziehen. Man dürfe nicht einmal sprechen darüber. Und wie die -Politiker, die Generale, die Journalisten und die Millionen armer -Geschöpfe, die tollwütig die Lektion, die man ihnen eingelernt hatte, -wiederholten, schrie auch Daniel: „Bis zum letzten Mann!“ - -Clerambault sah mit zärtlichem Mitleid diesen wackeren, scheuen und -heldenmütigen Burschen an, der von dem Gedanken erschreckt wurde, das -Dogma in Frage zu ziehen, dessen Opfer er war. Hatte dieser -wissenschaftliche Geist gar keinen Widerstand gegen den Widersinn eines -solchen blutigen Spieles, dessen Einsatz der Tod ebenso für Frankreich -wie für Deutschland — und vielleicht für Frankreich mehr als für -Deutschland — war? - -Ja, er wehrte sich dagegen, aber er raffte sich trotzig zusammen, um es -sich nicht einzugestehen. Von neuem beschwor Daniel Clerambault. „Ja, -diese Gedanken mögen vielleicht wahr und gerecht sein, aber nur nicht -jetzt, jetzt sind sie nicht an der Zeit... in zwanzig oder fünfzig -Jahren!... Lassen Sie uns nur zuerst unsere Aufgabe erfüllen, zu siegen -und die Freiheit der Welt, die Brüderlichkeit der Menschen durch den -Sieg Frankreichs begründen.“ - -Ach, der arme Daniel! Sah er denn nicht selbst im günstigsten Falle die -Überhebung voraus, die verhängnisvoll diesen Sieg beschmutzen würde, und -daß es dann am Besiegten sein würde, den krankhaften Wunsch und Willen -zur Revanche und zum gerechten Sieg für sich zu erneuern? Jede Nation -will das Ende aller Kriege durch ihren eigenen Sieg. Und von Sieg zu -Sieg stürzt die Menschheit tiefer in ihre Niederlage hinab. - -Daniel erhob sich, um Abschied zu nehmen. Er drückte Clerambaults Hand -und erinnerte ihn mit Ergriffenheit an seine Gedichte von einst, in -denen er das heroische Wort Beethovens wiederholte, um das schöpferische -Leiden zu feiern, das Wort: „Durch Leiden Freude.“ - -„Ach! ach! Wie ihr uns mißversteht!... Wir besingen das Leiden, um uns -davon zu befreien, aber ihr begeistert euch dafür. So wird unser Hymnus -der Befreiung für die anderen Menschen ein Sang der Knechtung.“ - -Clerambault gab keine Antwort. Er liebte diesen jungen Menschen; diese -armen Kerle, die sich aufopfern, wissen wohl, daß sie nichts im Kriege -zu gewinnen haben. Aber je mehr Opfer man von ihnen verlangt, desto -gläubiger werden sie. Mögen sie dafür gesegnet sein!... Aber wenn sie -nur nicht mit sich selbst auch die ganze Menschheit hinopfern wollten! - - § - -Clerambault hatte Daniel gerade bis zur Wohnungstür geleitet, als Rosine -zurückkam. Als sie den Besucher sah, hatte sie eine Bewegung entzückter -Überraschung. Auch das Antlitz Daniels erhellte sich, und Clerambault -entging nicht die freudige Belebtheit der beiden jungen Leute. Rosine -forderte Daniel auf, noch einmal zurückzukommen und die Unterhaltung -fortzusetzen, Daniel war schon im Begriff es zu tun, zögerte dann, -lehnte ab, sich noch einmal niederzusetzen, und schützte dann mit einem -schmerzlich gespannten Gesichtsausdruck irgendeinen vagen Vorwand vor, -der ihn zwinge fortzugehen. Clerambault, der im Herzen seiner Tochter -las, bestand freundschaftlich darauf, daß er wenigstens noch einmal vor -seinem Urlaubsende wiederkäme. Daniel, in die Enge getrieben, sagte -zuerst nein, dann ja, ohne sich fest zu verpflichten, um dann -schließlich, dem Drängen Clerambaults nachgebend, einen bestimmten Tag -festzusetzen. Dann nahm er in einer etwas kühlen Weise Abschied. -Clerambault kehrte wieder in sein Arbeitszimmer zurück und setzte sich -nieder. Rosine blieb unbeweglich und gedankenverloren mit schmerzlichem -Ausdruck stehen. Clerambault lächelte ihr zu. Sie kam zu ihm und umarmte -ihn. - -Der festgesetzte Tag ging vorüber, Daniel kam nicht zu ihnen herauf. Man -wartete noch den nächsten Tag und den übernächsten, aber er war schon an -die Front zurückgegangen. Auf Betreiben Clerambaults machte kurz darauf -seine Frau mit Rosine den Eltern Daniels einen Besuch. Sie wurden von -ihnen mit eisiger und beinahe verletzender Kälte empfangen. Frau -Clerambault erklärte, als sie zurückkam, sie wolle nie mehr in ihrem -Leben diese unerzogenen Leute sehen. Rosine hatte Mühe, ihre Tränen zu -verbergen. - -In der Woche darauf kam ein Brief von Daniel an Clerambault. Ein wenig -beschämt über sein Verhalten und das seiner Eltern, versuchte er -weniger, es zu entschuldigen als zu erklären. Er machte eine zarte -Anspielung, er hätte Hoffnung gehabt, einmal Clerambault näher zu stehen -als bloß durch die Bande der Bewunderung, des Respektes und der -Freundschaft. Aber, fuhr er fort, Clerambault hätte seine Zukunftsträume -durch seine bedauerliche Rolle zunichte gemacht, die er glaubte in der -Tragödie auf sich nehmen zu müssen, bei der es um das Leben des -Vaterlandes ginge, und durch den Widerhall, den seine Stimme gefunden -hätte. Seine Worte, die zweifellos falsch verstanden aber sichtlich -unklug gewesen waren, hätten einen frevelhaften Charakter enthüllt, der -die öffentliche Meinung aufgewühlt hätte. Unter den Offizieren der Front -sei ebenso wie bei seinen Freunden im Hinterland die Erbitterung darüber -die gleiche. Seine Eltern, die von jenem Traum des Glückes gewußt -hätten, legten jetzt Protest ein, und so sehr er darunter leide, glaube -er doch nicht das Recht zu haben, die Bedenken beiseite zu stoßen, deren -Quelle ein tiefes Mitleid mit dem gekränkten Vaterland sei. Die -öffentliche Meinung würde es nicht verstehen können, daß ein Offizier, -der die Ehre hatte, sein Blut dem Vaterlande darbieten zu dürfen, an -eine Verbindung denken könne, die man als eine Zustimmung zu so -verderblichen Ideen ausdeuten könne. Freilich, die öffentliche Meinung -hätte zweifellos unrecht, aber man müsse immer mit der öffentlichen -Meinung rechnen. Denn die öffentliche Meinung eines Volkes, selbst wenn -sie scheinbar übertrieben und ungerecht ist, will doch geachtet sein, -und dies gerade sei der Irrtum Clerambaults gewesen, sie herausfordern -zu wollen. Daniel drängte Clerambault noch einmal, seinen Irrtum zu -bekennen und öffentlich abzuschwören, durch neue Aufsätze den -beklagenswerten Eindruck zu verwischen, den die ersten hervorgebracht -hätten. Er stellte es ihm als eine Pflicht dar, eine Pflicht gegen das -Vaterland, eine Pflicht gegen sich selbst, und eine Pflicht — er ließ -es deutlich durchblicken — gegen jene, die ihnen beiden so teuer war. -— Der Brief schloß mit verschiedenen anderen Betrachtungen, in denen -noch zwei- oder dreimal der Name der öffentlichen Meinung wiederkehrte; -sie nahm in seinem Denken den Rang der Vernunft und selbst des Gewissens -ein. - -Clerambault erinnerte sich lächelnd an die Szene Spittelers, wo der -König Epimetheus, der Mann der entschlossenen Überzeugung, in der -Stunde, da er sie auf die Probe stellen soll, sie nicht mehr in die Hand -bekommt, sie entwischen sieht, ihr nachsetzt und, um sie zu fassen, sich -bäuchlings auf die Erde wirft und sie unter seinem Bette sucht. -Clerambault erkannte, daß man gleichzeitig ein Held vor dem Feuer des -Feindes und doch ein ganz kleiner Junge vor der öffentlichen Meinung -seiner Mitbürger sein könne. - -Er zeigte Rosine den Brief. Und so ungerecht auch die Liebe sonst sein -mag, Rosine war doch in ihrem Herzen durch die Heftigkeit verletzt, die -ihr Freund der Überzeugung ihres Vaters antun wollte. Sie dachte, Daniel -liebe sie nicht genug, und sagte, sie ihrerseits liebe ihn nicht genug, -um solche Forderungen anzunehmen. Selbst wenn Clerambault ihm nachgeben -wolle, so würde sie es nicht erlauben, denn es sei eine Ungerechtigkeit. - -Hier umarmte sie ihren Vater, zwang sich, tapfer zu lachen und ihr -grausames Mißgeschick zu vergessen. Aber man vergißt nicht ein -erträumtes Glück, solange noch irgendeine schwache Möglichkeit vorhanden -ist, es wiederzufinden. Sie mußte immer daran denken, und nach einiger -Zeit fühlte Clerambault, wie sie sich von ihm entfernte. Wer die -Verleugnung besitzt, sich aufzuopfern, besitzt nur selten auch jene -andere, dann nicht jenen gram zu sein, für die er sich aufgeopfert hat. -Gegen ihren eigenen Willen zürnte Rosine ihrem Vater um ihr verlornes -Glück. - - § - -Ein seltsames geistiges Phänomen trat nun bei Clerambault zutage. Er -fühlte sich niedergeschlagen und doch gleichzeitig gefestigt. Er litt -daran, gesprochen zu haben, und fühlte doch, daß er von neuem sprechen -würde. Er gehörte sich selbst nicht mehr. Seine Schriften hielten ihn -fest, seine Schriften übten einen Zwang auf ihn aus: kaum hatte er seine -Gedanken ausgesprochen, so war er schon an sie gebunden. Das aus dem -Herzen entsprungene Werk wirkt wieder auf das Herz zurück. Geboren aus -einer Stunde geistiger Erregung, verlängert und erneuert es sich diese -Stunde im Geiste, der ohne diesen Aufschwung erschöpft in sich -zusammenstürzte. Denn diese Stunde ist Lichtstrahl aus den letzten -Tiefen, ist das Beste des inneren Wesens, das Ewigste und reißt den -tierhaften Teil des irdischen Wesens mit sich fort. Ob er will oder -nicht, schreitet der Mensch, von seinen Werken getragen und gezogen, -weiter, sie leben außerhalb seiner selbst, erneuern in ihm die verlorne -Kraft, erinnern ihn an seine Pflicht, führen ihn und befehlen ihm. -Clerambault hatte die Absicht zu schweigen. Und doch begann er immer -wieder zu sprechen. - -Er war sich seiner Schwäche freilich recht bewußt. „Du zitterst, -Kadaver, weil du weißt, wohin ich dich jetzt führe“, pflegte Turenne vor -einer Schlacht zu seinem Leibe zu sagen. Die Leiblichkeit Clerambaults -bot keinen stolzen Anblick. Wenn auch die Schlacht, in die er sie -führte, eine viel unscheinbarere war, so war es doch kein geringerer -Kampf, denn er stand darin allein und ohne Armee. Das Schauspiel, das er -sich selbst in der Nacht vor der Schlacht darbot, war beschämend: er sah -sich selbst nackt, in seiner Mittelmäßigkeit, einen schwachen Menschen, -scheu von Natur, ein wenig feig, einen Menschen, der der anderen -bedurfte, ihrer Liebe, ihrer Zustimmung. Und es war furchtbar schwer, -alle diese Beziehungen mit ihnen zu zerreißen, gesenkten Kopfes gegen -ihren Haß anzurennen.... Würde er stark genug sein, um Widerstand -leisten zu können?... Wieder stürmten die schon verjagten Zweifel -gewaltsam auf ihn ein. Wer zwang ihn denn dazu, zu sprechen? Wer würde -auf ihn hören? Und wozu das alles? Warum hielt er sich nicht an das -Beispiel der Klügeren, die schwiegen? - -Und doch fuhr sein entschlossenes Hirn fort, ihm das zu diktieren, was -er schreiben sollte, und die Hand schrieb es nieder, ohne ein Wort zu -mildern. Er bestand gewissermaßen aus zwei Menschen, aus einem, der -hingestreckt lag, Angst hatte und schrie: „Ich will mich nicht -herumschlagen“, und aus einem anderen, der voll Verachtung für den -Feigling ihn am Genick fortschleppte und sagte: „Vorwärts, du wirst -gehen.“ - -Und doch wäre es zu viel Ehre, wollte man ihm zuerkennen, daß er aus Mut -so handelte. Er handelte so, weil er nicht anders konnte. Selbst wenn er -hätte innehalten wollen, so mußte er doch nach vorwärts und sprechen.... -„Es ist deine Mission.“ Clerambault verstand das nicht und fragte sich, -warum gerade er ausersehen worden war, er, der Dichter, der Zärtliche, -geschaffen zu einem stillen, kampflosen, opferlosen Leben, indessen doch -andere, starke, krieggewohnte, kampfgeartete Menschen mit Athletenseelen -da waren, die unbeschäftigt blieben. „Es hat keinen Sinn sich darüber -den Kopf zu zerbrechen. Gehorche! Es ist nun einmal so.“ - -Und gerade diese Zwiespältigkeit seiner Natur zwang ihn, sobald einmal -eine der beiden Seelen in ihm die Oberhand behalten hatte, sich ihr -restlos hinzugeben. Ein normalerer Mensch hätte die beiden Naturen -verschmolzen oder verbunden, hätte ein Kompromiß gefunden, bei dem die -Anforderungen der einen und die Vorsicht der anderen zu ihrem Recht -gekommen wären. Aber ein Clerambault war immer nur einseitig, dem einen -oder dem anderen unterworfen. Hatte er einmal einen Weg gewählt, so ging -er ihn ganz geradeaus, ob er ihm gefiel oder nicht. Und aus dem gleichen -Grunde, der ihn früher so leichtgläubig für den Glauben der Welt rings -um ihn gemacht hatte, mußte er jetzt rücksichtslos die Lügen, denen er -zum Opfer gefallen war, offenbaren, sobald er sie erkannt hatte. Andere, -die sich anfangs nicht so hemmungslos hatten narren lassen, hätten sie -nie zu enthüllen vermocht. - -So begann der Mutige wider seinen eigenen Willen, ein anderer Ödipus, -den Kampf mit der Sphinx des Vaterlandes, die ihn am Kreuzweg erwartete. - - § - -Der Angriff Bertins lenkte auf Clerambault die Aufmerksamkeit einiger -Politiker der äußersten Linken, die nicht recht wußten, wie sie ihre -Opposition gegen die Regierung (die ja ihre Existenzbedingung war) mit -jener „heiligen Eintracht“ in Einklang bringen sollten, die zu -Kriegsbeginn gegen den feindlichen Einbruch beschlossen war. Sie -druckten die beiden ersten Artikel Clerambaults in einem jener -sozialistischen Blätter nach, deren Gedankengang damals zwischen diesen -Gegensätzen pendelte. Man bekämpfte dort den Krieg und votierte -gleichzeitig Kriegskredite. Begeisterte internationale Bekenntnisse -standen dort dicht neben Mahnreden von Ministern, die eine -nationalistische Politik trieben. In diesem Schaukelspiel hätten die -Seiten Clerambaults mit ihrem vagen Lyrismus, wo der Angriff maßvoll war -und die Kritik der Vaterlandsideen von tiefem Mitleid umhüllt, den ganz -wertlosen Charakter eines platonischen Protests gehabt, wenn nicht die -Zensur darin einzelne Sätze mit der Zähigkeit einer Termite ausgefressen -hätte. Die Spuren ihrer Zähne lenkten aber gerade die Blicke auf das, -was der allgemeinen Unaufmerksamkeit sonst entgangen wäre. So kratzte -die Zensur in dem Aufsatz „An die einst Geliebte“ das Wort Vaterland, -nachdem sie es zum erstenmal in Verbindung mit einem liebenden Anruf -ruhig hatte stehen lassen, bei allen anderen, bedeutend weniger -schmeichelhaften Stellen rücksichtslos heraus. Ihre Dummheit sah nicht, -daß nun das Wort, linkisch vom Lichtschirm bedeckt, nur noch besser im -Geiste des Lesers aufleuchtete. So gelang es ihr, einem Aufsatz, der -eigentlich recht bedeutungslos war, Bedeutung zu verleihen, wobei -allerdings hinzuzurechnen war, daß in dieser Stunde allgemeiner -Passivität das geringste Wort freier Menschlichkeit, insbesondere aber -ein von einem bekannten Namen ausgesprochenes, sofort eine ganz -außerordentliche und weite Wirkung gewann. Der andere Artikel, „Ihr -Toten verzeihet uns“, war oder konnte durch seinen schmerzlichen Akzent -noch gefährlicher für die große Masse der einfachen, vom Krieg -aufgewühlten Seelen sein. So versuchte die bisher gleichgültige Zensur -bei dem ersten Wind, den sie davon bekam, ihn glatt vor der -Öffentlichkeit zu unterdrücken. Geschickt genug, um nicht auf -Clerambault durch eine öffentliche Maßnahme besondere Aufmerksamkeit zu -lenken, verstand sie es, auf das Journal auf Umwegen einzuwirken. Ein -heftiger Widerstand gegen den Schriftsteller zeigte sich plötzlich in -der internen Redaktion der Zeitung selbst. Natürlich warfen sie ihm -nicht den Internationalismus seines Gedankens vor, sondern sie -beschuldigten ihn bourgeoiser Empfindsamkeit. - -Dafür bot ihnen nun Clerambault selbst Argumente mit einem dritten -Artikel, in dem sein Widerstand gegen jede Gewalt ebenso die Revolution -wie den Krieg zu verurteilen schien. Die Dichter sind eben immer -schlechte Politiker. - -Es war eine erbitterte Antwort auf jenen „Anruf an die Toten“, den -Barrès, die zitternde Nachteule, von einer Friedhofzypresse -herabwimmerte. - - „A n r u f a n d i e L e b e n d i g e n“ - -„Der Tod beherrscht die Welt. Ihr, die ihr lebendig seid, schüttelt sein -Joch ab! Es genügt ihm nicht, die Völker zu vernichten, er will, daß sie -ihn auch noch verherrlichen, daß sie ihm singend entgegenlaufen, und -ihre Herren verlangen, daß sie ihre eigene Aufopferung verherrlichen. -„Es ist das schönste Los, das beneidenswerteste, das man erlangen -kann!...“ Sie lügen! Es lebe das Leben! Einzig das Leben ist heilig, und -die Liebe zum Leben ist die erste Tugend. Aber die Menschen von heute -besitzen sie nicht mehr. Dieser Krieg beweist — und beweist bei vielen -schon seit fünfzehn Jahren — (gesteht es euch nur ein!) das -Vorhandensein einer wahnwitzigen Hoffnung auf eine solche Katastrophe. -Ihr liebt das Leben nicht, wenn ihr keine bessere Verwendung dafür habt, -als es dem Tod zum Fraß hinzuwerfen. Euer Leben ist euch eine Last, -euch, ihr Reichen, ihr Bürger, ihr Diener der Vergangenheit, ihr -Konservativen, die ihr darüber greint aus Mangel an Appetit, aus -moralischem Übelbefinden, mit euren vor Überdruß schleimigen und sauren -Seelen und Mäulern — und euch, ihr Proletarier, ihr Armen und -Unglücklichen aus Mutlosigkeit über das Schicksal, das euch zugefallen -ist. In der dumpfen Mittelmäßigkeit eures Lebens, in der -Hoffnungslosigkeit, es jemals zu verwandeln (ihr Kleingläubigen!), -wartet ihr einzig darauf, ihm durch einen Gewaltakt zu entrinnen, der -euch dem Sumpf, zumindest für die Spanne einer Minute, nämlich der -letzten, entreißt. Die Stärksten unter euch, jene, die am besten die -Energie der ursprünglichen Instinkte bewahrt haben, die Anarchisten und -Revolutionäre, appellieren bloß an sich selbst, um diese befreiende Tat -zu erfüllen. Aber die große Volksmasse ist zu müde, um die Initiative zu -ergreifen. Deshalb begrüßt sie mit solcher Gier die mächtige Welle, die -ihre Vaterländer aufrührt: den Krieg! Sie gibt sich ihm mit einer -düsteren Wollust hin. Denn er ist der einzige Augenblick im Leben, wo -diese verschatteten Existenzen sich vom Atem des Unendlichen durchweht -fühlen. Und gerade dieser Augenblick ist der der Vernichtung. - -Ah, eine schöne Art, sein Leben anzuwenden.... Es einzig dadurch zu -bejahen, daß man es verneint zugunsten irgendeines menschenfresserischen -Gottes, mag er Vaterland oder Revolution heißen, der zwischen seinen -Kinnladen die Gebeine von Millionen Menschen zerkrachen läßt.... - -Sterben, Zerstören, was liegt da für ein Ruhm darin! Das einzige -Wichtige wäre, zu leben. Und das versteht ihr nicht. Ihr seid des Lebens -nicht würdig. Nie habt ihr die Segnungen der lebendigen Minute -empfunden, der Freude, die im Lichte tanzt. Oh, ihr hinsterbenden -Seelen, ihr wollt, daß alles mit euch sterbe, kranke Brüder, denen wir -die Hand hinreichen, sie zu retten, und die uns wütend mit sich in den -Abgrund reißen.... - -Aber nicht mit euch, ihr Unglücklichen, will ich abrechnen, sondern mit -euren Gebietern. Mit euch, den Herren der Stunde, unsern geistigen -Gebietern, den politischen Machthabern, den Herren des Geldes, des -Eisens, des Blutes und des Gedankens! Mit euch, die ihr diese Staaten in -Händen haltet, die ihr diese Armeen in Bewegung setzt, die ihr mit euren -Zeitungen, Büchern, Schulen und Kirchen diese Generation geformt und aus -diesen freien Seelen Herden gemacht habt. Ihre ganze Erziehung — euer -Werk der Knechtung — die Laienerziehung wie die christliche, lobpreist -gleicherweise mit ungesundem Jubel den nichtigen militärischen Ruhm und -seine Glückseligkeit. Am Ende der Angel hält sowohl die Kirche als auch -der Staat den Tod als Köder hin. - -Ihr heuchlerischen Schriftgelehrten und Pharisäer, Schande über euch! -Politiker und Priester, Künstler und Schriftsteller, ihr Chorführer des -Todes, ihr seid innen voll von Totengebein und Verwesung. Ach, ihr seid -so recht die Söhne jener, die Christus getötet haben. Wie jene beschwert -ihr die Schultern der Menschen mit entsetzlichen Lasten, zu denen ihr -selbst nicht den Finger aufhebt. Wie jene, so kreuzigt ihr gerade -solche, die den unglücklichen Völkern helfen wollen, solche, die zu euch -kommen, in den Händen den Frieden, den gesegneten Frieden. Ihr sperrt -sie ein und schmäht sie und jagt sie, so wie es geschrieben steht in der -Schrift, von Stadt zu Stadt, bis daß das ganze vergossene Blut der Erde -in Strömen auf euch zurückfällt. - -Ihr Kuppler des Todes, ihr arbeitet nur für ihn! Das Vaterland dient -euch nur dazu, um die Zukunft der Vergangenheit hörig zu machen und die -lebendigen Menschen an die vermoderten Toten zu ketten. Ihr verurteilt -das neue Leben in alle Ewigkeit, einzig die leeren Gebräuche der Gräber -ängstlich zu erfüllen.... Aber laßt uns auferstehen! Lassen wir die -Glocken klingen zum Osterfest der Lebendigen! - -Ihr Menschen, es ist nicht wahr, daß ihr die Sklaven der Toten seid und -durch sie wie Hörige an die Erde gebunden. Laßt die Toten ihre Toten -begraben und selbst in die Grube fahren. Ihr aber seid Söhne der -Lebendigen und selbst lebendig! Ihr jungen, gesunden Brüder, zerbrecht -die nervenschwache Müdigkeit eurer Seelen, die sich den vergangenen -Vaterländern verschrieben haben und die nur manchmal in plötzlichen -Krämpfen der Raserei sich aufraffen. Werdet selbst die Herren der -Stunde, die Herren der Vergangenheit, Väter und Söhne eurer Werke! Seid -frei! Jeder von euch ist Mensch — nicht der verweste Leib der in den -Gräbern stinkend Vermoderten, sondern das knisternde Feuer des Lebens, -das die Verwesung tilgt, das die Leichen der vergangenen Jahrhunderte -zerstört, das immer neue junge Feuer, das die Erde mit seinen brennenden -Armen umschlingt. Seid frei! Ihr Eroberer der Bastille, ihr habt noch -nicht jene andere erobert, die in euch selbst ist, das falsche -Schicksal, das seit Jahrhunderten alle jene zu eurer Niederhaltung -gebaut haben, die — entweder Sklaven oder Tyrannen (sie sind von der -gleichen Galeere) — Furcht haben, daß ihr euch eurer Freiheit bewußt -würdet. Der wuchtige Schatten der Vergangenheit — Religionen, Rassen, -Vaterländer, die materialistische Wissenschaft — verdeckt eure Sonne. -Geht ihr entgegen! Die Freiheit ist jenseits all jener Wälle und Türme -von Vorurteilen, jener toten Gesetze, jener geheiligten Lügen, die die -Interessen einzelner Auguren, die Meinung der militarisierten Massen und -euere eigenen Zweifel an euch selbst noch behüten. Wagt es, zu wollen! -Und ihr werdet plötzlich hinter der Mauer des trügerischen Schicksals, -kaum daß sie hinstürzt, wieder die Sonne und die unbegrenzte Ferne -sehen.“ - - § - -Statt die revolutionäre Flamme dieses Aufrufes zu erkennen, klammerte -sich das Redaktionskomitee der Zeitung nur an die drei oder vier Zeilen, -in denen Clerambault die Gewalttätigkeiten aus beiden Lagern, von rechts -und links, in denselben Sack zu stecken schien. Woher nahm dieser -Dichter das Anrecht, in einem Parteiblatte den Sozialisten Lektionen -erteilen zu wollen? Im Namen welcher Theorien tat er es? War er denn -überhaupt Sozialist? Ein solcher Bourgeois sollte nur mit diesen -tolstoianischen und anarchistischen Schreibübungen bei der Bourgeoisie -bleiben. Vergebens protestierten einige weitsichtigere Köpfe dagegen und -betonten, jeder freie Gedanke, ob mit, ob ohne politische Etikette, -müsse willkommen geheißen werden, und jener Clerambaults, so wenig er -auch die Parteitheorie kenne, sei in Wahrheit sozialistischer als -mancher der Sozialisten, die sich der nationalen Schlächterei beigesellt -hätten. Dennoch ging man glatt darüber hinweg, und der Artikel wurde, -nachdem er ein paar Wochen in einer Schublade geschlafen hatte, -Clerambault zurückgegeben unter dem Vorwand, sie hätten zuviel aktuelle -Aufsätze und zu wenig Raum. - -Clerambault brachte den Artikel einer kleinen Revue, die sich mehr von -seinem literarischen Ruf als von seinen Ideen zum Abdruck verleiten -ließ. Das Resultat war, daß auf Befehl der Polizei die Revue am Tage -nach dem Erscheinen des fast ganz unterdrückten Artikels verboten wurde. - -Clerambault aber wurde nur noch hartnäckiger. Gerade diejenigen, die ihr -ganzes Leben unterwürfig gewesen waren, werden die erbittertsten -Revolutionäre, wenn man sie dazu zwingt. Ich erinnere mich, einmal ein -großes Lamm gesehen zu haben, das, von einem Hund beunruhigt, endlich -auf ihn losstürmte, und der Hund, durch diese unerwartete Umkehrung der -Naturgesetze erschreckt, floh vor Entsetzen und Angst bellend davon. Der -Köter Staat ist seiner Zähne zu sicher, um sich über ein paar -unbotmäßige Lämmer zu beunruhigen, aber das Lamm Clerambault berechnete -nicht mehr den Widerstand, sondern stieß mit dem Kopf kreuz und quer. -Die Eigentümlichkeit schwacher aber edler Herzen ist es, ohne Übergang -aus einer Übertreibung in die andere zu verfallen. Aus dem Übermaß eines -Massengefühls war Clerambault mit einem Ruck zu einem Übermaß des -isolierten Individualismus hinübergesprungen, und eben weil er die -Geißel des Gehorsams so gut kannte, sah er überall nur sie, diese -soziale Suggestion, deren Folgen in allen Gesellschaftsklassen gleich -sichtbar waren: die heroische Passivität der Armeen, die man bis zum -Irrsinn gepriesen hatte, die Millionen der von der Hauptschar -eingeschlossenen Ameisen, die Unterwürfigkeit der Parlamente, die den -Chef der Regierung zwar mißachteten, aber doch solange mit ihrer Stimme -unterstützten, bis zufällig einmal der Ausbruch eines einzelnen -Revoltierenden eine Explosion hervorrief, die griesgrämige, aber doch -militärische Unterwürfigkeit selbst der linksstehenden Parteien, die dem -absurden Idol einer abstrakten Einigkeit selbst ihre -Existenzberechtigung aufopfern. Und diese Leidenschaft, den eigenen -Willen preiszugeben, war für ihn der Feind. Er erkannte seine Aufgabe -darin, den Zweifel zu erwecken, den Geist, der die Kette zernagt, und -möglicherweise den großen Wahn zu zerstören. - - § - -Die Wurzel des Übels war die Idee der Nation. Und diese geschwürige -Stelle durfte man nicht anrühren, ohne daß die Bestie aufschrie. -Clerambault attackierte sie schonungslos. - -„... Was habe ich mit euren Nationen zu tun? Ihr verlangt von mir, ich -solle einzelne Völker lieben und einzelne hassen. Ich liebe oder hasse -Menschen. Und es gibt innerhalb jeder Nation vornehme, niederträchtige -und mittelmäßige, nur daß in jeder einzelnen Nation die vornehmen und -die niederträchtigen selten sind, die mittelmäßigen dagegen die große -Masse bilden. Ich liebe einen Menschen oder liebe ihn nicht um -dessentwillen, was er ist, und nicht dafür, was die anderen sind. Und -gäbe es in einer Nation nur einen einzigen Menschen, den ich liebe, so -würde mir das schon genug sein, um sie nicht als Gesamtheit zu -verurteilen. — Ihr sprecht mir von den Kämpfen und dem eingebornen Haß -der Rassen? Die Rassen sind die Farben im Prisma des Lebens, erst aus -ihrem leuchtenden Zusammenspiel entsteht das Licht. Wehe dem, der dieses -Prisma bricht! Ich gehöre nicht einer Rasse an, ich gehöre dem Leben, -dem ganzen Leben. Ich habe Brüder bei allen Nationen, ob sie freundlich -oder feindlich sind, und die mir zunächst Stehenden sind nicht immer -jene, die ihr mir als Landsleute aufzwingen wollt. Die seelischen -Familien sind über die ganze Welt hin zerstreut. Führen wir sie wieder -zusammen! Unsere Aufgabe ist es, die chaotischen Nationen zu zerstören -und an ihrer Stelle harmonische Gruppen zu bilden. Nichts wird dies -verhindern können, und selbst die Verfolgungen werden aus dem -allgemeinen Leiden nur die allgemeine Liebe der gemarterten Völker -formen.“ - -Und andere Male betonte er in schonungsloser Weise seine persönliche -Loslösung von dem Wettstreit der Nationen, obwohl er die Idee der Nation -nicht leugnete, ja sogar als eine natürliche Tatsache anerkannte; denn -Clerambault versteifte sich nicht auf die Logik, ihm kam es nur darauf -an, das Götzenbild durch alle Lücken seines Harnisches zu treffen. Diese -seine Haltung war nicht minder gefährlich. - -„Ich kann keinen Anteil nehmen an den Streitigkeiten eurer Nationen um -die Überlegenheit. Mir ist es gleichgültig, ob im Wettrennen diese oder -jene Farbe den Sieg behält. Wer auch gewinnt, es ist doch immer die -Menschheit, die den Sieg davonträgt. Für mich ist es nur gerecht, daß -das lebendigste, das klügste, das arbeitsamste Volk in dem friedlichen -Kampfe der Arbeit den Triumph erringe. Entsetzlich dagegen wäre, wenn -die zurückgedrängten Nebenbuhler oder diejenigen, die eine -Zurückdrängung befürchten, zur Gewalt griffen, um sich die Konkurrenz -vom Halse zu schaffen. Dies würde die Unterordnung des Interesses aller -Menschen unter einen geschäftlichen Gesichtspunkt bedeuten. Das -Vaterland ist aber kein geschäftlicher Gesichtspunkt. Es ist nun gewiß -traurig, daß das Aufsteigen der einen Nation den Niedergang der anderen -verursacht, aber warum sagt ihr nicht, wenn der große Handel des eigenen -Landes den kleinen Handel des eigenen Landes zugrunde richtet, dies sei -ein Majestätsverbrechen gegen den Staat? Und doch richtet dieser Kampf -viel traurigere und unverdientere Verheerungen an. Das ganze -gegenwärtige ökonomische Gesellschaftssystem der Welt ist verhängnisvoll -und lasterhaft, hier müßte man mit der Heilung einsetzen. Der Krieg -aber, der versucht, den glücklicheren oder geschickteren Konkurrenten -zugunsten des ungeschickteren oder trägeren zu begaunern, vergrößert nur -die Mängel dieses Systems, denn er bereichert einzelne Wenige und -ruiniert die ganze Gemeinschaft. - -Es ist unmöglich, daß alle Völker auf derselben Straße im selben Schritt -vorwärtsmarschieren. Abwechselnd überholen bald die einen die anderen -und werden wieder selbst überholt. Aber was tut es, wenn sie nur im -selben Zuge schreiten! Nur keine dumme Eigenliebe! Der Pol der -Weltenergie verändert ständig seine Stelle, selbst im gleichen Lande -verlegt er oft seinen Ruhepunkt. In Frankreich ist er von der römischen -Provence an die Loire der Valois übergegangen, jetzt ist er in Paris, -wird aber nicht immer dort bleiben. Die ganze Erde gehorcht einem -wechselnden Rhythmus fruchtbaren Frühlings und einschlummernden -Herbstes, die großen geschäftlichen Routen bleiben nicht unveränderlich, -und die Schätze unter der Erde sind nicht unerschöpflich. Ein Volk, das -sich durch Jahrhunderte ohne zu rechnen verausgabt hat, geht durch -seinen Glanz dem Ende entgegen. Es kann sich nur erhalten, wenn es auf -die Reinheit seines Blutes verzichtet und sich den anderen vermengt. Es -ist zwecklos, es ist verbrecherisch, seine vergangene Zeit der Reife -angeblich verlängern zu wollen, indem man andere hindert heranzuwachsen -oder, wie unsere alten Leute von heutzutage, die Jungen in den Tod -schickt. Das macht sie nicht jünger, aber sie töten die Zukunft damit. - -Ein gesundes Volk versucht, statt sich gegen die Lebensgesetze entrüstet -aufzulehnen, sie zu verstehen. Es sieht seinen wahren Fortschritt nicht -im stupiden Willen, durchaus nicht alt werden zu wollen, sondern in -einer unablässigen Bemühung, mit dem Alter fortzuschreiten, anders und -größer zu werden. Jedes Alter hat seine Aufgabe. Ein ganzes Leben sich -an die selbe anzuklammern, ist Faulheit und Schwäche. Lernt euch zu -verwandeln, der Wandel ist das Leben. Die Werkstätte der Menschheit hat -Arbeit für alle! So arbeiten wir Völker jedes für seinen Teil, und jedes -sei stolz auf die Arbeit aller. Die Mühe und das Genie aller anderen -sind auch die unseren.“ - - § - -Diese Artikel erschienen da und dort, wo es ihnen eben gelang, in -irgendeinem jener kleinen fortschrittlichen, anarchistischen oder -literarischen Blätter unterzukommen, in denen sonst die gewalttätigen -Angriffe gegen Einzelpersonen den wohlbedachten Kampf gegen das Regime -zu ersetzen versuchten. Die Aufsätze waren fast ganz unleserlich, so -hatte die Zensur sie zugerichtet, die übrigens, wenn der Artikel dann in -einer anderen Zeitung nachgedruckt wurde, manchmal mit launischer -Vergeßlichkeit das durchrutschen ließ, was sie gestern verboten hatte, -und das wieder wegschnappte, was sie gestern hatte durchgehen lassen. Es -gehörte eine wirkliche Anstrengung dazu, ihren Sinn zu erfassen. -Seltsamerweise waren es aber nicht die Freunde, sondern die Gegner -Clerambaults, die sich dieser Mühe unterzogen. In Paris sind sonst die -Polemiken von kurzer Dauer, denn die gefährlichsten Gegner, die wahrhaft -Geschulten im Federkrieg, wissen sehr genau, daß Schweigen mehr schadet -als Beschimpfung, und so gebieten sie oft ihrer Gehässigkeit Stille, um -sich gewissere Wirkung zu sichern. - -Aber in der hysterischen Krise, die damals die Seelen Europas -schüttelte, gab es keine Richtschnur mehr, nicht einmal mehr eine für -den Haß. Die Heftigkeit der Attacken Octave Bertins brachte Clerambault -jeden Augenblick wieder der Öffentlichkeit in Erinnerung. Es half -nichts, daß Bertin selbst verächtlich die anderen aufforderte: „Reden -wir nicht mehr davon!“ Er redete selbst davon am Ende jedes einzelnen -Artikels, in dem er seine Galle entlud. - -Nun kannte Bertin zu genau alle geheimen Schwächen, alle geistigen -Mängel und alle kleinen Lächerlichkeiten seines einstigen Freundes, als -daß er sich das Vergnügen versagen konnte, sie mit sicherem Pfeil zu -treffen. Clerambault, im Tiefsten verwundet und nicht klug genug, seinen -Ärger zu verbergen, ließ sich in den Kampf hineinreißen, antwortete und -zeigte, daß auch er den anderen bis aufs Blut verletzen könne. Eine -brennende Gehässigkeit brach zwischen den beiden los. - -Das Resultat war vorauszusehen. Bisher war Clerambault ungefährlich -gewesen. Er beschränkte sich im ganzen auf die sittliche Abhandlung, -seine Polemik trat nicht aus dem gedanklichen Kreis hervor und hätte -ebensogut sich auf Deutschland, England oder auf das Rom von einst -beziehen können wie auf das Frankreich von heute. In Wahrheit verstand -er eigentlich höchst wenig von den politischen Dingen, über die er sich -verbreitete, ebensowenig wie neun Zehntel aller Männer seiner -Gesellschaftsklasse und seines Berufes. So konnte auch das, was er -aufspielte, nicht die Herren der Stunde verwirren. Der lärmende -Federkrieg Clerambaults und Bertins aber, inmitten des Durcheinanders -und Getöses der Zeitungen, hatte eine doppelte Folge. Einerseits -gewöhnte er Clerambault in seinem Gefecht zu feinerer Technik, und das -zwang ihn, sich einen sichereren Grund unter den Füßen zu suchen als den -der bloß logischen Streitigkeiten, andererseits brachte er ihn in -Zusammenhang mit Männern, die die Tatsachen besser kannten und ihm -Unterlagen für seine Aufsätze brachten. Seit einiger Zeit hatte sich in -Frankreich ein kleiner, halb unterirdischer Zirkel gebildet, der sich -mit einer unbeeinflußten Untersuchung und freien Kritik des Krieges und -seiner Ursachen befaßte. Der Staat, der sonst so wachsam jeden Versuch -freien Denkens zermalmte, hielt diese klugen, ruhigen Menschen, die -meist Gelehrte waren, kein lärmendes Aufsehen zu bewirken suchten und -sich mit Privatdebatten begnügten, für ungefährlich. Es schien ihm -politischer, sie bloß zu bewachen, als zwischen vier Mauern -einzusperren. Aber er täuschte sich in seiner Berechnung. Ist einmal die -Wahrheit in bescheidener Mühe gefunden, und sei sie auch nur fünf oder -sechs Menschen offenbar, so kann sie nicht mehr entwurzelt werden: sie -steigt aus der Erde mit unwiderstehlicher Kraft. Clerambault erfuhr -damals zum erstenmal, daß es solche leidenschaftliche Wahrheitssucher -gab, die an jene aus der Zeit des Dreyfusprozesses erinnerten, und ihr -geheimes Apostolat unter der allgemeinen Unterdrückung erinnerte ihn -irgendwie an die kleine christliche Gemeinschaft zur Zeit der -Katakomben. Mit ihrer Hilfe entdeckte er jetzt neben den -Ungerechtigkeiten auch die Lüge des „großen Krieges“. Bisher hatte er -davon nur ein dunkles Vorgefühl gehabt, doch vermochte er nicht zu -ahnen, bis zu welchem Grade unsere nächste Zeitgeschichte gefälscht -worden war. Sein Entsetzen war ungeheuer. Selbst in den Stunden -eindringlichster Prüfung hatte sich seine naive Vorstellungsweise -niemals die trügerischen Untergründe ausdenken können, auf denen ein -solcher Kreuzzug für das Recht beruhte. Und da er nicht der Mann war, -seine Entdeckung für sich zu behalten, schrie er sie in Aufsätzen offen -aus, die sofort von der Zensur untersagt wurden, schob sie dann in -satirischer, ironischer oder symbolischer Form in kleine Erzählungen und -Fabeln in der Art Voltaires ein, die manchmal infolge Unachtsamkeit des -Zensors glücklich durchgingen, aber Clerambault den Machthabern als -einen ausgesprochen gefährlichen Menschen erscheinen ließen. - -Die ihn zu kennen meinten, waren sehr von ihm überrascht. Von seinen -Gegnern war er bisher allgemein als Sentimentaler behandelt worden, der -er ja auch im Grunde gewiß war. Weil er es aber wußte und gleichzeitig -Franzose war, besaß er die Gabe, selbst darüber zu lachen und sich -lustig zu machen. Deutschen Sentimentalen mag es passen, blindlings an -sich zu glauben; aber im Grunde der Seele des so beredten und -empfindsamen Clerambault wachte der Blick des Galliers, der immer auf -der Hut ist im tiefsten Dickicht seiner großen Wälder, der beobachtet, -nichts übersieht und immer bereit ist, zu lachen. Und das Seltsamste -war, daß dieser urhafte Trieb gerade in jenem Augenblick bei ihm -ausbrach, wo man es am wenigsten erwartet hätte, in der Zeit der -härtesten Prüfung und drohenden Gefahr. Das Gefühl für das Lächerliche -der Welt belebte Clerambault gleichsam von neuem. Sein Charakter bekam -plötzlich, kaum daß er sich von den Konventionen, in denen er gefangen -war, freigemacht hatte, eine lebendige Vielfalt. Gut, zärtlich, -kampfsüchtig, reizbar, über das Ziel hinausschießend, den Mißgriff -anerkennend und heiter darüber hinweggehend, sentimental, ironisch, -skeptisch und gläubig — immer erstaunte er selbst von neuem, wenn er -sich im Spiegel dessen sah, was er schrieb. Sein ganzes Leben, das er -bisher vorsichtig und bürgerlich in sich verschlossen hatte, brach nun, -durch die moralische Einsamkeit und die gesunde Luft des Kampfes -verstärkt, aus ihm heraus. - -Und Clerambault merkte, daß er sich selber nicht kannte. Er war wie -neugeboren seit jener Nacht der Angst, er hatte eine Art Freude kennen -gelernt, von der er nie gewußt hatte, die schwindelige und losgelöste -Freude des freien Mannes im Kampfe. Alle seine Sinne waren wie ein -Bogen, gut und straff gespannt. Und er genoß im Tiefsten dieses -vollkommene Wohlgefühl. - - § - -Jene aber in seiner nächsten Umgebung hatten von diesem Wohlergehen -keinen Gewinn. Frau Clerambault bekam von dem Kampf nur die -Unannehmlichkeiten zu fühlen, eine allgemeine Feindseligkeit, die -schließlich selbst bei den kleinen Lieferanten ihres Bezirkes zutage -trat. Rosine siechte sichtlich dahin. Die Wunden ihres Herzens, die sie -verbarg, ließen sie schweigend verbluten. Sie selbst beklagte sich nie, -aber ihre Mutter tat es für zwei. Ihre Verbitterung erstreckte sich -gleicherweise auf die Dummköpfe, die sie beschimpften, und den -unvorsichtigen Clerambault, der ihr diese Beschimpfung einbrachte. Bei -jeder Mahlzeit gab es ungeschickte Vorwürfe, die ihn zum Schweigen -bewegen sollten. Aber sie richtete nichts aus, die stummen wie die -lärmenden Anklagen glitten machtlos an Clerambault ab. Zweifellos war er -oft traurig und bedrückt, aber er gab sich jetzt ganz der Leidenschaft -des Kampfes hin, und ein unbewußter, ja sogar ein wenig kindlicher -Egoismus ließ ihn alles ausschalten, was ihm dieses neue Vergnügen hätte -stören können. - -Äußere Umstände kamen Frau Clerambault zu Hilfe. Eine alte Verwandte, -die sie aufgezogen hatte, starb und hinterließ den Clerambaults ihren -kleinen Besitz im Berry, den sie bewohnt hatte. Frau Clerambault -benützte diesen Trauerfall, um sich von Paris zu entfernen, das ihr -jetzt zum Abscheu geworden war, und vor allem um ihren Mann diesem -gefährlichen Milieu zu entreißen. Sie schützte außer ihrem Schmerz -praktische Gründe und die Gesundheit Rosinens vor, der diese -Luftveränderung gut tun würde. Clerambault gab nach. Sie reisten alle -drei ab, um ihre kleine Erbschaft in Besitz zu nehmen, und blieben den -Sommer und Herbst über im Berry. - -Das altbürgerliche Haus lag auf dem Lande, am Ausgang eines Dorfes. Aus -der Erregung von Paris war Clerambault plötzlich in eine stockende Ruhe -versetzt. Die Stille der Tage unterbrach nur der Ruf der Hähne in den -Bauernhöfen, das Brüllen des Viehes auf der Weide. Aber das Herz -Clerambaults war zu sehr fieberhaft geworden, um sich dem friedfertigen -und langsamen Rhythmus der Natur anzupassen. Einst hatte er ihn bis zur -Vergötterung geliebt, einst war er in Harmonie mit dem Landvolk gewesen, -dem seine eigene Familie entstammte, aber heute machten ihm die Bauern, -mit denen er zu sprechen versuchte, den Eindruck von Menschen eines -anderen Planeten. Zwar waren sie nicht vom Kriegsgift verseucht, sie -zeigten keine Leidenschaft und keinen Haß gegen den Feind, aber sie -zeigten auch keinen gegen den Krieg. Sie nahmen ihn als eine Tatsache -hin, ließen sich nichts über ihn vormachen (gewisse Bemerkungen voll -gutmütiger Ironie verrieten, daß sie wußten, was er wert sei), aber -zunächst beschränkten sie ihre Bemühung darauf, ihn auszunützen. Sie -machten gute Geschäfte. Sie verloren zwar ihre Söhne, aber sie verloren -nicht ihr Hab und Gut. Wenn ihre Trauer sich auch nicht sehr -offensichtlich ausdrückte, so konnte man ihnen doch deutlich anmerken, -daß sie für das Leid nicht unempfindlich waren. Aber schließlich: ein -Menschenleben geht dahin und die Erde bleibt. Sie hatten wenigstens -nicht wie die Bourgeoisie der Städte ihre Kinder aus nationalem -Fanatismus in den Tod geschickt, aber, sobald es einmal geschehen war, -wußten sie ihre Opfer in gute Werte umzusetzen und wahrscheinlich hätten -das sogar ihre hingeopferten Söhne ganz natürlich gefunden. Muß man -denn, wenn man das, was man liebt, verliert, immer auch gleich den Kopf -dazu verlieren? Die Bauern hatten ihn nicht verloren. Man erzählt, der -Krieg habe im französischen Flachland etwa eine Million neuer -Grundbesitzer geschaffen. Die Gedankenwelt Clerambaults fühlte sich hier -ganz einsam und ausgeschlossen. Sein Denken und das ihre sprachen nicht -dieselbe Sprache. Hie und da tauschten sie mit ihm einige allgemeine -bekümmerte Reden aus. Aber die Bauern beklagen sich ja immer, wenn sie -mit dem Städter sprechen. Es ist bei ihnen schon so Sitte, eine Art, -sich gegen einen möglichen Appell an ihren Geldsack zu schützen. Sie -hätten im selben Ton über Maul- und Klauenseuche gesprochen. Clerambault -blieb für sie der Pariser. Was immer sie auch denken mochten, ihm hätten -sie es nie gesagt. Er war für sie von einer anderen Rasse. - -Dieses Fehlen jeder Resonanz erstickte das Wort Clerambaults. Leicht zu -beeinflussen, wie er war, kam er dahin, es selbst nicht mehr zu hören. -Stille war um ihn. Die Stimmen der unbekannten und fernen Freunde, die -ihn zu erreichen versuchten, wurden durch die Spionage der Post -aufgefangen — einen jener Schandmale, mit dem sich diese Zeit entehrt -hat. Unter dem Vorwand, die Spionage des Auslandes zu unterdrücken, -machte der Staat damals aus seinen eigenen Bürgern Spione. Er begnügte -sich nicht damit, die Politik zu überwachen, er vergewaltigte auch das -Denken und erzog seine Agenten zum gemeinen Dienst von Horchern an der -Wand. Die Vorteile, die er ihnen für eine solche Niedrigkeit bot, -erfüllten bald das Land (alle Länder) mit freiwilligen Spitzeln, Leuten -der guten Gesellschaft, drückebergerischen Schriftstellern in großer -Zahl, die ihre Sicherheit dadurch erkauften, daß sie die der andern -verrieten und ihre Angebereien mit dem Worte „Vaterland“ deckten. Dank -diesen Angebern war es den frei Denkenden, die sich suchten, nicht -möglich, einander die Hände zu reichen. Das ungeheure Untier Staat hatte -eine mißtrauische Angst vor dem halben Dutzend freier, alleinstehender, -schwacher machtloser Menschen, so sehr brannte es der Dorn seines -schlechten Gewissens. Und jede dieser freien Seelen siechte hin in ihrem -Kerker, umschlossen von einer unsichtbaren Überwachung. Und da einer vom -anderen nicht wußte, daß sie alle das gleiche litten, starben sie -langsam hin in ihrer eisigen Einsamkeit, ihrer Verzweiflung. - -Die Seele, die Clerambault in seinem eigenen Leibe trug, war zu -brennend, um sich durch dieses Leichentuch von Schnee ersticken zu -lassen. Aber die Seele allein reicht nicht aus in solchen Krisen. Der -Körper ist eine Pflanze, die der menschlichen Erde bedarf. Der Sympathie -beraubt, gezwungen, sich von seiner eigenen Substanz zu nähren, kränkelt -er hin. Alle Überlegungen Clerambaults, mit denen er sich zu beweisen -suchte, daß sein Gedankengang jenem von Tausenden Unbekannten -entspräche, konnten nicht den lebendigen, leibhaftigen Kontakt mit einem -einzigen schlagenden Herzen ersetzen. Der Geist kann sich mit dem -Glauben begnügen. Aber das Herz ist der ungläubige Thomas, der berühren -muß, um zu glauben. - -Clerambault hatte diese seine physische Schwäche nicht vorausgesehen. Es -war wie eine Erstickung: die Haut wird trocken, das Blut vom brennenden -Körper aufgesogen, die Quellen des Lebens versiegen im luftleeren Raum. - -Da geschah es eines Abends, als er wie ein Schwindsüchtiger an einem -drückenden Tage von Zimmer zu Zimmer auf der Suche nach einem Atemzug -frischer Luft durch das Haus geirrt war, daß ein Brief ankam, dem es -gelungen war, zwischen den Maschen des Netzes durchzuschlüpfen. Ein Mann -etwa seines Alters, ein Dorflehrer in irgendeinem verlorenen Tale des -Dauphiné, schrieb ihm: - -„Der Krieg hat mir alles genommen. Von denen, die ich kannte, hat er die -einen getötet, die anderen erkenne ich nicht mehr. Auf allem, was mir -einst das Leben lebenswert erscheinen ließ, auf meiner Hoffnung eines -Fortschrittes, auf meinem Vertrauen in eine Zukunft geistiger -Brüderlichkeit, stampfen sie mit ihren Füßen herum. Ich siechte hin vor -Verzweiflung, als ich durch einen Zufall dank einer Zeitung, die Sie -beschimpfte, Ihre Aufsätze „Ihr Toten“ und „An die einst Geliebte“ -kennen lernte. Ich habe sie gelesen und vor Freude geweint. Man ist also -doch nicht ganz allein? Man leidet also doch nicht allein? Und nicht -wahr, mein Herr, Sie glauben noch an diesen Glauben, sagen Sie es mir, -Sie glauben doch noch an ihn? Er lebt also immer noch und sie werden ihn -nicht töten können? Ach, wie wohl das tut, ich fing schon an zu -zweifeln! Verzeihen Sie es mir, aber man ist alt, man ist allein, man -ist recht müde.... Ich segne Sie, mein Herr. Jetzt werde ich ruhig -sterben können, jetzt weiß ich, dank Ihnen, daß ich mich nicht getäuscht -habe!“ - -Und es war sofort, als ob die Luft durch irgendeine plötzliche Öffnung -einbräche. Die Lunge spannte sich aus, das Herz begann wieder zu -schlagen, die Quelle des Lebens wieder zu sprudeln, um das -ausgetrocknete Strombett der Seele von neuem zu füllen. O wie doch immer -ein liebender Mensch des andern bedarf! Du Hand, zu mir hinübergereicht -in der Stunde der Angst, du Hand, die du mich fühlen ließest, daß ich -nicht ein abgerissener Zweig war vom Baum des Lebens, sondern -hinabreiche bis zu seinem Herzen — ich rette dich und du rettest mich. -Ich gebe dir meine Kraft und sie stirbt hin, wenn du sie nicht nimmst. -Die einsame Wahrheit ist wie ein Funke, der als einziger, züngelnd und -vergänglich vom Kiesel springt. Wird er nicht verlöschen? Nein. Er hat -eine andere Seele berührt, und ein Stern flammt in der Tiefe des -Horizonts auf. - - § - -Nur einen Augenblick war es Clerambault vergönnt, ihn zu sehen. Dann -trat er hinter dem Gewölk zurück und verschwand für immer. - -Clerambault schrieb noch am selben Abend dem unbekannten Freunde. Er -vertraute ihm mit voller Hingabe seine Prüfungen und seine gefährlichen -Überzeugungen an. Der Brief blieb ohne Antwort. Nach einigen Wochen -schrieb Clerambault nochmals, hatte aber auch diesmal keinen Erfolg; -doch sein Hunger nach einem Freund, mit dem er leiden und hoffen konnte, -war so gierig geworden, daß er mit der Eisenbahn nach Grenoble fuhr und -von dort zu Fuß bis zu dem Dorf ging, dessen Adresse er bewahrt hatte. -Aber als er, das Herz schon ganz selig über die Überraschung, die er -bereiten würde, an die Tür der Schule klopfte, verstand der Mann, der -ihm auftat, nichts von dem, was er ihm sagte. Nach kurzer -Auseinandersetzung erfuhr er, daß der Lehrer, mit dem er sprach, neu in -das Dorf gekommen sei. Sein Vorgänger war vor einem Monat versetzt und -strafweise in eine entfernte Gegend geschickt worden, aber es blieb ihm -erspart, die Reise zu machen. Eine Lungenentzündung hatte ihn am Tage, -ehe er den Ort verlassen sollte, den er dreißig Jahre bewohnt, -dahingerafft. Nun durfte er noch weiter darin wohnen, aber unter der -Erde. Clerambault sah das Kreuz auf dem noch frischen Hügel und erfuhr -niemals, ob der entschwundene Freund wenigstens seine zärtlichen Worte -empfangen hatte. Es war besser für ihn, im Zweifel zu verharren, denn -niemals hatte der entschwundene Freund seine Briefe erhalten, selbst -jenes letzten Lichtscheins hatte man ihn beraubt. - - § - -Das Ende jenes Sommers im Berry war eine der unfruchtbarsten Epochen im -Leben Clerambaults. Er sprach mit niemandem mehr, er schrieb nicht mehr. -Mit der arbeitenden Bevölkerung in direkten Verkehr zu kommen, bot sich -keine Möglichkeit. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo er vordem dem -Volke nahetreten konnte (bei Massenaufläufen, bei Festlichkeiten und bei -der Arbeit an der Volksuniversität), war es ihm immer lieb geworden. -Aber eine Scheu, übrigens eine, die beiderseitig war, hinderte ihn, sich -ganz hinzugeben. Beide Teile hatten immer das bald stolze, bald -peinliche Gefühl der eigenen Minderwertigkeit. Denn Clerambault dünkte -sich in vielen Dingen, und zwar in den wesentlichsten, geringwertiger, -als die intelligenten Arbeiter (und er hatte auch recht, denn aus ihren -Reihen werden die Führer der Zukunft erstehen). Unter der Auslese der -Arbeiterschaft gab es damals anständige und männliche Geister, die -Clerambault wohl hätte verstehen können. Mit ihrem ungebrochenen -Idealismus hielten sie sich fest an die Wirklichkeit und, gewöhnt an den -täglichen Kampf, seine Täuschungen und seinen Betrug, hatten sich diese -Männer, von denen einige, obzwar noch jung, schon Veteranen im sozialen -Kampf waren, zur Geduld erzogen. Sie hätten Clerambault darin belehren -können. Diese Leute wußten wohl, daß alles erarbeitet sein muß, daß man -nichts umsonst bekommt, daß alle diejenigen, die das Glück der -zukünftigen Generation wollen, es mit ihren persönlichen Leiden bezahlen -müssen. Sie wissen, daß der geringste Fortschritt nur Schritt für -Schritt erobert wird und oft zwanzigmal verloren geht, ehe er endgültig -erreicht wird. (Es gibt ja nichts wirklich Endgültiges...) Clerambault -hatte großes Verlangen nach diesen Menschen, die stark und geduldig wie -die Erde waren. Und seine heiße Intelligenz hätte sie bestrahlt und -erwärmt. - -Aber zwischen ihnen und ihm bestand das altväterliche, verletzende und -der Gemeinschaft nicht weniger als dem Einzelnen verhängnisvolle System -der Kasten, das zwischen den angeblich gleichen Bürgern unserer -verlogenen Demokratien steht, und das aus der übergroßen Verschiedenheit -der Vermögensverhältnisse, der Erziehung und der Lebensform stammt. -Zwischen den einzelnen Kasten bestand nur eine Verbindung durch die -Journalisten, die, eine Kaste für sich bildend, weder die eine noch die -andere wirklich darstellten. Einzig die Stimme der Zeitungen durchhallte -das Schweigen Clerambaults. Nichts war imstande, ihr „Quorax quorax -breke-ke-kex“ zu stören. - -Die unglücklichen Folgen einer neuen Offensive fanden die Journale wie -immer unerschütterlich auf ihrem Posten. Wieder einmal waren die -optimistischen Orakel der Hinterlandspriester zunichte geworden, aber -niemand schien es zu bemerken. Sie ließen nur andere Orakel folgen, die -mit der gleichen Zuversicht verabreicht und verschluckt wurden. Weder -diejenigen, die sie schrieben, noch die, die sie lasen, wollten -eingestehen, daß sie sich getäuscht hatten, und, so aufrichtig sie auch -gegen sich sein mochten, sie merkten nichts davon. Sie erinnerten sich -selber nicht mehr an das, was sie tags zuvor gesagt hatten. Und wie -wollte man auch dies seltsame Wesen mit dem Vogelgehirn fassen? Kopf -oben, Kopf unten — man mußte schließlich ihre Gabe anerkennen, nach -allen Kapriolen immer wieder auf die Füße zu fallen. Jeden Tag hatten -sie eine andere Überzeugung. Sie brauchte nicht dauerhaft zu sein, -nachdem man am anderen Tage wieder eine andere hatte. Zu Ende des -Herbstes begann man in den Zeitungen, um die sinkende Moral des -Hinterlandes, die bei dem Vorgefühl des traurigen Winters nachzugeben -begann, wieder neu zu kräftigen, eine neue Propaganda deutscher Greuel. -Sie erfüllte vortrefflich ihren Zweck. Das Thermometer der öffentlichen -Meinung stieg plötzlich wieder zur Fiebertemperatur auf. Selbst in dem -friedlichen Städtchen des Berry äußerten sich während einiger Wochen -alle Leute in erbittertster Weise. Sogar der Priester steuerte sein -Scherflein bei und hielt eine Rachepredigt. Clerambault, der es von -seiner Frau beim Mittagessen erfuhr, sprach seine Ansicht darüber in -Gegenwart des bedienenden Mädchens ohne Rücksicht aus. Am Abend wußte -schon das ganze Dorf, daß er ein Boche sei, und seitdem konnte es -Clerambault jeden Morgen an seiner Tür angeschrieben lesen. Die Laune -Frau Clerambaults wurde dadurch nicht gebessert. Rosine wiederum, die in -ihrem jugendlichen Kummer über die getäuschte Liebe eine religiöse Krise -durchmachte, war zu sehr mit ihrem eigenen Schmerz und seinen -Verwandlungen beschäftigt, um an die Qual der anderen zu denken. Selbst -die zärtlichsten Naturen haben ihre Stunde eines naiven und vollkommenen -Egoismus. - - § - -Ganz allein sich selbst hingegeben und der Möglichkeit des Wirkens -beraubt, wandte Clerambault sein ganzes fieberndes Denken gegen sich. -Nichts konnte ihn nunmehr auf dem Wege der bitteren Wahrheit -zurückhalten, nichts mehr ihr grausam scharfes Licht abdämpfen. Er -fühlte in sich die brennende Seele jener _fuorusciti_, die, verstoßen -aus den Mauern ihrer harten Stadt, sie von außen mit mitleidslosen Augen -betrachteten. Nun war es nicht mehr die schmerzhafte Vision jener ersten -Nacht der Prüfung, da die blutenden Wunden ihn noch mit seinem -menschlichen Kreise verbanden. Jetzt waren alle Bande gelöst. Sein -überklarer Geist schwebte, den Abgrund umkreisend, immer tiefer in -langsamen Spiralen einsamen Schweigens in die Hölle hinab.... - -„Ich sehe euch, ihr Herden, ihr Völker, ihr Myriaden Wesen, die ihr es -nötig habt, euch wie Austern zusammenzudrängen, nur um euch vermehren -und denken zu können. Jede eurer Gruppen hat ihren besonderen Geruch, -der ihr heilig scheint. Ganz wie bei den Bienen, wo die Ausdünstung der -Königin die Einheit des Bienenstockes und die Arbeitsfreude schafft. -Ganz wie bei den Ameisen: Wer dort nicht riecht wie das Ich und seine -Rasse, wird getötet. Ihr Menschenwaben, jede von euch hat ihren -besonderen Geruch von Rasse, Religion, Moral und althergebrachten -Sitten. Dieser Geruch durchdringt eure Körper, euer Werk und eure Brut. -Er bestimmt euer Leben von der Geburt bis zum Tode. Weh dem, der ihn von -sich abzuwaschen sucht. - -Wer die Dumpfheit dieses Bienenschwarmgedankens, diesen Schweiß -berauschter Nächte eines Volkes recht genießen will, möge doch einmal -die Gebräuche und Glaubensformeln aus der Distanz der Geschichte -betrachten; er möge sich von Herodot, dem ironischen Spötter, den Film -der menschlichen Verirrungen aufrollen lassen, das lange Panorama der -bald erbärmlichen, bald lächerlichen, aber immer hochgeehrten Gebräuche -bei den Skythen, Issedonen, Geten, Nasomonen, Gindaren, Sauromaten, -Lydiern, Lybiern und Ägyptern, den Zweifüßlern aller Farben von Ost nach -West und von Nord nach Süd. Der Großkönig, ein kluger Kopf, fordert zum -Scherz die Griechen, die ihre Toten verbrennen, auf, sie zu verzehren, -und die Hindus wiederum, die sie verspeisen, sie zu verbrennen, und -belustigt sich dann über ihre beiderseitige Empörung. Der weise Herodot -aber verneigt sich vor seinem Publikum und, unmerklich lächelnd, enthält -er sich zwar eines Urteils, weist aber die zurecht, die sich über jene -lustig machen; denn: würde man allen Menschen vorschlagen, eine Wahl -unter den besten Gesetzen der verschiedenen Länder zu treffen, so würde -sich doch jeder für die seines Vaterlandes entscheiden, denn es ist -gewiß, daß jeder überzeugt ist, es gäbe keine besseren. Es gibt kein -wahreres Wort als jenes Pindars: ‚Die Gewohnheit ist die Königin aller -Menschen.‘ - -Jeder trinkt gern aus seinem Napf; so sollte er es wenigstens ertragen, -daß der andere aus dem seinigen trinkt. Aber gerade das Gegenteil gilt: -Um sich an dem seinen zu erfreuen, muß man dem andern in seinen Napf -spucken. So will es Gott, denn man braucht ja einen Gott — mag er sein -wie er sei, Mensch oder Tier, oder bloß ein Gegenstand, eine schwarze -oder rote Linie, oder wie im Mittelalter eine Amsel, ein Rabe, irgendein -Wappenschild — nur damit man dann auf ihn die eigenen Torheiten abladen -kann. - -Heute, da die Fahne das Wappenschild ersetzt hat, erklären wir uns frei -von jedem Aberglauben. Doch wann war er undurchdringlicher als heute? -Jetzt zwingt uns das neue Dogma der Gleichheit, genau so zu riechen wie -die anderen, wir haben nicht einmal mehr die Freiheit zu sagen, daß wir -nicht frei sind. Das wäre ein Gottesfrevel. Mit dem Tragsattel auf dem -Rücken muß man brüllen: ‚Es lebe die Freiheit!‘ Die Tochter des Königs -Cheops war auf Befehl ihres Vaters Dirne geworden, um mit dem Schandgeld -ihres Körpers die Pyramide aufrichten zu helfen. Um die Pyramide unserer -massigen Republiken zu errichten, müssen Millionen Bürger ihr Gewissen, -ihre Seele und ihre Körper der Lüge und dem Haß prostituieren.... Oh, -wir sind Meister in der großen Kunst des Lügens geworden!... Allerdings, -man hat ja immer gelogen, aber der Abstand zu jenen Frühern besteht -darin, daß sie sich ihrer Lüge bewußt waren, und es beinahe naiv -eingestanden wie ein natürliches Bedürfnis, das man — wie es ja bei den -Menschen des Südens Sitte ist — ungeniert in Gegenwart von -Vorübergehenden abtut. ‚Ich werde immer lügen‘, sagt ganz unschuldig -Darius, ‚denn wenn es nützlich ist zu lügen, so soll man sich darüber -keine Skrupel machen. Diejenigen, die lügen, wünschen dasselbe zu -erreichen wie jene, die die Wahrheit sagen: man lügt in der Hoffnung, -irgendeinen Gewinn davon zu haben, man sagt die Wahrheit, um daraus -Vorteil zu ziehen und sich das Vertrauen zu sichern. So gehen wir zwar -nicht den gleichen Weg, aber doch zum selben Ziele. Denn ohne Hoffnung -auf Vorteil wäre es ja für den, der die Wahrheit sagt, gleichgültig, zu -lügen, und für den, der lügt, ebensogut, er sagte die Wahrheit.‘ Aber -wir, meine lieben Zeitgenossen, wir sind bedeutend schamhafter. Wir -schauen uns selbst nicht zu, wenn wir auf offener Straße lügen... Wir -lügen hinter geschlossenen Türen und Fenstern, wir belügen uns selbst. -Aber wir gestehen es uns niemals ein, selbst nicht in aller Intimität. -Nein, nein, wir lügen nicht, wir „idealisieren“ nur.... Ach, ich möchte, -daß man euer Auge sehe und daß euer Auge sehend würde, ihr freien -Menschen! - -Frei! Worin, wovon seid ihr frei? Wer von euch ist heute frei innerhalb -eures gegenwärtigen Staates? Habt ihr die Freiheit, zu handeln? Nein, da -ja der Staat über euer Leben verfügt, euch zu Schlächtern oder -Hingeschlachteten macht. Seid ihr frei, zu sprechen und zu schreiben, -was ihr wollt? Nein, denn man sperrt euch ein, wenn ihr eure Gedanken -aussprecht. Seid ihr frei, wenigstens für euch allein zu denken? Nein, -außer ihr verbergt eure Gedanken gut, und selbst ein tiefer Keller ist -für sie nicht sicher genug. Schweigt! Hütet euch! Ihr seid gut -überwacht... Es gibt Galeerenhüter für die Tat: Unteroffiziere und -Betreßte. Und es gibt Galeerenhüter für den Geist: Kirchen und -Universitäten, die genau vorschreiben, was man glauben und was man -leugnen muß... Worüber beklagt ihr euch? (Aber ihr beklagt euch ja gar -nicht!) Macht euch ja kein Kopfzerbrechen, wiederholt nur die Worte des -Katechismus! - -Nun sagt ihr, daß dieser Katechismus in freier Wahl von dem -selbständigen und selbstherrlichen Volk genehmigt worden sei! Eine -schöne Selbstherrlichkeit! Einfaltspinsel, die die Backen aufblasen mit -ihrem Worte Demokratie... Demokratie, das ist die Kunst, sich an die -Stelle des Volkes zu setzen und ihm feierlich in seinem Namen, aber zum -Vorteil einiger guter Hirten die Wolle abzuscheren. In Friedenszeiten -weiß das Volk nichts von dem, was vorgeht, außer dem, was die Leute, die -ein Interesse daran haben, es zu prellen, ihm in ihren geknechteten -Zeitungen zu sagen Lust haben. Die Wahrheit ist unter Verschluß. In -Kriegszeiten macht man das besser, da ist das Volk unter Verschluß. -Selbst wenn es wirklich je gewußt hätte, was es will, so hat es doch -keine Möglichkeit mehr, ein Wort davon zu sagen. Kadavergehorsam... Zehn -Millionen Kadaver... und die Lebendigen taugen auch nicht viel mehr, -nachdem sie vier Jahre im niederdrückenden Regime von patriotischen -Aufschneidereien, von Jahrmarkts-Paraden gestanden haben und dem -Tam-Tam, den Drohungen, Betrügereien, Gehässigkeiten, Angebereien, -Hochverratsprozessen und dem Standgericht ausgesetzt waren. Die -Demagogen haben das letzte Aufgebot der Dunkelmännerei zusammengerafft, -um den letzten verzweifelten Lichtschein der Vernunft in ihren Völkern -zu ersticken und sie völlig zu verblöden. - -Ihnen genügt es nicht, sie zu knechten. Man muß die Völker so dumm -machen, daß sie selbst geknechtet sein wollen. Die gewaltigen -Autokratien Ägyptens, Persiens und Assyriens, die mit dem Leben von -Millionen ihr Spiel trieben, schöpften das Geheimnis ihrer Macht aus dem -übernatürlichen Glanz ihrer falschen Göttlichkeit. Jede absolute -Monarchie war unbedingt bis an die äußersten Grenzen der gläubigen -Jahrhunderte eine Theokratie gewesen. In unseren Demokratien aber ist es -unmöglich, an die Göttlichkeit irgend so eines Hanswursts, wie es unsere -höchst anrüchigen und mißachteten Minister sind, zu glauben. Man hat sie -zu sehr von der Nähe gesehen und kennt ihre Schäbigkeiten.... So haben -sie die Erfindung gemacht, die Götter hinter die Leinwand ihres -Jahrmarktzeltes zu stecken. Gott, das ist jetzt die Republik, das -Vaterland und die Gerechtigkeit, die Zivilisation. Am Eingang des Zeltes -sind sie aufgemalt, jede Jahrmarktsbude zeigt in mannigfachen Farben -ihre schöne Riesin, und die Millionen drängen sich nur so hinein, um sie -zu sehen. Freilich, was sie denken, wenn sie aus der Bude herauskommen, -das wird nicht gesagt, und sie wären selbst sehr verlegen, wenn sie sich -etwas dabei denken sollten. Die einen kommen überhaupt nicht mehr -heraus, die andern haben nichts gesehen. Nur jene, die draußen geblieben -sind vor der großen Bude, um zu gaffen, die sehen, für die ist Gott da -(schön aufgemalt). Die Götter sind nichts als das Verlangen, an sie zu -glauben. - -Warum aber dann die brennende Wut dieses Verlangens? Weil man die -Wirklichkeit nicht sehen kann. Oder eigentlich: gerade weil man sie -sieht. Das ist ja die ganze Tragik der Menschheit, daß sie nicht sehen -und nichts wissen will. Sie hat nur das verzweifelte Bedürfnis, -irgendwie ihren Schmutz göttlich zu machen. Wir aber wollen ihr ins -Gesicht sehen! - -Der Instinkt des Mordes ist in das Herz der Natur geschrieben. Ein -wahrhaft teuflischer Instinkt, weil er die Wesen nicht bloß geschaffen -zu haben scheint, um zu essen, sondern auch, um gegessen zu werden. Eine -Spielart des Kormorans nährt sich von Meerfischen. Die Fischer rotteten -nun diese Vögel aus, da verschwanden die Fische, denn sie wiederum -nährten sich von den Exkrementen der Vögel, die sich von ihnen nährten. -So ist die Kette der Wesen eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt -und sich selber frißt.... Wäre nun wenigstens nicht auch noch das -Bewußtsein geschaffen, daß der Mensch selbst dieser eigenen Marter -zusehen muß! Oh, wie dieser Hölle entfliehen?... Zwei Wege gibt es, zwei -einzige Wege, den Weg Buddhas, der den schmerzhaften Wahn des Lebens zum -Erlöschen bringt — und den Weg des religiösen Wahns, der über -Verbrechen und Schmerzen den Schleier einer blendenden Lüge wirft! Das -Volk, das die andern vernichtet, wird da zum auserwählten Volke, es -wirkt für seinen Gott. Das Gewicht der Ungerechtigkeiten, das die eine -Waagschale des Lebens niederdrückt, findet sein Gegengewicht im Jenseits -der Träume, wo alle Wunden und Qualen gelindert werden. Die Formen -dieses Himmelreiches sind verschieden von Volk zu Volk, von Zeit zu -Zeitalter, und diese Verschiedenheit nennt man dann Fortschritt. Aber es -ist doch immer ein und dasselbe Verlangen nach einem Wahn. Man muß -dieser furchtbaren Bewußtheit das Maul stopfen, die alles sieht und -Rechenschaft verlangt für jede Ungerechtigkeit des Gesetzes. Wirft man -ihr nun nicht rasch einen Brocken zum Fraße hin, irgendeinen Glauben, so -heult sie vor Hunger und Angst. Man muß glauben. Glauben oder -krepieren.... Und darum haben sich die Menschen zu Herden -zusammengedrängt, um sich gegenseitig zu bestärken und zu stützen. Um -aus ihren einzelnen persönlichen Zweifeln eine gemeinsame Sicherheit zu -machen. - -Was tun wir aber jetzt mit der Wahrheit? Die Wahrheit — jetzt ist sie -ja für jene der Feind. Freilich, das gestehen sie nicht ein. In einem -stillschweigenden Übereinkommen nennen sie Wahrheit das widerliche -Gemisch von ein bißchen Wahrheit und vieler Lüge, wobei das bißchen -Wahrheit dazu dient, die Lüge zu übertünchen, die Lüge und die -Knechtschaft, die ewige Knechtschaft... Nicht die Monumente des Glaubens -und der Liebe sind die dauerhaftesten, sondern weit mehr jene der -Knechtschaft. Reims und das Parthenon stürzen in Ruinen, aber die -Pyramiden Ägyptens inmitten der Wüste, den Luftspiegelungen und dem -wandernden Sand trotzen den Jahrhunderten... Wenn ich an die Tausende -unabhängiger Menschen denke, die der Geist der Knechtschaft im Laufe der -Jahrhunderte verschlungen hat — die Ketzer und Revolutionäre, die -Unbotmäßigen gegen Staat und Kirche —, so wundere ich mich nicht mehr -über die Mittelmäßigkeit, die nun über der Welt wie eine dicke fettige -Brühe schwimmt... - -Wir aber, die wir uns noch auf der düstern Oberfläche halten, die wir -noch nicht untergetaucht sind, was sollen wir gegenüber dieser -unbarmherzigen Welt tun, wo ewig der Starke den Schwächeren zermalmt und -ewig wieder einen noch Stärkeren findet, der ihn seinerseits vernichtet? -Sollen wir uns aus schmerzlichem Mitleid und aus Ermüdung zur -freiwilligen Hinopferung entschließen, oder sollen wir mittun an der -ewigen Erdrückung des Schwachen, ohne innerlich nur den Schatten einer -Erkenntnis zu haben von der blinden Grausamkeit des Weltalls? Was bleibt -uns denn sonst noch? Sollen wir etwa versuchen, uns aus dem -hoffnungslosen Kampf wegzuschleichen aus Egoismus oder aus Weisheit, die -ja doch nur eine andere Form des Egoismus ist?...“ - -In dieser Krise ätzenden Pessimismusses, die Clerambault in jenen -Monaten der menschenfremden Isolierung durchwühlte, sah er überhaupt -keine Möglichkeit des Fortschrittes mehr, jenes Fortschrittes, an den er -einst geglaubt hatte wie andere an den lieben Gott. Jetzt sah er die -menschliche Rasse einem mörderischen Geschick rettungslos geweiht. -Nachdem sie soviel andere Wesen auf ihrer Erde vernichtet hatte, war es -ihr Schicksal, sich nun mit eigener Hand zu vernichten und damit ein -Gesetz der Gerechtigkeit zu erfüllen. Denn der Mensch ist Herr dieser -Erde nur durch Raub, durch Betrug und Kraft geworden (hauptsächlich aber -durch Betrug), wertvollere Wesen, als er ist, sind vielleicht, gewiß -sogar, unter seinen Schlägen hingeschwunden, die einen hat er zerstört, -die anderen erniedrigt, zu Tieren gemacht. Seit den Tausenden von -Jahren, die er das Dasein mit den andern Wesen teilt, tut er so, als -verstünde er sie nicht (er lügt), als wüßte er nicht, daß sie zu ihm -Bruderwesen wären, leidend, liebend und träumend wie er. Um sie besser -ausbeuten und ohne Gewissensbisse quälen zu können, hat er sich von -seinen geistigen Führern bestätigen lassen, daß diese Wesen nicht -denkfähig seien, daß er allein dieses Privileg besitze. Heute ist er -nicht mehr weit davon entfernt, dies auch von den anderen -Menschenvölkern zu sagen, die er bekämpft und vernichtet... Henker! -Henker, du bist mitleidslos gewesen. Mit welchem Recht verlangst du -heute Mitleid für dich? - - § - -Von den alten Freundschaften, die einst zum Kreise Clerambaults gehört -hatten, war ihm eine einzige noch geblieben, die mit Frau Mairet, deren -Mann vor kurzem im Argonnenwald gefallen war. - -François Mairet, der noch nicht das vierzigste Lebensjahr erreicht -hatte, als er unbemerkt im Schützengraben zugrunde ging, war einer der -ersten französischen Biologen, ein bescheidener Gelehrter, ein großer -Arbeiter gewesen, in dem ein geduldiges Genie schlummerte, das der Ruhm -später gewiß entdeckt hätte. Er hatte aber gar keine Eile, den Besuch -dieser schönen Dirne zu empfangen, man teilt ja ihre Gunst mit zu vielen -Undankbaren. Ihm genügte die stille Freude, die die innige Beziehung zur -Wissenschaft ihren Auserwählten gewährt, und ein einziges Herz auf -Erden, um diese Freude mit ihm gemeinsam zu genießen. Seine Frau war die -Hälfte all seiner Gedanken. Ein wenig jünger als er, aus -Hochschulkreisen stammend, gehörte sie zu jenen ernsten, liebevollen, -zugleich schwachen und stolzen Seelen, die das Bedürfnis haben, sich -hinzugeben, die sich aber nur ein einzigesmal hingeben können. Sie lebte -ganz im geistigen Leben Mairets. Vielleicht hätte sie ebensogut das -eines anderen Mannes teilen können, wenn die Umstände sie mit ihm -verbunden hätten. Aber sobald sie Mairet geheiratet hatte, hatte sie ihn -restlos geheiratet. Wie viele Frauen, und gerade die besten von ihnen, -befähigte sie ihre Intelligenz, gerade den zu verstehen, den ihr Herz -erwählt hatte. Sie hatte sich zu seiner Schülerin gemacht, um seine -Gefährtin zu werden, sie nahm Teil an seiner Arbeit, an seinen -Experimenten. Kinder hatten sie keine. Ihre Gemeinschaft war eine der -Gedanken. Beide waren sie freie Geister, voll hoher freigeistiger und -übernationaler Ideale. - -Als im Jahre 1914 Mairet einberufen wurde, folgte er dem Rufe, bloß um -seiner Pflicht zu genügen, aber ohne innere Täuschung über die Sache, -die der Zufall der Zeiten und der Vaterländer ihm zu vertreten -auferlegte. Von der Front sandte er stoische und klare Briefe. Nie hatte -er aufgehört, den Krieg als etwas Erbärmliches zu betrachten, aber er -glaubte sich zum Opfer verpflichtet aus Gehorsam gegen das Geschick, das -ihn eben den Irrtümern, den Leiden und Kämpfen jener armen Menschenrasse -beigemengt hatte, die sich langsam einem unbekannten Ziel entgegen -entwickelte. - -Er kannte Clerambault. Familienbeziehungen in der Provinz, aus der Zeit, -ehe die einen oder die anderen nach Paris übersiedelten, waren die -Grundlage ihres freundschaftlichen Verhältnisses geworden, das -eigentlich mehr dauerhaft war als intim — denn Mairet gab nur seiner -Frau sein Herz hin — dessen unzerstörbare Grundlage aber eine -beiderseitige reine Achtung war. - -Seit Kriegsbeginn hatte jeder einzelne mit seinen Sorgen zu tun, und sie -hatten nicht in Korrespondenz gestanden. Die draußen im Felde schickten -nicht Briefe an viele Freunde herum, sie konzentrierten sie auf ein -einzelnes Wesen, dem sie dann alles sagten. Mairet hatte mehr als jemals -seine Gefährtin zum einzigen Verwalter seines Vertrauens gemacht, seine -Briefe waren ein Tagebuch, wo er gewissermaßen mit lauter Stimme dachte. -In einem seiner letzten Briefe sprach er von Clerambault. Er hatte von -seinen ersten Artikeln durch die nationalistischen Zeitungen (die -einzigen, die an der Front geduldet wurden) erfahren, die zu polemischen -Zwecken Auszüge daraus brachten. Er schrieb seiner Frau, welche -Erleichterung er bei diesen Worten eines anständigen und empörten Mannes -empfunden hätte, und bat sie, Clerambault wissen zu lassen, daß seine -alte Freundschaft für ihn dadurch nur noch inniger und wärmer geworden -sei. Kurze Zeit darauf fiel er, noch ehe er die folgenden Aufsätze -erhielt, die er seine Frau gebeten hatte ihm zu senden. - -Als er hingegangen war, suchte sie, die einzig für ihn lebte, sich jenen -Menschen zu nähern, die ihm in den letzten Stunden seines Lebens -nahegestanden hatten. Sie schrieb an Clerambault. Er, der sich in seinem -Provinzwinkel innerlich verzehrte, ohne die Energie zu finden, sich -daraus loszureißen, empfing den Ruf der Frau Mairet wie eine Erlösung. -Er kam nach Paris zurück. Es bedeutete für sie beide ein bitteres -Wohlgefühl, gemeinsam das Wesen des Dahingegangenen wieder zu erwecken, -und sie teilten es sich so ein, daß sie sich einen Abend jeder Woche -einzig dafür frei hielten, um gemeinsam mit ihm beisammen zu sein. -Clerambault war der einzige aus dem Freundeskreis Mairets, der die -geheime Tragödie eines Opfers verstehen konnte, das von keinem -vaterländischen Wahn künstlich vergoldet war. - -Zuerst fühlte Frau Mairet eine Erleichterung darin, ihm alles zu zeigen, -was sie empfangen hatte. Sie las ihm die Briefe vor, die vertraulichen -Mitteilungen seiner Enttäuschung. Mit Ergriffenheit durchschritten sie -seine Gedankenkreise und kamen dazu, alle die Probleme aufzurollen, die -den Tod Mairets und jenen von Millionen anderer verschuldet hatten. -Nichts konnte Clerambault bei dieser unerbittlichen Fragestellung -zurückhalten. Auch sie war nicht die Frau, einer Suche nach der Wahrheit -auszuweichen. — Und doch... - -Clerambault bemerkte bald, daß seine Worte ihr ein gewisses Unbehagen -verursachten, sobald er laut aussprach, was sie nur zu gut selbst wußte -und was die Briefe Mairets feststellten, nämlich die verbrecherische -Sinnlosigkeit solchen Sterbens, die Fruchtlosigkeit einer solchen -Aufopferung. Sie versuchte, das, was sie ihm anvertraut hatte, gleichsam -wieder zurückzunehmen, sie stritt über den Sinn des Wortlautes mit einer -Leidenschaft, die nicht immer ganz aufrichtig schien, und gab auf einmal -vor, sich gewisser Worte Mairets zu erinnern, die eher eine -Übereinstimmung, ja sogar Zustimmung zur öffentlichen Meinung -bekundeten. Eines Tages bemerkte Clerambault, als sie ihm einen Brief, -den sie schon früher einmal gelesen hatte, wieder vorlas, wie sie über -einen Satz hinwegglitt, in dem sich der heroische Pessimismus Mairets -deutlich verriet. Und als er darauf bestand, schien sie ein wenig -beleidigt. Sie wurde ablehnend, allmählich verwandelte sich ihr -peinliches Gefühl in Kälte, dann in Erregtheit, schließlich sogar in -eine Art geheimer Feindseligkeit. Es endete damit, daß sie Clerambault -mied, und ohne daß ihr Bruch offen eingestanden war, fühlte er, daß sie -ihm böse war und ihn nicht mehr sehen wollte. - -Denn in gleichem Maße, wie sich die unerbittliche Analyse Clerambaults -verschärfte und die Grundlagen der ganzen zeitgenössischen Meinungen -negierte, bildete sich bei Frau Mairet ein gegensätzlicher Prozeß im -Sinne einer Wiederherstellung idealer Begriffe heraus. Ihre Trauer -bedurfte der Überzeugung, daß sie trotz allem irgendeinen heiligen Grund -habe. Es fehlte ihr eben der Verstorbene, um ihr zu helfen, die Wahrheit -zu ertragen. Denn zu zweien ist selbst die furchtbarste Wahrheit noch -eine Freude. Aber für den, der allein zurückbleiben muß, wird sie -tödlich. - -Clerambault verstand dies, seine bebende Feinfühligkeit spürte, daß er -die Frau leiden gemacht hatte, und er fühlte ihr Leiden in sich selbst. -Es fehlte nicht viel, so hätte er ihrem Widerstande gegen sich selbst -zugestimmt, denn er sah, welch ungeheurer Schmerz in ihr verborgen war -und sah zugleich die ganze Kraftlosigkeit seiner Wahrheit, die ihr keine -Erleichterung brachte. Ja noch mehr: er sah, daß er einem Leiden, das -schon vorhanden war, nur noch ein neues Leiden hinzugefügt hatte.... - -Unlösbares Problem! Solche unglücklichen Menschen können nicht ohne den -mörderischen Wahn leben, dessen Opfer sie sind. Und man kann ihnen den -Wahn nicht wegnehmen, ohne ihre Leiden unerträglich zu machen. Familien, -die Söhne oder Gatten oder Väter verloren haben, bedürfen eben des -Glaubens, es sei für eine gerechte und wahre Sache geschehen. Die -lügnerischen Staatsmänner sind gezwungen, diese Lüge um der anderen -willen und um ihrer selbst willen aufrechtzuerhalten, denn wenn sie nur -einen Augenblick aufhörten, wäre das Leben weder für sie noch für die, -über die sie gebieten, erträglich. Der unglückliche Mensch ist eben die -Beute seiner eigenen Ideen, und wenn er ihnen auch alles schon -hingegeben hat, so muß er ihnen jeden Tag noch immer mehr hingeben, oder -er findet unter seinen Schritten das Leere und stürzt hinab.... Was? -Nach vier Jahren namenloser Qual und Zerstörung sollten wir zugeben, daß -das alles umsonst war...? ... Nicht nur zugeben, daß selbst der Sieg -eine Vernichtung wäre, sondern daß er es immer sein muß, daß der Krieg -ein Wahnwitz ist und wir uns getäuscht haben.... Niemals! Lieber sterben -bis zum letzten Mann. Schon ein einziger Mensch, dem man die Erkenntnis -aufzwingt, daß sein Leben sinnlos war, gibt sich der Verzweiflung hin. -Wie aber erst, wenn man es einem Volke, zehn Völkern, der ganzen -Menschheit sagt? - -Clerambault hörte den Schrei der menschlichen Menge: - -„Leben um jeden Preis! Retten wir uns um jeden Preis!“ - -„Aber ihr wollt euch ja gerade nicht retten! Euer Weg führt euch in neue -Katastrophen, in eine Unzahl neuer Qualen.“ - -„Mögen sie noch so arg sein, sie sind doch nicht so furchtbar als das, -was du uns darbietest. Lieber mit einem Wahn sterben, als ohne einen -Wahn leben! Ohne Wahn, ohne Illusionen leben... das wäre der lebendige -Tod.“ - -„Derjenige, der das Geheimnis des Lebens erkannt hat und sein Wort -gelesen“, sagt die harmonische Stimme Amiels, des Enttäuschten, „entgeht -dem großen Rad des Lebens, er ist ausgetreten aus der Welt der -Lebendigen.... Ist einmal der Wahn dahin, so tritt wieder das Nichts in -sein ewiges Reich, die farbige Seifenblase ist zergangen im ungeheuren -Raum, die Qual des Gedankens aufgelöst in die regungslose Ruhe des -unbegrenzten Nichts.“ - -Aber gerade diese Ruhe im Nichts ist ja die fürchterlichste Qual für den -Menschen der weißen Rasse. Lieber alle Qualen, alle Qualen des Lebens! -Nein, nehmt mir sie nicht weg! Wer mir die mörderische Lüge wegnimmt, -von der ich lebe, ist mein Mörder!... - -Und Clerambault legte sich bitter den Titel bei, den ihm zum Spott ein -nationalistisches Blatt gegeben hatte: „_L’un contre tous_“. „Der Eine -gegen Alle.“ Ja, er war der gemeinsame Feind, der Zerstörer des Wahns, -von dem die andern leben.... - -Aber er wollte es eigentlich gar nicht. Er litt zu sehr unter dem -Gedanken, Leiden zu verursachen. Wie aus dieser tragischen Sackgasse -herauskommen? Wohin immer er sich wandte, überall fand er den unlösbaren -Zwiespalt: entweder todbringenden Wahn oder den Tod ohne Wahn. - -„Ich will nicht das eine und will nicht das andere.“ - -„Ob du es willst oder nicht, gib nach! Hier ist kein Durchlaß.“ - -„Aber ich werde trotzdem zu meinem Ziele kommen.“ - - - - - Vierter Teil - - - - - § - -Clerambault durchschritt eine neue Gefahrzone. Sein Wandeln in der -Einsamkeit glich einer Bergbesteigung, bei der man sich plötzlich vom -Nebel umhüllt sieht und an den Felsen klammern muß, ohne weiter vorwärts -zu können. Vor sich sah er nichts mehr, und nach welcher Seite immer er -sich wandte, von überall hörte er aus der Tiefe den Sturzbach des -Leidens brausen. Aber doch: er konnte nicht unbeweglich verharren, -obwohl er über dem Abgrund hing und sein letzter Halt nachzugeben -drohte. - -Er stand, von Dämmerung umgeben, an einem Wendepunkt. Dazu kam, daß -gerade an diesem Tage die Neuigkeiten, die die Zeitungen belferten, ihm -mit ihrem Wahnsinn die Seele niederdrückten. Wiederum vergebliche -Menschenhekatomben, die der hypnotisierte Egoismus der Hinterlandleser -natürlich fand, wiederum Grausamkeiten auf allen Seiten, verbrecherische -Repressalien für Verbrechen, die aber von diesen, einst doch anständigen -Leuten stürmisch gefordert und bejubelt wurden! Niemals war ihm der -Horizont, der die armen Menschentiere in ihren irdischen Niederungen -umschließt, umdüsterter und mitleidsloser erschienen. - -Clerambault fragte sich, ob dieses Gesetz der Liebe, das er in sich -fühlte, nicht vielleicht nur für andere Welten und eine andere -Menschheit Geltung habe. Unter seiner Post fand er einige neue -Drohbriefe, und im Vorgefühl, daß sein Leben in der tragischen -Sinnlosigkeit der Zeiten in den Händen des erstbesten Narren stünde, -wünschte er im stillen, diese Begegnung möge nicht allzulange auf sich -warten lassen. Aber dennoch, von guter Rasse und fest verwurzelt, wie er -war, führte er sein Leben unverändert weiter, erfüllte methodisch seine -täglichen Pflichten und hielt sich zusammen, um aufrecht und ungebeugt -den Weg bis zum Ziele zu schreiten, wohin auch immer er ihn führen -sollte. - -An diesem Tage nun erinnerte er sich, daß er seine Nichte Aline besuchen -wollte, die eben eines Kindes genesen war; sie war die Tochter einer -verstorbenen und von ihm geliebten Schwester, nur ein wenig älter als -Maxime und dessen einstige Jugendgespielin. Als Mädchen hatte sie einen -komplizierten Charakter gezeigt: unruhig, unbefriedigt, alles nur auf -sich beziehend, gefallsüchtig, herrschsüchtig, allzu neugierig und von -gefährlichen Abenteuern seltsam angezogen, dabei ein wenig trocken und -doch leidenschaftlich, nachträgerisch, zornig und dann wieder plötzlich -voll der Fähigkeit, zärtlich und verführerisch zu werden. Zwischen -Maxime und ihr war es schon ziemlich weit geraten. Man mußte acht haben -auf die beiden. Maxime ließ sich trotz seiner ironischen Veranlagung von -diesen harten kleinen Augensternen leicht verlocken, die ihn manchmal -mit ihren elektrischen Blitzen tief anstrahlten. Aline wiederum wurde -erregt und angezogen von Maximes Ironie. Sie hatten sich recht geliebt, -und recht aufeinander wütend gemacht. Dann waren sie beide zu anderen -Erfahrungen übergegangen. Sie hatte in zwei oder drei andere Herzen -Verwirrung gebracht und sich schließlich höchst vernünftig, als sie die -Stunde und Gelegenheit für günstig hielt — alles hat ja seine Zeit —, -mit einem ehrbaren Handelsmann, der gute Geschäfte in seinem Kunst- und -Kirchenmöbelladen in der Rue Bonaparte machte, verheiratet. Sie befand -sich gerade in andern Umständen, als ihr Mann an die Front mußte. -Selbstverständlich war sie glühende Patriotin, denn „wer sich selbst -liebt, liebt auch die Seinen“. Und sie wäre eine der letzten gewesen, -bei denen Clerambault Verständnis für seine Gedanken des brüderlichen -Mitempfindens erhofft hätte. Mitempfinden hatte sie wenig für Freunde, -und keines für die Feinde. Sie hätte sie am liebsten in einem Mörser -zerstampft, mit derselben kalten Freude, mit der sie einst Herzen und -Insekten gequält hatte, um sich für irgendwelche, ihr von anderen -zugefügte Unannehmlichkeiten zu rächen. - -Aber in demselben Maße, wie die in ihr wachsende Frucht reifte, wandte -sich all ihre Aufmerksamkeit dieser zu, alle Kräfte ihres Herzens -strömten nach innen. Der Krieg entfernte sich für sie, sie hörte nicht -mehr die Kanonade von Noyon. Wenn sie davon sprach — immer weniger -jeden Tag —, so schien es, als handelte es sich dabei um eine -Kolonialexpedition. Sie erinnerte sich wohl der Gefahren ihres Mannes, -und sicherlich, sie hatte ein mitleidiges „Armer Kerl“ für ihn, zugleich -mit einem kleinen gerührten Lächeln, das zu sagen schien: „Er hat -wirklich Pech, er ist ein wenig ungeschickt.“ Aber sie hielt sich bei -diesem Thema nie lange auf, und es ließ, Gott sei Dank, keine Spuren in -ihr zurück. Ihr Gewissen war ja ruhig, sie hatte ihre Zeche bezahlt. Und -schleunigst kehrten Alinens Gedanken zur einzig wichtigen Aufgabe -zurück. Im ganzen weiten Universum war das Ei, das sie zu legen hatte, -anscheinend die einzige Sache von Belang für sie. - -Clerambault, mit seinen Kämpfen vollauf beschäftigt, hatte Aline seit -Wochen nicht gesehen und nichts von dieser Änderung ihrer Gesinnung -wahrgenommen. Wenn Rosine einige Worte darüber fallen ließ, so hatte -seine abgewandte Aufmerksamkeit nicht darauf gehört. Ganz plötzlich, -Schlag auf Schlag, innerhalb vierundzwanzig Stunden, empfing er die -beiden Neuigkeiten zugleich: daß das Kind geboren sei und daß Alinens -Gatte, so wie seinerzeit Maxime, „vermißt“ werde. Und sofort malte er -sich den Schrecken der armen jungen Mutter aus. Er sah sie so, wie er -sie immer gekannt hatte, geteilt zwischen einer Freude und einem Leid, -immer befähigter, dieses als jene zu empfinden. Er sah sie, wie sie sich -dem Schmerz ganz hingab und selbst in ihrer Freude irgendeinen Vorwand -für ihr Leiden suchte, sah sie schon leidenschaftlich, bitter, -aufgeregt, herausfordernd gegen das Schicksal und böse gegen alle. Ja, -er war sogar nicht einmal sicher, ob sie nicht gerade jetzt aus dem -Gefühl des Hasses und der Rache gegen ihn persönlich verärgert sein -würde, um seiner Gedanken des Friedens und der Versöhnung willen. Daß -seine Haltung die ganze Familie skandalisierte, wußte er, und bei -niemandem vermeinte er dafür weniger Duldung zu finden als bei Aline. -Aber es war ihm ein Bedürfnis, ob sie ihn nun gut oder schlecht -aufnehmen wollte, mit seinen zärtlichen Gefühlen ihr zu Hilfe zu kommen. -Und den Rücken gleichsam schon beugend vor dem kalten Wassersturz, dem -er entgegenging, stieg er die Treppe empor und klingelte an Alinens Tür. - -Er fand sie auf dem Bett hingestreckt, ausgeruhten Antlitzes, verjüngt, -verschönt, zärtlichen Wesens und strahlend vor Glück, neben ihr das -kleine Kind, das sie an die Seite ihres Bettes hatte stellen lassen. Wie -eine leuchtende, ältere Schwester des weißgewickelten Säuglings sah sie -aus, den sie mit dem Lächeln heiterer Bewunderung betrachtete, wie er, -mit offenem Mäulchen auf dem Rücken liegend, in der Luft seine -Fingerchen spreizte wie ein Maikäfer seine Beine. Er schien noch ganz in -die Dumpfheit des unbewußten Lebens versunken, im Traum noch von der -goldenen Nacht und der Wärme des mütterlichen Schoßes. - -Sie begrüßte Clerambault mit triumphierendem Überschwang: „Ah, mein -guter Onkel, wie lieb Sie sind! Kommen Sie rasch, schauen Sie mein Süßes -an, meinen Schatz!“ - -Sie frohlockte, ihr Meisterwerk zeigen zu dürfen, und war jedem dankbar, -der es beschaute. Nie hatte Clerambault sie so zärtlich und so hübsch -gesehen. Er beugte sich über das Kind, aber er sah es fast nicht an, -obwohl er ihm alle höflichen Gesten machte und seiner Bewunderung in -begeisterten Ausrufen Ausdruck gab, die die Mutter zu erwarten schien -und im Flug wie eine Schwalbe einstreifte. Er sah sie an, sah nur dieses -selige Antlitz, diese guten lachenden Augen, dieses gute Kinderlächeln. -Oh, wie schön ist das Glück, wie tut es wohl!... Alles, was er hatte -sagen wollen, war seinem Gedächtnis entschwunden. Er fühlte, es war hier -unnötig, nicht am Platze. Jetzt mußte er nur das Wunder beschauen und -höflich die Ekstase der kleinen Bruthenne teilen. Ach, welches -entzückende, eitle, unschuldige Jubellied! - -Manchmal freilich überflog seine Augen der Schatten des Krieges, der -niedrigen und sinnlosen Metzelei, das Bild des toten Sohnes, des -verschwundenen Gatten, und mit einem traurigen Lächeln über das Kind -hingebeugt, mußte er denken: „Ach, wozu Kinder in die Welt setzen, für -eine solche Schlächterei! Was wird der arme Kleine in zwanzig Jahren -vielleicht sehen müssen!“ - -Aber sie, sie dachte nicht daran. Jeder Schatten schwand hin an dem -Licht, das von ihr strahlte. Von all den nahen und fernen Sorgen — ach, -alle waren jetzt ferne! — nahm sie nichts wahr. Sie strahlte nur: „Ich -habe einen Menschen geboren.“ Den Menschen, den Menschen, in dem sich -für jede Mutter immer alle Hoffnungen der Menschheit verkörpern.... -Trauer und Torheit der Stunde, wo seid ihr? Ach, was tut’s! Er ist es ja -vielleicht, er, der sie enden wird! Für jede Mutter ist das Kind ja -immer das Wunder, der Heiland! - -Erst am Ende seines Besuches wagte Clerambault ein Wort betrübter -Sympathie in bezug auf ihren Gatten. Sie tat einen tiefen Seufzer: „Ach, -der arme Armand“, sagte sie, „sie haben ihn wohl gefangen genommen.“ - -Clerambault fragte: „Hast du darüber etwas gehört?“ — - -„O nein, aber es ist doch wahrscheinlich.... Ich bin fast ganz -sicher.... Man hätte doch sonst was gehört.“ Sie strich mit der Hand wie -eine Fliege den peinlichen Gedanken fort („Weg mit dir, wie kommst du -daher?“). Und schon trat das kleine Lachen wieder in ihre Augen. „Weißt -du“, fügte sie bei, „es ist vielleicht besser für ihn so... jetzt kann -er sich wenigstens ausruhen... mir ist es lieber, ihn dort zu wissen als -im Schützengraben...?“ - -Und dann, ganz ohne Übergang, floß das Gespräch wieder zu der weißen -Amsel zurück. „Ach, wie wird er selig sein, wenn er mein Kleines, mein -Liebes, mein Gotteskind sieht!“ - -Erst als Clerambault sich zum Fortgehen erhob, ließ sie sich herab, auch -daran zu denken, daß es auf dieser Erde noch für andere ein Leiden gäbe. -Sie besann sich des Todes Maximes, und sie sagte ihm freundlich -irgendein kleines Wort der Sympathie. Wie gleichgültig, wie im Grunde -gleichgültig klang es... aber immerhin, es war guten Willens gesagt. Und -der gute Wille war etwas so Neues an ihr. Und Wunder über Wunder! Mitten -in der Zärtlichkeit, mit der das Glück sie überflutete, sah sie eine -Sekunde das müde Antlitz, das müde Herz des alten Mannes. Sie erinnerte -sich dunkel, daß er Unklugheiten begangen und dafür Unannehmlichkeiten -gehabt hatte, und statt ihn auszuschelten, wie es ihre Pflicht war, -gewährte sie ihm schweigend, mit einem großmütigen Lächeln Verzeihung. -Wie eine kleine Prinzessin sagte sie zärtlichen Tones, in dem eine -gönnerhafte Nuance durchschimmerte: „Beunruhige dich nicht, mein guter -Onkel... es wird schon wieder alles in Ordnung kommen... komm, gib mir -einen Kuß.“ - -Und Clerambault ging lächelnd fort, erheitert von der Trösterin, die er -hatte trösten wollen. Er fühlte, wie wenig unsere Leiden gegenüber der -lächelnden Gleichgültigkeit der Natur sind. Für sie ist es allein -wichtig, im Frühjahr zu blühen. Fallet ab, sterbet hin, tote Blätter! -Der Baum schlägt nur um so schöner aus, und der Frühling blüht dann für -andre.... O Frühling, o du lieber Frühling! - - § - -Aber wie unbarmherzig bist du, Frühling, gegen alle jene, denen du nicht -mehr entgegenblühst, für alle, die ihre Geliebten, ihre Hoffnungen, ihre -Kraft, ihre Jugend, ihren ganzen Lebenssinn verloren haben! - -Die Welt war voll von verstümmelten Seelen und Körpern, die von -Bitterkeiten zerfressen waren, die einen um ihres verlorenen Glückes, -die anderen, noch Bemitleidenswerteren, um eines Glückes willen, das sie -noch gar nicht gekannt hatten und um das man sie in der schönsten -Entfaltung ihrer Liebesfähigkeit und ihrer zwanzig Jahre gebracht hatte! - -An einem nebelnassen und kalten Januarabend kehrte Clerambault vom -Anstellen vor einem Holzlager zurück. Der Menge, innerhalb derer er -wartete, bis an ihn die Reihe kam, war schließlich, nachdem sie -stundenlang auf der Straße gewartet hatte, mitgeteilt worden, daß heute -nichts mehr verteilt werde. An der Tür seines Hauses hörte er seinen -Namen aussprechen: ein junger Mann, der einen Brief überbrachte, fragte -nach ihm beim Hausmeister. Clerambault trat auf ihn zu. Der junge Mensch -schien von der Begegnung verwirrt. Sein rechter Ärmel war an die -Schulter aufgesteckt, sein rechtes Auge war unter einer Binde verborgen. -Man sah an seiner blassen Farbe, daß er eine monatelange Krankheit -überstanden hatte. Clerambault sprach ihn auf das herzlichste an und -wollte den Brief entgegennehmen, aber der junge Mann zog ihn rasch -zurück und sagte, es sei jetzt nicht mehr nötig. Clerambault lud ihn -ein, zu einem Gespräch zu ihm hinaufzukommen. Der andere zögerte und -wäre Clerambault ein feiner Beobachter gewesen, so hätte er bemerkt, daß -der Besucher von ihm fort wollte. Aber ein wenig langsam im -Gedankenlesen sagte er nur gutmütig: - -„Es ist ja wahr, ich wohne ein wenig hoch....“ - -Sofort in seiner Eitelkeit gereizt, antwortete der andere: - -„Ich kann noch ganz gut hinaufsteigen.“ - -Und er begann sogleich die Treppen hinaufzusteigen. - -Clerambault merkte sofort, daß er außer seinen anderen Wunden noch eine -im Herzen hatte. - -Sie setzten sich in seinem ungeheizten Arbeitszimmer zusammen hin. Wie -das Zimmer, so war auch ihre Unterhaltung anfänglich kalt. Clerambault -konnte von seinem Besucher nur steife, harte, ein wenig unklare -Antworten herausbekommen und alle in einem ein wenig gereizten Ton. Er -erfuhr, daß jener sich Julien Moreau nannte, daß er Universitätsstudent -war und drei Monate im Spital Val de Grace gelegen hatte. Er lebte -allein in Paris in einem Zimmer des Quartier Latin, obwohl seine -verwitwete Mutter und einige Verwandten in Orleans waren. Er sagte nicht -gleich, warum er nicht zu ihnen gezogen war. - -Plötzlich, nach einem Schweigen, entschloß er sich zu sprechen. Mit -erstickter Stimme, die nur mühsam sich durchzuringen vermochte und erst -allmählich weicher wurde, sagte er Clerambault, welche Wohltat ihm die -Lektüre seiner Aufsätze gewesen wäre, die ein Urlauber an die Front -gebracht hatte, und die dort von Hand zu Hand gingen. Sie entsprachen -dem erstickten Schrei seiner Seele: „Nicht lügen!“ Die Zeitungen und die -Schriften, die die Schamlosigkeit hatten, der Armee ein verlogenes Bild -ihrer selbst zu zeichnen, die gefälschten Briefe von der Front, der -schauspielerische Heroismus, die übel angebrachten Scherze und die -widerlichen Windbeuteleien jener Drückebergerschriftsteller, die aus dem -Tod der anderen pathetische Phrasen drechselten, alle diese Dinge hatten -sie in Wut gebracht. Ein Greuel waren für sie die fetten und schmutzigen -Küsse, mit denen diese Prostituierten von der Presse sie feucht -bedeckten, ein Spott schienen sie ihnen auf ihr Leiden. In ihm, in -Clerambault, hatten sie endlich ein Echo gefunden.... Nicht als ob -Clerambault sie verstanden hätte, denn keiner, der ihr Los nicht geteilt -hatte, konnte sie verstehen. Aber er hatte Mitleid für sie gehabt, er -hatte einfach und mit Menschlichkeit von jenen Unglücklichen unter allen -Fahnen gesprochen, hatte gewagt, die allen Völkern gemeinsamen -Ungerechtigkeiten einmal auszusprechen, die sie alle in gleiche Not -getrieben. Er hatte nicht ihre Qual verschwiegen, sondern sie in eine -Höhe des Verstandenwerdens erhoben, in der sie erträglich war. - -„Wenn Sie wüßten, wie sehr man eines Wortes wahrer Sympathie bedarf! Es -hilft nichts, daß man nach alledem, was man gesehen, gelitten und leiden -gemacht hat, hart geworden ist, daß man alt geworden ist (es gibt unter -uns Grauköpfe mit gekrümmten Schultern), wir sind doch alle in gewissen -Augenblicken nur verlorene Kinder, die sich nach ihrer Mutter sehnen, um -sich trösten zu lassen. Und die Mütter... Ach, die Mütter, sie sind ja -so fern von uns!... Man bekommt von seiner eigenen Familie Briefe, die -einen niederschmettern.... Das eigene Blut liefert uns aus.“ - -Clerambault verbarg sein Gesicht in den Händen und stöhnte. - -„Was ist Ihnen?“ sagte Moreau. „Ist Ihnen nicht wohl?“ - -„Aber Sie bringen mir ja gerade all das Böse, das ich getan habe, in -Erinnerung.“ - -„Sie? Nein, Sie nicht! Die anderen!“ - -„Ich ebenso wie alle anderen. Wir alle haben Vergebung zu erflehen.“ - -„Sie sind der Letzte, der das sagen sollte.“ - -„Ich muß der Erste sein, denn ich bin einer der wenigen, die sich über -ihr Verbrechen selbst Rechenschaft ablegen.“ - -Und er begann mit einer Anklage gegen seine ganze Generation, unterbrach -sich aber bald mit einer entmutigten Gebärde. - -„Ach, das alles macht ja nichts mehr gut. Erzählen Sie mir lieber, was -Sie gelitten haben!“ - -Es war in seiner Stimme so viel Demütigkeit, daß sich Moreau von Liebe -für diesen alten Mann, der sich selbst anklagte, gleichsam überflutet -fühlte. Sein Mißtrauen schwand gänzlich hin. Er tat die geheime Tür -seiner bitteren und schmerzgeprüften Gedanken auf. Er erzählte, daß er -schon mehrmals bis an die Tür dieses Hauses gekommen wäre, ohne daß er -sich habe entschließen können, seinen Brief abzugeben (den er übrigens -noch immer nicht zeigen wollte). Seitdem er das Spital verlassen, war es -ihm nicht möglich gewesen, mit einem einzigen Menschen zu sprechen. Die -Leute im Hinterland erbitterten ihn durch die Zurschaustellung ihrer -kleinlichen Sorgen, ihrer Geschäfte, Vergnügungen und der Einschränkung -ihrer Vergnügungen, sie erbitterten ihn durch ihren Egoismus, ihre -Unwissenheit und ihre Verständnislosigkeit. Er fühlte sich unter ihnen -fremder als unter den Wilden Afrikas. Übrigens — er unterbrach sich und -fuhr dann erst wieder mit befangenen und erregten Andeutungen fort, die -ihm nicht aus der Kehle wollten — nicht nur unter ihnen, sondern unter -allen Menschen fühlte er sich ein Fremder, denn er sei vom Leben, von -der allgemeinen Freude und Arbeit durch seine Gebrechen jetzt für immer -abgeschnitten, die aus ihm ein Wrack machten. Es verzehre ihn die -törichte Scham, einäugig und einarmig zu sein. Die Blicke eiligen -Bedauerns, die er auf der Straße bemerkte, ließen ihn erröten, denn sie -waren so von der Seite zugeworfen wie ein Almosen, das man nebenhin -gibt, das Antlitz vom widerlichen Schauspiel abgewandt. In seiner -aufgereizten Eigenliebe übertrieb er seine eigene Entstellung. Er -verabscheute sein Gebrechen, dachte an die verlorenen Freuden, an seine -zerstörte Jugend. Wenn er Liebespaare vorübergehen sah, so fühlte er -Eifersucht und schloß sich ein, um zu weinen. - -Aber das war noch nicht alles. Und als er den Hauptteil seiner -Bitterkeit dem Mitgefühl Clerambaults, der ihn zu sprechen ermutigte, -anvertraut hatte, kam er zum eigentlichen Grund der Qual, die er und -seine Gefährten, schauernd wie ein Geschwür, das man nicht anzusehen -wagt, in sich trugen. Aus dem Durcheinander seiner heftigen, dunklen und -gequälten Worte erkannte Clerambault, was eigentlich die Seele all -dieser jungen Menschen zerstörte. Es war nicht allein ihre vernichtete -Jugend, ihr hingeopfertes Leben (obwohl dies schon an sich ein -furchtbarer Schmerz war.... Es ist ja sehr leicht für kalte Herzen, für -alte Egoisten und vertrocknete Intellektuelle, von oben herab diese -Liebe, dies Anklammern an das junge Leben und die Verzweiflung, es zu -verlieren, zu verurteilen). Das Allerfurchtbarste aber für sie war, daß -sie nicht wußten, wofür sie dieses Leben hingeopfert hatten, und dann -der alles vergiftende Verdacht, es sei umsonst vertan. Denn der gemeine -Wille nach sinnloser Weltherrschaft irgendeiner Rasse oder nach einem -Stück Land an der Grenze zweier Staaten, konnte nicht genug sein, um den -Schmerz der Opfer zu mindern. Sie wußten zu gut, daß der Mensch nur ein -Fußbreit Erde braucht, um zu sterben, und daß das Blut aller Rassen die -gleiche Quelle des Lebens ist, die darein verströmt. - -Clerambault, dem das Bewußtsein seiner Pflicht, des weitaus Älteren in -der Nähe dieser Jungen, eine ruhige Sicherheit gab, die er sonst für -sich allein nicht besaß, sagte ihrem Vertreter, ihrem Boten Worte der -Hoffnung und der Tröstung. - -„Nein, euer Leiden ist nicht verloren. Es ist zwar die Frucht eines -grausamen Irrtums, aber auch der Irrtum ist nicht ohne Sinn. Das Unglück -von heute ist der gewaltsame Ausbruch eines Übels, das Europa seit -Jahrhunderten zerfrißt, das Übel des Stolzes und der Gier, des -gewissenlosen Staatenfanatismusses, der kapitalistischen Pest, jenes -lügnerischen Triebwerkes der Zivilisation, das aus Unduldsamkeit, -Heuchelei und Gewalttätigkeit zusammengesetzt ist. Jetzt bricht alles -zusammen, jetzt ist alles neu aufzubauen. Die Aufgabe ist ungeheuer. -Mutlosigkeit ist jetzt nicht erlaubt, denn keiner Generation war ein -größeres Werk je zugedacht als der euren. Es handelt sich jetzt darum, -klar zu sehen durch das Feuer der Schützengräben und die giftigen Gase, -mit denen euch ebenso wie der Feind die Antreiber des Hinterlandes den -Blick verwirren. Es handelt sich darum, den wahren Kampf zu erkennen, -und der geht nicht gegen ein einzelnes Volk, sondern gegen eine ganze -ungesunde Gesellschaft, die auf die Ausbeutung und die Eifersucht der -Völker gegründet ist, auf die Knechtung des freien Gewissens unter die -Staatsmaschine. Nie hätten die resignierten oder skeptischen Völker -diesen wahren Kampf mit solcher tragischen Gewißheit erkannt, ohne die -Leiden dieses Krieges, der sie zerwühlt. Nicht, daß ich damit das Leiden -segnete — lassen wir diesen Irrtum den Gläubigen der Religionen von -einst; wir von heute lieben nicht den Schmerz, wir wollen die Freude. -Kommt aber ein Schmerz über uns, so soll er uns wenigstens dienlich -sein. Das, was ihr gelitten habt, sollen andere nicht mehr leiden! -Deshalb gebt nicht nach. Man hat euch da draußen gelehrt, daß, wenn in -der Schlacht einmal Order zum Angriff gegeben ist, es noch gefährlicher -ist, zurückzuweichen, als vorzurücken. Seht euch deshalb nicht um, laßt -eure Ruinen hinter euch und stürmt nur nach vorwärts, der neuen Welt -entgegen.“ - -Clerambault merkte, wie die Augen seines jungen Zuhörers, während er -sprach, zu sagen schienen: - -„Mehr! Noch mehr! Gib mir mehr als Hoffnung! Gib mir die Gewißheit, gib -mir den nahen, den baldigen Sieg!“ - -Allen Menschen, selbst den Besten, ist so sehr das Bedürfnis nach -Betrogenwerden angeboren; es genügt ihnen nicht, ihr Opfer einem -künftigen Ideal zu bringen, sondern sie wollen, daß man ihnen die -Verwirklichung dieses Ideals für recht bald verspricht, oder daß die -Belohnung dann wenigstens ewig währe, wie die Religionen es verheißen. -Jesus fand nur Gläubige, weil man in ihm die Gewißheit eines Sieges in -dieser Welt oder in jener andern sah. Wer aber wahr bleiben will, darf -niemals einen Sieg versprechen. Er darf nicht die Gefahren außer acht -lassen; vielleicht wird das Ziel überhaupt nicht erreicht werden und -keinesfalls vor Ablauf längerer Zeit. Den Anhängern scheint natürlich -ein solcher Gedankengang niederschmetternd in seinem Pessimismus: der -die Lehre aber ausspricht, ist selbst nicht Pessimist. Er hat die Ruhe -des Menschen, der nach einem Aufstieg von der Höhe aus die ganze -Landschaft umfängt. Sie aber sehen nur den nackten Hang, den sie noch -hinaufklimmen müssen. Wie nun kann er ihnen diese Ruhe übermitteln?... -Wenn die Schüler die Lehre ihres Meisters schon nicht mit seinen Augen -zu sehen vermögen, so können sie doch wenigstens seine Augen selbst -sehen, in denen jene Vision widerglänzt, die ihnen noch versagt ist. Sie -können daraus die Gewißheit schöpfen, daß er um die Wahrheit wisse (sie -glauben es wenigstens...) und von ihrer Unruhe befreit sei. - -Diese seelische Sicherheit, diese innere Harmonie, die die Augen Julien -Moreaus in denen Clerambaults suchten, besaß Clerambault, der Gequälte -und Beunruhigte, nicht!... Aber besaß er sie wirklich nicht?... Wie er, -demütig lächelnd, gleichsam um sich zu entschuldigen, Julien ansah... da -sah er, daß Julien diese Sicherheit in ihm entdeckt hatte. Und wie man -gleichsam mitten aus dem Nebel aufsteigend plötzlich im Lichte ist, -fühlte er, daß das Licht in ihm war. Es war in ihn gedrungen, weil er -einen andern erleuchten sollte. - - § - -Erleichtert und erheitert hatte ihn der Unglückliche verlassen. -Clerambault blieb zurück, betäubt von einer leisen Trunkenheit. Er -schwieg, um das ganz seltsame Glück einer im eigenen Leben unglücklichen -Seele zu genießen, die mit einemmal fühlt, daß sie teil hat am Glücke -anderer Seelen in Gegenwart oder Zukunft. Alle Wesen erstreben Glück, -tiefes Erfühlen, Fülle des Seins, aber diese Begriffe bedeuten nicht für -alle das Gleiche. Die einen wollen das Glück als Besitz, für die andern -genügt als Besitz schon das bloße Schauen, für andere wieder ist der -Glaube schon das wahre Sehen. Und sie alle, die dieser Instinkt -verbindet, bilden eine einzige Kette, angefangen von jenen, die nur ihr -eigenes Glück suchen, über jene, die es für ihre Familie und ihr Volk -suchen, bis auf zu jenen Wesen, die die ganzen Millionen der Menschen, -das Glück des Alls umfassen. Wer selbst nicht im Glück lebt, schafft es -doch den andern, so wie jetzt Clerambault, und weiß nicht darum; denn -die andern sehen schon das Licht auf seiner Stirn, indes seine Augen -noch im Schatten sind. - -Der Blick des jungen Freundes hatte den armen Clerambault über seinen -unbekannten Reichtum belehrt, und dieses Bewußtsein einer göttlichen -Botschaft, die ihm auferlegt war, stellte seine verlorene Bindung mit -den Menschen wieder her. Sie bekämpften ihn nur, weil er ihr verwegener -Pfadfinder war, ihr Christoph Kolumbus, der mitten auf dem öden Ozean im -Trotz darauf beharrte, den Weg zur neuen Welt zu finden. Sie -beschimpften ihn, aber sie folgten ihm doch. Denn jeder wahre Gedanke, -sei er verstanden oder nicht, ist ein ausgesandtes Schiff, das die -nachzüglerischen Seelen im Schlepptau mit sich schleift. - -Von diesem Tage an wandte er die Augen von der unabänderlichen Tatsache -des Krieges und der Toten ab, um sich den Lebenden und der Zukunft, die -in unserer Hand ruht, zuzuwenden. Möge die Anziehung derjenigen, die wir -verloren haben, noch so mächtig sein und uns schmerzlich locken, zu -ihnen hinabzusteigen, so müssen wir uns doch dem gefährlichen Hauch -entreißen, der, wie in Rom, von der Gräberstraße aufsteigt. „Vorwärts! -Halte dich nicht auf, du hast noch kein Recht, so wie jene zu ruhen! -Denn andere bedürfen deiner. Sieh nur auf sie, wie sie gleich den -Trümmern der großen Armee sich hinschleppen und in der düsteren Weite -den verlorenen Weg suchen.“ - -Clerambault wurde des düsteren Pessimismus gewahr, der sich dieser -jungen Leute nach dem Kriege zu bemächtigen drohte, und diese Erkenntnis -quälte ihn. Die moralische Gefahr war groß, aber um sie kümmerte sich -die Regierung natürlich am wenigsten. Sie handelte wie die schlechten -Kutscher, die mit Peitschenschlägen das Pferd antreiben, um im Galopp -über einen steilen Abhang hinaufzukommen. Das Pferd kommt auch wirklich -hinauf, aber der Weg ist droben noch nicht zu Ende und das Pferd bricht -zusammen. Es ist krumm für sein Leben... Mit welcher Begeisterung waren -doch die jungen Menschen in den ersten Monaten des Krieges in den Sturm -gerast! Dann war die Leidenschaft verraucht, aber das Tier blieb -angeschirrt und von der Deichsel aufrecht gehalten; man peitschte rings -um das müde Wesen eine künstliche Erregung auf, man mischte wundervolle -Hoffnungen in sein tägliches Futter und, ob auch der Alkohol der -Betäubung darin jeden Tag mehr verdunstete, so konnte es doch nicht -zusammenbrechen. Und das gequälte Tier beklagte sich nicht einmal, ihm -fehlte die Kraft zu denken. Und worüber und bei wem hätte es sich -beklagen sollen? Es gab eine stillschweigende Vereinbarung gegen alle -diese armen Opfer, nicht auf sie zu hören, sich taub zu stellen und zu -lügen. - -Aber Tag für Tag warf die rücklaufende Flut der Schlachten ihre Trümmer -auf den Sand hin — die Verstümmelten und Verwundeten. Und durch sie kam -zum erstenmal das Brausen der Tiefe dieses menschlichen Ozeans ans -Licht. Die Unglücklichen, die plötzlich von dem Polypen, dessen Glieder -sie bildeten, losgerissen waren, fühlten, daß sie sich im Leeren regten -und nichts mehr erfassen konnten, weder ihre Leidenschaft von gestern, -noch den Traum der Zukunft. Und voll Angst fragten sie sich, die einen -nur dumpf, wenige andre mit einer grausamen Klarheit, wofür sie gelebt -hätten, wofür man lebt.... - -„Da jener, der zerstört wird, leidet, und derjenige, der vernichtet, -daran keinen Genuß findet und bald ebenso vernichtet wird, so sage mir, -was kein Philosoph zu beantworten weiß, wessen Gefallen, oder wessen -Nutzen dient dieses unglückselige Leben des Weltalls, das sich zum -Schaden und durch den Tod aller Kreaturen, aus denen es gebildet ist, -einzig erhält?“ fragt Leopardi. - - § - -Es war dringend notwendig, darauf eine Antwort zu geben und für jene -einen Sinn des Lebens zu finden. Ein Mann im Alter Clerambaults hat -einen Sinn des Lebens nicht so nötig. Er hat schon gelebt, ihm kann es -genug sein, sein Gewissen freizumachen: das ist für ihn gleichsam sein -öffentliches Testament. Aber für diese jungen Leute, die ihr ganzes -Leben noch vor sich haben, kann es nicht genug sein, die Wahrheit auf -einem Leichenfelde zu sehen. Wie immer auch die Vergangenheit gewesen -sei, für sie zählt doch nur die Zukunft. Ihnen muß man die Trümmer aus -dem Wege räumen! - -Woran leiden diese jungen Menschen am meisten? An ihrer eigenen Qual? — -Nein! Sondern an ihrem Zweifel an dem Glauben, dem sie diese Qual zum -Opfer dargebracht haben. (Würde man denn irgendein Bedauern haben, sich -für die Frau geopfert zu haben, die man liebt, oder für sein Kind?) Und -dieser Zweifel vergiftet sie, er nimmt ihnen die Kraft, auf ihrem Weg -weiter fortzuschreiten, weil sie fürchten, an seinem Ausgang die -Verzweiflung zu finden. Deshalb ruft man euch ja zu: „Hütet euch, das -Ideal des Vaterlandes zu erschüttern! Trachtet lieber, es -wiederherzustellen.“ Welch ein Hohn! Kann man denn wirklich durch seinen -Willen einen Glauben wiederherstellen, den man einmal verloren hat? Man -kann sich höchstens selbst belügen, und das weiß man in seiner tiefsten -Seele. Und gerade dieses uneingestandene Bewußtsein tötet den Mut und -die Freude. - -So habt den Mut und verwerft den Glauben, an den ihr nicht mehr glaubt! -Die Bäume müssen, um neu zu grünen, ihr Herbstlaub abschütteln. So sollt -ihr aus euren verlorenen Illusionen, wie die Bauern aus dem welken Laub, -ein Feuer machen, dann wird das neue Grün, der neue Glaube nur schöner -aufwachsen. Denn der neue Glaube kann warten. Die Natur stirbt nicht, -sie verwandelt nur ewig ihre Formen. Laßt doch, wie sie, das -abgestorbene Kleid der Vergangenheit hinsinken! - -Seht nur recht hin, zieht die Bilanz dieser harten Jahre! Ihr habt -gekämpft und für das Vaterland gelitten. Und was habt ihr dabei -gewonnen? Ihr habt die Brüderlichkeit der Völker entdeckt, die sich -bekämpfen und miteinander leiden. Ist diese Erkenntnis zu teuer bezahlt? -Nein, wenn ihr nur euer Herz sprechen laßt, wenn ihr wagt, es dem neuen -Glauben aufzutun, der gerade, als ihr es am wenigsten erwartetet, zu -euch gekommen ist. - -Das Täuschende und Niederdrückende ist, daß der Mensch an sein -anfängliches Ziel gebunden bleibt. Glaubt er dann nicht mehr an dieses -Ziel, so glaubt er, jetzt sei alles verloren. Nun bringt niemals eine -große Tat gerade jene Wirkung hervor, die man von ihr erwartete, und es -ist gut so, denn fast immer übertrifft die tatsächliche Wirkung die -erwartete und ist ganz anderer Art als sie. Weise sein heißt nicht, mit -seiner fertigen Weisheit schon auszuziehen, sondern sie erst unterwegs -in Aufrichtigkeit zu entdecken. Wagt es, euch einzugestehen, daß ihr -nicht mehr dieselben Menschen seid wie 1914, und wagt es zu sein: Dies -wird dann der Hauptgewinn oder vielleicht der einzige Gewinn dieses -Krieges sein.... Aber werdet ihr es wirklich wagen? So viele Beweggründe -vereinen sich ja, euch zu entmutigen; die Müdigkeit aller dieser Jahre, -die alten Gewohnheiten, die Furcht vor der Anstrengung, in das eigene -Ich hinabzublicken, das Abgestorbene auszujäten, das Lebendige zu -bejahen und dann irgendein abergläubischer Respekt vor dem Alten, die -faule Vorliebe für das, was man schon kennt (sei es selbst schlecht, sei -es selbst tödlich), das träge Bedürfnis nach billiger Klarheit, das -einen lieber ins alte Geleise zurückkehren läßt als neuen -selbstgebahnten Wegen entgegengehen. Ist es denn nicht das Ideal der -meisten Franzosen von Kindheit an, irgendeinen fertigen Lebensplan in -die Hand zu bekommen und ihn nicht mehr zu ändern?... Ach, daß doch -wenigstens dieser Krieg, der so viele eurer Heimstätten zerstört hat, -euch zwingen würde, aus eurem Schutt herauszutreten, eine neue Heimstatt -zu gründen und neue Wahrheiten zu suchen! - - § - -Vielen dieser jungen Leute fehlte es nicht an Verlangen, mit der -Vergangenheit zu brechen und in neue Welten einzutreten — im Gegenteil: -sie hatten es allzu hastig damit. Noch waren sie aus ihrer alten Welt -nicht heraus, so begannen sie schon, die neue gründen zu wollen. Nur -rasch, nur keinen Übergang! Eine reinliche Scheidung! Entweder bewußte -Unterwerfung unter das Vergangene oder Revolution! - -So empfand auch Moreau. Er machte aus der Hoffnung Clerambaults auf eine -soziale Erneuerung eine Gewißheit. Und in seiner Aufforderung, geduldig -Tag für Tag sich die neue Wahrheit zu erobern, hörte er nur einen Appell -zur gewaltsamen Aktion, die sie sogleich erzwingt! - -Er führte Clerambault in zwei oder drei Kreise junger Intellektueller -revolutionärer Richtung ein. Sie waren nicht sehr zahlreich, in allen -Zusammenkünften begegnete man immer wieder den selben. Von Staats wegen -wurden sie überwacht, was ihnen eher mehr Bedeutung gab, als wenn das -nicht geschehen wäre. Elende Macht, bis an die Zähne bewaffnet, über -Millionen von Bajonetten, über eine Polizei und eine Justiz, beide -folgsam und zu allem bereit, verfügend, bist du dennoch stets furchtsam -und kannst es nicht ertragen, daß ein Dutzend freier Geister sich -versammelt, um über dich zu richten! Dabei hatten diese jungen Leute -durchaus nicht die Art von geheimen Verschwörern. Im Gegenteil, sie -taten alles mögliche, um verfolgt zu werden, aber ihre ganze Tätigkeit -beschränkte sich auf Worte. Was hätten sie auch anders tun können? Sie -waren isoliert von der großen Menge ihrer geistigen Gefährten, die die -große Maschine des Krieges aufsog, die die Armee verschlang und nur dann -zurückgab, wenn sie für sie unbrauchbar geworden waren. Was gab es denn -noch an europäischer Jugend im Hinterland? Abgesehen von den -Drückebergern, die sich nur allzuoft zu den traurigsten Diensten -mißbrauchen ließen und die anderen zum Kampfe hetzten, damit man -vergesse, daß sie selber nicht kämpften, setzten sich die Repräsentanten -der jungen Generation — _rari nantes_ —, die im Zivildienst verblieben -waren, nur aus gänzlich Kriegsuntauglichen zusammen, zu denen sich -allmählich die Schwerverwundeten wie Moreau gesellten. In diesen -verstümmelten und untergrabenen Körpern war die Seele gleich brennenden -Kerzen in einer Laterne mit zerbrochenen Fenstern: sie verzehrte sich, -sie züngelte und rauchte, ein Windstoß konnte sie auslöschen. Aber da -sie mit ihrem Leben nicht mehr rechneten, schlug die Glut daraus nur um -so höher. - -Diese Seelen hatten übergangslose Stimmungen vom äußersten Optimismus -bis zum äußersten Pessimismus. Und diese heftigen Schwankungen des -Barometers entsprachen nicht immer dem Luftdruck der äußeren Ereignisse. -Der Pessimismus war nur zu leicht erklärlich. Erstaunlicher war aber der -Optimismus, für den man kaum hätte Vernunftsgründe finden können. Sie -waren ja nur eine Handvoll, die nichts tun konnte, gar keine Möglichkeit -zur Tat hatte, und jeder neue Tag schien ihre Gedanken sinnloser zu -machen. Aber je schlechter es stand, um so zufriedener schienen sie zu -sein. Sie besaßen einen Desperadooptimismus, jene tolle Gläubigkeit der -fanatischen und unterdrückten Minorität, die den Antichrist braucht, -damit der Christus wiederkehre. Sie erwarteten gerade aus den Verbrechen -der alten stürzenden Weltordnung die neue Weltordnung, und es war ihnen -gleichgültig, ob sie selbst dabei zugrunde gingen mit all ihren Träumen. -Diese jungen Unbedingten, die Clerambault kennen lernte, sahen ihr -Hauptziel darin, eine bloß teilweise Verwirklichung ihrer Träume -innerhalb der alten Ordnung zu verhindern. Alles oder nichts! Die Welt -zu verbessern, schien ihnen lächerlich. Entweder eine vollendete Welt, -oder sie soll zugrunde gehen. Dieser mystische Glaube an den großen -Umsturz, an eine Weltrevolution spukte gerade in jenen Fieberköpfen am -leidenschaftlichsten, die am wenigsten an die Träume der Religionen -glaubten.... Und dabei waren sie selber religiöser als alle Gläubigen -der Kirche.... O tolle irdische Rasse! Es ist immer derselbe Glaube an -das Absolute, der die Narren des Völkerkrieges, die Narren des -Klassenkampfes, die Friedensnarren in dieselbe Trunkenheit, in dieselbe -Vernichtung reißt! Fast möchte man glauben, daß die Menschheit, als sie -aus dem brennenden Schlamm der Schöpfung auftauchte, einen Sonnenstich -empfing, von dem sie nie geheilt ward und der sie von Zeit zu Zeit mit -solchen Fieberanfällen durchschüttelt. - -Oder sind vielleicht diese Mystiker der Revolution Wegbereiter von -Verwandlungen, die in der Rasse keimen — vielleicht noch Jahrhunderte -keimen — und die vielleicht niemals aufblühen werden? Denn es gibt in -der Natur immer Tausende von schlummernden Möglichkeiten für eine -einzige Erfüllung innerhalb jener Frist, die unserer Menschheit zuteil -geworden ist. - -Vielleicht ist es gerade das dunkle Gefühl dessen, was sein könnte und -doch nie sein wird, das manchmal dem revolutionären Mystizismus eine -andere, seltenere und tragischere Form gibt — den ekstatischen -Pessimismus, der fieberig zum Selbstopfer drängt. Wie viele dieser -Revolutionäre haben wir gekannt, die im geheimen von der -zerschmetternden Übermacht des Bösen, von der unausbleiblichen -Niederlage ihres Glaubens überzeugt waren und sich doch liebend -begeisterten für das besiegte Ideal — „... _sed victa Catoni_“ — und -für die Hoffnung, für es zu sterben, zu vernichten und vernichtet zu -werden. Wie viel tolle Glut hat die zerschmetterte Kommune, nicht durch -ihren Sieg, sondern durch die Art ihrer Zerschmetterung aufflammen -lassen! Es scheint, daß selbst in den Herzen der ärgsten Materialisten -ein Funke der ewigen Flamme, der mißhandelten, verleugneten und doch -immer neu bekundeten Hoffnung lebt, jenes unzerstörbaren Traumes aller -Unterdrückten von einer besseren jenseitigen Welt. - - § - -Diese jungen Leute nahmen Clerambault mit verehrungsvoller Zuneigung -auf. Sie versuchten, ihn ganz zu dem ihrigen zu machen, die einen, weil -sie in seinen Gedanken das zu lesen glaubten, was sie selber glaubten, -die anderen in der Überzeugung, dieser gute alte Bürger, für den das -Gefühl bisher der einzige, zwar edle aber unzulängliche Führer gewesen, -würde sich nun durch ihr gestrafftes Wissen überzeugen lassen und mit -ihnen bis an die äußersten logischen Konsequenzen ihrer Anschauungen -gehen. Clerambault setzte sich nur schwach zur Wehr, denn er wußte, daß -nichts in der Welt einen jungen Menschen überzeugen konnte, der sich -eben auf ein System festgelegt hat. In diesem Lebensalter ist jede -Diskussion vergebens. Etwas früher, in den vorausgehenden Jahren, wo der -Einsiedlerkrebs noch seine Schale sucht, kann man auf ihn wirken, und -dann wiederum später, wenn die Muschel abfällt oder schon, wenn sie ihn -in seinen Bewegungen stört. Aber solange das Kleid noch neu ist, gilt -nur eines: es ihm zu lassen, denn es ist ihm ja angepaßt. Wächst er es -aus oder wird es ihm zu groß, so drängt es ihn schon selbst, ein anderes -zu suchen. Nur keinen Zwang, aber sich auch von niemandem zwingen -lassen! - -Niemand in diesem Kreise dachte, zum mindestens anfangs, daran, -Clerambault zu vergewaltigen. Aber seine Gedanken wurden manchmal ganz -seltsam nach dem Geschmack seiner Gäste verändert und seine Ideen hatten -eine höchst sonderbare Resonanz in ihrem Munde. Clerambault ließ seine -Freunde reden, er selbst sprach nicht viel, und wenn er dann nach Hause -kam, war er verwirrt und ein wenig ironisch. - -„Sind das wirklich meine Gedanken?“ fragte er sich. - -Wie ist es doch schwer, seine Seele anderen Wesen mitzuteilen. -Vielleicht unmöglich sogar. Und wer weiß — die Natur ist ja um so viel -klüger als wir — vielleicht ist es für uns gut so. - -Seine Ideen vollständig aussprechen — kann man es überhaupt, soll man -es überhaupt? Langsam ist man zu ihnen gelangt, mit Mühe, auf dem Wege -vieler Prüfungen, und nun halten sie gewissermaßen die -Gleichgewichtsschwebe zwischen unseren inneren Elementen. Ändert man -diese Elemente, ihre Zusammensetzung und ihre Art, so ist die Formel -natürlich sofort ungültig und bringt ganz andere Wirkungen hervor. -Könnten wir unsere Gedanken plötzlich in ihrer Gänze auf einmal in einen -anderen Menschen hineinschleudern, so bestünde die Gefahr, daß er toll -würde, ja es gibt sogar Fälle, wo der andere, wenn er sie verstände, -daran sterben würde. Aber die weise Natur hat ihre Vorsichtsmaßregeln -getroffen. Der andere versteht uns nicht, er kann uns nicht verstehen. -Sein Instinkt wehrt sich dagegen. Er fühlt nur den Anstoß unserer Idee -gegen die seine, und wie auf dem Billard wird die Kugel wieder -weggestoßen, nur ist es hier weniger leicht vorauszusehen, gegen welche -Stelle der grünen Wand. Die Menschen hören nicht bloß mit dem reinen -Geist, sondern auch gleichzeitig mit ihren Leidenschaften und ihrem -Temperament. Von dem, was man ihnen gibt, nimmt sich jeder nur, was ihm -paßt und wirft den Rest zurück, und zwar aus einem dunkeln Instinkt der -Verteidigung. Die Vernunft tut sich nie einem neuen Gedanken sofort auf, -sie kontrolliert ihn gleichsam am Schalter, ehe sie ihn hereinläßt, und -sie läßt nur das herein, was ihr genehm ist. Was hat man aus den hohen -Gedanken eines Jesus und eines Sokrates gemacht! Zu ihrer Zeit hat man -sie getötet, um dann zwanzig Jahrhunderte später aus ihnen Götter zu -machen, was ja nur eine andere Form ist, sie noch einmal zu töten; denn -man wirft damit ihren Gedanken ins Himmelreich zurück. Würde man ihn -sich in dieser unserer irdischen Welt verwirklichen lassen, so wäre ihr -Ende gekommen. Das wußten sie selbst, und das Größte ihrer Seele ist -vielleicht nicht, was sie ausgesprochen, sondern was sie verschwiegen -haben. Wie pathetisch ist doch die Beredsamkeit des Schweigens bei -Jesus, wie schön der Schleier über den antiken Symbolen und uralten -Mythen, um die schwachen und furchtsamen Augen zu schonen! Allzu oft ist -das Wort, das für einen das Leben bedeutet, für den anderen der Tod -oder, was noch ärger ist, der Mord. - -Was also tun, wenn man die Hände voll hat mit Wahrheiten? Soll man die -Saat im vollen Wurfe ausstreuen? Aber dem Samen des Gedankens kann -Unkraut oder Gift entwachsen!.... - -Vorwärts! Zage nicht! Du bist nicht der Herr des Schicksals, aber du -bist auch selbst Schicksal, du bist eine seiner Stimmen. So sprich! Das -ist die dir zugeteilte Aufgabe! Sag alles, was du denkst, aber sage es -mit Güte! Sei wie eine gute Mutter, der es nicht gegeben ist, aus ihren -Kindern vollkommene Menschen zu machen, sondern nur zu versuchen, sie -geduldig zu unterrichten, damit sie es werden, wenn sie es selber werden -wollen. Man kann andere nicht gegen ihren Willen oder ohne ihre Mithilfe -befreien. Und selbst wenn dies möglich wäre, was hätte es für einen -Sinn? Denn wenn sie sich nicht selbst befreien, fallen sie schon morgen -wieder in ihre Sklaverei zurück. Man muß ein Beispiel geben und sagen: -„Hier ist der Weg! Seht, man kann sich befreien!“ - - § - -Trotz all seinen Bemühungen, männlich zu handeln und die Folgen seines -Tuns den Göttern zu überlassen, war es doch ein Glück für Clerambault, -daß er nicht die ganze Tragweite seiner Ideen überblickte. Denn seine -eigentliche Absicht war ja, ein Reich des Friedens zu gründen, in -Wirklichkeit aber wirkte seine Idee wohl in beträchtlichem Maße an der -Entfesselung des sozialen Kampfes mit. So paradox es scheint, es ist -dies das Schicksal jedes wahren Pazifismus, weil er eine Verurteilung -des Gegenwärtigen bedeutet. - -Aber Clerambault war sich im unklaren darüber, daß gefährliche Mächte -eines Tages sich auf ihn berufen würden. Und in einer seltsamen -Gegenwirkung auf die Gewalttätigkeit dieser jungen Leute arbeitete sich -sein Geist gerade unter ihnen immer mehr zu einer gewissen Harmonie -durch. Je weniger jene — sie unterschieden sich darin gar nicht von -vielen Nationalisten, die sie bekämpften — auf das Leben gaben, um so -höher schätzte er es für seinen Teil. Jenen war die Idee fast durchweg -wichtiger als das Leben. (In diesem Wahn erblickt ja die allgemeine -Meinung eine Größe der Menschheit.) - -Dennoch fühlte sich Clerambault sehr beglückt, unter ihnen auch einen -Menschen zu finden, der das Leben um des Lebens willen liebte. Es war -ein Kamerad Moreaus namens Gillot, schwer verwundet wie jener, und in -seinem Zivilberufe Zeichner in einer Fabrik. Ein Geschoß hatte ihn von -oben bis unten mit Splittern übersät. Er hatte ein Bein verloren und -sein Trommelfell war gesprengt. Aber Gillot wehrte sich mit mehr Energie -gegen das Schicksal als Moreau. In den lebhaften Augen dieses kleinen -dunkelbraunen Burschen brannte trotz allem eine Flamme der Heiterkeit. -Er war ganz einig mit Moreau in der Verurteilung der Sinnlosigkeit des -Krieges und der Verbrechen der modernen Gesellschaft, sie hatten -dieselben Dinge und dieselben Menschen gesehen, aber mit verschiedenen -Augen. Und es kam oft zu Diskussionen zwischen beiden. - -„Ja“, sagte Gillot eines Tages, als Moreau gerade Clerambault eine -grauenhafte Erinnerung aus dem Schützengraben erzählte, „ja so war -es..., nur steckt noch etwas Ärgeres dahinter, nämlich, daß das alles -auf uns keinen, gar keinen Eindruck machte.“ - -Moreau protestierte empört. - -„Auf dich vielleicht, und vielleicht auf zwei oder drei andere, da und -dort. Aber die große Masse!... Schließlich hat man bei den Dingen -überhaupt nichts mehr gefühlt.“ - -Und Gillot fuhr rasch fort, um einen neuen Protest Moreaus im voraus zu -unterdrücken: - -„Ich sage das ja nicht, mein Lieber, um etwas aus uns zu machen — dazu -ist ja wahrhaftig kein Anlaß. Ich sage es nur, weil es eben so ist.... -Sehen Sie (er wendete sich jetzt an Clerambault), die Leute, die von -dort zurückkommen und die das in Büchern erzählen, die sagen ja -wirklich, was sie fühlen. Aber diese Leute fühlen eben viel mehr als die -meisten Sterblichen, weil sie Künstler sind. So einen reizt eben alles -in den Nerven auf. Unsereins ist abgebrüht, und wenn ich jetzt daran -denke, scheint mir diese Fühllosigkeit das Ärgste von allem. Wenn Sie -hier eine von den Geschichten lesen, die Ihnen die Haare zu Berge stehen -lassen oder bei denen sich Ihnen der Magen umdreht, so fehlt noch immer -die Pointe daran: nämlich, daß ein paar Burschen dort vorne stehen, ihre -Pfeife rauchen, Witze reißen oder an etwas anderes denken. Und das ist -ja nötig, denn sonst krepierte man ja.... Der Mensch hat eben eine -grauenhafte Fähigkeit, sich an alles anzupassen.... Ich glaube, er würde -ganz gut in einer Düngergrube gedeihen. Es ist ja wahr, man kann ein -Grausen vor sich kriegen, aber ich, der ich da zu Ihnen rede, ich bin -selbst so gewesen. Ich habe nicht, wie es der Kleine da tut, meine Zeit -damit verbracht, herumzusinnieren. Wie alle Welt, fand ich das, was ich -zu tun hatte und tun mußte, blödsinnig. Aber da das ganze Leben eben -blödsinnig ist — ich habe doch recht? —, so tat man eben, was man tun -mußte, tat, soviel eben nötig war und wartete, bis es aufhörte.... -Wartete auf irgendein Ende, auf dieses oder jenes, auf das meines -Kadavers oder das des Krieges. Irgend etwas mußte ja doch einmal zu Ende -sein... Zwischendurch hat man eben gelebt, geschlafen, gefressen, -geschissen, Verzeihung, — aber man muß die Wahrheit sagen — und wenn -Sie, mein Herr, den Grund von dem allen wissen wollen — der Grund ist -eben, daß man das Leben nicht liebt. Ja, man liebt es nicht genug. Sie -haben sehr recht, wenn Sie in einem Ihrer Aufsätze sagen, es ist -wundervoll, das Leben. Aber jetzt sind nicht eben sehr viele, die danach -aussehen, als ob sie das glauben würden, zumindest unter denen, die -wirklich wach leben. Eher schon unter jenen, die schlafen und auf den -letzten großen Schlaf warten. Die sagen sich: „So liegt man wenigstens -schon und braucht sich nicht mehr zu rühren.“ Nein, man liebt es nicht -genug, das Leben, man lehrt es uns ja auch nicht, es zu lieben, im -Gegenteil, man tut alles, was man kann, um es uns widerlich zu machen. -Von Kindheit an singt man uns Lobpreisungen auf den Tod, auf die -Schönheit des Todes oder einen Hymnus auf die, die schon gestorben sind. -Die Geschichte, der Katechismus, der „Heldentod für das Vaterland“! -Pfaffen und Patrioten blasen es in einem Atem, und schließlich wird -einem das Leben selber ekelhaft. Man möchte sagen, es geschieht heute -das Möglichste, um es einem so dreckig als möglich erscheinen zu lassen. -Nirgends eine eigene Initiative mehr, alles Mechanismus, und dabei nicht -einmal Ordnung: keiner leistet mehr ganze Arbeit, jeder nur Stückwerk, -und man weiß gar nicht mehr, was für einen Sinn es hat, und meist hat es -auch gar keinen Sinn. Es ist ein verdammtes Durcheinander, von dem man -nicht einmal etwas hat. Wie ein Hering ist man irgendwo eingepackt und -hingeschmissen. Man weiß nicht, warum man lebt. Man lebt und kommt nicht -weiter. Vor grauen Tagen haben, so sagt man, die Großväter für uns die -Bastille erstürmt, und jetzt tun diese Lumpen, die das Heft in der Hand -haben, so, als gäbe es für uns nichts mehr zu tun, als wäre schon das -Paradies auf Erden fertig. Steht es denn nicht auf allen unseren -Denkmälern geschrieben? Und doch weiß man, daß es nicht wahr ist, daß -irgend ein anderer Sturm sich vorbereitet, eine andere Revolution.... -Freilich! Jene von damals ist so schlecht gelungen! Und alles ist so -unklar... Nein, man hat kein Vertrauen, man sieht nicht, wohin man geht, -es ist keiner da, der uns über diesem Kot und Sumpf irgend etwas Schönes -und Hohes zeigt.... Ja, sie tun alles, was sie können, jetzt, um uns in -Schwung zu bringen: Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit.... Aber der -Schwindel zieht nicht mehr.... Man kann zwar dafür sterben, dazu sagt -man niemals nein... aber leben, das ist etwas anderes.“ - -„Und nun?“ fragte Clerambault. - -„Ah, jetzt, jetzt, wo man nicht mehr zurück kann, jetzt denke ich immer -nur: Wenn man noch einmal von vorne anfangen könnte.“ - -„Und wann hat sich das Gefühl bei Ihnen so geändert?“ - -„Das ist das Tollste! Sofort nach meiner Verwundung. Kaum war ich mit -einem Bein aus dem Leben draußen, so wollte ich schon wieder ins Leben -zurück. Wie schön es doch eigentlich war — nur hatte man, Esel, der man -war, es nicht bemerkt.... Denken Sie, ich sehe mich noch, wie ich zum -erstenmal zum Bewußtsein kam, dort auf jenem Trümmerfeld, noch mehr -zerfetzt als die Leichen, die dort kunterbunt übereinander und -durcheinander, wie bei einem Kegelspiel, lagen. Die ganz besudelte Erde -schien selbst zu bluten. Es war vollkommen Nacht, und ich fühlte zuerst -nichts, als daß es mich fror. Ich lag ganz starr.... Welches Stück von -mir fehlte mir eigentlich? Ich hatte keine Eile, mit dem Nachsehen zu -beginnen, denn mir graute vor dem, was da zutage kommen könnte, und ich -wollte mich nicht rühren. Sicher war, daß ich noch lebte, vielleicht nur -noch einen Augenblick, aber ich gab verteufelt acht, diesen nicht zu -verlieren.... - -Ich sah am Himmel ein Raketensignal. Was es bedeutete, darum bekümmerte -ich mich nicht mehr. Aber wie es aufstieg, sich bog und die feurigen -Blumen dann ausschüttete — ich kann Ihnen nicht sagen, wie schön ich -das fand, ich sog es mit allen Sinnen ein.... Und auf einmal sah ich -mich als ganz kleines Kind, bei der Samaritaine am Ufer der Seine, an -einem Abend, wo es Feuerwerk gab, und ich sah dieses Kind, als ob es ein -anderes wäre, das mich amüsierte und mir leid tat. Und dann dachte ich, -daß es doch gut sei, in das Leben hineingepflanzt zu sein und zu wachsen -und irgendetwas, irgendjemand, gleichgültig wen, zu haben und ihn zu -lieben. Sehen Sie, das kam nur von dieser Rakete.... Dann kamen die -Schmerzen, ich begann zu brüllen, ich steckte wieder den Kopf in das -Loch hinein.... Dann kamen die Leute vom Hilfsplatz... ich hatte dort -kein gutes Leben, der Schmerz fraß mir wie ein Hund an den Knochen... -fast wäre es besser gewesen, dort im Loch geblieben zu sein... und -doch... selbst dort, und gerade dort... welches Paradies schien es mir, -noch einmal so leben zu können wie einst, nur zu leben, zu leben ohne -Schmerzen, so wie man jeden Tag lebte... Und man merkte es nicht! Ohne -Schmerzen... ohne Schmerzen... und leben!... Aber das ist ein Traum. -Wenn der Schmerz nur einen Augenblick aufhörte, wenn man nur eine Minute -Ruhe hatte und bloß den Geschmack der Luft auf der Zunge fühlte und den -Körper so leicht nach aller Qual.... Himmel, wie schön das war.... Und -so war früher das ganze Leben gewesen, und man hatte es nur nicht -bemerkt.... Mein Gott, wie dumm man ist, erst dann das alles zu -verstehen, wenn man’s nicht mehr hat. Und wenn man es dann endlich liebt -und um Verzeihung bittet, daß man’s nicht zu schätzen wußte, dann -antwortet einem das Leben: Zu spät!“ - -„Es ist nie zu spät“, sagte Clerambault. - - § - -Gillot verlangte nichts sehnlicher, als ihm zu glauben. Dieser gebildete -Arbeiter war für den Lebenskampf viel besser ausgerüstet als Moreau und -selbst als Clerambault. Nichts konnte ihn dauernd niederdrücken: fällt -man einmal hin, so steht man wieder auf. Man wird schon einmal Rache -dafür nehmen. In seinem tiefsten Herzen dachte er bei allen -Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellten: „Man wird’s schon -schaffen“, und war bereit, mit der einzigen Pfote, die ihm blieb, darauf -loszumarschieren, so weit es nottat, und je früher, je lieber. Denn auch -er, wie alle anderen, glaubte inbrünstig an die Revolution und reimte -sie mit seinem Optimismus zusammen, der den Umsturz von vornherein in -Milde vollendet sah. Er war ohne jede Gehässigkeit. - -Und doch konnte man sich darauf nicht verlassen, denn in diesen Seelen -aus dem Volke sind viele Überraschungen versteckt. Sie sind zu leicht zu -verführen und jeder Veränderung geneigt... So hörte Clerambault eines -Tages, wie Gillot mit seinem Frontkameraden Lagneau, der gerade auf -Urlaub da war, davon sprach, alles krumm und klein zu schlagen, wenn die -Eingerückten wiederkämen und der Krieg zu Ende sei, oder vielleicht noch -früher.... Der Franzose aus dem Volk, der oft so bezaubernd, lebhaft und -munter ist und einen Gedanken, fast ehe man ihn noch ausgesprochen hat, -erfaßt — mein Gott, wie rasch vergißt er auch! Vergißt alles, was man -gesagt hat, was er selber gesagt hat, was er gesehen, geglaubt, gewollt -hat, und glaubt dabei immer dessen sicher zu sein, was er will, was er -sagt, sieht und glaubt. Vor Lagneau entwickelte Gillot ganz ruhig genau -die entgegengesetzten Ideen wie jene, die er gestern gegen Clerambault -verteidigt hatte, und nicht nur seine Ideen hatten sich verwandelt, -sondern auch gewissermaßen sein Temperament. Am Morgen war ihm nichts -wild genug gewesen für sein Bedürfnis nach Tat und Zerstörung, abends -träumte er wiederum von nichts anderem, als irgendwo ein kleines -Geschäft zu haben, dick zu verdienen, gut zu essen, ein paar Kinder -aufzuziehen und sich den Teufel um alles andere zu scheren. Obwohl diese -Leute sich in aller Aufrichtigkeit Internationalisten nannten, gab es -unter den Soldaten doch genug, die den alten französischen Rassenhochmut -— gar nicht bösartig aber fest verankert — gegenüber der ganzen -übrigen Welt hatten, ob sie mit ihnen verbündet oder ihr Feind war. Und -selbst in Frankreich mißachteten die Pariser die aus der Provinz, oder, -wenn sie selber aus der Provinz waren, Paris. Sie waren männliche, -offene Kerle, immer bereit, loszuschlagen wie Gillot, und sicher die -Rechten, um eine Revolution zu machen, sie zu zerstören und noch einmal -zu machen, aber dann gelangweilt das Ganze hinzuschmeißen als Beute für -den ersten besten Abenteurer, der gerade des Weges kommt. Und das wissen -die politischen Schleicher allzu gut. Sie wissen, die beste Taktik, die -Revolution zu töten, ist, wenn die Stunde gekommen ist, sie ruhig -vorbeigehen zu lassen und das Volk dabei zu amüsieren. - -Und diese Stunde schien sehr nahe. Etwa ein Jahr vor dem Ende des -Krieges gab es in beiden Lagern einige Monate, einige Wochen, wo die -unermeßliche Geduld der gemarterten Völker zu schwinden und ein Schrei -loszubrechen drohte: „Genug!“ Zum erstenmal hatte sich unter ihnen die -Empfindung verbreitet, daß sie blutig genarrt würden, und man kann die -Erbitterung der Menschen aus dem Volke verstehen, wenn sie feststellten, -wie toll die Milliarden im Kriege ausgegossen wurden, während vor dem -Kriege ihre Herren wegen ein paar hunderttausend Franken für die soziale -Hilfe knauserten. Mehr als alle Reden besaßen gewisse Ziffern die -Fähigkeit, die Leute aufzureizen. Man hatte berechnet, daß im Kriege -ungefähr 75000 Franken verbraucht würden, um einen Menschen zu töten, -und man aus derselben Summe, die zehn Millionen Tote macht, zehn -Millionen Rentner hätte schaffen können. Selbst die Dümmsten wurden nun -des ungeheuerlichen Reichtums der Erde und der verbrecherischen -Verschwendung, die man damit trieb, gewahr, der schamlosen Verschwendung -für einen leeren Wahn. Und vor allem der schändlichsten Schändlichkeit: -daß von einem Ende Europas zum anderen an diesen Toten sich das -Geschmeiß der Kriegsgewinner und Leichenschänder dick fraß. - -„Ah“, dachten die jungen Leute, „man rede uns nichts mehr vor vom Kampfe -der Demokratien gegen die Autokratien, es ist immer derselbe Schwindel.“ -Überall hat der Krieg den Völkern die Schuldigen für die Rache kenntlich -gemacht: die herrschende Klasse, die erbärmliche, politische, -geschäftliche und geistige Bourgeoisie, die während eines einzelnen -Jahrhunderts der Allmacht mehr verbrach an Gewalttätigkeit, Ruinen und -Tollheiten, als in zehn Jahrhunderten die Geißel der Könige und der -Kirchen. - -Und kaum, daß sie fern aus dem Walde die Hacke Lenins und Trotzkis, -dieser heroischen Holzhauer, hallen hörten, zitterten viele dieser -niedergepreßten Herzen von neuer Hoffnung. Mehr als einer in jedem Lande -bereitete schon damals sein Beil vor, um mit loszuschlagen — die -herrschende Klasse aber in beiden feindlichen Lagern, von einem Ende -Europas bis zum andern, sträubte sich gegen die gemeinsame Gefahr. Es -war keine besondere Verständigung nötig, damit sie sich untereinander in -diesem Punkte verstanden: hier sprach ihr Instinkt. Die bürgerlichen -Zeitungen der Gegner Deutschlands ließen stillschweigend dem Kaiser -freie Hand, um die russische Freiheit zu erdrosseln, weil sie die -soziale Ungerechtigkeit, von der sie alle gleicherweise lebten, -bedrohte. In der Tollwut ihres Hasses verbargen sie nur schlecht ihre -Freude, als sie sahen, wie der preußische Militarismus, das Untier, das -sich dann gegen sie selbst wenden sollte, sie an diesen großen Empörern -rächte. Aber gerade dadurch entflammte sich in den großen Massen der -Leidenden und bei den kleinen Gruppen der Unabhängigen eine glühende -Bewunderung für jene Ausgestoßenen, die dem ganzen Weltall Schach boten. - -Es kochte im Kessel. Um seine Kraft zu ersticken, hatte ihn die -Regierung hermetisch verschlossen und sich selbst daraufgesetzt. Die -blödsinnige Bourgeoisie aber, die am Ruder war und ständig noch neues -Feuer unter dem Kessel entzündete, war verwundert über das dumpfe -gefahrdrohende Grollen. Sie schob diese Revolte der Elemente dem bösen -Geist einiger freier Sprecher in die Schuhe, oder geheimnisvollen -Intrigen, oder dem feindlichen Geld, oder den Pazifisten. Und sie sah -nicht ein, was ein kleines Kind gesehen hätte, nämlich daß man vor -allem, um die Explosion zu verhindern, das Feuer löschen mußte. Der Gott -aller dieser Mächte, wie immer sie sich nannten, ob Kaiserreich oder -Republik, war doch die Faust, die Kraft, mochte sie sich noch so -verschleiern und überpudern. Innen blieb die harte, selbstsichere -Gewalttätigkeit. Und in natürlichem Rückstoß wurde der Glaube an die -Gewalt auch das Evangelium der Unterdrückten. So entstand ein dumpfer -unterirdischer Kampf zwischen sich entgegenarbeitenden Druckwirkungen. -Wo das Metall verbraucht war — zunächst in Rußland — explodierte der -ganze Kessel. Wo der Deckel nicht so streng niedergehalten wurde — wie -in den neutralen Ländern — fuhr zischend der heiße Dampf aus. In den -kämpfenden Ländern, auf denen die Unterdrückung lastete, herrschte eine -trügerische Stille, die dem Unterdrücker recht zu geben schien. Dort -waren sie ebenso wie gegen den Feind auch gegen ihre Mitbürger -gepanzert, denn die Kriegsmaschine war nach beiden Seiten hin, nach vorn -und nach rückwärts, drohend aufgestellt. Der Verschluß aus härtestem -Stahl schien noch gut zu schließen, die Schrauben preßten ihn eisern an, -so daß es unmöglich war oder schien, daß er jemals aufging. Es sei denn, -daß plötzlich alles in die Luft flöge. - -Clerambault, nicht minder unter die furchtbare Schraube gepreßt als die -anderen, sah ringsum die Revolte sich vorbereiten. Er begriff sie, er -hielt sie sogar für unvermeidlich. Aber deshalb liebte er sie noch -nicht. Er fand sich nicht ab mit der bequemen „_amor fati_“. Ihm genügte -es, zu verstehen. Aber keine Tyrannei schien ihm ein Recht auf Liebe zu -haben. - - § - -Die jungen Leute aber verweigerten ihr die ihre durchaus nicht und waren -erstaunt, daß Clerambault so wenig Begeisterung für das neue Idol aus -dem Norden zeigte, für die Diktatur des Proletariats. Sie hielten sich -nicht lange bei vorsichtigen Bedenken und halben Maßregeln auf, um die -Welt glücklich zu machen — auf ihre Art, wenn nicht auf die seine —, -sie diktierten gleich im ersten Anlauf die Unterdrückung jeder Freiheit, -die ihrer Idee von Freiheit entgegengesetzt wäre. Die abgesetzte -Bourgeoisie sollte des Versammlungsrechtes, des Stimmrechtes, des -Rechtes der öffentlichen Meinungsäußerung beraubt werden. - -„Schön“, sagte Clerambault, „aber dann wird sie das neue Proletariat -werden. Dann ändert nur die Gewalt ihren Posten.“ - -„Aber das wird nur eine Zeitlang dauern. Wir werden die letzte -Unterdrückung sein, die eben die Unterdrückung in alle Ewigkeit töten -wird.“ - -„Ja, immer der Krieg für Recht und Freiheit; immer der letzte Krieg, der -den Krieg für alle Zeiten töten soll. Aber er befindet sich bisher recht -wohl, und das Recht wie die Freiheit bekommen dabei ihre Fußtritte.“ - -Sie protestierten unwillig gegen den Vergleich. Sie sahen im Krieg, und -an denen, die ihn führten, nur Gemeinheit. - -„Und doch“, sagte Clerambault sanft, „haben eine ganze Reihe von euch -mitgetan und fast alle daran geglaubt.... Nein, nein, protestiert nicht! -Auch in dem Gefühl, das euch damals dazu trieb, war etwas Edles. Man -zeigte euch ein Verbrechen, und ihr seid darauf losgegangen, um es zu -vernichten. Euer Eifer war wundervoll. Nur habt ihr geglaubt, es gäbe -nur dieses eine Verbrechen, und hätte man das aus der Welt geschafft, so -würde sie unschuldig und rein sein wie im goldenen Zeitalter. Die selbe -seltsame Naivität ist mir schon in der Zeit der Dreyfusaffäre -aufgefallen. Damals war es so, als ob alle anständigen Leute Europas -(ich gehörte auch dazu) noch nie gehört hätten, daß bisher jemals ein -Unschuldiger ungerechter Weise verurteilt worden sei. Ihr ganzes Leben -war von dieser Erkenntnis einfach umgestürzt, und sie setzten das -Weltall in Bewegung, um diesen Flecken auszutilgen.... Mein Gott, als -die Wäsche fertig war — eigentlich wurde sie ja nicht einmal fertig, -denn die Wäscher wurden müde mitten in der Arbeit und der Reingewaschene -selbst auch — nun, da war die ganze Welt genau so schmutzig wie vorher. -Es scheint eben, daß der Mensch nicht fähig ist, die Gesamtheit des -menschlichen Elends mit seinem Blick zu umfassen. Er hat zu viel Angst, -die Ungeheuerlichkeit des Bösen zu sehen, und um davon nicht ganz -niedergeschmettert zu sein, sucht er sich immer irgendeine einzelne -Sache aus, lokalisiert in ihr das ganze Böse der Welt und hütet sich, -auf alles andere zu schauen. Das alles, meine Freunde, ist mir -verständlich, weil es menschlich ist. Aber man muß eben mehr Mut haben. -In Wirklichkeit ist das Böse überall, beim Feinde sowohl, wie bei uns -selbst. Ihr habt es allmählich in unserem Staatswesen entdeckt und jetzt -wendet ihr euch mit der gleichen Leidenschaft, die früher alles Böse nur -im Feinde sah, gegen die Regierungsformen, deren Fehler euch aufgegangen -sind. Erst wenn ihr einmal erkennen werdet, daß diese Fehler auch in -euch sind — und das ist zu befürchten, nach den Erfahrungen aller -Revolutionen, die immer leidenschaftlich geworden sind, und in denen -jene, die das Recht bringen wollten, schließlich, ohne es selbst recht -zu verstehen, ihre eigenen Hände und ihr Herz beschmutzt fanden —, dann -werdet ihr euch mit einer düsteren Verzweiflung gegen euch selbst -wenden.... Ihr großen Kinder, wann werdet ihr es euch abgewöhnen, gleich -das Absolute zu wollen.“ - -Sie hätten ihm darauf antworten können, man müsse das Absolute wollen, -um das Wirkliche zu erreichen. Für den Gedanken könne es Nuancen geben, -aber die Tat dulde keine. Clerambault solle sich zwischen ihnen oder -ihren Gegnern entscheiden! Hier gebe es keine Zwischenmöglichkeit. - -Und Clerambault verstand dies. Auf dem Feld der Tat gibt es keine andere -Wahl. Dort ist alles vorausbestimmt. Ebenso wie der ungerechte Sieg mit -notwendiger Gewißheit die Revanche erzeugt, die dann wieder ihrerseits -ungerecht sein wird, so führt die kapitalistische Unterdrückung zur -proletarischen Revolution, die dann wieder nach ihrem Vorbild -unterdrückt werden wird. Es ist eine Kette ohne Ende, in der eine eherne -Dike waltet, die eine klare Vernunft erkennt und sogar als ein -Weltgesetz ehren kann. Aber das Herz weigert sich, diese Gesetze -anzuerkennen, sich ihnen zu unterwerfen, denn seine Aufgabe ist es ja, -das Gesetz des ewigen Krieges zu zerbrechen. Wird es ihm jemals -gelingen? ... Wer weiß? Jedenfalls ist eines gewiß, daß dieses Hoffen, -dieses Wollen des Herzens außerhalb der gewöhnlichen Ordnung steht, daß -es aus einer überirdischen, aus einer geradezu religiösen Welt stammt. - -Aber Clerambault, der davon durchdrungen war, wagte noch nicht, sich -dies einzugestehen. Oder er wagte zum mindesten nicht, das Wort -„religiös“ auf sich zu beziehen, das Wort, das die Religionen von heute -— die so wenig religiösen — diskreditiert haben. - - § - -Hatte Clerambault also selbst noch nicht volle Klarheit in sein Denken -gebracht, so war es für seine Freunde noch schwieriger, sich in seiner -Weltauffassung auszukennen. Und wäre ihnen selbst Gelegenheit dazu -geboten gewesen, sie übersichtlich zu erfassen, so hätten sie sie doch -nie verstanden. Sie konnten es nicht ertragen, daß ein Mann, der so -energisch den momentanen Zustand der Dinge als schlecht und mörderisch -verurteilte, trotzdem nicht ihre radikalsten Maßnahmen billigte, um -diesen Zustand aus der Welt zu schaffen. Von ihrem Gesichtspunkt, -demjenigen der sofortigen Aktion, hatten sie nicht unrecht. Aber das -Feld des Geistigen ist viel weiter; seine Kämpfe spielen sich in -größeren Räumen ab und verzetteln sich nicht in blutigen Plänkeleien. -Clerambault erkannte das ewige Axiom der Tat „Der Zweck heiligt die -Mittel“ nicht an, selbst nicht unter der Voraussetzung, daß diese von -seinen Freunden gepriesene Kampfmethode die erfolgreichste sei. Er war -im Gegenteil der Meinung, daß die Mittel für den wirklichen Fortschritt -von höherer Wichtigkeit seien als die Ziele. Denn Ziele ... gibt es denn -wirklich ein endgültiges Ziel? - -Diese allzu umfassende und verschwommene Art des Denkens erbitterte aber -die jungen Menschen und bestärkte sie in jener gefährlichen Abneigung -gegen die Intellektuellen, die sich seit fünf Jahren bei der arbeitenden -Bevölkerung herausgebildet hatte. Sicherlich hatten die Intellektuellen -nichts Besseres verdient, denn wie weit waren die Zeiten, wo die -Geistigen an der Spitze der Revolutionen standen! Jetzt schlossen sie -sich mit allen reaktionären Kräften zusammen, und selbst die -verschwindend kleine Zahl derer, die sich außerhalb des Clans gehalten -hatten und seine Irrtümer tadelten, zeigte sich, wie Clerambault, -unfähig, auf ihren Individualismus zu verzichten, der sie einmal -gerettet und nun zu Gefangenen gemacht hatte. Kaum hatten nun die -Revolutionäre die Unfähigkeit selbst der Besten erkannt, sich den neuen -Massenbewegungen einzuordnen, so gingen sie einen Schritt weiter und -proklamierten den Niedergang der Intellektuellen. Der Stolz der -Arbeiterklasse, der sich schon in Artikeln und Reden äußerte, -ungeduldig, sich wie in Rußland bald in Taten manifestieren zu können, -dieser Stolz verlangte, daß die Intellektuellen sklavisch ihren -proletarischen Herren gehorchten. Das Seltsamste dabei war, daß einige -unter den Intellektuellen selbst am leidenschaftlichsten diese -Erniedrigung ihres Standes verlangten — sie hätten gern damit glauben -gemacht, daß sie nicht mehr dazu gehörten und vergaßen es sogar -selbst.... Moreau freilich vergaß es nicht. Aber nur mit noch größerer -Bitterkeit verabscheute er die Klasse, deren Nessushemd ihm auf der Haut -brannte. Seine Erbitterung war ohne Maß. - -Er trug jetzt gegen Clerambault seltsam aggressive Gefühle zur Schau. Er -unterbrach ihn in der Diskussion ohne jede Höflichkeit, mit einer -gewissen Art ironischer und gereizter Schärfe, daß man oft das Gefühl -hatte, er wolle ihn bewußt verletzen. - -Clerambault nahm es ihm nicht übel. Er war voll Mitleid mit ihm, denn er -wußte, daß Moreau litt, und konnte sich die Bitterkeit eines -hingeopferten jungen Lebens gut vorstellen, dem die sittliche Nahrung, -die für einen fünfzigjährigen Magen gehört — Geduld und Resignation — -nicht recht munden wollte. - -Eines Abends, als sich Moreau gegen Clerambault besonders unangenehm -gezeigt hatte und doch ihn durchaus nach Hause begleiten wollte, -gleichsam als könnte er sich nicht entschließen, ihn zu verlassen, und -als er da vor sich hinschweigend und verschlossen an seiner Seite -schritt, blieb Clerambault einen Augenblick stehen und sagte, indem er -freundschaftlich seinen Arm nahm, lächelnd: - -„Mein armer Junge, dir geht es wohl nicht gut?“ - -Moreau war verdutzt, raffte sich zusammen und fragte trockenen Tones, -woran man denn merken könnte, daß „es nicht gut ginge“. - -„Nun daran, daß Sie so bösartig waren heute abend“, antwortete -Clerambault gutmütig. - -Moreau protestierte. - -„O doch! Was für Mühe haben Sie sich gegeben, um mir weh zu tun: Ja, -doch, ein wenig, nur ein ganz klein wenig.... Ich weiß es sehr gut, daß -Sie es nicht ganz ernstlich wollen, aber wenn ein Mensch wie Sie einen -andern leiden machen will, so ist das ein Zeichen, daß er selber -leidet.... Habe ich nicht recht?“ - -„Verzeihen Sie mir“, sagte Moreau, „es ist wahr. Mir tat es weh, zu -sehen, daß Sie nicht an unsere Aktion glauben.“ - -„Und Sie selbst?“ fragte Clerambault. - -Moreau verstand nicht. - -„Und Sie selbst“, wiederholte Clerambault, „glauben Sie denn daran?“ - -„Und ob ich daran glaube“, rief Moreau entrüstet. - -„Aber nein“, sagte Clerambault ganz sanft. - -Moreau war nahe daran, zornig auszubrechen. Dann sagte er nachgiebiger: -„Doch, durchaus!“ - -Clerambault war weitergegangen. - -„Nun gut“, sagte er, „das ist ja Ihre Sache, Sie müssen ja besser wissen -als ich, was Sie eigentlich glauben.“ - -Sie gingen nebeneinander her, ohne zu sprechen. Nach einigen Minuten -faßte Moreau Clerambault am Arm und sagte: - -„Wieso konnten Sie das wissen?“ - -Sein Widerstand war gebrochen. Er enthüllte die Verzweiflung, die sich -unter seinem aggressiven Willen zur Gläubigkeit und zur Tat verbarg. -Innerlich war er von Pessimismus zerfressen, der ja immer eine -natürliche Folge jedes in seinen Illusionen schmerzhaft enttäuschten, -übermäßigen Idealismus ist. Die religiöse Seele von einst war ganz -ruhevoll: sie stellte das Gottesreich hinüber in ein Jenseits, das kein -irdisches Geschehnis erreichen oder zerstören konnte. Aber die religiöse -Seele von heute, die das Gottesreich mitten in unsere Welt stellen will -und es auf dem Grunde der menschlichen Vernunft und der Liebe aufbaut, -die wird lebensüberdrüssig, sobald das Leben ihren Traum einstürzen -läßt. Es gab Tage, wo Moreau sich am liebsten die Adern aufgeschnitten -hätte! Die Menschheit schien ihm wie eine faulende Frucht, voll -Verzweiflung sah er den Zusammenbruch, den Untergang, die Niederlage, -die von allem Anfang im Schicksal der menschlichen Rasse wie ein Wurm in -der Frucht eingesponnen sitzt, und er konnte die Idee dieses unsinnigen -und tragischen Schicksals, dem die Menschen nie entrinnen werden, nicht -ertragen. Wie Clerambault fühlte er in seinen Adern das Gift des Wissens -und der Vernunft; aber indes Clerambault die Krise überstanden hatte und -die Gefahr nur in der Zügellosigkeit des Geistes sah und nicht schon in -seinem Wesen, war Moreau von der Vorstellung besessen, die Vernunft sei -selbst schon von Gift durchtränkt. Seine krankhaft erregte Phantasie -erschöpfte sich selbstquälerisch in immer neuen Vorstellungen, sie -zeigte ihm die Menschheit mit dem unauslöschlichen Brandmal der -Krankheit ihrer Geistigkeit behaftet. Im vorhinein sah er alle -Möglichkeiten von Katastrophen, denen sie zudrängte. Sah man denn nicht -schon das tragische Schauspiel, wie die Vernunft vor Hochmut taumelte -angesichts der ihr von der Wissenschaft ausgelieferten Gewalten, -angesichts jener Dämonen der Natur, die ihr durch die magische Formel -der Chemie untertan waren, und wie sie in Verwirrung über die zu rasch -überhandnehmende Macht diese zu ihrem eigenen Selbstmord mißbrauchte? - -Aber Moreau war zu jung, um unter dem Druck solcher Wahnvorstellung zu -verbleiben. Man mußte etwas tun, etwas tun um jeden Preis, um nicht -allein mit dieser Vision zu bleiben. - -„Nein, hindern Sie uns nicht an der Tat! Im Gegenteil, feuern Sie uns -dazu an!“ - -„Mein Freund“, sagte Clerambault, „man darf die anderen nur dann zu -einer gefährlichen Tat ermutigen, wenn man selber mittut. Mir sind die -Aufhetzer, selbst wenn sie aufrichtig sind, unerträglich, all jene, die -andere treiben, Märtyrer zu werden, ohne selbst das Beispiel zu geben. -Es gibt nur einen Typus des wahrhaft heiligen Revolutionärs: das ist der -Gekreuzigte. Aber nur sehr wenige Menschen sind für die Aureole des -Kreuzes geboren. Der Hauptfehler besteht darin, sich selbst -übermenschliche und unmenschliche Pflichten zu setzen. Es ist ungesund -für die Mehrheit der Menschen, sich zum Übermenschen erheben zu wollen, -und vielleicht für sie selbst nur eine Quelle unnützer Qualen. Aber -jeder Mensch kann trachten, in seinem kleinen Kreise das innere Licht -auszustrahlen, Ordnung, Frieden und Güte. Und das ist das wahre Glück.“ - -„Aber das genügt mir nicht“, sagte Moreau. „Das läßt zuviel Raum für den -Zweifel. Alles oder nichts.“ - -„Ja, eure Revolution hat keinen Raum für den Zweifel. Für euch heiße und -harte Herzen, für euch geometrische Gehirne heißt es: alles oder nichts. -Nur keinen Übergang! Aber, was wäre das Leben ohne Übergänge? Sind sie -denn nicht seine Schönheit und seine Güte? Eine zerbrechliche Schönheit -freilich, eine kraftlose Güte, überall Schwäche und Hunger nach Liebe. -Man muß lieben, man muß helfen, Tag für Tag und Schritt für Schritt. Die -Welt verwandelt sich nicht mit einem Schlag und niemals ganz, weder -durch Gewaltstreiche, noch durch Gnadenstöße. Aber Sekunde für Sekunde -geht sie ins Unendliche hinüber, und der schlichteste Mann, der das -fühlt, hat Teil an der Unendlichkeit. Nur Geduld! Eine einzige -Ungerechtigkeit, die man beseitigt, erlöst noch nicht die Menschheit, -aber sie verklärt einen Tag. Und es werden andere kommen und andere -Verklärungen, und jeder Tag bringt seine Sonne. Möchten Sie das -verhindern?“ - -„Wir können nicht warten“, sagte Moreau. „Wir haben keine Zeit. Jeder -Tag, den wir leben, stellt uns Probleme, die uns ganz aufzehren und die -wir sofort lösen müssen. Wenn wir sie nicht beherrschen, werden wir -ihnen untertan. Wir, damit meine ich nicht so sehr unsere Personen, wir -sind ja schon Hingeopferte. Aber alles, was wir lieben, was uns noch dem -Leben verbindet: die Hoffnung auf die Zukunft, das Heil der -Menschheit.... Fühlen Sie doch, wie diese quälenden Fragen um aller -Zukünftigen willen uns bedrücken, um aller, die Kinder haben. Dieser -Krieg ist ja noch nicht zu Ende, und es ist nur allzu klar, daß er durch -seine Verbrechen und seine Lügen neue, nahe Kriege heraufbeschwört. -Wofür zieht man Kinder auf? Wofür wachsen sie heran? Vielleicht für -ähnliche Schlächtereien? Welcher Ausweg ist da möglich? Man hat rasch -ihre ganze Reihe erschöpft.... Man könnte diese toll gewordenen -Nationen, diese närrischen alten Kontinente verlassen und auswandern, -aber wohin? Gibt es denn irgendwo auf dem Erdball noch fünfzig Joch -Erde, die den freien anständigen Menschen Unterschlupf gewähren? Oder -eine Wahl treffen? Sie sehen wohl, man muß sich entscheiden. Entweder -für die Nation oder für die Revolution. Was bleibt denn sonst noch? Das -Nichtwiderstreben gegen das Übel? Scheint Ihnen das wünschenswert? Das -hat doch nur einen Sinn, wenn man gläubig ist, religiös gläubig, sonst -wäre es nur die Resignation von Schafen, die sich hinschlachten lassen. -Aber die meisten, leider Gottes, entscheiden sich für nichts und ziehen -es vor, gar nicht zu denken, schauen krampfhaft von der Zukunft weg und -lügen sich vor, daß das, was sie gesehen und gelitten haben, nun für -ewige Zeiten vorüber sei ... Darum müssen wir für jene eine Entscheidung -fällen, ob sie wollen oder nicht, sie nach vorwärts treiben, sie retten -gegen ihren eigenen Willen. Die Revolution, das sind immer nur einzelne -Menschen, die für die ganze Menschheit etwas wollen.“ - -„Mir paßte es nicht sehr“, antwortete Clerambault, „wenn jemand anderer -für mich wollte, und ebensowenig, für einen anderen zu wollen. Ich -möchte lieber jedem helfen, frei zu sein, und selbst der Freiheit keines -anderen Menschen im Wege stehen. Aber ich weiß, ich verlange zuviel.“ - -„Sie verlangen das Unmögliche“, sagte Moreau. „Wenn man einmal beginnt, -zu wollen, darf man nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Es gibt nur -zwei Arten Menschen: diejenigen, welche zuviel wollen — Lenin und alle -Großen (es gibt ihrer wohl kaum mehr als zwei Dutzend in der ganzen -Weltgeschichte) und dann die anderen, die zu wenig wollen, die das -Wollen nicht verstehen. Das ist der große Rest, das sind wir, das bin -ich selbst.... Sie haben es nur zu gut erkannt.... Mein ganzer Wille -kommt nur aus Verzweiflung.“ - -„Warum denn verzweifeln?“ sagte Clerambault. „Das Schicksal des Menschen -formt sich jeden Tag und keiner kennt es. Unser Schicksal ist das, was -wir sind. Sind wir mutlos, so entmutigen wir es.“ - -Aber Moreau sagte niedergeschlagen: - -„Nein, wir werden nicht stark genug sein, wir werden nicht stark genug -sein.... Glauben Sie, ich wüßte nicht, was für lächerlich geringe -Erfolgsaussichten bei uns jetzt die Revolution hat? Jetzt, in der -gegenwärtigen Zeit, nach den Verwüstungen, der ökonomischen Vernichtung, -der Demoralisation, der tödlichen Müdigkeit, nach all diesen Dingen, die -von den vier Kriegsjahren verschuldet sind?“ - -Und er fügte das Geständnis bei: - -„Ich habe schon das erstemal gelogen, als ich Sie sah, als ich -behauptete, alle meine Kameraden fühlten so stark wie wir das Leiden und -die Erbitterung darüber. Gillot hat Sie richtig belehrt: wir sind nur -ganz wenige. Die anderen sind meistens gute Kerle, aber schwache, -schwache Naturen ... Sie beurteilen die Dinge ziemlich richtig, aber -statt mit dem Kopf gegen die Mauer zu rennen, ziehen sie vor, lieber gar -nicht daran zu denken und sich mit Ironie schadlos zu halten. Ach, -dieses französische Lachen, das ist unser Reichtum und auch unser -Untergang! Es ist ja so schön, aber eine wie gute Handhabe für alle -Unterdrücker. „Mögen sie Spottlieder singen, wenn sie nur ihre Steuern -zahlen“, sagte jener Italiener, und bei uns heißt es: „Mögen sie lachen, -wenn sie nur sterben.“ Dazu kommt noch diese furchtbare -Anpassungsfähigkeit, von der Gillot zu Ihnen sprach. Man kann den -Menschen zu den tollsten und qualvollsten Lebensbedingungen treiben — -wenn sie nur lange genug dauern und er sie innerhalb der Herde mitmacht, -so gewöhnt er sich an alles, an das Warme und an das Kalte, an den Tod -und das Verbrechen. Die ganze Kraft, die für den Widerstand nötig wäre, -verbraucht man auf die Gewöhnung, und dann rollt man sich in irgendeine -Ecke, ohne sich zu rühren, aus Angst, man könne mit irgendeiner -Veränderung die eingeschläferte Qual wieder aufwecken. Ach, es lastet -eine solche Müdigkeit auf uns allen! Wenn die Soldaten zurückkommen -werden, dann werden sie nur einen Wunsch haben: zu vergessen und zu -schlafen.“ - -„Und Lagneau, der Hitzkopf, der Tollkopf, der davon redet, alles krumm -und klein zu schlagen?“ - -„Lagneau? Den kenne ich seit Kriegsausbruch. Ich habe gesehen, wie er -eins nach dem andern war, Kriegsbegeisterter, Revanchetrompeter, -Annexionist, Internationaler, Sozialist, Anarchist, Bolschewist und -„_Je-m’en-fichiste_“. Er wird schließlich als Reaktionär enden und sich -wieder hinausschicken lassen, um sich mit Hurra und Heil auf jeden -Feind, den sich die Regierung unter unseren heutigen Feinden oder -Freunden aussuchen wird, zu werfen. Und das Volk? Es ist unserer -Ansicht, aber gleichzeitig auch der Ansicht der Gegner. Das Volk hat -immer hintereinander alle Ansichten.“ - -„Sie sind also Revolutionär aus Verzweiflung?“ sagte lachend -Clerambault. - -„Es gibt viele dieser Art unter uns.“ - -„Aber Gillot ist doch aus dem Krieg optimistischer zurückgekommen, als -er jemals war?“ - -„Gillot kann vergessen“, sagte bitter Moreau. „Ich neide ihm dieses -Glück nicht.“ - -„Aber wir dürfen es ihm nicht zerstören“, sagte Clerambault. „Helfen Sie -Gillot. Er hat Sie nötig.“ - -„Mich?“ staunte Moreau ungläubig. - -„Er hat zu seiner Stärke notwendig, daß man an seine Kraft glaubt. So -glauben Sie daran.“ - -„Kann man denn glauben wollen?“ - -„Sie wissen ja etwas davon.... Nicht wahr, nein, man kann es nicht ... -Aber man kann glauben aus Liebe“. - -„Aus Liebe zu jenen, die gläubig sind?“ - -„Glaubt man denn nicht immer nur aus Liebe, kann man denn anders gläubig -sein als aus Liebe?“ - -Moreau war gerührt. Seine intellektuelle, von Wissensdurst brennende und -verzehrte Jugend hatte, wie die der besten in der bürgerlichen Klasse, -am Mangel brüderlicher Zuneigung gelitten. Menschliche Verbrüderung und -Seelengemeinschaft ist ja aus der modernen Erziehung verbannt. Erst -allmählich und mißtrauisch war dieses konstant unterdrückte Urgefühl in -den Schützengräben, in diesen Gräbern der lebendig zusammengedrängten -leidenden Leiber, wieder erwacht. Aber man hatte Scham, sich ihm -hinzugeben. Die gemeinsame Verhärtung, die Furcht vor Sentimentalität, -die Ironie umkrusteten das Herz. Erst seit der Krankheit Moreaus war die -Umschalung von Stolz nachgiebiger geworden, und es kostete Clerambault -keine Mühe, sie gänzlich zu zerbrechen. Die Wohltat, die von diesem -Manne ausging, war, daß bei der Berührung mit ihm die Eigensucht in den -Menschen hinschwand, denn er besaß selbst keine. Man zeigte sich ihm, -wie er sich selbst allen zeigte, mit seiner wahren Natur, seinen -Schwächen und all den Aufschreien, die sonst ein falscher Stolz zu -ersticken sucht. Moreau, der an der Front, ohne es sich offen -einzugestehen, die Überlegenheit seiner Kameraden oder der -Unteroffiziere, also von Menschen aus einer niedrigeren Schicht, erkannt -hatte, fühlte für Gillot Sympathie und war glücklich, daß Clerambault an -sie appellierte. Clerambault hatte seinen geheimsten Wunsch erweckt, -einem andern eine Notwendigkeit zu sein. - -Und ebenso flüsterte Clerambault Gillot die Anregung ein, Optimist für -zwei zu sein und Moreau zu helfen. So fanden beide, in ihrem Bedürfnis, -dem andern zu helfen, selbst eine Hilfe nach dem Gesetz des Lebens: „Wer -gibt, der hat.“ - -In welcher Zeit immer man lebt, und sei es auch eine der Zertrümmerung, -so ist doch nichts verloren, solange noch in der Seele einer Rasse ein -Funke der männlichen Freundschaft lebendig bleibt. Man muß ihn erwecken, -muß die frierenden einsamen Herzen einander annähern, damit wenigstens -eine der Früchte dieses Völkerkrieges die Vereinigung der Elite der -Klassen, die Verbrüderung der beiden Jugenden sei — jener aus der Welt -der Arbeit und jener aus der des Gedankens —, die, indem sie sich -ergänzen, die Zukunft erneuern sollen. - - § - -Ist der beste Weg zur Einigung der, daß keiner den andern beherrschen -will, so muß auch das Gegenteil gültig sein, nämlich, daß keiner sich -vom andern unterdrücken lassen darf. Gerade dazu aber trieb diese jungen -Intellektuellen dieser revolutionären Gruppen eine seltsame Eigenliebe. -Sie schulmeisterten verächtlich Clerambault im Namen des neuen Prinzips, -das die Intellektuellen in den Dienst des Proletariats stellen wollte -... „Dienen, dienen!“ Das war das Schlußwort des einst so stolzen -Richard Wagner, aber auch das Wort manch eines enttäuschten Stolzes. -Manche wollen, sobald sie sehen, daß sie nicht Herr sein können, sofort -Sklaven sein. - -„Am schwersten ist es in dieser Welt“, dachte Clerambault, „anständige -Menschen zu finden, die einfach meinesgleichen sein wollen. Sind diese -aber unauffindbar und bedarf es unbedingt einer Tyrannei, so ziehe ich -noch diejenige, die einen Aesop und Epiktet körperlich zu Sklaven -machte, aber ihren Geist vollkommen frei gab, jener vor, die äußere -Freiheit mit Seelenknechtschaft verbindet.“ - -Durch diese Unduldsamkeit wurde er sich erst so recht seiner Unfähigkeit -bewußt, sich irgendeiner Partei anzuschließen. Zwischen den beiden -Möglichkeiten, der der Revolution und der des Krieges, konnte er (und er -tat es auch offen) seine Vorliebe für die Revolution bekunden, denn sie -allein bot ihm eine Hoffnung auf Erneuerung, indes die andere jede -Zukunft tötete. Aber eine Partei vorziehen, bedeutet noch lange nicht, -damit schon seine geistige Unabhängigkeit aufzugeben. In den Demokratien -ist gerade die Auffassung so irrig und so widersinnig, daß alle die -gleichen Pflichten hätten und dieselben Aufgaben. In einer kämpfenden -Gemeinschaft sind die Aufgaben sehr verschieden. Während der Hauptteil -der Armee dafür ficht, einen sofortigen Erfolg zu erzielen, müssen -andere die ewigen Werte gegen den Sieger von morgen, wie gegen den von -gestern behaupten, denn sie schreiten ihnen voraus und erleuchten sie -alle: ihr Licht glänzt fernhin auf den Weg, weit hinaus über den Qualm -des Kampfes. Clerambault hatte sich zu lange von diesem Qualm den Blick -trüben lassen, als daß er sich neuerdings in ein solches Getümmel -stürzen wollte. Aber in dieser Welt der Blinden ist schon die Bemühung, -sehen zu wollen, ein Ungehöriges und vielleicht sogar ein Verbrechen. - -Diese ironische Wahrheit wurde ihm während einer Unterhaltung so recht -bewußt, in der einer dieser kleinen Saint-Justs ihm gerade den Text -gelesen und ihn recht frech mit dem „Astrologen, der sich in die Tiefe -des Brunnens fallen ließ“, verglichen hatte. - - _... On lui dit: Pauvre bête,_ - _Tandis qu’à peine à tes pieds tu peux voir,_ - _Penses-tu lire au-dessus de ta tête?_ - -Und da er nicht humorlos war, fand er den Vergleich nicht ganz -unberechtigt. Gewiß, er gehörte ein wenig der Gemeinschaft jener an.... - - _... De ceux qui bayent aux chimères,_ - _Cependant qu’ils sont en danger,_ - _Soit pour eux soit pour leurs affaires...._ - -Aber wollte denn diese Republik auf die Astrologen verzichten, wie die -erste Republik noch auf die Chemiker? Oder meint ihr sie in Reih und -Glied disziplinieren zu können? Dann ist zu erwarten, daß wir alle -zusammen in den Grund des Brunnens hineinfallen. Wollt ihr das wirklich? -Ich würde nicht Nein sagen, handelte es sich nur darum, euer Schicksal -zu teilen. Aber euern Haß will ich nicht teilen! - -„Auch Sie haben Ihren Haß“, antwortete ihm einer der jungen Leute. - -Gerade in diesem Augenblick trat ein anderer mit einer Zeitung in der -Hand herein und rief Clerambault zu: „Meinen Glückwunsch, Ihr Feind -Bertin ist tot....“ - -Der reizbare Journalist war innerhalb weniger Stunden von einer -ansteckenden Lungenentzündung dahingerafft worden. Seit sechs Monaten -hatte er wütend alle jene verfolgt, die er im Verdacht hatte, den -Frieden zu suchen oder auch nur zu wünschen. Denn allmählich war er dazu -gekommen, nicht nur im Vaterlande, sondern auch im Kriege selbst eine -heilige Sache zu sehen. Unter den Opfern seiner Böswilligkeit war -Clerambault sein beliebtestes. Bertin konnte nicht verzeihen, daß er -gewagt hatte, seinen Angriffen standzuhalten. Die Erwiderung -Clerambaults hatte ihn anfangs wütend gemacht. Als Clerambault aber dann -verächtlich auf seine Anschuldigungen und Beschimpfungen kein Wort mehr -erwiderte, verlor er jedes Maß. Seine gewaltsam aufgeblähte übermütige -Eitelkeit war davon so verletzt, daß einzig die vollständige, restlose -Vernichtung des Gegners ihn noch befriedigen konnte. Clerambault -erschien ihm nicht mehr bloß als persönlicher Feind, sondern als Feind -des Staates, als Hochverräter, und er setzte alle Mühe daran, dafür -Beweise zu erbringen, stempelte ihn zum Zentrum eines großen -pazifistischen Komplotts, dessen Lächerlichkeit zu jeder anderen Zeit -jedem in die Augen gesprungen wäre. Aber damals hatte man keine Augen -mehr. Gerade in den letzten Wochen überstieg die Polemik Bertins in -Ansprung und Heftigkeit alles, was er bisher geschrieben hatte. Sie -bedeutete eine wirkliche Drohung für all jene, die der Ketzerei des -Friedenswillens schuldig oder verdächtig waren. - -Mit lärmender Befriedigung wurde daher die Nachricht von seinem Tode in -der kleinen Versammlung aufgenommen, und man hielt ihm seine Grabrede in -einer Tonart, die an Energie nichts den Meistern dieser Gattung nachgab. -Clerambault, in die Zeitung vertieft, hörte kaum zu, als einer, der an -seiner Seite saß, ihm auf die Schulter klopfte und sagte: - -„Nicht wahr, das macht Ihnen Vergnügen?“ - -Clerambault fuhr auf. - -„Vergnügen!“ sagte er. „Vergnügen!“ wiederholte er. - -Er nahm seinen Hut und ging weg. - -Er trat auf die dunkle Straße, deren Lichter wegen eines -Luftangriffalarms abgelöscht waren. - -In seinen Gedanken sah er ein feines Knabengesicht voll warmer Blässe, -mit schönen, zärtlichen, braunen Augen, gelocktem Haar, belebtem und -lachendem Munde, mit klingendem Stimmfall.... Bertin zur Zeit ihrer -ersten Begegnung, als sie beide noch siebzehn Jahre alt waren. Und er -gedachte ihrer langen, einsamen Nachtwachen, ihrer teuren Vertrautheit, -ihrer Gespräche und Träume — denn auch Bertin träumte damals. Trotz all -seines praktischen Sinnes, seiner frühreifen Ironie konnte er sich nicht -unerfüllbarer Hoffnungen erwehren, nicht der edlen Projekte für eine -neue Menschheit. Ach, wie die Zukunft doch ihren Kinderblicken schön -erschienen war, und wie bei solchen Visionen in verzückten Augenblicken -ihre beiden Herzen sich leidenschaftlich in liebender Freundschaft -hingaben! - -Und was hatte nun das Leben aus ihnen beiden gemacht! Was für eine -hartnäckige Erbitterung, was für ein haßvolles Bestreben Bertins, seine -eigenen Träume von einst und den Freund, der ihnen treu geblieben, zu -Boden zu stampfen! Und er selbst, Clerambault, der sich vom gleichen -mörderischen Sturm hinreißen ließ, und versuchte, Schlag auf Schlag den -Gegner blutig zu treffen... der — voll Entsetzen gestand er sich’s ein -— im ersten Augenblick, als er vom Tode des einstigen Freundes hörte, -eine Art Erleichterung empfunden hatte.... Was für ein Dämon wirkt doch -in uns, was für schlechte Instinkte steigen in uns auf? - -In diesen Gedanken verloren, hatte er seinen Weg verfehlt. Er bemerkte, -daß er in die entgegengesetzte Richtung ging, statt nach Hause. Vom -Himmel her, der vom Lichtkeil der Scheinwerfer durchschnitten war, hörte -man furchtbare Explosionen. Zeppeline waren über der Stadt. Von den -Festungswerken donnerten die Kanonen, Luftkämpfe spielten sich ab. Wofür -zerrissen sich denn diese rasenden Völker? Um alle dorthin zu gelangen, -wo jetzt Bertin war, in jenes Nichts, das gleichermaßen alle Menschen -und alle Vaterländer erwartet, sie und alle anderen, die Revolutionäre, -die andere Gewalttätigkeiten vorbereiten, andere mörderische Ideale den -bisherigen entgegenstellen, neue Götzen der Schlächterei, die der Mensch -sich selbst unablässig erschafft, um seine bösen Instinkte zu adeln. - -Mein Gott, fühlen sie denn nicht die Dummheit ihres rasenden Tuns, im -Angesicht der Sterbenden, mit deren jedem die ganze Menschheit in den -Abgrund stürzt? Wie können Millionen Wesen, die doch nur einen -Augenblick zu leben haben, sich so abmühen, diesen Augenblick durch -ihren erbitterten und lächerlichen Ideenkampf sich so zur Hölle zu -machen? Bettler sind sie alle, die einander für eine Handvoll -Kupfermünzen, die man ihnen hinwirft und die überdies falsch sind, -gegenseitig erschlagen! Alle sind sie gleicher Weise verurteilte Opfer, -und statt sich zusammenzuschließen, kämpfen sie wider einander.... Ach, -ihr Unglücklichen, geben wir einander doch den Friedenskuß! Auf jeder -Stirn, die an mir vorübergleitet, sehe ich den Schweiß des -Todeskampfes.... - -Aber ein Menschenhaufen, Männer und Weiber, an denen er vorüberkam, -brüllte und heulte vor Freude. - -„Er fällt! Einer fällt! Die Schweinehunde verbrennen!...“ - -Und die beutegierigen Vögel wiederum, die da oben schwebten, jauchzten -in ihrem Herzen bei jedem Todeswurf, den sie über die Stadt säten. Waren -sie nicht wie Gladiatoren, die sich gegenseitig in der Arena die Brust -durchstoßen, nur damit ein unsichtbarer Nero zufrieden sei? - -Oh, meine armen Brüder in Ketten! - - - - - Fünfter Teil - - - - - _They also serve who only stand and wait._ M i l t o n - -Noch einmal fand er sich in der Einsamkeit wieder. Nun aber schien ihm -die Einsamkeit, so wie er sie nie gesehen, schön und still, mit einem -gütigen Antlitz, zärtlichen Augen und sanften Händen, die ihre -beruhigende Kühle auf seine Stirn legten. Und diesmal wußte er, daß die -göttliche Gefährtin ihn erwählt hatte. - -Es ist nicht jedermanns Sache, allein zu sein. Viele klagen mit einem -geheimen Stolz darüber, es zu sein, und durch Jahrhunderte klingt diese -Klage, aber sie beweist, den Klagenden unbewußt, daß sie nicht Erwählte -der Einsamkeit waren, nicht ihre Vertrauten. Sie haben nur die erste Tür -aufgetan und warten gelangweilt im Vorraum. Doch sie haben nicht die -Geduld gehabt zu warten, bis sie an die Reihe kamen, einzutreten, oder -ihr Aufbegehren hat sie wieder ausgestoßen. Man dringt nicht in das Herz -der Einsamkeit ohne die Gabe der Gnade oder ohne fromm erduldete -Prüfung. Es tut not, vor der Türe den Staub des Weges zurückzulassen, -die lärmenden Stimmen der Außenwelt, die kleinen eigensüchtigen, eitlen -Gedanken, den klagenden Aufruhr enttäuschter Liebe und verwundeten -Strebens. Gleich den reinen orphischen Schatten, deren sterbende Stimme -uns auf goldenen Täfelchen erhalten blieb, muß man nackt und allein die -„dem Kreise der Schmerzen entflohene Seele der eisigen Quelle darbieten, -die dem See des Erinnerns entspringt.“ - -Es ist das Wunder der Auferstehung. Wer seinen sterblichen Leib verläßt -und meint, alles verloren zu haben, entdeckt, daß er erst jetzt in sein -wahres Wesen tritt. Und nicht nur er selbst, auch die anderen sind ihm -nun zurückgegeben, und er sieht, daß er sie bis jetzt noch nie besessen. -Draußen im Getümmel konnte er nie über die Köpfe der Nächsten -hinwegsehen und selbst dem Nächsten, der, gegen seine Brust gepreßt, ihn -fortschob, konnte er nicht lange in die Augen schauen. Es fehlt an Zeit -und fehlt an Abstand. Man spürt nur das Zusammenstoßen von Körpern, die -sich in ihren gemeinsam enggedrängten Schicksalen zerpressen und die der -dichte Strom des Massenschicksals weiterdrängt. Seinen Sohn hatte -Clerambault erst erkannt, als er schon tot war. Und die flüchtige -Stunde, da er und seine Tochter sich erfühlten, war jene, wo schon alle -Bande des verhängnisvollen Wahns vom Übermaß des Schmerzes gelöst waren. - -Nun da er auf dem Weg allmählichen Ausschaltens und Auslesens in die -Einsamkeit gelangt und, wie man meinen sollte, von der Leidenschaft der -Lebendigen abgeschieden war, nun fand er sie alle wieder in einer -leuchtenden Vertrautheit. Alle, nicht nur die Seinen, seine Frau, seine -Kinder, sondern alle die Wesen, die er bisher irrig mit seiner -schönrednerischen Liebe zu umfassen gemeint hatte — alle malten sich -auf dem Grunde seiner inneren Dunkelkammer ab. Am nächtigen Strom des -Schicksals, der die Menschheit hinreißt, des Schicksals, das er mit ihr -selbst verwechselt hatte, schienen ihm die Millionen Kämpfender wie -ringende Balken in der Flut, und jeder Mensch war für sich eine Welt von -Freude und Leiden, Traum und Bemühung. Und jeder Mensch war auch das -Ich. Ich neige mich über ihn und sehe mich selbst. „Ich“ sagen mir seine -Augen, „Ich“ sagt mir sein Herz. Ach, wie ich euch jetzt verstehe, wie -doch eure Irrtümer die meinen sind. Selbst in der Erbitterung jener, die -mich bekämpfen, erkenne ich dich, mein Bruder, ich lasse mich nicht -täuschen: ich bin es selbst. - - § - -Von nun ab begann Clerambault die Menschen nicht mehr mit seinen Augen -zu sehen, mit den Augen unter seiner Stirn, sondern mit seinem Herzen. -Er sah sie nicht mehr mit seiner Idee als Pazifist, als Tolstoianer (was -ja nur wiederum ein anderer Wahn ist), sondern aus dem Denken jedes -einzelnen heraus, indem er sich in ihn verwandelte. Und er entdeckte, er -durchschaute die Menschen seiner Umgebung, gerade diejenigen, die ihm -die feindlichsten waren, die Intellektuellen und die Politiker, er sah -ihre Falten, ihre weiß gewordenen Haare, den bitteren Zug um den Mund, -ihren gekrümmten Rücken und ihre gebrechlichen Beine, sah, wie sie -angespannt, angekrampft waren und jeden Augenblick in Gefahr, -zusammenzubrechen.... Wie waren sie doch gealtert in den letzten sechs -Monaten! Im Anfang hatte die Kampfbegeisterung sie noch aufgestrafft, -aber je länger der Krieg fortdauerte, je mehr (was immer auch für einen -Ausgang er nehmen würde) seine ungeheuren Verheerungen zur Gewißheit -wurden, desto mehr lastete auf jedem die Trauer um Gefallene und die -Furcht, das Wenige, was ihm geblieben war und das für ihn ein -Unendliches bedeutete, zu verlieren. Sie taten alles, um ihre Angst -nicht zu verraten, mit der äußersten Qual preßten sie die Zähne -zusammen, aber selbst bei den Gläubigsten unter ihnen war die Wunde des -Zweifels offen.... Freilich, man mußte schweigen! Darüber durfte man -nicht sprechen; es aussprechen, hieß sich selbst vernichten.... -Clerambault, der sich an Madame Mairet erinnerte, gelobte sich, von -Mitleid durchdrungen, zu schweigen. Aber es war schon zu spät, man -kannte seine Anschauungen, er war gewissermaßen die lebendige -Verneinung, das wandelnde Gewissen. Man haßte ihn, aber Clerambault war -ihnen darum nicht mehr böse. Am liebsten hätte er ihnen geholfen, ihre -Illusionen wieder neu aufzubauen. - -Von welch tragischer Größe, wie bemitleidenswert wird doch diese -Leidenschaft einer Überzeugung im Innern einer Seele gerade dann, wenn -sie sich selbst ihrer nicht mehr sicher fühlt. Bei den Politikern -bedient sich diese Leidenschaft des lächerlichen Apparats der -scharlatanhaften Deklamation, bei den Intellektuellen des tollen Trotzes -krankhaft überreizter Gehirne. Aber des ungeachtet sah man überall die -unheilbare Wunde, hörte den Angstschrei nach Gläubigkeit, den Schrei -nach dem heroischen Wahn. Bei den jungen und schlichteren Menschen nahm -diese Gläubigkeit einen rührenden Charakter an, bei ihnen gab es nicht -dieses Pathos, dieses vorgetäuschte Allwissen. Nur den Schwur -ekstatischer Liebe kannte sie, die alles hingegeben hat und dafür nur -ein Wort erwartet, die Antwort: „Ja, es ist wahr, du lebst, meine -Geliebte, mein Vaterland, du göttliche Macht, die mir das Leben und -alles, was ich liebte, genommen hat....“ Und man fühlte ein Verlangen, -sich hinzuknien vor diesen armen, kleinen Trauerkleidern, diesen -Müttern, Bräuten und Schwestern, ihre abgemagerten Hände zu küssen, die -vor Hoffnung und Furcht eines Jenseits zitterten, und zu sagen: „Weint -nicht! Ihr werdet getröstet sein!“ - -Aber wie sie trösten, wenn man nicht an jenes Ideal glaubt, das sie -leben läßt und das sie tötet? Ohne daß er sie kommen gefühlt, war die -lange gesuchte Antwort endlich ihm nahe geworden, die Antwort: „Man muß -die Menschen mehr als den Wahn und mehr als die Wahrheit lieben.“ - - § - -Die Liebe Clerambaults fand keine Gegenliebe. Niemals war er mehr -attackiert worden, obwohl er schon seit Monaten keine Zeile mehr -veröffentlicht hatte, und im Herbst 1917 erreichten die Angriffe gegen -ihn ein ganz unerhörtes Maß von Gewalttätigkeit. Lächerlich war dieses -Mißverhältnis zwischen der schwachen Stimme dieses einzelnen Mannes und -jenen Wutausbrüchen, doch dieses Mißverhältnis ergab sich gleicherweise -in allen Ländern der Welt. Ein Dutzend armseliger, isolierter, -engumschlossener Pazifisten, die keine Möglichkeit besaßen, in -irgendeiner großen Zeitung zu Worte zu kommen, und die ihre gewiß -rechtliche, aber doch nicht weitklingende Stimme kaum erheben konnten, -entfesselte eine wahre Frenesie von Beschimpfungen und Drohungen gegen -sich. Beim kleinsten Widerspruch verfiel das vielköpfige Ungeheuer, die -öffentliche Meinung, sofort in Epilepsie. — Der weise Perrotin, der -sich sonst über nichts wunderte, der klug abseits geblieben war und -Clerambault in sein Verderben rennen ließ (da sein Herz es so wollte), -erschrak im stillen vor diesem aufschäumenden Übermaß tyrannischer -Dummheit. Ist man einmal in der Geschichte um Jahre über solche Zeiten -hinaus, so wird man darüber lächeln, aber von nahe gesehen, merkte man, -daß die menschliche Vernunft damals dicht vor dem Zusammenbruche stand. -Man mußte sich fragen, warum gerade in diesem Kriege die Menschen viel -allgemeiner ihre Ruhe verloren hatten als in jedem anderen der -Vergangenheit. Ist er denn wirklich gewalttätiger gewesen? Kinderei! Und -bewußtes Vergessen alles dessen, was zu unserer Zeit vor unseren Augen -geschehen ist in Armenien, auf dem Balkan, bei der Niederdrückung der -Kommune, in Kolonialkriegen und bei den neuen Konquistadoren Chinas und -des Kongos.... Von allen Wesen der Erde ist, wir wissen es ja, der -Mensch das grausamste Tier. — Oder kam es davon, daß sich die Menschen -besonders auf diesen Krieg vorbereitet hatten? Im Gegenteil! Die Völker -des Abendlandes waren an einem Punkt der Entwicklung angelangt, wo der -Krieg dermaßen absurd wird, daß es unmöglich ist, ihn bei voller, bewußt -bewahrter Vernunft durchzuführen. Deshalb war es nötig, die Vernunft zu -betäuben, zu delirieren, wollte man nicht den Tod erleiden, den Tod -durch Verzweiflung oder durch den schwärzesten Pessimismus. Deshalb -regte auch die Stimme eines einzelnen, der seine Vernunft behalten -hatte, die anderen, die alle gewaltsam vergessen wollten, so zum Zorn -auf, denn sie hatten Angst, diese Stimme könne sie selbst erwecken und -sie würden ernüchtert, nackt sich selbst und ihrer ganzen Schmach ins -Auge sehen müssen. - -Überdies war damals die Situation für den Krieg ungünstig. Die große -neuangefachte Hoffnung auf den Sieg und den Ruhm verflüchtigte sich, -denn immer klarer wurde es, von welcher Seite man auch das Problem -betrachtete, daß der Krieg für alle Beteiligten ein sehr schlechtes -Geschäft sein würde. Weder die materiellen Interessen, noch der Ehrgeiz, -noch der Idealismus schienen auf ihre Rechnung zu kommen, und diese -bittere bald bevorstehende Enttäuschung, daß Millionen Menschen ohne -Resultat aufgeopfert sein sollten, ließ die Menschen, die sich moralisch -verantwortlich fühlten, vor Wut schäumen. Sie hatten nur zwei -Möglichkeiten, entweder sich selbst anzuklagen oder sich an anderen zu -rächen. Und da fiel ihnen die Wahl natürlich nicht schwer. Wer diesen -Mißerfolg vorausgesehen und alles daran gesetzt hatte, ihn zu -verhindern, den machten sie nun verantwortlich für das Mißlingen. Jeder -Rückzug in der Armee, jede Dummheit der Diplomaten suchte sich sofort -mit einer pazifistischen Machination zu entschuldigen. Diesen Menschen, -die niemand kannte, die bei niemand beliebt waren und auf die niemand -hörte, schrieben ihre Gegner eine ungeheure Macht zu, eine ganze -Organisation der Niederlage. Und damit niemand sich darüber täusche, daß -sie nicht den starken Sieg wollten, hing man ihnen das Wort „Flaumacher“ -um den Hals. Es fehlte nur noch, daß man, so wie einst in der guten -alten Zeit die Ketzer, sie auch verbrannte. Der Henker war noch nicht -zur Stelle, wohl aber die Henkersknechte. - -Um in Schwung zu kommen, hielt man sich zunächst an ungefährliche Leute, -an Frauen, Lehrer, die niemand kannte, und die sich schlecht zu -verteidigen wußten. Dann erst suchte man sich die saftigeren Bissen aus. -Für gerissene Politiker war das eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich -gefährlicher Rivalen zu entledigen, die einige unangenehme Geheimnisse -ihrer Herren von gestern wußten. Und nach dem alten Rezept vermischte -man dann in geschickter Weise die Anklagen, nähte gemeine Schwindler und -jene Menschen, deren Charakter oder Geist beunruhigte, in denselben -Sack, damit bei diesem Mischmasch das verdutzte Publikum nicht einmal -mehr versuchen konnte, einen anständigen Menschen von einem Lumpen zu -unterscheiden. Wer noch nicht genügend durch seine Tätigkeit -kompromittiert war, galt dann als kompromittiert durch seine -Bekanntschaften und seine Beziehungen. Und fehlten auch diese, so konnte -man sie ja herbeischaffen, sie wurden ganz nach Maß des Anklageaktes -jederzeit rasch zurechtgeschnitten. - -War es festzustellen, ob Xavier Thouron im bestellten Auftrage -Clerambault aufsuchte? Es wäre wohl möglich gewesen, daß er aus eigenem -Antrieb kam, freilich, wer konnte sagen, zu welchem Zweck. Wußte er es -selbst? Im Sumpf der Großstadt gibt es immer skrupellose, fieberhaft -tätige arbeitsscheue Abenteurer, die überall wie die Wölfe -herumschnüffeln und suchen, „_quem devorent_“. Ihr Hunger und ihre -Neugier sind ungeheuer und alles dient ihnen dazu, dieses bodenlose Faß -zu füllen. Schwarz oder Weiß, sie tun alles ohne Gewissensbedenken, sie -sind ebenso bereit, einen ins Wasser zu werfen, wie hineinzuspringen, um -ihn herauszuziehen. Um ihr Leben haben sie keine Angst, sie wollen nur -das Tier in sich füttern und amüsieren. Wenn solche Menschen nur für -einen Augenblick aufhörten, ihre Grimassen zu schneiden und zu -schlingen, würden sie an Langeweile und Selbstabscheu zugrunde gehen. -Aber damit hat es keine Not, dazu sind sie zu klug; sie verlieren keine -Zeit damit, darüber nachzudenken, wie sie „in Schönheit sterben“ -könnten. - -Niemand hätte recht sagen können, was Thouron eigentlich wollte, als er -Clerambault aufsuchte. Wie immer war er ausgehungert, herumgehetzt, -ziellos und nach einem Braten schnuppernd. Er gehörte zu den Seltenen -seiner Klasse (und damit zum Typ der großen Journalisten), die, ohne -sich die Mühe zu nehmen, das, worüber sie sprechen, zuvor zu lesen, sich -doch rasch eine lebendige, blendende und oft wie durch ein Wunder sogar -ziemlich richtige Vorstellung machen können. Ohne zuviel Irrtümer -entwickelte er Clerambaults „Evangelium“ und tat so, als ob er daran -glaube. Vielleicht glaubte er wirklich daran, solange er sprach. Warum -auch nicht? Er war ja auch zu gewissen Stunden Pazifist. Das hing vom -Wind ab, der gerade wehte, von der Haltung gewisser Kollegen, denen er -gerade nachbetete oder denen er widersprach. Clerambault war von seinen -Worten berührt. Nie hatte er sich ganz das kindliche Vertrauen in den -ersten Besten, der ihn um Hilfe bat, abgewöhnen können, und dann war er -von den gegnerischen Zeitungen nicht allzu verwöhnt. In der Überfülle -des Herzens ließ er sich also seine geheimsten Gedanken entlocken. Der -andere nahm sie in scheinbarer Ergebenheit auf. - -Eine so eng eingegangene Bekanntschaft konnte nicht auf diesem Punkt -stehen bleiben. Ein Briefwechsel begann zwischen den beiden, in dem der -eine sprach und der andere ihn zum Sprechen verlockte. Thouron wollte -durchaus Clerambault bereden, seine Gedanken in kleinen populären -Traktaten auszusprechen, und bot sich an, sie in den Arbeiterkreisen zu -verbreiten. Clerambault zögerte und sagte schließlich nein, und zwar -nicht deshalb, weil er aus Prinzip (wie es heuchlerisch die Anhänger der -bestehenden Ordnung und Ungerechtigkeit tun) die geheime Propaganda -einer neuen Wahrheit mißbilligte, wenn keine öffentliche möglich war — -jede unterdrückte Wahrheit flüchtet sich ins Unterirdische, in die -Katakomben —, sondern er sagte nein, weil er sich seinerseits für eine -solche Form der Wirksamkeit nicht bestimmt fühlte. Seine Aufgabe war, -ganz offen zu sagen, was er dachte, und die Folgen seiner Worte auf sich -zu nehmen. Das Wort mußte sich dann durch sich selbst verbreiten — -seine Aufgabe konnte nicht sein, es den Menschen ins Haus zu tragen. -Überdies warnte ihn ein geheimer Instinkt — er wäre errötet, hätte er -sich erlaubt, ihn wach werden zu lassen —, eine Art von Mißtrauen gegen -die dienstfertig angebotene Hilfe seines neuen Commis voyageur. Freilich -konnte er dessen Eifer nicht immer im Zaume halten. Thouron -veröffentlichte in seiner Zeitung eine Verteidigung Clerambaults, -erzählte darin über seine Gespräche und Besuche, entwickelte die -Gedanken seines Meisters und kommentierte sie. Clerambault war sehr -erstaunt, als er seine eigenen Gedanken dort las, denn er kannte sie in -dieser Form nicht wieder. Dennoch konnte er aber seine Vaterschaft nicht -verleugnen, denn in die Kommentare Thourons waren Zitate aus seinen -Briefen eingefügt, deren Text vollkommen korrekt war. Freilich erkannte -er sich in diesen noch weniger, denn die selben Sätze nahmen in den -Zusätzen, in die sie eingepfropft waren, einen Akzent und eine Farbe an, -die er ihnen nie gegeben hatte. Dazu kam, daß die Zensur, besorgt um das -Heil des Staates, hie und da aus den Zitaten eine halbe Zeile oder ganze -Zeilen und ganz unschuldige Absätze herausgeschnitten hatte, deren -Unterdrückung natürlich dem überreizten Gefühl des Lesers die -ungeheuerlichsten Dinge suggerierte. Die Wirkung dieser Veröffentlichung -ließ selbstverständlich nicht auf sich warten; es war Öl ins Feuer, und -Clerambault wußte nicht, welche Heiligen er anrufen sollte, um seinen -Verteidiger zum Schweigen zu bringen. Böse konnte er ihm freilich nicht -sein, denn Thouron bekam auch sein gutes Teil an Drohungen und -Beschimpfungen ab, nahm sie aber entgegen, ohne mit der Wimper zu -zucken. Sein Fell war schon von früher reichlich gegerbt. - -Daß sie beide gemeinsam beschimpft worden waren, schien Thouron ein -Verfügungsrecht über Clerambault zu geben. Zuerst versuchte er, ihm -Aktien seiner Zeitung anzuhängen, und nahm ihn dann, ohne ihn vorher zu -verständigen, öffentlich in das Ehrenkomitee seines Blattes auf. Er war -sehr ungehalten darüber, daß Clerambault, der erst einige Wochen später -davon erfuhr, damit nicht zufrieden war, und von nun ab erkalteten ihre -Beziehungen, obwohl Thouron nicht aufhörte, deshalb doch von Zeit zu -Zeit in seinen Artikeln den Namen seines „berühmten Freundes“ wie eine -Fahne zu hissen.... Clerambault ließ es ruhig geschehen, überglücklich, -ihn um diesen Preis los zu sein. Und er hatte ihn schon ganz aus den -Augen verloren, als er eines Tages hörte, Thouron sei verhaftet. Man -beschuldigte ihn irgendeiner schmutzigen Geldangelegenheit, in der die -öffentliche Erregtheit natürlich die Hand des Feindes sehen wollte. Die -dem von höherer Stelle gegebenen Wink immer gehorsame Justiz fand -natürlich zwischen diesen Mogeleien und der sozusagen pazifistischen -Tätigkeit, die Thouron in seinem Blatte abwechselnd mit plötzlichen -Anfällen von Kriegswut ab und zu, aber nie regelmäßig und bewußt, -entwickelt hatte, Zusammenhänge. Selbstverständlich machte man ihn zum -Teilhaber an dem Defaitistenkomplott. Und die Beschlagnahme seiner -Korrespondenz gab nun gute Gelegenheit, alle diejenigen zu -kompromittieren, die man gerade kompromittieren wollte. Thouron hatte -sich sorgfältig alle an ihn gerichteten Briefe aufbewahrt, es waren -darunter solche von allen Parteien, und nun konnte man nach Belieben -auswählen. Und man wählte. - -Clerambault erfuhr durch die Zeitungen, daß auch er zu den Erwählten -zählte. Nun jubelten sie! Endlich hatte man ihn erwischt! Jetzt erklärte -sich ja alles. Denn nicht wahr, dafür, daß irgendein Mensch anders -denkt, als die ganze Welt, dafür muß doch irgendein unterirdischer -niedriger Beweggrund vorhanden sein! Man muß ihn nur suchen, dann wird -man ihn schon finden.... Nun hatte man ihn gefunden. Ohne weiteres -abzuwarten, kündigte ein Pariser Blatt öffentlich den „Verrat“ -Clerambaults an. In den Akten der Justiz war dafür natürlich kein Beleg, -aber die Justiz ließ es ruhig sagen und berichtigte nicht, es ging sie -ja nichts an. Vergebens bat Clerambault den Untersuchungsrichter, zu dem -er berufen ward, man möchte ihm doch sagen, was für ein Delikt er -begangen habe. Der Richter war höflich, zeigte alles Entgegenkommen, das -einem Mann seines Namens gebührte, schien aber keine Eile zu haben, zu -einem Ende zu kommen. Es war, als ob er noch auf irgendetwas wartete ... -Worauf?... Auf das Delikt. - - § - -Frau Clerambault hatte nichts von einer antiken Römerin oder von dem -Geiste der stolzen Jüdin in der berühmten Affäre, die Frankreich vor -ungefähr zwanzig Jahren in einem leidenschaftlichen Widerspruch zerriß -— von jenen Frauen, die gerade durch die öffentliche Ungerechtigkeit -gegen ihren Mann nur noch enger mit ihm verbunden werden. Ihr wohnte -jener Instinkt ängstlichen Respekts der französischen Bourgeoisie vor -der staatlichen Justiz inne, und obwohl sie guten Grund hatte zu wissen, -daß die Beschuldigungen gegen Clerambault nicht stichhaltig waren, so -schien ihr die Tatsache selbst, daß er überhaupt unter Anklage stand, -schon eine Unehre, von der sie sich beschmutzt fühlte. Sie konnte nicht -schweigend darüber hinwegkommen. Clerambault fand als Antwort auf ihre -Vorwürfe, ohne es selbst zu wollen, gerade die Form, die sie am meisten -außer sich brachte. Statt ihr zu entgegnen oder zum mindesten sich zu -verteidigen, sagte er nur: - -„Du Arme.... Ja, ja, ich verstehe dich ja.... Es ist ein Unglück für -dich.... Ja, ja, du hast ja recht ...“ - -Und er wartete, bis das Unwetter vorüber war. Diese ruhige Hinnahme -brachte Frau Clerambault, die wütend war, ihm nicht beikommen zu können, -gänzlich aus der Fassung. Denn sie fühlte vollkommen, daß er nichts an -seiner Handlungsweise ändern würde, obwohl er ihr recht gab. Aus -Verzweiflung ließ sie ihm das letzte Wort und schüttete ihre ganze -Erbitterung vor ihrem Bruder aus. Leo Camus war der Letzte, ihr zur -Nachsicht zu raten, er schlug ihr vielmehr vor, sich scheiden zu lassen, -ja, er stellte ihr dies sogar als ihre Pflicht hin. Aber das war zuviel -verlangt. Der traditionelle Abscheu vor der Ehescheidung ließ in dieser -braven Bürgerfrau erst so recht das Bewußtsein ihrer tiefen Treue -erwachen. Das Heilmittel schien ihr schlimmer als das Übel. So blieben -die beiden Eheleute beisammen, aber die Innigkeit ihrer Gemeinschaft war -dahin. - -Rosine war fast immer abwesend. Um ihre Qual zu vergessen, bereitete sie -sich für eine Krankenpflegerinprüfung vor und verbrachte den größten -Teil des Tages außerhalb des Hauses. Aber auch wenn sie daheim war, -weilten ihre Gedanken anderwärts. Clerambault hatte die einstige -Stellung im Herzen seiner Tochter verloren, ein anderer hatte sie inne: -Daniel. Sie blieb kühl gegenüber den zärtlichen Annäherungen ihres -Vaters: es war dies für sie eine Art, ihn dafür zu bestrafen, daß er -absichtslos den Bruch mit dem Freunde verursacht hatte. Sie war sich -vollkommen dieser Abwehr bewußt und zu gerecht, um sich daraus nicht -einen Vorwurf zu machen. Aber das änderte nichts an ihrem Verhalten: -ungerecht sein erleichtert das Herz. - -Auch Daniel vergaß nicht, daß er unvergessen war. Er mochte seine -Handlungsweise nicht sehr rühmenswert finden und schob, um allen -Gewissensbissen auszuweichen, die Verantwortung dafür seiner Umgebung -zu, deren tyrannischer Meinungszwang ihn gebunden hätte. Aber im -Innersten war er nicht recht befriedigt. - -Der Zufall kam den beiden schmollenden Verliebten zu Hilfe. Ernstlich, -wenn auch nicht gefährlich verletzt, wurde Daniel nach Paris -zurückgebracht. Während seiner Rekonvaleszenz begegnete er Rosine vor -dem Bon Marché. Er zögerte einen Augenblick, doch sie tat nicht -desgleichen, sondern kam auf ihn zu; sie gingen zusammen über den Platz -und begannen eine lange Unterhaltung, die nach anfänglichem Zögern und -einem Hin und Her von Vorwürfen und Geständnissen schließlich zu einer -völligen Einigung führte. Und so sehr waren die beiden in ihre zärtliche -Auseinandersetzung vertieft, daß sie Frau Clerambault nicht -vorüberkommen sahen. Die gute Frau, wütend über diese für sie -unerwartete Begegnung, lief schleunigst nach Hause, die Neuigkeit -Clerambault zu übermitteln, denn trotz ihrer Unstimmigkeiten konnte sie -vor ihm nicht schweigen. Auf ihre aufgeregte Erzählung — denn die -Intimität ihrer Tochter mit einem Manne, dessen Familie sie beleidigt -hatte, schien ihr unerhört unstatthaft — erwiderte Clerambault nach -seiner neuen Gewohnheit zunächst nichts. Dann lächelte er, hob den Kopf -und sagte schließlich: - -„Das ist ja ausgezeichnet.“ - -Frau Clerambault unterbrach sich, zuckte mit den Achseln und machte -Miene, aus dem Zimmer zu gehen. Bei der Tür aber wandte sie sich noch -einmal um und sagte empört: - -„Diese Leute haben dich und deine Tochter beleidigt, und ihr waret beide -einer Meinung, man solle nicht mehr mit ihnen verkehren. Jetzt macht -deine Tochter, die sich von ihnen hat zurückweisen lassen, ihnen wieder -Avancen und du findest das ausgezeichnet! Das soll der Teufel -verstehen.... Ihr seid ja Narren.“ - -Clerambault versuchte ihr zu erklären, daß das Glück seiner Tochter -nicht darin bestünde, seiner Meinung zu sein, und daß Rosine nur recht -hatte, für ihren Teil die Dummheiten ihres Vaters gutzumachen. - -„Deine Dummheiten ... nun“, sagte Frau Clerambault, „das ist das erste -vernünftige Wort, das du in deinem ganzen Leben ausgesprochen hast.“ - -„Siehst du“, antwortete Clerambault. - -Er ließ sich von ihr versprechen, Rosine nichts zu sagen, damit sie ganz -frei ihren kleinen Liebesroman durchführen könne. - -Als Rosine heimkehrte, strahlte ihr Gesicht, aber sie erzählte nichts. -Für Frau Clerambault war es eine große Anstrengung, zu schweigen, -Clerambault dagegen beobachtete mit zärtlichem Behagen, wie das Glück -wieder im Gesicht seiner Tochter strahlte. Er wußte nicht genau, was -vorgefallen war, aber er konnte es sich wohl denken — nämlich, daß -Rosine ihn ganz einfach über Bord geworfen hatte. Zweifellos hatten die -beiden Verliebten sich auf Kosten ihrer Eltern geeinigt und mit -wundervoller Gleichmütigkeit die gegenseitigen Übertreibungen ihrer -alten Leute einander preisgegeben. Daniel war in den Leidensjahren des -Schützengrabens, ohne in seinem Patriotismus erschüttert zu sein, doch -vom engherzigen Fanatismus seiner Familie frei geworden, Rosine wiederum -— sie handelten Zug um Zug — hatte sanft zugegeben, daß ihr Vater im -Irrtum war. Ihr frommes und ein wenig gleichgültiges Herz fand sich -leicht mit der stoischen Unterwerfung Daniels unter die herrschende -Ordnung zusammen, und sie hatten beschlossen, gemeinsam ihren Weg zu -gehen, ohne sich weiterhin zu kümmern um die Zänkereien der Alten, die -vor ihnen waren, und die sie nun hinter sich zurückließen. Über die -Zukunft machten sie sich weiter keine Sorgen. So wie all die Millionen -Wesen verlangten sie von der großen Welt nichts als ihr Teil an -augenblicklichem Glück und schlossen die Augen vor dem Rest. - -Frau Clerambault war aus dem Zimmer gegangen, verärgert darüber, daß -ihre Tochter nichts von der Begegnung erzählt hatte. Clerambault und -Rosine träumten vor sich hin, er vor dem Fenster, seine Zigarre -rauchend, Rosine eine Zeitung in der Hand, in der sie nicht las. Vor -ihren inneren Augen versuchte sie, sich noch einmal die Einzelheiten -ihrer eben erlebten Augenblicke wieder vorzumalen, da begegneten sie dem -müden Gesicht ihres Vaters. Es war ein Ausdruck von Melancholie darin, -der sie erschütterte. Sie stand auf, stellte sich hinter ihn, legte ihm -die Hand auf die Schulter und sagte mit einem kleinen Seufzer von -Mitleid, der aber doch ihre innere Zufriedenheit nicht ganz verbergen -konnte: - -„Armer Papa!“ - -Clerambault hob die Augen, sah Rosine an, deren Züge gegen ihren eigenen -Willen noch ganz hell und strahlend waren. - -„Das kleine Mädchen aber“, sagte er, „ist also nicht mehr arm?“ - -Rosine errötete. - -„Warum sagst du das?“ fragte sie. - -Clerambault drohte mit dem Finger. Rosine neigte sich von rückwärts über -ihn, lehnte ihre Wange an die Wange ihres Vaters. - -„Es ist also nicht mehr arm?“ wiederholte er. - -„Nein“, sagte Rosine, „im Gegenteil, sie ist jetzt sehr reich.“ - -„So sag doch ein wenig, was hat sie alles?“ - -„Sie hat ... natürlich zunächst ihren lieben Papa ...“ - -„Oh, die kleine Lügnerin“, sagte Clerambault, während er versuchte, sich -von ihr loszumachen und ihr in die Augen zu sehen. - -Aber Rosine bedeckte ihm die Augen und den Mund mit der Hand. - -„Nein, ich will nicht, daß du mich anschaust, ich will nicht, daß du -noch weiterredest.“ Und sie umarmte ihn und sagte dann nochmals, während -ihre Hand ihn umschmeichelte: - -„Armer Papa!“ - - § - -Den Sorgen des Hauses war sie nun glücklich entkommen, und bald flog sie -ganz aus dem Nest. Nach erfolgreicher Absolvierung ihrer -Pflegerinprüfung wurde sie in ein Provinzspital gesandt: nun fühlten die -Clerambaults noch schmerzlicher die Leere ihres Heims. - -Der Einsamere von ihnen war aber nicht Clerambault. Er wußte es und -beklagte aufrichtig seine Frau, die weder stark genug war, ihm zu -folgen, noch sich von ihm loszulösen. Er für seinen Teil konnte, was -immer auch geschah, auf gewisse Sympathien zählen, ja, es war sogar -gewiß, daß gerade eine Verfolgung neue erwecken und die bisher -zurückgehaltenen ans Tageslicht bringen würde. Und eben in diesem -Augenblick war eine sehr teure Zuneigung zu ihm gekommen. - -Eines Tages, als er allein in seinem Zimmer saß, läutete es, er ging -hinaus und öffnete die Tür. Eine Dame, die er nicht kannte, überreichte -ihm einen Brief und sagte, er sei für ihn bestimmt. Im Dunkel des -Vorraumes glaubte sie anfangs, es mit einem Diener zu tun zu haben, und -merkte erst später ihren Irrtum. Er wollte sie bitten, einzutreten, aber -sie sagte: - -„Nein, ich bin nur die Überbringerin.“ - -Sie ging wieder fort, aber kaum daß sie gegangen war, bemerkte er ein -kleines Veilchensträußchen, das sie auf den Schrank bei der Tür -hingelegt hatte. - -Im Briefe aber stand: - - „_Tu ne cede malis, sed contra audentior ito._“ - -„Sie kämpfen für uns, und Ihr Herz ist in uns. Geben Sie uns Ihre -Leiden, ich gebe Ihnen meine Hoffnung, meine Kraft, meine Liebe — ich, -der ich nicht mehr tätig sein kann, der nur durch Sie tätig zu sein -vermag.“ - -Die jugendliche Inbrunst und die letzten, ein wenig mysteriösen Worte -bewegten und erregten Clerambault. Er versuchte, sich das Bildnis seiner -Besucherin zu erwecken. Sie war nicht mehr ganz jung gewesen: ziemlich -scharfe Züge, dunkle und ernste Augen, die leise aus dem matten Antlitz -lächelten. Wo hatte er sie nur schon gesehen? Aber trotz aller inneren -Mühe verschwand das Bild immer mehr. - -Schon einige Tage später fand er die Fremde in einer Allee des -Luxembourggartens einige Schritte vor sich wieder. Sie ging an ihm -vorbei, aber er überquerte die Allee, um ihr zu begegnen. Sie blieb -stehen, als sie ihn kommen sah. Er dankte ihr und fragte sie, warum sie -so rasch fortgegangen sei, ohne sich ihm bekanntzumachen? In diesem -Augenblick bemerkte er, daß er sie seit langem kannte. Schon oft war er -ihr früher im Luxembourggarten oder den umliegenden Straßen mit einem -großen Jungen, offenbar ihrem Sohne, begegnet, und immer, wenn er an -ihnen vorbei kam, hatten ihn ihre Blicke mit einem leisen Lächeln -vertrauter Ehrfurcht begrüßt und, ohne daß er ihren Namen wußte, ohne -daß er jemals mit ihnen ein Wort gewechselt hatte, gehörten sie für ihn -zu jenen lieben und vertrauten Schatten, die unser tägliches Leben -begleiten, und die wir nicht immer bemerken, solange sie neben uns sind, -die uns aber sofort eine Leere fühlen lassen, sobald sie verschwinden. -Deshalb übertrug sich unbewußt auch sein Gedanke von der Frau vor ihm -auf den jungen Begleiter, der ihm an ihrer Seite fehlte, und er sagte -mit einer plötzlichen unvorsichtigen Eingebung (unvorsichtig, denn wer -weiß in diesen Zeiten der Trauer jene, die noch in der Welt der -Lebendigen sind?): - -„War es Ihr Sohn, der an mich geschrieben hat?“ „Ja“, sagte sie, „er -liebt Sie sehr. Wir lieben Sie seit langem.“ - -„Er soll doch zu mir kommen!“ - -Ein Schatten von Traurigkeit verhüllte das Antlitz der Mutter. - -„Er kann ja nicht.“ - -„Wo ist er denn? An der Front?“ - -„Nein, hier.“ - -Nach einem Augenblick des Schweigens fragte Clerambault: - -„Ist er verwundet?“ - -„Wollen Sie ihn sehen?“ antwortete die Mutter. - -Clerambault begleitete sie. Sie schwieg, und er wagte nicht, zu fragen. -Er sagte nur: - -„Zum mindesten haben Sie ihn um sich.“ - -Sie verstand und reichte ihm die Hand. - -„Wir stehen einander sehr nahe.“ - -Er wiederholte: - -„Aber Sie haben ihn wenigstens noch.“ - -„Ich habe seine Seele“, sagte sie. - -Sie waren zu dem Haus gelangt, einem jener alten Gebäude aus dem -siebzehnten Jahrhundert, in einer der engen und noch historisch -erhaltenen Straßen zwischen dem Luxembourg und Saint-Sulpice, in denen -noch die zusammengehaltene Schönheit des alten Paris sichtbar geblieben -ist. Die große Tür selbst war tagsüber geschlossen, Frau Froment ging -Clerambault voraus, stieg am Ende des steingepflasterten Hofes ein paar -Schwellen empor und schloß die Tür der ebenerdig gelegenen Wohnung auf. - -„Mein kleiner Edme“, sagte sie, während sie die Zimmertür auftat, „eine -Überraschung für dich!... Rate einmal ...“ - - § - -Clerambault sah im Bett einen jungen Mann ausgestreckt, der ihn ansah. -Das blonde Antlitz des Fünfundzwanzigjährigen, dem die Abendsonne einen -rötlichen Schein gab, war von klugen Augen erhellt und schien so gesund -und ruhevoll, daß man gar nicht auf den Gedanken einer Krankheit kam, -wenn man ihn sah. - -„Sie!...“ sagte er, „Sie hier!“ - -Eine freudige Überraschung verjüngte noch mehr seine knabenhaften Züge, -aber weder sein Leib noch seine Arme machten eine Bewegung unter der -Decke. Und Clerambault merkte, daß nur sein Kopf wirklich lebendig war. - -„Mama hat mich verraten“, sagte Edme Froment. - -„Sie wollten mich also nicht sehen?“ fragte Clerambault und neigte sich -über sein Kissen. „Das will ich nicht sagen“, antwortete Edme, „ich -möchte nur nicht gern gesehen werden.“ - -„Und warum denn?“ fragte Clerambault gutmütig, mit einer leichten -Anstrengung, heiter zu scheinen. - -„Weil man niemand einladet, wenn man nicht mehr zu Hause ist.“ - -„Wo sind Sie denn?“ - -„Mein Gott, ich möchte fast darauf schwören ... in einer ägyptischen -Mumie....“ - -Und er deutete mit einem Blick auf das Bett, in dem sein Körper -unbeweglich lag. - -„Es ist kein Leben mehr darin“, sagte er. - -„Du bist der Lebendigste von uns allen“, protestierte eine Stimme neben -ihm. - -Clerambault bemerkte auf der anderen Seite des Bettes einen jungen Mann -etwa im Alter Edme Froments, der voll Gesundheit und Kraft schien. Edme -Froment lächelte und sagte zu Clerambault: - -„Mein Freund Chastenay hat so viel Leben in sich, daß er mir davon -leiht.“ - -„Ach, wenn ich es dir geben könnte“, sagte der andere. - -Die beiden Freunde wechselten einen zärtlichen Blick. - -Chastenay fuhr fort: - -„Ich würde dir dann doch nur einen Teil dessen geben, was ich dir -verdanke ...“ - -Und indem er sich an Clerambault wandte: - -„Er ist es, der uns alle aufrecht hält, nicht wahr, Frau Fanny?“ - -Die Mutter sagte zärtlich: - -„Mein guter Sohn, das ist wohl wahr.“ - -„Ihr macht euch den Umstand zunutze“, sagte Edme, „daß ich mich nicht -verteidigen kann....“ (Und zu Clerambault sprechend:) „Sie sehen, ich -bin gefangen und kann mich nicht rühren.“ - -„Sie sind verwundet?“ - -„Gelähmt.“ - -Clerambault wagte nicht, nach Einzelheiten zu fragen. - -„Sie haben aber keine Schmerzen?“ - -„Ach, ich wünschte es mir vielleicht, denn der Schmerz ist immerhin noch -ein Band, das uns mit dieser Welt verknüpft. Aber ich gebe es zu, daß -ich mich an das schwere Schweigen dieses Körpers, in den ich eingetan -bin, langsam gewöhne ... übrigens, sprechen wir nicht mehr davon, -jedenfalls der Geist ist frei. Wenn es auch nicht wahr ist, daß er -„_agitat molem_“, so schlüpft er doch gern heraus.“ - -„Jüngst“, sagte Clerambault, „war er bei mir zu Gaste.“ - -„Das war nicht zum erstenmal, er ist oft zu Ihnen gekommen.“ - -„Und ich glaubte mich so allein....“ - -„Erinnern Sie sich“, sagte Edme, „an das Wort Randolphs zu Cecil: Die -Stimme eines einzigen Menschen ist imstande, in einer Stunde mehr Leben -in uns zu bringen, als der Lärm von 500 Trompeten, die unaufhörlich -blasen.“ - -„Das gilt aber auch von dir“, sagte Chastenay. - -Froment schien seine Worte nicht gehört zu haben und sagte wieder zu -Clerambault: - -„Sie haben uns erweckt!“ - -Clerambault betrachtete die schönen, tapferen und ruhigen Augen des vor -ihm Liegenden und sagte: - -„Diese Augen bedurften dessen nicht!“ - -„Jetzt bedürfen sie dessen nicht mehr“, antwortete Edme. „Man sieht -besser aus der Entfernung, wenn man aus den Dingen heraus ist. Aber -solange ich nahe, ganz nahe war, konnte ich nichts unterscheiden.“ - -„So sagen Sie mir, was Sie jetzt sehen?“ - -„Es ist spät“, antwortete Edme, „und ich bin ein wenig müde. Wollen Sie -vielleicht ein andermal kommen?“ - -„Ich komme morgen wieder.“ - -Clerambault trat aus dem Zimmer, Chastenay ging ihm nach. Er fühlte das -Bedürfnis, die Geschichte der Tragödie, deren Held und Opfer sein Freund -geworden war, jemandem anzuvertrauen, der die Qual und die Größe eines -solchen Aktes würdigen konnte. - -Edme Froment, den ein Granatsplitter an der Wirbelsäule getroffen und in -seiner Vollkraft gelähmt hatte, war einer der jungen geistigen Führer -seiner Generation, schön, leidenschaftlich, beredt, übervoll von Leben -und Träumen, liebend und geliebt, ehrgeizig im schönsten Sinne, und nun -ein lebendig Toter. Seine Mutter, die ihren ganzen Stolz und ihre ganze -Liebe in ihn gesetzt hatte, sah ihn auf Lebenszeit verurteilt, und ihre -Qual mußte ungeheuer sein. Aber beide verbargen sie voreinander. Diese -gegenseitige Spannung hielt sie aufrecht. Beide waren sie aufeinander -stolz. Sie pflegte ihn, wusch ihn, reichte ihm das Essen wie einem -kleinen Kinde, er wiederum zwang sich zur Ruhe, um sie zu beruhigen, und -trug sie auf den Schwingen des Geistes empor. - -„Ach“, sagte Chastenay, „man muß sich schämen, zu leben und gesund zu -sein, noch Arme zu haben, um das Leben zu umfassen, und Gelenke, um zu -gehen und zu springen, und mit vollem Bewußtsein die Frische der Luft zu -trinken.“ - -Er breitete beim Sprechen die Arme aus, hob den Kopf, und atmete tief -ein. - -„Und das Traurigste“, fuhr er fort, indem er Kopf und Stimme beschämt -senkte, „das Traurigste ist, daß ich diese Scham gar nicht wirklich -fühle.“ - -Clerambault mußte unwillkürlich lächeln. - -„Ja, es ist nicht sehr heroisch von mir“, fuhr Chastenay fort, „und doch -liebe ich Froment wie niemand anderen auf der Welt. Sein Schicksal quält -mich unablässig .... und doch, es ist stärker als ich. Wenn ich daran -denke, daß ich unter so vielen Hingeschlachteten das Glück habe, jetzt -hier zu sein, zu fühlen mit allen meinen lebendigen Sinnen, so ist es -mir schwer, meine Freude zu verbergen.... Ach, es ist ja so schön, so -ganz leben zu dürfen!... Der arme Froment ... Aber Sie werden mich -furchtbar egoistisch finden?“ - -„Nein, durchaus nicht“, sagte Clerambault. „Sie sprechen, wie die -gesunde Natur spricht. Wären alle so aufrichtig wie Sie, so wäre die -Menschheit nicht eine Beute jener gefährlichen Lust der Vergötterung des -Leidens; Sie haben übrigens alles Recht, das Leben zu genießen, nachdem -sie seine härtesten Proben bestanden haben.“ - -(Und er deutete auf das Kriegskreuz des jungen Mannes.) - -„Ich bin hingegangen und gehe wieder zurück“, sagte Chastenay, „aber -glauben Sie mir, es ist meinerseits kein Verdienst dabei. Ich täte es ja -nicht, wenn ich dem Zwang ausweichen könnte. Es hat keinen Sinn, sich -Staub in die Augen zu streuen: wenn man in das dritte Jahr des Krieges -kommt, so hat man nicht mehr jene Liebe zum Wagnis und jene -Gleichgültigkeit wie im Anfang. Damals, das muß ich zugestehen, hatte -ich sie noch, damals war ich eine reine Unschuld an Heldentum. Aber es -ist schon lange her, daß ich diese Jungfernschaft verloren habe, die aus -Unbildung und Schönrederei zusammengeflickt war. Ist die einmal weg, so -wird der Irrsinn des Krieges, die Idiotie der Massaker, die Häßlichkeit -und Schauerlichkeit dieser Opfer auch dem Beschränktesten klar. Wenn es -auch gar zu unmännlich wäre, vor dem Unvermeidlichen die Flucht zu -ergreifen, so drängt man sich wenigstens nicht dazu, irgend etwas -Unnötiges zu tun. Der große Corneille war eben auch ein Held des -Hinterlandes. Die an der Front, die ich gekannt habe, die waren fast -alle Helden gegen ihren Willen.“ - -„Aber das ist ja der wahre Heroismus“, sagte Clerambault. - -„Und das ist jener Froments“, antwortete Chastenay, „er ist Held, weil -er nicht anders kann, weil er nicht mehr bloß ein Mensch sein kann. Aber -was ihn uns so teuer macht, ist, daß er trotzdem ein Mensch geblieben -ist.“ - - § - -Die ganze Richtigkeit dieser Worte wurde Clerambault in der langen -Unterhaltung klar, die er am nächsten Nachmittag mit Froment hatte. Es -war um so mehr Verdienst darin, wenn sich der Stolz Froments im -Zusammenbruch seines Lebens nicht verleugnete, als er vordem niemals den -Kult des Verzichts betrieben hatte. Im Gegenteil, er hatte immer große -Hoffnungen und einen starken Ehrgeiz gehabt, den seine geistigen Gaben -und seine glückliche Jugend durchaus rechtfertigten. Nicht einen -einzigen Tag hatte er sich wie Chastenay einer Illusion über den Krieg -hingegeben, sondern sofort seine gefährliche Torheit durchschaut. Diese -Erkenntnis verdankte er nicht nur seinem starken Intellekt, sondern vor -allem der geistigen Führerin, die von Kindheit an die Seele ihres Sohnes -aus dem Reinsten ihres Wesens geformt hatte. - -Frau Froment, die Clerambault fast täglich bei seinen Besuchen antraf, -hielt sich abseits beim Fenster und warf von Zeit zu Zeit von ihrer -Arbeit einen Blick voll Zärtlichkeit auf ihren Sohn. Sie war eine jener -Frauen, die zwar nicht eine außerordentliche Intelligenz, aber doch ein -Genie des Herzens besitzen. Als Witwe eines Arztes, der viel älter war -als sie, und dessen weitreichender Geist den ihren befruchtet hatte, -waren ihr in ihrem Leben nur zwei sehr tiefe, untereinander sehr -verschiedene Neigungen bewußt geworden: die fast kindliche Neigung für -ihren Gatten und die fast zärtliche für ihren Sohn. - -Doktor Froment, ein Mann von großer Bildung und eigenartiger Denkweise, -die er unter einer aufmerksamen Höflichkeit verbarg, um die anderen, von -denen er sich unterschied, nicht zu verletzen, war lange Zeit seines -Lebens auf Reisen gewesen. Er hatte fast ganz Europa, Ägypten, Persien -und Indien bereist, und zwar nicht nur aus wissenschaftlichem, sondern -auch aus religiösem Interesse; ihn beschäftigten ganz besonders die neue -Glaubensbewegung in der Welt, der Babismus, die _Christian Science_ und -die theosophischen Lehren. In inniger Beziehung zu der pazifistischen -Bewegung, ein Freund der Baronin Suttner, der er in Wien begegnet war, -sah er seit langem die große Katastrophe voraus, der Europa und -diejenigen, die er liebte, entgegengingen. Aber als Mann von Mut und -innerlich längst gewohnt, dem ewig Ungerechten der Natur ins Auge zu -schauen, versuchte er weder sich noch die Seinigen über das Drohende -hinwegzutäuschen, sondern einzig ihre Seele gegen die kommenden Anstürme -dieser Wogen zu stärken. Noch mehr aber als durch seine Worte war er für -seine Frau — der Sohn war noch ein Kind zur Zeit seines Todes — durch -sein Beispiel eine heilige Erinnerung geworden, denn im langsamen und -grausamen Leiden, das ihn gefangen gehalten hatte — ein Darmkrebs — -hatte er bis zum letzten Tage ruhig seine Aufgabe erfüllt und überdies -noch die Nächsten seiner Umgebung durch seine Ruhe getröstet. - -Frau Froment bewahrte in ihrem Herzen dieses edle Bild wie einen inneren -Gott. Die ehrfürchtige Erinnerung für den toten Gefährten wurde in ihrem -Leben das, was bei anderen der religiöse Glaube ist. Da sie an kein -anderes Leben in der Zukunft glaubte, wandte sich ihr Gebet, -insbesondere in den Stunden der Sorge, an ihn, wie an einen immer -gegenwärtigen Freund, der bei einem wacht und einen berät. Durch das -eigenartige Phänomen der Wiedererneuerung, das oft nach dem Tode eines -geliebten Wesens eintritt, schien das Innerste der Seele ihres Mannes in -sie übergegangen zu sein. So erwuchs ihr Sohn in einer von ruhigen -Ausblicken umhüllten Gedankenatmosphäre, die ganz verschieden war von -jener tropisch fieberigen Landschaft, in der die junge Generation vor -1914, unruhig, glühend, aggressiv und vom Warten ungeduldig gemacht, -mannbar wurde.... Als dann der Krieg ausbrach, mußte Frau Froment weder -sich noch ihren Sohn gegen die Verführung der nationalen Leidenschaft -schützen: sie war beiden von vornherein fremd. Sie versuchten auch -nicht, dem Unvermeidlichen zu widerstehen, wußten sie doch schon so -lange, daß dieses Unglück unterwegs war. Für sie handelte es sich einzig -darum, alles zu ertragen, ohne sich ihm zu beugen, um das zu retten, was -gerettet sein mußte: die Treue der Seele zu ihrem Glauben. Frau Froment -glaubte nicht, daß es nötig sei, „über dem Getümmel“ zu bleiben, um es -zu beherrschen, und was zwei oder drei französische, englische, deutsche -Schriftsteller durch ihre Artikel für die internationale Versöhnung -versuchten, das erfüllte sie von sich aus in ihrem beschränkten Kreis -viel einfacher und viel wirksamer. - -Sie hatte ihre alten Beziehungen aufrechterhalten, und ohne sich in dem -vom Kriegswahn verseuchten Milieu gehemmt zu fühlen, ohne jemals leere -Demonstrationen gegen den Krieg zu versuchen, schuf sie durch ihre bloße -Gegenwart, durch ihr ruhiges Wort, ihren klaren Blick, ihr beherrschtes -Urteil, durch den Respekt, den ihre Güte einflößte, eine Art Hemmung -gegen die sinnlosen Übertreibungen des Hasses. Sie war es auch, die in -den Kreisen, die sie dafür empfänglich hielt, die Botschaft der freien -Europäer und die Artikel Clerambaults verbreitete, der davon niemals -erfuhr, und sie hatte die Genugtuung, daß sie in den Herzen Widerklang -fanden. Aber ihre größte Freude war, daß ihr Sohn selbst daran geformt -wurde. - -Edme Froment hatte nichts von einem Tolstoianer in seinem Pazifismus. Zu -Anfang betrachtete er den Krieg noch viel mehr als Dummheit wie als -Verbrechen. Wäre ihm Freiheit gelassen worden, so hätte er sich, wie -Perrotin, aus der Welt der Tat in den erhabenen Dilettantismus der Kunst -und der Ideen zurückgezogen und niemals versucht, die öffentliche -Meinung zu bekämpfen, weil er diesen Kampf für aussichtslos hielt. Ihm -flößte damals die Narrheit der Welt eher Verachtung als Mitleid ein. Zur -Teilnahme am Kriege gewaltsam gezwungen, sah er erst ein, daß diese -Narrheit durch das Leiden längst überzahlt war, und es überflüssig sei, -auf die Verurteilung des Krieges noch die Verachtung zu häufen. Der -Mensch schuf sich selbst seine Hölle auf Erden, es war nicht notwendig, -ihn noch einmal dafür zu richten. Zu gleicher Zeit hatten ihm die Worte -Clerambaults, die er während seiner Urlaubszeit in Paris kennen lernte, -gezeigt, daß er Besseres zu tun habe, als sich als Richter seiner -gefesselten Kameraden aufzuspielen: nämlich zu versuchen, deren Last zu -teilen und sie davon zu befreien. - -Nur ging der junge Schüler darin weiter als sein Lehrer, dessen -liebebedürftige, ein wenig schwächliche Natur glücklich war in einer -Gemeinschaft mit den Menschen, der daran litt, sich von ihnen zu -trennen, selbst wenn sie im Irrtum waren. Clerambault zweifelte stets an -sich. Er sah nach rechts und links, suchte in den Augen der menschlichen -Masse nach einer Zustimmung zu seinen Ideen und erschöpfte sich im -unfruchtbaren Bemühen, sein inneres Gesetz mit den sozialen Bestrebungen -und Kämpfen seiner Zeit in Einklang zu bringen. Für Froment, den -Hingestreckten, der in seinem unterjochten Körper die Seele eines -Führers hatte, bestand kein Zweifel an der absoluten Pflicht für jeden, -dem die Flamme eines großen Ideals anvertraut ist, sie über die Häupter -seiner Gefährten zu erheben. Warum versuchen, das Licht ängstlich -zuzudecken oder es im Schein der andern Leuchten aufgehen zu lassen? Der -Gemeinplatz der Demokratien: „Die ganze Welt ist klüger als der eine -Voltaire“, war für ihn ein Irrtum ... Demokritos sagt: „_Unus mihi pro -populo est_.“ „Ein einziger zählt für mich soviel wie tausend.“ Nach der -Meinung unserer Zeit stellt die staatliche Gesellschaft den Gipfel der -menschlichen Entwicklung dar. Wer kann die Wahrheit dieser Hypothese -beweisen? „Für mich“, sagte Froment, „ist der höchste Gipfelpunkt einzig -im überlegenen Individuum. Millionen Menschen haben gelebt und sind -gestorben, um eine einzige höchste Gedankenblüte zu entfalten. In -verschwenderischer Art geht die Natur zu diesem Ziele, sie opfert ganze -Völker, um einen Jesus, einen Buddha, einen Äschylos, einen Leonardo, -einen Newton, einen Beethoven zu schaffen. Was wären denn die Völker, -was wäre die Menschheit ohne diese Menschen?.... Wir wollen damit nicht -das egoistische Ideal des Übermenschen aufnehmen. Ein großer Mann ist -groß für, ist groß statt aller anderen Menschen. Seine Persönlichkeit -drückt Millionen Menschen aus und führt sie empor, denn sie ist die -Verkörperlichung ihrer geheimsten Kräfte, ihrer höchsten Wünsche. Sie -drängt sie alle in ihrem Wesen zusammen — und schon sind sie -verwirklicht. Die einzige Tatsache, daß ein Mensch Christus gewesen ist, -hat Jahrhunderte der Menschheit erhoben und über die Erde hinweggetragen -und sie mit göttlichen Kräften erfüllt. Und obwohl neunzehn Jahrhunderte -seitdem vergangen sind, haben doch die Millionen Menschen niemals die -Höhe des Vorbildes erreicht und mühen sich noch immer, ihm nachzukommen. -— Wird das individualistische Ideal in dieser Weise verstanden, so ist -es fruchtbarer für die menschliche Gesellschaft als das kommunistische, -das nur zu der mechanisch-technischen Vollendung eines Ameisenhaufens -führt. Zum mindesten ist es aber unentbehrlich als Korrektiv und als -Ergänzung des anderen.“ - -Dieser stolze Individualismus, den Froment in heißen Worten ausdrückte, -richtete den immer ein wenig schwankenden Geist Clerambaults auf, der -leicht unentschieden blieb, teils aus Güte, teils aus Zweifel an sich -selbst, teils durch die Bemühung, immer auch die anderen zu verstehen. - -Noch einen anderen Dienst erwies ihm Froment dadurch, daß er mehr als -Clerambault über die internationalen Gedanken informiert war. Da er -durch seine Familie unter den Intellektuellen aller Länder Beziehungen -hatte und vier oder fünf fremde Sprachen beherrschte, konnte Froment dem -älteren Freunde Kenntnis geben von den anderen großen Einsamen, die in -jeder Nation für das Recht des freien Gewissens kämpften. Er zeigte ihm -die ganze unterirdische Arbeit des niedergehaltenen Gedankens, der sich -bemühte, die Wahrheit zu finden. Und es war dies ein tröstliches -Schauspiel, daß selbst das Zeitalter der furchtbarsten moralischen -Tyrannei, die seit der Inquisition auf der Seele der Menschheit lastete, -es doch nicht zuwege brachte, in der Elite jedes Volkes den unbändigen -Lebenswillen nach Freiheit und Wahrheit zu ersticken. - -Freilich, diese unabhängigen Persönlichkeiten waren selten, aber darum -war ihre moralische Macht eine um so größere. Ergreifend zeichnete sich -ihre Silhouette gegen den leeren Horizont ab, und im Sturz der Völker in -die Tiefe des Abgrundes, wo Millionen Seelen zu einem formlosen Brei -sich vermengten, erklang ihre Stimme als das einzige menschliche Wort. -Daß sie tätig waren, wurde vor allem sichtbar durch die Wut derjenigen, -die ihr Tun zu leugnen suchten. Schon vor einem Jahrhundert schrieb -Chateaubriand: - -„Kämpfe haben keinen Sinn mehr. Man muß s e i n, das ist die einzige -Sache, die notwendig ist.“ - -Doch er sah nicht voraus, daß in unserer Zeit „sein“, das heißt „man -selbst sein“, „frei sein“, gerade den allergrößten Kampf erforderte. -Aber die Menschen, die ganz ihr wahres Ich sind, dominieren schon durch -diese einzige Tatsache der Gleichförmigkeit der anderen. - - § - -Clerambault war nicht der Einzige, der die Energie Froments als so -wohltuend empfand und empfing. Bei jedem seiner Besuche begegnete er am -Krankenlager des jungen Mannes irgendeinem Freund, der gekommen war, um -ihn aufzurichten und — ohne daß er es sich eingestand — von ihm -aufgerichtet zu werden. Zwei oder drei waren junge Leute im Alter -Froments, die anderen ältere Männer, meist schon über fünfzig hinaus, -entweder alte Freunde der Familie oder solche, die Froment schon vor dem -Kriege gekannt hatten. Einer von ihnen, ein alter Hellenist mit feinem -und zerstreutem Lächeln, war sein Lehrer gewesen. Unter den anderen war -noch ein Bildhauer mit grauem Haar, schlaffen und von tragischen Falten -durchzogenem Gesicht, ein Landjunker mit kurzgeschorenen Haaren, roter -Gesichtsfarbe, dem viereckigen Kopf eines Bauern, schließlich noch ein -weißbärtiger Arzt mit einem Ausdruck von Sanftmut in seinem müden -Gesicht, dessen Blick durch den verschiedenen Ausdruck der beiden Augen -überraschte: das eine schien scharf mit einem Zwinkern von Zweifel zu -beobachten, das andere melancholisch vor sich hinzuträumen. - -Diese Menschen, die sich manchmal bei dem Kranken vereint fanden, -glichen einander in keiner Weise. Man konnte in dieser kleinen Gruppe -alle Gedankenformen vertreten finden vom Katholiken zum Freigeist und -selbst zum Bolschewisten, als welcher sich einer der jungen Kameraden -Froments bekannte. In ihnen war der Einfluß der verschiedensten -geistigen Ahnen sichtbar wirksam: im alten Hellenisten derjenige des -ironischen Lucian, bei dem Grafen de Coulanges derjenige der alten -französischen Chronisten der Collection Michaud. (Er liebte es, auf -seinem Landgut sich abends von der Tierzucht und den chemischen -Düngungen dadurch zu erholen, daß er die dunkelgoldfarbige Sprache -Froissarts und die gleichzeitig dornige und saftige des spitzbübischen -Gondi las.) Der Bildhauer zermürbte seine Stirn, um eine Metaphysik in -Beethoven und Rodin herauszufinden, der Doktor Verrier, der für Religion -das mitleidige Lächeln des Wissenschaftlers hatte, versetzte die -Wunderwelt, deren er bedurfte, in das Reich der biologischen Hypothesen -und der blendenden Gleichungen der modernen Physik und Chemie. So -schmerzlich ihm auch das Leiden der Zeit war, so entschwand die Ära des -Krieges mit all ihrem blutnassen Ruhm in die Ferne gegenüber den -heroischen geistigen Entdeckungen, die der freie Deutsche Einstein -inmitten der menschlichen Verirrung, ein neuer Newton, vollbrachte. - -So schien alles zwischen diesen Menschen widersprechend zu sein, sowohl -ihre geistige Form als auch ihr Temperament. Aber in einem waren sie -alle einig, daß sie keiner Partei zugehörten, nur aus sich selbst heraus -dachten und Ehrfurcht und Liebe für die Freiheit hatten, für die ihre -und für die der anderen! Und das ist doch das Wesentliche! In unserer -gegenwärtigen Epoche zerbrechen die alten Formen, stürzen die -politischen, religiösen oder sozialen Parteien zusammen. Es bedeutet ja -nur einen kleinen Fortschritt, sich statt einen Monarchisten einen -Sozialisten oder Republikaner zu nennen, insolange diese Gruppen sich -noch dem Nationalismus ihres Staates, dem Glauben oder der Klasse -unterwerfen. In Wahrheit gibt es heute nur noch zwei Formen des Geistes: -die einen, die sich in ihre Grenze einschließen, und die anderen, die -allem Lebendigen aufgetan sind, die in sich die ganze Menschheit fühlen, -sogar ihre Feinde. So wenig zahlreich diese Männer auch sein mögen, sie -formen, ohne es zu wissen, die wahre Internationale, jene, die auf dem -Kultus der Wahrheit und des umfassenden und allen gleich zugehörigen -Lebens ruht. Einzeln zu schwach (sie wissen es wohl), ihr unermeßliches -Ideal zu umfassen, umfaßt doch das Ideal sie alle. Und alle in ihm -geeint, wandern sie, jeder auf einem verschiedenen Wege, dem unbekannten -Gott entgegen. - -Was nun in diesem Augenblick diese so verschiedenen freien Seelen um -Edme Froment versammelte, war das dunkle Gefühl, er sei der Punkt, wo -sich ihre Zielrichtungen begegneten, der Kreuzweg, von dem man alle Wege -ausstrahlen sieht. Froment war nicht immer ein solcher Mittelpunkt -gewesen; solange er noch Herrschaft über seinen Körper und seine -Gesundheit hatte, ging auch er seinen Weg abseits von den anderen. Aber -seit sein Lauf unterbrochen war, hatte er sich nach einer Periode kurzer -Verzweiflung — die er aber sorgsam den Blicken seiner Umgebung verbarg -— gleichsam als Wegkreuz aufgestellt: gerade weil er selbst nicht mehr -tätig sein konnte, vermochte er die Tat der anderen besser zu -überblicken und im Geist daran teilzunehmen. Er sah in den verschiedenen -Strömungen — Vaterland, Revolution, Staats- und Klassenkampf, -Wissenschaft und Glauben — nur die vermengten Kräfte eines Wildbaches -mit seinen Stromschnellen, Wirbeln und sandigen Stellen; manchmal -scheint er zurückgeworfen oder gebrochen zu werden oder zu schlafen. -Aber die Strömungen gehen doch unwiderstehlich nach vorwärts: selbst die -Reaktion wird immer weiter gerissen. Und er, der junge Gekreuzigte am -Kreuzweg, vermählte sich allen Strömungen, dem ganzen Strom. - -Clerambault fand in ihm einige Züge Perrotins wieder. Aber Welten -trennten Froment von Perrotin. Wenn auch er so wie jener nichts -Vorhandenes leugnete und alles zu verstehen suchte, so tat er es doch -mit einer begeisterten Seele. Alles wurde in seinem Herzen Bewegung und -beherrschte Leidenschaft. Alles, Tod und Leben, war bei ihm Gang und -Aufstieg — unbeweglich nur er selbst, sein eigener Leib. - - § - -Inzwischen war eine dunkle Stunde gekommen. Man hatte die Wende der -Jahre 1917/18 überschritten. Die nebligen Winternächte waren schwer von -der Erwartung des letzten Ansturms der deutschen Armeen. Seit Monaten -war er durch drohende Gerüchte angekündigt, die Streifzüge der Flieger -über Paris schienen schon seine Vorboten zu sein. Die Verfechter des -Krieges „bis zum endgültigen Siege“ spiegelten vollkommene Sicherheit -vor, die Zeitungen fuhren fort zu prahlen, und Clemenceau behauptete, -nie besser geschlafen zu haben. Aber die geistige Spannung verriet sich -in der wachsenden Schärfe des Hasses zwischen den Nichtkämpfern. Man -lenkte die öffentliche Beunruhigung auf die Verdächtigen des -Hinterlandes, auf die Flaumacher ab. Hochverratsprozesse erhitzten und -beschäftigten die Moral des Hinterlandes, die Angeber mit der -Heldengeste Corneilles, die patriotischen Denunzianten, die fanatischen -Zeugen vervielfältigten sich, und das Gebell der öffentlichen Ankläger -kläffte durch Tage zornig hinter den armen, gehetzten Opfern her. Als -dann zu Ende März die über Paris hängende deutsche Offensive losbrach, -erreichte der überhitzte Bürgerhaß seinen Zenith, und es war gewiß, daß, -wenn ein Durchbruch gelungen wäre, noch ehe die feindliche Armee Paris -erreicht hätte, der Galgen von Vincennes, dieser Altar des rächenden und -bedrohten Vaterlandes, seine Opfer empfangen hätte, gleichgültig, ob sie -schuldig oder unschuldig, ob sie nur angeklagt oder abgeurteilt waren. - -Clerambault wurde öfters in den Straßen beschimpft. Er regte sich -darüber nicht auf, vielleicht, weil er sich des Gefährlichen der -Situation nicht ganz bewußt war. Eines Tages traf Moreau ihn inmitten -einer Gruppe von Passanten in einer Diskussion mit einem wutschäumenden -jungen Menschen, der ihn in verletzender Weise angegangen hatte. Während -er noch sprach, hörte man ganz in der Nähe die Explosionen der „dicken -Berta“. Clerambault schien es nicht zu merken, er fuhr ruhig fort, vor -dem Zornigen seine Ideen zu entwickeln. In dieser Beharrlichkeit war -eine gewisse Komik, und die Zuhörer, die als gute Franzosen das gleich -merkten, tauschten darüber allerhand, zwar nicht sehr höfliche, aber -doch auch nicht böswillige Witze aus. Moreau faßte Clerambault am Arm, -um ihn wegzuziehen. Clerambault schaute auf, sah die lachenden Leute, -erfaßte nun seinerseits das Komische der Situation und lachte mit den -anderen. - -„Was für ein alter Narr ... Nicht wahr?“ sagte er zu Moreau, der ihn -wegzog. - -„Es gibt aber auch andere Narren. Man muß sich in acht nehmen“, -antwortete Moreau in recht energischer Weise. Aber Clerambault wollte -ihn nicht verstehen. - -Inzwischen war das Untersuchungsverfahren seines Prozesses in eine neue -Phase getreten. Clerambault war des Vergehens gegen das Gesetz vom 5. -August 1914, das „staatsgefährliche Äußerungen während des Krieges“ -verhindern sollte, beschuldigt; man klagte ihn der pazifistischen -Propaganda in den Arbeiterskreisen an, in denen Thouron die Schriften -Clerambaults mit seinem Einverständnis verbreitet hätte. Nichts konnte -unrichtiger sein, denn weder wußte Clerambault von einer Propaganda -dieser Art, noch hatte er sie autorisiert, was Thouron auch bezeugen -konnte. Aber nun ergab sich das Seltsame, daß Thouron dies nicht -bezeugte. Sein Verhalten erwies sich als äußerst merkwürdig; statt die -Dinge richtig zu stellen, machte er allerhand Winkelzüge, tat so, als ob -er etwas zu verbergen hätte, ja, er tat es sogar in einer gewissen -absichtlichen Weise und hätte sich gar nicht gefährlicher benehmen -können, wenn es seine innerste Absicht gewesen wäre, solch einen -Verdacht zu erwecken. Verhängnisvollerweise lenkte sich dieser Verdacht -nun gegen Clerambault. Zwar sagte Thouron nichts gegen ihn oder gegen -irgend jemanden aus, er weigerte sich, irgendetwas zu sagen, aber er -ließ immer durchblicken, daß, wenn er reden wollte.... Aber er wollte -nicht. Man konfrontierte ihn mit Clerambault. Er benahm sich tadellos, -geradezu ritterlich, legte die Hand auf das Herz und versicherte den -„Meister“, den „Freund“ seiner kindlichen Verehrung. Clerambault -versuchte ihn voll Ungeduld endlich zu einer klaren Darstellung dessen -zu bringen, was zwischen ihnen vorgegangen war, der andere aber fuhr -immer nur fort, seine „unerschütterliche Ergebenheit“ zu bezeugen. Mehr -könne er nicht sagen, nichts seinen Aussagen hinzufügen, er nehme alles -auf sich. - -Dieses Benehmen ließ ihn nach außen sympathisch erscheinen, Clerambault -aber in den Verdacht kommen, als wolle er sich durch Aufopferung seines -Vasallen aus der Affäre ziehen. Die Zeitungen zögerten nicht lange und -beschuldigten ihn der Feigheit. Inzwischen folgte eine Vorladung der -anderen, seit zwei Monaten mußte sich Clerambault zu ganz nichtigen -Verhören begeben, zu denen ihn die Richter zitierten, ohne daß sich -irgendeine Entscheidung anzeigte. Nun sollte man glauben, daß ein Mann, -der solange ohne die geringsten Beweise angeklagt und unter dem -schimpflichen Verdacht gehalten wurde, bei der Öffentlichkeit Sympathien -gefunden hätte. Aber im Gegenteil: sie wurde noch gereizter gegen ihn, -man verzieh es ihm nicht, daß er nicht schon verurteilt war. Die -tollsten Erfindungen zirkulierten in der Presse, man behauptete, die -Sachverständigen hätten an der Form gewisser Buchstaben und an einzelnen -besonderen Schriftzeichen entdeckt, daß eine der Flugschriften -Clerambaults von Deutschen gedruckt und verbreitet worden war. So dumm -diese Erfindungen waren, sie fanden doch Zugang bei der ungeheuren -Leichtgläubigkeit der Leute, die (man behauptete es wenigstens) vor dem -Krieg vernünftig gewesen waren. Es waren erst vier Jahre seitdem -vergangen, aber es schienen schon Jahrhunderte zu sein. - -Kurz, die braven Leute verurteilten einen der Ihren ohne weitere -Nachfrage; es war nicht das erstemal und wird nicht das letztemal sein. -Die gut abgerichtete öffentliche Meinung empörte sich darüber, daß -Clerambault noch frei herumging, und die reaktionären Blätter, die -fürchteten, ihre Beute könne ihnen entgehen, klagten die Justiz an, -versuchten sie einzuschüchtern und verlangten, die Affäre müsse dem -Zivilgerichte entzogen und dem Militärgerichte übergeben werden. Rasch -erreichte die Erregung einen jener Paroxismen, die in Paris im -allgemeinen kurz, aber furchtbar zügellos sind. Denn dieses sonst so -vernünftige Volk deliriert von Zeit zu Zeit. Man muß sich fragen, wie -die Leute, die zum großen Teil gar nicht böse sind und von Natur aus zu -gegenseitiger Nachsicht, ja Gleichgültigkeit geneigt, plötzlich zu -solchen Explosionen von zornigem Fanatismus kommen, bei denen sie -gleichzeitig ihren Kopf und ihr Herz verlieren. Manche sagen, dieses -Volk hätte eine Frauennatur, sowohl in seinen Tugenden wie in seinen -Lastern, und daß die Feinheit seiner Nerven und die Sensibilität, der ja -seine Kunst und sein Geschmack den Vorrang verdanken, es plötzlich in -hysterische Krisen verfallen lassen. Ich glaube vielmehr, daß jedes Volk -nur durch Zufall einmal menschlich ist — wenn man unter Mensch ein -vernünftiges Tier versteht (was ja sehr schmeichelhaft, aber gänzlich -unbewiesen ist). Die Menschen machen von ihrer Vernunft nur selten -Gebrauch. Im allgemeinen sind sie von der Anstrengung zu denken, gleich -ermattet, und man tut ihnen wohl, wenn man ihnen das Wollen abnimmt und -für sie nur das will, was die wenigste Anstrengung erfordert. Die -Anstrengung nun, irgendeine neue Idee zu hassen, ist wirklich keine -allzugroße. Aber brechen wir nicht den Stab über sie! Der Freund aller -Verfolgten hat mit seinem nachsichtigen Heroismus gesagt: „Sie wissen -nicht, was sie tun.“ - -Eine nationalistische Zeitung fand sich bereit, die bösartigen -Instinkte, die in diesen armen Menschen schlummerten, aufzuwecken. Sie -lebte ja einzig nur von der Ausbeutung der Verdächtigung und des Hasses, -was sie „für die Erneuerung Frankreichs arbeiten“ nannte. Für sie -bestand eben Frankreich einzig aus ihr selbst und ihren -Gesinnungsgenossen. Sie veröffentlichte gegen „Cleramboche“ eine Reihe -mörderischer Artikel, ähnlich jenen, die so gut ihr Ziel gegen Jaurès -erreicht hatten, sie hetzte die öffentliche Meinung auf, indem sie -schrie: geheimnisvolle Einflüsse seien am Werk, den Verräter zu -schützen, und man müsse darüber wachen, daß er nicht entkomme. Und -schließlich appellierte sie an die Justiz des Volkes. - - § - -Viktor Vaucoux haßte Clerambault. - -Er kannte ihn nicht. Der Haß braucht ja seinen Gegner nicht zu kennen. -Aber hätte Vaucoux Clerambault gekannt, so hätte er ihn noch mehr -gehaßt. Ehe er wußte, daß es einen Clerambault gebe, war er schon sein -geborener Feind. Es gibt in jedem Land geistige Rassen, die sich -feindlicher sind als die des Blutes oder die der Uniformen. - -Er stammte aus begüterter Bürgerschaft im Westen Frankreichs, aus einer -Beamtenfamilie des Kaiserreiches und des Systems von Zucht und Ordnung, -die sich seit vierzig Jahren in den Schmollwinkel einer sterilen -Opposition zurückgezogen hatte. Er besaß Güter in der Charente, dort -verbrachte er den Sommer, die übrige Zeit war er in Paris. Es war eine -dekadente Familie, wie es die jener Gesellschaftsklasse ja gewöhnlich -sind, und sowohl gegen seine Klasse als gegen die eigene Familie wandte -sich sein Herrschinstinkt, für den er im Leben keine andere Verwendung -fand. Die Unterdrückung seiner Herrschbegierde gab ihm einen -tyrannischen Charakter, er despotierte, ohne es zu wissen, die Seinen, -gleichsam aus einem Recht und einer unbestreitbaren Pflicht heraus. Das -Wort Toleranz hatte keinen Sinn für ihn. Für ihn war es gewiß: er konnte -sich nicht irren. Dabei war er intelligent, hatte eine gewisse sittliche -Gesundheit — ja sogar ein Herz, aber das alles unter einer dicken Rinde -wie bei einem alten überwucherten Stamm zusammengepreßt und gebunden. -Seine Kräfte, die sich nicht auswirken konnten, stauten sich und -stockten. Von außen nahm er nichts auf. Wenn er las, wenn er reiste, tat -er es mit feindlichen Augen und dem Verlangen, s i c h wieder zu finden. -Nichts schnitt durch die Rinde in sein innerstes Wesen hinein. Was er an -Leben hatte, kam von unten, von der Wurzel, von der Erde — von den -Toten. - -Er war der Typus jener Rassenschicht, die, zwar stark, aber doch schon -gealtert, nicht mehr genug Leben hat, um sich nach außenhin zu -entwickeln, und sich im Gefühl einer aggressiven Verteidigung -zusammenschließt. Sie beobachtet mit Mißtrauen und Antipathie die neuen -jungen Kräfte, die sich rings um sie, innerhalb und außerhalb ihres -Volkes, entwickeln, die aufsteigenden Nationen und Klassen, alle die -leidenschaftlichen und ungeschickten Versuche sittlicher und sozialer -Erneuerung. Solche Leute brauchen, wie der arme Barrès und sein -verkrüppelter Held[B], Mauern, Schranken, Grenzen und Feinde. - -In diesem Belagerungszustand lebte auch Vaucoux und ließ die Seinen so -leben. Seine sanfte, gleichmütige, verblühte Frau hatte das einzige -Mittel gefunden, diesem Zustand zu entkommen: sie war gestorben. Allein -mit seiner Trauer zurückgeblieben, die er eifersüchtig behütete — wie -alles, was ihm gehörte —, errichtete er einen Schutzwall um die Jugend -seines einzigen, dreizehnjährigen Sohnes und lehrte ihn, mit dem Vater -zusammen diesen Schutzwall zu bewachen. Wie seltsam, Söhne zu zeugen, um -mit ihnen gegen die Zukunft zu kämpfen! Sich selbst überlassen, hätte -der junge Bursche vielleicht das Leben von sich aus entdeckt, aber im -Gefängnis des Vaters wurde er eine Beute des Vaters. Sie lebten in einem -versperrten Haus mit wenig Beziehungen, wenig Büchern, wenig Zeitungen, -mit Ausnahme einer einzigen, deren versteinerte Prinzipien am besten -Vaucoux’ Bedürfnis nach Erhaltung (im Sinne von Mumifizierung) -entsprachen. Sein Opfer, sein Sohn, konnte ihm nicht entkommen. Er -impfte ihm seine geistige Abirrung ein, wie Insekten ihre Eier in den -lebendigen Körper eines anderen Tieres einpflanzen, und als der Krieg -ausbrach, führte er ihn in das Rekrutierungsbureau und ließ ihn -einschreiben. Für einen Mann seiner Art war das Vaterland das reinste -aller Wesen, das heiligste der heiligen. Er mußte nicht erst, um sich zu -begeistern, die heiße Luft und den Rausch der Menge eintrinken (er hielt -sich weit weg von der großen Masse). Das Vaterland war in ihm. Das -Vaterland: die Vergangenheit, die ewige Vergangenheit. - -Und sein Sohn wurde getötet wie derjenige Clerambaults, wie diejenigen -von Millionen Vätern für den Glauben jener Väter an ein vergangenes -Ideal, an das sie selbst gar nicht glaubten. - -Aber Vaucoux kannte nicht die Zweifel Clerambaults. Zweifeln? Er wußte -gar nicht, was Zweifeln bedeutete, und hätte er es sich erlaubt, er -würde sich verachtet haben. Dieser harte Mensch liebte seinen Sohn -leidenschaftlich, obwohl er es ihm nie gezeigt hatte, und er wußte keine -andere Art, es nun zu beweisen, als durch einen leidenschaftlichen Haß -gegen diejenigen, die ihn getötet hatten. Freilich zählte er sich nicht -selber zu jenen, die ihn hingeschlachtet hatten. - -Für seine Rache waren ihm aber nur begrenzte Möglichkeiten gegeben. -Obwohl er Rheumatiker war und einen steifen Arm hatte, wollte er in die -Armee eintreten, wurde aber nicht angenommen. Er mußte aber doch etwas -tun und vermochte es nur durch Denken. Allein in seinem Haus, als -Gefährten nur seine tote Frau und seinen toten Sohn, gab er sich durch -Stunden leidenschaftlichen Betrachtungen hin. Wie ein Tier im Gefängnis, -das an den Stäben rüttelt, drehten sie sich rasend im Kreise des -Krieges, soweit ihn die Schützengräben zogen, voll Gier auszubrechen und -nach einer Öffnung suchend. - -Die Artikel Clerambaults, die ihm durch das Wutgeheul seiner Zeitung -bekannt wurden, brachten ihn außer sich. Was?... Man versuchte ihm den -Knochen des Hasses aus den Zähnen zu reißen?... Schon aus dem wenigen, -was er von Clerambault vor dem Kriege kannte, war dieser ihm -unerträglich gewesen. Der Schriftsteller durch seine Bemühung um neue -Kunstformen, der Mann durch seine Lebens- und Menschenliebe, seinen -demokratischen Idealismus, seinen ein wenig einfältigen Optimismus und -seine europäischen Wünsche. Auf den ersten Blick, mit dem Instinkt des -Rheumatikers (in den Gelenken und im Geiste) hatte Vaucoux Clerambault -unter jene eingereiht, die einen Luftzug im Hause mit den verschlossenen -Fenstern und Türen, im Vaterlande, machen. Im Vaterlande, natürlich so, -wie er es verstand, denn für ihn gab es kein anderes. So brauchte er -nicht die besonderen Aufreizungen der Zeitungen, um in dem Verfasser des -„Aufrufes an die Lebendigen“ und „Ihr Toten, verzeihet uns“ den Agenten -des Feindes — den Feind zu sehen. - -Und das Rachefieber, das ihn verzehrte, warf sich auf diese Beute. - ------ - -[B] „Simon und ich verstanden nun unseren Haß gegen die Fremden, gegen -die Barbaren und unseren Egoismus, in den wir mit uns selbst unsere -ganze kleine moralische Familie e i n s c h l i e ß e n. Die erste -Aufgabe dessen, der leben will, ist, sich mit h o h e n M a u e r n - z u u m g e b e n. Aber in seinen g e s c h l o s s e n e n Garten -läßt er jene ein, die von ähnlichen Formen des Gefühls und gleichen -Interessen geleitet sind.“ (_Un Homme libre._) In drei Zeilen spricht -dieser „freie Mensch“ also dreimal von „einschließen“, „sich mit Mauern -umgeben“, „verschließen“. - ------ - - § - -Mein Gott, wie bequem ist es, zu hassen, wenn man diejenigen nicht -versteht, die anderer Meinung sind! - -Clerambault war diese Leichtigkeit nicht gegeben, denn er verstand -vollkommen auch jene, die ihn verabscheuten, verstand sie bis ins -Letzte! Diese guten Leute litten bis zur Tollwut an der Ungerechtigkeit -des Feindes — zweifellos deshalb, weil sie ihnen weh tat, aber auch aus -ganz rechtschaffenen Gründen, weil es eben d i e Ungerechtigkeit war, -die Ungerechtigkeit sonder gleichen. Denn kurzsichtig, wie sie waren, -erschien sie ihnen ganz einzigartig ungeheuerlich und erfüllte -verwirrend ihr ganzes Gesichtsfeld. Wie beschränkt ist doch bei einem -gewöhnlichen Menschen die Fähigkeit des Gefühls und des Urteils! -Versinkend in der ungeheuren Weite, klammert er sich an die erstbesten -vorübertreibenden Trümmer, und so wie der Mensch den tausendfältigen -Strom des Lichtes sich zu einigen wenigen Farben vereinfacht, so wird -ihm das Gute und das Böse in den Adern des Weltalls nur erkenntlich, -wenn er es in ein paar selbsterlebte Beispiele wie in Flaschen füllen -kann. Für ihn ist dann d a s ganze Gute, d a s ganze Böse der Welt in -diesen paar etikettierten Beispielen verschlossen, und er konzentriert -auf sie seine ganze Kraft der Liebe und des Hasses. Für tausende sonst -vortreffliche Leute ist die Verurteilung Dreyfus’ oder die Torpedierung -der „Lusitania“ d a s Verbrechen des Jahrhunderts geblieben. Diese guten -Leute sehen eben nicht, daß der ganze Weg der menschlichen Gesellschaft -mit Verbrechen gepflastert ist, über die sie ahnungslos hinwegschreiten, -denn sie alle haben unbewußt ihren Vorteil von unbekannten -Ungerechtigkeiten, die zu verhindern sie niemals die geringste -Anstrengung gemacht haben. Und welche Ungerechtigkeiten sind eigentlich -die schlimmeren, jene, die ein langdauerndes und tiefes Echo im Gewissen -der Welt erwecken, oder die anderen, um die einzig das niedergetretene -Opfer weiß?... Aber diese braven Leute haben nicht genügend lange Arme, -um alles Elend der Welt zu umfassen. Wer zu viel umfaßt, eignet sich nur -wenig an. Deshalb klammern sie sich gewöhnlich nur an irgendeine -einzelne Ungerechtigkeit. Aber die machen sie dann ganz zu ihrer -Angelegenheit. Haben sie sich einmal irgendein Verbrechen ausgewählt für -ihren Haß, dann verbrauchen sie dabei die ganze Kraft der Erbitterung, -die in ihren Eingeweiden lebt. Der Hund hat seinen Knochen gefunden und -knabbert daran. Weh’ dem, der daran rührt! - -Clerambault hatte daran gerührt. So hatte er kein Recht, sich zu -beklagen, wenn er nun gebissen ward. Und er beklagte sich auch nicht. -Die Menschen haben ein Anrecht, die Ungerechtigkeit, die sie sehen, zu -bekämpfen, und es ist nicht ihre Schuld, wenn sie davon nur die große -Zehe sehen, so wie Gulliver in Brobdignac. Jeder tut, was er kann. - -Und so bissen sie zu. - - § - -Es war am Karfreitag. Die große Sturzflut der Offensive warf sich gegen -das Herz Frankreichs. Auch der Tag der heiligen Trauer unterbrach das -Massaker nicht, denn der bürgerliche Krieg kennt keinen Gottesfrieden -mehr. Christus war in einer seiner Kirchen bombardiert worden, und die -Nachricht von der mörderischen Explosion in der Kirche Saint-Gervais -gerade um die Vesperstunde verbreitete sich nachts im lichtlosen Paris, -das von Trauer, Zorn und Furcht erfüllt war. - -Die Freunde hatten sich in ihrer Betrübnis bei Froment versammelt. Ohne -Verabredung waren sie hingekommen, weil sie sicher waren, einander dort -zu finden. Überall sahen sie Gewalt: in der Vergangenheit, in der -Zukunft, bei dem Feinde, bei den Ihren, im Lager der Reaktion ebenso wie -in dem der Revolution. Ihre Angst und ihre Zweifel vereinigten sich in -einem einzigen Gedanken, und der Bildhauer sagte: - -„Vergeblich beruhen unsere heiligsten Überzeugungen, unser Glaube an den -Frieden und die menschliche Brüderlichkeit auf der Vernunft und der -Liebe. Gibt es denn wirklich gar keine Hoffnung, daß sie jemals Macht -gewinnen über die Menschen? Wir sind zu schwach!“ - -Und Clerambault rezitierte, ganz ohne es zu wollen, die Worte des -Jesaias, die ihm plötzlich in Erinnerung kamen: - -„Dunkel bedecken die Erde, und der Schatten umhüllt die Völker....“ - -Er hielt inne. Aber von seinem kaum erhellten Bett fuhr Froment -unsichtbar fort: - -„Stehet auf, denn von den Gipfeln der Berge erscheinet das Licht....“ - -„Ja, es erscheint“, wiederholte aus dem Dämmer die Stimme der Frau -Froment, die zu Füßen des Bettes an der Seite Clerambaults saß. -Clerambault faßte ihre Hand. Es war wie ein kühler Schauer, der durch -das Zimmer lief. - -„Warum sagen Sie das?“ fragte der Graf Coulanges. - -„Weil ich Ihn sehe!“ - -„Ich sehe Ihn auch“, sagte Clerambault. - -Der Doktor Verrier fragte: - -„Wen?“ - -Aber ehe die Antwort noch ausgesprochen war, wußten schon alle das Wort -im voraus. - -„Der das Licht bringt ..., den Gott, der sie besiegt....“ - -„Ihr wartet auf einen Gott!“ sagte der alte Hellenist, „Ihr glaubt also -an das Wunder?“ - -„Das Wunder sind wir. Ist es denn nicht ein Wunder, daß in dieser Welt -unaufhörlicher Gewalttätigkeit wir den Glauben an die Liebe und die -Gemeinschaft der Menschen bewahrt haben?“ - -Coulanges sagte bitter: - -„Seit Jahrhunderten erwartet man den Christus, und immer, wenn er kommt, -erkennt man ihn nicht und kreuzigt ihn. Und alle vergessen ihn dann mit -Ausnahme einer Handvoll Bettler, die gut und beschränkt sind. Diese -Handvoll vermehrt sich, und während eines Menschenalters blüht der -Glaube. Dann aber wird er verfälscht, wird durch seinen Erfolg verraten, -durch seine ehrgeizigen Diener, die Kirche. Und das geht dann durch -Jahrhunderte so dahin.... _Adveniat regnum tuum_ ... Aber wo, wo ist -denn das Gottesreich?“ - -„In uns“, antwortete Clerambault. „Die Kette unserer Prüfungen und -Hoffnungen formt den ewigen Christus. Wir sollten glücklich sein, wenn -wir daran denken, daß uns das Vorrecht zuteil ward, den neuen Gott in -unserem Herzen beherbergen zu dürfen wie das Kind in der Krippe.“ - -„Aber was gibt uns das Zeichen, daß er gekommen ist?“ fragte der Arzt. - -„Unser Sein“, antwortete Clerambault. - -„Unsere Leiden“, antwortete Froment. - -„Unser verkannter Glaube“, antwortete der Bildhauer. - -„Die einzige Tatsache schon, daß wir sind“, setzte Clerambault hinzu, -„dieser Widersinn, den wir der Natur ins Antlitz schleudern, den diese -aber bestreitet. Hundertmal entflammt sich die Flamme und verlöscht -wieder, ehe sie leuchten bleibt. Jeder Christus, jeder Gott hat sich -vorher zu gestalten versucht in einer ganzen Reihe von Vorläufern. -Überall sind sie, verloren und vereinsamt im Raume und vereinsamt in den -Jahrhunderten. Aber diese Einsamen, die einander nicht kennen, sehen -alle am Horizont den gleichen leuchtenden Punkt, den Blick des Erlösers. -Und er kommt!“ - -Froment sagte: - -„Er ist gekommen!“ - - * * * * * - -Als sie voneinander in einem Gefühl gegenseitiger Liebe und fast wortlos -geschieden waren, um nicht den gläubigen Zauber, der sie umfaßte, zu -zerstören, und jeder sich allein in der Nacht der Straße fand, da -bewahrten sie alle die Erinnerung eines Schauers der Erleuchtung, den -sie nicht verstehen konnten. Der Vorhang war wieder vor ihnen -niedergesunken. Aber sie konnten nicht vergessen, daß er sich für eine -Sekunde ihnen aufgetan hatte. - - § - -Einige Tage später kam Clerambault, der einer Vorladung des -Untersuchungsrichters Folge geleistet hatte, über und über mit Kot -bedeckt nach Hause. Sein Hut, den er in der Hand hielt, war ganz -zerfetzt und seine Haare naß vom Regen. Das Dienstmädchen stieß bei -seinem Anblick einen Schrei aus, er bedeutete ihr zu schweigen und ging -in sein Zimmer. Rosine war nicht zu Hause. Sonst sahen sich die beiden -Eheleute, die allein in der leeren Wohnung geblieben waren, nur mehr bei -den Mahlzeiten und sprachen sich auch dann so selten als möglich. Aber -der Schrei des Dienstmädchens ließ Frau Clerambault ein neues Unglück -vorausfühlen, und die Erklärungen des Mädchens bestätigten nur ihren -Verdacht. Sie trat in das Zimmer Clerambaults und rief nun ihrerseits -aus: - -„Mein Gott, was hast du denn schon wieder gemacht?“ - -Clerambault in seiner Beschämung lächelte schüchtern und entschuldigte -sich. - -„Ich bin ausgerutscht ...“ - -Er versuchte die Spuren des Überfalls wegzusäubern. - -„Du bist ausgerutscht?... Drehe dich doch um ... Wie du dich zugerichtet -hast.... Mein Gott, man hat doch mit dir keinen ruhigen Augenblick.... -Du gibst wirklich gar nicht acht.... Bis zu den Augen hinauf hast du -Kotspritzer ... und da auf der Wange....“ - -„Ja, ich glaube, ich habe mich angeschlagen.“ - -„Ach, was man für ein Unglück mit dir hat.... ‚du glaubst‘ ... daß du -dich angestoßen hast?... Bist du ausgerutscht?... Bist du gefallen ...?“ - -Sie sah ihm ins Gesicht. „Es ist nicht wahr!“ - -„Aber ich sage dir doch ...“ - -„Es ist nicht wahr ... sage mir doch die Wahrheit ... Man hat dich -geschlagen ...?“ - -Er antwortete nicht. - -„Sie haben dich geschlagen!... Ah, diese wilden Tiere.... Du armer Mann! -Sie haben dich geschlagen! Dich, der du so gut bist, dich, der in seinem -ganzen Leben niemandem Böses getan hat.... Ah, das ist doch zu viel -Gemeinheit....“ - -Sie umarmte ihn schluchzend. - -„Du gute Frau“, sagte er sehr gerührt, „das ist doch nicht so wichtig. -Und dann, ich mache dich ja schmutzig, du darfst mich jetzt nicht -anrühren.“ - -„Das macht nichts“, sagte sie, „ich habe zu viel auf dem Herzen! -Verzeihe mir!“ - -„Was soll ich dir denn verzeihen, ... was redest du denn da?“ - -„Auch ich bin schlecht gegen dich gewesen. Ich habe dich nicht -verstanden ... (ich werde dich ja nie verstehen), aber ich weiß doch -gut, daß, was immer du tust, du nichts als das Rechte willst. Ich hätte -dich verteidigen sollen und habe es nicht getan, ich war dir böse über -deine Dummheit (und bin doch selbst die Dumme), ich war dir böse, daß du -uns mit allen andern auseinandergebracht hast.... Aber jetzt ... nein, -das ist wirklich zu gemein.... Menschen, die nicht würdig sind, deine -Schuhriemen zu lösen, ... und sie haben dich geschlagen! Laß mich doch -dein armes beschmutztes Gesicht küssen!“ - -Es war so gut, sich wiederzufinden, nachdem man sich so lange verloren -hatte. Sie weinte lange am Halse Clerambaults. Dann half sie ihm sich -umkleiden, wusch ihm die Wange mit Arnika und trug seine Kleider fort, -um sie ausbürsten zu lassen. Bei Tisch behütete sie ihn mit treuen, -unruhigen Augen und versuchte, ihn von seinen Sorgen abzulenken, indem -sie von altvertrauten Dingen sprach. Und wie sie so beide an diesem -Abend allein und ohne Kinder im Hause waren, kam die Erinnerung an lang -vergangene Jahre, an die erste Zeit ihrer Ehe zurück. Und dieses geheime -Wiedererinnern hatte eine melancholische und verklärte Milde, wie das -Vesperläuten über das Dunkel noch ein letztes warmes Leuchten des -verlorenen Mittagläutens hinklingen läßt. - -Gegen zehn Uhr abends ging noch einmal die Glocke. Es war Julian Moreau -mit seinem Freunde Gillot. Sie hatten die Abendblätter gelesen, die auf -ihre Art über den Vorfall berichteten. Die einen sprachen von einer -exemplarischen Züchtigung durch die öffentliche Verachtung und rühmten -die „spontane“ Entrüstung der Menge. Die anderen, die ernsten Blätter, -taten so, als ob sie prinzipiell eine Volksjustiz, die sich auf der -Straße Luft machte, für ungehörig erklärten, aber sie schoben die -Verantwortung dafür auf die Schwäche der Regierung, die solange zögerte, -Licht in die Affäre zu bringen. Es war gar nicht unwahrscheinlich, daß -dieser Tadel der Regierung von der Regierung selbst inspiriert war, denn -die geschickten Politiker lassen sich bei manchen Gelegenheiten zu -gewissen Dingen zwingen, die sie gern selbst tun möchten, aber auf die -sie nicht sehr stolz sind. Die Arretierung Clerambaults schien also -unmittelbar bevorzustehen. Moreau und sein Freund waren darüber -beunruhigt, aber Clerambault machte ihnen ein Zeichen, sie sollten in -Gegenwart seiner Frau schweigen und führte sie, nachdem er einige Zeit -über den Vorfall in heiterer Weise gescherzt hatte, in sein Zimmer. Dort -fragte er sie, was sie beunruhigte. Sie zeigten ihm einen haßerfüllten -Artikel jenes nationalen Blattes, das seit Wochen die Hetze gegen -Clerambault aufführte. Die Manifestation von heute hatte jene auf den -Geschmack gebracht, und sie forderten ihre Freunde auf, sie morgen zu -wiederholen. Moreau und Gillot befürchteten Gewalttätigkeiten, wenn sich -Clerambault in den Justizpalast begeben würde, und sie waren gekommen, -um ihn zu überreden, nicht auszugehen. Sie kannten seinen ein wenig -furchtsamen Charakter und glaubten, ihm nicht besonders zusprechen zu -müssen. Aber ebensowenig wie damals, als Moreau ihn mitten in einer -Ansammlung diskutierend getroffen hatte, schien Clerambault sie zu -verstehen. - -„Ich soll nicht ausgehen? Warum denn nicht, mir fehlt doch nichts?“ - -„Aber es wäre klüger!“ - -„Im Gegenteil, es wird mir gut tun.“ - -„Aber man weiß nicht, was Ihnen zustoßen kann.“ - -„Das weiß man niemals, dazu hat man noch Zeit, sobald es einmal -geschehen ist.“ - -„Also, um aufrichtig zu sprechen: es ist gefährlich. Man reizt schon -seit langem die Leute auf. Sie sind heute verhaßt und Ihr Name genügt, -ein paar von den Dummköpfen, die Sie nur durch ihre Zeitungen kennen, -bis zum Platzen zu ärgern. Und diese Antreiber suchen ja nur einen -Eklat. Gerade durch die Ungeschicklichkeit Ihrer Gegner haben Ihre Worte -mehr Echo gefunden, als Sie dachten. Nun fürchten sie, daß diese Ideen -sich Bahn brechen und wollen ein Exempel statuieren, um alle -abzuschrecken, die Ihrer Meinung sind.“ - -„Ja, aber“, sagte Clerambault, „wenn es wirklich solche gibt, die meiner -Meinung sind — ich war dessen bisher noch nicht gewiß — so darf ich -mich in einem solchen Augenblick doch nicht zurückziehen. Will man an -mir ein Exempel statuieren, so muß ich es über mich ergehen lassen.“ - -Er schien so guten Mutes, daß die beiden sich fragten, ob er sie -wirklich verstanden habe. „Ich wiederhole Ihnen“, sagte Gillot nochmals, -„daß Sie viel riskieren.“ - -„Mein Freund“, sagte Clerambault, „heute riskiert die ganze Welt sehr -viel.“ - -„Aber es muß doch wenigstens ein Nutzen bei so etwas sein; warum wollen -Sie ihnen eine Gefälligkeit erweisen und sich in den Rachen des Löwen -wagen?“ - -„Nun, ich glaube wiederum, daß das uns im Gegenteil sehr nützlich sein -kann“, sagte Clerambault, „und daß, was immer auch geschieht, der Löwe -das Nachsehen haben wird. Ich möchte auch das auseinandersetzen.... Sie -verbreiten ja nur unsere Ideen, denn die Gewalttätigkeit heiligt immer -die Sache, die sie verfolgt. Sie wollen Schrecken verbreiten, und sie -werden auch Schrecken verbreiten ... aber bei den Ihren ..., bei denen, -die noch zögern und verängstigt sind. Lassen wir sie nur ungerecht sein, -es geht auf ihre Kosten ...“ - -Er schien zu vergessen, daß es auch auf die Kosten der Seinen ging. - -Als sie aber sahen, daß er entschlossen war, wuchs mit ihrer Unruhe auch -ihr Respekt und sie erklärten: - -„In diesem Falle aber kommen wir mit unseren Freunden, um Sie zu -begleiten.“ - -„Nein, nein, was ist das für ein törichter Einfall! Ihr wollt mich doch -nicht lächerlich machen ... und schließlich, ich bin ja doch sicher, daß -nichts geschehen wird!“ - -Ihr Drängen blieb ohne jeden Erfolg. - -„Mich werden Sie jedenfalls nicht verhindern können, zu kommen“, sagte -Moreau, „ich habe einen ebenso harten Kopf wie Sie. Lieber will ich die -ganze Nacht auf der Bank gegenüber der Tür verbringen, als Sie zu -verfehlen und allein zu lassen.“ - -„Gehen Sie nur heim in Ihr Bett“, sagte Clerambault, „und schlafen Sie -ruhig. Wenn Sie unbedingt wollen, so kommen Sie eben morgen früh, aber -Sie werden Ihre Zeit verlieren. Es wird nichts geschehen. Auf jeden -Fall: umarmen wir uns.“ - -Sie umarmten ihn zärtlich. - -„Sehen Sie“, sagte Gillot schon an der Türschwelle, „man hat irgendwie -die Pflicht, Sie zu behüten, wir sind ein wenig Ihre Kinder.“ - -„Ja, das ist wahr“, sagte Clerambault mit einem guten Lächeln. - -Er dachte an seinen Sohn. Als er die Tür schloß, vergingen einige -Minuten, bis er bemerkte, daß er aufrechtstehend träumte, mit der Lampe -in der Hand unbeweglich im Vorzimmer stehend, in dem er sich eben von -seinen Freunden verabschiedet hatte. Es war fast Mitternacht, und -Clerambault war müde. Dennoch trat er, statt in das gemeinsame -Schlafgemach zu gehen, ganz unbewußt noch einmal in sein Zimmer zurück. -Das Zimmer, das Haus, die Straße waren eingeschlafen; er setzte sich hin -und fiel wieder in seine Starre zurück. Undeutlich, ohne es eigentlich -zu sehen, betrachtete er den Lichtreflex vor sich auf der Glasscheibe -einer Rembrandt-Radierung, der „Auferstehung des Lazarus“, die an einer -Seitenwand seiner Bibliothek aufgehangen war.... Er lächelte einem -teuren Antlitz zu, das lautlos eingetreten und nun bei ihm war. - -„Bist du nun zufrieden?“ dachte er, „das wolltest du doch?...“ - -Und Maxime sagte: „Ja.“ - -Und er fügte mit leisem Spott bei: - -„Es war nicht ganz ohne Mühe, bis ich dich so weit gebracht habe, Papa.“ - -„Ja“, sagte Clerambault, „wir haben viel von unseren Kindern zu lernen.“ - - § - -Clerambault legte sich zu Bett. Seine Frau war schon eingeschlafen. -Keine Sorge ließ sie jemals den Frieden jenes tiefen Schlummers -verlieren, in den manche Seelen wie in ein Grab hinabstürzen. Die Seele -Clerambaults hatte weniger Ungeduld, sich zu versenken. Auf dem Rücken -ausgestreckt, blieb er die ganze Nacht unbeweglich mit offenen Augen -liegen. - -Blasses Licht erhellte die Straße, zarte Halbdämmerung. Stille Sterne -standen am dunklen Himmel. Einer von ihnen glitt nieder und beschrieb -einen Kreis: es war ein Flugzeug, das über der schlafenden Stadt wachte. -Die Augen Clerambaults folgten seinem Flug und schwebten mit. Sein -waches Ohr hörte nun auch das ferne Sausen des menschlichen Planeten, -diese Sphärenmusik, die die Weisen Ioniens noch nicht geahnt hatten. - -Er war glücklich. Sein Körper und sein Geist schienen ihm gleichsam -beschwingt, seine Glieder ebenso wie seine Gedanken entspannt, und so -ließ er sich hinwegtragen und schwebte.... Die Bilder des fiebrigen und -ermattenden Tages zogen noch einmal im Fluge vorbei, doch sie hielten -ihn nicht mehr fest.... Ein alter Mann, von einer Bande junger Bürger -gestoßen ... zuviel Lärm, zuviel Bewegung!... Aber schon sind sie wieder -weit, so wie Gesichter, die man einen Augenblick an den Fenstern eines -vorüberfliegenden Zuges grinsen sieht. Aber der Zug ist vorüber, das -Bild stürzt in das Dunkel des donnernden Tunnels.... Aber auf dem -nächtlichen Himmel gleiten noch immer geheimnisvolle Sterne, und rings -um ihn sind die schweigenden Räume, die dunkle Durchsichtigkeit und -eisige Frische der Luft über der nackten Seele. Oh, Unendlichkeit in -einem Tropfen des Lebens, im Funken eines Herzens, das erlöschen will, -das sich aber freigemacht hat und weiß, wie bald es in seine große -Heimat wiederkehrt! - -Und wie der treue Verwalter eines ihm vertrauten Gutes machte -Clerambault noch einmal die Bilanz seines Tages. Er überflog alle seine -Versuche, seine Anstrengungen, seine Anläufe, seine Irrtümer. Wie wenig -blieb übrig von seinem Leben? Fast alles, was er aufgebaut, hatte er -nachher mit seinen eigenen Händen zerstört. Er hatte im gleichen Herzen -verneint, was er vordem bejaht hatte, und nie aufgehört, im Walde der -Zweifel und Widersprüche herumzuirren, müde, blutend, erschöpft und als -einzige Wegzeiger die Sterne, die manchmal zwischen dem Gezweige -auftauchten und wieder verschwanden. Was für ein Sinn war in diesem -langen, stürmischen Lauf, der in Nacht mündete? Ein einziger! Er war -frei gewesen. - -Frei ...! Was war denn dies, diese Freiheit, die ihn mit ihrer -herrischen Trunkenheit übermannte, die Freiheit, deren Herrn und Beute -er sich zugleich fühlte, d i e s e r Z w a n g , f r e i z u - s e i n ? Er gab sich keiner Täuschung hin, er wußte wohl, daß er -ebenso wie die anderen der ewigen Gebundenheit nicht entfliehen konnte, -aber seine Fron war eine andere (es ist nicht jedem die gleiche -bestimmt). Das Wort Freiheit drückt nur eines der hohen und klaren -Gesetze der unsichtbaren Herrin der Welt aus — der Notwendigkeit. Sie -ist es, die den Aufruhr der Vorkämpfer erweckt und sie in Feindschaft -stellt zur ewigen Vergangenheit, die die dunklen Massen mit sich -hinschleppt. Sie ist das Schlachtfeld der ewigen Gegenwart, wo ewig die -Vergangenheit mit der Zukunft kämpft, und in diesem Kampfe zerbrechen -unausgesetzt die alten Gesetze, um neuen Gesetzen Raum zu geben, die -dann ihrerseits vernichtet werden. - -O Freiheit! Immer trägst du Ketten, aber es sind nicht mehr die zu engen -der Vergangenheit. Jede deiner Bewegungen macht dein Gefängnis weiter. -Wer weiß? Wer weiß?... Vielleicht später einmal ... wenn man die Mauern -deines Gefängnisses zertrümmert.... - -Inzwischen aber bemühen sich alle, die du retten willst, -leidenschaftlich, dich zu verlieren. Du bist der Staatsfeind, „_L’Un -contre tous_“, „der Eine gegen Alle“. (So hatten sie den schwachen, den -unsicheren, den mittelmäßigen Clerambault genannt; aber nicht an sich -selbst denkt er jetzt, sondern an d e n, der immer war, seit Menschen -sind, an d e n, der nicht aufhört, ihre Torheit zu bekämpfen, um sie zu -befreien, d e r E i n e , g e g e n d e n s i e a l l e - s i n d.) Wie oft haben sie ihn im Laufe der Jahrhunderte zur Seite -gestoßen und niedergeschmettert! Aber im Schoße der Angst überkommt ihn -eine übernatürliche Freude und erfüllt ihn rauschend, denn er ist das -heilige Korn, das Goldkorn der Freiheit. Im dunkeln Schicksal der Welt -rollt seit dem Chaos — aus welcher Ähre mag es gefallen sein? — das -Samenkorn des Lichtes. Schutzlos, hat es sich im Grunde des wilden -Menschenherzens eingekapselt. Im Lauf der Jahrhunderte hat es dem -Ansturm der Urgesetze widerstanden, die das Leben zerknicken und -zerbrechen. Und das goldene Samenkorn wird größer und größer, -unaufhaltsam. - -Der Mensch, das waffenloseste Tier, hat sich gegen die Natur erhoben und -sie bekämpft. Jeder seiner Schritte war mit seinem Blut genetzt, und -nicht nur außerhalb seiner selbst, sondern in sich selbst, mußte er die -Natur verfolgen, da er ja selber ihr Teil ist. Und dies ist die -schwerste Schlacht, die der zerteilte Mensch gegen sich selbst führt. -Wer wird siegen? Einerseits die Natur auf ihren erzenen Wegen, die die -Völker und die Welt in den Abgrund reißt, auf der anderen Seite das -freie Wort. Verlacht es nur, ihr Sklaven!... „Lächerlich!“ sagen sie, -diese Anbeter der Gewalt: „Ein armseliger Köter, der hinter den Rädern -eines Schnellzuges herkläfft.“ Ja, so stünde es, wäre der Mensch nur ein -Stück Materie unter dem Prägehammer des Schicksals, das blutet und -vergeblich stöhnt. Aber jener Geist ist in ihm, der Achilles an der -Ferse und Goliath an seiner Stirn zu treffen weiß. Er braucht nur eine -Schraube auszureißen, und der reißende Zug entgleist und sein Lauf ist -zerbrochen.... Rollt hin durch die Jahrhunderte, ihr Planetenkreise, ihr -dunklen Menschenmassen, erhellt von den Blitzen des befreienden Geistes, -von Buddha, Jesus, den Weisen, den Zerbrechern der Ketten.... Der Blitz -naht, ich fühle ihn in meinem Gebein knistern, wie unter dem Hufschlag -des Pferdes der Funken im Stein; die Luft bebt, die große Windwelle -erhebt sich.... Der Schauer, der dem Geschehnis voranläuft.... Die dicke -Wolke des Hasses preßt sich zusammen, häuft und stößt sich.... O Feuer, -bald bist du aufgesprungen!... Ihr, die ihr allein gegen alle seid, -worüber klagt ihr? Ihr seid dem Joch, das euch niederdrückt, entronnen, -und so wie man im Alpdruck sich dem schwarzen Wasser eines Traumes -entringt, wieder kämpfend an die Oberfläche kommt, wieder hinabstürzt -und fast schon erstickt, um dann plötzlich in einem verzweifelten Ruck -aller Glieder sich aus dem Wasser zu reißen und — gerettet! — auf das -harte Gestein des Ufers hinstürzt.... Möge es mein Fleisch schmerzend -zerfetzen! Um so besser, ich erwache doch wieder in freier Luft. - -Nun bin ich, du drohende Welt, deiner Fesseln los, du kannst mich nicht -mehr anschmieden. Und ihr, die ihr mich und meinen verabscheuten Willen -bekämpft, wißt, daß dieser mein Wille in euch ist! Ihr wollt, wie ich, -frei sein, und ihr leidet daran, es nicht zu sein. Dies euer Leiden -macht euch zu meinen Feinden. Aber selbst wenn ihr mich tötet, dann ist -es nicht mehr an euch, zu sagen, ihr hättet das Licht, das in mir war, -nicht gesehen, oder, falls ihr es gesehen habt, es zurückzuweisen! -Schlagt also zu! Indem ihr mich bekämpft, bekämpft ihr euch selbst. Von -vornherein seid ihr die Besiegten. Und ich, indem ich mich verteidige, -verteidige euch alle. Der „Eine gegen Alle“ ist der „Eine für Alle“, und -er wird bald der „Eine mit Allen“ sein. - -Nein, ich werde nicht allein bleiben, ich bin es nie gewesen. Gruß euch, -ihr Weltbrüder! So weit ihr auch sein möget, über die Welt hingestreut -wie der Samen aus einer Hand, so seid ihr doch alle hier an meiner -Seite: ich weiß es. Denn niemals ist der Gedanke eines einsamen Menschen -so wie er selbst allein. Jede Idee, die in einem Menschen ersteht, keimt -schon in anderen Menschen, und immer, wenn irgendein Unglücklicher, -verkannt, geschmäht, sie in seinem Herzen erwachen fühlt, möge er -freudig sein. Denn es ist die ganze Erde, die erwacht.... Der erste -Funke, der in einer einsamen Seele erglänzt, ist schon die Spitze jenes -Strahls, der die Nacht durchleuchten wird. So komme, Licht, verbrenne -die Nacht, die mich umgibt und die mich erfüllt....! - - § - -Und es kam. Das klare Licht des Tages war so jung und hell wie nur je. -Der Schmutz der Menschen kann es nicht beflecken, die Sonne trinkt ihn -auf wie einen Nebel. - -Frau Clerambault erwachte und sah ihren Mann mit offenen Augen. Sie -meinte, auch er sei eben erwacht, und sagte: - -„Du hast gut geschlafen. Du hast dich nicht ein einzigesmal in der Nacht -gerührt.“ - -Er widersprach nicht, lächelte aber bei dem Gedanken an die lange Fahrt, -die er gemacht hatte. Der Geist, der unruhige Vogel, der durch die Nacht -hinstreift, nun faßte er wieder Fuß. Clerambault stand vom Bette auf. - -Zur gleichen Stunde stand ein anderer auf, der ebensowenig wie er in -dieser Nacht geschlafen hatte, und der ebenso das Bildnis seines toten -Sohnes sich vor den Blick gerufen und der an ihn — an ihn, Clerambault, -den er nicht kannte — mit der ganzen Starrheit des Hasses dachte. - -Die erste Post brachte einen Brief von Rosine. Sie vertraute ihrem Vater -das Geheimnis an, das er seit langem ahnte. Daniel hatte ihr einen -Heiratsantrag gemacht, und sie würden sich bei seiner nächsten Heimkehr -von der Front vermählen. Der Form halber erbat sie sich die Zustimmung -der Eltern, sie wußte wohl, daß ihr Wille auch der ihrige war. Der Brief -strahlte von einem Glück, das sich seine jubelnde Gewißheit durch nichts -zerstören ließ. Das traurige Rätsel der zerrissenen Welt hatte nun -plötzlich einen Sinn bekommen, ihre junge, alles auftrinkende Seele -empfand das Leiden einer Welt als nicht zu hohen Preis für die Blüte, -die sie von diesem blutigen Rosenstrauch pflücken durfte.... Immerhin -verriet sich auch ihr mitfühlendes Herz. Sie vergaß nicht die anderen -und ihre Qual, den Vater und seine Sorgen. Aber sie rührte sie mit -seligen Armen an, und es war, als wollte sie mit einer naiven und -zärtlichen Übermütigkeit sagen: - -„Ihr guten Freunde, quält euch doch nicht immer mit euren Gedanken. Ihr -seid wirklich unklug, man soll nicht traurig sein. Ihr seht, das Glück -kommt schließlich doch.“ - -Clerambault lächelte gerührt, während er den Brief las. - -„Ja, ja, ganz gewiß, das Glück kommt, nur hat nicht die ganze Welt Zeit, -darauf zu warten.... Grüße es von mir, kleine Rosine, und lasse es nicht -mehr von dir.“ - - § - -Gegen elf Uhr kam der Graf Coulanges, sich nach ihm zu erkundigen. Er -hatte Moreau und Gillot unten gefunden, sie bewachten die Tür. Getreu -ihrem Versprechen, wollten sie Clerambault begleiten, aber sie waren -eine Stunde früher gekommen, als es eigentlich notwendig war, und wagten -nicht hinaufzugehen. Clerambault ließ sie heraufrufen und verspottete -sie wegen ihres übermäßigen Eifers. Sie gaben zu, daß sie aus Mißtrauen -gegen ihn gefürchtet hatten, er würde, ohne auf sie zu warten, aus dem -Hause entwischen, und Clerambault mußte zugeben, eine ähnliche Absicht -gehabt zu haben. - -Die letzten Nachrichten von der Front waren gut. Seit kurzer Zeit schien -die deutsche Offensive ins Stocken geraten. Seltsame Zeichen der -Ermattung wurden sichtbar und Gerüchte, die nicht unbegründet schienen, -deuteten auf einen geheimen Desorganisationsprozeß in dieser gewaltigen -Masse. Sie hatte, sagte man, die Grenzen ihrer Kraft erreicht und -überschritten: der Riese wurde matt. Man sprach von einer Ansteckung -durch den revolutionären Geist, den die deutschen Truppen von der -Ostfront aus Rußland zurückgebracht hatten. - -Mit der Beweglichkeit, die für den französischen Geist so -charakteristisch ist, verkündeten mit einem Male die Pessimisten von -gestern den nahen Sieg. Moreau und Gillot sahen in kurzer Zeit ein -Abflauen der Leidenschaft, die Rückkehr zur Vernunft, die Versöhnung der -Völker und den Triumph der Ideen Clerambaults voraus. Clerambault warnte -sie, sich allzufrüh den Illusionen hinzugeben, und es bereitete ihm -Spaß, ihnen zu beschreiben, was geschehen würde, sobald der Frieden -unterschrieben sei (denn das mußte doch, wann immer auch, einmal -geschehen). - -„Mir ist“, sagte er, „als könnte ich, wie der hinkende Teufel nachts -über die Stadt schwebend, den ersten Abend nach dem Waffenstillstand -sehen. Und ich sehe in den Häusern, deren Vorhänge vor dem Jubelschrei -der Straße herabgelassen sind, unendlich viel Herzen in Trauer, Herzen, -die sich krampfhaft während all dieser Jahre mit dem Gedanken eines -Sieges aufrechtgehalten haben, der ihrem Unglück einen Sinn oder den -falschen Schein eines Sinnes gibt. Nun können sie endlich sich -entspannen oder zerbrechen, schlafen oder endlich sterben. Die Politiker -denken natürlich daran, wie sie auf das schnellste und ausgiebigste die -gewonnene Partie ausnützen können oder, wenn sie sich verrechnet haben, -an einen neuen Aufschwung auf dem Trapez. Die Fachleute des Krieges -werden trachten, den Spaß solange als möglich fortdauern oder, wenn -ihnen dies nicht gelingt, den Tanz so bald als möglich wieder beginnen -zu lassen. Die Vorkriegspazifisten werden eilig aus ihren Winkeln und -Löchern hervorkriechen und sich in rührenden Demonstrationen ergehen. -Die alten Bonzen, die durch fünf Jahre die Trommel zum Vormarsch -rührten, werden, Palmenzweige in den Händen, lächelnd und das Herz auf -den Lippen, auftauchen und von Liebe reden. Und die Kämpfer selbst, die -im Schützengraben geschworen haben, niemals zu vergessen, auch sie -werden sich bereitwillig mit allen Erklärungen, Glückwünschen und -Händedrücken, die man ihnen verabreicht, abfinden. Es ist ja auch zu -viel verlangt, nicht zu vergessen. Fünf Jahre aufreibender Strapazen -bereiten den Menschen gut zur Nachgiebigkeit vor, durch die Erschöpfung, -durch das ewige Einerlei, durch den Wunsch nach einem Ende. Die -rauschenden Klänge des Sieges werden die Schmerzensrufe der Besiegten -ersticken. Und die meisten Menschen werden an nichts anderes denken, als -wieder die alten, schläfrigen Gewohnheiten von vor dem Krieg -aufzunehmen. Zuerst wird man auf den Gräbern tanzen, dann wird man -wieder schlafen. Vom Krieg bleibt nichts als eine Prahlerei am -Biertisch. Und wer weiß, vielleicht wird ihnen dies Sichnichterinnern so -gut glücken, daß sie bald wieder dem Tanzmeister, dem Sensenmann, helfen -werden, aufs neue anzufangen. Selbstverständlich nicht sofort, aber -etwas später, wenn man gut ausgeschlafen hat.... So wird überall der -Friede sein — solange, bis überall der neue Krieg da ist, denn Krieg -und Friede, meine Freunde, sind im letzten Sinne, wie sie meist -verstanden werden, nur zwei verschiedene Etiketten für dieselbe Flasche. -Es ist ganz so, wie der König Bomba von seinen tapferen Soldaten sagt: -„Zieht sie rot oder zieht sie grün an, sie werden doch Fersengeld -geben.“ Ihr könnt es Frieden oder Krieg nennen, aber es gibt weder -Frieden noch Krieg, es gibt nur die allgemeine Knechtschaft, die -Bewegung der wie in Ebbe und Flut hingerissenen Massen und es wird -solange so bleiben, bis sich starke Seelen über den menschlichen Ozean -erheben und den scheinbar sinnlosen Kampf gegen das Schicksal beginnen, -das diese schweren Massen in Bewegung setzt.“ - -„Gegen die Natur kämpfen?“ fragte Coulanges. „Denken Sie daran, ihre -Gesetze vergewaltigen zu wollen?“ - -„Es gibt“, antwortete Clerambault, „kein einziges unabänderliches -Gesetz. Gesetze leben, verwandeln sich und sterben wie alle irdischen -Wesen, und es ist Pflicht des Geistes, nicht, wie die Stoiker es wollen, -sie einfach hinzunehmen, sondern sie zu verändern, sie auf unser Maß -zuzuschneiden. Die Gesetze sind die Form der Seele. Entfaltet sich die -Seele, so müssen sie mit ihr wachsen. Ein gerechtes Gesetz ist nur -jenes, das auf mich paßt.... Bin ich im Unrecht, wenn ich fordere, daß -der Schuh sich dem Fuße anpasse und nicht der Fuß dem Schuh?“ - -„Ich sage nicht, daß Sie im Unrecht sind“, erwiderte der Graf. „Den -Versuch, die Natur zu vergewaltigen, machen wir ja auch in der Züchtung. -Wir verändern nicht nur die Form, sondern auch den Instinkt der Tiere, -warum sollte das nicht auch beim Menschen gelingen.... Nein, ich -widerspreche Ihnen nicht, im Gegenteil, ich bin der Meinung, daß es das -Ziel und die Pflicht jedes Menschen, der dieses Namens würdig ist, sein -muß, so, wie Sie sagen, die menschliche Natur gewaltsam weiter -fortzubringen. Das ist die Quelle des wahren Fortschrittes, und es ist -ein wirklicher Wert darin, auch wenn man das Unmögliche will. Freilich, -das soll nicht sagen, daß wir mit dem, was wir versuchen, auch Erfolg -haben werden.“ - -„Nein, wir werden keinen Erfolg haben, weder für uns noch für die -Unseren. Es ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich, daß unsere -unglückliche Nation, vielleicht unser ganzes Abendland, sich auf einem -absteigenden Ast befindet, und ich fürchte, daß der Absturz bald -erfolgen wird, infolge ihrer Laster und Tugenden, von denen diese wie -jene mörderisch sind durch ihren Stolz und ihren Haß, ihre -provinzlerische Eifersucht, durch die endlose Schraube der Revanchen, -durch beharrliche Verblendung, durch die erdrückende Treue zur -Vergangenheit und jene verjährte Auffassung von Ehre und Pflicht, die -sie die Zukunft für Gräber hinopfern läßt. Ich fürchte nur allzusehr, -daß auch die letzte Mahnung dieses Krieges ihren lärmenden und zugleich -trägen Heroismus in nichts belehrt hat.... In früheren Zeiten hätte -dieser Gedanke mich niedergedrückt. Jetzt aber fühle ich mich wie von -meinem eigenen Leib von allem Todgeweihten losgelöst, ich bin ihm nicht -mehr anders als durch das Mitleid verbunden. Aber dafür ist mein Geist -brüderlich mit allem, das — auf welchem Punkte der Erde auch immer — -das neue Licht empfängt. Kennt ihr die schönen Worte des Sehers von -Saint-Jean d’Acre: ‚Die Sonne der Wahrheit ist wie das Himmelsgestirn, -mit vielen Orten des Aufstieges. An einem Tage erhebt es sich im Zeichen -des Krebses, ein andermal im Zeichen der Waage, aber die Sonne ist eine -und eine einzige Sonne. Einmal ging der Strahl der Sonne der Wahrheit -vom Wendekreis Abrahams auf und ging unter im Zeichen Moses und -entflammte den Horizont. Dann erhob sie sich wieder im Zeichen Christi, -glühend und Glanz verbreitend. Diejenigen, die Abraham dienten, wurden -blind am Tage, da das Licht über dem Sinai glänzte. Aber meine Augen -werden stets — von welchem Punkt immer sie sich erhebt — der -aufgehenden Sonne entgegengerichtet sein. Und ginge die Sonne im Westen -auf, es wäre doch die Sonne.‘“ - -„Und heute kommt uns von Norden das Licht“, sagte lächelnd Moreau. - - § - -Obwohl die Vorladung auf ein Uhr lautete und es kaum Mittag war, hatte -es Clerambault doch eilig, fortzugehen. Er fürchtete, zu spät zu kommen. - -Er hatte nicht weit zu gehen. Seine Freunde hätten ihn nicht gegen die -übrigens sehr spärliche Rotte zu verteidigen brauchen, die ihn beim -Eingang des Justizpalastes erwartete, denn die Nachrichten des heutigen -Tages lenkten von den gestrigen ab. Höchstens hätten einige feige Köter, -die sich mehr lärmend als beunruhigend gebärdeten, versucht, ihm von -rückwärts die Zähne zu zeigen. - -Sie waren an die Ecke der Rue Vaugirard und Rue d’Assas gekommen, als -Clerambault bemerkte, daß er etwas vergessen hatte, und seine Freunde -für einen Augenblick stehen ließ, um noch einmal hinaufzugehen und -einige Papiere aus seiner Wohnung zu holen. Sie blieben unten, um auf -ihn zu warten, und sahen, wie er den Fahrweg überquerte. Auf dem -Trottoir gegenüber, bei einem Wagenplatz, trat ihn ein Mann seines -Alters an, ein nicht sehr großer und ein wenig schwerfälliger Mann aus -dem Bürgerstand. Alles geschah so schnell, daß sie nicht einmal Zeit -hatten, einen Schrei auszustoßen: ein Wortwechsel, ein ausgestreckter -Arm, ein Knall. Sie sahen Clerambault wanken und liefen hin. Aber es war -schon zu spät. - -Sie streckten ihn auf eine Bank hin, die Menge — mehr neugierig als -erregt — (ach, man hatte so viel solcher Dinge gesehen und gelesen) -drängte sich herzu und gaffte. - -„Was ist denn?“ - -„Ein Flaumacher.“ - -„So, dann ist es schon gut! Die Schurken haben uns genug geschadet.“ - -„Nun, es gibt schon ein größeres Verbrechen, als zu wünschen, daß dieser -Krieg einmal zu Ende ist.“ - -„Es gibt nur eine Möglichkeit, daß er zu einem Ende kommt, und die ist, -ihn bis an das Ende zu führen. Nur die Pazifisten verlängern den Krieg.“ - -„Sie sind sogar schuld daran! Ohne sie wäre nie einer gekommen, der -Boche hat mit ihnen gerechnet.“ - -Und Clerambault dachte im Halbbewußtsein an die alte Frau, die ihr Stück -Holz zum Scheiterhaufen des Johann Huß hinschleppte .... _Sancta -Simplicitas_! - -Vaucoux hatte nicht die Flucht ergriffen und sich widerstandslos den -Revolver aus der Hand nehmen lassen. Man hielt ihn fest bei den Armen. -Er blieb unbeweglich und sah nur sein Opfer an, das wiederum ihn -betrachtete. Beide dachten an ihre Söhne. - -Moreau bedrohte Vaucoux. Aber unerschütterlich und starr in seinem -Haßglauben sagte Vaucoux: - -„Ich habe den Feind getötet!“ - -Gillot, der sich über Clerambault neigte, sah, wie er schwach lächelnd -Vaucoux betrachtete. - -„Mein armer Freund“, dachte er, „in dir selbst ist der Feind.“ - -Er schloß wieder die Augen .... Jahrhunderte gingen vorbei.... - -„Es gibt keine Feinde mehr!“ - -Und Clerambault empfand selig den Frieden kommender Welten. - - § - -Da ihn das Bewußtsein schon verlassen hatte, trugen ihn die Freunde in -das nahe gelegene Haus Froments. Aber ehe sie es betreten hatten, war er -verschieden. - -Sie legten ihn auf ein Bett in einem Zimmer neben jenem, in dem der -junge Gelähmte, umgeben von seinen Freunden, ruhte. Die Tür stand offen -und der Schatten des toten Freundes schien bei ihnen zu weilen. - -Moreau ereiferte sich bitter über den Widersinn dieses Mordes, der, -statt einen der großen Verbrecher der triumphierenden Reaktion oder -einen der bekannten Anführer der revolutionären Minderheiten zu treffen, -sich gerade gegen einen ungefährlichen, unabhängigen, allen brüderlich -gesinnten und fast zu nachsichtigen Menschen gewendet hatte. - -Aber Edme Froment sagte: - -„Der Haß täuscht sich nicht. Ihn leitet ein sicherer Instinkt... Nein, -er hat sich sein Ziel gut gesucht. Oft sieht der Feind viel klarer als -der Freund. Versuchen wir nicht, uns einer Illusion hinzugeben: der -gefährlichste Feind der Gesellschaft und der bestehenden Ordnung ist und -war in dieser Welt der Gewalttätigkeit, der Lüge und der anderen -Kompromisse von je und immer her der Mann des vollkommenen Friedens und -des freien Gewissens. Nicht durch Zufall ist Jesus gekreuzigt worden, es -mußte so sein, und er wäre später auch immer wieder zum Schafott -geschleppt worden. Der Mann des Evangeliums ist der radikalste -Revolutionär von allen, denn er ist die unerreichbare Quelle, aus der -durch den Spalt der harten Erde die Revolutionen aufspringen. Er ist das -ewige Prinzip der Nichtunterwerfung des Geistes unter den Cäsar, wer -immer es auch sei, der ewige Auflehner gegen die ungerechte Gewalt. So -erklärt sich der Haß der Staatsknechte und der hörig gemachten Völker -gegen den gemarterten Christ, der auf sie niederschaut und schweigt, und -gegen seine Schüler, gegen uns, die ewigen Dienstverweigerer, die -„_conscientious objectors_“ wider alle Tyranneien, mögen sie nun von -oben kommen oder von unten, mögen sie jene von morgen oder jene von -heute sein — gegen uns, die Verkünder dessen, der größer ist als wir, -der der Welt das Wort des Heiles bringt, dessen, den sie ins Grab -gelegt, des Meisters, den sie zu Tode martern werden bis ans Ende der -Welt, und der doch immer wieder auferstehen wird — der freie Geist, -unser Herr und Gott!“ - - S i e r r e 1916 — P a r i s 1920 - - - - - Anmerkungen zur Transkription - -Offensichtliche Druck- und Rechtschreibfehler wurden korrigiert. Bei -Varianten der Schreibweise wurde die häufigste verwendet. - -Die Zeichensetzung wurde nur bei eindeutigen Druckfehlern geändert. Für -dieses eBook wurde ein Cover erstellt, das nun gemeinfrei ist. - -[Das Ende von _Clerambault_, von Romain Rolland.] - -*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK CLERAMBAULT *** - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the -United States without permission and without paying copyright -royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part -of this license, apply to copying and distributing Project -Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm -concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, -and may not be used if you charge for an eBook, except by following -the terms of the trademark license, including paying royalties for use -of the Project Gutenberg trademark. 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms -of the Project Gutenberg License included with this eBook or online -at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. 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M.</span></p> -</div> <!-- end rend --> - -<hr class='pbk'/> - -<div class='lgc' style='margin-top:2em;margin-bottom:8em;'> <!-- rend=';' --> -<p class='line'>Berechtigte Übertragung aus dem</p> -<p class='line'>Französischen von <span class='gesp'>Stefan Zweig</span></p> -<p class='line'> </p> -<p class='line'> </p> -<p class='line'>Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig</p> -</div> <!-- end rend --> - -<hr class='pbk'/> - -<h2><span style='font-size:larger'><span class='gesp'>An den Leser</span></span></h2> - -<p><span class='dropcap'>D</span>ieses Werk ist kein Roman, sondern das Bekenntnis -einer freien Seele inmitten der Qual, die Geschichte -ihrer Irrungen, Ängste und Kämpfe. Man möge keine -Selbstschilderung darin erblicken — werde ich eines Tages -über mich selbst schreiben wollen, so wird es ohne Decknamen -und Maske geschehen. Einige meiner Anschauungen habe ich -allerdings in meinem Helden zum Ausdruck gebracht, doch -sein Wesen, sein Charakter und seine Lebensumstände gehören -ihm ganz allein zu. Ich wollte in diesem Werke das -innere Labyrinth schildern, das eine schwache, unentschiedene, -erregbare und verführbare, aber doch aufrichtige und in -ihrem Wahrheitswillen leidenschaftliche Natur langsam vorwärtstastend -durchirrt.</p> - -<p>In einigen Kapiteln deutet das Werk auf die Art der „Meditationen“ -unserer altfranzösischen Moralisten, der stoischen -Essays zu Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts zurück. -In jenen Zeiten, die den unsern glichen, ja sie sogar an tragischem -Grauen noch übertrafen, schrieb inmitten der Kämpfe -der Liga der erste Präsident Guillaume du Vair mit unerschütterlicher -Seele seine erhabenen Dialoge „Über die -Standhaftigkeit und die Tröstung im allgemeinen Mißgeschick“. -Während die Belagerung von Paris ihren Höhepunkt -erreicht hatte, hielt er in seinem Garten Zwiesprache -mit seinen Freunden Linus, dem Weitgereisten, mit Musée, -dem ersten Rektor der medizinischen Fakultät, und dem -Schriftsteller Orphée. Und den Blick noch erfüllt von den -tragischen Bildern, die sie auf der Gasse gesehen — arme -Menschen, die vor Hunger gestorben waren, Frauen, die -schrien: die Landsknechte verzehrten im Temple ihre Kinder -— versuchten sie ihren bedrückten Geist zu jenen Höhen zu -erheben, von denen man die geistige Welt der Jahrhunderte -umfängt und das Überdauernde jeder Prüfung sieht. Als -ich in den Kriegsjahren jene Dialoge überlas, fühlte ich mich -mehr als einmal diesem guten Franzosen nahe, der schrieb: -„Es heißt ein Unrecht an dem Menschen begehen, der geschaffen -ist, alles zu sehen und alles zu erkennen, wenn man -ihn an eine einzelne Stelle der Erde bindet. Jedes Stück -Erde ist Land für den Vernünftigen... Gott hat uns die -Erde gegeben, daß wir sie alle in Gemeinschaft genießen, -freilich mit der Pflicht, anständige Menschen zu bleiben...“</p> - -<p class='line' style='text-align:right;margin-right:0em;margin-top:1em;'>R. R.</p> -<p class='line' style='text-align:left;margin-left:1em;'><span class='gesp'>Paris</span>, Mai 1920</p> - -<hr class='pbk'/> - -<h2><span style='font-size:larger'><span class='gesp'>Einleitung</span></span><a id='rA'/><a href='#fA' style='text-decoration:none'><sup><span style='font-size:0.9em'>[A]</span></sup></a></h2> - -<p><span class='dropcap'>G</span>egenstand dieses Buches ist nicht der Krieg, obzwar der -Krieg es überschattet. Sein wirkliches Thema ist das -Versinken der Einzelseele im Abgrund der Massenseele. -Und dies ist für mein Empfinden ein für die Zukunft der -Menschheit viel entscheidenderes Phänomen als die vorübergehende -Oberherrschaft einer oder der anderen Nation.</p> - -<p>Mit Absicht habe ich alle politischen Fragen in den Hintergrund -gestellt: ihnen steht gesonderte Betrachtung zu. Aber -wie immer auch man den Ursprung des Krieges begründe, -mit welchen Thesen und Gründen man ihn erklären möge — -keine irdische Rechtfertigung entschuldigt das Kapitulieren -der Vernunft vor der öffentlichen Meinung.</p> - -<p>Die allgemeine Entwicklung zur Demokratie, die von einem -abgestorbenen Begriff, dem ungeheuerlichen der Staatsräson, -gedeckt ist, hat die Geistigen Europas verleitet, sich zu -dem Glaubensartikel zu bekennen, es gäbe für den Menschen -kein höheres Ideal, als Diener der Gemeinschaft zu sein. -Und diese Gemeinschaft nennt man: Staat.</p> - -<p>Ich aber scheue mich nicht zu sagen: wer sich zum blinden Diener -einer so blinden — oder verblendeten — Gemeinschaft erniedrigt, -wie es die Staaten von heute sind, in denen eine -Handvoll Menschen in ihrer Unfähigkeit, die Vielfalt der -Völker zu begreifen, durch die Lügen der Presse, den unerbittlichen -Mechanismus des vereinheitlichten Staatswesens -den Mitmenschen ihre eigenen Narrheiten, Leidenschaftlichkeiten -und Geschäfte als ihre Gedanken und Taten aufzwingt -— wer dies tut, der dient nicht in Wahrheit der Gemeinschaft, -sondern er knechtet und erniedrigt sie mit sich -selbst. Wer den anderen von Nutzen sein will, muß vorerst -frei sein. Auch Liebe ist wertlos, solange sie die eines Sklaven -ist.</p> - -<p>Freie Seelen, starke Charaktere — das tut heute der Welt -am meisten not! Auf den verschiedensten Wegen — leichenhafte -Unterwerfung durch die Kirchen, dumpfe Unduldsamkeit -der Vaterländer, abstumpfender Unitarismus im Sozialismus -— kehren wir zur Form des Herdenlebens zurück. Nur -langsam hat sich der Mensch dem heißen Lehm der Erde entrungen. -Nun scheint es, als ob seine tausendjährige Anstrengung -erschöpft sei, und er läßt sich wieder in das Weiche -zurücksinken. Die Massenseele schluckt ihn auf, der entnervende -Atem der Tiefe reißt ihn mit sich... Auf darum! -Rafft euch zusammen, ihr, die ihr glaubt, daß der Kreislauf -noch nicht erfüllt sei! Wagt es, euch von der Herde -abzusondern, die euch fortzieht! Jeder Mensch muß, so er -ein wahrer Mensch ist, lernen, allein innerhalb aller zu -stehen, allein für alle zu denken — wenn es nottut, -sogar auch gegen alle! Aufrichtig denken heißt für alle -denken, selbst wenn man gegen alle denkt. Die Menschheit -bedarf derer, die ihr aus Liebe Schach bieten und sich gegen -sie auflehnen, wenn es not tut! Nicht indem ihr der Menschheit -zuliebe euer Gewissen und eure Gedanken fälscht, dient -ihr der Menschheit, sondern indem ihr ihre Unantastbarkeit -gegen gesellschaftlichen Machtmißbrauch verteidigt; denn -sie sind Organe der Menschheit. Werdet ihr euch untreu, -so seid ihr untreu gegen sie.</p> - -<p class='line' style='text-align:left;margin-left:1em;margin-top:1em;'><span class='gesp'>Sierre</span>, März 1917</p> -<p class='line' style='text-align:right;margin-right:0em;'>R. R.</p> - -<hr class='footnotemark'/> - -<div class='footnote'> -<p class='footnote'> -<span class='footnote-id' id='fA'><a href='#rA'>[A]</a></span> - -Diese Einleitung wurde im Dezember 1917 mit einer Episode des -Romans in Schweizer Zeitungen veröffentlicht. Eine beigegebene Notiz -erklärte den ursprünglichen Titel des Romans „<span class='it'>L’Un contre Tous</span>“:</p> - -<p>„... Dieser Titel, der sich, nicht ohne Ironie, an jenen La -Boëties „<span class='it'>Le Contre-Un</span>“ durch Umkehrung anschließt, möge nicht -zur Ansicht verleiten, der Autor habe die Anmaßung, <span class='gesp'>einen</span> Menschen -der ganzen Menschheit entgegenzustellen. Er ruft nur zu dem heute -so notwendigen Kampf des persönlichen Gewissens gegen die Masse -auf.“</p> - -</div> - -<hr class='footnotemark'/> - -<hr class='pbk'/> - -<div><h1>Erster Teil</h1></div> - -<hr class='pbk'/> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>A</span>génor Clerambault saß im Schatten der Laube seines -Gartens von Saint-Prix und las seiner Frau und den -Kindern seine neue Ode vor, die Ode <span class='it'>Ara Pacis Augustae</span>, -die er zu Ehren des Friedens über den Menschen und Dingen -geschrieben hatte und in der er die nahe Erfüllung der -Weltbrüderlichkeit verkünden wollte.</p> - -<p>Es war ein Juliabend. Auf den Gipfeln der Bäume lag -letzter rötlicher Schein, und durch den leuchtenden Dunst, -der wie ein Schleier über die Hügelhänge, die grauen Ebenen -und die Ferne geworfen war, flammten die Fensterscheiben -von Montmartre als goldene Funken. Die Abendmahlzeit -war eben zu Ende. Clerambault, auf den noch -nicht abgeräumten Tisch gestützt, ließ im Sprechen seinen -Blick voll naiver Freude von einem zum anderen seiner drei -Zuhörer hinwandern, denn er war sicher, bei ihnen einen -Widerglanz seiner Zufriedenheit zu finden.</p> - -<p>Seine Frau Pauline hatte einige Mühe, dem Flug seiner -dichterischen Bilder zu folgen: Vorlesen ließ sie immer unaufhaltsam -vom dritten Satze an in einen Zustand von -träumerischer Schläfrigkeit versinken, in dem die häuslichen -Sorgen einen ganz ungebührlichen Platz einnahmen. Gewissermaßen -lockte die Stimme des Vorlesenden die Häuslichkeiten -hervor, sich zu regen, wie Kanarienvögel im Käfig. -Vergeblich mühte sie sich, auf den Lippen Clerambaults den -Worten zu folgen, deren Sinn sie nicht mehr wahrnahm, -und sie sogar mit den eigenen Lippen nachzusprechen. Es -half nichts: ihre Augen bemerkten doch unbewußt ein Loch -im Tischtuch, ihre Hände krümelten die Brotreste auf dem -Tisch zusammen, ihr Nachdenken beschäftigte sich mit irgendeiner -widerspenstigen Rechnung, bis dann plötzlich der Blick -Clerambaults sie zu ertappen schien. Dann klammerte sie -sich hastig an die letzte, gerade gehörte Silbe und redete sich -in eine Begeisterung hinein, indem sie irgendein Stück Vers -nachstammelte (niemals hatte sie auch nur einen Vers ganz -richtig zitieren können):</p> - -<p>„Wie hast du das gesagt, Agénor? Geh, wiederhole noch -einmal diesen Satz... Ach, wie das hübsch ist.“</p> - -<p>Ihre Tochter, die kleine Rosine, schob die Augenbrauen zusammen, -Maxime, der große Bursche, zog eine spöttische -Grimasse und sagte gereizt:</p> - -<p>„Mama, unterbrich doch nicht immer.“</p> - -<p>Aber Clerambault lächelte und tätschelte zärtlich die Hand -seiner guten Frau. Er hatte sie aus Liebe geheiratet, als -er sehr jung, arm und unbekannt war, sie hatten gemeinsam -all die bitteren ersten Jahre durchgelebt. Sie stand -nicht ganz auf seinem geistigen Niveau, und dieser Unterschied -milderte sich mit den Jahren durchaus nicht, aber -Clerambault liebte und respektierte seine alte Gefährtin. -Sie gab sich mit wenig Erfolg viele Mühe, mit ihrem -großen Mann, der ihr Stolz war, gleichen Schritt zu halten; -er wiederum hatte für sie eine besondere Nachsicht. Der -kritische Geist war nicht seine Stärke, und er befand sich gerade -dadurch, trotz zahlreicher Irrtümer in seinen Ansichten, -im Leben sehr wohl; denn da er sich immer zugunsten der -andern irrte, die er im schönsten Licht sah, wußten ihm seine -Mitmenschen, allerdings mit einiger Ironie, reichen Dank -dafür. Er störte sie nicht in ihrer wilden Jagd nach Erfolg, -und seine provinzlerische Reinheit war für die Blasierten -ein so erfrischendes Schauspiel wie der Anblick eines Stückes -Grün inmitten eines Pariser Häusergeviertes.</p> - -<p>Maxime machte sich ein wenig über diese Schwäche seines -Vaters lustig, ohne deshalb seinen Wert zu verkennen. Dieser -hübsche Bursche von neunzehn Jahren hatte mit seinen -hellen und lachenden Augen im Pariser Milieu rasch die Fähigkeit -der geschwinden, klaren und spöttischen Beobachtung angenommen, -die sich mehr auf die äußeren Nuancen der -Dinge und Menschen richtet, als auf die Ideen: ihm entging -nirgendwo das Komische, selbst nicht bei jenen, die er -liebte. Aber das geschah ganz ohne Böswilligkeit, und -Clerambault war der erste, seiner jungen Frechheit zuzulächeln. -In Wirklichkeit verminderte sie in nichts die Verehrung -Maximes für seinen Vater, sie war nur gewissermaßen -ihre Würze: die jungen Burschen müssen ja auch, -um den lieben Gott gern haben zu können, ihn manchmal -am Bart ziehen dürfen!</p> - -<p>Rosine blieb still, wie es ihre Art war, und es wäre schwer -gewesen, ihre Gedanken zu erraten. Sie hörte mit vorgeneigtem -Körper, gekreuzten Händen und aufgestützten Armen -zu. Es gibt Naturen, die zum Empfangen geschaffen -scheinen wie die schweigende Erde, die sich jedem Korn eröffnet: -viele, die sich darin versenken, bleiben schlafend, und -man vermag nicht zu unterscheiden, welche Frucht tragen -werden. So war die Seele dieses jungen Mädchens. Die -Worte des Vorlesenden spiegelten sich nicht so sichtlich in ihr, -wie in den klugen und beweglichen Gesichtszügen Maximes, -aber ein leichtes Rot auf ihren Wangen und der feuchte -Glanz der von den Wimpern überschatteten Augen bezeugten -eine innere Glut und Verwirrung wie auf jenen Bildern -der florentinischen Jungfrauen, die das magische Ave des -Erzengels erweckt.</p> - -<p>Clerambault verkannte sie nicht. Wenn sein Blick den kleinen -Kreis der Seinen umwanderte, blieb er mit besonderer -Freude auf dem blonden geneigten Haupte ruhen, das dieser -zärtlichen Betrachtung wohl bewußt war.</p> - -<p>So bildeten die vier an diesem Juliabend einen reinen -Ring von Zärtlichkeit und Glück, dessen Mittelpunkt der -Vater war, das Idol der Familie.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>r wußte, wer er war, und seltsamerweise machte dieses Wissen -um sich ihn nicht antipathisch. Er hatte so viel Freude -daran, zu lieben, hatte so viel Zärtlichkeit für alle in Nähe -und Ferne ständig bereit, daß er es nur natürlich fand, -wenn man ihm diese Liebe zurückgab. Eigentlich war er ein -großes Kind. Seit kurzem zur Berühmtheit gelangt, nach -einem Leben von keineswegs goldener Mittelmäßigkeit, hatte -er an jener vergangenen Zeit zwar nicht gelitten, aber die -neue, die hellere, tat ihm wohl, und er genoß sie. Daß er -das fünfzigste Jahr überschritten hatte, sah man ihm kaum -an. Zwar glänzten schon einige weiße Haare in seinem -dicken, blonden, gallischen Schnurrbart, aber sein Herz war -jung geblieben mit seinen Kindern. Statt mit dem Strom -seiner Generation zu gehen, gab er sich jeder neuen Welle -hin, das Schönste des Lebens schien ihm im leidenschaftlichen -Schwung seiner Erneuerung mit jeder neuen Jugend -zu bestehen, und er kümmerte sich nicht um die Gegensätze, -mit denen immer die neue Jugend sich gegen die frühere -stellt, denn diese Gegensätze lösten sich ganz auf in seinem -mehr enthusiastischen als logischen Gefühl, das überall -Schönheit sah und immer von ihr trunken war. Dazu kam -noch ein besonderes Bestreben nach Güte, das zwar nicht -recht mit seinem ästhetischen Pantheismus zusammenstimmte, -aber das seinem eigensten tiefsten Wesen entsprang.</p> - -<p>Er hatte sich zum Wortführer aller edlen und menschlichen -Ideen gemacht, sympathisierte mit den radikalsten Parteien, -den Arbeitern, den Unterdrückten, dem Volke — das er -übrigens nicht kannte, denn er war ein reiner Bourgeois, -voll von humanen und verschwommenen Ideen. Noch mehr -als das Volk vergötterte er die Menge, er liebte sich in ihr -zu baden, er genoß es als höchstes Glück, sich in der Gesamtseele -aufzulösen (wenigstens glaubte er es von sich). Diese -letzte Neigung war nun allerdings eine ziemlich verbreitete -unter den Intellektuellen von damals, die Mode unterstrich -hier, wie gewöhnlich, nur einen besonders ausgeprägten -Zug des Zeitgefühls. Die Menschheit entwickelte sich -in dieser Epoche immer bewußter dem Ideal eines Ameisenhaufens -entgegen, und selbstverständlich drückten die empfindsamsten -Wesen, die Künstler und die Intellektuellen, -als erste die Symptome dieser Entwicklung aus. In ihrer -Neigung erblickte man zunächst ein bloßes Spiel und verkannte -den Gesamtzustand, für den diese Symptome nur -das Merkzeichen waren.</p> - -<p>Die demokratische Entwicklung der Welt seit vierzig Jahren -hatte viel weniger in der Politik die Herrschaft des Volkes -verwirklicht, als in der Gesellschaft den Triumph der Mittelmäßigkeit. -Gegen diese Nivellierung des Geistigen hatte -im ersten Augenblick die Elite der Künstler ganz richtig -reagiert. Aber zu schwach, um gegen sie anzukämpfen, hatte -sie sich mit bewußter Übersteigerung ihrer Verachtung und -ihrer Isolierung in das Abseits zurückgezogen: sie predigte -eine seltene, eine artistische Kunst, die unzugänglich blieb für -die Masse und nur aufgetan für Eingeweihte. Nun gibt es -nichts Fruchtbareres als die Flucht in die Einsamkeit, wenn -man in sie ein vollwirkendes Gewissen, einen Überfluß des -Gefühls, eine strömende Seele mit bringt. Aber welch ein -Abstand zwischen diesen literarischen Cenaclen des neunzehnten -Jahrhunderts und jenen fruchtbaren Eremitagen, -in die sich die mächtigen Gedanken einstens flüchteten! -Diese neuen Abseitigen waren mehr damit beschäftigt, ihr -geistiges Kleingeld aufzuzehren statt es zu erneuern; um -es rein zu erhalten, hatten sie die Münze aus dem allgemeinen -Umlauf gezogen, was zur Folge hatte, daß sie bald -jeden Wert verlor. Das Leben der Gesamtheit ging an -ihnen vorbei, ohne sich um sie zu kümmern, die Kaste dieser -Künstler wurde siech und bleichsüchtig bei ihren raffinierten -Spielen. Gewaltige Windstöße zur Zeit der Dreyfus-Krise -entrissen einige Stärkere unter ihnen der Erstarrung, und -kaum daß sie aus ihrem Orchideengarten ins Freie traten, -berauschte sie der Wind der Welt. Mit ebensolcher Übertreibung, -wie ihre Vorgänger sie an die Abseitigkeit von -der Menge wandten, stürzten sie sich in die große vorüberströmende -Flut. Sie glaubten, daß das Volk das Heil sei, -das Gute, das Wahre, das Schöne, und trotz aller Enttäuschungen, -die sie bei ihren vergeblichen Versuchen der -Annäherung erlebten, inaugurierten sie eine neue Strömung -in der europäischen Kunst und im europäischen Geistesleben. -Sie setzten ihren Stolz darein, sich Interpreten der -Massenseele zu nennen, in Wirklichkeit aber waren es nicht -sie, die eroberten, sondern die erobert wurden. Die Massenseele -hatte Bresche geschossen in den Elfenbeinturm, und die -matten Persönlichkeiten der Denker kapitulierten; um vor -sich selbst ihre Abdankung zu verbergen, nannten sie sie eine -freiwillige Hingabe. In ihrem Bedürfnis, sich selbst zu überzeugen, -fabrizierten ihre Philosophen und Ästheten eigene -Theorien, die als Gesetz beweisen sollten, daß man sich dem -allgewaltigen Leben hingeben sollte, statt es zu lenken oder -auch nur bescheiden seinen eigenen braven Weg gelassen hinzugehen. -Man trieb einen Kult damit, nicht mehr sein -eigenes Ich zu sein, keine eigene Vernunft, keinen eigenen -individuellen Willen mehr zu haben (die Freiheit galt diesen -Demokratien als alte abgetane Sache), man prahlte damit, -nur mehr ein Blutkügelchen in den Adern des blind dahinwirkenden -Stromes zu sein — die einen sagten, des Stromes -der Rasse, die andern, des Stromes des Instinkts oder des -universellen Lebens. Und diese ansprechenden Theorien, -aus denen die Geschickteren in der Kunst und Philosophie ihr -Teil zu ziehen wußten, standen 1914 in schönster Blüte.</p> - -<p>Sie hatten auch ganz das Herz des naiven Clerambault gewonnen. -Nichts paßte besser zu seinem zärtlichen Herzen -und zu seiner geistigen Unsicherheit, denn für den, der sich -nicht selbst besitzt, ist es leicht, sich hinzugeben; den andern, dem -All, der Vorsehung, dieser unbekannten und undefinierbaren -Macht, lädt man die ganze Last auf, für einen zu denken -und für einen zu wollen. Der große Strom zog vorbei, -und die trägen Seelen, statt ihren Weg selbst am Ufer hinzuziehen, -fanden es viel einfacher und viel berauschender, -sich einfach von ihm tragen zu lassen... Wohin?... Darüber -nachzudenken, mühte sich keiner ab. Schön im Warmen -in ihrem Okzident, kamen sie niemals auf die Idee, daß die -Zivilisation einmal alle ihre Errungenschaften auch verlieren -könne. Der Gang des Fortschritts schien ihnen ebenso selbstverständlich -wie die Umdrehung der Erde, denn diese Überzeugung -erlaubte ihnen ja, ruhig zuzusehen und mit gekreuzten -Armen alles geschehen zu lassen. Man gab sich dem -Schicksal einfach hin, das unterdessen den Abgrund höhlte -und sie unten erwartete.</p> - -<p>Aber als guter Idealist sah Clerambault selten auf seine -Füße. Das hinderte ihn zwar nicht, sich blindlings in die -Politik zu mengen, wie es ja die Leidenschaft der Literaten -zu jener Zeit war. Er gab gern seinen Senf dazu, wenn ihn -Journalisten, die gerade ein paar Spalten brauchten, darum -angingen, und ging ganz ernsthaft mit aufrichtigem Wichtigkeitsgefühl -in ihre Netze. Im ganzen ein guter Dichter und -guter Mensch, gescheit und zugleich ein wenig beschränkt, -ein reines Herz und schwacher Charakter, der Bewunderung -und dem Tadel sowie allen Einflüsterungen seines Milieus -zugänglich, zwar unfähig zu irgendeinem häßlichen Gefühl -des Neides und des Hasses, unfähig aber auch, -es bei andern zu vermuten, kurzsichtig für das Böse, weitsichtig -für das Gute im Chaos der menschlichen Gefühle, -war er so recht der Typus eines Schriftstellers, der geschaffen -ist, den Lesern zu gefallen, weil er ihre Fehler -übersieht und ihre kleinen Tugenden verschönt. Denn selbst -diejenigen, die nicht darauf hineinfallen, sind solchen Schriftstellern -dankbar, denn man will das scheinen, was man nicht -ist, und liebt die Welt von Augen gesehen, in denen das -Mittelmäßige des Lebens schön wird.</p> - -<p>Diese allgemeine Sympathie, die Clerambault beglückte, -war nicht minder schön für die drei Menschen zu genießen, -die in diesem Augenblick bei ihm weilten. Sie waren stolz -auf ihn, als wäre er ihr Werk, denn was man bewundert, -ist immer ein wenig so, als hätte man es selbst getan. Und -wenn man dazu noch einem solchen Mann, einem so verehrten -Wesen zugehört, von seinem eigenen Blute ist, dann -unterscheidet man nicht mehr genau, inwieweit man von ihm -stammt oder er von einem. Die beiden Kinder und die Frau -Agénor Clerambaults betrachteten ihren großen Mann mit -den zärtlichen und zufriedenen Augen des Besitzers, und er, -der sie mit seinem glühenden Wort und seinem hohen Wuchs -mit den ein wenig erhobenen Schultern überragte, ließ es -ruhig geschehen. Er wußte, daß der Besitz Herr des Besitzers ist.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault endete seine Vorlesung mit einer Schillerschen -Vision der nahenden brüderlichen Menschheitsfreude. -Maxime, trotz seiner Ironie von Enthusiasmus hingerissen, -brach in Beifall zu Ehren des Dichters aus und -trommelte allein seinen begeisterten Applaus. Pauline erkundigte -sich geräuschvoll, ob Agénor sich beim Sprechen nicht -zu sehr erhitzt habe. Rosine, die einzig Schweigsame in der -allgemeinen Erregung, legte heimlich die Lippen auf die -Hand des Vaters.</p> - -<p>Das Dienstmädchen brachte die Post und die Abendblätter. -Keiner hatte Eile, sie zu lesen. Im Augenblick, da sie aus -so strahlender Zukunftswelt traten, schienen ihnen die Nachrichten -aus dem irdischen Tag nicht sehr eilig; dennoch löste -Maxime die Schleife von dem großen bürgerlichen Tagesblatt, -überlas mit einem Blick die vier gedrängten Seiten -und rief, die letzten Nachrichten überfliegend: „Donnerwetter, -es gibt Krieg!“</p> - -<p>Keiner hörte auf ihn. Clerambault wiegte sich in den letzten -Schwingungen seiner verflogenen Worte, Rosine war in -stiller Begeisterung. Nur die Mutter, deren Denken auf -nichts dauernd achtgeben konnte und wie eine Fliege nach -allen Richtungen hinflatterte, um auf gut Glück etwas aufzulesen, -hörte das letzte Wort und sagte erregt:</p> - -<p>„Maxime, sag’ doch keine Dummheiten.“</p> - -<p>Maxime protestierte und zeigte in der Zeitung die Kriegserklärung -Österreichs an Serbien.</p> - -<p>„An wen?“</p> - -<p>„An Serbien.“</p> - -<p>„Ach so“, atmete die gute Frau erleichtert auf, als ob sie -sagen wollte: „Was da droben im Mond vorgeht...“</p> - -<p>Aber Maxime gab nicht nach und bewies — <span class='it'>doctus cum -libro</span> — daß im nächsten Augenblick dieser ferne Brand -den Funken ins Pulverfaß werfen könnte. Clerambault, -der langsam aus seinem angenehmen Mattigkeitsgefühl zu -erwachen begann, erklärte sofort, daß nichts geschehen werde.</p> - -<p>„Ein Bluff, so wie man schon Dutzende seit dreißig Jahren -im Frühjahr und im Sommer gesehen hat... Eisenfresser, -die mit dem Säbel klirren... Keiner glaubt an den Krieg, -keiner will ihn... Ein Weltkrieg ist ja unmöglich, das ist -heute genug bewiesen. Er ist nicht mehr als ein Schreckgespenst, -und man sollte es endlich aus dem Gehirn der -freien Demokratien austreiben.“</p> - -<p>Und Clerambault verbreitete sich in ausführlichen Worten -über das Thema...</p> - -<p>Die Nacht war still, sanft und vertraulich. In den Feldern -zirpten die Grillen, ein Glühwürmchen leuchtete im Gras, -ferne donnerte leise ein Zug. Die Glyzinen dufteten, ein -Springbrunnen tropfte murmelnd nieder, und vor dem -mondlosen Himmel drehte sich der Scheinwerfer vom Eiffelturm.</p> - -<p>Die beiden Frauen gingen in das Haus zurück. Maxime, -müde vom langen Sitzen, lief im Garten mit seinem jungen -Hunde um die Wette, durch die offenen Fenster hörte man, -wie Rosine am Klavier mit zurückhaltendem Gefühl Schumann -spielte. Clerambault, allein zurückgeblieben, langhingestreckt -in seinen Strohsessel, atmete, voll Glück zu leben -und Mensch zu sein, mit dankbarem Herzen die Güte dieser -Sommernacht.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>S</span>echs Tage später.</p> - -<p>Clerambault hatte den Nachmittag im Walde verbracht. -Wie der Mönch in der Legende konnte er, am Fuße einer -Eiche hingelehnt, dem Vogelsang mit offenem Mund lauschend, -ein Jahrhundert wie einen Tag hinrinnen lassen. -Erst als es Abend wurde, entschloß er sich heimzukehren. -Im Eingang trat Maxime, ein wenig blaß und gezwungen -lächelnd, auf ihn zu und sagte:</p> - -<p>„Papa, es geht los.“</p> - -<p>Er erzählte ihm die letzten Neuigkeiten: Die russische Mobilisation, -den Kriegszustand in Deutschland. Clerambault -sah ihn an, ohne ihn zu verstehen. Seine Gedanken waren -so weit weg von diesen traurigen Torheiten! Er versuchte, -die Tatsachen abzustreiten, aber sie waren unwiderleglich. -Alle setzten sich zu Tisch. Aber Clerambault konnte nichts -essen.</p> - -<p>Er suchte nach Vernunftgründen, um die Folgen dieser beiden -verbrecherischen Handlungen zu entwerten: das richtige -Gefühl der öffentlichen Meinung, die guten Absichten der -Regierungen, die so oft wiederholte Ankündigung der sozialistischen -Partei, die entschlossenen Worte Jaurès’. Maxime -ließ ihn ruhig reden, seine Gedanken waren ganz wo anders: -wie sein junger Hund mit gespitztem Ohr horchte er hinaus -auf jede Regung der Nacht... Und es war eine so reine, -eine so zärtliche Nacht. Alle, die diese letzten Abende im -Juli 1914 und jenen noch schöneren des 1. August erlebt -haben, bewahren in ihrer Erinnerung den wunderbaren -Glanz der Natur, die mit ihren zärtlichen Armen und einem -schönen Lächeln des Mitleids die unselige Menschheit umfing, -die damals schon bereit war, sich gegenseitig zu zerreißen.</p> - -<p>Es war schon fast zehn Uhr. Clerambault hatte aufgehört -zu sprechen. Sie schwiegen alle mit schwerem Herzen, irgendwie -beschäftigt oder bemüht es zu scheinen, die Frauen mit -einer Handarbeit, Clerambault mit einem Buche, das er aber -nur mit den Augen überflog. Maxime war auf die Terasse -getreten und rauchte. An die Rampe gelehnt, sah er auf -den schlafenden Garten und die magische Welle von Mondlicht -im Dunkel der Alleen.</p> - -<p>Das Läuten des Telephons ließ sie alle aufschrecken. Man -verlangte Clerambault. Er ging mit schweren Schritten, -bedrückt und zerstreut, zum Apparat. Anfangs verstand -er nicht.</p> - -<p>„Wer spricht?... Ach, Sie sind’s, lieber Freund?...“ (Ein -Pariser Kollege telephonierte ihm aus der Redaktion seines -Blattes.)</p> - -<p>Clerambault verstand noch immer nicht:</p> - -<p>„Ich verstehe nicht... Jaurès?... wirklich Jaurès?... -O mein Gott...!“</p> - -<p>Maxime, der, von einer geheimen Ahnung getrieben, von -fern dem Gespräche zuhörte, stürzte an den Apparat, um -das Hörrohr aus der Hand des Vaters zu nehmen, das -Clerambault mit einer verzweifelten Geste hatte sinken lassen.</p> - -<p>„Hallo! Hallo!... Was sagen Sie? Jaurès ermordet...!“</p> - -<p>Ausrufe der Trauer und des Zornes antworteten sich durch -den Draht. Maxime ließ sich die Details sagen, die er mit -geknickter Stimme den Seinen wiederholte. Rosine hatte -Clerambault an den Tisch zurückgeführt. Wie zerbrochen -setzte er sich hin. Der Schatten eines ungeheuren Unglücks -lastete wie das antike Schicksal über dem Hause. Es war -nicht nur der Freund, dessen Hingang das Herz bedrängte — -sein gutes, heiteres Antlitz, seine herzliche Hand, die Stimme, -die alles Trübe hinwegfegte... es war Trauer auch um -die letzte Hoffnung der bedrohten Völker, um den einzigen -Mann, der (sie glaubten es wenigstens mit kindlichem und -rührendem Vertrauen) den drohenden Sturm hätte beschwichtigen -können. Nun, da er gefallen war, stürzte, gleichsam -als ob Atlas der Träger hingesunken wäre, der Himmel -ein.</p> - -<p>Maxime lief an den Bahnhof. Er wollte Neuigkeiten von -Paris holen und versprach, noch in der Nacht zurück zu sein. -Clerambault blieb im einsamen Haus zurück, aus dem man -von fern die große Lichtausstrahlung der Stadt sehen konnte. -Er hatte sich nicht von dem Sessel gerührt, in den er in einem -Zustand von Starre gesunken war. Die Katastrophe war -unterwegs, jetzt gab es keinen Zweifel mehr, sie war schon -da. Seine Frau versuchte ihn zu veranlassen, schlafen zu -gehen, er wollte nichts davon hören. Seine Lebensidee war -in Trümmer, nichts Festes, nichts Sicheres konnte er mehr -unterscheiden, keine Ordnung machen, keinem Gedanken folgen. -Sein inneres Haus war eingestürzt, und inmitten des -Staubes, der sich aus dem Schutt erhob, vermochte er nicht -zu erkennen, was noch aufrechtgeblieben, und es schien ihm: -nichts! Ungeheuerliche Massen von Leiden — das war alles. -Und Clerambault betrachtete sie mit stumpfem Blick, ohne -die Tränen zu fühlen, die über seine Wangen herabrollten.</p> - -<p>Maxime kam nicht zurück. Die Aufregung von Paris hatte -ihn gepackt. Um ein Uhr nachts kam Frau Clerambault, die -sich schon schlafen gelegt hatte, ihren Mann holen, und es -gelang ihr, ihn in ihr gemeinsames Schlafzimmer zu führen. -Er legte sich sofort zu Bett. Aber kaum, daß Pauline eingeschlafen -war (die Unruhe hatte sie müde gemacht), stand -er wieder vom Bette auf und kehrte in das Nachbarzimmer -zurück. Er stöhnte, er seufzte, seine Qual war so drückend -und dicht, daß sie ihm keinen Raum zum Atmen ließ. Mit -dem prophetisch überreizten Gefühl des Künstlers, der oft -deutlicher das Kommende als das Gegenwärtige sieht, umfing -er alles, was geschehen würde, mit erschreckten Blicken -und gekreuzigtem Herzen. Dieser unvermeidliche Krieg zwischen -den größten Völkern der Welt schien ihm der Bankbruch -der Zivilisation, Vernichtung seiner heiligsten Hoffnung -auf die menschliche Brüderlichkeit. Mit Entsetzen erfüllte -ihn die Vision dieser tollen Menschlichkeit, die ihre kostbarsten -Schätze, ihre Kräfte, ihr Genie, ihre höchsten Werte -dem bestialischen Götzen des Krieges hinopferte. Ein moralisches -Sterben war es für ihn, eine schmerzhafte Gemeinschaft -mit den Millionen Unglücklicher. Wozu also, wozu -die Mühe von Jahrhunderten! Die Leere erdrückte ihm das -Herz. Er fühlte, daß er nicht mehr leben könne, wenn sein -Glauben an die menschliche Vernunft und die gegenseitige -Liebe zerstört würde, wenn er zugeben müßte, daß sein Credo -des Lebens und der Kunst, daß all sein Hoffen ein Irrtum -und die wahre Lösung des Welträtsels ein dumpfer Pessimismus -sei, und er fühlte sich zu schwach, zu feige, dieser -Wahrheit in das Gesicht zu sehen. Voller Grauen wendete -er die Augen ab. Aber das Ungetüm war da und fauchte -ihm ins Gesicht. Und Clerambault betete — er wußte nicht -zu wem, und nicht, um was — daß es nicht geschehen möge, -daß es nicht wahr sei. Alles lieber als eine solche Wahrheit! -Doch die mörderische Wirklichkeit stand hinter der Tür, die -sich auftat. Clerambault kämpfte die ganze Nacht, um ihr -den Eingang zu sperren...</p> - -<p>Am Morgen aber begann allmählich irgendein Urinstinkt -in ihm zu keimen, der aus einer unbekannten Tiefe kam -und die Verzweiflung abzulenken suchte in das dumpfe -Verlangen, eine genaue und sichere Ursache für dieses Unglück -zu finden, sie in irgendeinem Menschen oder einer Gruppe -von Menschen festzustellen und dann auf diese den ganzen -Zorn über das Unglück der Menschheit zu entladen... -Nur ein kurzes Aufflammen war es, aber dennoch schon erste -ferne Ausstrahlung einer fremden, dunkeln, gewalttätigen -und finsteren Seele, die in ihn eindringen wollte — der -Massenseele...</p> - -<p>Sie nahm deutlichere Formen mit der Ankunft Maximes -an, der von ihrem Dunst durchdrungen war, den er in der -Nacht in den Straßen von Paris eingesogen. Alle Falten -seiner Kleider, jedes Haar seines Körpers war davon durchdrungen. -Überreizt, exaltiert, wollte er sich nicht niedersetzen, -er dachte nur daran schon abzureisen. Heute würde ja das -Mobilisationsdekret erscheinen. Der Krieg war sicher, er war -notwendig. Er war eine Wohltat. Man mußte einmal -Schluß machen. Die Zukunft der Menschheit stand auf dem -Spiel, die Freiheit der ganzen Welt war bedroht. Sie hatten -die Ermordung Jaurès ausgedacht, um das überfallene -Vaterland uneinig zu machen und zu revolutionieren, aber -die ganze Nation stand wie ein Mann hinter den Führern. -Die herrlichen Tage der großen Revolution würden sich erneuern... -Clerambault widersprach keiner Behauptung, -kaum, daß er sagte:</p> - -<p>„Meinst du? Bist du wirklich sicher?“</p> - -<p>Aber es war gleichsam eine geheime Bitte, Maxime möchte -ja sagen und noch mehr sagen. Die neuen Nachrichten vermehrten -das Chaos noch und trieben es zum Äußersten. -Aber gleichzeitig begannen sich die verstörten Geisteskräfte -auf einen bestimmten Punkt hin zu ordnen. Es war wie -das erste Bellen des Hundes, auf das hin sich die Herde -zusammenrottet.</p> - -<p>Clerambault hatte nur mehr ein Verlangen: sich der Herde -anzuschließen, sich zu reiben an den Menschenwesen, -seinen Brüdern, so wie sie zu fühlen, so wie sie zu handeln. -Obwohl er vom vorigen Abend noch erschöpft war, ging er -trotz des Protestes seiner Frau mit Maxime fort, um den -Zug nach Paris zu nehmen. Sie mußten lange am Bahnhof, -lange im Zuge warten. Die Geleise waren verstellt und -die Waggons überfüllt. In der allgemeinen Erregung fanden -die Clerambaults eine gewisse Entlastung. Er fragte, er -hörte zu: Alle verbrüderten sich, und alle, ohne zu wissen, -was sie dachten, wußten, daß sie dasselbe dachten: daß dasselbe -Rätsel, dieselbe Qual sie bedrohte. Aber man war -nicht mehr allein, um ihrer Herr zu werden oder ihr zu -unterliegen, und das beruhigte, das erleichterte ein wenig. -Sie fühlten alle die gegenseitige Wärme. Es gab keinen -Unterschied der Klassen mehr, keine Bürger und Arbeiter, -man sah nicht auf die Kleider und Hände, man sah sich -nur in die Augen, wo dieselbe Flamme des Lebens leuchtete, -wo derselbe Schauer des Todes schattete. Und alle -diese armen Leute waren so sichtlich den Ursachen der -Katastrophe fremd, daß das Gefühl ihrer Unschuld sie -ganz einfältig zwang, den Schuldigen anderswo zu suchen. -Auch das war eine Wohltat, eine Erleichterung für ihr Gewissen.</p> - -<p>Als Clerambault in Paris ankam, atmete er leichter; statt -der Todesqual der vergangenen Nacht fühlte er eine stoische -und männliche Melancholie.</p> - -<p>Aber er stand erst vor der ersten Stufe.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>as Dekret der allgemeinen Einrückung war soeben an -die Türen der Gemeindehäuser angeschlagen worden. -Schweigend lasen es die Leute, lasen es noch einmal und gingen, -ohne ein Wort zu sagen, weiter. Nach der angstvollen Erwartung -der vorhergehenden Tage, in denen sich die Menge -um die Zeitungskioske drängte, die Leute auf den Steinen saßen, -um die Stunde der Zeitungsausgabe zu erwarten, um -sich, wenn die Blätter endlich ankamen, auf sie zu stürzen, war -dies endlich Gewißheit, und sie bedeutete eine Entspannung. -Das ungewisse Unheil, das man kommen fühlt, ohne zu -wissen, wann und woher, regt auf. Aber sobald es einmal -da ist, atmet man freier, sieht ihm ins Antlitz und streift -sich die Hemdärmel auf zum Kampf. Es gab einige Stunden -mächtiger Sammlung, Paris hatte wieder seinen Atem -und rüstete seine Fäuste. Und dann: alles, was die einzelnen -Seelen zum Ersticken schwellte, stieß jetzt ins Freie. Die -Häuser leerten sich, und in den Straßen flutete ein Menschenstrom, -dessen Tropfen sich suchten, um sich zu vereinigen.</p> - -<p>Clerambault stürzte mitten hinein und wurde aufgetrunken -mit einem einzigen Schluck, kaum daß er aus dem Bahnhof -getreten war und den Fuß auf das Pflaster gesetzt hatte, -ohne daß irgendein Wort fiel, ohne Geste, ohne Zufall. Die -ernste Begeisterung des Stromes rauschte auch in ihm. -Noch war dies große Volk frei von Gewalttätigkeit. Es -wußte sich (oder glaubte sich) unschuldig, seine Millionen -Herzen glühten in dieser ersten Stunde, wo der Krieg noch -jungfräulich war, von Ernst und heiligem Enthusiasmus. In -diese ruhige und stolze Trunkenheit mengte sich das Gefühl -des erlittenen Unrechts, der berechtigte Stolz auf die eigene -Kraft, auf die Opfer, zu denen es bereit war, mengte sich -das Mitleid mit sich selbst, das Mitleid mit den anderen, -die ein Stück seiner selbst geworden waren. Brüder, Kinder, -Geliebte, alle waren sie aneinander, Leib an Leib, gepreßt, -zusammengepreßt durch die übermenschliche Umklammerung, -und sie fühlten das Bewußtsein des Riesenkörpers, der ihre -Einheit bildete, und die Erscheinung des Phantoms über -ihren Häuptern, das der Sinn dieser Einheit war — das -Vaterland. Halb Tier, halb Gott, wie die ägyptische Sphinx -oder der assyrische Stier — aber in jenem Augenblicke sah -jeder nur seine leuchtenden Augen, seine Pranken waren -verborgen. Es war das göttliche Untier, in dem jeder Lebendige -sich vervielfältigt fand, die mörderische Unsterblichkeit, -denn die, die sterben sollten, glaubten, daß sie in ihr -weiter leben würden, ein anderes, gesteigertes, von Ruhm -umwölktes Leben. Seine unsichtbare Gegenwart strömte in -der Luft wie Wein, und jeder brachte in die Kufe der großen -Weinlese seinen Korb, seine Frucht, seine Rebe, seine Ideen, -seine Leidenschaften, seine Hingabe, seinen Vorteil. Es gab -wohl viel widerliches Gewürm in den Trauben, viel Schmutz -unter den Winzerschuhen, die sie traten, aber der Wein -glühte wie Rubin und ließ das Herz erglühen. Clerambault -trank davon bis zum Übermaß.</p> - -<p>In Wirklichkeit wurde er davon nicht verwandelt, seine Seele -nicht verändert. Sie vergaß sich nur. Kaum, daß er mit -sich allein war, fand er sie wieder zurück, stöhnend unter -ihrer Qual wie von einer Wunde. Darum ließ ihn auch -sein Instinkt das Alleinsein fliehen. Er versteifte sich darauf, -nicht nach Saint-Prix zurückzukehren, wo die Familie sonst -gewöhnlich die Sommermonate verbrachte, sondern schlug -seine Wohnung wieder in Paris auf, im fünften Stock der -Rue d’Assas. Er wollte nicht einmal eine Woche warten, -nicht einmal zurückkehren und bei der Übersiedlung helfen, -so sehr brauchte er diese tierische Wärme, die von Paris aufstieg -und die bis in seine Fenster hinein drang. Jede Gelegenheit -war ihm willkommen, um sich in den warmen -Strom hineinzustürzen, auf die Straße hinabzusteigen, sich -den Gruppen anzuschließen, den Manifestationen zu folgen -und sich auf gut Glück alle Zeitungen zu kaufen, die er sonst -in gewöhnlichen Zeiten verachtet hatte. Wenn er dann zurückkam, -spürte er sich immer mehr entpersönlicht, mehr unempfindlich -geworden für alles, was in seiner wahren Tiefe -vorging, entwöhnt seinem eigenen Gewissen, fremd seinem -inneren Haus — seinem Ich. Und deshalb fühlte er -sich auf der Gasse wohler als daheim.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>F</span>rau Clerambault war mit ihrer Tochter nach Paris zurückgekehrt. -Gleich am ersten Abend nach ihrer Ankunft -nahm Clerambault Rosine auf die Boulevards mit.</p> - -<p>Die feierliche Glut der ersten Tage war vorbei. Der Krieg -hatte begonnen, die Wahrheit war geknebelt, und die große -Lügnerin, die Presse, schüttete auf die Nationen, die mit offenem -Maul zu ihr aufstarrten, mit vollem Schwung den -Alkohol kurzlebiger Siege und vergifteter Berichte. Paris -war beflaggt wie für einen Festtag. Vom Dach bis zur -Schwelle standen die Häuser mit den drei Farben geschmückt, -in den Arbeiterstraßen trug jedes Mansardenfenster ein kleines -Fähnchen für einen Sou wie eine Blume am Hut.</p> - -<p>An der Ecke Faubourg Montmartre begegneten sie einem -seltsamen Zug. Vorne marschierte ein großgewachsener -Greis mit weißem Bart, ein Banner in der Hand. Er ging -mit großen, geschmeidigen und rhythmisch abgehackten -Schritten, als ob er springen oder tanzen wollte. Seine -Rockschöße schlugen hin und her im Wind. Hinter ihm marschierte -eine kompakte, unbestimmbare, brüllende Masse, Arbeiter -und Bürger, Arm in Arm, ein Mädel wurde hoch -auf den Schultern getragen, ein roter Dirnenschopf zwischen -der Mütze eines Chauffeurs und dem Käppi eines Soldaten. -Alle gingen sie, die Brust herausgestemmt, das Kinn gehoben, -den Mund weit aufgerissen, schwarze Löcher, aus -denen die Marseillaise dröhnte. Rechts und links flankierten -verdächtige Gesichter vom Bürgersteig den Zug, -bereit, jeden Vorübergehenden zu insultieren, der zerstreut -die Fahne zu grüßen vergessen hatte. Rosine sah mit Entsetzen, -wie ihr Vater barhaupt und singend sich dem Zuge -anschloß; lachend und laut sprechend zog er seine junge Tochter -am Arme mit sich, ohne den Druck der erschreckten Hand -zu spüren, die ihn vergebens zurückzuziehen versuchte.</p> - -<p>Heimgekehrt, blieb Clerambault gesprächig und aufgeregt. -Er sprach ganze Stunden hindurch. Die beiden Frauen -hörten ihm geduldig zu. Frau Clerambault gab wie gewöhnlich -nicht recht acht und sagte zu allem ja. Rosine hörte -zu, aber sie sagte kein Wort; nur heimlich warf sie von Zeit -zu Zeit einen Blick auf ihren Vater, und dieser Blick war -wie ein tiefer Weiher, der langsam gefriert.</p> - -<p>Clerambault begeisterte sich immer mehr. Im tiefsten Grunde -war er noch gar nicht begeistert, aber er mühte sich mit leidenschaftlicher -Gewissenhaftigkeit, es zu werden. Es blieb -ihm aber immer noch genug Hellsichtigkeit übrig, um manchmal -über die Fortschritte seiner Begeisterung zu erschrecken. -Der Künstler ist durch seine Sensibilität mehr als ein anderer -allen von außen kommenden Erregungen preisgegeben, aber -er hat auch, um ihnen zu widerstehen, Gegenkräfte, die jenen -anderen fehlen. Selbst der Unbesonnenste unter ihnen, selbst -jener, der sich seinem lyrischen Aufschwung ganz hingibt, besitzt -mehr oder minder eine Fähigkeit der Einsicht, von der -Gebrauch zu machen ihm selbst anheimgegeben bleibt. Verzichtet -er darauf, so ist es Mangel an Willen und nicht an Kraft: -dann hat er Angst, sich von zu nahe zu sehen, ein Bild zu -finden, das ihm vielleicht nicht schmeichelhaft erschiene. Menschen -aber, die wie Clerambault statt psychologischer Begabung -nur die Fähigkeit der Aufrichtigkeit haben, waren hinlänglich -geschützt, um ihre Ekstasen überwachen zu können.</p> - -<p>Eines Tages, als er allein spazieren ging, sah er auf der -anderen Seite der Straße einen Zusammenlauf. Menschen -drängten sich um eine Kaffeehausterrasse. Vollkommen ruhig -ging er über die Gasse hinüber; auf dem anderen Trottoir -kam er in ein wildes Getümmel, das rings um einen unsichtbaren -Punkt wogte. Er hatte einige Mühe, sich in den -Wirbel hineinzudrängen. Aber kaum daß er innerhalb dieses -Mühlrades war, so wurde er selbst ein Teil seiner kreisenden -Felge; noch vollkommen bewußt, bemerkte er, daß seine -Vernunft sich mit ihm zu drehen beginne. Inmitten des -wirbelnden Kreises sah er einen Mann, der sich verteidigte, -und ehe er noch den Grund des Wutausbruches der Menge -kannte, fühlte er selbst schon diese Wut. Er wußte nicht, ob -es sich um einen Spion handelte oder um einen unvorsichtigen -Schwätzer, der die Volksleidenschaft aufgeregt hatte. -Aber man schrie rings um ihn her, und er merkte, daß... -ja, daß er selbst, Clerambault, plötzlich schrie:</p> - -<p>„Schlagt ihn nieder!“</p> - -<p>Ein Rückstrom der Menge stieß ihn vom Trottoir zurück, -ein Wagen drängte ihn einen Augenblick von dem Knäuel, -und als er den Weg wieder frei fand, entfernte sich schon die -Meute mit ihrem Opfer. Clerambault sah ihnen nach und -hörte noch den Ton seiner eigenen Stimme. Er kehrte um -und ging heim. Aber er war nicht sehr stolz auf sich...</p> - -<p>Von diesem Tage an ging er seltener aus. Er mißtraute -sich. In seinem Zimmer aber fuhr er fort, diese Trunkenheit -bewußt zu nähren. An seinem Arbeitstisch glaubte er sich -in Sicherheit. Doch er kannte noch nicht die Ansteckungsgefahr -dieser Seuche; sie gleitet durch die Fenster, durch die -Türritzen, durch das bedruckte Papier, durch die Luft, durch -die Gedanken. Die Feinfühlendsten spüren sie schon, bevor -sie etwas gesehen oder gelesen haben, kaum daß sie die -Stadt betreten, andere wieder brauchen sie bloß einmal im -Vorübergehen gestreift zu haben: die Ansteckung wirkt dann -schon selbsttätig auch in der Isolierung fort. Clerambault, -obwohl von der Masse entfernt, war doch von ihr angesteckt -worden, und schon kündigte sich die Krankheit durch ihre -gewöhnlichen ersten Symptome an. Dieser mitfühlende und -zärtliche Mensch haßte, haßte aus Liebe. Im geheimen versuchte -seine nicht sehr originelle, aber glühende und aufrichtige -Vernunft sich selbst zu betrügen, ihre Haßinstinkte durch -Gründe zu rechtfertigen, die dazu in gar keiner Beziehung, -ja sogar im Gegensatz standen. Er mußte sich die Ungerechtigkeit -und die leidenschaftliche Lüge erst beibringen. -Er versuchte sich zu überreden, daß er die Tatsache des Krieges -hinnehmen, ja sogar mitmachen dürfe, ohne darum -seine Friedensliebe von gestern, seinen Menschenkult -von vorgestern und seinen ewigen Optimismus zu verleugnen. -Ganz einfach war dies zwar nicht, aber es gibt ja -nichts, was die Vernunft nicht irgendwie sich vorzureden -vermöchte. Fühlt jemand die zwingende Notwendigkeit, für -einige Zeit moralische Grundsätze, die ihm lästig sind, -von sich abzutun, so findet die Vernunft, sein getreuer -Knecht, zu diesen Grundsätzen schon immer die Ausnahmen, -die die Regel bestätigen und sie doch durchbrechen. So begann -Clerambault sich eine Weltanschauung, ein absurdes, -paradoxes Ideal zu fabrizieren, das die Widersprüche irgendwie -auflöste, indem er sich sagte: „Der Krieg gegen den -Krieg, der Krieg für den Frieden, für den ewigen Frieden.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>ine große Hilfe war ihm innerlich die Begeisterung seines -Sohnes. Maxime hatte sich sofort gemeldet. Eine Welle -heroischer Freude riß seine Generation hin. Zu lange -hatte sie schon — sie wagte schon gar nicht mehr zu -hoffen — gewartet auf irgendeine Gelegenheit zur Tat -und zur Aufopferung.</p> - -<p>Die älteren Männer, die sich niemals Mühe gegeben hatten, -diese Generation zu verstehen, waren von ihrer Haltung begeistert. -Sie erinnerten sich ihrer eigenen mittelmäßigen -und verpfuschten Jugend, die nur erfüllt war von kleinlichem -Ehrgeiz, beschränkten Ambitionen und schalen Genüssen. -Da sie sich selbst in ihren Kindern nicht erkannten, -schrieben sie dem Kriege das Aufblühen all dieser Tugenden -zu, die seit zwanzig Jahren doch schon neben ihrer Gleichgültigkeit -aufwuchsen und die dieser Krieg nun niedermähen -sollte. Selbst neben einem so großzügigen Vater wie Clerambault -war Maxime immer verdunkelt gewesen. Clerambault -war zu beschäftigt, sein überströmendes und verwirrtes -Ich zu verbreiten, um die Menschen, die er liebte, -wirklich gut erkennen und ihnen helfen zu können. Er brachte -ihnen den heißen Niederschlag seiner Ideen, aber er verstellte -ihnen das Licht.</p> - -<p>Diese jungen Menschen aber, gedrängt von ihrer eigenen -Kraft, suchten vergebens eine Betätigung und fanden sie -nicht in der Linie des Ideals selbst ihrer besten Väter und -Vorgänger. Die Menschlichkeitsträumerei eines Clerambault -war für sie zu unbestimmbar, zu wenig greifbar, denn -sie begnügte sich mit angenehmen Hoffnungen ohne Gefahr -und ohne Kraft, wie sie ja einzig aus der Lässigkeit einer -Generation entstehen konnte, die im geschwätzigen Frieden -der Parlamente und Akademien hingealtert war. Die Gefahren -der Zukunft boten jenen höchstens rednerische Themen, -aber nie suchten sie ernstlich ihnen entgegenzutreten -und noch weniger die eigene Haltung im voraus festzulegen -für den Tag, da das Verhängnis wirklich einbrechen -sollte. Diese Generation hatte nicht die Kraft, zwischen den -entgegengesetzten Idealen der Betätigung innerlich zu entscheiden. -Man war gleichzeitig Patriot und international, -man baute gleichzeitig in Gedanken den Weltfrieden und -in Wirklichkeit Überdreadnoughts. Alles wollte diese Generation -verstehen, mit allem verbunden sein, alles lieben. -Nun mochte ja dieser verwässerte Whitmanismus ästhetisch -seinen Wert haben, aber seine praktische Unentschlossenheit -bot den jungen Leuten am Wegkreuz der Entscheidung keine -bestimmte Richtung. Sie stapften immer auf derselben -Stelle herum, erregt von der ungewissen Erwartung und -der Sinnlosigkeit ihrer hinrinnenden Tage...</p> - -<p>Der Krieg machte dieser Unentschlossenheit ein Ende. Sie -jubelten ihm zu, denn er traf die Entscheidung für sie. Blindlings -folgten sie ihm nach. In den Tod gehen, gut; aber -nur überhaupt gehen, denn gehen heißt leben. Die Bataillone -zogen singend auf den Kriegsschauplatz, bebend vor -Ungeduld, Blumen auf den Mützen, die Gewehre umwunden -mit Grün. Die Zurückgestellten boten sich freiwillig an, -Knaben drängten sich zum Dienst, und ihre eigenen Mütter -stießen sie dazu. Man hätte glauben können, es sei eine Abreise -zu den olympischen Spielen.</p> - -<p>Auf der anderen Seite des Rheins war die Jugend die -gleiche. Hier wie dort begleiteten sie ihre Götter: Vaterland, -Gerechtigkeit, Freiheit, Fortschritt, die paradiesischen -Träume einer erneuerten Welt, jene ganze Phantasmagorie -mystischer Ideen, mit denen sich die Leidenschaften junger -Menschen immer umhüllen. Keiner von ihnen zweifelte -daran, daß ihre Sache die einzig gerechte sei. Mochten andere -darüber streiten, sie waren sich selbst lebendiger Beweis; -denn wer sein Leben hingibt, braucht kein anderes Argument.</p> - -<p>Aber auch die alten Männer, die zurückgeblieben waren, -meinten, ihr Denken ausnützen zu müssen. Freilich nicht, -um die Wahrheit zu ergründen, sondern um den Sieg zu -sichern. In den Kriegen von heute, die ganze Völker mitreißen, -ist auch der Gedanke dienstpflichtig geworden. Er -tötet ebenso wie die Kanonen, er tötet die Seele, er tötet -über Land und Meere hin, über Zeit und Jahrhunderte: -er ist gewissermaßen die schwere Artillerie, die auf weite -Distanzen hin arbeitet. Selbstverständlich richtete auch Clerambault -seine Geschütze. Für ihn war es längst nicht mehr -wichtig, klar zu sehen, weit zu sehen, den ganzen Horizont -zu umfassen, sondern einzig: den Feind zu treffen. Er war -vom Wahn befangen, seinem Sohn im Kampfe beistehen -zu müssen.</p> - -<p>Mit einer unbewußten und fieberhaften bösen Absicht, die -im letzten aus einem zärtlichen Gefühl stammte, suchte Clerambault -in allem, was er sah, hörte oder las, Argumente, -um seinen festen Entschluß, an die Heiligkeit der nationalen -Sache zu glauben, noch stärker und stählerner zu machen. Er -suchte alles zusammen, was beweisen konnte, daß allein der -Feind den Krieg gewollt hätte und Feind des Friedens war, -daß demnach den Feind zu bekriegen gleichbedeutend mit dem -Wunsch nach Frieden sei. Die Beweise dafür fehlten ihm -nicht. Sie fehlen ja niemals. Man muß nur die Augen -immer an rechter Stelle zu öffnen und immer an rechter -Stelle zu schließen wissen, dann sieht man alles, was man -sehen will. — Aber dennoch: Clerambault war im letzten -Grunde nicht ganz befriedigt. Nur fand das geheime Unbehagen -seines im tiefsten rechtlichen Gewissens an allen diesen -halben Wahrheiten und Wahrheiten mit Lügenschwänzen -keinen andern Ausweg als in einer immer leidenschaftlicheren -Erregung gegen den Feind. Gleichzeitig aber — so -wie von den beiden Eimern eines Brunnens der eine steigt, -wenn der andere hinabgeht — wuchs auch sein patriotischer -Enthusiasmus, der schließlich in einer wohltätigen Trunkenheit -seine letzten moralischen Bedenken wegschwemmte.</p> - -<p>Von nun an war er in beständiger Jagd auf neue Fakten -in den Zeitungen, die ihm seine neuen Thesen bekräftigen -könnten. Obwohl er doch eigentlich genau wußte, wie unzuverlässig -die Wahrhaftigkeit dieser Zeitungen war, so bezweifelte -er doch nie irgendeine Behauptung, sobald sie seiner -gierigen und unruhigen Leidenschaft als Argument dienen -konnte. Dem Feind gegenüber hatte er das Prinzip angenommen: -„Das Schlechte ist eben das Rechte.“ In gewissem -Sinne wurde er Deutschland geradezu dankbar, -wenn es ihm durch Akte der Grausamkeit und wiederholte -Verstöße gegen das Völkerrecht eine offenkundige Bestätigung -für die Behauptungen gab, die er auf jeden Fall schon -im voraus ausgesprochen hatte.</p> - -<p>Und Deutschland kam ihm darin wirklich zu Hilfe. Noch -nie hatte ein Staat im Kriege es eiliger gehabt, die -Meinung der ganzen Welt gegen sich zu entfesseln. Diese -blutübervolle Nation, die an ihrer Kraft erstickte, hatte -sich in einem Delirium von Stolz, Zorn und Furcht auf -den Gegner gestürzt, die Bestie im Menschen, kaum losgelassen, -zog gleich mit den ersten Schritten einen Kreis -methodischen Schreckens um sich. Alle Brutalität des Instinkts -und des Glaubens war bewußt von jenen aufgestachelt -worden, die das Volk am Zügel hielten, von seinen -Führern, seinem Generalstab, den einberufenen Professoren -und Militärgeistlichen. Krieg war und wird immer -eins mit dem Verbrechen sein. Aber Deutschland organisierte -es, so wie alles, es erhob den Totschlag und das -Niederbrennen zum Kriegsgesetz. Ein zorniger Mystizismus -aus Bismarck, Nietzsche und der Bibel gemengt, goß sein -Öl ins Feuer, der Übermensch und Christus wurden mobilisiert, -um die Welt zu vernichten und zu erneuern. — Die -Erneuerung begann in Belgien, und in tausend Jahren -wird man noch davon sprechen. Die entsetzte Welt erlebte -das höllische Schauspiel, wie die alte, mehr als zweitausendjährige -Zivilisation Europas unter den brutalen -und berechneten Schlägen der großen Nation hinbrach, -die eine ihrer Führerinnen war — Deutschlands, das so -reich an Intelligenz, Wissenschaft und geistiger Macht gewesen -und das in fünfzehn Kriegstagen sich dienstfertig erniedrigt -hatte. Aber was die Organisatoren der deutschen -Tollheit nicht voraussahen, war, daß sie, so wie Cholera -von einer Armee zur andern, nun ins andere Lager übergehen -und, in den Feindesländern einmal heimisch, nicht -mehr zu entfernen sein würde, ehe nicht ganz Europa davon -angesteckt und für Jahrhunderte unbewohnbar geworden -war. Für alle Tollheiten und Gewalttätigkeiten dieses erbitterten -Krieges gab Deutschland das Beispiel, sein kräftiger, -besser genährter Körper bot der Epidemie ein weiteres -Wirkungsfeld, und sie wütete furchtbar; und als das Gift -sich in Deutschland abzuschwächen begann, war es schon in -die anderen Nationen in Form eines langsamen und zähen -Fiebers eingedrungen, das von Woche zu Woche tiefer -wühlte und bis in die Knochen hineinsickerte.</p> - -<p>Den unsinnigen Reden der deutschen Denker antworteten -unverzüglich die Übertreibungen der Schwätzer in Paris und -überall. Wie homerische Helden waren sie, mit der einzigen -Ausnahme, daß sie nicht kämpften, aber sie schrien dafür -um so mehr. Man beschimpfte nicht nur den Gegner, sondern -auch seinen Vater, seinen Großvater, den ganzen Ursprung, -ja man leugnete sogar gegenseitig die vergangene -Leistung. Der erbärmlichste Akademiker arbeitete wie ein -Verzweifelter, um den Ruhm großer Menschen, die längst -im Grabesfrieden schlummerten, zu beschmutzen und zu beschimpfen.</p> - -<p>Clerambault hörte, hörte alles und trank es in sich ein... -Und doch gehörte er zu den wenigen französischen Dichtern, -die vor dem Kriege europäische Verbindungen gehabt und -dessen Werke Sympathien in Deutschland gefunden hatten. -Als rechtes, altes, verwöhntes französisches Kind, das sich -ja nie die Mühe gibt, die anderen aufzusuchen, allzu gewiß, -daß man zu ihm kommen würde, sprach er keine andere -Sprache. Aber wenigstens nahm er die Fremden gut auf, -wenn sie vom Auslande zu ihm kamen, sein Geist war frei -von allen nationalen Vorurteilen, und die innere Intuition -ersetzte genug die Lücken seiner Bildung, daß er hingebungsvoll -ausländische große Geister bewundern konnte. -Jetzt freilich, seit man ihn gelehrt hatte, daß man allem -mißtrauen müsse („Schweig’, sei immer vorsichtig!“), seit -er hörte, daß Kant nur eine Vorstufe für Krupp gewesen, -wagte er nicht mehr ohne offizielle staatliche Garantie irgendetwas -zu bewundern. Die sympathische Bescheidenheit, die -ihn zur Friedenszeit wie einem Wort des Evangeliums allem -vertrauen ließ, was gelehrte und geachtete Männer öffentlich -mitteilten, nahm jetzt in der Kriegszeit die Formen -einer unbegrenzten Leichtgläubigkeit an. Er verschlang, ohne -mit den Augenwimpern zu zucken, die erstaunlichen Zeitungsentdeckungen -der Intellektuellen seines Landes, die jetzt die -Kunst, die Wissenschaft, den Geist und die Seele des andern -Landes durch Jahrhunderte zurück durchwühlten und zu -Boden stampften — die ganze Arbeit rasender Böswilligkeit, -die dem Feind jede Größe absprach, in seinen erhabensten -Erscheinungen nur Beweise seiner gegenwärtigen Infamie -finden wollte, falls es ihm nicht überhaupt diese berühmten -Männer wegnahm und sie irgendeiner anderen -Nation zuwies.</p> - -<p>Clerambault aber war davon ganz überwältigt, außer sich, -und (freilich, dies gestand er sich nicht ein) im tiefsten Herzen -jubelte er.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>U</span>m für seine Begeisterung einen Gefährten zu finden und -sie mit neuen Argumenten zu nähren, beschloß Clerambault, -seinen Freund Perrotin aufzusuchen.</p> - -<p>Hippolyte Perrotin war eine jener Figuren, wie sie heute -selten geworden sind und die einen Ruhmestitel der französischen -Hochschule bildeten, einer jener großen Humanisten, -deren weitblickendes und scharfes Wissensbedürfnis mit ruhigem -Schritt den Garten der Jahrhunderte prüfend und -klassierend, auslesend und pflückend durchwandert. Zu sehr -beobachtende Natur, als daß ihm irgend etwas der Gegenwart -entgangen wäre — die ihn eigentlich am wenigsten -interessierte — wußte er jedem ihrer Geschehnisse seinen -Rang im Gesamtbild zuzuweisen. Was anderen als das -Wichtigste galt, war es keineswegs für ihn, und die politischen -Bewegungen dünkten ihm Blattläuse auf einem -großen Blatt. Da er aber nicht Gärtner, sondern nur -wissenschaftlicher Beobachter war, glaubte er sich nicht verpflichtet, -die Rosenblätter zu reinigen: einzig sie mit allen -ihren Parasiten zu betrachten, war für ihn Gegenstand einer -dauernden Entzückung. Er hatte den feinsten Sinn für -literarische Schönheit und geistige Vollkommenheit, und seine -Wissenschaft, weit entfernt, ihn dabei zu stören, belebte nur -diese Neigung dadurch, daß sie seinen Gedanken ein festes -und begrenztes Feld lebensvoller Vergleiche und Proben -bot. Er gehörte zu jener französischen Tradition von Gelehrten, -die gleichzeitig meisterliche Stilisten waren, jener -Tradition, die von Buffon bis zu Renan und Gaston Paris -reichte. Mitglied der Akademie und von zwei oder drei anderen -Gesellschaften, hatte er durch die Weite seiner Kenntnisse -über die bloßen Literaten und über seine wissenschaftlichen -Kollegen nicht nur die Überlegenheit eines sichern und -klassischen Geschmacks, sondern auch eines freieren und dem -Neuen aufgetanen Geistes. Er dünkte sich nicht wie die -meisten von ihnen, sobald sie über die Schwelle der heiligen -Kuppelhalle getreten waren, schon aller Verpflichtung, weiter -zu lernen, ledig: mitten in seiner gereiften Meisterschaft -fühlte er sich noch immer als Schüler. Schon zur Zeit als -Clerambault von den übrigen Unsterblichen gar nicht gekannt -war, außer von ein oder zwei lyrischen Kollegen, die, -wenn sie (was selten geschah) von ihm sprachen, es nur mit -verächtlichem Lächeln taten — schon damals hatte er ihn sich -entdeckt und in sein Herbarium eingegliedert. Einige Bilder -hatten ihn stutzig gemacht, die Originalität mancher Wortwendung, -der primitive und gewissermaßen nur naiv komplizierte -Mechanismus seiner Phantasie zogen ihn an, -schließlich interessierte ihn dann der Mann selbst. Clerambault, -dem er ein glückwünschendes Wort hatte zukommen -lassen, eilte, überströmend von Erkenntlichkeit, ihm zu danken, -und zwischen den beiden Männern entspann sich allmählich -eine Freundschaft.</p> - -<p>Sie waren einander durchaus nicht ähnlich, Clerambault -mit seiner lyrischen Gabe und seiner mittelmäßigen Intelligenz, -die vom Herzen kam, und Perrotin, der durchdringende -Geist, der sich niemals von der Leidenschaft der Phantasie -verwirren ließ, aber beide verband die gemeinsame -Würdigkeit der Lebensführung, eine intellektuelle Rechtschaffenheit -sowie die reine Liebe zur Kunst und zur Wissenschaft, -die ihre Freude aus sich selbst zog und nicht aus dem -möglichen Erfolge, der ihr entspringen konnte. Freilich hatte -das Perrotin niemals, wie man sehen konnte, gehindert, -Karriere zu machen. Die Ehrenstellen waren gleichsam auf -ihn zugekommen. Er suchte sie nicht, aber er wies sie auch -nicht zurück und verabsäumte nichts.</p> - -<p>Clerambault fand ihn gerade damit beschäftigt, die wirklichen -Ideen eines chinesischen Philosophen von all den -nachträglichen Umhüllungen rein loszulösen, unter denen -sie die Lesarten und Erläuterungen von Jahrhunderten verborgen -hatten. Bei diesem Spiel, das für ihn ein gewohntes war, -kam er natürlich dazu, schließlich gerade das Gegenteil -des bisher augenscheinlichen Sinnes zu finden: ein -Ideal wird ja immer dunkler, wenn es von Hand zu Hand -geht.</p> - -<p>In dieser geistigen Verfassung empfing Perrotin zerstreut -und sehr höflich Clerambault. Selbst wenn er in Salons -anderen zuzuhören schien, trieb er immer Textkritik. Seine -Ironie vergnügte sich dabei auf fremde Kosten.</p> - -<p>Clerambault entlud gegen ihn seine ganze neue Erkenntnis. -Sein Ausgangspunkt war die unbestreitbare Tatsache der -offenkundigen moralischen Minderwertigkeit der feindlichen -Nation, und es war eigentlich nur noch dies für ihn eine -Frage, ob man darin den unheilbaren Niedergang eines -großen Volkes erkennen sollte oder einfach ein Barbarentum -feststellen, das von allem Anfang an bestanden, aber sich -nur gut zu verschleiern gewußt hatte. Clerambault neigte zur -letzten Auslegung. Noch ganz erfüllt von dem gerade Gelesenen, -machte er Luther, Kant und Wagner für die gewalttätige -Verletzung der belgischen Neutralität und für die Verbrechen -der deutschen Armee verantwortlich. Wie man gemeinhin -zu sagen pflegt: er hatte die Nase nicht selbst hineingesteckt, -da er ja weder von Musik, noch von Theologie, noch -von Metaphysik etwas verstand; ihm genügte die Autorität -der Akademiker. Als Ausnahme ließ er einzig Beethoven -gelten, weil er ein Flame war, und Goethe als Bürger einer -Freistadt, die so eine Art Straßburg, also zur Hälfte französisch -war, oder französisch und nur halb deutsch. Nun -wartete er auf eine Zustimmung.</p> - -<p>Aber zu seiner Überraschung stieß er bei Perrotin nicht auf -eine Leidenschaftlichkeit, die der seinen entsprach. Perrotin -lächelte, hörte zu, betrachtete Clerambault mit einer gutmütigen -und neugierigen Aufmerksamkeit. Er sagte nicht -nein und sagte nicht ja. Bei einigen Behauptungen machte -er vorsichtige Einschränkungen, und als Clerambault ihm -ganz hitzwütig die schriftlichen Aussagen zeigte, die von -zwei oder drei berühmten Kollegen Perrotins unterschrieben -waren, machte er nur eine kleine Gebärde, die sagen konnte:</p> - -<p>„Ach, solche Dinge gibt’s in Menge.“</p> - -<p>Clerambault wurde immer leidenschaftlicher, und nun veränderte -auch Perrotin den Ton, bezeigte ein „lebhaftes Interesse“ -für die „sehr interessanten“ Bemerkungen seines -„verehrten Freundes“, nickte mit dem Kopf zustimmend zu -allem, was er sagte, wich seinen direkten Fragen mit vagen -Worten aus oder stimmte ihnen mit irgendeiner allgemeinen -Höflichkeit zu, wie man eben jemandem antwortet, dem man -nicht widersprechen will.</p> - -<p>Clerambault ging, ganz aus der Fassung gebracht und unzufrieden, -fort.</p> - -<p>Aber er versöhnte sich mit seinem Freunde und war wieder -seiner sicher, als er einige Tage später den Namen Perrotins -unter einem leidenschaftlichen Protest der Akademie gegen -die Barbaren fand. Er nahm den Anlaß wahr, um ihn zu -beglückwünschen, und Perrotin dankte ihm mit einigen vorsichtigen -und sybillinischen Worten:</p> - -<p>„Mein verehrter Herr — (er benutzte immer in seinen Briefen -die zeremoniösen und gemessenen Formeln derer von -Port-Royal) — ich bin immer bereit, den Wünschen des -Vaterlandes zu gehorchen; sie sind Befehle für mich. Auch -mein Gewissen steht ihm zur Verfügung, so wie es die -Pflicht eines guten Bürgers ist...“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>ine der merkwürdigsten geistigen Wirkungen des Kriegs -war, daß er neue Bindungen zwischen Menschen erzeugte. -Leute, die nicht einen Gedanken gemeinsam hatten, entdeckten -plötzlich, daß sie gleichen Sinnes waren; und sobald sie sich -zusammenscharten, wurden sie einander wirklich ähnlich. So -entstand, was man die <span class='it'>Union Sacrée</span>, die „heilige Eintracht“, -nannte. Menschen aller Parteien und von verschiedenstem -Temperament, Choleriker, Phlegmatiker, Monarchisten, -Anarchisten, Klerikale, Calvinisten vergaßen plötzlich -ihr wirkliches Ich, ihre Leidenschaften, Narrheiten und -Feindseligkeiten. Sie wechselten die Haut, und man sah -sich mit einemmal neuen Wesen gegenüber, die sich unerwartet -wie ein Häufchen gefeilten Eisenstaubes um einen -Magneten zusammenrotteten. Alle alten Beziehungen waren -plötzlich verschwunden, und man staunte gar nicht darüber, -sich plötzlich einem Fremden näher zu fühlen als -den ältesten Freunden. Man hätte glauben mögen, daß -die Seelen unterirdisch, mit weitverbreiteten Wurzeln, im -Dunkel des Instinkts verbunden waren, jener allzuwenig -bekannten Region, zu der die Beobachtung selten hinabsteigt. -Unsere Psychologie beschäftigt sich ausschließlich mit -jenem Teil unseres Ich, der aus dem Erdreich des Unbewußten -herausragt, sie beschreibt sorgfältig dort jede Einzelheit, -ohne auf alles das zu achten, was nicht gerade Schaft -und Blüte der Pflanze ist. Aber neun Zehntel sind unsichtbar -eingegraben und mit den Füßen anderer Pflanzen verschlungen. -Diese ganze tiefe (oder niedere) Region der Seele -ist für gewöhnlich unbewußt und für das Gefühl nicht merkbar, -die Vernunft weiß nichts von ihr. Aber der Krieg ließ -plötzlich, indem er diese unterirdische Welt weckte, moralische -Bindungen zutage treten, die man nie vermutet hätte. So -trat zum Beispiel bei Clerambault eine plötzliche Intimität -mit einem Bruder seiner Frau zutage, den er bisher, und -mit gutem Recht, als Typus eines echten Philisters betrachtet -hatte.</p> - -<p>Leo Camus war noch nicht fünfzig Jahre alt, groß, mager, -ein wenig vorgekrümmt, hatte einen schwarzen Bart, fahle -Farben, schütteres Haar (seine Kahlköpfigkeit war sogar schon -sichtbar, wenn er den Hut noch auf hatte), sein Gesicht war -voll kleiner Falten, die sich nach allen Richtungen überquerten, -wie Maschen eines schlecht geflickten Netzes. Er -hatte meist ein ungesundes, unfreundliches Aussehen und -war beständig verschnupft. Seit dreißig Jahren war er -Staatsbeamter, und seine ganze Karriere war im Schatten -eines Hofes im Ministerialgebäude dahingegangen. Im -Laufe der Jahre hatte er das Zimmer gewechselt, aber er -war nie aus diesem Schatten herausgekommen, sein ganzer -Fortschritt war immer im selben Hoftrakt. Für ihn gab es -keine Möglichkeit mehr, diesem Leben zu entrinnen, und jetzt -war er endlich Unterdirektor geworden, was ihm erlaubte, -nun seinerseits Schatten zu verbreiten. Er hatte fast gar -keinen Zusammenhang mit Menschen und verkehrte mit der -äußeren Welt nur hinter einem Wall von Registraturen und -aufgehäuften Papierstößen. Er war Junggeselle und hatte -keinen Freund, denn sein Menschenhaß behauptete, es gäbe -keine, außer solchen aus Interesse. Seine einzige Zuneigung -galt der Familie der Schwester, und auch diese äußerte sich -nur darin, daß er alles, was jene tat, für schlecht befand; -denn er gehörte zu jenen Leuten, deren unruhige Besorgtheit -diejenigen, die sie lieben, immer kritisiert, und wenn sie -jene leiden sehen, nicht müde werden, ihnen zu beweisen, daß -sie durch eigenes Verschulden unglücklich seien. Bei den -Clerambaults machte er nicht sehr viel Effekt damit, ja es -mißfiel Frau Clerambault, die ein wenig träge war, sogar -nicht, ein bißchen gerüttelt zu werden. Was die Kinder betraf, -so wußten sie, daß diese Vorwürfe meistens von kleinen Geschenken -begleitet waren: so steckten sie die Geschenke ein und -ließen das Übrige auf sich niederprasseln.</p> - -<p>In bezug auf seinen Schwager hatte die Haltung Leo Camus’ -im Laufe der Jahre einige Veränderungen durchgemacht. -Als seine Schwester Clerambault heiratete, hielt -Camus mit seiner Mißbilligung nicht zurück, ein unbekannter -Dichter schien ihm nicht jemand „ernst zu Nehmender“. -Dichter sein (ein unbekannter Dichter), das ist immer nur -ein Vorwand, um nicht zu arbeiten..., natürlich, wenn -man „bekannt“ ist, das ist dann etwas anderes! Camus -verehrte sehr Victor Hugo, er kannte sogar Verse aus den -Châtiments und einige von August Barbier auswendig, die -aber waren „bekannt“, und „bekannt sein“ ist eben alles. -Nun geschah es aber eines Tages, daß Clerambault „bekannt“ -wurde. Camus erfuhr es durch seine eigene Zeitung. -Von diesem Tag an hatte er sich endlich bewegen lassen, -die Gedichte Clerambaults zu lesen. Er verstand sie nicht, -aber er war darüber nicht ungehalten, denn so konnte er -sich brüsten, noch von der „alten Schule“ zu sein und sich -dadurch überlegen dünken. Es gibt ja viele dieser Art, die -sich aus ihrer Verständnislosigkeit einen Stolz zu machen -wissen. Aber ist es nicht recht so in der Welt, daß der eine -auf das pocht, was er hat, und der andere auf das, was er -nicht hat? Übrigens gab Camus zu, daß Clerambault -„schreiben“ könne (er mußte es ja verstehen, da er auch vom -Fach war). So hatte er im gleichen Maße, wie die Zeitung -ihn zu schätzen begann, ein immer größeres Interesse an -seinem Schwager und liebte es, mit ihm zu plaudern. Er -hatte immer schon, ohne es je zu sagen, seine herzliche Güte -geachtet, und was ihm besonders an diesem großen (denn -jetzt nannte er ihn plötzlich so) Dichter gefiel, war seine offenkundige -Unfähigkeit in Geschäftsdingen, seine praktische -Ignoranz. Auf diesem Gebiete war Camus sein Meister, -und er ließ es ihn deutlich fühlen. Clerambault hatte ein -naives Vertrauen zu den Menschen und zu den Dingen, -und nichts war Camus und seinem aggressiven Pessimismus -willkommener als diese Eigenschaft. Dies hielt ihn immer -in Atem. Die meiste Zeit seiner Besuche ging damit hin, -Clerambaults Illusionen in tausend Stücke zu zerpflücken, -aber sie hatten ein zähes Leben, und jedesmal mußte man -anfangen, sie von neuem zu zerstören. Camus ärgerte sich -darüber, aber mit einem geheimen Vergnügen. Er brauchte -immer einen neuen Vorwand, um wieder beweisen zu können, -daß die Welt schlecht und die Menschen dumm waren, -vor allem aber fand kein Mann der Politik Gnade vor seinen -Augen. Dieser Staatsbeamte haßte alle Regierungen, ohne -eigentlich sagen zu können, wen oder was er an ihre Stelle -gewünscht hätte. Die einzige Form der Politik, die ihm verständlich -war, blieb die Opposition. Er litt eben daran, sein -Leben verdorben, seine Natur unterdrückt zu haben. Als -Bauernsohn war er dazu geschaffen, wie sein Vater Weingärten -zu pflegen oder als Wächter über das kleine Landvolk -seinen Autoritätsdrang auszuleben. Aber es war damals -der Rost über die Weingegend gekommen, andererseits -lockte der dumme Stolz zur Bureaukratie, so war die -Familie in die Stadt übersiedelt. Jetzt hätte er zu seiner -wirklichen Natur nicht mehr zurück können, ohne sich herabzuwürdigen, -und hätte er es selbst vermocht, so wäre sie daran -verkümmert. Weil er seinen Platz in der sozialen Gesellschaft -nicht fand, machte er die Gesellschaft dafür verantwortlich, -er diente wie tausend Beamte dem Staate als -schlechter Diener, als heimlicher Feind.</p> - -<p>Man hätte meinen sollen, ein Wesen dieser Art, ein so düsterer, -verbitterter, menschenfeindlicher Geist müßte durch -den Krieg ganz außer sich geraten sein, aber gerade das -Gegenteil trat ein: der Krieg beruhigte ihn. Für die wenigen -freien Geister, die auf das Weltall hinblicken, war die -Zusammenrottung zu bewaffneten Horden gegen den Feind -ein Zusammenbruch. Aber für die Menge all derer, die -in der schöpferischen Unfähigkeit eines ziellosen Egoismus -leben, ist der Krieg eine Erhebung, er trägt sie zur höheren -Stufe des zielvollen, des organisierten Egoismus empor. -Camus wachte eines Tages mit dem Gefühl auf, zum erstenmal -nicht allein auf der Welt zu sein.</p> - -<p>Der Instinkt des Vaterlandes ist vielleicht der einzige, der -in den gegenwärtigen Zeitläuften dem Brandmal der Alltäglichkeit -entgeht. Alle anderen Instinkte, alle natürlichen -Triebe, das Verlangen zu lieben und zu handeln, werden -in der Gesellschaft niedergehalten, erstickt oder gezwungen, -durch das Joch der Entsagung und der Kompromisse zu -gehen. Wenn ein Mann auf der Höhe seines Lebens sich -zurückwendet, um seine einstigen Neigungen zu betrachten, -und sieht auf ihnen die Brandmarken seiner Niederlage -und seiner Nachgiebigkeit, dann schämt er sich ihrer und seiner -selbst, Bitternis im Munde. Einzig der Instinkt des Vaterlandes -bleibt in der gegenwärtigen Gesellschaft ausgeschaltet, -er tritt nicht in Aktion und wird deshalb nicht beschmutzt. -Wenn er aber einmal in Erscheinung tritt, so ist er unberührt, -und die Seele, die sich ihm hingibt, wirft ihm zugleich -die Glut aller ihrer niedergehaltenen und erniedrigten Instinkte, -Liebe, Verlangen und Ehrgeiz entgegen, die das -Leben verraten hat. Ein halbes Jahrhundert unterdrücktes -Leben nimmt seine Rache, Millionen kleiner Zellen des sozialen -Gefängnisses öffnen sich, endlich, endlich einmal... -die alten Leidenschaften, die angeschmiedeten Instinkte recken -ihre erstarrten Glieder, sie fühlen, daß sie das Recht haben, -ins Freie zu stürzen und zu schreien. Das Recht? Sie -haben jetzt die Pflicht, sich dahinstürmen zu lassen, als mächtige, -stürzende Masse. So werden plötzlich die Millionen -einzelner Schneeflocken zur Lawine.</p> - -<p>Die Lawine riß auch Camus mit. Der kleine Bureauchef -ging ganz in ihr auf, und zwar ohne irgendwelche Leidenschaft, -ohne Gewalttätigkeit. Er fühlte plötzlich eine große -Kraft, eine große Ruhe, er fühlte sich „wohl“, körperlich -wohl, seelisch wohl. Seine Schlaflosigkeit war verschwunden. -Zum erstenmal seit Jahren quälte ihn nicht mehr sein -Magenleiden, vielleicht weil er es vergessen hatte, er verbrachte -den ganzen Winter — ein nie dagewesener Fall — -ohne Schnupfen, man hörte ihn nicht mehr das und jenes -bekritteln und beklagen, er schimpfte nicht über alles, was -geschah oder nicht geschehen war. Irgendeine heilige Ehrfurcht -überkam ihn vor dem ganzen sozialen Organismus, -vor diesem Wesen, das das seine war, nur noch stärker, -schöner und besser, er fühlte sich brüderlich mit allen jenen, -die durch ihren Zusammenhang dieses Wesen bildeten wie -ein Bienenschwarm, der an einem Ast hängt. Er beneidete -die jungen Menschen, die zur Front reisten, sein Vaterland -zu verteidigen, er betrachtete mit zärtlichen Augen seinen -Neffen Maxime, der sich heiter rüstete, und am Bahnhof, -als der Zug die jungen Menschen wegführte, umarmte er -Clerambault, drückte unbekannten Eltern, die ihre Söhne -begleiteten, die Hand, Tränen der Verzweiflung und -von Glück zugleich standen in seinen Augen. In diesen -Stunden hätte Camus alles hingegeben. Es waren seine -Flitterwochen mit dem Leben. Die einsame Seele, die es -sich immer versagt hatte, sieht plötzlich das geliebte Leben -nahekommen und umfaßt es... Doch das Leben geht -weiter. Das Wohlbefinden eines Camus war nicht angetan, -zu dauern. Aber wer einmal das Leben in einer solchen -Stunde gekannt, lebt einzig nur mehr von dieser Erinnerung -und um sich immer wieder diesen Augenblick zu beleben. -Er dankte den seinen dem Kriege. So war der Friede -sein Feind, und Feinde alle, die den Frieden wollten.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault und Camus tauschten ihre Gedanken aus. -Sie tauschten sie so vollkommen aus, daß Clerambault -am Ende gar nicht mehr wußte, wohin die seinen gekommen -waren. Und je mehr er sich selber verlor, um so zwingender -empfand er das Bedürfnis, etwas zu tun. Das war für ihn -die beste Form, sich zu betätigen... Sich zu betätigen...? Verhängnisvollerweise -war es Camus, den er betätigte. Trotz -seiner Überzeugung und seiner gewohnten Leidenschaft war -er doch nur ein Echo geworden, und ein Echo welch’ erbärmlicher -Stimmen!</p> - -<p>Er begann Kriegsdithyramben zu schreiben. Darin wetteiferten -ja damals die Dichter hinter der Front. Ihre -Schöpfungen laufen allerdings nicht Gefahr, das Gedächtnis -der Zukunft allzusehr zu belästigen. Nichts in ihrer früheren -künstlerischen Laufbahn bestimmte diese armen Gesellen -zu solcher Aufgabe, und, ob sie auch das möglichste -taten, um ihre Stimmen aufzublähen und alle Register der -Rhetorik spielen zu lassen, die Soldaten im Schützengraben -zuckten doch darüber die Achseln. Aber den Leuten des Hinterlandes -gefiel ihr Pathos viel besser als jene lichtlosen und -gleichsam schmutzfarbenen Erzählungen, die aus dem Schützengraben -kamen. Die klare Vision eines Barbusse hatte -damals noch nicht diesen schattenhaften Schwätzern ihre -Wahrheit aufgezwungen. Für Clerambault bedeutete es -keine große Anstrengung, in diesem Wettkampf der Beredsamkeit -die Palme zu erringen. Er hatte die verhängnisvolle -Gabe jener rhythmischen und wortreichen Beredsamkeit, -die die Dichter von der Wirklichkeit trennt, indem sie -sie mit ihrem Spinnennetz umhüllt. In Friedenszeiten hing -dieses unschuldige Netz an Busch und Baum, der Wind -klang durch, und die sanfte Arachne suchte in ihren Maschen -nichts anderes einzufangen als das Licht. Jetzt aber, da -die Dichter in sich ihre blutgierigen (glücklicherweise schon -zahnlosen) Instinkte aufzüchteten, sah man in der Mitte ihres -Netzes ein bösartiges Tier eingefangen, dessen Auge auf -eine Beute lauerte. Sie sangen den Haß und die heilige -Schlächterei. Clerambault tat wie die anderen, sogar besser -als die anderen, denn seine Stimme war besser als die der -anderen, und vor lauter Schreien kam dieser brave Mensch -schließlich dazu, selbst Leidenschaften zu fühlen, die er gar nicht -hatte. Den Haß „endlich zu kennen“ (es war das „erkennen“ -im biblischen Sinn), dieses neue Gefühl hatte etwas vom -Kitzel niedrigen Stolzes, den ein Gymnasiast empfindet, -wenn er zum erstenmal aus einem zweifelhaften Hause herauskommt. -Denn jetzt erst fühlte er sich als ein ganzer -Mann. Und wirklich, es fehlte ihm nichts mehr, um der -Niedrigkeit der anderen ähnlich zu sein.</p> - -<p>Die ersten intimen Vorlesungen jedes seiner Gedichte waren -Camus vorbehalten, dem er sie ja verdankte. Und Camus -wieherte vor Begeisterung, denn er erkannte sich selbst darin. -Clerambault fühlte sich geschmeichelt, weil er jetzt hoffte, -in einem Rhythmus mit dem Volke zu fühlen und ganz in -sein Blut zu dringen. Die beiden Schwäger verbrachten die -Abende zusammen. Clerambault las vor, Camus trank die -Verse in sich ein. Er wußte sie auswendig, er erzählte jedem, -der es hören wollte, Victor Hugo sei auferstanden und jedes -dieser Gedichte bedeute einen Sieg. Seine lärmende Bewunderung -enthob die anderen Mitglieder der Familie -davon, ein Urteil aussprechen zu müssen. Rosine suchte -immer nach einem Vorwande, aus dem Zimmer hinauszuschlüpfen, -wenn die Vorlesung zu Ende war, was der -Eigenliebe Clerambaults nicht entging. Er hätte gern den -Eindruck auf seine Tochter gewußt, fand es aber klüger, sie -nicht darum zu befragen, und redete sich lieber selbst ein, daß -dieses Zurückziehen ein Zeichen von Bewegung und Scheu sei. -Aber doch, es verstimmte ihn. — Bald aber ließ ihn die -Zustimmung des Publikums diese kleine Peinlichkeit -vergessen. Seine Gedichte waren in den großen bürgerlichen -Blättern erschienen und wurden für Clerambault der glänzendste -Triumph seiner ganzen künstlerischen Laufbahn. Keines -seiner Werke hatte einen so einhelligen Enthusiasmus -hervorgerufen. Ein Dichter ist ja immer geneigt, seinem -letzten Werk den Titel seines besten zugebilligt zu hören und -ist es in noch höherem Maße, wenn er selbst weiß, daß es -das wertloseste ist. Clerambault war sich darüber vollkommen -im klaren, und eben darum genoß er mit einer fast -kindlichen Eitelkeit die Speichelleckereien der Presse. Abends -ließ er sie laut von Camus im Familienkreise vorlesen. Er -strahlte vor Vergnügen. Am liebsten hätte er gesagt, sobald -Camus fertig war: „Noch einmal.“</p> - -<p>Der einzige leise Mißton in diesem Konzert der Lobeshymnen -kam von Perrotin. (Natürlich redete sich Clerambault -ein, er hätte sich in ihm getäuscht, er sei kein rechter -Freund.) Der alte Gelehrte hatte allerdings Clerambault, -der ihm den Band seiner Kriegsgedichte zugeschickt hatte, -in höflicher Weise beglückwünscht. Er lobte sein großes Talent, -sagte aber durchaus nicht, daß dieses Buch sein schönstes -Werk sei. Ja er riet ihm sogar, „nun, nachdem er der kriegerischen -Muse seinen Tribut gebracht hätte, ein Werk des -reinen Traumes, losgelöst von der Gegenwart, zu schreiben“. -Was wollte er damit sagen? Gehört sich das, daß, -wenn ein Künstler ein Werk vorlegt und Zustimmung fordert, -man ihm antwortet: „ich möchte ein anderes lesen, -das diesem nicht gleicht?“ — Clerambault sah darin ein -neues Zeichen für die bedauerliche Lauheit des Patriotismus, -die er schon vorher bei Perrotin bemerkt hatte, und -dieser Mangel an Verständnis für seine Verse erkältete gänzlich -sein Gefühl für den alten Freund. Er sagte sich, der -Krieg sei die Goldprobe der Charaktere, eine Umwertung -der Werte, wo man auch die Freundschaft neu prüfen müsse, -und gab sich nicht Rechenschaft darüber, daß der Verlust -eines Perrotin nur unzulänglich ersetzt sei durch die Erwerbung -eines Camus und so vieler neuer Freunde, die -geistig freilich minderwertiger waren, aber jedenfalls schlichten -und warmen Herzens...</p> - -<p>Und doch, oft in der Nacht hatte Clerambault Minuten der -Bedrängnis und Angst. Er wachte plötzlich unruhig, erschreckt -und gedemütigt auf. Er fühlte sich unzufrieden und -beschämt... Aber weshalb denn? Tat er denn nicht seine -Pflicht?</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>ie ersten Briefe Maximes waren ein Trost, ein Herzstärkungsmittel, -von dem ein Tropfen genügte, um alle -Mutlosigkeit entschwinden zu lassen. Man lebte ganz in ihnen -während der langen Zwischenräume, in denen seine Nachrichten -eintrafen. Und trotz der Unruhe während dieser Pausen, -wo eine jede einzelne Sekunde dem geliebten Wesen verhängnisvoll -werden konnte, teilte sich doch diese seine Zuversicht -(die er vielleicht aus Liebe zu den Seinen oder aus -einem Aberglauben übertrieb) allen mit. Seine Briefe -strömten über von Jugend und einer begeisterten Freude, -die ihren höchsten Gipfel in den Tagen erreichte, die dem -Sieg an der Marne folgten. Die ganze Familie war gleichsam -gegen ihn hingestreckt, ein einziger Körper, eine Pflanze, -deren Blüte in Licht getaucht ist und zu der der Schaft zitternd -in mystischer Verehrung emporsteigt...</p> - -<p>Wie erstaunlich war auch dieses Licht, das jene Seelen -badete, die gestern noch verzärtelt und erschlafft gewesen -waren und die nun das Schicksal in den teuflischen Feuerkreis -des Krieges warf! Es war das Licht des Todes oder -des Spiels mit dem Tode! Maxime, dieses große, zarte, -verzärtelte und gelangweilte Kind, das in der Friedenszeit -sich wie eine kleine Mätresse aufputzte, fand einen unerwarteten -Genuß in den Entbehrungen und harten Anforderungen -seines neuen Lebens. Begeistert von sich selbst, -kehrte er dieses Gefühl in seinen ein wenig großsprecherischen -Briefen hervor, die das Herz seiner Eltern entzückten. Nun -war weder seine Mutter eine Heldin Corneilles, noch sein -Vater ein Römer, und der Gedanke, ihr Kind einer barbarischen -Idee hinzuopfern, wäre ihnen entsetzlich gewesen. -Aber die plötzliche Verwandlung ihres Kleinen in einen -Helden gab ihnen eine Fülle nie gefühlter Zärtlichkeit. Und -trotz ihrer Unruhe erfüllte sie die Extase ihres Maxime -beide mit einer neuen Trunkenheit, die sie undankbar machte -für das Leben von einst, das gute, friedliche, stille Leben, -das zärtliche, mit seinen langen, eintönigen Tagen. Maxime -hatte für jene Zeit eine amüsante Verachtung. Sie -schien ihm eng, klein, lächerlich, wenn man einmal gesehen -hatte, was „da draußen“ vorging... „Da draußen“ war -man zufrieden, drei Stunden jede Nacht auf der harten -Erde zu schlafen oder auf einem Bündel Stroh, zufrieden, -sich um drei Uhr früh auf die Beine zu machen und sie mit -dreißig Kilometer Marsch zu erwärmen, mit dem Tornister -auf dem Rücken ein Schwitzbad von acht bis zehn Stunden zu -nehmen, und zufrieden vor allem, endlich einmal den Feind -zu erwischen und aus der gedeckten Stellung auf den Boche -hinzupfeffern... Der kleine Cyrano erzählte, daß der -Kampf geradezu eine Erholung nach dem Marschieren sei, -und er schrieb über ein Scharmützel wie über ein Konzert oder -ein Kinostück. Der Rhythmus der Geschosse, der Krach ihres -Abschusses und ihre Explosion erinnerten ihn an die Paukenschläge -im göttlichen Scherzo der Neunten Symphonie, -und wenn diese stählernen Fliegen mutwillig, wild, heimtückisch, -bösartig oder bloß mit einer liebenswürdigen Ungezwungenheit -über ihren Köpfen ihre Luftmusik machten, -hatte er das Gefühl eines Pariser Lausbuben, der aus dem -Hause stürzt, um eine schöne Feuersbrunst anzuschauen. Es -gab keine Müdigkeit mehr, der Geist und der Körper waren -frisch. Wenn endlich das lang erwartete „Vorwärts, marsch“ -ertönte, sprang man mit einem Ruck leicht wie eine Feder -auf zur nächsten Deckung, quer durch den Eisenschauer, mit -einer wilden Freude am Aufspüren, wie ein Hund, der das -Wild wittert. Man kroch auf allen Vieren, man schlängelte -sich auf dem Bauch nach vorwärts, man lief gekrümmt geradeaus, -machte schwedische Gymnastik durch die Verhaue, -und das ließ einen vergessen, daß man nicht mehr marschieren -konnte. Kam dann die Nacht, so sagte man sich: Was, -es ist schon Abend? Was haben wir denn heute gemacht? -„Langweilig ist im Kriege nur“, so beschloß der kleine -gallische Hahn seine Erzählung, „das, was man auch im -Frieden macht, nämlich das Marschieren auf der Landstraße.“</p> - -<p>So sprachen die jungen Leute in den ersten Monaten des -Feldzuges, die Soldaten der Marneschlacht, des Bewegungskrieges. -Hätte er weiter angedauert, so wäre vielleicht die -Rasse der Sansculotten der Revolution neu erstanden, die, -sobald sie einmal für die Eroberung der Welt ausgezogen -waren, nicht mehr haltmachen konnten.</p> - -<p>Aber sie mußten doch haltmachen. Und vom Augenblicke -an, wo sie in den Schützengräben eingepökelt waren, änderte -sich der Ton. Er verlor seinen Schwung, seine knabenhafte -Sorglosigkeit, er wurde von Tag zu Tag männlicher, -stoischer, zurückhaltender, beherrschter; Maxime fuhr fort, -seine Überzeugung vom Endsieg zu betonen. Schließlich -sprach er nicht einmal davon mehr, er sprach nur noch von -der notwendigen Pflicht, und bald hörte er auch davon zu -sprechen auf, seine Briefe wurden trocken, grau, müde.</p> - -<p>Im Hinterland aber verminderte sich die Begeisterung durchaus -nicht. Clerambault ließ nicht nach, wie ein Orgelbalg -weiterzudröhnen. Aber von Maxime klang nicht mehr das -erwartete und erhoffte Echo.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>P</span>lötzlich kam er auf einige Tage Urlaub zurück. Er hatte -niemanden zuvor verständigt. Auf der Treppe blieb er -stehen, seine Füße waren ihm schwer. Obwohl er kräftiger -aussah, wurde er rascher müde, und dann: er war erregt. -Aber er faßte wieder Atem und stieg die Treppe vollends -empor. Seine Mutter öffnete auf sein Klingeln, sie schrie -auf vor Überraschung. Clerambault, der in der Wohnung -in ewiger Langeweile und Erwartung hin und her trottete, -lief lärmend herbei. Es gab ein lautes Wiedersehen. Nach -einigen Minuten ließen die Umarmungen und das zusammenhanglose -Reden nach, Maxime mußte zum Fenster, sich -ins Licht hinsetzen und sich von ihren entzückten Blicken -betrachten lassen. Sie waren begeistert über seine braune -Hautfarbe, seine vollen Wangen, sein gutes Aussehen; sein -Vater tat die Arme auf und rief ihn an: „Mein Held!“ — -Und Maxime, mit zusammengeballten Händen, fühlte plötzlich, -daß es ihm unmöglich sei, etwas zu sagen.</p> - -<p>Bei Tisch verzehrte man ihn mit den Blicken, man trank -seine Worte. Aber er sprach beinahe nichts. Die übertriebene -Begeisterung der Seinen hatte sein erstes leidenschaftliches -Gefühl irgendwie gebrochen. Glücklicherweise merkten -sie es nicht. Sie schoben sein Schweigen der Müdigkeit und -dem Hunger zu. Übrigens sprach Clerambault für zwei, -er erzählte Maxime, wie es in den Schützengräben zugehe, -und die gute Frau Pauline wurde in seinen Worten die -Cornelia des Plutarch. Maxime sah sie an, aß, sah sie von -neuem an: ein Abgrund war zwischen ihnen.</p> - -<p>Zu Ende der Mahlzeit, als er im Zimmer seines Vaters in -einem Fauteuil saß und seine Zigarre rauchte, konnte er -nicht anders, als endlich die Erwartung der guten Leute zufriedenzustellen. -Er begann also, in ruhiger, sachlicher Weise -seine Tageseinteilung zu schildern, und in einer besonderen -Schamhaftigkeit war er darauf bedacht, in seinen Erzählungen -jedes übertriebene Wort und vor allem die tragischen -Bilder zu vermeiden. Sie hörten zu, zitternd vor Erwartung, -und sie warteten noch immer, als er schon zu Ende -war. Dann gab es ihrerseits einen ganzen Sturm von -Fragen, Maxime antwortete darauf mit wenigen Worten, -hastig und ohne Feuer. Schließlich versuchte Clerambault, -„seinen lustigen Jungen“ aufzumuntern und gab ihm jovial -einige Stöße.</p> - -<p>„Na also, erzähl’ ein bißchen... so von einem Gefecht bei -euch..., das muß aber schön sein..., was für eine schöne -Sache doch dieser heilige Glaube ist... bei Gott, das möchte -ich einmal sehen, ich möchte gern an deiner Stelle sein.“</p> - -<p>Maxime antwortete:</p> - -<p>„Alle diese schönen Dinge siehst du besser von hier aus.“</p> - -<p>Seit er im Schützengraben war, hatte er keinen Kampf -mehr und kaum irgendeinen Deutschen gesehen. Einzig den -Dreck und das Wasser. — Aber sie glaubten es ihm nicht, -sie dachten, er rede so aus dem Widerspruchsgeist, den sie -bei ihm von Kind an kannten.</p> - -<p>„Du Spaßvogel“, sagte Clerambault lachend. „Also was -macht ihr denn den ganzen Tag da in euren Gräben?“</p> - -<p>„Man verkriecht sich und schlägt die Zeit tot, die ist unser -größter Feind.“</p> - -<p>Clerambault stieß mit dem Ellenbogen Maxime in die Seite.</p> - -<p>„Aber was, andere schlagt ihr doch auch tot!“</p> - -<p>Maxime wendete sich zur Seite, sah den guten, neugierigen -Blick seines Vaters und seiner Mutter und sagte:</p> - -<p>„Nein, reden wir über andere Dinge.“</p> - -<p>Und nach einem Augenblick:</p> - -<p>„Wollt ihr mir ein Vergnügen machen, dann fragt mich -heute nichts mehr.“</p> - -<p>Erstaunt gaben sie ihm nach und redeten sich ein, er sei erschöpft -und bedürfe der Ruhe. Sie erwiesen ihm alle möglichen -kleinen Aufmerksamkeiten, aber dennoch brach Clerambault -jeden Augenblick gegen seinen eigenen Willen in -begeisterte Ansprachen aus, die eine Antwort oder eine Zustimmung -erforderten. Das Wort „Freiheit“ war der Kehrreim -aller dieser Tiraden. Maxime lächelte blaß und beobachtete -Rosine, deren Benehmen seltsam schien. Als ihr -Bruder eingetreten war, hatte sie sich ihm in die Arme geworfen, -aber dann hielt sie sich zurück, fast in einer gewissen -Distanz. Sie nahm nicht teil an den Fragen ihrer Eltern, -und statt die Mitteilungen Maximes zu provozieren, schien -sie sie eher zu fürchten. Die Zudringlichkeit ihres Vaters -war ihr peinlich, und die Furcht vor dem, was ihr Bruder -hätte sagen können, verriet sich in unmerklichen Bewegungen -oder flüchtigen Blicken, die einzig Maxime erfaßte. Er -wieder fühlte die gleiche Scheu und vermied es, mit ihr -allein zu bleiben, und doch waren sie einander nie im Geiste so -nahe gewesen. Nur wagten sie sich nicht einzugestehen, warum.</p> - -<p>Maxime mußte es sich gefallen lassen, allen Bekannten des -Vaters vorgeführt zu werden. Man schleppte ihn in Paris -zu seiner Zerstreuung herum. Trotz ihrer Trauerkleider zeigte -die Stadt wieder ihr lachendes Antlitz. Das Unglück und die -Sorgen verbargen sich zu Hause oder in der Tiefe der stolzen -Herzen, der ewige Jahrmarkt aber breitete in den Straßen, -in den Zeitungen seine zufriedene Maske aus. Das Publikum -der Kaffeehäuser und der Teesalons war bereit, zwanzig -Jahre durchzuhalten, wenn es not tat. Maxime, der mit -den Seinen an einem kleinen Tischchen in der Konditorei inmitten -des heiteren Geschwätzes und dem Duft der Frauen -saß, sah plötzlich den Unterstand, wo sie sechsundzwanzig -Tage mit Geschossen bombardiert worden waren, ohne aus -dem glitschigen Graben heraus zu können, in dem ihnen -die Leichen als Schutzwand dienten... Die Hand seiner -Mutter legte sich auf die seine. Er wachte auf, sah die zärtlichen -Augen der Seinen, die nach seiner Sorge fragten, sofort -machte er sich Vorwürfe, die armen Leute zu beunruhigen, -lachte, schaute herum, und zwang sich, lustig zu -sprechen. Seine übermütig knabenhafte Leichtigkeit kam -wieder, und das Antlitz Clerambaults, das sich für einen -Augenblick verdüstert hatte, wurde hell, sein Blick dankte unbewußt -Maxime.</p> - -<p>Aber er mußte noch weiter auf der Hut sein. Als sie aus -der Konditorei herauskamen (Clerambault stützte sich auf -den Arm seines Sohnes), begegneten sie auf der Straße -einem Militärbegräbnis. Es gab Kränze, Uniformen, irgendeinen -Alten von der Akademie, seinen Säbel zwischen -den Beinen, und eine Blechmusik, die ihre heroische -Klage anstimmte. Die Menge bildete ernste Reihen. Clerambault -blieb stehen und nahm mit großer Geste den Hut -ab. Seine linke Hand drückte den Arm Maximes fester. -Da fühlte er ihn zittern und sah seinen Sohn an. Er sah, -daß er eine seltsame Miene machte, glaubte, daß Maxime -erschüttert sei und wollte ihn wegziehen. Aber Maxime -rührte sich nicht. Maxime war nur erstaunt:</p> - -<p>„Ein Toter“, dachte er, „so viel Getue für einen Toten... -dort draußen trampelt man darüber hinweg... fünfhundert -Tote in der Tagesmeldung, das ist unser Durchschnitt...“</p> - -<p>Ein kleines böses Lachen fuhr ihm über die Lippen. Erschrocken -zog ihn Clerambault am Arme fort.</p> - -<p>„Komm!“ sagte er.</p> - -<p>Sie gingen weiter.</p> - -<p>„Wenn sie sehen würden“, dachte sich Maxime, „wenn diese -Leute einmal wirklich sehen würden... die ganze Gesellschaft -würde zusammenbrechen... aber sie werden es ja -nie einsehen, denn sie wollen ja nicht sehen.“</p> - -<p>Und seine plötzlich schmerzhaft scharf sehenden Augen sahen -mit einem Male rings um sich... den Feind: die Gleichgültigkeit -der Welt, die Dummheit, den Egoismus, den Wucher, -die Wurstigkeit, den Kriegsgewinn, den Kriegsgenuß, die -Lüge bis zu ihren letzten Wurzeln, die in Sicherheit Sitzenden, -die Drückeberger, die Polizeiknechte, die Munitionsfabrikanten -mit ihren frech fahrenden Autos, die Kanonen -glichen, sahen deren Frauen mit den hohen Schuhen und -den knallroten Lippen, diese gierigen Leckermäuler... ah, sie -sind zufrieden, alles geht gut... das kann noch lange dauern... -Eine Hälfte der Menschheit frißt die andere auf.</p> - -<p>Sie kehrten heim. Am Abend nach dem Essen war Clerambault -schon ganz ungeduldig, Maxime sein letztes Gedicht -vorzulesen. Die Absicht, aus der er es geschrieben, war -rührend und ein wenig lächerlich, denn aus Liebe zu seinem -Sohn versuchte er wenigstens im Geiste, sein Gefährte im -Ruhm und in der Qual zu sein. Von ferne beschrieb er -darin „das Morgenrot im Schützengraben“. Zweimal -stand er auf, um das Manuskript zu holen. Aber immer, -wenn er die Blätter schon hielt, hinderte ihn eine Scham. -Er setzte sich mit leeren Händen wieder hin.</p> - -<p>Die Tage gingen rasch vorbei. Sie fühlten sich körperlich -nahe, aber ihre Seelen berührten einander nicht. Keiner -von ihnen wollte es eingestehen, und jeder wußte es. Traurigkeit -stand zwischen ihnen, und sie zwangen sich, ihre wirkliche -Ursache nicht zu sehen, und zogen vor, sie der nahen -Rückreise zuzuschieben. Von Zeit zu Zeit machte der Vater -oder die Mutter einen neuen Versuch, die alte Intimität -wiederherzustellen. Jedesmal war es die gleiche Enttäuschung, -Maxime fühlte, daß er sich mit ihnen und mit keinem -vom Hinterland verständlich machen könne, daß seine -und ihre Welt zwei verschiedene geworden waren. Würden sie -einander niemals wiederfinden?... Und doch verstand er -sie nur zu gut! War er doch selbst dem gefährlichen Einfluß, -der auf ihnen lastete, früher unterlegen und erst dort -draußen wach geworden an der Berührung mit den Leiden -und dem wirklichen Tode. Aber gerade weil er selbst ein -Opfer gewesen war, wußte er, daß es unmöglich sei, die -anderen mit Worten zu heilen. So schwieg er, ließ die -anderen reden, lächelte, nickte, ohne zuzuhören. Was das -Hinterland beschäftigte, das Gebrüll der Zeitungen, die persönlichen -Streitigkeiten (und welcher Persönlichkeiten, der -alten Hanswurste und gierigen Politiker!), das patriotische -Geschwätz der Schreibtischstrategen, die Aufregung über das -schlechte Brot und die Zuckerkarte, oder über die Tage, an denen -die Konditoreien geschlossen waren — all das erfüllte ihn -mit einem Ekel der Langeweile, einem unendlichen Mitleid -mit diesem Volk des Hinterlandes, dem er sich bis ins -Tiefste fremd fühlte.</p> - -<p>So schloß er sich immer mehr in ein rätselhaftes, dumpfes -Schweigen ein. Nur für Augenblicke zwang er sich heraus, -wenn er an die kurze Zeit dachte, die er noch mit den guten -Menschen zu teilen hatte, die ihn so sehr liebten. Dann begann -er plötzlich belebt zu sprechen, gleichgültig worüber. -Das Wichtigste war ja doch, daß man Worte machte, wenn -man schon seine Gedanken nicht sagen durfte. Natürlich fiel -man immer wieder auf die Gemeinplätze des Tages zurück, -die politischen, militärischen, die allgemeinen Fragen, alle -die Dinge, die sie ebenso gut in ihrer Zeitung hätten lesen -können. „Die Zerschmetterung der Barbaren“, der „Triumph -des Rechtes“ füllten die Reden, die Gedanken Clerambaults -aus. Maxime hörte seine Predigten gläubig an -und sagte, wenn die Messe zu Ende war, sein „<span class='it'>cum spirito -tuo</span>“. Aber beide warteten nur auf eines: -<span class='gesp'>daß</span> <span class='gesp'>der</span> <span class='gesp'>andere</span> <span class='gesp'>endlich</span> <span class='gesp'>anfangen</span> <span class='gesp'>würde</span> <span class='gesp'>zu</span> <span class='gesp'>sprechen</span>.</p> - -<p>Sie warteten so lange, bis schließlich der Tag der Trennung -kam. Kurz vor seiner Abreise trat Maxime in das Zimmer -seines Vaters. Er war entschlossen, sich mit ihm auseinanderzusetzen:</p> - -<p>„Papa, bist du eigentlich ganz sicher?...“</p> - -<p>Die Verwirrung auf dem Antlitz seines Vaters hinderte ihn -weiterzusprechen. Ein plötzliches Mitleid überkam ihn. Und -er fragte nur, ob sein Vater wirklich sicher sei über die Stunde -der Abfahrt. Clerambault nahm das Ende dieser Frage -mit allzu sichtlicher Erleichterung auf, und kaum daß er -nochmals die Auskunft gegeben hatte — auf die Maxime gar -nicht hörte — begann er von neuem, seinen Redestrom loszulassen -und sich in den gewöhnlichen idealistischen Deklamationen -zu ergehen. Maxime schwieg enttäuscht. Während -der letzten Stunde sagten sie sich nur Oberflächlichkeiten. -Alle, außer der Mutter, fühlten, daß sie das Wirkliche -verschwiegen. Äußerlich hatten sie alle heitere und vertrauensvolle -Worte, sichtliche Erregung, im Herzen den -ewigen Seufzer: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du -mich verlassen?“</p> - -<p>Schließlich ging Maxime. Im tiefsten Herzen war er erleichtert, -wieder an die Front zurückzukehren. Der Abgrund, -den er zwischen der Front und dem Hinterlande fühlte, -schien ihm tiefer zu sein als alle Schützengräben, und er -wußte, daß das Mörderischste nicht die Kanonen waren, -sondern die Ideen. Wie er am Fenster des wegrollenden -Waggons die erschütterten Gesichter entschwinden sah, -dachte er:</p> - -<p>„Arme Leute! Ihr seid ihre Opfer! Und wir sind die -euren!...“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>A</span>m Tage nach seiner Rückkehr an die Front brach die große -Frühlingsoffensive los, die dem Feind von den redseligen -Zeitungen bereits seit längeren Wochen angedroht worden -war. Mit ihr hatte man die Hoffnung der ganzen Nation -während des dumpfen Winters der Erwartung und der -totenähnlichen Starre unablässig genährt. Ein Schauer ungeduldiger -Freude erhob sich im ganzen Volke, man war -des Sieges sicher und rief ihm das „endlich!“ zu.</p> - -<p>Die erste Nachricht schien dieser Hoffnung recht zu geben. -Sie erzählte, wie es der Brauch ist, natürlich nur von den -Verlusten des Feindes. Alle Gesichter strahlten. Die Eltern, -deren Kinder, die Frauen, deren Männer draußen waren, -fühlten sich erhoben bei dem Gedanken, daß ihre Schöpfung -und ihre Liebe teil hatte am blutigen Liebesmahl. In ihrer -Begeisterung kamen sie kaum auf den Gedanken, daß der -Ihre auch ein Opfer sein konnte. Dieser Fieberzustand war -derartig, daß Clerambault, der doch ein zärtlicher, liebevoller -und für die Seinen besorgter Vater war, nur fürchtete, -sein Sohn sei vielleicht noch nicht rechtzeitig zurück gewesen, -um an dem „glorreichen Tag“ teilzunehmen. Sein -ganzer Gedanke war, er möchte dabei gewesen sein, seine -glühendsten Wünsche warfen ihn in den Abgrund hinein. -Er opferte ihn auf, er gab ihn und sein Leben hin, ohne -sich zu fragen, ob der Wille seines Kindes selbst damit einverstanden -war. Da er, Clerambault, sich selbst nicht mehr -gehörte, konnte er es einfach nicht mehr verstehen, daß ein -anderer seiner Nächsten sich noch selbst gehörte. Die dunkle -Gewalt des Masseninstinkts hatte alles aufgezehrt.</p> - -<p>Und doch, manchmal ließ ihn irgendein Rest von Selbstanalyse -einige Spuren seiner früheren Natur wiederfinden. -Es war immer, wie wenn man einen empfindlichen Nerv -berührt — ein dumpfer Schlag, ein Schatten von Schmerz. -Aber er geht vorbei, und man leugnet ihn dann.</p> - -<p>Nach drei Wochen stapfte die erschöpfte Offensive noch immer -auf den blutgedüngten Kilometern herum. Die Zeitungen -begannen die Aufmerksamkeit abzulenken, indem sie -das Interesse auf irgendein anderes Thema lockten. Maxime -hatte seit seiner Abreise nicht mehr geschrieben. Man -suchte, um sich zu gedulden, irgendeinen jener Vorwände, -wie sie die Vernunft ja so gefällig gibt, aber das Herz -glaubt nicht an sie. Wieder gingen acht Tage vorbei. Untereinander -tat jeder der drei so, als ob er zuversichtlich wäre. -Aber in der Nacht, wenn jeder allein in seinem Zimmer -war, schrie die Seele in ihrer Angst auf. Ganze Stunden -lang war das Ohr auf der Lauer, horchte, die Nerven zum -Zerreißen angespannt auf jeden Schritt, der die Treppe emporkam, -lauschte auf die Klingel oder die Berührung einer -Hand, die an die Tür streifte.</p> - -<p>Allmählich kamen die ersten offiziellen Nachrichten über die -Verluste. In mehreren befreundeten Familien zählte man -schon einige Tote und Verwundete. Jene, die alles verloren -hatten, beneideten diejenigen, denen ihre Lieben vielleicht -blutend und verstümmelt, doch wenigstens würden wiedergegeben -werden. Einige hüllten sich in ihre Toten ein wie -in die Nacht, für sie war der Krieg zu Ende, das Leben zu -Ende. Bei anderen aber blieb in erstaunlicher Weise die ursprüngliche -Exaltation beharrlich: Clerambault sah eine Mutter, -die ihr Patriotismus und ihre Trauer so fieberig entflammten, -daß man fast das Gefühl hatte, sie freue sich am -Tod ihres Sohnes. Sie sagte mit fanatischer und leidenschaftlich -zusammengeballter Freude: „Ich habe alles gegeben, -ich habe alles hingegeben“, so wie eine, die im Taumel -der letzten Sekunden spricht, ehe sie sich mit ihrem Geliebten -ins Wasser stürzt. Aber Clerambault, schwächeren -Wesens oder schon aus seinem Taumel erwachend, dachte -immer nur:</p> - -<p>„Auch ich habe alles gegeben — sogar das, was mir nicht -mehr gehörte.“</p> - -<p>Er wandte sich an die militärische Behörde. Man wußte -noch nichts. Acht Tage später kam die Nachricht, daß der -Sergeant Clerambault Maxime als „vermißt“ seit der Nacht -vom 27./28. des vergangenen Monats verzeichnet war. In -den Pariser Büros konnte Clerambault keine weiteren Einzelheiten -erfahren. Er fuhr nach Genf, suchte das Rote -Kreuz, das Büro der Gefangenen auf, erfuhr nichts, -stürzte sich auf jede Fährte, erhielt die Erlaubnis, in den -Hospitälern und Etappendepots die Kameraden seines Sohnes -befragen zu dürfen, die ganz entgegengesetzte Auskünfte -gaben. (Die einen sagten, er sei gefangen, die anderen -hatten ihn tot gesehen — am nächsten Tage gaben beide -zu, daß sie sich geirrt hatten... o Qual... Gott, was für -ein Henker bist du!...) Und nach zehn Tagen kam er endlich -von diesem Passionsweg gealtert, gebrochen, erschöpft heim.</p> - -<p>Er fand seine Frau in einem Paroxismus lauten Schmerzes, -der sich bei diesem gutmütigen Wesen in einen rasenden -Haß gegen den Feind verwandelt hatte. Sie schrie nur -Rache und Rache. Zum erstenmal antwortete ihr Clerambault -nicht. Es blieb ihm keine Kraft mehr zu hassen — -er verbrauchte seine ganze im Leiden.</p> - -<p>Er schloß sich in sein Zimmer ein. Während dieser ganzen -furchtbaren zehntägigen Pilgerfahrt hatte er sich kaum ein -einziges Mal seinen Gedanken gegenübergestellt. Nur eine -Idee hatte ihn Tag und Nacht hypnotisiert, so wie einen -Hund auf der Fährte: nur schneller, nur rascher vorwärts -kommen. Die Langsamkeit der Wagen und Züge hatte ihn -verzehrt. Es war vorgekommen, daß er ein Zimmer für die -Nacht bestellte und doch noch am selben Abend wieder abreiste, -ohne sich Zeit zur Erholung zu lassen, und dieses Fieber -der Hast und Erwartung hatte alles aufgeschluckt. Es machte -ihn unfähigen (zu seinem Glück), irgendwie im Zusammenhang -zu denken. Aber jetzt war die Hetzjagd zu Ende, die Vernunft -fand sich wieder, atemlos und röchelnd. Clerambault war jetzt -gewiß, daß Maxime tot sei. Er hatte es seiner Frau nicht gesagt -und ihr einige Mitteilungen verschwiegen, die ihm jede -Hoffnung raubten, denn sie war eine jener Naturen, für die -es ein Lebensbedürfnis ist, sich selbst gegen alle Vernunft einen -Schein von Lüge zu bewahren, der sie so lange noch aufrecht -hält, bis die große Flut des Schmerzes ein wenig verebbt -ist. Vielleicht wäre Clerambault vordem auch einer dieser -Menschen gewesen, aber jetzt erkannte er schon zu gut, wohin -dieser Selbstbetrug geführt hatte. Er wagte noch nicht zu -richten, versuchte überhaupt noch kein Urteil, er lag nur da -in seiner Nacht, zu schwach, sich aufzurichten, rings um sich -zu tasten, lag wie einer, der nach einem Sturz seinen zerschmetterten -Körper regt und erst an seinem Schmerze gewahr -wird, daß er noch lebt und sich bemüht, zu verstehen, -was ihm eigentlich zugestoßen sei. Der weit aufgerissene -tiefe Abgrund dieses Todes starrte ihn an und bezauberte -ihn. Dieses schöne Kind, das man mit so viel Lust, mit so -viel Mühe erzogen hatte, dieser Reichtum an blühender Hoffnung, -das kleine, unvergleichliche Weltall, das ein junger -Mensch bedeutet, dieser Baum von Jesse, dieses kommende -Jahrhundert... all das zerstört in einer Stunde... und -wofür? Wofür?</p> - -<p>Er versuchte sich wenigstens zu überreden, daß es für etwas -sehr Großes und Notwendiges geschehen sei. Mit Verzweiflung -klammerte sich Clerambault in den folgenden Tagen -und Nächten an diese Boje, er wußte, wenn seine Finger -sie losließen, müsse er ertrinken. Noch gewaltsamer suchte -er die Heiligkeit der Sache zu betonen, obwohl er es vermied, -darüber zu diskutieren. Aber seine Finger klammerten -sich immer schwächer an, bei jeder Bewegung sank er -mehr hinab in die Tiefe, bei jeder neuen Bekräftigung des -Rechtes und der Gerechtigkeit erhob sich aus seinem Gewissen -wie ein finsterer Donner eine Stimme, die sagte:</p> - -<p>„Und wenn ihr auch zwanzigtausendmal mehr Recht hättet -in eurem Kampf, kauft dies, daß eure Vernunft recht behält, -das entsetzliche Unglück darum schon zurück, mit dem -es bezahlt ist? Wiegt euer Recht die Millionen Unschuldigen -auf, die als Pfand des Unrechts und des Irrtums -der andern fallen? Wäscht ein Verbrechen das andere rein, -ein Mord den andern? War es wirklich nötig, daß eure -Söhne nicht nur Opfer, sondern auch Mitschuldige waren, -nicht nur Ermordete, sondern auch Mörder?“</p> - -<p>Er sah im Geiste noch einmal den letzten Besuch seines Sohnes, -hörte ihre letzten Gespräche, und alles wiederholte sich -in seinem Herzen. Wieviel Dinge verstand er jetzt, die er -damals nicht verstanden hatte! All das oftmalige Schweigen -Maximes, die Vorwürfe seiner Augen... Aber das -Schlimmste von allem für ihn kam, als er sich darüber klar -wurde, daß er sie schon damals verstanden hatte, damals, -als sein Sohn noch da war, und daß er sie nur nicht hatte -verstehen wollen.</p> - -<p>Und diese Entdeckung, die er schon seit einigen Wochen wie -eine finstere Drohung über sich schweben fühlte — diese Entdeckung -seiner inneren Lüge erdrückte ihn.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>R</span>osine Clerambault war bis zum gegenwärtigen kritischen -Augenblick gleichsam verloschen gewesen. Die anderen, -und beinahe sie selbst, wußten nichts von ihrem Innenleben, -kaum ihr Vater hatte davon eine deutliche Ahnung. Ohne -Freundinnen oder gleichalterige Kameradinnen hatte sie die -ganze Zeit unter dem Schutzmantel der Wärme selbstsüchtiger -und erstickender Familienzärtlichkeit dahingelebt. Die Eltern -standen zwischen ihr und der äußeren Welt, sie war -schon daran gewöhnt, in ihrem Schatten dahinzuleben; -sehnte sie sich dann, als sie herangewachsen war, aus dieser -Sphäre herauszukommen, so wagte sie es nicht, wußte auch -gar nicht, was mit sich anfangen. Denn kaum, daß sie -aus dem Familienkreise heraustrat, fühlte sie sich gehemmt, -ihre Bewegungen wurden ungelenk, sie konnte kaum sprechen, -und das allgemeine Urteil fand sie unbedeutend. Sie -wußte das und litt daran, denn sie war nicht ohne Selbstgefühl. -So ging sie so wenig als möglich aus, blieb in -ihrem Kreise, still, einfach und natürlich, und diese Stille -war nicht die Folge einer Trägheit des Denkens, sondern -der Geschwätzigkeit der anderen. Der Vater, die Mutter, der -Bruder waren alle überschwänglich, so schloß sich dieses -kleine Wesen aus Gegensätzlichkeit in sich selbst ein. Aber sie -hielt Zwiesprache mit sich in ihrem Herzen.</p> - -<p>Sie war blond, groß und schmal, hatte die Formen eines -Knaben, hübsches Haar, dessen Locken leicht über die Wangen -spielten, einen großen und ernsten Mund. Die untere Lippe -war gegen die Mundwinkel zu etwas voll, sie hatte große, -stille, träumerische Augen, fein und zart gezogene Brauen -und ein hübsches Kinn. Auch ihr Hals war hübsch, ihre -Brust zart und ebenso die Hüfte, nur die Hände etwas rot -und groß mit vollen Adern. Ein Nichts konnte sie erröten -machen. Der Reiz ihrer Jugend lag in der Stirn und im -Kinn, die Augen fragten nur herum, träumten, aber verrieten -nichts.</p> - -<p>Ihr Vater hatte eine Vorliebe für sie, ebenso wie die Mutter -für den Sohn: es gab zwischen ihnen geheime Beziehungen. -Ohne es zu wollen, hatte Clerambault unaufhörlich -sich des Mädchens seit dessen Kindheit mit seiner Zärtlichkeit -bemächtigt und hielt es unablässig darin gefangen. -Er hatte zum Teil selbst Rosinens Erziehung geleitet und -sie mit der oft ein wenig aufdringlichen Naivität des Künstlers -zu seiner Vertrauten gemacht. Dazu verführte ihn sein -überströmendes Wesen, sein Bedürfnis, sich mitzuteilen, und -das geringe Echo, das er bei seiner Frau fand: dieser guten -Frau, die vor ihm auf den Knien lag und dort gewissermaßen -liegen geblieben war. Sie sagte „ja“ zu allem, was -er sagte, bewunderte ihn voll Vertrauen, aber sie verstand -ihn nicht und merkte es nicht einmal, daß sie ihn nicht verstand. -Das Wichtigste waren für sie nicht die Ideen ihres -Mannes, sondern er selbst, seine Gesundheit, seine Zufriedenheit, -seine Bequemlichkeit, seine Kleidung und Nahrung. -Clerambault als dankbare Natur fällte kein Urteil über seine -Frau, ebensowenig wie Rosine über ihre Mutter, aber beider -Instinkt wußte wohl, was von ihr zu halten war, und dies -war ein geheimes Band, das sie einte. Clerambault bemerkte -gar nicht, daß er allmählich aus seiner Tochter seine -wahre geistige Gattin und Gefährtin gemacht hatte; erst in -der letzten Zeit wurde er dessen ahnend gewahr, als die -politische Krise zwischen ihnen die stillschweigende Übereinstimmung -löste und ihm plötzlich die Zustimmung, die geheime -Neigung Rosinens fehlte. Rosine wußte all die Dinge -längst vor ihm, sie vermied nur, ihr Geheimnis näher zu -untersuchen. Das Herz braucht für sein Wissen nicht den -Appell an den Verstand.</p> - -<p>Seltsames und wundervolles Geheimnis der Liebe, die die -Seelen verbindet! Sie weiß unabhängig zu bleiben von -den Gesetzen der Gesellschaft und selbst der Natur, aber nur -wenige Menschen werden dessen gewahr, und noch wenigere -wagen es, sich es einzugestehen, aus Furcht vor der Plumpheit -der Welt, die immer nur Gesamturteile hören will und -sich an den engen Sinn der Gewohnheitssprache hält. Aber -in dieser konventionell abgeschliffenen Sprache, die aus gesellschaftlicher -Vereinfachung mit Absicht ungenau bleibt, -sind die Worte weit davon entfernt, die lebendigen Nuancen -der vielfältigen Wirklichkeit zu offenbaren und aufzuschließen, -im Gegenteil, sie fesseln, uniformieren, versteinern sie und -stoßen sie in den Dienst der selbst an die Kette gelegten Vernunft -— jener Vernunft, die nicht aus den Tiefen des -Geistes entspringt sondern — wie eine Fontäne in Versailles -— aus weiten, in das Gefüge der zivilisierten -Gesellschaft eingemauerten Wasserflächen. In diesem gleichsam -juristischen Vokabular ist die Liebe an das Geschlecht, an -das Alter, an gewisse gesellschaftliche Klassen gebunden, und -je nachdem, ob sie sich den geltenden Umständen fügt, -entweder als natürlich oder nicht, als legitim oder nicht -anerkannt.</p> - -<p>Aber was diese Worte erhaschen, ist nur ein dünnes Rinnsal -aus den tiefen Quellen der Liebe. Die unendliche Liebe, -gleichsam das Schwergewichtsgesetz, das die Welten bewegt, -kümmert sich nicht um den Rahmen, den wir um -ihr Wesen ziehen. Sie geschieht zwischen Seelen, die alles -innerhalb Raum und Zeit voneinander zu entfernen scheint, -über Jahrhunderte hinweg eint sie die Gedanken von Lebenden -und Toten, sie schlingt enge und keusche Bindung zwischen -Alten und Jungen, bringt den Freund dem Freunde und oft -die Seele des Kindes der eines Greises näher, als sie beide, -Mann oder Frau, jemals vielleicht in ihrem Leben Gefährtin -oder Gefährten finden werden. Zwischen Vater und Kind -gibt es oft solche Bindungen, ohne daß beide ihrer gewahr -würden. Und „des Menschen Geschlechte“ (wie unsere Vorväter -sagten) zählen so wenig im ewigen Antlitz der Liebe, -daß zwischen Vätern und Kindern die Beziehungen vertauscht -sind und die Kinder oft nicht die Jüngeren sind von beiden, -sondern der Vater das wahre Kind ist. Wieviel Söhne empfinden -fromm eine väterliche Liebe für ihre alte Mutter! Und -geschieht es nicht wieder auch uns, daß wir uns ganz demütig -und klein vor den Augen eines Kindes fühlen? Das Bambino -Botticellis läßt auf der reinen Jungfrau seinen Blick -voll einer unbewußten schmerzlichen Erfahrung ruhen, die -so alt ist wie die Welt.</p> - -<p>Auch die Zuneigung Clerambaults und Rosinens war von -solcher erhabenen und frommen Wesensart, wie sie Vernunft -allein nicht zu erklären vermag. Und deshalb begann -in den Tiefen des bewegten Meeres tief unterhalb jener -Schwankungen und Gewissenskämpfe, die der Krieg entfesselte, -zwischen diesen beiden Seelen, die durch solche heilige -Liebe verbunden waren, ohne Gesten, fast ohne Wort, ein -geheimes Drama. Aus diesem unbewußten Gefühl erklärte -sich auch die Zartheit ihres beiderseitigen Spürens. Zuerst -war es das stumme Sichzurückziehen Rosinens, die, in ihrer -Zärtlichkeit enttäuscht, in ihrem geheimen Ehrfurchtskult -durch die Haltung ihres vom Krieg verführten Vaters ernüchtert, -sich leise von ihm weghielt wie eine kleine antike, -keusch verhüllte Statue; schon aber empfand die Unruhe -Clerambaults, dessen Feinfühligkeit durch sein zärtliches Gefühl -geschärft war, dieses „<span class='it'>Noli me tangere</span>“. Es gab -zwischen dem Vater und der Tochter in jener Zeit kurz vor -dem Tode Maximes eine unausgesprochene Entfremdung, -die man vielleicht (wenn die Worte nicht zu grobschlächtig -wären) einen Liebeskummer im reinsten Sinne des Wortes -hätte nennen können. Dieser geheime Zwiespalt, der nie -zu einem Wort zwischen ihnen aufschwebte, war für beide -eine Kränkung, er verwirrte das junge Mädchen und reizte -Clerambault, denn dieser kannte wohl die Ursache, nur sein -Stolz weigerte sich, sie anzuerkennen. Aber bald kam er soweit, -sich eingestehen zu müssen, daß Rosine im Recht war, -und gern hätte er sich gedemütigt, aber er blieb in falscher -Scham verschlossen. So verschärften sich die Mißverständnisse -noch im Geiste, indes schon das Herz zur Nachgiebigkeit -aufforderte.</p> - -<p>Während der inneren Verwirrung nach dem Tode Maximes -lastete diese Bitte dringlicher auf ihren schon mehr zur Nachgiebigkeit -bereiten Seelen. Eines Tages, als die drei sich -zum Abendessen zusammenfanden — es war dies die einzige -Stunde, die sie verband, denn jeder lebte für sich, Clerambault -ganz seiner Trauer hingegeben, Frau Clerambault -immer ziellos beschäftigt und Rosine den ganzen Tag -abwesend bei ihren Hilfsaktionen — hörte Clerambault seine -Frau heftig Rosinen Vorwürfe machen. Rosine sprach von -ihrer Absicht, die Pflege von feindlichen Verwundeten zu -übernehmen, und Frau Clerambault, die dies als Verbrechen -empfand, regte sich darüber auf.</p> - -<p>Sie rief ihren Mann als Richter an. Clerambault, dessen -müde, dunkle und leidende Augen zu verstehen begannen, -sah Rosine an, die schweigend und mit gesenkter Stirn seine -Antwort erwartete. Dann sagte er:</p> - -<p>„Meine Kleine hat recht.“</p> - -<p>Rosine errötete vor plötzlicher Erregung, denn das hatte sie -nicht erwartet. Dankend hob sie die Augen zu ihm auf; ihr -Blick schien zu sagen:</p> - -<p>„Endlich habe ich dich wiedergefunden.“</p> - -<p>Nach der kurzen Abendmahlzeit trennten sich alle drei, jeder -blieb für sich. Clerambault, vor seinem Arbeitstisch, weinte, -das Antlitz in den Händen. Der Blick seiner Tochter hatte -sein von Schmerz erstarrtes Herz aufgelöst. Es war seine verlorene -Seele, die seit Monaten erstickte, dieselbe Seele, die -er vor dem Kriege besessen und nun wiedergefunden hatte. -Und sie blickte ihn an....</p> - -<p>Er trocknete seine Tränen und lauschte an der Tür... Seine -Frau ordnete wie allabendlich in dem doppelt verschlossenen -Zimmer Maximes wieder und wieder und wieder die Wäsche -und die Gegenstände des Toten... Er trat in das Zimmer -seiner Tochter, wo Rosine allein nahe beim Fenster saß und -nähte. Sie war ganz in ihre Gedanken verloren und hörte -sein Kommen erst, als er schon dicht neben ihr stand.</p> - -<p>Er neigte seinen ergrauten Kopf gegen sie und sagte:</p> - -<p>„Mein kleines Mädchen.“</p> - -<p>Da zerschmolz auch ihr Herz, sie ließ ihre Arbeit fallen, -nahm das alte Haupt mit den wirren Haaren zwischen ihre -Hände und sagte, während ihre Tränen sich mit jenen, die -sie hinströmen sah, vermengten:</p> - -<p>„Lieber, lieber Vater!“</p> - -<p>Aber weder der eine noch der andere bedurfte einer Erklärung, -weshalb sie zueinander gekommen waren. Nach einem -langen Schweigen, als er seine Ruhe wiedergefunden, sagte -er mit einem Blick auf sie:</p> - -<p>„Mir ist, als ob ich aus einem furchtbaren Wahn erwachte.“</p> - -<p>Sie streichelte ihm das Haar, ohne zu sprechen.</p> - -<p>„Aber du hast über mir gewacht, nicht wahr? Ich habe es -gefühlt, immer bemerkt... hat es dir sehr weh getan?“</p> - -<p>Sie nickte mit dem Kopfe, ohne ihn anzusehen. Er küßte -ihr die Hände, richtete sich auf und sagte:</p> - -<p>„Mein guter Engel, du hast mich gerettet.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>r kehrte in sein Zimmer zurück.</p> - -<p>Sie blieb allein, ohne sich zu rühren, ganz durchdrungen -von Erregung. Lange verharrte sie so gesenkten Hauptes, die -Hände über ihren Knien gefaltet. Die Flut der Gefühle, die -wild aus ihr aufquollen, ließen ihren Atem stocken, ihr Herz -war schwer von Liebe, Glück und Beschämung. Die Demut -ihres Vaters verwirrte sie... Plötzlich riß sie ein Schwall von -Zärtlichkeit und leidenschaftlichem Mitleid aus der Starre, die -ihre Glieder und ihre Seele umfing, sie streckte die Arme gegen -den Fernen aus, warf sich verwirrt vor ihrem Bett nieder, -dankte Gott und bat ihn im Gebete, er möge alle Schmerzen -auf sie häufen und das Glück ihm schenken, den sie liebte.</p> - -<p>Aber der Gott, den sie beschworen, hatte nicht acht auf ihren -Wunsch. Auf die Augen des Mädchens senkte er den guten -Schlaf des Vergessens; Clerambault indes mußte noch den -Gipfel seines Kalvarienberges erklimmen.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>I</span>n der Nacht seines Zimmers, bei erloschener Lampe, blickte -Clerambault in sich hinein. Er war entschlossen, bis in die -letzte Tiefe seiner verlogenen und ängstlichen Seele, die der -Wahrheit entflohen, hinabzuforschen. Die Hand seiner -Tochter, deren Kühle er noch auf seiner Stirn fühlte, hatte -das letzte Zögern weggestreift. Er war entschlossen, dem -Ungeheuer Wahrheit ins Auge zu sehen, auch auf die Gefahr -hin, von seinen Tatzen, die keinen mehr loslassen, den -sie einmal erfaßt haben, zerfleischt zu werden.</p> - -<p>Mit Angst, aber mit entschlossener Hand begann er in blutigen -Stücken die Haut der irdischen Vorurteile, der Leidenschaften -und fremden Ideen, die seine Seele ganz umwachsen -hatte, von ihr loszulösen.</p> - -<p>Zuerst das dicke Fell des tausendköpfigen Tieres, der gemeinsamen -Herdenseele. Aus Angst und aus Schwäche -hatte er sich in sie hineingeflüchtet, denn sie hält warm, fast -zum Ersticken warm, man ruht gut darin, und doch ist sie -ein schmutziges Kissen. Aber ist man einmal drinnen in -dieser weichen Masse, so ist es vorbei mit jedem Versuch, aus -ihr herauszukommen, und man will es auch gar nicht mehr. -Man braucht nicht mehr zu denken, zu wollen, man ist geschützt -vor der kalten Zugluft der Verantwortlichkeit. Trägheit -und Feigheit... Fort! Weg damit!... Sogleich -stürzt durch die offenen Ritzen der eisige Wind! Man schauert -zurück — aber schon ist durch diesen kalten Stoß die Schläfrigkeit -abgeschüttelt. Die umnebelte Energie richtet sich wankend -wieder auf. Was wird sie draußen finden? Sei es, was es -wolle, sie muß es sehen.</p> - -<p>Er sah zuerst, das Herz von Ekel geschüttelt, was er nie geglaubt -hätte — wie tief dieses fettige Fell schon mit seinem -Fleische verwachsen war. Er witterte darinnen gleichsam -eine späte faule Ausdünstung der Urbestie, alle die wilden -uneingestandenen Instinkte des Krieges, des Mordes, des -vergossenen Blutes, des von gierigen Kinnladen zerrissenen -Fleisches. Er fühlte die ganze Urkraft des Todes über das -Leben, er fühlte in der Tiefe des menschlichen Seins die -Grube des Schlachthauses, die die Zivilisation, statt sie zuzuschütten, -nur mit dem Schwall ihrer Lüge verhüllt und -über der der dumpfe Dunst vergossenen Blutes schwelt... -Dieser widrige Geruch ernüchterte Clerambault vollständig. -Mit Grauen riß er die Haut der Bestie von sich ab, deren -Beute er geworden war.</p> - -<p>Ah, wie sie schwer war, heiß, zugleich stinkend und schön, -seidenhaarig, warm und doch blutig. Zusammengefügt aus -den niedrigsten Instinkten und den erlauchtesten Träumen. -Was war nicht alles darin verwebt, das Lieben, Sich-Hingeben, -Sich-Aufopfern, ein Körper und eine Seele Sein im -Vaterland, dem einzig Lebendigen!... Aber was ist denn -dieses Vaterland, dieses einzige Leben, dem man nicht nur -sein Leben, nein, alle Leben hinwirft, und dazu noch sein -Gewissen, alle Gewissen? Und was ist dies für eine blinde -Liebe, deren anderes Janusantlitz mit den ausgerissenen -Augen nur blinden Haß zeigt?</p> - -<p>„Man hat höchst fälschlich den Namen der Vernunft von -dem der Liebe getrennt und sie ohne guten Grund einander -gegenübergestellt“, sagt Pascal. „Die Liebe und die Vernunft -sind ein und dasselbe. Es ist ein vorschnelles Denken, -das sich zu einer Seite hinwendet, ohne alles geprüft zu -haben, aber immerhin, es ist eine Art zu denken.“</p> - -<p>Nun gut, durchdenken wir das Ganze! Birgt sich nicht gerade -in dieser Form der Liebe bei vielen Furcht, alles zu -prüfen, tun sie nicht gleich dem Kinde, das, um den Schatten -an der Wand nicht zu sehen, den Kopf unter die Decke steckt?</p> - -<p>Das Vaterland? Was ist es? Ein Hindutempel: Menschen, -Ungetüme und Götter. Was ist sein eigentliches Wesen? -Die heimische Erde? Die ganze Erde ist unsere gemeinsame -Mutter. Oder ist es die Familie? Es gibt hier Familien -und drüben, beim Feind und bei uns, und beide wollen sie -nur den Frieden. Oder sind es die Armen, die Arbeiter, -das Volk? Die sind auf beiden Seiten gleich elend und -gleich ausgebeutet. Oder sind es die Geistigen? Die haben -nur ein gemeinsames Feld, und ihre Eitelkeiten und Streitigkeiten -sind ebenso lächerlich im Morgenlande wie im Abendlande. -Die Welt hat anderes zu tun als sich wegen des Gezänkes -eines Vadius und eines Trissotin zu bekämpfen. Ist -es also der Staat? Der Staat ist nicht das Vaterland. -Einzig jene, die davon Vorteil haben, mischen diese beiden -Begriffe ineinander. Der Staat ist unsere Kraft, die einige -Menschen ausnützen oder mißbrauchen. Menschen wie wir, -die nicht mehr wert sind als wir selbst und oft weniger, -und von denen wir uns in Friedenszeit sonst nicht narren -lassen und die wir im allgemeinen richtig zu beurteilen wissen. -Aber kaum, daß der Krieg da ist, lassen wir ihnen freie Hand, -sie dürfen die niedrigsten Instinkte entfesseln, jede Kontrolle -ersticken, jede Freiheit hinmorden, jede Wahrheit, die ganze -Menschheit. Sie sind dann die Herren, man muß sich in Reih -und Glied drücken, um die Ehre und die Dummheit dieser -in Herrenkleider vermummten Bedienten zu verteidigen. -Wir sind einig, sagt man? Erbärmliches Wortnetz! Einig -sind wir ohne Zweifel, wir haben die schlechtesten und die -besten in unseren Völkern beisammen, das ist wahr, das -wissen wir. Aber daß eine Pflicht uns bindet, ihre Ungerechtigkeiten -und Sinnlosigkeiten mitzumachen, das leugne ich...</p> - -<p>Die Gemeinsamkeit soll darum nicht verachtet sein. Niemand, -denkt Clerambault, hat mehr als ich ihre Lust gefühlt, -ihre Größe gefeiert. Es ist gut, gesund, stärkend und -kräftigend, den nackten, starren und eisig einsamen Egoismus -in jenes Bad des Vertrauens und der brüderlichen -Aufopferung hinabzuwerfen, das die Massenseele bedeutet. -Man entspannt sich, man gibt sich hin, man atmet. Der -Mensch bedarf der anderen, er ist den anderen verpflichtet. -Aber er ist ihnen nicht mit seinem ganzen Wesen verpflichtet. -Denn was bliebe ihm sonst für Gott? Er muß sich -den anderen hingeben, doch um geben zu können, muß -man etwas haben, man muß vor allem selbst etwas sein. -Aber wie kann man selbst etwas sein, wenn man ganz in -die anderen zerfließt? So viel Pflichten es auch gibt, die -erste ist, sein eigenes Selbst zu sein und zu bleiben bis zur -Aufopferung und Hingabe seines Ich. Das Bad in der -Massenseele als Dauerzustand wäre eine Gefahr. Aus seelischer -Hygiene in sie hinabzutauchen, mag gut tun. Aber -man muß wieder heraus, sonst läßt man alle seine moralische -Kraft darin. Und gerade in unserem Zeitalter ist man -ja schon von seiner Kindheit an, ob man will oder nicht, in -die demokratische Badekufe hinabgetaucht. Die Gesellschaft -denkt für einen, ihre Moral will, und ihr Staat handelt für -uns, ihre Mode und Meinung nehmen uns die Luft weg, -die wir atmen, trinken unseren Hauch, unser Herz, unser -Licht. Man ward Diener dessen, das man mißachtet, man -lügt in allen seinen Bewegungen, seinen Worten, seinen Gedanken. -Man verzichtet und ist nicht mehr... Aber wer -hat den Vorteil davon, wenn alle verzichten? Zu wessen -Wohl verzichtet man? Für die blinden Instinkte oder für -ein paar Lumpenkerle? Wem gehorchen wir? Einem Gott -oder ein paar Scharlatanen, die in seinem Namen die Orakel -sprechen? Den Schleier fort! Ich will sehen, was sich dahinter -verbirgt... Das Vaterland!... Was für ein großes -Wort, was für ein schönes Wort. Der Vater, umschlungen -von seinen Brüdern... Aber das ist ja gar nicht -das Vaterland, das ihr mir zeigt, es ist ein falsches Vaterland, -ein Bretterverschlag, ein Tierkäfig, Schützengräben -und Barrikaden, Gefängniswände!... Meine Brüder! -Wo sind meine Brüder? Wo sind sie alle, die rings im -Weltall leiden? Ihr Kains, was habt ihr aus ihnen gemacht? -Ich breite ihnen die Arme entgegen, und ein Strom -von Blut trennt mich von ihnen. In meinem eigenen Volke -darf ich nicht mehr frei zu meinen Brüdern reden, ich bin -nur mehr ein namenloses Instrument, das morden soll... -Mein Vaterland! Aber ihr seid es ja, die es tötet... Mein -Vaterland war die große Gemeinschaft der Menschheit, und -sie habt ihr zerschlagen. Die Freiheit und der Gedanke haben -keine Heimstatt mehr in Europa... Ich will mir mein -Haus wieder aufbauen, unser aller Haus, denn ich habe -keines mehr, das eure ist ein Gefängnis... Wie soll ich es -tun? Wo soll ich suchen? Wo mich verbergen...? Sie -haben mir alles genommen! Es gibt keine Fingerbreite -mehr auf der Erde oder im Geiste, die noch frei ist, alle -Heiligtümer der Seele, der Kunst, der Wissenschaft haben -sie geschändet, alles haben sie sich hörig gemacht! Ich bin -allein und verloren, ich habe nichts mehr, ich stürze hin...</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>A</span>ls Clerambault alles von sich abgerissen hatte, blieb ihm -nichts mehr als seine eigene nackte Seele. Bis zum Ausgang -dieser Nacht drückte sie sich zitternd und erstarrt an ihn. -Aber in dieser zitternden Seele, in diesem winzigen Wesen, -das im Weltall verloren war, glühte leise ein Funke wie -eines jener εἴδωλα, die die primitiven Maler über dem Munde -der Sterbenden schweben lassen. Als es gegen Morgen ging, -begann die fast unsichtbare Flamme, die beinahe in der -schweren Umschalung der Lüge erstickt war, zu erwachen. -Im Atem der frischen Luft schlug sie hell empor. Und nichts -konnte sie mehr hindern, frei emporzuwachsen.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>L</span>angsamer, grauer Tag nach diesem Kampf oder dieser -Geburt. Schwere zerbrochene Ruhe. Tiefe, ungewohnte -Stille... Ermattetes Wohlgefühl vollbrachter Pflicht... Clerambault, -das Haupt an die Lehne seines Fauteuils gestützt, -träumte unbeweglich vor sich hin, Fieber im Leib, das -Herz schwer von Erinnerung. Seine Tränen strömten, ohne -daß er es fühlte. Draußen erwachte die melancholische Natur -der letzten Wintertage, die Bäume zitternd, wie er selbst, -und noch nackt. Aber unter dem Eisglanz der Luft bebte -schon ein neues Feuer.</p> - -<p>Bald wird es das All umfangen.</p> - -<hr class='pbk'/> - -<div><h1>Zweiter Teil</h1></div> - -<hr class='pbk'/> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>N</span>ach acht Tagen begann Clerambault wieder auszugehen. -Aus der furchtbaren Krise, durch die er sich -gerungen, ging er gebrochen, aber entschlossen hervor. Der -Überschwang der Verzweiflung war von ihm gefallen, ihn -beseelte einzig mehr ein stoischer Wille, der Wahrheit bis in -ihre letzten Schlupfwinkel nachzudringen. Aber das Erinnern -an seine geistige Verwirrung, in der er sich so wohl -befunden, und die Halblüge, die so lange seine Nahrung gewesen -war, machte ihn unsicher und demütig. Er mißtraute -der eigenen Kraft, und um Schritt für Schritt weiterzukommen, -fühlte er sich bereit, den Rat von Erfahreneren als -Führung anzunehmen. Er erinnerte sich, wie Perrotin damals -seinen vertraulichen Überschwang mit ironischer Zurückhaltung -aufgenommen. Damals hatte sie ihn verwirrt, -nun zog sie ihn an. Sein erster Besuch nach der Genesung -galt dem klugen Freunde.</p> - -<p>Obwohl Perrotin sich besser auf Bücher als auf Physiognomien -verstand — ziemlich kurzsichtig und ein wenig egoistisch, -gab er sich selten Mühe, etwas zu beachten, das er nicht -unbedingt brauchte — so konnte er doch nicht umhin, -die Veränderung der Gesichtszüge Clerambaults sofort -staunend zu bemerken.</p> - -<p>„Was ist, mein guter Freund“, rief er ihm zu, „waren Sie -krank?“</p> - -<p>„Ja, wirklich sehr krank“, antwortete Clerambault, „aber es -geht mir schon besser, ich habe mich schon erholt.“</p> - -<p>„Ja, das ist für uns der grausamste Schlag“, sagte Perrotin, -„in unserem Alter einen Freund zu verlieren, wie es -für Sie Ihr armer Sohn war.“</p> - -<p>„Das Grausamste ist noch nicht, ihn verloren zu haben“, -antwortete Clerambault, „sondern selbst mit Schuld an -seinem Verlust zu sein.“</p> - -<p>„Was sagen Sie da, mein Freund“, fuhr Perrotin erstaunt -auf, „was haben Sie sich da erfunden, um Ihre Qual noch -zu steigern?“</p> - -<p>„Ich hatte ihm die Augen verschlossen“, sagte bitter Clerambault, -„und er hat sie mir geöffnet.“</p> - -<p>Perrotin ließ seine Arbeit liegen, über die er wie gewöhnlich -nachsann, während man zu ihm sprach, und sah Clerambault -erstaunt an, der mit gesenktem Kopf und einer -dumpfen, schmerzvoll-leidenschaftlichen Stimme zu erzählen -begann. Es war, wie wenn ein Christ der ersten Zeiten -öffentlich seine Beichte ablegte. Er klagte sich der Lüge an, -der Lüge gegen seinen Glauben, der Lüge gegen sein Herz, -der Lüge gegen seine eigene Vernunft. Der Apostel hatte in -seiner Feigheit den Gott verleugnet, sobald er ihn in -Ketten sah, aber soweit hatte er sich doch nicht erniedrigt, -den Henkern seines Gottes Hilfe zu leisten. Aber er, Clerambault, -hatte nicht nur die Sache der allmenschlichen -Brüderlichkeit verlassen, er hatte sie erniedrigt; er hatte -nicht abgelassen, von Brüderlichkeit zu sprechen, während -er gleichzeitig zum Haß aufrief, er hatte wie jene lügnerischen -Priester, die das Evangelium verdrehen, um es in den -Dienst ihrer schlechten Absichten zu stellen, geschickt die erhabensten -Gedanken verfälscht, um mit ihrer Maske die -Leidenschaft zum Mord zu verdecken. Er hatte sich einen -Pazifisten genannt, während er den Krieg verherrlichte, und -einen Menschenfreund, indes er den Feind von vornherein -aus dem Kreise der Menschheit ausstieß.... Oh, um wieviel -redlicher wäre es gewesen, sich vor der brutalen Gewalt -einfach zu beugen, als mit ihr erniedrigende Kompromisse -einzugehen! Gerade dank solchen Sophismen wie den -seinen, war es gelungen, den Idealismus der jungen -Menschen in das Gemetzel zu hetzen. Denn die Denker, die -Künstler, sie, die alten Giftmischer, waren es, die mit ihrer -Rhetorik den grauenhaften Todestrunk versüßten, den -ohne ihre Mitschuld jedes reine Gewissen sofort mit Abscheu -zurückgestoßen und ausgespien hätte....</p> - -<p>„Das Blut meines Kindes ist über mir“, sagte Clerambault -schmerzlich, „das Blut aller jungen Menschen Europas, -in allen Nationen, spritzt der Idee Europas ins Antlitz. -Überall hat sich die Idee zum Knecht des Henkers erniedrigt.“</p> - -<p>„Mein armer Freund“, sagte Perrotin, indem er sich zu -Clerambault neigte und seine Hand nahm, „Sie übertreiben -immer.... Gewiß, Sie tun gut, den Gefühlsirrtum -zu erkennen, in den Sie die öffentliche Meinung mitgerissen -hat, und ich kann Ihnen heute offen sagen, daß mich diese -Täuschung gerade bei Ihnen geschmerzt hat. Aber Sie -haben unrecht, wenn Sie sich und den Sprechenden überhaupt -eine so große Verantwortung für die Geschehnisse von -heute zuschreiben. Die einen sprechen, die anderen handeln, -aber es sind nicht diejenigen, die sprechen, die die Tat der -anderen verursachen; beide sind Spielball der Strömung -und haben keine Kraft über diese.“</p> - -<p>„Aber ihnen fällt doch die Schuld zu, andere aufgefordert -zu haben, sich mitreißen zu lassen“, antwortete Clerambault. -„Statt die noch auf der Oberfläche Schwimmenden -festzuhalten und ihnen zuzuschreien: „Kämpft gegen den -Strom!“ haben sie gesagt: „Laßt euch nur fortreißen!“ -Nein, mein Freund, versuchen Sie nicht, unsere Verantwortlichkeit -zu mildern. Sie ist schwerer als irgend eine -andere, denn unser Gedanke war so hoch gestellt, daß er -weit blicken konnte, seine Pflicht war, zu wachen, und wenn -er nicht das Richtige gesehen hat, so war es, weil er nicht -sehen wollte. Wir dürfen nicht unsere Augen anklagen, denn -unsere Augen waren gut, das wissen Sie wohl, und auch ich -weiß es jetzt, da ich mich wieder aufgerafft habe. Dieselbe -Vernunft, die mir die Augen verbunden hat, hat mir das -Band wieder abgerissen. Seltsam, daß sie gleichzeitig ein -Instrument der Lüge und ein Instrument der Wahrheit -ist!“</p> - -<p>Perrotin schüttelte den Kopf.</p> - -<p>„Ja, die Vernunft ist so groß und so erhaben, daß sie sich -nicht, ohne sich zu erniedrigen, in den Dienst anderer -Mächte stellen darf. Man muß ihr alles aufopfern. Sobald -sie nicht mehr freiwirkend und Herrin ihrer selbst ist, -erniedrigt sie sich, sie wird dann wie der Grieche, der von -dem Römer, seinem Herrn, trotz seiner Überlegenheit erniedrigt -wird und verpflichtet, sein Kuppler zu sein, ein Gräculus, -ein Sophist, ein <span class='it'>leno</span>... Der Durchschnittsmensch ist -gewöhnt, seine Vernunft wie einen Dienstboten zu allem -möglichen zu mißbrauchen, und sie dient ihm dann mit der -unehrlichen und geschmeidigen Geschicklichkeit dieser Art Leute. -Bald begibt sie sich in den Dienst des Hasses, des Stolzes, -bald in den der eigenen Interessen, sie schmeichelt allen -diesen kleinen Ungetümen und verkleidet sie als Idealismus, -Liebe, Glaube, Freiheit, soziale Hingabe, denn wenn ein -Mensch die Menschen nicht liebt, so sagt er immer, er liebe -Gott, das Vaterland oder die Menschheit. Bald wird dann -der arme Herr der Vernunft selbst zum Sklaven, zum Sklaven -des Staates. Mit ihrer Drohung zwingt ihn die soziale -Maschine zu Handlungen, die ihm innerlich widerstreben; -die brave und gefällige Vernunft redet ihm aber sofort ein, -diese Handlungen seien schön und ruhmvoll, und daß -er sie aus freiem Willen tue. In dem einen Falle wie in -dem andern weiß die Vernunft wohl, woran sie sich zu -halten hat. Sie steht immer zu unserer Verfügung, sobald -wir wirklich wollen, daß sie uns die Wahrheit sage. Aber -wir sind es, die sich wohl hüten, von ihr Gebrauch zu machen. -Wir vermeiden sorgsam, mit ihr allein zu sein, wir -wissen es immer so einzurichten, daß wir ihr nur in Gesellschaft -begegnen und ihr Fragen schon in jenem Ton -stellen, der die Antwort von vornherein bestimmt..... -Schließlich dreht sich die Erde darum doch — <span class='it'>e pur si -muove</span> — die Weltgesetze erfüllen sich, und der freie Geist -erkennt sie. Alles andere ist Eitelkeit. Was wir Leidenschaften -und aufrichtigen oder falschen Glauben nennen, bedeutet -nur einen verhüllten Ausdruck für die Notwendigkeit, -die die Welt bewegt, gleichgültig um unsere Idole, -Familie, Rasse, Vaterland, Religion, Gesellschaft, Fortschritt... -Fortschritt? Das ist der größte Wahn von allen. -Ist denn die Menschheit nicht dem Gesetz der höchsten Spannung -unterworfen, das verlangt, daß, sobald sie überschritten -ist, eine Klappe sich öffne und der Behälter sich wieder leere? -Kehrt er nicht immer wieder, dieser katastrophale Rhythmus? -Knapp an den Höhen der Zivilisation ist immer der Absturz. -Man steigt, und taucht wieder hinab.“</p> - -<p>Perrotin entwickelte ruhig seinen Gedankengang. Seine -Idee war sonst nicht gewöhnt, sich vor anderen auszusprechen, -aber sie hatte den Zeugen vergessen, und so entkleidete -sie sich, als wäre sie allein. Perrotins Weltanschauung -war von einer großen Kühnheit, wie es oft jene -großer Menschen sind, die in ihrem Zimmer leben und -nicht zur Tat verpflichtet sind, ja gar nichts auf sie halten -und sie sogar verachten. Clerambault hörte erstaunt, erschrocken, -mit offenem Munde zu, manche Worte erbitterten -ihn, manche preßten ihm das Herz zu, er empfand -eine Art Schwindel. Aber er überwand seine Schwäche, um -keinen Blick in die aufgetanen Tiefen zu verlieren. Er -bedrängte Perrotin mit Fragen, der geschmeichelt seine zweiflerischen, -gleichzeitig passiven und doch zerstörenden Visionen -gefällig und selbstgefällig vor ihm entrollte.</p> - -<p>Sie waren noch ganz vom Gewölke dieser Abgründe umhüllt, -und Clerambault bewunderte die Leichtigkeit dieses -freien Geistes, der sicher und fast zufrieden am Rande dieser -Leere hauste, als die Tür sich auftat und der Diener Perrotin -eine Visitenkarte brachte. Sofort lösten sich die gefährlichen -Gespenster des Geistes in nichts auf. Eine Falltür -schlug über dem Abgrund zu und der gewohnte Teppich -des Salons verdeckte seine Spur.... Perrotin, aufgeschreckt, -sagte eiligst und beflissen:</p> - -<p>„Ja, natürlich, bitte lassen Sie nur eintreten.“</p> - -<p>Und indem er sich zu Clerambault wandte: „Sie gestatten -doch, lieber Freund, es ist der Herr Unterstaatssekretär vom -Ministerium für Unterricht und schöne Künste.“</p> - -<p>Und schon war er aufgestanden und ging dem Besucher -entgegen, einem jungen Mann mit blau rasiertem Kinn, -einem Priester-, Schauspieler- oder Yankeegesicht. Er trug -den Kopf hoch und die Brust breit in seinem grauen Jackett, -das die Rosette der Verdienstvollen und der Kriecher verzierte. -Der alte Mann stellte, nun wieder strahlend, vor: -„Herr Agénor Clerambault... Herr Hyacinthe Monchéri“ -und fragte den „Herrn Unterstaatssekretär“, was ihm die -Ehre dieses Besuches verschaffe.</p> - -<p>Der „Herr Unterstaatssekretär“, keineswegs erstaunt über -den ehrerbietigen Empfang von seiten des alten Meisters, -warf sich breit in den Fauteuil mit jener familiären Überlegenheit, -die ihm sein offizieller Rang über die beiden -Leuchten des französischen Gedankens verlieh: er stellte ja -den Staat dar. Er sprach näselnd, laut und mißtönend, -er schrie wie ein Dromedar. Er übermittelte Perrotin die -Einladung des Ministers, das Präsidium einer feierlichen -Sitzung kriegsbegeisterter Intellektueller von zehn Nationen -im großen Amphitheater der Sorbonne zu übernehmen — -einer „Fluchsitzung“, wie er sagte. Perrotin sagte eiligst zu, -ganz beglückt von der großen Ehre. Sein erniedrigendes -Verhalten gegenüber dem staatlich legitimierten Gimpel -stand in seltsamem Gegensatz zu den verwegenen Gedanken, -die er eben entwickelt hatte, und Clerambault, im tiefsten -abgestoßen, mußte an den Gräculus denken.</p> - -<p>Sobald sie wieder allein waren, und nachdem Perrotin ihn bis -zur Schwelle begleitet hatte, seinen „Verehrten“, der steifen -Halses und gehobenen Kopfes ging, wie der mit Reliquien -beladene Esel, wollte Clerambault das Gespräch wieder aufnehmen. -Er war etwas abgekühlt und machte kein Geheimnis -daraus. Er forderte Perrotin auf, öffentlich das auszusprechen, -was er ihm im Vertrauen gesagt hatte, eine Zumutung, -die Perrotin natürlich, seine Naivität belächelnd, ablehnte. -Ja er warnte ihn sogar in besorgter Weise bezüglich der Versuchung, -vor der Öffentlichkeit zu beichten. Clerambault wurde -zornig, begann zu streiten und blieb hartnäckig bei seiner Forderung. -Perrotin, der gerade aufrichtig gelaunt war, schilderte -ihm, um ihn aufzuklären, seine Umgebung, die großen -Intellektuellen der Universität, deren offizieller Vertreter er -war, die Historiker, Philosophen und Schönredner. Er sprach -von ihnen mit einer verschleierten, höflichen, aber tiefen Mißachtung, -die mit ein wenig Bitterkeit gemengt war, denn -trotz seiner Vorsicht war er zu intelligent, um nicht den -weniger klugen unter seinen Kameraden schon verdächtig geworden -zu sein. Er schilderte sich als einen alten Hund, der -einen Blinden führt, und sich inmitten der bellenden -Fleischerhunde gezwungen sieht, mit ihnen die Vorübergehenden -anzukläffen....</p> - -<p>Clerambault verließ ihn, ohne mit ihm zu brechen, aber -voll tiefen Mitleids.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>s dauerte einige Tage, ehe er wiederum ausging. Jene -erste Berührung mit der äußeren Welt hatte ihn zu sehr -enttäuscht. Der Freund, in dem er einen Helfer und eine Stütze -zu finden gehofft hatte, war kläglich vor ihm zusammengebrochen. -Clerambault fühlte sich ganz verwirrt, denn im -Grunde seines Wesens war er schwach und nicht gewohnt, -selbst die Richtung seines Weges zu finden. So aufrichtig er -als Dichter war, er hatte sich bisher doch noch nie verpflichtet -gesehen, ohne die Hilfe der anderen zu denken. Bisher hatte -er sich immer nur von ihren Gedanken tragen lassen, war -mit ihnen eins geworden, um dann ihre ekstatische und begeisterte -Stimme zu werden.... Die Veränderung war -nun zu plötzlich gekommen. Trotz jener Nacht der Krise fiel -er immer wieder in Unsicherheit zurück, denn die Natur kann -sich nicht mit einem Schlage verändern und besonders nicht -bei jenen, die — mag ihr Geist auch noch so geschmeidig geblieben -sein — das fünfzigste Jahr überschritten haben. Und das -Licht, das aus einer solchen Erkenntnis aufflammt, bleibt -durchaus nicht so unbeweglich, wie die blendende Schale der -Sonne in einem Sommerhimmel, sondern ähnelt mehr -einer elektrischen Lampe, die zittert und mehr als einmal -auslöscht, ehe der Strom regelmäßig und dauerhaft wird. -In den Synkopen dieser zuckenden Pulsschläge des Lichtes -scheint dann natürlich das Dunkel noch viel dunkler und der -Geist viel verwirrter. — Clerambault konnte sich nicht entschließen, -auf die Meinung der anderen von vornherein zu -verzichten.</p> - -<p>Er beschloß, einen seiner Freunde nach dem andern zu besuchen, -deren er viele in der Literatur und in den Kreisen -der Universität und der intelligenten Bourgeoisie besaß. Es -war ja nicht möglich, daß in ihrer großen Zahl sich nicht einer -oder der andere fände, den so wie ihn und noch besser als -ihn ein ahnendes Gefühl jener Probleme bewegte, von -denen er selbst beunruhigt war, und der ihm zu einer Klärung -verhelfen könnte. Ohne sich vorläufig noch zu verraten, ganz -vorsichtig, versuchte er sie zu beobachten, sie auszuhorchen, -die Gründe ihrer Gläubigkeit aufzuspüren. Aber er wurde -nicht gewahr, daß seine eigenen Augen schon verwandelt -waren. Und die Vision jener Welt schien ihm, so sehr er -sie zu kennen glaubte, ganz neu und ließ ihn erstarren.</p> - -<p>Der ganze Clan der Literatur hatte sich wehrhaft gemacht, -man konnte die einzelnen Persönlichkeiten kaum mehr voneinander -unterscheiden. Die Universität bildete gleichsam -ein Ministerium der dienstbaren Vernunft und hatte das -Amt übernommen, die Taten ihres Herrn und Meisters, des -Staates, zu rechtfertigen. Und die einzelnen Arten der -Dienstleistung unterschieden sich einzig durch ihre gewerbsmäßigen -Verdrehungen.</p> - -<p>Die schöngeistigen Professoren waren in erster Linie Experten -für moralischen Aufschwung und rednerischen Syllogismus. -Sie hatten alle die krankhafte Neigung, das Denken auf -eine übermäßige Einfachheit zu restringieren, verwendeten -statt Vernunftsgründen große Worte und werkelten immer -einige wenige Ideen ab, aber Ideen ohne Tiefe, ohne Nuancen -und ohne Leben. Diese Ideen holten sie sich aus dem -Arsenal einer angeblich klassischen Antike, deren Schlüssel -durch Jahrhunderte Generationen akademischer Derwische -eifersüchtig bewahrten, und diesen geschwätzigen und alten -Ideen, die man überdies noch „Menschheitsideen“ nannte, -obwohl sie in vieler Hinsicht das Gefühl und das Empfinden -der heutigen Menschheit verletzten, prägten sie den Stempel -des Römerstaates auf, als des Prototyps aller europäischen -Staaten. Ihre bevollmächtigten Interpreten waren -die Schönredner im Staatsdienst.</p> - -<p>Die Philosophen herrschten im Reiche der abstrakten Konstruktion. -Sie exzellierten in der Kunst, das Konkrete durch -Abstraktion, das Wirkliche durch seinen Schatten zu erklären, -einige rasch und parteiisch gewählte Beobachtungen -zum System zu erheben und dank ihrer Tüftelei aus diesen -Systemen wieder Gesetze herauszuschwindeln, nach denen -das Weltall wandeln sollte. Ihre ganze Mühe erschöpfte sich -darin, das vielfältige und wandlungsvolle Leben der Einheit -des Geistes fügsam zu machen — natürlich nur der Einheit -ihres eigenen Geistes. Dieser Imperialismus der Vernunft -stützte sich auf die willfährige Büberei jahrelang geübter -Sophistik, die gewohnt war, mit Ideen zu spielen. Sie -verstanden nur zu gut, sie auseinander- und wieder zusammenzuziehen, -sie zu formen und zu pressen wie Knetgummi, -für sie wäre es nicht schwer gewesen, ein Kamel durch ein -Nadelöhr gehen zu lassen. Sie wußten ebensogut das Weiße -wie das Schwarze zu beweisen, und fanden, ganz wie es ihnen -beliebte, in Immanuel Kant bald die Freiheit der Welt, bald -den preußischen Militarismus.</p> - -<p>Die Historiker wieder waren als bewährte Schriftführer, -Notare und Rechtsanwälte des Staates zum Schutz seiner -Verträge und Rechte beigestellt und bis an die Zähne bewaffnet -für zukünftige Schikanen.... Die Geschichte! Was -ist denn die Geschichte? Einzig die Geschichte des Erfolges, -die Darstellung der vollzogenen Tatsachen, gleichgültig, -ob sie gerecht oder ungerecht waren. An den Besiegten geht -die Geschichte vorbei. Sie hat nur Schweigen für euch, ihr -Perser von Salamis, ihr Sklaven des Spartakus, ihr Gallier, -ihr Araber von Poitiers, ihr Albingenser, Irländer, -Indier von West und Ost und ihr Eingebornen der Kolonien!... -Wenn ein ehrlich denkender Mann, der Ungerechtigkeit -seiner Zeit ausgesetzt, zu seinem eigenen Troste seine -Hoffnung auf die Nachwelt setzt, so verschließt er die Augen -vor den geringen Möglichkeiten, die jene Nachwelt hat, -sich wahrhaft über die Vergangenheit Rechenschaft zu geben. -Die Nachwelt erfährt immer nur das, was die Sachwalter -der offiziellen Geschichte als vorteilhaft für die Sache ihres -Klienten, des Staates, empfanden, es sei denn, daß der -Rechtsanwalt der Gegenpartei, entweder der einer anderen -Nation oder der einer sozialen oder religiösen unterdrückten -Gruppe, seinen Einwand machte. Aber dafür besteht wenig -Aussicht: das Geheimnis ist gut gewahrt.</p> - -<p>Schönredner, Sophisten und Winkeladvokaten, das waren -die drei Korporationen der staatlich patentierten philosophischen -Fakultät.</p> - -<p>Die „Wissenschaftler“ wären durch die Art ihrer Forschung -ein wenig besser in der Lage gewesen, außerhalb der Beeinflussung -und Berührung der Umwelt zu bleiben — vorausgesetzt, -daß sie in ihrer Studienwelt verharrt hätten. Aber -man hatte sie daraus vertrieben. Die praktische Anwendung -der Wissenschaft hat eine so ungemeine Ausdehnung in der -lebendigen Wirklichkeit eingenommen, daß die Gelehrten in -die erste Reihe des Kampfes geschleudert wurden, wo sie unausweichlich -der ansteckenden Berührung der öffentlichen -Meinung ausgesetzt waren. Ihre Eigenliebe fand sich ganz -unmittelbar an dem Siege der Allgemeinheit interessiert, -denn diese benötigte ebenso den Heroismus der Soldaten -wie die törichten Ansichten und die Lügen der Presse. Nur -ganz wenige unter ihnen hatten die Kraft sich freizumachen, -die meisten aber brachten die ganze Strenge, Härte und Unerbittlichkeit -des geometrischen Geistes mit sich, dazu noch -die professionellen Eifersüchteleien, die ja zwischen den verschiedenen -Gelehrtengruppen der verschiedenen Länder immer -sehr scharfe sind.</p> - -<p>Die Schriftsteller schlechtweg, die Dichter, Romanciers, die -Schaffenden ohne staatliche Bindung hätten den Vorteil ihrer -Unabhängigkeit ausnützen können. Leider aber sind nur ganz -wenige unter ihnen imstande, von sich selbst aus Ereignisse -zu beurteilen, die die Grenzen ihrer gewöhnlichen ästhetischen -oder geschäftlichen Betätigung überschreiten. Die meisten -unter ihnen, und oft gerade die berühmtesten, sind ungebildet -wie Karpfen. Das Beste wäre nun natürlich für -sie gewesen, sie wären in ihrem beschränkten Gesichtskreise -verblieben, wozu sie ihr natürlicher Instinkt eigentlich -hätte leiten sollen. Aber ihre Eitelkeit fühlte sich törichterweise -angestachelt, sich in die öffentlichen Geschehnisse einzumengen -und auch ihrerseits ihr Wort über das Weltall -zu sprechen. Da sie nun selbst nichts darüber zu sagen -wußten als Verkehrtheiten, so inspirierten sie sich mangels -persönlicher Meinung an Gemeinplätzen. Ihre Äußerungen -sind bei einem solchen gewaltsamen Anlaß natürlich ungemein -lebhaft, denn sie sind überempfindlich und von -einer krankhaften Eitelkeit, die, da sie keine eigenen Gedanken -auszudrücken vermag, diejenigen der anderen maßlos -übertreibt. Dies ist ihre einzige Originalität, und -Gott weiß, wie reichlich sie davon Gebrauch gemacht -haben.</p> - -<p>Wer bleibt also? Die Diener der Kirche? Gerade sie handhabten -das schwere Geschütz: die Idee der Gerechtigkeit, -der Wahrheit, des Guten und Gottes, auch sie hatten diese -Artillerie in den Dienst ihrer Leidenschaften gestellt. Ihre -unsinnige Anmaßung, die ihnen selbst nicht mehr bewußt -ist, hat von Gott einfach Besitz ergriffen und sich das Privileg -zugeschrieben, ihn <span class='it'>en gros</span> oder <span class='it'>en détail</span> zu verschleißen. -Es fehlt ihnen dabei nicht so sehr an Aufrichtigkeit, an Tugend -und selbst an Güte wie an Demut; gerade die Demut, -die sie verkündigen, haben sie am wenigsten. Sie besteht -für sie einzig darin, ihren Nabel zu betrachten, wie er sich -im Talmud, der Bibel oder dem Evangelium spiegelt. In -ihrem unmäßigen Stolz sind sie nicht weit von jenem -mythischen Narren, der sich selbst für Gottvater hielt. Ist es -wirklich um so viel weniger närrisch und um so viel weniger -gefährlich, sich für seinen Stellvertreter oder seinen Schriftführer -zu halten?</p> - -<p>Clerambault fühlte entsetzt den krankhaften und fast hinfälligen -Zustand der intellektuellen Klüngel. Das Übermaß -der Organisation und der Gedankenübermittlung -in der bürgerlichen Klasse hat etwas Verzerrtes und Mißgeburthaftes -an sich. Das lebendige Gleichmaß ist zerstört, -eine Bureaukratie des Geistes dünkt sich dem einfachen -Arbeiter ungemein überlegen. Sicherlich ist sie -nützlich — wer denkt daran das zu leugnen! Sie rafft ja -Gedanken zusammen und ordnet sie in Register, sie verwandelt -und verwendet sie im vielfältigsten Aufbau. -Aber wie selten kommt es ihr in den Sinn, die Substanz, -die sie zu ihrem Werk verwendet, zu prüfen und ihren -Ideeninhalt zu erneuern. So bleibt sie die eifersüchtige -Hüterin eines wertlos gewordenen Schatzes.</p> - -<p>Wäre wenigstens dieser Irrtum ein ungefährlicher! Aber -Ideen, die man nicht unablässig mit der Wirklichkeit vergleicht, -die sich nicht in jeder Stunde im Strom der -lebendigen Erfahrung baden, trocknen ein und werden dann -giftige Substanzen. Sie werfen über das neue Leben ihre -schweren Schatten, die Nacht verbreiten und Fieberschauer -ausstreuen.</p> - -<p>Wie stupide ist doch diese Behexung durch abstrakte Worte! -Was hat es denn für einen Sinn, die Könige abzusetzen -und diejenigen zu verlachen, die für ihre Gebieter sterben, -wenn man an ihre Stelle nur tyrannische Wesenheiten setzt, -die man mit den Flittern jener anderen bekleidet? Besser -ein Monarch mit Fleisch und Knochen, den man sieht, den -man fassen und unterdrücken kann, als diese Abstraktionen, -diese Despoten, die keiner kennt und keiner jemals gekannt -hat.... Denn wir haben mit den großen Eunuchen, mit -den Priestern des „verborgenen Krokodils“, wie Taine es -nannte, mit den ränkeschmiedenden Ministern zu tun, die -das Götzenbild sprechen lassen. Ah, wenn diese Schleier -doch endlich zerreißen und wir die Bestie kennen würden, -die sich in uns versteckt! Es wäre weniger Gefahr für den -Menschen darin, offenkundig eine Bestie zu sein, als die -Brutalität hinter einem lügnerischen, kranken Idealismus -zu verstecken, der die tierischen Instinkte nicht vernichtet, -sondern sie vergöttlicht. Er idealisiert sie, um sie -später zu rechtfertigen, und da er dies nicht vermag, ohne -sie künstlich auf das Äußerste zu vereinfachen (dies ist ein -Gesetz seiner geistigen Natur, die, um zu verstehen, ebensoviel -zerstört als sie aufnimmt), so nimmt er ihnen, indem er -sie nach einer einzigen Richtung hin verstärkt, ihre wahre -Natur. Alles, was sich dann von dieser vorgeschriebenen -Linie entfernt, was die enge Logik seiner geistigen Konstruktion -stört, das leugnet er nicht bloß, sondern schafft -es einfach zur Seite und befiehlt seine Vernichtung im -Namen der geheiligten Prinzipien. So richtet er in der -lebendigen Unendlichkeit der Natur riesige Verwüstungen -an, damit nur einzig jene Gedanken stehen bleiben, die er -sich ausgewählt hat und die sich dann in der Wüste und -zwischen den Ruinen grauenhaft groß und einsam entwickeln, -wie zum Beispiel die bedrückende Macht der despotischen -Begriffsformen der Familie, des Vaterlandes und der -beschränkten, blinden, tyrannischen Moral, die man in deren -Dienst stellte. Der Unglückliche ist dann noch darauf stolz, -obwohl er doch ihr Opfer ist. Längst würde es die Menschheit -nicht mehr wagen, zuzugeben, daß sie sich für ihren -bloßen Vorteil hinschlachtet. Ihres Vorteils, ihrer Geschäfte, -ihrer Interessen rühmen sie sich längst nicht mehr, -sie rühmen sich nur ihrer Ideen, die tausendmal mörderischer -sind. Denn der Mensch sieht in den Ideen, für -die er kämpft, seine menschliche Überlegenheit. Ich sehe seine -Narrheit darin. Der kriegerische Idealismus ist eine Krankheit, -die ihm allein vorbehalten ist, und seine Resultate sind -denen des Alkoholismus ähnlich. Er schafft Einlaß für -tausendmal so viel Schlechtigkeit und Verbrechen, halluziniert -das geschwächte Denken mit Wahnbildern, denen er -dann die Lebendigen aufopfert.</p> - -<p>Welch ein tolles Schauspiel, wenn man sich in die Menschenschädel -hinein versetzt denkt! Eine wilde Jagd von Gespenstern, -die aus fiebernden Gehirnen aufsteigen: Gerechtigkeit, -Freiheit, Recht und Vaterland... Und alle diese -armen Gehirne sind gleich aufrichtig und klagen alle anderen -an, es nicht zu sein. Und von diesem phantastischen -Kampf zwischen mythischen Schatten sieht man von außen -nichts als die Zuckungen und die Schreie der menschlichen -Wesen, die von diesen Dämonenscharen besessen sind.... -Und unter diesen blitzgeladenen Wolken, wo diese großen -wütenden Vögel kämpfen, wimmeln und schieben sich die -Wirklichkeitsmenschen, die Geschäftsleute, wie Ungeziefer in -einem Pelz — offene Mäuler, gierige Hände — und hetzen -heimtückisch zu dem Wahn, den sie ausbeuten, ohne ihn -zu teilen.</p> - -<p>O Gedanke, du furchtbare und schöne Blume, die aus dem -Erdreich jahrhundertealter Instinkte aufwächst, welch ein -Element bist du! Du dringst in den Menschen ein, du -durchdringst ihn, aber du stammst nicht aus ihm, dein Ursprung -ist ihm fremd und deine Kraft geht über ihn hinaus. -Die Sinne des Menschen sind ihrem täglichen Gebrauch -so ziemlich angepaßt, der Gedanke aber ist es nicht, -er strömt über den Menschen hinaus. Er bringt ihn zur -Verzweiflung. Eine unendlich kleine Zahl von Menschen -vermag es, in diesem Strom ihre eigene Richtung beizubehalten, -die große Masse aber wird ins Zufällige hingeschwemmt. -Die ungeheure Kraft des Gedankens steht -nicht im Dienst des Menschen; er versucht bloß, sich seiner -zu bedienen, und die größte Gefahr ist, daß er vermeint, -er sei sein Herr. In Wirklichkeit ist er wie ein Kind, das -mit Explosivkörpern spielt. Es ist ein Mißverhältnis zwischen -diesen gewaltigen Sprengmitteln und dem Zweck, für -den sie die schwachen Hände des Menschen verwerten. Und -manchmal sprengen sie eben alles in die Luft...</p> - -<p>Wie dieser Gefahr begegnen? Den Gedanken ersticken? Die -trunkenen Ideen ausroden? Das hieße, den Menschengeist -entmannen, ihn des stärksten Anreizes zum Leben berauben. -Und doch ist der Alkohol des Gedankens ein um so -gefährlicheres Gift, als es den Massen meist in gefälschten -Drogen eingegeben wird.... Mensch, werde nüchtern! -Schau um dich, reiße dich los von den fremden Ideen, -werde unabhängig von deinen eigenen Gedanken. Lerne -den Riesenkampf dieser rasenden Phantome, die sich untereinander -zerreißen, beherrschen. Vaterland, Recht, Freiheit, -ihr großen Göttinnen, wir wollen euch vor allem eures -Nimbusses entkleiden. Steigt nieder aus dem Olymp, kommt -herab in eine Krippe wie Jesus, ohne Schmuck und ohne -Waffen, reich nur durch eure Schönheit und unsere Liebe!... -Ich kenne keine Götter namens Gerechtigkeit und Freiheit! -Ich kenne nur meine Menschenbrüder und ihre Taten, die -bald gerecht, bald ungerecht sind. Und ich kenne die Völker, -die alle der wahren Freiheit beraubt sind, die alle sich nach -der Freiheit sehnen und die doch alle sich mehr oder minder -unterdrücken lassen.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>er Anblick dieser Welt inmitten ihres hitzigen Fiebers -hätte einem Weisen das Verlangen eingeflößt, sich in -irgendeinen Winkel zurückzuziehen und den Anfall vorübergehen -zu lassen. Aber Clerambault war kein Weiser. Er -wußte nur, daß er es nicht war. Er wußte, daß Sprechen -nutzlos sei, und wußte doch zugleich, daß man sprechen müsse, -wußte, daß er sprechen werde. Er trachtete nur, so lange als -möglich den gefährlichen Augenblick zu verzögern, und seine -Ängstlichkeit, die es sich noch nicht ausdenken konnte, allein -im Kampfe gegen alle zu stehen, suchte rings um sich einen -Gedankengefährten. Wäre man nur zu zweit oder dritt, so -wäre es doch schon weniger hart, den Kampf zu beginnen.</p> - -<p>Die ersten, deren Sympathie er vorsichtig zu suchen begann, -waren arme Menschen, die, wie er, einen Sohn verloren -hatten. Der Vater, ein bekannter Maler, hatte ein Atelier -in der Rue Notre-Dame des Champs. Seit Jahren waren -die Omer-Calvilles den Clerambaults liebe Nachbarn, ein -gutes altes Ehepaar, sehr bürgerlich und sehr zärtlich vereint. -Sie hatten jene Milde des Denkens, wie sie einer ganzen -Reihe von Künstlern jener Zeit gemeinsam war, die -Carrière nahegestanden und von der Lehre Tolstois von -fern berührt worden waren. Ihre Schlichtheit, obwohl ein -wenig künstlich, kam doch aus einer natürlichen Gutmütigkeit: -die Tagesmode hatte sie nur ein wenig zu sehr unterstrichen. -Niemand ist unfähiger, die Leidenschaften des -Krieges zu verstehen, als Künstler dieser Art, die aufrichtig -die religiöse Hochachtung vor allem Lebendigen zu ihrem -Bekenntnis gemacht haben. Selbst in den ersten Kriegsmonaten -hatten sich die Calvilles außerhalb der leidenschaftlichen -Strömung gehalten, sie protestierten nicht dagegen, -sie nahmen sie traurig, würdig hin, wie man eben -Krankheit, Tod und die Schlechtigkeit der Menschheit hinnimmt. -Die glühenden Gedichte Clerambaults, die er -ihnen vorlas, hatten sie höflich angehört, doch sie fanden -kein Echo bei ihnen... Aber seltsam, in der gleichen Stunde, -wo Clerambault, ernüchtert vom kriegerischen Wahn, daran -dachte, sich mit ihnen zu vereinen, entfernten sie sich von -ihm, denn nun rückten sie an jene Stelle, die er eben verlassen -hatte. Der Tod ihres Kindes hatte auf sie gerade -die gegenteilige Wirkung von jener, die Clerambault verwandelt -hatte: jetzt traten sie linkisch in den Kampf, gleichsam, -um den Verlorenen zu ersetzen; Clerambault fand sie -mitten in ihrem Elend, ganz beglückt durch die Nachricht, -Amerika sei bereit, den Krieg zwanzig Jahre lang zu führen. -Er versuchte zu sagen:</p> - -<p>„Was bleibt denn noch in zwanzig Jahren von Frankreich, -von Europa übrig?“</p> - -<p>Aber mit einer hastigen Erregung schoben jene diesen Gedanken -sofort zur Seite. Es schien, als sei es ihnen unbequem, -daran zu denken oder davon zu sprechen. Jetzt -handelte es sich einzig darum, zu siegen. Um welchen Preis? -Das würde man nachher berechnen. — Siegen! — Wenn -es dann in Frankreich keine Sieger mehr gäbe? Gleichgültig! -Wenn nur die anderen, die da drüben, besiegt -würden. Nein, das Blut ihres toten Kindes durfte nicht -vergebens vergossen sein!</p> - -<p>Und Clerambault dachte:</p> - -<p>„Ist es nötig, daß zur Rache für ihn noch andere unschuldige -Opfer hingeschlachtet werden?“</p> - -<p>Und im Grunde dieser Seelen, dieser sonst wirklich guten -Menschen las er:</p> - -<p>„Warum denn nicht?“</p> - -<p>Und er las es bei allen jenen, die wie die Calvilles im -Kriege das Teuerste verloren hatten, einen Sohn, einen -Gatten, einen Bruder:</p> - -<p>„Mögen die anderen auch leiden! Wir haben auch gelitten! -Wir haben nichts mehr zu verlieren.“</p> - -<p>Wirklich nichts mehr? Doch! Eine einzige Sache, die der -eifersüchtige Egoismus verbarg: ihren Glauben an den -Nutzen ihres Opfers. Und diesen Glauben wollten sie sich -nicht erschüttern lassen, um keinen Preis. Sie verboten es sich, -daran zu zweifeln, daß es eine heilige Sache sei, für die ihre -Toten gefallen waren. Und das wußten die Herren des -Krieges wohl und verstanden es auf das beste, dieses Lockmittel -auszunützen! — Nein, in diesen Trauerhäusern war kein -Raum für den Zweifel Clerambaults und für sein Mitleid!</p> - -<p>„Wer hat Mitleid mit uns gehabt?“ dachten diese Unglücklichen. -„Und warum sollen dann wir welches haben?“</p> - -<p>Es gab unter ihnen einige, die weniger hart getroffen waren. -Aber was alle diese Leute der Bourgeoisie charakterisierte, -war die Hypnose der großen Worte der Vergangenheit, -unter der sie lebten, „der Wohlfahrtsausschuß... das -Vaterland in Gefahr... Plutarchs Biographien... der -alte Horaz“. Es war für sie unmöglich, die Gegenwart mit -den Augen von heute zu sehen. Aber hatten sie denn überhaupt -noch Augen, um zu sehen? Wieviele innerhalb der -Bürgerwelt unserer Tage haben denn außerhalb des engen -Kreises ihrer Geschäfte in den letzten dreißig Jahren die -Kraft und den Willen gehabt, aus Eigenem denken zu -wollen? Das fiel ihnen nicht einmal im Traume ein. So -wie ihr Essen, servierte man ihnen ihre Gedanken fertig und -gar gekocht und sogar noch bedeutend billiger. Für ein Geringes -fanden sie sie täglich in der Zeitung. Die Begabteren, -die sie in den Büchern suchten, gaben sich nicht die nötige -Mühe, sie im Leben zu suchen, und behaupteten, daß -sich das Leben in den Büchern spiegle. Wie bei Greisen -verkalkten ihre Gliedmaßen, versteinerte ihr Geist.</p> - -<p>In der breiten Herde dieser Wiederkäuerseelen, die ihr Futter -von den Weiden der Vergangenheit nahmen, zeichneten sich -damals besonders die Gruppen der strenggläubigen französischen -Revolutionäre aus. Zur Zeit des 16. Mai und -lange nachher noch, hatten sie als Brandstifter in der immer -rückständigen Bourgeoisie gegolten. Nun aber, als gesetzte -und wohlbestallte Fünfzigjährige, erinnerten sie sich mit -Stolz, wie Erwachsene eben auf ihre Jungenstreiche stolz -sind, an das Entsetzen, das ihre einstige, längst vergangene -Kühnheit verursacht hatte. Vor ihrem eigenen Spiegel hatten -sie sich nicht verändert, aber die Welt um sie war eine andere -geworden, ohne daß sie dessen gewahr wurden, denn sie -blickten ja immer nur auf die abgelebten Modelle, deren Gedanken -sie nachbeteten. Es gibt einen merkwürdigen Nachahmungsinstinkt, -ein Knechtschaftsbedürfnis des Denkens, -das von einem losgelösten Stück Weltgeschichte nicht mehr -loskommt. Statt Proteus, das ewige wandelhafte Leben, in -seinem Fortgange zu verfolgen, rafft es die alte Haut auf, -aus der die junge Schlange längst ausgebrochen ist, und -versucht sie wieder darin einzunähen. Diese fanatischen -Pedanten verblichener Revolutionen behaupten, daß alle -zukünftigen Umwälzungen notwendig nach dem Modell der -alten, toten Formen zurechtgeschnitten werden müssen, und -vor allem dulden sie nicht, daß irgendeine neue Freiheit -ein anderes Tempo einschlage und die Grenzen überschreite, -an denen jene großmütterliche von 1793 erschöpft haltgemacht -hatte. Ihr Zorn richtet sich darum weit mehr gegen -die Respektlosigkeit der Jugend, die über sie hinaus will, -als gegen das Gekläff der Greise, über die sie selbst hinausgekommen -sind. Und das hat seinen guten Grund, denn -an der Existenz dieser Jungen erkennen sie, daß sie selbst -alt geworden sind. Und darum kläffen sie gegen sie.</p> - -<p>In diesen Dingen wird sich nichts ändern. Ganz selten nur -gestatten einige seltene Geister, wenn sie altern, dem Leben, -daß es über sie hinaus seinen Lauf weiter nehme, und genießen -großmütig, wenn ihre eigenen Augen erlöschen, die -Zukunft mit den Augen ihrer Nachfolger. Aber die meisten -von jenen, die als Junge die Freiheit geliebt hatten, wollen -aus ihr einen Käfig für die neue Brut machen, sobald sie -selber nicht mehr fliegen können.</p> - -<p>Der Internationalismus von heute fand keine erbitterteren -Gegner als jene Diener des national-revolutionären Kultes -im Sinne Dantons oder Robespierres. Sie selber verstanden -sich nicht untereinander, die Anhänger Dantons -und Robespierres, zwischen denen sich noch immer der Schatten -der Guillotine aufrichtet, sie beschimpften sich gegenseitig -drohend als Ketzer. Aber in einem waren sie ganz -einig: alle jene der äußersten Bestrafung zuzuführen, die -nicht glauben wollten, daß man die Freiheit mit Kanonenmündungen -verbreiten kann, die jede Gewalt gleicherweise -verwarfen, ob sie nun von Cäsar oder von Demos und seinen -Lederzurichtern kam, gleichgültig, ob sie im Namen des -„alten Gottes“ gepredigt wurde oder des „jungen“, der -Freiheit und des Rechts. Die Masken ändern sich, aber -das blutige Maul unter der Maske bleibt immer dasselbe.</p> - -<p>Clerambault kannte eine ganze Reihe solcher Fanatiker, -aber es war ebenso wenig möglich, sich mit ihnen darüber -auszusprechen, ob sich das Gerade und das Krumme nicht -vielleicht doch auf beiden Seiten fände, wie für einen Manichäer, -mit der heiligen Inquisition zu streiten. Auch die -sozialen, die bürgerlichen Religionen haben ihre großen -Seminare und geheimen Gesellschaften, in denen das Beweismaterial -der Lehre sorgfältig aufgestapelt wird. Wer -sich davon ausschließt, wird exkommuniziert, so lange wenigstens, -bis er selbst der Vergangenheit angehört. Dann -winkt ihm die Möglichkeit, selbst vergöttlicht und zur Exkommunizierung -Späterer mißbraucht zu werden.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>A</span>ber wenn Clerambault sich nicht versucht fühlte, diese -harten Intellektuellen, die hinter ihrer engen Wahrheit -verschanzt waren, zu einer Änderung ihrer Gesinnung zu -bewegen, so kannte er doch andere, die diesen Sicherheitsdünkel -durchaus nicht hatten. Ganz im Gegenteil: Ihr -Fehler war wiederum allzu große Wandlungsfähigkeit und -dilettantische Nachgiebigkeit. Arsène Asselin war einer dieser -Art, ein liebenswürdiger Pariser Junggeselle aus der -guten Gesellschaft, klug und skeptisch zugleich. Jeder Verstoß -im Geschmack oder im Ausdruck beleidigte sein Empfinden. -Wie hätte ihm also diese Übertriebenheit des Denkens -gefallen sollen, diese Treibhaushitze, in der der Krieg -hochgezüchtet wurde. Seine kritische Vernunft, seine Ironie -mußten dem Zweifel geneigt sein. So gab es also keinen -rechten Grund, daß er die Ansichten Clerambaults nicht teilen -sollte.... Und wirklich, im Anfang hatte nur ein Haar -gefehlt, daß er so dachte wie Clerambault, seine Entscheidung -war nur ganz zufällig anders gefallen. Aber sobald -er einmal den Fuß in die eine Richtung gesetzt hatte, schien -es ihm unmöglich umzukehren, und je mehr er hineintrieb, -um so trotziger wurde er. Die französische Eigenliebe -wird nie einen Irrtum eingestehen, sondern eher sich für ihn -töten lassen. Aber überhaupt, Franzose oder nicht, wie viele -Menschen gibt es denn in der Welt, die den Mut haben zu -sagen:</p> - -<p>„Ich habe mich getäuscht, jetzt heißt es von vorn anfangen.“ -Nein, lieber die Tatsachen leugnen... Bis ans Ende durch!... -Und krepieren.</p> - -<p>In einem anderen Sinn merkwürdig war Alexander Mignon, -ein Vorkriegspazifist, ein alter Freund Clerambaults, -ungefähr im gleichen Alter mit ihm, Bourgeois, Intellektueller -und Hochschullehrer, von würdiger Haltung, die -mit Recht Respekt einflößte. Man durfte ihn nicht verwechseln -mit jenen ordensgeschmückten Bankettpazifisten, -die Dekorationen aus allen Ländern haben und denen der -Schwatz vom Frieden in windstillen Jahren ein sorgloses -Dasein sichert. Mignon hatte durch dreißig Jahre aufrecht -die gefährlichen Quertreibereien der Politiker und die verdächtigen -Spekulanten seines Landes bekämpft, er gehörte -der Liga der Menschenrechte an und hatte das unwiderstehliche -Gelüst, für jeden, der da kam und im Unglück war, -eilig das Wort zu nehmen. Ihm genügte es schon, wenn -einer sich unterdrückt nannte, er fragte sich nie, ob der sogenannte -Unterdrückte nicht bloß einer war, dem bisher nur -die Gelegenheit gefehlt hatte, selbst zu unterdrücken. Seine -unruhige Gutmütigkeit hatte ihn bei aller Hochachtung -ein wenig lächerlich gemacht, und er war darüber nicht -böse. Sogar ein wenig Unpopularität hätte ihn durchaus -nicht erschreckt, vorausgesetzt freilich, daß er sich von -seiner Gruppe gedeckt fühlte, deren warme Zustimmung -ihm aber unbedingt nötig war. Er war durchaus kein Unabhängiger, -wie er glaubte, sondern nur das Mitglied einer -Gruppe, die sich so lange unabhängig fühlte, als alle ihre -Mitglieder zusammenhielten. Die Gemeinschaft macht -die Kraft, sagt man, das ist wahr. Aber sie gewöhnt einen -auch daran, der Gemeinschaft nicht mehr entbehren -zu können. Und das mußte Alexander Mignon an sich -erfahren.</p> - -<p>Der Hingang Jaurès’ hatte die ganze Gruppe in Verwirrung -gebracht. Sobald die eine Stimme fehlte, die immer -als erste das Wort nahm, verstummten auch alle anderen, -denn sie warteten auf das Stichwort, und keiner wagte es zu -geben. Unsicher im Augenblick, wo der Sturm einbrach, -wurden diese hochherzigen und schwachen Menschen durch -den Wirbel der ersten Tage mitgerissen. Sie verstanden -die Begeisterung nicht, sie rechtfertigten sie nicht, aber sie -hatten ihr nichts entgegenzustellen. Schon die erste Stunde -riß einige Lücken in ihre Reihen, es zeigten sich Desertionen, -die verschuldet waren durch die schrecklichen Redner, die den -Staat beherrschten, durch jene demagogischen Advokaten, -die mit allen Sophismen der republikanischen Ideologie -geschmiert waren, „Krieg für den Frieden“, „der Weltfriede -als Ziel“ (<span class='it'>requiescat!</span>), und diese armen Pazifisten sahen -in diesen Verdrehungen eine einzige Gelegenheit — allerdings -keine rühmliche, keine, auf die sie sehr stolz waren — -aus der Sackgasse zu kommen. Sie redeten sich ein, durch -einen kleinen Kunstgriff, dessen verbrecherische Größe sie -nicht merkten, ihre Friedensideen mit der Tatsache der -Gewalt glücklich in Einklang gebracht zu haben. Widerstand -hätte bedeutet, sich den Kriegsbestien auszuliefern, die sie -mitleidslos zerrissen hätten.</p> - -<p>Alexander Mignon hätte wohl den Mut gehabt, diesen blutigen -Mäulern entgegenzutreten, hätte er nur seine kleine -Gemeinschaft um sich gesehen. Aber allein zu kämpfen, das -war über seine Kraft. Ohne sich zuerst offen auszusprechen, -ließ er doch alles geschehen. Er litt, er war verstört und -machte eine ähnliche geistige Krise durch wie Clerambault, -aber er konnte sich nicht wie Clerambault ihr entringen. Er -war weniger leidenschaftlich, aber intellektueller; um seine -letzten Bedenken wegzutilgen, umkleidete er sich mit einem -Netz logischer Vernunftgründe. Mit Hilfe seiner Kameraden -bewies er mühselig nach der Methode <span class='it'>a + b</span>, daß der -Krieg eine Pflicht für den zielbewußten Pazifismus sei. -Seine Liga hatte leichte Arbeit, die verbrecherischen Akte des -Feindes aufzudecken; freilich verlor sie keine Zeit damit, -auf jene im eigenen Lager hinzuweisen. In manchen Augenblicken -sah Alexander Mignon deutlich die Unaufrichtigkeit -auf allen Seiten. Unerträglicher Anblick ..... er schloß -rasch seine Läden....</p> - -<p>Und je blinder er sich in seine Kriegslogik verstrickte, um -so schwerer war es für ihn, sich daraus zu befreien. So -verbrannte er seine Schiffe hinter sich, eins nach dem andern. -Er wurde böse wie ein Kind, das durch einen unbedachten -Akt ungeschickter Nervosität einem Insekt den Flügel ausgerissen -hat. Das Insekt ist nun verloren, und das Kind, -beschämt über seine Handlung, rächt sein Leid und seine -Scham an dem Tier, das es nun ganz in Stücke reißt.</p> - -<p>So war es leicht vorauszusehen, mit welcher Freude er Clerambault -sein „<span class='it'>mea culpa</span>“ vortragen hörte. Die Wirkung -war überraschend. Mignon, innerlich ganz unsicher, wurde -wütend gegen Clerambault, denn Clerambault schien ihn -anzuklagen, indem er sich beschuldigte. Von dieser Stunde -an wurde er sein erbitterter Feind, und keiner bekämpfte -später gehässiger als Mignon dieses sein lebendiges schlechtes -Gewissen.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault hätte mehr Verständnis bei einigen Politikern -finden können, denn die wußten von diesen Dingen -ebensoviel, wie er selbst wußte, und sogar noch einiges mehr, -aber das störte durchaus nicht ihren guten Schlaf. Seit -ihrem ersten Sündenfall praktizierten sie munter die Technik -der <span class='it'>combinazioni</span>, der Gedankenschwindeleien, sie gaben -sich mit Recht der Täuschung hin, ihrer Partei zu dienen auf -Kosten von ein paar Kompromissen. Eins weniger, eins -mehr, was macht das aus?... Geradeaus zu gehen, geradeaus -zu denken, war das einzig Unmögliche für diese Mollusken, -die immer krumme Wege nahmen, sich schlangenhaft -vorwärtsschoben, gleichsam nach rückwärts vorrückten, -die, um den Triumph ihres Banners sicher zu machen, es -durch den Schmutz schleiften und bäuchlings zum Kapitol -emporgerutscht wären.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>S</span>chließlich gab es auch da und dort unterirdisch einige -Klarblickende. Aber sie waren mehr zu ahnen als zu -sehen. Diese melancholischen Glühwürmchen löschten vorsichtig -ihre Laternen aus, sie hatten Todesangst, daß man -einen Schimmer wahrnehmen könnte. Zwar waren sie frei -von dem Wahn des Krieges, aber sie waren nicht gläubig -genug zur Tat wider den Krieg, sie blieben bloß Fatalisten -und Pessimisten.</p> - -<p>Clerambault erkannte, daß auch die höchsten Fähigkeiten des -Herzens und des Geistes nur die öffentliche Knechtschaft -verstärken, wenn sie nicht mit persönlicher Energie gepaart -sind. Der Stoizismus, der sich den Gesetzen des Weltalls -unterwirft, ist ein Hemmnis im Kampf gegen die Grausamkeit -einzelner Gesetze. Statt zum Schicksal zu sagen: -„Nein, hier ist kein Weg für dich“ (man wird ja sehen, ob -es doch hindurchgeht), tritt der Stoiker höflich zurück und -sagt: „Bitte, treten Sie ein!“</p> - -<p>Der kultivierte Heroismus, die Neigung für das Übermenschliche, -für das Unmenschliche, macht die Seele durch die -Opfer trunken, und je toller sie sind, um so herrlicher -erscheinen sie. Die Christen von heute, großmütiger als ihr -Meister, geben <span class='gesp'>alles</span> dem Cäsar hin. Sobald er geruht, -sie für irgendeinen Anlaß hinzuopfern, erklären sie diesen -Anlaß schon für heilig. Fromm geben sie der Schande des -Krieges die Glut ihres Glaubens hin und ihre Körper dem -Scheiterhaufen. Die duldende, nachgiebige Resignation der -Völker macht den Rücken krumm und läßt sich die Last aufladen: -„Mach’ dir nichts draus!“ Zweifellos sind Jahrhunderte -des Elends über diesen Stein dahingerollt. Aber -auch der Stein verbraucht sich schließlich und wird Schlamm.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault versuchte mit dem einen oder dem andern -zu sprechen. Überall aber stieß er auf denselben Mechanismus -unterirdischen, halb unbewußten Widerstandes. Sie -waren alle mit dem Willen, nicht zu verstehen, oder eigentlich -mit einem beharrlichen Gegenwillen ehern umgürtet. Von -Gegenargumenten wurde ihre Vernunft so wenig berührt, -wie eine Ente vom Wasser. Im allgemeinen sind die Menschen -zum Zweck ihrer Bequemlichkeit mit einer ganz unschätzbaren -Eigenschaft ausgerüstet, sie können sich nämlich -auf Wunsch blind und taub machen, wenn sie etwas -nicht sehen oder hören wollen. Und haben sie schon durch -irgendeinen peinlichen Zufall irgend etwas bemerkt, was -ihnen lästig ist, so verstehen sie die Kunst, es sofort wieder zu -vergessen. Wieviele Bürger gab es doch in allen Vaterländern, -die genau wußten, wie es um die beiderseitige Verantwortlichkeit -im Kriege stand, die genau die verhängnisvolle -Rolle ihrer politischen Führer kannten, aber sie -zogen vor, sich selbst zu betrügen und sich so zu stellen, als -wüßten sie nichts davon. Schließlich gelang es ihnen sogar, -das genaue Gegenteil zu glauben.</p> - -<p>Wenn nun schon jeder, so rasch er konnte, vor sich selber auswich, -kann man sich vorstellen, wie hastig sie erst vor jenen -flohen, die wie Clerambault ihnen behilflich sein wollten, -sich selber zu erwischen. Um sich davonzumachen, schämten -sich diese klugen, ernsten und ehrenwerten Männer nicht, -alle jene kleinen Schliche und unredlichen Kniffe anzuwenden, -deren sich sonst nur rechthaberische Frauen und Kinder bedienen. -Aus Angst vor der Diskussion, die sie beunruhigen -könnte, sprangen sie beim ersten ungeschickten Worte Clerambaults -auf, rissen es aus dem Zusammenhange, fälschten -es, wie es ihnen paßte, um sich darüber dann künstlich aufzuregen, -laut mit aufgerissenen Augen zu schreien, sich entrüstet -zu stellen und es schließlich wirklich im höchsten Maße zu -werden. Sie schrien Zetermordio, und wenn man ihnen das -Gegenteil bewies und sie zur Richtigstellung zwang, sprangen -sie auf, schlugen die Türen zu: „Jetzt habe ich genug“. Um -dann zwei Tage oder zehn nachher die breitgeschlagenen -Themen aufzunehmen, als ob nichts vorgefallen wäre.</p> - -<p>Andere wieder, die noch heimtückischer waren, forderten in -bewußter Absicht die Unvorsichtigkeit Clerambaults heraus, -sie reizten ihn durch freundliches Entgegenkommen, mehr -zu sagen, als er eigentlich wollte, um dann plötzlich loszubrechen. -Die Wohlwollendsten beschuldigten ihn, daß es -ihm an gesundem Menschenverstand fehlte. („Gesund“ sollte -natürlich heißen: an „meinem“, an „unserem“.)</p> - -<p>Andere wieder waren Schönredner, die vor einem Wortturnier -keine Angst hatten und gern die Diskussion aufnahmen -in der Hoffnung, das verirrte Schaf wieder zur -Herde heim zu führen. Sie diskutierten nicht die Anschauung -Clerambaults selbst, sondern nur, ob sie zeitgemäß sei, -und appellierten an seine gute Gesinnung.</p> - -<p>„Gewiß, gewiß. Sie haben im Grunde recht, im Grunde -denke ich ganz so wie Sie, fast so wie Sie. O, ich verstehe -Sie, lieber Freund... Aber, lieber Freund, seien Sie vorsichtig, -vermeiden Sie es doch, die Gewissen der Kämpfer -zu beunruhigen... Schwächen wir doch nicht ihre Kraft. -Man darf nicht jede Wahrheit aussprechen, wenigstens nicht -sofort. Die Ihre wird sehr schön sein... in fünfzig Jahren. -Man darf nicht hastiger sein wollen als die Natur, man -muß warten..., warten bis die Zeit für sie reif sein wird...“</p> - -<p>„Abwarten? Was abwarten? Bis der Appetit der Ausbeuter -oder die Dummheit der Ausgebeuteten müde geworden -ist? Können Sie denn nicht verstehen, daß die klaren -und durchdringenden Gedanken der Besseren, wenn sie zugunsten -der Blinden und der Denkungsart niedriger Menschen -auf das Wort verzichten, geradewegs dem Lauf der -Natur widerstreben, der sie zu dienen vorgeben, daß sie -gegen den Sinn der Geschichte handeln, unter den sich zu -beugen sie als ihre eigenste Ehre empfinden? Heißt das die -Absichten der Natur in Ergebenheit anerkennen, wenn man -einen Teil, und gerade den besten ihres Sinnes, zum -Schweigen bringt? Diese Auffassung, die dem Leben seine -kühnste Kraft entzieht und sie den Leidenschaften der Masse -unterordnet, würde dahin führen, die Vorhut zu vernichten, -die große Masse der Armee ohne Führung zu lassen.... -Wenn ein Kahn sich nach einer Seite neigt, wollt ihr mich -hindern, mich auf die andere zu setzen, um ein Gegengewicht -zu schaffen? Oder soll sich die ganze Besatzung auf -die Seite setzen, wo er schon überneigt? Die fortgeschrittenen -Ideen sind das von der Natur gewollte Gegengewicht -gegen die schwere Vergangenheit, die ihnen entgegenwirkt. -Ohne sie geht der Kahn unter. — Wie man diese Ideen aufnimmt, -das ist für mich nebensächlich. Wer sie ausspricht, -muß sich darauf gefaßt machen, gesteinigt zu werden, wer -sie aber nicht ausspricht, macht sich ehrlos. Er ist gleichsam -ein Soldat, der mit gefährlicher Botschaft während der -Schlacht ausgesandt wird. Hat er das Recht, sich solchem -Auftrag zu entziehen?“</p> - -<p>Sobald sie sahen, daß ihr Zureden ohne Wirkung auf -Clerambault blieb, demaskierten sie ihre Batterien und beschuldigten -ihn erbittert einer lächerlichen und gefährlichen -Eitelkeit. Sie fragten ihn, ob er sich klüger dünke als alle -anderen, weil er seine Meinung der der Nation entgegensetze, -und worauf er denn eigentlich sein ungeheuerliches -Selbstgefühl stütze. Es sei Pflicht, demütig zu sein, bescheiden -an seinem Platze inmitten der Gemeinschaft zu verharren, -sich zu beugen, wo sie gesprochen habe, und — ob -man sie für nützlich halte oder nicht — sich ihren Befehlen zu -unterwerfen. Wehe dem Aufrührer gegen die Seele seines -Volkes! Gegen sie recht behalten wollen, heißt unrecht haben. -Und das Unrecht wird zum Verbrechen, in der Stunde der -Tat. Die Republik verlangt, daß ihre Kinder ihr gehorchen.</p> - -<p>„Die Republik oder der Tod“, sagte Clerambault ironisch. -„Schönes Land der Freiheit. Frei! Ja, es ist frei, aber nur -deshalb, weil es dort immer Seelen wie die meine gegeben -hat und geben wird, Seelen, die sich weigern, ein Joch zu -tragen, gegen das sich ihr Gewissen wehrt. Aber welche Nation -von Tyrannen auch! Wir haben nichts damit gewonnen, -daß wir die Bastille eroberten. Einst gebot man -ewige Gefängnishaft, wenn sich einer gestattete, anders zu -denken als sein Fürst, und fand den Scheiterhaufen ganz -am Platze für den, der anders dachte als die Kirche. Heute -muß man genau so denken wie vierzig Millionen Menschen, -ihnen nachlaufen in ihren leidenschaftlichen Widersprüchen, -heute brüllen „Nieder mit England!“, dann morgen wieder -„Nieder mit Deutschland!“, übermorgen vielleicht „Nieder -mit Italien!“, jede Woche etwas anderes, heute einem -Mann oder einem Gedanken zujubeln, den man morgen -wird beschimpfen müssen. Und wenn man sich weigert, so -setzt man sich der Unehre oder einem Revolverschuß aus. -Was für eine erbärmliche Knechtschaft, die erbärmlichste -von allen!... Was für ein Recht haben denn hundert Seelen, -tausend Seelen oder vierzig Millionen Seelen, von -mir zu verlangen, daß ich meine Seele verleugne? Jeder -von Ihnen hat doch wie ich selbst nur eine. Vierzig Millionen -Seelen zusammen bilden allzu oft nur eine Seele, -die sich vierzigmillionenmal verleugnet... Ich denke, was -ich denke, so denkt auch ihr, was ihr denkt!</p> - -<p>Die lebendige Wahrheit kann nur aus dem Gleichgewicht -entgegengesetzter Ideen entstehen. Damit alle Bürger den -Staat ehren können, tut es not, daß der Staat auch seine -Bürger ehre. Jeder von Ihnen hat seine Seele und hat -sein Recht darauf, und seine erste Pflicht ist, sie nicht zu verraten, -niemals den Zusammenhang mit seinem Gewissen -zu verlieren.... Ich gebe mich keinem Wahn hin, ich maße -meinem Gewissen keine übertriebene Bedeutung in einem -stürzenden Weltall bei. Aber so wenig wir auch sein mögen, -so wenig wir auch tun mögen, das, was man ist, muß man -schlicht und stark sein, das, was man tut, schlicht und stark -tun. Jeder kann sich täuschen, aber ob er sich täuscht oder -nicht, er muß aufrichtig sein. Ein aufrichtiger Irrtum ist -keine Lüge, er ist nur ein Schritt auf die Wahrheit zu. Lüge -ist, vor der Wahrheit Angst haben und sie ersticken wollen. -Wenn ihr tausendmal recht habt gegen einen aufrichtigen -Irrtum — im Augenblick, wo ihr zur Gewalt greift, um -ihn zu vernichten, begeht ihr das niedrigste Verbrechen -gegen die Vernunft selbst. Wo die Vernunft verfolgt und -der Irrtum verfolgt wird, bin ich für den Verfolgten, denn -der Irrtum ist ebenso ein Recht wie die Wahrheit... Wahrheit? -Wahrheit?... Wahrheit ist das ewige Suchen -nach der Wahrheit. Achtet die Anstrengungen jener, die -sich mühen, sie zu finden. Wenn man einen Menschen, der -sich mühsam auf einem anderen Wege durchringt, verfolgt, -weil er eine für den menschlichen Fortschritt weniger unmenschliche -Bahn finden will — und sie vielleicht niemals -findet —, so macht man aus ihm einen Märtyrer. Ihr sagt, -euer Weg sei der bessere, der einzig gute? So geht ihn doch -und laßt mich den meinen gehen! Ich zwinge euch ja nicht, -mir zu folgen. Was regt ihr euch so auf? Habt ihr am Ende -Angst, ich könnte recht haben?“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault beschloß, noch einmal Perrotin aufzusuchen. -Trotz des Gefühls traurigen Mitleids, das jene letzte -Begegnung in ihm hervorgerufen hatte, verstand er nun -Perrotins ironische und kluge Haltung gegenüber der Welt -besser. Und so sehr auch seine Achtung für den Charakter des -alten Gelehrten nachgelassen hatte, seine Bewunderung für -die hohe geistige Kraft desselben blieb doch unversehrt: -noch immer betrachtete er ihn als einen Führer, der ihm -helfen könnte, sich selbst zu erleuchten.</p> - -<p>Man kann sich leicht denken, daß Perrotin sich nicht übermäßig -entzückt zeigte, Clerambault wiederzusehen. Er war doch -zu fein veranlagt, um nicht eine unangenehme Erinnerung -an die kleine Feigheit bewahrt zu haben, die er damals nicht -nur begangen (denn daraus machte er sich längst nichts -mehr, daran war er zu gewöhnt), sondern die er stillschweigend -vor dem Blicke eines makellosen Zeugen hatte bekennen -müssen. Er sah eine Auseinandersetzung voraus, und -Auseinandersetzungen mit Menschen von feststehender -Überzeugung waren ihm ein Greuel. (Es gibt ja dann -gar kein Amusement mehr, solche Leute nehmen alles -ganz ernst.) Aber als höflicher, eigentlich gutmütiger und -schwacher Mensch war er unfähig sich zu wehren, wenn -man ihn geradeaus anpackte. Er versuchte zuerst, alle ernsten -Gespräche auszuschalten. Als er aber merkte, daß Clerambault -wirklich seiner bedurfte, und er ihn vielleicht von -irgendeiner Unbedachtheit zurückhalten könnte, entschloß er -sich mit einem Seufzer, ihm seinen Vormittag zu opfern.</p> - -<p>Clerambault entwickelte ihm das Resultat seiner Bemühungen. -Er war nun vollkommen klar darüber, daß die gegenwärtige -Welt sich einem andern Ideal als dem seinen unterwarf. -Er selbst hatte ja früher gleichfalls dies Ideal geteilt, -ihm gedient und es gefeiert, und noch heute war er gerecht -genug, ihm eine gewisse Schönheit zuzuerkennen. Bei den -letzten Prüfungen war er aber auch des Sinnlosen und Widrigen -dieses Ideals bewußt geworden und er fühlte, da er -sich von ihm losgelöst hatte, sich nun genötigt, sich zu einem -andern zu bekennen, das verhängnisvollerweise ihn mit dem -früheren in Konflikt brachte. In kurzen und leidenschaftlichen -Ausdrücken entwickelte Clerambault dieses neue Ideal und -bat Perrotin, ihm klar und offen mit Hintansetzung jeder -Höflichkeit und jeder Schonung zu sagen, ob er es richtig -fände oder falsch. Perrotin nun, betroffen von Clerambaults -tragischem Ernst, änderte sofort seinen Ton und -stimmte ihm zu.</p> - -<p>„Habe ich also unrecht?“ fragte Clerambault ganz voll -Angst, „ich sehe gut, daß ich allein bin, aber ich kann nicht -anders. Sagen Sie also, ohne mich zu schonen: ist es ein -Unrecht von mir, daß ich das denke, was ich denke?“</p> - -<p>Perrotin antwortete mit Ernst:</p> - -<p>„Nein, mein Freund, Sie haben vollkommen recht.“</p> - -<p>„Also ist es meine Pflicht, den mörderischen Irrtum der -andern zu bekämpfen?“</p> - -<p>„Das ist wieder eine andere Sache.“</p> - -<p>„Habe ich also die Wahrheit nur dazu, um sie zu verraten?“</p> - -<p>„Die Wahrheit, mein Freund... (nein, sehen Sie mich nicht -so an!) Sie glauben jetzt, daß ich so wie jener andere sagen -werde: „Was ist Wahrheit?“ Nein.... Ich liebe sie ebenso -wie Sie und vielleicht länger als Sie.... Aber die Wahrheit, -mein Freund, ist höher, weiter als Sie, als wir, als -alle, die jemals lebten, leben und leben werden.... Immer -wenn wir meinen, dieser großen Göttin zu dienen, dienen -wir nur den <span class='it'>Di minores</span>, den Heiligen der Seitenkapellen, -die von der großen Masse abwechselnd vergöttert und verlassen -werden. Gewiß kann das nicht unsere, nicht Ihre -und nicht meine Wahrheit sein, zu deren Ehre sich die heutige -Welt mit korybantischer Leidenschaft hinschlachtet und verstümmelt. -Das Ideal des Vaterlandes ist das eines großen -grausamen Gottes, das der Zukunft im mythischen Bilde -eines Chronos als Schreckgespenst, oder seines olympischen -Sohnes, den Christus entthronte, erscheinen wird. Ihr -Menschheitsideal ist auf einer höheren Stufe und kündigt -einen neuen Gott an. Aber auch dieser Gott wird später von -einem anderen entthront werden, der noch höher steht und -noch mehr vom Weltall umfängt. Das Ideal wie das Leben -hören nicht auf, sich zu entwickeln, und dieses unablässige -Werden ist für einen freien Geist der wirkliche Inhalt der -Welt. — Aber wenn es auch dem Geist gegeben ist, die -Stufen dieser Entwicklung ungestraft im Fluge zu überspringen, -so kommt man doch in dieser Welt der Tatsachen -nur Schritt für Schritt vorwärts. In einem ganzen Leben -dringt man vielleicht nur um ein paar Zoll vor.</p> - -<p>Die Menschheit hat lahme Beine und Ihr ganzes Unrecht, -Ihr einziges Unrecht ist, daß Sie ihr voraus sind um einen -oder mehrere Tagemärsche. Aber gerade dieses Unrecht verzeiht -man einem Menschen am wenigsten.... Und das geschieht -vielleicht nicht ohne Grund. Denn wenn ein Ideal, -wie jetzt jenes des Vaterlandes, gleichzeitig mit der Gesellschaftsform, -von der es getragen wird, altert, so wird -es bösartig und speit sein gefährlichstes Feuer aus. Der -kleinste Zweifel an seiner Berechtigung macht es toll, denn -der Zweifel steckt schon in ihm selbst. Täuschen wir uns nicht -darüber: Die Millionen Menschen, die sich heute im Namen -des Vaterlandes hinschlachten lassen, haben nicht mehr das -junge gläubige Vertrauen von 1792 oder 1813, obwohl -heute viel größere Ruinen und Trümmer aufrufen. Viele -derer, die sterben, und selbst die, die sich bewußt töten lassen, -fühlen im tiefsten Grunde ihrer Seele das furchtbare -Nagen des Zweifels. Aber einmal in die Falle gegangen, -zu schwach, aus ihr auszubrechen oder sich einen Ausweg -zu erdenken, verbinden sie sich die Augen und werfen sich -in den Abgrund, während sie gleichzeitig voll Verzweiflung -ihren schon erloschenen Glauben bekennen. Aber vor -allem schleudern sie in der Erbitterung einer uneingestandenen -Rache diejenigen hinein, die durch ihre Worte oder -ihre Haltung den Zweifel in ihnen erweckt haben. Denjenigen, -die für einen Wahn sterben, diesen Wahn nehmen -wollen, heißt, sie zweimal sterben lassen.“</p> - -<p>Clerambault faßte ihn bei der Hand, damit er nicht weiterspräche. -„O, Sie brauchen mir das nicht zu sagen, was mich -ohnehin quält! Glauben Sie denn, daß ich nicht selbst die -Angst fühle, diese Unglücklichen noch mehr zu verwirren? -Ja, ich möchte den Glauben dieser armen Jungen schonen, -nicht einen einzigen dieser Armen unglücklich machen, aber, -mein Gott, was soll ich tun? Helfen Sie mir, aus diesem -Zwiespalt herauszukommen, ob man das Böse ruhig geschehen -lassen soll, die andern ruhig sich vernichten lassen, -oder es wagen, ihnen noch mehr wehe zu tun, sie in ihrem -Glauben zu verletzen und sich ihrem Haß auszuliefern eben dadurch, -daß man sie retten will. Welches ist das richtige Gebot?“</p> - -<p>„Sich selbst zu retten!“</p> - -<p>„Mich selbst retten, heißt mich vernichten, wenn ich etwas -auf Kosten der andern tue. Wenn wir nichts für sie tun — -Sie, ich, denn wenn wir uns auch alle verbinden, sind wir -doch noch immer zu wenige — dann geht Europa, dann -geht die Welt zugrunde....“</p> - -<p>Perrotin, die Ellbogen auf die Lehne gestützt, die Hände -über seinem Buddhabauch gefaltet und die Daumen drehend, -sah Clerambault auf das gutmütigste an, hob den -Kopf und sagte:</p> - -<p>„Ihre Menschengüte, Ihre künstlerische Empfindsamkeit täuschen -Sie glücklicherweise, mein Freund. Die Welt ist noch -nicht am Ende, die hat schon andere Dinge gesehen und -wird noch andere sehen. Das, was heute geschieht, ist sicherlich -sehr schmerzlich, aber keineswegs abnormal. Niemals -noch hat ein Krieg die Erde gehindert sich weiter zu drehen, -noch das Leben sich weiter zu entwickeln, ja, er ist sogar -selbst eine Form dieser Entwicklung. Erlauben Sie einem -alten, gelehrten Philosophen, Ihrem Heiligen Schmerzensmanne -die ruhige Inhumanität seines Gedankens -entgegenzustellen. Vielleicht finden Sie trotz allem sogar -eine Erleichterung. — Diese Krise, die Sie so erschreckt, dieser -Wirrwarr ist im Grunde eigentlich nichts als ein Zusammenziehungsphänomen, -eine kosmische, lärmende, aber -doch gesetzmäßige Kontraktion, ähnlich jenen Faltungen -bei der Zusammenziehung der Erdkruste, die ja auch immer -von zerstörenden Erdbeben begleitet sind. Die Menschheit -zieht sich zusammen. Und der Krieg ist die eine solche Kontraktion -begleitende Erschütterung. Gestern waren es noch -in jeder Nation die Provinzen, die einander bekriegten, vorgestern -in jeder Provinz die Städte, und heute, da die völkische -Einheit schon ausgestaltet ist, bereitet sich eine viel umfassendere -Einheit vor. Es ist natürlich sehr bedauerlich, -daß diese Entwicklung durch Gewalt geschieht, aber Gewalt -ist eben das natürliche Mittel in diesem Prozeß. Aus dem -Explosivgemenge der zusammenstoßenden Elemente wird -sich ein neuer chemischer Körper entwickeln. Wird es das -einige Abendland, wird es Europa sein? — ich weiß es -nicht. Aber sicher wird die neue Zusammensetzung neue -Eigenschaften haben und viel reichere als die der einzelnen -zusammensetzenden Elemente. Und dies ist noch nicht -die letzte Etappe. So schön der gegenwärtige Krieg ist -(ich bitte Sie um Entschuldigung, ich meine „schön“ im -Hinblick auf den Geist, für den das Leiden nicht existiert), -so werden noch schönere, noch großzügigere sich entfalten. -Diese armen Kinder von Völkern, die sich einbilden, sie -erbauten schon mit ihrem Kanonendonner den ewigen -Frieden — sie werden noch warten müssen, bis das ganze -Weltall durch diese Retorte hindurchgegangen ist. Der -Krieg der beiden Amerika, der des neuen Kontinents und -des gelben Kontinents, dann jener des Siegers mit der -übrigen Erde — das wird uns noch ein paar Jahrhunderte -zu schaffen machen. Und dabei sehe ich nicht einmal weit -genug, ahne ich noch nicht einmal alles. Außerdem wird -natürlich noch jeder dieser Zusammenstöße ausgiebige soziale -Kriege zur Folge haben. Und erst dann, wenn dies -alles erledigt ist, vielleicht in zehn Jahrhunderten (obwohl -ich glaube, daß es vielleicht rascher geschehen könnte, als man -meint, wenn man die Gegenwart mit der Vergangenheit -in Vergleich setzt, weil sich im Fall die Geschwindigkeit beschleunigt), -erst dann werden wir zu einer ein wenig ärmeren -Synthese gelangen, denn von den Elementen der Zusammensetzung -werden die besten und die schlechtesten unterwegs -vernichtet worden sein; die ersten, weil sie zu zart waren, -um den Unbilden zu widerstehen, die zweiten, weil sie zu -widersetzlich waren und sich zu stark gegen die Amalgamierung -wehrten. Dann werden jene sagenhaften Vereinigten -Staaten der Erde erstehen, und ihr Bündnis wird um so -dauerhafter sein, je mehr sich dann die Menschheit wahrscheinlich -von gemeinsamen Gefahren bedroht sehen wird; die -Marskanäle, die Eintrocknung der Planeten, die Erkaltung -der Erdkruste, die geheimnisvollen Erkrankungen, die Pendeluhr -Edgar Poes, die Vision des endgültigen Erlöschens -der irdischen Geschlechter.... Ach, was für schöne Dinge -wird es zu betrachten geben. In jenen letzten Ängsten wird -das Genie der Rasse überreizt sein. Freilich, Freiheit wird’s -wenig geben. Die menschliche Vielfalt muß gerade im Verschwinden -notwendig zur Einheit des Gedankens und des -Willens drängen (eine Richtung, in die sie übrigens auch -heute schon ganz deutlich zielt); so wird sich ohne plötzliche -Umkehr das Verschiedene in das Eine wieder zurückverwandeln, -der Haß in die Liebe des alten Empedokles.“</p> - -<p>„Und dann?“</p> - -<p>„Dann? Dann wird wahrscheinlich alles nach einem Weltzeitraum -von neuem anfangen. Ein anderer Kreis, eine -andere Kalpa. Die Welt wird sich auf einem frisch geschmiedeten -Rad wieder zu drehen beginnen.“</p> - -<p>„Und des Rätsels Lösung?“</p> - -<p>„Ein Hindu würde darauf antworten: Schiwa, der Zerstörer -und der Schaffer, der Schaffer und der Zerstörer.“</p> - -<p>„Welch ein entsetzliches Traumbild!“</p> - -<p>„Das ist Auffassungssache. Die Weisheit macht einen -immer frei. Für den Hindu ist Buddha der Befreier, mir -für meinen Teil hilft schon die Neugierde über alles -hinweg.“</p> - -<p>„Aber nicht mir: ich kann mich nicht bescheiden mit der -Weisheit des selbstsüchtigen Buddha, der nur sich frei macht -und die anderen im Stiche läßt. Ich kenne wie Sie die Hindus -und ich liebe sie. Aber auch bei ihnen hat Buddha nicht -das letzte Wort der Weisheit gesprochen. Erinnern Sie sich -an jenen Bodhisattva, den Meister des Mitleids, der den -Eid geleistet, nicht früher Buddha zu werden, nicht früher -sich ins Nirwana zurückzuflüchten, ehe er nicht alle Übel geheilt, -alles Unrecht gesühnt, alle Seelen getröstet hätte.“</p> - -<p>Perrotin neigte sich mit einem sanften Lächeln zu Clerambaults -schmerzlichem Gesicht, streichelte ihm zärtlich die -Hand und sagte:</p> - -<p>„Mein lieber Bodhisattva, was wollen Sie also tun? Wen -wollen Sie also retten? Was wollen Sie also retten?“</p> - -<p>„Ja, ich weiß wohl“, sagte Clerambault und senkte den -Kopf, „ich weiß wohl, wie wenig ich bin, wie wenig ich vermag. -Ich kenne die Nichtigkeit meiner Wünsche und meines -Protestes. Halten Sie mich nicht für eingebildet, aber was -kann ich dagegen tun, wenn meine Pflicht mir zu sprechen -gebietet?“</p> - -<p>„Ihre Pflicht ist, etwas zu tun, was nützlich und vernünftig -ist, nicht aber, sich vergeblich zu opfern.“</p> - -<p>„Was ist das, was Sie „vergeblich“ nennen? Können Sie -im vorhinein bei Samenkörnern dasjenige unterscheiden, -das gedeihen wird, und jenes, das zugrunde geht? Und -ist dies ein Grund, den Samen nicht auszuwerfen? Welcher -Fortschritt wäre jemals geschehen, wenn der, in dessen Brust -das Samenkorn wuchs, zurückgeschreckt wäre vor dem ungeheuren -Block der gewohnheitsträgen Vergangenheit, der -ihn zu zerschmettern droht?“</p> - -<p>„Ich verstehe, daß der Gelehrte die Wahrheit verteidigt, die -er gefunden hat. Aber ist diese soziale Betätigung denn -Ihre Mission? Dichter, bleibe deinen Träumen treu, auf -daß deine Träume dir treu bleiben.“</p> - -<p>„Ich bin zuerst Mensch, und dann erst Dichter. Jeder anständige -Mensch hat eine Mission.“</p> - -<p>„Aber Sie tragen geistige Werte in sich, die zu kostbar sind, -und es wäre Mord, sie hinzuopfern.“</p> - -<p>„Ja, nicht wahr, man soll also nur den kleinen Leuten das -Opfer überlassen, die nicht viel zu verlieren haben?“</p> - -<p>Er schwieg einen Augenblick und sagte dann:</p> - -<p>„Perrotin, es ist mir oft in den Sinn gekommen, daß wir -alle nicht unsere Pflicht tun, wir geistigen Menschen und -Künstler alle.... Nicht nur heute sondern seit langem schon, -seit immer. Wir haben bei uns einen Teil Wahrheit und -Erleuchtung, die wir aus Vorsicht in uns zurückbehalten. -Mehr als einmal habe ich das mit dunkeln Gewissensbissen -gefühlt. Aber damals hatte ich noch Angst, in mich hineinzuschauen. -Erst die Prüfung hat mich sehen gelehrt. Wir -sind Bevorzugte, wir sind eine privilegierte Klasse, das gibt -uns auch Pflichten, Pflichten, die wir nicht erfüllen, denn -wir haben Angst, uns zu kompromittieren. Die Elite des -Geistes ist eine Aristokratie, die vorgibt, jener des Blutes -nachzufolgen; aber sie vergißt, daß jene im Anfang die Privilegien -mit ihrem Blute bezahlte. Seit Jahrhunderten -hört die Menschheit viele Worte von weisen Männern, aber -nur selten sieht sie einen dieser Weisen sich hinopfern. Und -das würde der Welt ganz gut tun, wenn sie hie und da -einmal einen sehen würde, der sein Leben für seinen Gedanken -hingibt. Nichts wahrhaft Fruchtbares kann ohne -das Opfer geschaffen werden. Um die anderen glauben zu -machen, muß man selbst gläubig sein, muß beweisen, daß -man gläubig ist. Es genügt nicht das bloße Dasein einer -Wahrheit, damit der Mensch zu ihr aufblicke, es ist nötig, -daß dieses Dasein ein lebendiges Leben habe. Und dieses -Leben können, dieses Leben müssen wir ihr geben — das -unsere! Sonst sind all unsere Gedanken nur Dilettantenspiele, -eine Theaterspielerei, die einzig auf Theaterapplaus -ein Anrecht hat. Nur solche Menschen haben die Menschheit -vorwärtsgebracht, die ihr eigenes Leben zur Stufe -machten. Dieses ist es auch, was den Zimmermannssohn -von Galiläa über alle unsere großen Männer erhoben -hat. Die Menschheit wußte wohl einen Unterschied zu -machen zwischen den anderen und dem Heiland.“</p> - -<p>„Und der Heiland? Hat er sie gerettet?.... ‚Wenn Gott -Zebaoth so beschlossen hat, so schaffen die Völker für das -Feuer.‘ “</p> - -<p>„Ihr Feuerkreis ist das letzte Schreckbild. Der Mensch ist -nur dazu da, um ihn zu zerbrechen, um zu versuchen, sich -ihm zu entringen, frei zu sein.“</p> - -<p>„Frei?“, sagte Perrotin mit seinem ruhigen Lächeln.</p> - -<p>„Ja, frei! Freiheit ist das höchste Gut, ein ebenso seltenes, wie -ihr Name ein abgebrauchter ist, so selten wie das wahre -Schöne, wie das wahre Gute. Frei nenne ich den, der sich -von sich selbst, von seinen Leidenschaften, seinen blinden Instinkten, -von jenen der Umgebung und des Augenblickes -loslösen kann, zwar nicht um seiner Vernunft zu gehorchen, -wie man meist sagt (denn die Vernunft in dem Sinne, wie -Sie sie verstehen, ist ja nur ein anderes Wahnbild, eine -andere verhärtete, vergeistigte und darum fanatisierte Leidenschaft), -sondern um zu versuchen, über die Staubwolken -hinauszusehen, die sich von den Menschenherden auf den -Straßen der Gegenwart erheben, um zu versuchen, den Horizont -zu umfassen und alles Geschehen in der Gesamtheit der -Dinge und der Weltordnung zu begreifen.“</p> - -<p>„Und sich dann“, unterbrach ihn Perrotin, „den Weltgesetzen -zu unterwerfen und anzupassen.“</p> - -<p>„Nein“, erwiderte Clerambault, „um sich ihnen mit vollem -Bewußtsein entgegenzustellen, sobald sie dem Glück und dem -wahrhaft Guten nachteilig sind. Denn darin besteht ja die -Freiheit, daß der freie Mensch in sich selbst ein Weltgesetz ist, -ein bewußtes Gesetz, dessen einzige Aufgabe es ist, das Gegengewicht -für die zerschmetternde Maschine, für den Automaten -Spittelers, die eherne Ananke zu bilden. Ich sehe -das Weltwesen noch zu drei Vierteilen in der Scholle, in der -Rinde, im Stein gebunden, den unbarmherzigen Gesetzen -der Materie unterworfen, in die es eingebannt ist. Nur der -Blick und der Atem sind frei. „Ich hoffe“, sagt der Blick. -„Ich will“, sagt der Atem. Mit diesen beiden sucht es sich -loszuringen. Der Blick, der Atem, das sind wir, das ist der -freie Mensch.“</p> - -<p>„Mir genügt der Blick“, sagte sanft Perrotin.</p> - -<p>Clerambault erwiderte:</p> - -<p>„Habe ich keinen Atem, so gehe ich zugrunde.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>B</span>eim geistigen Menschen bedarf es immer einiger Zeit vom -Wort bis zur Tat, und selbst wenn er schon zu handeln -beschlossen hat, findet er noch immer verschiedene Vorwände, -um die Ausführung auf den nächsten Tag zu verschieben. Er -sieht zu deutlich alles, was kommen wird, sieht die Kämpfe -und Mühen voraus, und bezweifelt von vornherein den Erfolg. -Um sich aber selbst über seine Unruhe hinwegzutäuschen, -verausgabt er sich in Kraftreden entweder mit sich allein oder -im engsten Freundeskreise, und verschafft sich so die billige -Illusion, schon tätig zu sein. Im tiefsten Grunde seines Wesens -glaubt er jedoch selbst nicht daran, er wartet wie Hamlet -auf die Gelegenheit, die ihn zur Tat zwingen soll.</p> - -<p>So tapfer auch Clerambault in seinem Gespräche mit dem -nachgiebigen Perrotin gewesen war, fand er doch, kaum -heimgekehrt, alle seine Bedenken wieder. Seine durch -das Unglück geschärfte Feinfühligkeit spürte nur zu gut -die Erregung der Seinen rings um ihn und ließ ihn den -Zwiespalt vorausahnen, den seine einmal ausgesprochenen -Worte zwischen seiner Frau und ihm hervorrufen -würden. Und noch mehr: er fühlte sich der Zustimmung -seiner Tochter nicht mehr sicher, er hätte nicht sagen können, -weshalb, aber er fürchtete die Probe zu machen. Für ein -zärtliches Gemüt wie das seine war schon der Versuch eine -Qual....</p> - -<p>Inzwischen schrieb ihm ein befreundeter Arzt, er hätte in -seinem Hospital einen Schwerverwundeten, der an der -Offensive in der Champagne teilgenommen und Maxime -gekannt hatte. Clerambault eilte sofort hin, um ihn zu -sehen.</p> - -<p>Er fand auf einem Bett einen Mann unbestimmbaren Alters -auf dem Rücken liegend, unbeweglich ausgestreckt, umschnürt -wie eine Mumie. Aus den weißen Bandagen starrte -das magere Gesicht eines Bauern, gegerbt, zerfaltet, mit -großer Nase und grauem Bart. Der freie rechte Unterarm -stützte eine massige und entstellte Hand auf die Decke, vom -Mittelfinger fehlte ein Glied, aber das zählte nicht, das war -eine Friedenswunde. Unter den buschigen Brauen sahen -die Augen ruhig und klar: man hätte ein so mildes graues -Licht in dem verbrannten Antlitz nicht erwartet.</p> - -<p>Clerambault trat an ihn heran, erkundigte sich nach seinem -Zustande, der Mann dankte höflich, aber ohne sich auf Einzelheiten -einzulassen, gleichsam als ob es nicht nötig wäre, -von sich zu sprechen.</p> - -<p>„Ich danke Ihnen, mein Herr, es geht gut, es geht ganz -gut.“</p> - -<p>Aber Clerambault erneuerte liebevoll seine Fragen und -es dauerte nicht lange, so fühlten die grauen Augen, daß -in den blauen Augen, die sich zu ihnen niederneigten, mehr -als Neugier sich regte.</p> - -<p>„Wo sind Sie denn verwundet“, fragte Clerambault.</p> - -<p>„Ach! Das wäre zu lang zu erzählen, mein Herr! Eigentlich -ein wenig überall.“</p> - -<p>Und als jener weiterfragte:</p> - -<p>„Ich habe es hier und da abgekriegt, überall wo gerade ein -Platz war — und dabei bin ich nicht einmal besonders dick. -Ich hätte nie gedacht, daß es in einem Körper soviel Platz -dafür gibt.“</p> - -<p>Schließlich erfuhr Clerambault, daß jener ungefähr zwanzig -— oder genauer gesagt siebzehn — Verwundungen -hatte. Er war buchstäblich von einem Schrapnell überschüttet -(oder wie er sagte „gespickt“) worden.</p> - -<p>„Siebzehn Verwundungen!“, schrie Clerambault.</p> - -<p>Der Mann berichtigte:</p> - -<p>„Um der Wahrheit völlig die Ehre zu geben: ich habe jetzt -nur mehr etwa zehn.“</p> - -<p>„Sind die anderen schon geheilt?“</p> - -<p>„Man hat mir die Füße abgeschnitten.“</p> - -<p>Clerambault war so erschüttert, daß er fast den Zweck seines -Besuches vergaß. O, diese Fülle von Unglück! Mein Gott! -Was ist da das unsere, dieser Tropfen im Meer! Er legte -seine Hand auf die harte Hand des Mannes und drückte -sie. Die ruhigen Augen des Verwundeten betrachteten Clerambault -von oben bis unten, bemerkten das Trauerband -am Hute und er sagte: „Sie haben auch Unglück gehabt?“</p> - -<p>Clerambault raffte sich auf.</p> - -<p>„Ja“, sagte er, „nicht wahr, Sie haben ihn gekannt, den -Sergeanten Clerambault?“</p> - -<p>„Natürlich habe ich ihn gekannt.“</p> - -<p>„Das war mein Sohn.“</p> - -<p>Ein Bedauern kam in den Blick.</p> - -<p>„Ach, Sie armer Herr... Natürlich habe ich ihn gekannt, -Ihren tapferen kleinen Jungen! Wir waren fast ein ganzes -Jahr zusammen, und das zählt, dieses Jahr! Durch Tage -und Tage wie die Maulwürfe im selben Loch... Ach, man -hat zusammen viel Elend erlebt.“</p> - -<p>„Hat er viel gelitten?“</p> - -<p>„Na, mein Herr, manchmal war es hart. Den Kleinen hat -es manchmal fest gepackt, besonders im Anfang. Er war -es eben nicht gewöhnt; wir, wir kennen das.“</p> - -<p>„Sie sind vom Lande?“</p> - -<p>„Ich war Gutsknecht, da lebt man das Leben mit den -Tieren, lebt ein wenig wie sie selbst... Obwohl, mein Herr, -um es offen zu sagen, der Mensch heutzutage von den Menschen -schlechter als das Vieh behandelt wird... „Seid gut -zu den Tieren“, diese amtliche Mahnung hatte irgendein -Spaßvogel in unserem Schützengraben aufgehängt. Aber -was für sie nicht gut ist, war noch immer gut genug für -uns... Tut nichts!... Ich beklage mich ja nicht. Es ist -nun einmal so. Und wenn es sein muß, muß es eben -sein. Aber der kleine Sergeant, bei dem merkte man’s, daß -er nicht gewöhnt war an all das. An den Regen und an den -Schlamm und die Niedertracht und vor allem an den Schmutz. -Was immer man anrührte, was man aß, und dann auf -einem selbst: das Ungeziefer... Im Anfang, da sah ich’s, da -war er ein paarmal ganz nahe daran zu weinen. Da versuchte -ich ihm ein bißchen zu helfen. Mich lustig zu machen -über die Sachen, um ihm zu helfen — aber so, daß er nicht -merkte, daß man ihm helfen wolle, denn er war stolz, der -Kleine, und wollte nicht, daß man ihm helfe — aber er war -doch froh, wenn man’s tat. Und ich war es auch. Dort hat -man ja nötig, zueinander zu rücken und sich zu helfen. -Schließlich war er soweit und so abgehärtet wie ich, hat mir -seinerseits auch geholfen. Hat nie geklagt, wir lachten -sogar zusammen, denn man muß doch lachen: Es gibt -ja kein Unglück, das ewig dauert, und das hilft einem über -das Elend hinweg.“</p> - -<p>Clerambault hörte bedrückt zu. Er fragte:</p> - -<p>„So war er also weniger traurig am Ende?“</p> - -<p>„Ja, mein Herr, er hatte sich abgefunden, wie schließlich wir -alle. Man weiß nicht, wieso das kommt, man steht jeden -Tag, fast jeder mit demselben Fuß auf, man ist einander -nicht ähnlich, aber schließlich ist man schon mehr die andern -als man selbst. Und das ist besser so, man leidet nicht mehr -so viel, man fühlt sich selbst weniger, man wird eine einzige -Masse. Außer, wenn es Urlaub gibt — dann wird es schlecht -für die, die zurückkommen — und so war’s auch gerade bei -dem kleinen Sergeanten, als er zum letztenmal wiederkam... -da geht es dann nicht mehr gut....“</p> - -<p>Clerambault sagte hastig aus gepreßtem Herzen: „Wie, damals, -als er zurückkam...?“</p> - -<p>„Ja, da war er sehr niedergedrückt. Niemals hatte ich ihn -so kleinmütig gesehen wie in jenen Tagen.“</p> - -<p>Ein schmerzlicher Ausdruck malte sich in Clerambaults Gesicht. -Bei einer Bewegung, die er machte, wendete sich der -Verwundete, der, bisher die Augen zur Zimmerdecke gerichtet, -gesprochen hatte, mit dem Blick gegen ihn, sah und -verstand offenbar alles, denn er fügte hinzu:</p> - -<p>„Aber er hat sich schon wieder herausgerappelt nachher.“</p> - -<p>Clerambault faßte von neuem die Hand des Kranken.</p> - -<p>„Sagen Sie mir, was er Ihnen erzählte, sagen Sie mir -alles.“</p> - -<p>Der Mann zögerte, dann sagte er:</p> - -<p>„Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau.“</p> - -<p>Er schloß die Augen und blieb unbeweglich. Clerambault, -über ihn gebeugt, suchte zu sehen, was diese Augen unter -ihren geschlossenen Lidern in sich erblickten.</p> - -<hr class='tbk101'/> - -<p>Mondlose Nacht. Eisige Luft. Aus der Tiefe des gehöhlten -Grabens sieht man den kalten Himmel und die starren -Sterne. Geschosse schlagen in dem harten Boden auf. Im -Schützengraben zusammengeknäuelt, die Knie unter dem -Kinn, rauchen Maxime und sein Gefährte Seite an Seite. -Der Kleine war eben an diesem Tage von Paris zurückgekommen.</p> - -<p>Er war bedrückt und gab auf Fragen keine Antwort, er verschloß -sich in einem bösen Schweigen. Der andere hatte ihn -den ganzen Nachmittag mit Absicht allein gelassen, damit -er mit seiner Qual fertig werde; aus dem Augenwinkel -heraus beobachtete er ihn, und als er dann im Dunkeln -den Augenblick gekommen sah, näherte er sich ihm. Er -wußte, der Kleine würde jetzt von selbst mit ihm sprechen. Der -Anschlag einer Kugel, die über ihre Köpfe fuhr, ließ eine -vereiste Scholle Erde sich loslösen.</p> - -<p>„Heda, du Totenvogel“, sagte der andere, „du hast es -eilig.“</p> - -<p>„Wenn es nur schon vorüber wäre“, sagte Maxime, „sie -wollen es ja alle.“</p> - -<p>„Was, um den Boches eine Freude zu machen, ließest du -dich umbringen? Du bist wirklich ein guter Kerl.“</p> - -<p>„Es sind nicht nur die Boches allein, alle schaufeln sie zusammen -an unserem Grab...“</p> - -<p>„Wer denn?“</p> - -<p>„Alle! Die von dort hinten, von wo ich komme, die von -Paris, die Freunde, die Verwandten, die Lebendigen, die -vom anderen Ufer. Wir, wir sind ja schon tot.“</p> - -<p>Ein Schweigen. Der Flug eines Projektils heulte durch den -Himmel. Der Kamerad tat einen tiefen Zug aus der Pfeife.</p> - -<p>„Also, es hat dir hinten nicht gefallen, mein Kleiner? Ich -habe es mir gleich gedacht.“</p> - -<p>„Warum denn?“</p> - -<p>„Weil, wenn der eine schuftet und der andere nicht, so -haben die beiden einander nichts zu sagen.“</p> - -<p>„Aber sie leiden ja auch....“</p> - -<p>„Ja, aber es ist nicht dasselbe Brot. Du kannst noch so geschickt -sein, du wirst niemals einem, der ihn nicht kennt, den -Zahnschmerz erklären können. So versuche mal denen da -hinten, die in ihren Betten liegen, begreiflich zu machen, -was hier vorgeht. Für mich ist es nicht neu, ich habe den -Krieg nicht nötig gehabt... Ich habe das mein ganzes Leben -gekannt. Aber glaubst du, wenn ich mich auf der Erde abrackerte -und mir das Mark aus den Knochen schwitzte, daß -andere sich darüber beunruhigt haben? Ich sage damit -nicht, daß sie deshalb schlecht sind. Sie sind nicht gut, sind -nicht schlecht, sind eben wie fast alle Welt ist. Können’s halt -nicht auffassen. Um etwas zu verstehen, muß man’s selber -spüren, die Sache auf sich nehmen, die ganze Qual auf -sich nehmen. Wenn nicht — und man tut es ja nicht, mein -Junge — da muß man eben das Kreuz darüber machen, -versuch’s nicht zu erklären. Die Welt ist eben so wie sie ist. -Da ist nichts zu ändern.“</p> - -<p>„Das wäre zu furchtbar. Dann lohnte es ja nicht mehr zu -leben.“</p> - -<p>„Warum denn nicht, zum Teufel? Ich habe es ganz gut ertragen, -und du bist nicht weniger wert als ich. Du bist -klüger, du kannst lernen, man lernt alles ertragen. Alles. -Und dann — etwas zusammen zu ertragen, ist zwar noch -keine Freude, aber es ist nicht mehr ganz eine Qual. Allein -zu sein, das ist das härteste. Du bist nicht allein, mein -Kleiner.“ Maxime sah ihm ins Gesicht und sagte:</p> - -<p>„Dort hinten war ich’s, hier bin ich es nicht mehr...“</p> - -<hr class='tbk102'/> - -<p>Aber der Mann, der mit geschlossenen Augen auf seinem -Bette hingestreckt lag, sagte nichts von dem, was er in sich -sah. Als er jetzt wieder ruhig die Augen aufschlug, fand er -den verängstigten Blick des Vaters auf sich gerichtet, der ihn -anflehte, zu sprechen.</p> - -<p>Und da versuchte er mit einer linkischen und zärtlichen Gutmütigkeit -zu erklären, daß der Kleine offenbar deshalb traurig -gewesen war, weil er die Seinen hatte verlassen müssen, -aber daß „man“ ihn schon wieder aufgerichtet hätte. „Man“ -verstand ja seine Not.... Er selbst, der Krüppel, hätte -ja nie einen Vater gekannt, aber als Kind hätte er davon geträumt, -welches Glück es für die, die einen haben, sein müsse.</p> - -<p>„So habe ich mir erlaubt... und habe zu ihm gesprochen, -mein Herr, so, als ob ich Sie wäre... und der Kleine hat -sich beruhigt. Er sagte mir, daß man doch eine Sache diesem -verfluchten Krieg danke, nämlich daß er einem gezeigt habe, -es gäbe viel arme Teufel auf der Erde, die sich nicht kennen -und die aus demselben Holz geschnitzt sind. Man hört es -oft genug, daß wir Brüder seien, von den Anschlagzetteln -oder aus den Predigten, nur glaubt man’s eben nicht. Um -es wirklich zu wissen, muß man einmal miteinander geschuftet -haben... und da hat er mich umarmt.“</p> - -<p>Clerambault stand auf, neigte sich über das umwickelte -Gesicht des Verwundeten und küßte ihn auf die rauhe -Wange.</p> - -<p>„Sagen Sie, was ich für Sie tun kann“, fragte er.</p> - -<p>„Sie sind sehr gut, mein Herr, aber viel ist nicht mehr zu -tun. Ich bin sozusagen fertig. Ohne Beine, mit einem gebrochenen -Arm, mit fast nichts Gesundem mehr, wozu wäre -ich noch gut? Übrigens ist ja noch gar nicht gesagt, daß ich -überhaupt davonkomme. Na, es wird eben gehen, wie es -geht. Fahre ich ab, dann gute Reise, und bleibe ich, so wird -man schon sehen. Man muß warten, es gibt ja immer Züge.“</p> - -<p>Clerambault bewunderte seine Geduld. Der andere wiederholte -immer seinen Refrain: „Ich bin halt eben daran gewöhnt, -es ist kein großes Verdienst, geduldig zu sein, wenn -man nicht anders kann... und dann, wir kennen das ja -schon, ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger... für -uns dauert der Krieg das ganze Leben lang.“</p> - -<p>Clerambault bemerkte, daß er in seinem Egoismus noch gar -nicht nach Einzelheiten aus dem Leben des andern gefragt -hatte, ja nicht einmal seinen Namen wußte.</p> - -<p>„Mein Name? Der paßt gut zu mir: Courtois Aimé. Aimé -ist der Vorname. Paßt wie ein Handschuh zu einem, der im -Dreck sitzt.... Und dazu noch Courtois, ein guter Witz. -Meine Eltern habe ich nicht gekannt, ich bin ein Findelkind. -Der Pfleger vom Hilfshaus, ein Pächter in der Champagne, -hat es übernommen, mich aufzuziehen, und er verstand sich -darauf, der Kerl.... Ich bin gut herausgearbeitet worden! -Na, ich habe wenigstens zu rechter Zeit schon gewußt, was -mich im Leben erwartet. Es hat gut in meinen Napf geregnet.“</p> - -<p>Und dann erzählte er mit ein paar kurzen trockenen Sätzen, -ohne irgendwelche Erregung, die ganze Reihe der Unglücksfälle, -die sein Leben zusammensetzten: die Ehe mit einem -Mädchen, wie er ohne einen Pfennig Geld, der „Hunger, -der den Durst heiratet“, Krankheiten, Todesfälle, den Kampf -gegen die Natur — und das alles wäre noch nichts gewesen, -hätte nicht noch der Mensch vom Seinen dazugetan. <span class='it'>Homo -homini</span>... <span class='it'>homo</span>.... Die ganze soziale Ungerechtigkeit, die -auf den Leuten der unteren Schichten lastet. — Clerambault -konnte seine Erbitterung nicht verbergen, wie er ihm so zuhörte, -aber Aimé Courtois regte sich durchaus nicht auf. -Es ist eben so, es war immer so und wird immer so sein. -Die einen sind da, um zu leiden, die anderen nicht. Es -gibt keine Berge ohne Täler. Der Krieg war ihm als ein -Blödsinn erschienen, aber er hätte nicht einen Finger gerührt, -um ihn zu verhindern. In seiner Art war die -ganze fatalistische Passivität des Volkes, das auf gallischer -Erde sich in eine ironische Sorglosigkeit hüllt, das -„Man darf sich nichts daraus machen“ der Schützengräben. -Und es war auch die ganze falsche Scham der -Franzosen darin, die vor nichts so Furcht haben wie vor -dem Lächerlichen, die tausendmal lieber für eine Tollheit -und sogar für eine, die sie selbst als solche erkennen, sich -opfern würden, als sich dem Spott für irgendeine vernünftige -Handlung auszusetzen, die nur nicht an der Tagesordnung -war. Sich dem Kriege entgegenstellen, das wäre -so, wie sich gegen das Gewitter stellen. Wenn’s hagelt, kann -man halt nichts tun als, wenn es noch geht, die Fenster zuschließen -und nachher sich die zugrunde gerichtete Ernte anschauen. -Und dann fängt man wieder an bis zum nächsten -Hagel, bis zum nächsten Krieg — in alle Ewigkeit. „Man -darf sich halt nichts daraus machen“ — nie kam ihm der -Gedanke, daß der Mensch den Menschen ändern könnte.</p> - -<p>Clerambault erbitterte sich innerlich über diese heroische und -dumme Resignation, die wohl dazu angetan ist, die privilegierten -Klassen zu begeistern, denn ihr verdanken sie ja -die eigene Erhaltung, — die aber andererseits aus der -menschlichen Rasse und ihrer tausendjährigen Anstrengung -ein Danaidenfaß macht, da sich ihr ganzer Mut, ihre ganze -Tugend, ihre ganze Arbeit darin erschöpfen, auf anständige -Art zu sterben.... Als aber seine Augen sich wieder auf das -verstümmelte Stück Mensch richteten, das da vor ihm lag, -bedrückte ihn ein unendliches Mitleid. Was konnte er tun, -was konnte er wollen, dieser Mann des Elends, dieses -Symbol des hingeschlachteten und verstümmelten Volkes? -So viele Jahrhunderte leidet und blutet es schon vor unseren -Augen, ohne daß wir, seine glücklicheren Brüder, ihm mehr -geben als irgendein nachlässiges Lob von fern, das unser -Wohlergehen gar nicht stört und das Volk sogar aufmuntert, -nur so fort zu tun! Welche Hilfe bringen wir ihm -denn? Da wir schon nichts für dieses Volk tun, widmen -wir ihm nicht einmal unser Wort! Von der freien Entfaltung -unseres Denkens — die wir doch seinen Opfern -danken — bewahren wir die Frucht für uns, ja wir wagen -nicht einmal, es davon kosten zu lassen. Wir haben Furcht -vor dem Lichte, Furcht vor der frechen Meinung und den -Herren der Stunde, die sagen: „Löschet das Licht! Ihr, die -ihr es habt, trachtet es zu verbergen, damit man nichts davon -sieht, wenn ihr wollt, daß man es euch verzeihe.“ — Genug -der Feigheit! Wer soll sprechen, wenn nicht wir? Die anderen -sterben mit dem Knebel im Munde....</p> - -<p>Ein Schatten von Qual lief über das Antlitz des Verwundeten. -Seine Augen sahen starr zur Decke, sein großer verkrümmter -Mund, hartnäckig verschlossen, wollte keine Antwort -mehr geben. — Clerambault entfernte sich. Er hatte -seinen Entschluß gefaßt. Das Schweigen des Volkes auf -seinem Totenbett hatte ihn bestimmt, das Wort zu ergreifen.</p> - -<hr class='pbk'/> - -<div><h1>Dritter Teil</h1></div> - -<hr class='pbk'/> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault kam vom Spital zurück, schloß sich in sein -Zimmer ein und begann zu schreiben. Madame Clerambault -versuchte einmal einzudringen, sah mit einer Art -Mißtrauen nach, was er machte. Es war, als ob ein bei -dieser Frau sehr seltenes Ahnungsvermögen — sie merkte -sonst nie etwas — ihr ein dunkles Angstgefühl vor dem, was -ihr Mann vorbereitete, einjagte. Es gelang ihm, seine Abgeschlossenheit -zu verteidigen, bis er fertig war. Sonst ersparte -er den Seinen nichts von dem, was er geschrieben -hatte, es war ein Genuß für seine naive, liebevolle Eitelkeit, -aber auch zärtliche Pflicht, auf die er ebensowenig wie die -anderen hätte verzichten können. Diesmal nahm er davon -Abstand, ohne sich den Grund dafür selbst klar zu machen. -Obwohl er noch weit davon entfernt war, die ganze Tragweite -seiner Tat zu überschauen, hatte er doch Furcht vor -Widerspruch, denn er fühlte sich seiner noch nicht sicher genug, -sich ihm auszusetzen. So zog er es vor, die anderen lieber -vor die vollendete Tatsache zu stellen.</p> - -<p>Sein erster Schrei war eine Selbstanklage:</p> - -<p class='line' style='text-align:center;'>„<span class='gesp'>Ihr Toten verzeihet uns</span>!“</p> - -<p>Diese öffentliche Beichte trug als Motto die Melodie einer -alten Klage des Königs David, der an der Leiche seines -Sohnes Absalon weint:</p> - -<div class='figcenter'> -<img src='images/illo133.png' alt='' id='iid-0001' style='width:100%;height:auto;'/> -<p class='caption'><span class='it'>Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi!</span></p> -</div> - -<p>„Ich hatte einen Sohn. Ich liebte ihn. Und ich habe ihn -getötet. Ihr Väter des trauernden Europa, nicht für mich -allein, für euch alle spreche ich, ihr Millionen Väter, verwitwet -an euren Söhnen, Feinde oder Freunde, und alle -bedeckt von ihrem Blute gleich mir. Ihr alle sprecht durch -die Stimme eines der Euren, durch meine arme Stimme, -die leidet und Buße tut.</p> - -<p>Mein Sohn ist für die Euren, durch die Euren (ich weiß -es nicht), ist wie die Euren getötet worden. Und wie ihr -habe ich den Feind dafür angeklagt und den Krieg. Aber den -Hauptschuldigen sehe ich erst heute und ich klage ihn an: ich -bin es. Ich bin es, und dieses Ich seid Ihr. Wir sind es. -Könnte ich Euch doch zwingen, das zu hören, was Ihr wohl -wißt und nicht wissen wollt!</p> - -<p>Mein Sohn war zwanzig Jahre alt, als er dem Krieg zur -Beute fiel. Zwanzig Jahre lang habe ich ihn zärtlich geliebt, -habe ihn geschützt gegen Hunger, Kälte, Krankheiten, -gegen die geistige Dunkelheit, gegen Unwissenheit, Irrtum, -gegen alle Fallstricke, die das Leben in seinem Schatten -birgt. Aber was habe ich getan, um ihn zu verteidigen gegen -die aufsteigende große Gefahr?</p> - -<p>Dabei habe ich niemals zu jenen gehört, die mit den Leidenschaften -des eifersüchtigen Nationalismus gemeinsame -Sache machten. Ich liebte die Menschen, und es war mir -eine Freude, an ihre zukünftige Brüderlichkeit zu denken. -Warum habe ich also nichts getan gegen das, was sie bedrohte, -gegen das schleichende Fieber, gegen den lügnerischen -Frieden, der mit einem Lächeln auf den Lippen schon -zum Mordanschlag ausholte? Es war vielleicht Furcht, -zu mißfallen, Furcht vor Feindschaften? Ich liebte es zu -sehr, zu lieben und vor allem geliebt zu werden. Ich -fürchtete, erworbenes Wohlwollen zu gefährden, hielt zu -viel auf die zerbrechliche und kraftlose Gemeinschaft mit -jenen, die um uns sind, auf diese Komödie, die man mit -sich und den anderen spielt und mit der man sich ja gar -nicht selbst betrügt, denn von beiden Seiten fürchtet man -immer, das Wort auszusprechen, das den Mörtel abfallen -ließe und das zerfressene Haus zeigte. Ich hatte Furcht, -klar in mich selbst zu sehen, war erfüllt von jener inneren -opportunistischen Unsicherheit, die alles schonen will, die -die alten Instinkte und den neuen Glauben verbinden will, -die Kräfte, die sich gegenseitig vernichten und aufheben, -Vaterland, Menschheit, Krieg und Frieden. Ich habe nie genau -gewußt, auf welche Seite ich mich hinneigen sollte, und -bin von der einen zur anderen wie eine Schaukel geschwankt. -Ich hatte Angst vor der Anstrengung, mich zu entscheiden und -eine Wahl zu treffen.... Faulheit war es und Feigheit! -Ich übertünchte all das mit einem gefälligen Glauben an -die Güte der Dinge, die alles schon — so dachte ich — von -selbst in schönste Ordnung bringen würden. Und wir begnügten -uns, zuzuschauen, den unfehlbaren Lauf des Schicksals -noch zu verherrlichen — wir Höflinge der Gewalt! Da -wir verzichtet haben, Einfluß zu erlangen, so haben die -Dinge — oder die Menschen, andere Menschen als wir — -für uns entschieden. Und wir haben das erst bemerkt, als -wir schon getäuscht waren. Aber das Eingeständnis war -für uns so entsetzlich, wir waren so dessen entwöhnt, wirklich -wahrhaft zu sein, daß wir auch dann weiter so getan -haben, als wären wir mit dem Verbrechen im vollen Einverständnis. -Und als Bürgschaft unseres Einverständnisses -haben wir unsere Söhne ausgeliefert....</p> - -<p>Ach, wir haben sie sehr geliebt! Sicher mehr als unser eigenes -Leben — ach, hätte es sich nur darum gehandelt, unser -Leben hinzugeben! Aber wir haben sie nicht mehr geliebt -als unseren Stolz, der verzweifelt bemüht war, unsere moralische -und sittliche Verwirrung zu verbergen, die Leere -unseres Geistes und die Nacht unseres Herzens.</p> - -<p>Alle diese Dinge wären aber noch verzeihlich bei solchen, die -an das alte Idol, an das heimtückische, neidische, mit getrocknetem -Blut überdeckte Götzenbild glaubten — an das -barbarische Vaterland. Wenn jene ihre und der anderen -Kinder opferten, so töteten sie, aber sie wußten wenigstens -nicht, was sie taten — diejenigen aber, die nicht mehr daran -glauben, die nur mehr daran glauben wollen (und das -bin ich, das sind wir) — die opfern ihre Kinder, indem sie -sie einer Lüge darbieten (denn im Zweifel Ja sagen, heißt -lügen), und sie opfern sie, um sich selbst ihre Lüge zu beweisen. -Und jetzt, da unsere Lieben für unsere Lüge gestorben -sind, arbeiten wir uns, statt den Irrtum offen zuzugeben, -nur noch tiefer, bis über die Augen hinein, nur um -nichts mehr zu sehen, denn wir wollen, daß nach den unseren -noch die anderen, alle anderen, für unsere Lüge sterben.</p> - -<p>Aber ich, ich kann das nicht mehr, ich denke an die noch -lebenden Söhne. Was soll mir das Gutes tun, daß andern -Böses geschieht? Bin ich ein Barbar aus den Zeiten Homers, -um zu glauben, daß ich den Schmerz meines toten Sohnes, -seinen Hunger nach Licht lindern könne, wenn ich auf die -Erde, die ihn hinabgeschlungen hat, das Blut anderer Söhne -hingieße? Haben wir noch immer diese Vorstellungen? — -Nein! Jeder neue Mord tötet meinen Sohn noch einmal, -läßt auf seinem Gebein den schmutzigen Schlamm des Verbrechens -lasten. Mein Sohn war die Zukunft, und wenn -ich ihn retten will, muß ich die Zukunft retten, muß ich -künftigen Vätern den Schmerz ersparen, der auf mich gefallen -ist. Zu Hilfe! Helft mir! Verwerfen wir diese Lüge! -Geht denn der Kampf zwischen den Staaten, dieses Brigantentum -des Weltalls, wirklich um unseretwillen vor sich? -Was tut uns denn wahrhaft not? Die erste Freude, das -erste Gesetz, ist es nicht jenes Lebensgesetz des Menschen, der -gleich einem Baum gerade aufsteigt und sich in dem zugewiesenen -Kreis Erde erfüllt, der durch seinen freien Saft und -seine stille Arbeit, sein vielfältiges Leben in sich und seinen -Söhnen sich ruhig entfalten sieht? Wer von uns Brüdern -der Welt ist eifersüchtig auf den anderen, wer will ihm solch -gerechtes Glück nehmen? Was haben wir zu tun mit den -Ambitionen und Rivalitäten, mit der Habgier und den -geistigen Krankheiten, mit denen die Schänder des Wortes -den Namen des Vaterlandes bedecken? Das Vaterland sind -wir, die Väter. Das Vaterland sind unsere Söhne. All -unsere Söhne. Retten wir sie!“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>O</span>hne irgend jemand zu fragen, überbrachte er diese Seiten, -kaum daß er sie geschrieben hatte, einem kleinen -sozialistischen Verleger seines Viertels. Er kam erleichtert -zurück und dachte:</p> - -<p>„So, jetzt habe ich gesprochen. Jetzt beschäftigt es mich -nicht mehr.“</p> - -<p>Aber in der kommenden Nacht belehrte ihn plötzlich ein -Stich in der Brust, daß es ihm mehr als je naheging. -Er wachte auf. „Was habe ich denn getan?“ Er fühlte eine -schmerzliche Scham, der Öffentlichkeit seinen heiligen Schmerz -ausgeliefert zu haben. Ohne daran zu denken, daß seine -Worte Zorn erregen könnten, hatte er doch ein Vorgefühl -von Unverständnis, von grobschlächtiger Auslegung, die -er als Profanation empfand.</p> - -<p>Die nächsten Tage gingen vorüber. Es geschah nichts. -Schweigen. Der Aufruf war in der allgemeinen Unaufmerksamkeit -untergegangen. Der Verleger gehörte zu den -wenig bekannten, die Versendung der Broschüre war nachlässig -geschehen, und es gibt keinen gefährlicheren Tauben -als den, der nicht hören will. Die wenigen Leser, -die der Name Clerambault angezogen hatte, legten nach -den ersten Zeilen die unwillkommene Lektüre zur Seite. -Sie dachten: „Der arme Mann, sein Unglück ist im Begriff, -ihm den Kopf ganz zu verdrehen“, was ein guter Vorwand -für sie war, das Gleichgewicht ihres Herzens nicht -in Erschütterung zu bringen.</p> - -<p>Ein zweiter Artikel folgte. Clerambault nahm darin Abschied -von dem alten, blutigen Götzenbild Vaterland, oder -vielmehr, er stellte dem großen fleischfressenden Untier, dem -sich die armen Menschen jener Zeit als Fraß hinwarfen, -der römischen Wölfin, die erhabene Mutter alles Lebendigen -entgegen: das Weltvaterland!</p> - -<p class='line' style='text-align:center;margin-top:1em;margin-bottom:1em;'>„<span class='gesp'>An die einst Geliebte!</span>“</p> - -<p>„Kein bittererer Schmerz, als Abschied zu nehmen von der, -die man einst geliebt. Sie aus meinem Herzen zu reißen, -heißt mein Herz selbst ausreißen. Du Teure, Du Gute, Du -Schöne — ach, hätte man wenigstens den blinden Vorzug -jener leidenschaftlichen Liebhaber, die alles vergessen können, -die ganze Liebe, das ganze Gute und Schöne von einst, um -nur das Böse zu sehen, das man heute von der Geliebten -erleidet, und zu erkennen, wie tief sie gesunken ist! Aber ich -kann nicht, ich kann nicht vergessen. Ich werde Dich immer -so sehen, wie ich Dich liebte, als ich noch an Dich glaubte, -als Du mein Leitstern warst und mein bester Freund — -Du, mein Vaterland! Warum hast Du mich verlassen? -Warum hast Du uns verraten? Wäre ich allein mit meinem -Leiden, ich verhehlte vielleicht die traurige Erkenntnis unter -meiner hingegangenen Zärtlichkeit. Aber ich sehe Deine Opfer, -die Völker, die jungen gläubigen und begeisterten Männer -(und erkenne unter ihnen den, der ich einst war)... Wie -hast Du uns betrogen! Deine Stimme schien uns die der -brüderlichen Liebe, Du riefst uns zu Dir, um uns zu vereinen. -Es sollte keine Einsamen mehr geben, alle sollten wir -Brüder sein! Jedem liehest Du die Kräfte von tausend anderen, -Du ließest uns unseren Himmel, unsere Erde und das -Werk unserer Hände lieben, und wir liebten uns alle, indem -wir Dich liebten..... Wohin hast Du uns jetzt geführt? -Waren Deine Absichten, indem Du uns vereintest, einzig die, -uns zahlreicher zu machen für den Haß und den Mord? Ach, -wir hatten ja genug an unserem Einzelhaß. Jeder hatte -sein Bündel von schlechten Gedanken, aber zumindest wußten -wir, wenn wir ihnen nachgaben, daß es schlechte waren. -Du aber, Du Vergifterin der Seele, Du nennst sie heilige...</p> - -<p>Wofür diese Kämpfe? Für unsere Freiheit? Du machst ja -Sklaven aus uns. Für unser Gewissen? Das schändest Du -ja. Für unser Glück? Das plünderst Du doch. Für unser -Wohlergehen? Unsere Erde ist zerstampft.... Wozu bedürfen -wir neuer Eroberungen, da schon das Feld unserer -Väter uns zu groß wurde: einzig nur für die Habgier von -einigen Ausbeutern? Ist es denn die Aufgabe des Vaterlandes, -diese Bäuche mit dem allgemeinen Elend zu füllen?</p> - -<p>Vaterland, das Du Dich den Reichen verkauft hast, den -Händlern mit der Seele und den Körpern der Völker, Vaterland, -das Du Mithelferin und Verbündete geworden bist -und ihre Niederträchtigkeit mit Deiner heroischen Gebärde -deckst — hüte Dich! Die Stunde ist gekommen, wo die -Völker ihr Ungeziefer von sich abschütteln, ihre Götter und -ihre Herren, die sie mißbrauchen. Mögen sie unter sich -selbst die Schuldigen verfolgen. Ich gehe geradeaus zum -Herrn, dessen Schatten sie alle bedeckt. Du aber, das Du -unbewegt thronst, indes die Massen sich in Deinem Namen -hinschlachten, Du, das sie alle anbeten, indem sie einander -alle hassen, Du, das Du Dich ergötzst, die blutige Brunst der -Völker zu entzünden, Du Weibwesen, beutegierige Gottheit, -Du falsche Christin, die Du über dem Gemetzel schwebst mit -kreuzgefalteten Flügeln und Habichtsklauen — wer wird -Dich aus unserem Himmel herabreißen, wer gibt uns die -Sonne und die Liebe unserer Brüder zurück?...</p> - -<p>Ich bin allein. Ich habe nichts als meine Stimme, die ein -Hauch auslöschen kann, aber ehe sie hinschwindet, schreie ich -auf:</p> - -<p>Du wirst fallen, Tyrann, Du wirst fallen! Die Menschheit -will leben. Die Zeit wird kommen, wo der Mensch -Dein lügnerisches Joch zerbrechen wird. Die Zeit kommt. -Die Zeit ist da.“</p> - -<p class='line' style='text-align:center;margin-top:1em;'>„<span class='gesp'>Die Antwort der Geliebten</span>“</p> - -<p>„Dein Wort, mein Sohn, ist wie der Stein, den ein Kind -gegen den Himmel wirft. Es erreicht mich nicht, es fällt -auf Dich selbst zurück. Die Du schmähst und die meinen -Namen fälschlich angenommen, ist ein Götzenbild, das Du -Dir selbst geformt hast. Nach Deinem Bilde ist es geschaffen, -nicht nach dem meinen. Das wahre Vaterland ist das des -Allvaters, gemeinsam alle umfangend, und es ist nicht seine -Schuld, wenn Ihr es klein macht nach Eurem eigenen -Wuchs.... Ihr Unglücklichen, Ihr beschmutzt alle Eure -Götter, es gibt nicht eine große Idee, die Ihr nicht erniedrigt. -Das Gute, das man Euch erweisen will, verwandelt Ihr in -Gift, das Licht, mit dem man Euch überschüttet, dient, Euch -zu verbrennen. Ich war zu Euch gekommen, um Eure Einsamkeit -zu erwärmen, ich habe Eure fröstelnden Seelen zu -Herden vereinigt, aus Eurer zerstreuten Schwäche ein Bündel -geformt. Denn ich bin die brüderliche Liebe, die große -Bindung. Und gerade meinen Namen, o Tolle, habt ihr -gewählt als Vorwand, um Euch zu vernichten.</p> - -<p>Seit Jahrhunderten bemühe ich mich, Euch von den Ketten -der Roheit zu befreien, Euch aus Eurer harten Selbstigkeit -herauszutreiben. Keuchend schreitet Ihr vorwärts auf -der Straße der Zeit. Die Provinzen und die Nationen sind -die tausendjährigen Grenzen, die bisher als Rastpunkt -Eurer Erschöpfung gesteckt waren. Eure Hinfälligkeit allein -hat sie aufgerichtet. Um Euch weiter zu führen, muß ich -warten, bis Ihr wieder Atem geholt habt.... Aber Ihr -seid so schwach an Atem und am Herzen, daß Ihr aus Eurer -Unfähigkeit eine Tugend macht. Ihr bewundert Eure Helden -um der Grenze willen, vor denen sie erschöpft halt -machen mußten, und nicht deshalb, weil sie sie als erste -erreichten. Ihr aber, die Ihr mühelos dorthin gekommen -seid, wo jene heldischen Vorläufer hingesunken sind, glaubt -nun, selbst schon Helden zu sein.... Was habe ich mit -Euren Schatten der Vergangenheit heute noch zu schaffen? -Das Heldentum, dessen ich bedarf, ist nicht mehr das -eines Bayard, einer Jeanne d’Arc, der Ritter und Märtyrer -einer längst überwundenen Sache. Ich fordere -Apostel der Zukunft, große Herzen, die sich für ein größeres -Vaterland, für ein höheres Ideal aufopfern. Vorwärts! -Überschreitet die Grenzen! Da Ihr aber noch -Krücken braucht für Eure Schwäche, so rückt die Grenzen -wenigstens weiter hinaus, an die Tür des Abendlandes, -an das Ende Europas, bis Ihr Schritt um Schritt zum -Ziel kommt, und die ganze Menschheit Hand in Hand -rings den Erdball umschlingt.</p> - -<p>Du erbärmlicher Schreiber, der Du Schmähreden gegen -mich richtest, steige in Dein Selbst hinab und prüfe Dich -selbst! Ich habe Dir die Macht des Wortes gegeben, daß -Du die Männer Deines Volkes führest, und Du hast -sie benützt, um Dich selbst zu betrügen und sie zu verwirren. -Du hast die, die Du retten solltest, tiefer in -ihren Irrtum hinabgestoßen, Du hattest den traurigen -Mut, Deiner Lüge jenen hinzuopfern, den Du liebtest — -Deinen Sohn. Wirst Du wenigstens jetzt, Du arme Ruine, -wagen, Dich den anderen als Schaubild hinzustellen und zu -sagen: „Da, sehet mein Werk, ahmt es nicht nach!“ Geh -hin, und möge Dein Unglück andere, die später kommen, -vor gleichem Schicksal beschützen! Wage es zu sprechen, -schreie ihnen zu: Völker, ihr seid toll, ihr tötet das Vaterland, -indes ihr glaubt, es zu verteidigen. Das Vaterland -seid ihr, ihr alle, eure Feinde sind eure Brüder! Umarmt -euch, ihr Millionen Lebendiger.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>as gleiche Schweigen schien auch diesen neuen Schrei -hinabzuschlucken.</p> - -<p>Clerambault lebte außerhalb jener niederen Volkskreise, wo -die warme Sympathie der schlichten und gesunden Herzen -ihm gewiß nicht gefehlt hätte. So aber bemerkte er nichts -von irgendeinem Echo seiner Ideen.</p> - -<p>Aber obwohl er sich allein sah, wußte er doch, daß er es -nicht war. Zwei verschiedene Gefühle, die einen Gegensatz -zu bilden schienen — seine Bescheidenheit und sein -Glaube — vereinten sich, um ihm zu sagen: „Was du -denkst, denken auch andere, deine Wahrheit ist zu groß, und -du bist zu klein, als daß sie nur in dir allein existieren -könnte. Das, was du mit deinen schlechten Augen hast -wahrnehmen können, dieses Licht strahlt, so wie zu dir, auch -in andere Augen. In diesem Augenblicke neigt sich der -Große Bär zum Horizont, tausend Blicke schauen vielleicht -zu ihm auf, du siehst nicht diese Blicke, aber das ferne Licht -vereint sie mit dem deinen.“</p> - -<p>Die Einsamkeit des Geistes ist nur eine Illusion, eine bittere -und schmerzhafte, aber eine, der keine tiefe Wirklichkeit entspricht. -Selbst die Losgelöstesten von uns gehören doch alle zu -einer sittlichen Familie, und diese Gemeinschaft der Geister -ist nicht innerhalb eines Landes oder einer Zeit, sondern -ihre Elemente sind verstreut durch die Völker und Jahrhunderte. -Für einen konservativen Geist sind sie in der -Vergangenheit, die Revolutionäre und die Verfolgten -finden sie in der Zukunft. Zukunft und Vergangenheit sind -nicht weniger wirklich als die augenblickliche Gegenwart, -deren Mauer die zufriedenen Blicke der großen Menge -einengt. Und selbst die Gegenwart ist nicht so, wie es die -willkürlichen Abgrenzungen der Staaten, Nationen und -Religionen glauben machen möchten. Die gegenwärtige -Menschheit stellt einen Jahrmarkt von Gedanken dar. -Ohne sie voneinander zu scheiden, hat man sie in Haufen -aufgeschichtet, die rasch aufgerichtete Regale voneinander -trennen: so sind oft Brüder von den Brüdern -geschieden und unter Fremde geschichtet. Jeder Staat umschließt -ganz verschiedene Rassen, die keineswegs geartet -sind, gemeinsam zu denken und zu handeln, und jede der -ideellen Familien oder Schwägerschaften, die man Vaterland -nennt, umschließt Naturen, die in Wirklichkeit zu ganz anderen -Familiengruppen der Gegenwart, der Vergangenheit -oder der Zukunft gehören. Da die Staaten sie nicht aufsaugen -können, so unterdrücken sie sie, und sie können sich -der Vernichtung nur durch allerlei Schleichwege entziehen -— entweder durch scheinbare Unterwerfung und innere Auflehnung, -oder durch die Flucht, indem sie freiwillige Emigranten -werden — „Heimatslose“. Wirft man ihnen vor, -daß sie dem Vaterland unbotmäßig seien, so ist das ebenso -unberechtigt, als wollte man den Irländern oder Polen vorwerfen, -daß sie sich der Aufsaugung durch England oder -Preußen zu entziehen suchen. Hier wie dort bleiben diese -Menschen ihren wahren Vaterländern treu.</p> - -<p>Oh, ihr, die ihr vorgebt, dieser Krieg habe die Aufgabe, jedem -Volke das Selbstbestimmungsrecht zu geben, wann -werdet ihr dies Recht der über die Welt hin verstreuten Republik -der freien Seelen geben?</p> - -<p>Diese Republik fühlte Clerambault in all seiner Einsamkeit -als eine Wirklichkeit. Wie das Rom des Sartorius lebte -sie in ihm. Und ganz in all jenen einander Unbekannten, -für die sie das wahre Vaterland ist.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>P</span>lötzlich fiel die Mauer von Schweigen, die das Wort Clerambaults -umschloß. Aber es war nicht die Stimme -eines Bruders, die der seinen Antwort gab. Wo die Kraft -der Sympathie zu schwach gewesen war, um die Schranken -zu zerbrechen, hatten die Dummheit und der Haß blindlings -eine Bresche geschlagen.</p> - -<p>Schon glaubte sich Clerambault nach einigen Wochen vergessen -und dachte an eine neue Veröffentlichung, als eines -Morgens Leo Camus mit Getöse bei ihm eintrat. Er -krümmte sich vor Zorn. Mit tragisch erhobener Stirne -reichte er Clerambault eine aufgefaltete Zeitung hin.</p> - -<p>„Lies!“</p> - -<p>Und während Clerambault las, sagte er, hinter ihm stehend:</p> - -<p>„Was hat diese Niedertracht zu bedeuten?“</p> - -<p>Clerambault sah ganz niedergeschmettert sich von einer -Hand gemeuchelt, die er für eine Freundeshand hielt. Ein -bekannter Schriftsteller, zu dem er in guter persönlicher Beziehung -stand, ein Kollege Perrotins, ein ernster ehrenwerter -Mensch, hatte, ohne zu zögern, die Rolle übernommen, ihn -in der Öffentlichkeit zu denunzieren. Obwohl er Clerambault -lange genug kannte, um an der Reinheit seiner Absichten -nicht zweifeln zu können, stellte er ihn doch in einer -entehrenden Weise vor die Öffentlichkeit. Als Historiker -darin geübt, mit Texten umzugehen, hatte er aus der Broschüre -Clerambaults einige verstümmelte Sätze herausgelöst -und schwenkte sie empor wie einen Beweis von Verrat. Seine -tugendhafte Erbitterung hatte sich nicht mit einem privaten -Brief begnügt, gerade die lärmendste Tageszeitung, das -niedrigste Erpresserblatt hatte sie sich ausgesucht, das eine -Million Franzosen verachtet, während sie gleichzeitig seine -Aufschneidereien mit offenen Mäulern einschluckt.</p> - -<p>„Das ist nicht möglich“, stammelte Clerambault, den diese -unerwartete Gehässigkeit wehrlos überfiel.</p> - -<p>„Da ist kein Augenblick zu verlieren“, sagte Camus, „du -mußt antworten.“</p> - -<p>„Antworten? Was denn?“</p> - -<p>„Zuerst natürlich diese niederträchtige Erfindung dementieren.“</p> - -<p>„Aber das ist doch keine Erfindung“, sagte Clerambault, -der den Kopf gehoben hatte und Camus ansah.</p> - -<p>Nun war es an Camus, wie vom Donner gerührt zu sein.</p> - -<p>„Das ist keine...? Das ist keine...?“ stammelte er vor -Überraschung.</p> - -<p>„Die Broschüre ist von mir“, sagte Clerambault, „aber ihr -Sinn ist durch den Artikel entstellt...“</p> - -<p>Camus hatte das Ende des Satzes nicht abgewartet, er -brüllte los:</p> - -<p>„Du hast so etwas geschrieben, du, du,...“</p> - -<p>Clerambault versuchte seinen Schwager zu beruhigen, bat -ihn, doch nicht zu urteilen, ehe er alle Einzelheiten wüßte. -Aber der andere behandelte ihn hartnäckig wie einen Wahnsinnigen -und schrie:</p> - -<p>„Ich kümmere mich nicht um das alles. Hast du gegen -den Krieg, gegen das Vaterland geschrieben oder nicht?“</p> - -<p>„Ich habe geschrieben, daß der Krieg ein Verbrechen ist, und -daß alle Vaterländer sich damit beschmutzt haben.“</p> - -<p>Camus fuhr auf, ohne Clerambault die Möglichkeit zu geben, -sich weiter zu erklären, machte eine Bewegung, als ob -er ihn am Halse fassen wollte, hielt sich aber zurück und -schleuderte ihm ins Gesicht, daß <span class='gesp'>er</span> der Verbrecher sei, und -daß er verdiente, sofort vor das Kriegsgericht zu kommen.</p> - -<p>Auf sein Geschrei hin begann das Mädchen an der Tür zu -horchen, Madame Clerambault lief herbei, versuchte mit -einem Strom von Worten über sein aufgebrachtes Wesen -ihren Bruder zu beruhigen. Clerambault, ganz betäubt, -bot vergebens Camus an, ihm die beschuldigte Broschüre -vorzulesen, aber Camus verweigerte es mit einem Zornesausbruch -und sagte, ihm genüge schon, das von diesem -Dreck zu kennen, was die Zeitungen davon gebracht hatten. -(Er nannte die Zeitungen Lügner, bestätigte aber ihre -Lügen.) Schließlich trat er als Richter auf, forderte Clerambault -auf, unverzüglich und in seiner Gegenwart eine -briefliche öffentliche Abschwörung zu schreiben. Clerambault -zuckte die Achseln und sagte, er sei niemandem -Rechenschaft schuldig als seinem Gewissen, er sei frei.</p> - -<p>„Nein!“ schrie Camus.</p> - -<p>„Wie? Ich bin nicht frei, ich habe nicht das Recht zu sagen, -was ich denke?“</p> - -<p>„Nein, du bist nicht frei! Nein, du hast nicht dieses Recht“, -schrie Camus ganz außer sich. „Du hast Rücksichten zu -nehmen auf das Vaterland und vor allem auf deine Familie. -Sie hätte das Recht, dich einsperren zu lassen.“ Er verlangte, -daß der Brief sofort geschrieben würde, augenblicklich! -Clerambault wandte ihm den Rücken. Camus ging weg, -schlug die Tür zu und schrie, er würde nie mehr den Fuß -hierher setzen, zwischen ihnen sei alles zu Ende.</p> - -<p>Nachher mußte Clerambault noch die Fragen seiner in Tränen -aufgelösten Frau über sich ergehen lassen, die, ohne zu -wissen, was er getan hatte, seine Unvorsichtigkeit beklagte -und ihn fragte, warum in aller Welt er denn nicht schweige. -Hätten sie denn noch nicht Unglück genug, wozu dieses Bedürfnis -zu reden und vor allem diese unsinnige Sucht, anders -reden zu wollen als die anderen.</p> - -<p>Rosine kam von einer Besorgung zurück. Clerambault -nahm sie zum Zeugen, erzählte ihr wirr die peinliche Szene, -die sich eben abgespielt hatte, bat sie, sich an seinen Tisch zu -setzen, damit er ihr den Artikel vorlesen könne. Ohne sich die -Zeit zu nehmen, die Handschuhe auszuziehen oder den Hut -abzulegen, setzte sich Rosine zu ihrem Vater, hörte still und -klug zu. Als er geendigt hatte, stand sie auf, umarmte ihn -und sagte:</p> - -<p>„Ja, das ist schön!... Aber, Papa, wozu hast du das -getan?“</p> - -<p>Clerambault war ganz verstört.</p> - -<p>„Wie? Wie? Wozu ich das getan habe? Ist es denn nicht -richtig?“</p> - -<p>„Ich weiß nicht, ja, ich glaube... es muß wohl richtig sein, -da du es sagst.... Aber vielleicht war es nicht nötig, es -zu schreiben.“</p> - -<p>„Nicht nötig? Wenn es richtig ist, so ist es auch nötig.“</p> - -<p>„Aber es macht ja einen solchen Lärm.“</p> - -<p>„Ist das ein Grund dagegen?“</p> - -<p>„Aber wozu die Leute aufreizen?“</p> - -<p>„Sieh, Kind, du glaubst doch auch, was ich geschrieben habe?“</p> - -<p>„Ja, ich glaube, Papa...“</p> - -<p>„Warte. Du glaubst... Du verabscheust den Krieg; wie -ich, möchtest du ihn beendet sehen. Alles, was ich hier gesagt -habe, habe ich dir schon früher gesagt, und du dachtest -genau so wie ich....“</p> - -<p>„Ja, Papa.“</p> - -<p>„Also du findest es richtig?“</p> - -<p>„Ja, Papa.“</p> - -<p>Sie legte ihre Arme um seinen Hals.</p> - -<p>„Aber es ist doch nicht notwendig, alles niederzuschreiben.“</p> - -<p>Clerambault versuchte, traurig, ihr zu erklären, was ihm -ganz klar schien. Rosine hörte zu und gab ruhig Antwort. -Aber das einzig Klare war, daß sie nichts verstand. Um -ein Ende zu machen, umarmte sie nochmals ihren Vater -und sagte:</p> - -<p>„Ich habe dir meine Ansicht gesagt, aber du weißt das -ja besser als ich. Es steht mir nicht zu, darüber zu entscheiden.“</p> - -<p>Sie lächelte ihrem Vater zu und kehrte in ihr Zimmer zurück, -ohne zu ahnen, daß sie ihm seine beste Stütze genommen -hatte.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>er beschimpfende Angriff blieb nicht vereinzelt. Sobald -einmal die Schellen gelöst waren, hörten sie nicht mehr -auf zu klingeln. Nur hätte sich in der allgemeinen Verwirrung -ihr Lärm verloren ohne die erbitterte Anstrengung -einer Stimme, die gegen Clerambault den ganzen -Chor vielfältigster Bösartigkeit dirigierte.</p> - -<p>Es war die eines seiner ältesten Freunde, des Schriftstellers -Octave Bertin. Sie waren zusammen im Lyzeum Henri -<span style='font-size:smaller'><span class='it'>IV.</span></span> Schüler gewesen. Dort hatte der junge, feine, elegante, -frühreife Pariser Bertin das linkische und enthusiastische -Entgegenkommen dieses großen Burschen gern angenommen, -der aus der Provinz kam, geistig ebenso unbeholfen -wie körperlich (seine Arme und Beine schienen in -den zu kurz gewordenen Kleidern kein Ende nehmen zu -wollen), und der ein ganz seltsames Gemisch von Unschuld, -naiver Unwissenheit, schlechtem Geschmack, von Pathos und -überschäumender Kraft, von originellen Einfällen und -packenden Bildern darstellte. Weder die Lächerlichkeiten -noch der innere Reichtum Clerambaults waren den klugen -und scharfen Augen Bertins entgangen, und er hatte ihn -schließlich als intimen Freund aufgenommen, wobei die -Bewunderung Clerambaults für ihn keinen geringen Einfluß -auf diesen seinen Entschluß hatte. Durch mehrere -Jahre hatten sie im geschwätzigen Überschwang ihre jugendlichen -Gedanken geteilt. Beide träumten davon, Künstler -zu werden, lasen einander ihre Versuche vor und bekämpften -einander in endlosen Diskussionen. Bertin behielt -immer das letzte Wort, wie er ja in allem die Überlegenheit -behielt, die übrigens Clerambault ihm zu bestreiten -niemals die Absicht hatte. Er hätte sie viel eher -mit Faustschlägen jedem aufgezwungen, der sie geleugnet -hätte. Mit offenem Munde bestaunte er die gedankliche -und stilistische Virtuosität dieses blendenden jungen -Mannes, der gleichsam im Spiel auf der Universität alle -Erfolge davontrug, und den seine Lehrer von vornherein -zu den höchsten Stellungen berufen sahen — womit sie -natürlich meinten, zu allen offiziellen und akademischen. -Auch Bertin verstand es so. Er hatte Eile emporzukommen -und dachte, daß die Frucht des Ruhmes am besten schmecke, -wenn man sie mit den Zähnen eines Zwanzigjährigen zerbeiße. -Noch ehe er die Schule verlassen hatte, fand er eine -Möglichkeit, in einer großen Pariser Revue eine Serie von -Essays zu veröffentlichen, die sofort seinen Namen bekannt -machten, und ohne nur Atem zu schöpfen, brachte er dann -Schlag auf Schlag einen Roman in der Art d’Annunzios, -eine Komödie im Stile Rostands, ein Buch über die Liebe, ein -anderes über die Reform der Gesetzgebung, eine Enquete -über den Modernismus, eine Monographie Sarah Bernhardts -und schließlich jene „Dialoge der Lebendigen“ heraus, -deren sarkastische und klug abgewogene Geschmeidigkeit -ihm die Pariser Chronik in einem der ersten Boulevardblätter -verschaffte. Nun einmal in den Journalismus -eingetreten, blieb er darin. Er gehörte schon zu den Sternen -des literarischen <span class='it'>Tout Paris</span>, als der Name Clerambaults -noch unbekannt war. Clerambault dagegen nahm erst -ganz langsam von seiner inneren Welt Besitz. Er hatte zuviel -damit zu tun, gegen sich selbst zu kämpfen, als daß er -viel Zeit auf die Eroberung der Öffentlichkeit hätte verwenden -können. So kamen auch seine ersten Bücher, die er mit -Not hatte zum Druck bringen können, kaum über einen -Kreis von zehn Lesern hinaus. Man muß Bertin die Gerechtigkeit -widerfahren lassen, daß er zu diesen Zehn gehörte, -daß er das Talent Clerambaults zu schätzen wußte und dies -sogar gelegentlich aussprach. Und solange Clerambault -noch unbekannt war, leistete er sich den Luxus, ihn zu verteidigen, -allerdings nicht ohne dem Lob einige freundschaftliche -Ratschläge von oben herab beizufügen, die Clerambault -nicht immer befolgte, aber immer mit dem gleichen zärtlichen -Respekt anhörte.</p> - -<p>Dann wurde Clerambault bekannt, schließlich sogar berühmt. -Bertin war darüber sehr erstaunt, eigentlich aufrichtig zufrieden -mit dem Erfolg seines Freundes und doch darüber -ein wenig verärgert. Er ließ durchblicken, daß er ihn übertrieben -fände, daß für ihn der beste Clerambault der unbekannte -war — jener vor dem Ruhm. Er versuchte es -manchmal, dies Clerambault zu erklären, der nicht nein und -nicht ja sagte, denn er wußte nichts darüber und befaßte -sich damit kaum, er hatte immer nur ein neues Werk im -Kopfe. Die beiden alten Kameraden waren in ausgezeichneten -Beziehungen verblieben, aber sie waren allmählich -mehr voneinander abgerückt.</p> - -<p>Der Krieg hatte aus Bertin einen wilden Scharfmacher gemacht. -Früher im Lyzeum hatte er den provinzlerischen Clerambault -immer erschreckt durch seine freche Respektlosigkeit -gegen alle politischen oder gesellschaftlichen Werte, gegen -Vaterland, Moral und Religion, und hatte auch dann in -seinen literarischen Werken diesen Anarchismus wohlgefällig -zur Schau getragen, allerdings in einer skeptischen, -mondänen und matten Form, mit der er ja dem Geschmacke -seines reichen Leserkreises am besten entsprach. -Mit diesem Leserkreis und dessen Lieferanten, den Kollegen -von der Boulevardpresse und den Boulevardtheatern, diesen -Enkelchen eines Parny und des jüngeren Crébillon, -richtete er sich plötzlich als Brutus auf, der bereit ist, seine -Söhne zu opfern. Er hatte vielleicht dafür die Entschuldigung, -daß er keine besaß, aber das tat ihm möglicherweise leid.</p> - -<p>Clerambault hatte ihm nichts vorzuwerfen und dachte auch -nicht daran. Aber noch weniger dachte er daran, daß sein -alter Kamerad, der Amoralist, ihm gegenüber den Anwalt -des beleidigten Vaterlandes spielen würde; war er aber wirklich -nur der des Vaterlandes? Die zornerbitterte Schmähschrift, -die Bertin Clerambault entgegenschleuderte, schien -ihm irgendwie einen persönlichen Haß zu enthüllen, den -Clerambault sich nicht erklären konnte. Bei der allgemeinen -Verwirrung der Geister wäre es verständlich gewesen, daß -Bertin von den Gedanken Clerambaults empört gewesen -und sich dann offen unter vier Augen mit ihm auseinandergesetzt -hätte. Aber ohne ihn vorher zu verständigen, begann -er mit einer öffentlichen Abschlachtung. Auf der -ersten Seite seines Blattes fiel er ihn mit einer unerhörten -Heftigkeit an und beschimpfte nicht nur seine Ideen, -sondern auch seinen Charakter. Die tragische Gewissenskrise -Clerambaults deutete er als einen Anfall literarischer -Großmannssucht, die durch den übermäßigen Erfolg seiner -Werke verursacht sei, und es machte den Eindruck, als -hätte er eigens die Ausdrücke gesucht, die für Clerambaults -Selbstgefühl am verletzendsten sein mußten. Der Aufsatz -endete in einem Ton beleidigender Überhebung und forderte -die sofortige Zurücknahme des Irrtums.</p> - -<p>Die Vehemenz des Artikels, der bekannte Name des Chronisten -machten sofort aus dem „Fall Clerambault“ ein -Pariser Ereignis. Er beschäftigte die Presse beinahe eine -ganze Woche, was für jene Spatzenhirne viel bedeutet. -Fast niemand nahm sich die Mühe, die Texte Clerambaults -selbst zu lesen: das war ja nicht nötig, Bertin -hatte sie ja gelesen. Die Kollegenschaft hat nicht die Gewohnheit, -eine überflüssige Arbeit noch einmal zu machen, -es handelte sich auch nicht darum, zu lesen, es handelte -sich darum, jemand zu richten. Eine seltsame Art von -Burgfrieden kam auf Kosten Clerambaults zustande. -Klerikale, Jakobiner waren darin einig, ihn tot zu machen. -Von einem Tag zum andern war ohne Übergang -der gestern bewunderte Mann in den Schlamm gezogen, -der nationale Dichter ein Feind der Gemeinschaft geworden. -Alle die Myrmidonen der Zeitung beteiligten sich an der -heroischen Beschimpfung und die meisten brachten gleichzeitig -mit ihrer ursprünglichen bösen Absicht auch eine ganz -unwahrscheinliche Unbildung zutage. Denn nur wenige von -ihnen kannten die Werke Clerambaults, kaum wußten sie -seinen Namen und den Titel eines seiner Bücher, aber -das hinderte sie ebensowenig, ihn heute herunterzureißen, -wie es sie gestern gestört hatte, ihn in den Himmel zu heben, -als er noch in Mode war. Jetzt fanden sie in allem, was er -geschrieben hatte, Spuren von „Bochismus“. Ihre Zitate -waren übrigens regelmäßig ungenau, einer von ihnen bedachte -sogar Clerambault im Feuer seiner Anklage mit der -Autorschaft des Werkes eines andern, der dann, bleich vor -Furcht, sofort mit Entrüstungsprotesten jede Solidarität -mit dem gefährlichen Kollegen öffentlich ablehnte. Clerambaults -Freunde, beunruhigt über ihre Intimität mit -ihm, warteten nicht darauf, daß man sie ihnen vorwarf. -Sie trafen ihre Vorkehrungen und richteten an ihn „offene -Briefe“, die die Zeitungen an bester Stelle veröffentlichten. -Die einen, wie Bertin, fügten ihrem öffentlichen Tadel -eine pathetische Beschwörung bei, <span class='it'>mea culpa</span> zu machen, -andere wandten sich, selbst ohne diesen milden Vorbehalt, -in bitteren und beleidigenden Worten von ihm ab. Diese -Fülle von Gehässigkeit machte Clerambault ganz wirr. Sie -konnte doch nicht durch seine Aufsätze allein verursacht sein, -sie mußte doch längst schon in den Herzen dieser Menschen -gebrütet haben. Mein Gott, soviel verborgener Haß.... -Was hatte er ihnen denn getan?... Der erfolgreiche -Künstler ahnt nicht, daß mehr als einer unter denen, die -ihm mit einem freundlichen Lächeln folgen, unter diesem Lächeln -die Zähne verbirgt, die nur auf die Stunde warten, -da sie zuschnappen können.</p> - -<p>Clerambault bemühte sich, vor seiner Frau die Beschimpfungen -der Zeitungen verborgen zu halten. Wie ein Schulbub, -der seine schlechten Noten verschwinden läßt, lauerte -er auf den Postboten, um die bösartigen Zeitungen rechtzeitig -beiseite zu schaffen. Aber ihr Gift drang schließlich -bis in die Luft, die sie atmeten. Frau Clerambault und -Rosine bekamen in der Gesellschaft verletzende Anspielungen, -kleine Beleidigungen und Beschimpfungen zu hören. -Mit dem eingebornen Instinkt für Gerechtigkeit, der für -das menschliche Wesen und besonders für die Frau so -charakteristisch ist, machte man sie verantwortlich für die -Ideen Clerambaults, die sie kaum kannten und nicht guthießen. -(Diejenigen, die sie beschuldigten, kannten sie allerdings -ebensowenig.) Die Höflichsten unter ihnen übten die -Technik des Verschweigens, sie vermieden es sichtlich, nach -Clerambault zu fragen oder seinen Namen auch nur auszusprechen.... -„Man spricht nicht vom Strick des Henkers -im Hause des Gehenkten.“ Dieses berechnete Schweigen -wirkte dann noch beleidigender als ein Tadel: es war, als -ob Clerambault eine betrügerische Schwindelei oder ein -Sittlichkeitsverbrechen begangen hätte. Frau Clerambault -kam erbittert heim. Rosine tat so, als kümmerte sie sich -nicht darum, aber Clerambault merkte, daß sie daran litt. -Eine Freundin, die ihnen auf der Straße begegnete, ging -auf das andere Trottoir hinüber und wandte den Kopf -weg, um nicht grüßen zu müssen. Rosine wurde aus einem -Wohltätigkeitskomitee ausgeschlossen, wo sie seit mehreren -Jahren aufopferungsvolle Arbeit tat.</p> - -<p>In dieser allgemeinen patriotischen Mißbilligung zeichneten -sich vor allem die Frauen durch ihre Erbitterung aus. -Nirgends fand der Ruf Clerambaults zur Annäherung -und Versöhnung wütendere Gegner. Und so war es überall. -Die Tyrannei der öffentlichen Meinung, diese vom -modernen Staat geschaffene Unterdrückungsmaschine, die -noch despotischer ist als er selbst, hat während des Krieges keinen -grausameren Handlanger gefunden als gewisse Frauen. -Bertrand Russel erzählte den Fall eines armen Kerls, eines -Straßenbahnschaffners, der, verheiratet, Familienvater -und vom Heere zurückgestellt, sich aus Verzweiflung über die -Beschimpfungen, mit denen die Frauen von Middlesex ihn -verfolgten, das Leben nahm. In allen Ländern sind tausende -Unglückliche wie er von diesen Bacchantinnen des Krieges -gehetzt, verrückt gemacht und an die Schlachtbank -geliefert worden.... Seien wir darüber nicht überrascht. -Um diese fanatische Wildheit nicht erwartet zu haben, -mußte man zu jenen gehören, die so wie Clerambault bisher -im Einklange mit der öffentlichen Meinung und in -der Idealistik des allgemeinen Ruhezustandes gelebt haben. -Trotz aller Anstrengung der Frauen, immer dem lügnerischen -Ideal zu gleichen, das sich der Mann zu seiner Zufriedenheit -und seiner Beruhigung ersonnen hat, ist doch -die Frau, mag sie selbst so bleichsüchtig, verfeinert und veredelt -sein wie die von heute, doch noch mehr dem Urmenschen -verwandt als der Mann. Sie lebt näher der -Quelle der Instinkte und ist stärker begabt mit jenen Kräften, -die weder moralisch noch unmoralisch, sondern ganz -einfach animalisch sind. Wenn auch die Liebe ihre wesentliche -Funktion ist, so ist es doch keineswegs die durch die -Vernunft sublimierte Liebe, sondern die blinde und überschwengliche -Liebe im Urzustand, wo sich Egoismus und -Opfertum vermengen, beide gleich unbewußt und beide -im Dienste der dunkeln Ziele der Rasse. Alle die zarten -und blütenhaften Verzierungen, unter denen dieses Paar -jene Gewalten zu verbergen sucht, vor denen es selbst -erschrickt, sind gleichsam ein Geflecht von Schlingpflanzen -über einem Sturzbach. Ihr Zweck ist, über die Wirklichkeit -hinwegzutäuschen. Würden die schwächlichen Seelen der -Menschen geradeaus den ungeheuren Kräften, von denen -sie fortgerissen werden, ins Auge schauen, so könnten -sie das Leben nicht ertragen. Darum bemüht sich ihre erfindungsreiche -Feigheit, sich geistig ihrer Schwäche anzupassen. -Sie lügen in ihrer Liebe, sie lügen im Hasse, lügen -in Bezug auf die Frau, lügen in Bezug auf das -Vaterland und seine Götter. Aus Angst, die sichtbar werdende -Wirklichkeit könnte sie aus dem Gleichgewicht bringen -und erschüttern, ersetzen sie sich diese Wirklichkeit durch -die matten Farben ihres Idealismus.</p> - -<p>Der Krieg nun hatte diesen schwächlichen Schutzwall hinstürzen -lassen. Clerambault sah, wie das Kleid der katzenhaften -Höflichkeit, mit der sich die Zivilisation umhüllte, -zu Boden fiel. Nun wurde das grausame Tier sichtbar.</p> - -<p>Die Nachsichtigsten unter den früheren Freunden Clerambaults -waren jene, die zur politischen Welt gehörten, die -Abgeordneten, die Minister von gestern oder von morgen. -Gewohnt, die Menschenherde an der Nase herumzuführen, -wußten jene, wie wenig sie wert ist. Ihnen schien die -kühne Äußerung Clerambaults recht naiv. Sie selbst -dachten noch zehnmal Böseres, fanden es aber töricht, -diese Erkenntnis auszusprechen, gefährlich, sie niederzuschreiben, -und am allergefährlichsten, auf sie zu antworten. -Denn was man offen angreift, macht man dadurch bekannt, -und was man verurteilt, dem mißt man doch eine Bedeutung -bei. Nach ihrer Meinung wäre es daher am besten gewesen, -klug zu den unbequemen Schriften zu schweigen, die -ja die verschlafene und verdöste öffentliche Meinung von -selbst gar nie bemerkt hätte.</p> - -<p>Diese Art Technik war ja während des Krieges in Deutschland -von oben aus anbefohlen und befolgt worden. Dort -erstickten die öffentlichen Machthaber die unbotmäßigen -Schriftsteller, wenn sie sie nicht ohne Lärm erdrosseln konnten, -unter Blumengewinden. Aber der politische Geist der -französischen Demokratie ist offener und gleichzeitig beschränkter. -Sie verstehen sich dort nicht auf Schweigen. -Statt ihren Haß zu verstecken, reißen sie ihn auf die Tribüne, -um ihn dort in die Welt zu donnern. Die französische -Freiheit ist so, wie Rude sie dargestellt hat: brüllend, -mit aufgerissenem Mund. Wer nicht ganz so denkt wie sie, -ist allsogleich ein Verräter; es findet sich gleich irgendein -kleiner Journalist, der erzählt, um wie viel Geld diese freie -Stimme gekauft sei, und zwanzig Besessene hetzen gegen sie -die Tollwut der Maulaffen. Ist dann einmal der Tanz im -Gang, so kann man nichts tun, als warten, bis sich die -Tollheit durch ihr Übermaß erschöpft hat; solange: rette -sich, wer kann! Die Vorsichtigen bringen sich in Sicherheit -oder heulen mit den Wölfen.</p> - -<p>Der Leiter jener Tageszeitung, die seit einigen Jahren sich -eine Ehre daraus gemacht hatte, die Gedichte Clerambaults -zu veröffentlichen, ließ ihm vertraulich sagen, er fände diesen -ganzen Lärm lächerlich, und die ganze Sache sei kein Hundshaar -wert, aber zu seinem großen Bedauern sehe er sich genötigt, -um seiner Abonnenten willen ihm eins zu versetzen... -natürlich in aller Höflichkeit... Selbverständlich -in aller Form.... Und nichts für ungut, nicht wahr? -Und wirklich, der Angriff war gar nicht gewalttätig, er -beschränkte sich bloß darauf, Clerambault lächerlich zu -machen. Und selbst Perrotin — wie kläglich ist doch das -Menschengeschlecht! — ironisierte ihn in einem Interview -auf geistreichste Weise, ließ die Leute auf seine Kosten -lachen, gedachte aber dabei heimlich sein Freund zu bleiben.</p> - -<p>In seinem eigenen Hause fand Clerambault keine Unterstützung -mehr. Seine alte Gefährtin, die seit dreißig Jahren -nur durch ihn dachte und seine Gedanken wiederholte, ehe -sie sie selber verstand, war erschrocken und zornig über -seine neuen Worte, warf ihm bitter vor, diesen Skandal -heraufbeschworen, seinen Namen und den der ganzen -Familie ins Unrecht gesetzt und das Andenken ihres -toten Kindes, die Idee der heiligen Rache und des Vaterlandes -geschädigt zu haben. Rosine ihrerseits liebte ihn -noch immer, aber sie verstand ihn nicht mehr. Eine Frau -kann selten die Forderungen des Geistes anerkennen, sie -kennt nur die Forderungen des Herzens. Ihr hatte es genügt, -daß ihr Vater sich nicht mit Worten des Hasses verband, -daß er mitleidsvoll und gut blieb, doch wünschte sie -keineswegs, daß er diese Gefühle in Theorien verwandelte, -und noch weniger, daß er sie öffentlich aussprach. Sie hatte -den zugleich zärtlichen und praktischen gesunden Menschenverstand -einer, die die Forderungen des Herzens gewahrt -wissen will und sich mit dem Übrigen abfindet. Aber das unbeugsame -logische Bedürfnis, das den Mann treibt, die äußersten -Konsequenzen seines Glaubens zu ziehen, war ihr unverständlich. -Soweit konnte sie nicht mit. Ihre Stunde war -vorüber, die Stunde, wo sie unbewußt die Aufgabe übernommen -und erfüllt hatte, mütterlich ihren schwachen, unsicheren -und zerbrochenen Vater aufzurichten und ihn unter -ihrem Flügel zu bergen, sein Gewissen zu retten und ihm die -Fackel wieder in die Hand zu drücken, die er fallen gelassen -hatte. Jetzt, da er sie wieder in Händen trug, war ihre Aufgabe -erfüllt. Sie war wieder das liebende, unscheinbare -„kleine Mädchen“ geworden, das die großen Geschehnisse der -Zeit mit ein wenig gleichgültigen Blicken sieht, und nur im -Grunde ihrer Seele blieb etwas zurück von dem feurigen -Licht der überirdischen Stunde, die sie gelebt hatte, die sie -fromm bewahrte und deren Sinn sie nicht mehr verstand.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>U</span>ngefähr um dieselbe Zeit empfing Clerambault den Besuch -eines jungen Urlaubers aus einer befreundeten -Familie. Daniel Favre, Sohn eines Ingenieurs und selbst -Ingenieur, dessen lebendige Intelligenz aber nicht durch -seinen Beruf beschränkt wurde, hatte seit langem eine Leidenschaft -für Clerambault gefaßt: der mächtige Aufschwung -der modernen Wissenschaft hatte sein Gebiet seltsam jenem -der Dichtung angenähert, war doch die Technik gewissermaßen -selbst das größte der zeitgenössischen Gedichte geworden. -Daniel war ein enthusiastischer Leser Clerambaults. -Sie hatten innige Briefe gewechselt und der junge Mann, -dessen Familie mit der Clerambaults in Beziehungen stand, -kam oft zu ihnen, und vielleicht auch nicht bloß, um dem -Dichter zu begegnen. Die Besuche dieses liebenswerten, -etwa dreißigjährigen Menschen, eines großen, gutgewachsenen -Burschen mit festen Zügen, einem scheuen Lächeln, mit -hellen Augen im sonnverbrannten Gesicht, wurden immer -freudig aufgenommen, und Clerambault war nicht der einzige, -den sie erfreuten. Für Daniel wäre es leicht gewesen, -sich einen Hinterlandsdienst in irgendeiner Metallfabrik -zu sichern, aber er hatte selbst gefordert, seinen gefährlichen -Posten an der Front nicht verlassen zu müssen, wo er -sich rasch den Leutnantsgrad erworben hatte. Der Urlaub -bot ihm Gelegenheit, Clerambault zu besuchen.</p> - -<p>Clerambault war allein, seine Frau und seine Tochter waren -ausgegangen. Freudig empfing er den jungen Freund. Aber -Daniel schien befangen, und nachdem er längere Zeit auf -die Fragen Clerambaults recht und schlecht geantwortet -hatte, schnitt er geradewegs die Sache an, die ihm am Herzen -lag. Er sagte, er hätte an der Front von den Artikeln -Clerambaults gehört, und dies hätte ihn verwirrt. Man -sagte... oder man behauptete... schließlich, man sei ja -so streng... er wisse ja, daß es ungerecht sei... aber er -sei gekommen — und dabei faßte er die Hand Clerambaults -in einer Art zärtlicher Scheu — um ihn zu bitten, sich nicht -von jenen zu trennen, die ihn liebten. Er erinnerte ihn an -die Ehrfurcht, die der Dichter, der einst die französische Erde -und die innere Größe der Rasse gefeiert hatte, allgemein -einflöße.... „Bleiben Sie, bleiben Sie mit uns in dieser -Stunde der Prüfungen....“</p> - -<p>„Nie bin ich mehr mit euch gewesen“, antwortete Clerambault. -Und er fragte ihn:</p> - -<p>„Sie sagen mir, lieber Freund, daß man das, was ich -geschrieben hätte, verunglimpfe. Was denken Sie selbst -davon?“</p> - -<p>„Ich habe es nicht gelesen“, sagte Daniel. „Ich wollte es -nicht lesen. Ich hatte Furcht, in meiner Zuneigung für Sie -gekränkt oder an der Erfüllung meiner Pflicht gehindert -zu sein.“</p> - -<p>„Dann haben Sie wenig Vertrauen zu sich, wenn Sie fürchten, -durch das Lesen von ein paar Zeilen in Ihrer Überzeugung -erschüttert zu werden.“</p> - -<p>„Ich bin meiner Überzeugung sicher“, antwortete Daniel -ein wenig gereizt, „aber es gibt gewisse Dinge, für die -es besser ist, wenn man sie nicht in die Diskussion zieht.“</p> - -<p>„Seltsam“, sagte Clerambault, „das ist ein Wort, das ich -mir nicht von einem Mann der Wissenschaft erwartete. Was -hat die Wahrheit dabei zu verlieren, wenn man sie untersucht?“</p> - -<p>„Die Wahrheit nichts, aber die Liebe. Die Liebe zum Vaterland.“</p> - -<p>„Mein lieber Daniel, Sie sind viel kühner als ich. Ich stelle -die Wahrheit nicht in einen Gegensatz zur Vaterlandsliebe. -Ich versuche nur, sie in Einklang zu bringen.“</p> - -<p>Daniel schnitt kurz ab. „Man diskutiert nicht über das -Vaterland.“</p> - -<p>„Es ist also“, sagte Clerambault, „ein Glaubensartikel?“</p> - -<p>„Ich glaube an keine Religion“, protestierte Daniel, „an -keine, und gerade darum denke ich so. Was bliebe denn -noch auf Erden, wenn es nicht das Vaterland gäbe?“</p> - -<p>„Nun, ich denke, es gibt auf der Erde viele gute und schöne -Dinge, das Vaterland ist bloß eines davon. Ich liebe es -auch. Und ich stelle auch nicht die Liebe zum Vaterland -in Frage, sondern nur die Art, es zu lieben.“</p> - -<p>„Es gibt nur eine“, sagte Daniel.</p> - -<p>„Und die wäre?“</p> - -<p>„Ihm gehorchen.“</p> - -<p>„Also die Liebe mit geschlossenen Augen, so wie im antiken -Symbol. Ich meinerseits möchte sie ihr lieber öffnen.“</p> - -<p>„Nein, lassen Sie uns, wie wir sind! Unsere Aufgabe ist -schon ohnehin hart genug, machen Sie sie uns nicht noch -grausamer.“ Und mit einigen nüchternen, abgehackten, von -Erregung bebenden Sätzen stellte Daniel die furchtbaren -Bilder jener Wochen hin, die er eben im Schützengraben -verlebt hatte, den Ekel und den Abscheu vor all dem, was er -gelitten hatte, leiden gesehen und leiden gemacht hatte.</p> - -<p>„Aber mein lieber Freund“, sagte Clerambault, „wenn Sie -diese erbärmliche Schande selber sehen, warum sollen wir sie -denn nicht verhindern?“</p> - -<p>„Weil es unmöglich ist.“</p> - -<p>„Um das zu wissen, käme es erst auf einen Versuch an.“</p> - -<p>„Das Gesetz der Natur ist der Kampf der Wesen gegeneinander. -Zerstören oder zerstört werden. So und nur so -ist es.“</p> - -<p>„Und wird sich das nie ändern?“</p> - -<p>„Nein“, sagte Daniel mit einem Ton hartnäckigen Schmerzes, -„es ist ein Gesetz.“</p> - -<p>Es gibt Männer der Wissenschaft, denen die Wissenschaft so -sehr die Wirklichkeit, die sie umschließt, verbirgt, daß sie -sie unter dem Netz nicht mehr sehen; sie hat sich ihnen -entzogen. Sie umfassen die ganze von der Wissenschaft -umspannte Zone, halten es aber für unmöglich und sogar -lächerlich, dieses Reich über die einmal von der Vernunft -gezogene Grenze hinaus zu erweitern. Sie glauben bloß -an einen Fortschritt, der an die Innenseite der Umfriedung -gekettet ist. Clerambault kannte nur zu gut das spöttische -Lächeln, mit dem die großen Gelehrten der offiziellen -Schulen ohne jede nähere Prüfung die Eingebungen der -Erfinder ablehnen. Eine gewisse Art der Wissenschaft ist -mit Folgsamkeit vollkommen vereinbar. Wenigstens verband -Daniel mit der seinen keine Ironie, vielmehr den Ausdruck -einer stoischen und unbeirrbaren Traurigkeit. Es -fehlte ihm nicht an geistiger Kühnheit, aber die hatte er -einzig in den abstrakten Dingen. Dem Leben selbst gegenübergestellt, -bot er eine Mischung — oder besser eine Aufeinanderfolge -— von Ängstlichkeit und Starrsinn dar, von -zögernder Bescheidenheit und trotziger Überzeugung. Wie -die meisten Menschen war er ein zusammengesetztes, zwiespältiges -Wesen, aus einzelnen Teilen und Stücken bestehend, -nur daß bei einem Intellektuellen und besonders -bei einem Mann der Wissenschaft die einzelnen Stücke -nicht ganz ineinanderpassen und daß die Fugen sichtbar -werden.</p> - -<p>„Aber“, sagte Clerambault, die Betrachtungen, die in der -Stille durch seinen Sinn gingen, laut zu Ende führend, -„selbst die Voraussetzungen der Wissenschaft sind doch in -Umformung begriffen. Seit zwanzig Jahren durchlaufen -die Grundvorstellungen der Chemie und der Physik eine -Krise der Erneuerung, die sie gleichzeitig erschüttert und doch -fruchtbar macht. Und einzig die sogenannten Gesetze, die die -menschliche Gesellschaft oder, besser gesagt, das chronische -Räubertum der Nationen regieren, sollten unveränderlich -sein? Habt ihr in eurem Gedankenkreis keinen Raum für -die Hoffnung einer höheren Zukunft?“</p> - -<p>„Wir könnten nicht kämpfen“, sagte Daniel, „hätten wir -nicht die Hoffnung, eine gerechtere und menschlichere Weltordnung -zu begründen. Viele meiner Gefährten sind der -Überzeugung, dieser Krieg mache allen Kriegen ein Ende. -Ich teile diese Hoffnung nicht, ich verlange nicht so viel. -Ich weiß nur das eine, daß unser Frankreich in Gefahr -ist, und daß seine Niederlage die der ganzen Menschheit -wäre.“</p> - -<p>„Die Niederlage jedes Volkes ist eine der ganzen Menschheit, -denn alle sind für sie notwendig. Die Vereinigung -aller Völker wäre der einzige wahrhafte Sieg. Jeder andere -richtet ebenso die Sieger wie die Besiegten zugrunde. Jeder -Tag, der diesen Krieg verlängert, läßt das kostbare Blut -Frankreichs fließen, und es ist in Gefahr, für immer erschöpft -zu werden.“</p> - -<p>Daniel gebot diesen Worten mit einer erregten und schmerzlichen -Geste Einhalt. Ja, das wußte er.... Das wußte er.... -Wer wußte es besser als er, daß Frankreich hinstarb, Tag für -Tag, an seiner heroischen Anstrengung, daß die Blüte seiner -Jugend, seiner Kraft, seiner Intelligenz, das lebendige Mark -der Rasse in Sturzbächen hinströmte und zugleich der Reichtum, -die Arbeit und der Kredit des französischen Volkes.... -Frankreich, blutend an allen Gliedern, ging den Weg, den -Spanien vier Jahrhunderte zuvor gegangen war und der -zu den Einsamkeiten des Eskurial führt.... Aber er wollte -nicht, daß man ihm von den Möglichkeiten eines Friedens, -der diese Qual beendigte, spräche, ehe der Feind gänzlich zu -Boden geschmettert. Man dürfe nicht auf die Angebote, die -Deutschland damals machte, antworten, nicht einmal, um -sie in Erwägung zu ziehen. Man dürfe nicht einmal sprechen -darüber. Und wie die Politiker, die Generale, die Journalisten -und die Millionen armer Geschöpfe, die tollwütig die -Lektion, die man ihnen eingelernt hatte, wiederholten, schrie -auch Daniel: „Bis zum letzten Mann!“</p> - -<p>Clerambault sah mit zärtlichem Mitleid diesen wackeren, -scheuen und heldenmütigen Burschen an, der von dem Gedanken -erschreckt wurde, das Dogma in Frage zu ziehen, -dessen Opfer er war. Hatte dieser wissenschaftliche Geist gar -keinen Widerstand gegen den Widersinn eines solchen -blutigen Spieles, dessen Einsatz der Tod ebenso für Frankreich -wie für Deutschland — und vielleicht für Frankreich -mehr als für Deutschland — war?</p> - -<p>Ja, er wehrte sich dagegen, aber er raffte sich trotzig zusammen, -um es sich nicht einzugestehen. Von neuem beschwor -Daniel Clerambault. „Ja, diese Gedanken mögen vielleicht -wahr und gerecht sein, aber nur nicht jetzt, jetzt sind sie -nicht an der Zeit... in zwanzig oder fünfzig Jahren!... -Lassen Sie uns nur zuerst unsere Aufgabe erfüllen, zu -siegen und die Freiheit der Welt, die Brüderlichkeit der -Menschen durch den Sieg Frankreichs begründen.“</p> - -<p>Ach, der arme Daniel! Sah er denn nicht selbst im günstigsten -Falle die Überhebung voraus, die verhängnisvoll diesen -Sieg beschmutzen würde, und daß es dann am Besiegten -sein würde, den krankhaften Wunsch und Willen zur -Revanche und zum gerechten Sieg für sich zu erneuern? -Jede Nation will das Ende aller Kriege durch ihren eigenen -Sieg. Und von Sieg zu Sieg stürzt die Menschheit tiefer -in ihre Niederlage hinab.</p> - -<p>Daniel erhob sich, um Abschied zu nehmen. Er drückte -Clerambaults Hand und erinnerte ihn mit Ergriffenheit an -seine Gedichte von einst, in denen er das heroische Wort -Beethovens wiederholte, um das schöpferische Leiden zu -feiern, das Wort: „Durch Leiden Freude.“</p> - -<p>„Ach! ach! Wie ihr uns mißversteht!... Wir besingen -das Leiden, um uns davon zu befreien, aber ihr begeistert -euch dafür. So wird unser Hymnus der Befreiung für die -anderen Menschen ein Sang der Knechtung.“</p> - -<p>Clerambault gab keine Antwort. Er liebte diesen jungen -Menschen; diese armen Kerle, die sich aufopfern, wissen -wohl, daß sie nichts im Kriege zu gewinnen haben. Aber je -mehr Opfer man von ihnen verlangt, desto gläubiger werden -sie. Mögen sie dafür gesegnet sein!... Aber wenn sie -nur nicht mit sich selbst auch die ganze Menschheit hinopfern -wollten!</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault hatte Daniel gerade bis zur Wohnungstür -geleitet, als Rosine zurückkam. Als sie den Besucher -sah, hatte sie eine Bewegung entzückter Überraschung. -Auch das Antlitz Daniels erhellte sich, und Clerambault -entging nicht die freudige Belebtheit der beiden jungen -Leute. Rosine forderte Daniel auf, noch einmal zurückzukommen -und die Unterhaltung fortzusetzen, Daniel war -schon im Begriff es zu tun, zögerte dann, lehnte ab, sich noch -einmal niederzusetzen, und schützte dann mit einem schmerzlich -gespannten Gesichtsausdruck irgendeinen vagen Vorwand -vor, der ihn zwinge fortzugehen. Clerambault, der -im Herzen seiner Tochter las, bestand freundschaftlich darauf, -daß er wenigstens noch einmal vor seinem Urlaubsende -wiederkäme. Daniel, in die Enge getrieben, sagte zuerst -nein, dann ja, ohne sich fest zu verpflichten, um dann schließlich, -dem Drängen Clerambaults nachgebend, einen bestimmten -Tag festzusetzen. Dann nahm er in einer etwas kühlen -Weise Abschied. Clerambault kehrte wieder in sein Arbeitszimmer -zurück und setzte sich nieder. Rosine blieb unbeweglich -und gedankenverloren mit schmerzlichem Ausdruck -stehen. Clerambault lächelte ihr zu. Sie kam zu ihm und -umarmte ihn.</p> - -<p>Der festgesetzte Tag ging vorüber, Daniel kam nicht zu ihnen -herauf. Man wartete noch den nächsten Tag und den übernächsten, -aber er war schon an die Front zurückgegangen. -Auf Betreiben Clerambaults machte kurz darauf seine Frau -mit Rosine den Eltern Daniels einen Besuch. Sie wurden -von ihnen mit eisiger und beinahe verletzender Kälte empfangen. -Frau Clerambault erklärte, als sie zurückkam, sie -wolle nie mehr in ihrem Leben diese unerzogenen Leute -sehen. Rosine hatte Mühe, ihre Tränen zu verbergen.</p> - -<p>In der Woche darauf kam ein Brief von Daniel an Clerambault. -Ein wenig beschämt über sein Verhalten und -das seiner Eltern, versuchte er weniger, es zu entschuldigen -als zu erklären. Er machte eine zarte Anspielung, er hätte -Hoffnung gehabt, einmal Clerambault näher zu stehen als -bloß durch die Bande der Bewunderung, des Respektes und -der Freundschaft. Aber, fuhr er fort, Clerambault hätte -seine Zukunftsträume durch seine bedauerliche Rolle zunichte -gemacht, die er glaubte in der Tragödie auf sich -nehmen zu müssen, bei der es um das Leben des Vaterlandes -ginge, und durch den Widerhall, den seine Stimme gefunden -hätte. Seine Worte, die zweifellos falsch verstanden -aber sichtlich unklug gewesen waren, hätten einen frevelhaften -Charakter enthüllt, der die öffentliche Meinung aufgewühlt -hätte. Unter den Offizieren der Front sei ebenso wie -bei seinen Freunden im Hinterland die Erbitterung darüber -die gleiche. Seine Eltern, die von jenem Traum des Glückes -gewußt hätten, legten jetzt Protest ein, und so sehr er darunter -leide, glaube er doch nicht das Recht zu haben, die Bedenken -beiseite zu stoßen, deren Quelle ein tiefes Mitleid mit dem gekränkten -Vaterland sei. Die öffentliche Meinung würde es -nicht verstehen können, daß ein Offizier, der die Ehre hatte, -sein Blut dem Vaterlande darbieten zu dürfen, an eine Verbindung -denken könne, die man als eine Zustimmung zu so -verderblichen Ideen ausdeuten könne. Freilich, die öffentliche -Meinung hätte zweifellos unrecht, aber man müsse -immer mit der öffentlichen Meinung rechnen. Denn die -öffentliche Meinung eines Volkes, selbst wenn sie scheinbar -übertrieben und ungerecht ist, will doch geachtet sein, und -dies gerade sei der Irrtum Clerambaults gewesen, sie herausfordern -zu wollen. Daniel drängte Clerambault noch einmal, -seinen Irrtum zu bekennen und öffentlich abzuschwören, -durch neue Aufsätze den beklagenswerten Eindruck zu verwischen, -den die ersten hervorgebracht hätten. Er stellte es -ihm als eine Pflicht dar, eine Pflicht gegen das Vaterland, eine -Pflicht gegen sich selbst, und eine Pflicht — er ließ es deutlich -durchblicken — gegen jene, die ihnen beiden so teuer war. — -Der Brief schloß mit verschiedenen anderen Betrachtungen, -in denen noch zwei- oder dreimal der Name der öffentlichen -Meinung wiederkehrte; sie nahm in seinem Denken den Rang -der Vernunft und selbst des Gewissens ein.</p> - -<p>Clerambault erinnerte sich lächelnd an die Szene Spittelers, -wo der König Epimetheus, der Mann der entschlossenen -Überzeugung, in der Stunde, da er sie auf die Probe -stellen soll, sie nicht mehr in die Hand bekommt, sie entwischen -sieht, ihr nachsetzt und, um sie zu fassen, sich bäuchlings -auf die Erde wirft und sie unter seinem Bette sucht. -Clerambault erkannte, daß man gleichzeitig ein Held vor -dem Feuer des Feindes und doch ein ganz kleiner Junge -vor der öffentlichen Meinung seiner Mitbürger sein könne.</p> - -<p>Er zeigte Rosine den Brief. Und so ungerecht auch die Liebe -sonst sein mag, Rosine war doch in ihrem Herzen durch -die Heftigkeit verletzt, die ihr Freund der Überzeugung ihres -Vaters antun wollte. Sie dachte, Daniel liebe sie nicht genug, -und sagte, sie ihrerseits liebe ihn nicht genug, um solche -Forderungen anzunehmen. Selbst wenn Clerambault ihm -nachgeben wolle, so würde sie es nicht erlauben, denn es -sei eine Ungerechtigkeit.</p> - -<p>Hier umarmte sie ihren Vater, zwang sich, tapfer zu lachen -und ihr grausames Mißgeschick zu vergessen. Aber man vergißt -nicht ein erträumtes Glück, solange noch irgendeine -schwache Möglichkeit vorhanden ist, es wiederzufinden. Sie -mußte immer daran denken, und nach einiger Zeit fühlte -Clerambault, wie sie sich von ihm entfernte. Wer die Verleugnung -besitzt, sich aufzuopfern, besitzt nur selten auch jene -andere, dann nicht jenen gram zu sein, für die er sich aufgeopfert -hat. Gegen ihren eigenen Willen zürnte Rosine ihrem -Vater um ihr verlornes Glück.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>in seltsames geistiges Phänomen trat nun bei Clerambault -zutage. Er fühlte sich niedergeschlagen und doch -gleichzeitig gefestigt. Er litt daran, gesprochen zu haben, und -fühlte doch, daß er von neuem sprechen würde. Er gehörte -sich selbst nicht mehr. Seine Schriften hielten ihn fest, -seine Schriften übten einen Zwang auf ihn aus: kaum hatte -er seine Gedanken ausgesprochen, so war er schon an sie gebunden. -Das aus dem Herzen entsprungene Werk wirkt -wieder auf das Herz zurück. Geboren aus einer Stunde geistiger -Erregung, verlängert und erneuert es sich diese Stunde -im Geiste, der ohne diesen Aufschwung erschöpft in sich -zusammenstürzte. Denn diese Stunde ist Lichtstrahl aus den -letzten Tiefen, ist das Beste des inneren Wesens, das Ewigste -und reißt den tierhaften Teil des irdischen Wesens mit sich fort. -Ob er will oder nicht, schreitet der Mensch, von seinen Werken -getragen und gezogen, weiter, sie leben außerhalb seiner selbst, -erneuern in ihm die verlorne Kraft, erinnern ihn an seine -Pflicht, führen ihn und befehlen ihm. Clerambault hatte die -Absicht zu schweigen. Und doch begann er immer wieder -zu sprechen.</p> - -<p>Er war sich seiner Schwäche freilich recht bewußt. „Du zitterst, -Kadaver, weil du weißt, wohin ich dich jetzt führe“, pflegte -Turenne vor einer Schlacht zu seinem Leibe zu sagen. Die -Leiblichkeit Clerambaults bot keinen stolzen Anblick. Wenn -auch die Schlacht, in die er sie führte, eine viel unscheinbarere -war, so war es doch kein geringerer Kampf, denn er stand darin -allein und ohne Armee. Das Schauspiel, das er sich selbst -in der Nacht vor der Schlacht darbot, war beschämend: er -sah sich selbst nackt, in seiner Mittelmäßigkeit, einen schwachen -Menschen, scheu von Natur, ein wenig feig, einen Menschen, -der der anderen bedurfte, ihrer Liebe, ihrer Zustimmung. -Und es war furchtbar schwer, alle diese Beziehungen -mit ihnen zu zerreißen, gesenkten Kopfes gegen ihren -Haß anzurennen.... Würde er stark genug sein, um Widerstand -leisten zu können?... Wieder stürmten die schon -verjagten Zweifel gewaltsam auf ihn ein. Wer zwang ihn -denn dazu, zu sprechen? Wer würde auf ihn hören? Und -wozu das alles? Warum hielt er sich nicht an das Beispiel -der Klügeren, die schwiegen?</p> - -<p>Und doch fuhr sein entschlossenes Hirn fort, ihm das zu -diktieren, was er schreiben sollte, und die Hand schrieb es -nieder, ohne ein Wort zu mildern. Er bestand gewissermaßen -aus zwei Menschen, aus einem, der hingestreckt lag, -Angst hatte und schrie: „Ich will mich nicht herumschlagen“, -und aus einem anderen, der voll Verachtung für den Feigling -ihn am Genick fortschleppte und sagte: „Vorwärts, -du wirst gehen.“</p> - -<p>Und doch wäre es zu viel Ehre, wollte man ihm zuerkennen, -daß er aus Mut so handelte. Er handelte so, weil er nicht -anders konnte. Selbst wenn er hätte innehalten wollen, -so mußte er doch nach vorwärts und sprechen.... „Es ist -deine Mission.“ Clerambault verstand das nicht und fragte -sich, warum gerade er ausersehen worden war, er, der Dichter, -der Zärtliche, geschaffen zu einem stillen, kampflosen, opferlosen -Leben, indessen doch andere, starke, krieggewohnte, kampfgeartete -Menschen mit Athletenseelen da waren, die unbeschäftigt -blieben. „Es hat keinen Sinn sich darüber den -Kopf zu zerbrechen. Gehorche! Es ist nun einmal so.“</p> - -<p>Und gerade diese Zwiespältigkeit seiner Natur zwang ihn, -sobald einmal eine der beiden Seelen in ihm die Oberhand -behalten hatte, sich ihr restlos hinzugeben. Ein normalerer -Mensch hätte die beiden Naturen verschmolzen -oder verbunden, hätte ein Kompromiß gefunden, bei dem -die Anforderungen der einen und die Vorsicht der anderen -zu ihrem Recht gekommen wären. Aber ein Clerambault -war immer nur einseitig, dem einen oder dem anderen unterworfen. -Hatte er einmal einen Weg gewählt, so ging er -ihn ganz geradeaus, ob er ihm gefiel oder nicht. Und aus -dem gleichen Grunde, der ihn früher so leichtgläubig für -den Glauben der Welt rings um ihn gemacht hatte, mußte -er jetzt rücksichtslos die Lügen, denen er zum Opfer gefallen -war, offenbaren, sobald er sie erkannt hatte. Andere, die sich -anfangs nicht so hemmungslos hatten narren lassen, hätten -sie nie zu enthüllen vermocht.</p> - -<p>So begann der Mutige wider seinen eigenen Willen, ein -anderer Ödipus, den Kampf mit der Sphinx des Vaterlandes, -die ihn am Kreuzweg erwartete.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>er Angriff Bertins lenkte auf Clerambault die Aufmerksamkeit -einiger Politiker der äußersten Linken, die -nicht recht wußten, wie sie ihre Opposition gegen die Regierung -(die ja ihre Existenzbedingung war) mit jener „heiligen -Eintracht“ in Einklang bringen sollten, die zu Kriegsbeginn -gegen den feindlichen Einbruch beschlossen war. Sie druckten -die beiden ersten Artikel Clerambaults in einem jener sozialistischen -Blätter nach, deren Gedankengang damals zwischen -diesen Gegensätzen pendelte. Man bekämpfte dort den Krieg -und votierte gleichzeitig Kriegskredite. Begeisterte internationale -Bekenntnisse standen dort dicht neben Mahnreden von -Ministern, die eine nationalistische Politik trieben. In diesem -Schaukelspiel hätten die Seiten Clerambaults mit ihrem -vagen Lyrismus, wo der Angriff maßvoll war und die -Kritik der Vaterlandsideen von tiefem Mitleid umhüllt, den -ganz wertlosen Charakter eines platonischen Protests gehabt, -wenn nicht die Zensur darin einzelne Sätze mit der Zähigkeit -einer Termite ausgefressen hätte. Die Spuren ihrer Zähne -lenkten aber gerade die Blicke auf das, was der allgemeinen -Unaufmerksamkeit sonst entgangen wäre. So kratzte die Zensur -in dem Aufsatz „An die einst Geliebte“ das Wort Vaterland, -nachdem sie es zum erstenmal in Verbindung mit einem -liebenden Anruf ruhig hatte stehen lassen, bei allen anderen, -bedeutend weniger schmeichelhaften Stellen rücksichtslos heraus. -Ihre Dummheit sah nicht, daß nun das Wort, linkisch -vom Lichtschirm bedeckt, nur noch besser im Geiste des Lesers -aufleuchtete. So gelang es ihr, einem Aufsatz, der eigentlich -recht bedeutungslos war, Bedeutung zu verleihen, wobei allerdings -hinzuzurechnen war, daß in dieser Stunde allgemeiner -Passivität das geringste Wort freier Menschlichkeit, insbesondere -aber ein von einem bekannten Namen ausgesprochenes, -sofort eine ganz außerordentliche und weite Wirkung gewann. -Der andere Artikel, „Ihr Toten verzeihet uns“, war oder konnte -durch seinen schmerzlichen Akzent noch gefährlicher für die -große Masse der einfachen, vom Krieg aufgewühlten Seelen -sein. So versuchte die bisher gleichgültige Zensur bei dem -ersten Wind, den sie davon bekam, ihn glatt vor der Öffentlichkeit -zu unterdrücken. Geschickt genug, um nicht auf -Clerambault durch eine öffentliche Maßnahme besondere -Aufmerksamkeit zu lenken, verstand sie es, auf das Journal -auf Umwegen einzuwirken. Ein heftiger Widerstand -gegen den Schriftsteller zeigte sich plötzlich in der internen -Redaktion der Zeitung selbst. Natürlich warfen sie -ihm nicht den Internationalismus seines Gedankens vor, -sondern sie beschuldigten ihn bourgeoiser Empfindsamkeit.</p> - -<p>Dafür bot ihnen nun Clerambault selbst Argumente mit -einem dritten Artikel, in dem sein Widerstand gegen jede -Gewalt ebenso die Revolution wie den Krieg zu verurteilen -schien. Die Dichter sind eben immer schlechte Politiker.</p> - -<p>Es war eine erbitterte Antwort auf jenen „Anruf an die -Toten“, den Barrès, die zitternde Nachteule, von einer -Friedhofzypresse herabwimmerte.</p> - -<p class='line' style='text-align:center;margin-top:1em;'>„<span class='gesp'>Anruf an die Lebendigen</span>“</p> - -<p>„Der Tod beherrscht die Welt. Ihr, die ihr lebendig seid, -schüttelt sein Joch ab! Es genügt ihm nicht, die Völker -zu vernichten, er will, daß sie ihn auch noch verherrlichen, -daß sie ihm singend entgegenlaufen, und ihre Herren -verlangen, daß sie ihre eigene Aufopferung verherrlichen. -„Es ist das schönste Los, das beneidenswerteste, das man -erlangen kann!...“ Sie lügen! Es lebe das Leben! Einzig -das Leben ist heilig, und die Liebe zum Leben ist die erste -Tugend. Aber die Menschen von heute besitzen sie nicht -mehr. Dieser Krieg beweist — und beweist bei vielen schon -seit fünfzehn Jahren — (gesteht es euch nur ein!) das Vorhandensein -einer wahnwitzigen Hoffnung auf eine solche Katastrophe. -Ihr liebt das Leben nicht, wenn ihr keine bessere Verwendung -dafür habt, als es dem Tod zum Fraß hinzuwerfen. -Euer Leben ist euch eine Last, euch, ihr Reichen, ihr Bürger, -ihr Diener der Vergangenheit, ihr Konservativen, die ihr darüber -greint aus Mangel an Appetit, aus moralischem Übelbefinden, -mit euren vor Überdruß schleimigen und sauren -Seelen und Mäulern — und euch, ihr Proletarier, ihr Armen -und Unglücklichen aus Mutlosigkeit über das Schicksal, das -euch zugefallen ist. In der dumpfen Mittelmäßigkeit eures -Lebens, in der Hoffnungslosigkeit, es jemals zu verwandeln -(ihr Kleingläubigen!), wartet ihr einzig darauf, ihm durch -einen Gewaltakt zu entrinnen, der euch dem Sumpf, zumindest -für die Spanne einer Minute, nämlich der letzten, -entreißt. Die Stärksten unter euch, jene, die am besten die -Energie der ursprünglichen Instinkte bewahrt haben, die -Anarchisten und Revolutionäre, appellieren bloß an sich -selbst, um diese befreiende Tat zu erfüllen. Aber die große -Volksmasse ist zu müde, um die Initiative zu ergreifen. -Deshalb begrüßt sie mit solcher Gier die mächtige Welle, -die ihre Vaterländer aufrührt: den Krieg! Sie gibt sich ihm -mit einer düsteren Wollust hin. Denn er ist der einzige -Augenblick im Leben, wo diese verschatteten Existenzen sich -vom Atem des Unendlichen durchweht fühlen. Und gerade -dieser Augenblick ist der der Vernichtung.</p> - -<p>Ah, eine schöne Art, sein Leben anzuwenden.... Es einzig -dadurch zu bejahen, daß man es verneint zugunsten irgendeines -menschenfresserischen Gottes, mag er Vaterland oder -Revolution heißen, der zwischen seinen Kinnladen die Gebeine -von Millionen Menschen zerkrachen läßt....</p> - -<p>Sterben, Zerstören, was liegt da für ein Ruhm darin! Das -einzige Wichtige wäre, zu leben. Und das versteht ihr nicht. -Ihr seid des Lebens nicht würdig. Nie habt ihr die Segnungen -der lebendigen Minute empfunden, der Freude, die -im Lichte tanzt. Oh, ihr hinsterbenden Seelen, ihr wollt, -daß alles mit euch sterbe, kranke Brüder, denen wir die -Hand hinreichen, sie zu retten, und die uns wütend mit -sich in den Abgrund reißen....</p> - -<p>Aber nicht mit euch, ihr Unglücklichen, will ich abrechnen, -sondern mit euren Gebietern. Mit euch, den Herren der -Stunde, unsern geistigen Gebietern, den politischen Machthabern, -den Herren des Geldes, des Eisens, des Blutes -und des Gedankens! Mit euch, die ihr diese Staaten in -Händen haltet, die ihr diese Armeen in Bewegung setzt, die -ihr mit euren Zeitungen, Büchern, Schulen und Kirchen -diese Generation geformt und aus diesen freien Seelen -Herden gemacht habt. Ihre ganze Erziehung — euer Werk -der Knechtung — die Laienerziehung wie die christliche, -lobpreist gleicherweise mit ungesundem Jubel den nichtigen -militärischen Ruhm und seine Glückseligkeit. Am Ende -der Angel hält sowohl die Kirche als auch der Staat den -Tod als Köder hin.</p> - -<p>Ihr heuchlerischen Schriftgelehrten und Pharisäer, Schande -über euch! Politiker und Priester, Künstler und Schriftsteller, -ihr Chorführer des Todes, ihr seid innen voll von Totengebein -und Verwesung. Ach, ihr seid so recht die Söhne -jener, die Christus getötet haben. Wie jene beschwert ihr -die Schultern der Menschen mit entsetzlichen Lasten, zu denen -ihr selbst nicht den Finger aufhebt. Wie jene, so kreuzigt -ihr gerade solche, die den unglücklichen Völkern helfen wollen, -solche, die zu euch kommen, in den Händen den Frieden, den -gesegneten Frieden. Ihr sperrt sie ein und schmäht sie und -jagt sie, so wie es geschrieben steht in der Schrift, von Stadt -zu Stadt, bis daß das ganze vergossene Blut der Erde -in Strömen auf euch zurückfällt.</p> - -<p>Ihr Kuppler des Todes, ihr arbeitet nur für ihn! Das -Vaterland dient euch nur dazu, um die Zukunft der Vergangenheit -hörig zu machen und die lebendigen Menschen -an die vermoderten Toten zu ketten. Ihr verurteilt das -neue Leben in alle Ewigkeit, einzig die leeren Gebräuche -der Gräber ängstlich zu erfüllen.... Aber laßt uns auferstehen! -Lassen wir die Glocken klingen zum Osterfest der -Lebendigen!</p> - -<p>Ihr Menschen, es ist nicht wahr, daß ihr die Sklaven der -Toten seid und durch sie wie Hörige an die Erde gebunden. -Laßt die Toten ihre Toten begraben und selbst in die Grube -fahren. Ihr aber seid Söhne der Lebendigen und selbst -lebendig! Ihr jungen, gesunden Brüder, zerbrecht die nervenschwache -Müdigkeit eurer Seelen, die sich den vergangenen -Vaterländern verschrieben haben und die nur manchmal -in plötzlichen Krämpfen der Raserei sich aufraffen. -Werdet selbst die Herren der Stunde, die Herren der Vergangenheit, -Väter und Söhne eurer Werke! Seid frei! -Jeder von euch ist Mensch — nicht der verweste Leib der in -den Gräbern stinkend Vermoderten, sondern das knisternde -Feuer des Lebens, das die Verwesung tilgt, das die Leichen -der vergangenen Jahrhunderte zerstört, das immer neue -junge Feuer, das die Erde mit seinen brennenden Armen -umschlingt. Seid frei! Ihr Eroberer der Bastille, ihr habt -noch nicht jene andere erobert, die in euch selbst ist, das falsche -Schicksal, das seit Jahrhunderten alle jene zu eurer Niederhaltung -gebaut haben, die — entweder Sklaven oder Tyrannen -(sie sind von der gleichen Galeere) — Furcht haben, -daß ihr euch eurer Freiheit bewußt würdet. Der wuchtige -Schatten der Vergangenheit — Religionen, Rassen, -Vaterländer, die materialistische Wissenschaft — verdeckt -eure Sonne. Geht ihr entgegen! Die Freiheit ist jenseits -all jener Wälle und Türme von Vorurteilen, jener toten -Gesetze, jener geheiligten Lügen, die die Interessen einzelner -Auguren, die Meinung der militarisierten Massen und -euere eigenen Zweifel an euch selbst noch behüten. Wagt es, -zu wollen! Und ihr werdet plötzlich hinter der Mauer des -trügerischen Schicksals, kaum daß sie hinstürzt, wieder die -Sonne und die unbegrenzte Ferne sehen.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>S</span>tatt die revolutionäre Flamme dieses Aufrufes zu erkennen, -klammerte sich das Redaktionskomitee der Zeitung -nur an die drei oder vier Zeilen, in denen Clerambault -die Gewalttätigkeiten aus beiden Lagern, von rechts und -links, in denselben Sack zu stecken schien. Woher nahm dieser -Dichter das Anrecht, in einem Parteiblatte den Sozialisten -Lektionen erteilen zu wollen? Im Namen welcher Theorien -tat er es? War er denn überhaupt Sozialist? Ein solcher -Bourgeois sollte nur mit diesen tolstoianischen und anarchistischen -Schreibübungen bei der Bourgeoisie bleiben. -Vergebens protestierten einige weitsichtigere Köpfe dagegen -und betonten, jeder freie Gedanke, ob mit, ob ohne politische -Etikette, müsse willkommen geheißen werden, und jener -Clerambaults, so wenig er auch die Parteitheorie kenne, sei -in Wahrheit sozialistischer als mancher der Sozialisten, die -sich der nationalen Schlächterei beigesellt hätten. Dennoch -ging man glatt darüber hinweg, und der Artikel wurde, -nachdem er ein paar Wochen in einer Schublade geschlafen -hatte, Clerambault zurückgegeben unter dem Vorwand, -sie hätten zuviel aktuelle Aufsätze und zu wenig Raum.</p> - -<p>Clerambault brachte den Artikel einer kleinen Revue, die -sich mehr von seinem literarischen Ruf als von seinen Ideen -zum Abdruck verleiten ließ. Das Resultat war, daß auf Befehl -der Polizei die Revue am Tage nach dem Erscheinen des -fast ganz unterdrückten Artikels verboten wurde.</p> - -<p>Clerambault aber wurde nur noch hartnäckiger. Gerade -diejenigen, die ihr ganzes Leben unterwürfig gewesen waren, -werden die erbittertsten Revolutionäre, wenn man sie dazu -zwingt. Ich erinnere mich, einmal ein großes Lamm gesehen -zu haben, das, von einem Hund beunruhigt, endlich auf -ihn losstürmte, und der Hund, durch diese unerwartete Umkehrung -der Naturgesetze erschreckt, floh vor Entsetzen und -Angst bellend davon. Der Köter Staat ist seiner Zähne -zu sicher, um sich über ein paar unbotmäßige Lämmer zu -beunruhigen, aber das Lamm Clerambault berechnete nicht -mehr den Widerstand, sondern stieß mit dem Kopf kreuz -und quer. Die Eigentümlichkeit schwacher aber edler Herzen -ist es, ohne Übergang aus einer Übertreibung in die andere -zu verfallen. Aus dem Übermaß eines Massengefühls -war Clerambault mit einem Ruck zu einem Übermaß des isolierten -Individualismus hinübergesprungen, und eben weil -er die Geißel des Gehorsams so gut kannte, sah er überall -nur sie, diese soziale Suggestion, deren Folgen in allen Gesellschaftsklassen -gleich sichtbar waren: die heroische Passivität -der Armeen, die man bis zum Irrsinn gepriesen hatte, -die Millionen der von der Hauptschar eingeschlossenen Ameisen, -die Unterwürfigkeit der Parlamente, die den Chef der -Regierung zwar mißachteten, aber doch solange mit ihrer -Stimme unterstützten, bis zufällig einmal der Ausbruch -eines einzelnen Revoltierenden eine Explosion hervorrief, die -griesgrämige, aber doch militärische Unterwürfigkeit selbst -der linksstehenden Parteien, die dem absurden Idol einer -abstrakten Einigkeit selbst ihre Existenzberechtigung aufopfern. -Und diese Leidenschaft, den eigenen Willen preiszugeben, -war für ihn der Feind. Er erkannte seine Aufgabe -darin, den Zweifel zu erwecken, den Geist, der die Kette -zernagt, und möglicherweise den großen Wahn zu zerstören.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>ie Wurzel des Übels war die Idee der Nation. Und -diese geschwürige Stelle durfte man nicht anrühren, -ohne daß die Bestie aufschrie. Clerambault attackierte sie -schonungslos.</p> - -<p>„... Was habe ich mit euren Nationen zu tun? Ihr verlangt -von mir, ich solle einzelne Völker lieben und einzelne hassen. -Ich liebe oder hasse Menschen. Und es gibt innerhalb jeder -Nation vornehme, niederträchtige und mittelmäßige, nur daß -in jeder einzelnen Nation die vornehmen und die niederträchtigen -selten sind, die mittelmäßigen dagegen die große -Masse bilden. Ich liebe einen Menschen oder liebe ihn nicht -um dessentwillen, was er ist, und nicht dafür, was die anderen -sind. Und gäbe es in einer Nation nur einen einzigen -Menschen, den ich liebe, so würde mir das schon genug sein, -um sie nicht als Gesamtheit zu verurteilen. — Ihr sprecht -mir von den Kämpfen und dem eingebornen Haß der -Rassen? Die Rassen sind die Farben im Prisma des Lebens, -erst aus ihrem leuchtenden Zusammenspiel entsteht das -Licht. Wehe dem, der dieses Prisma bricht! Ich gehöre -nicht einer Rasse an, ich gehöre dem Leben, dem ganzen -Leben. Ich habe Brüder bei allen Nationen, ob sie freundlich -oder feindlich sind, und die mir zunächst Stehenden sind -nicht immer jene, die ihr mir als Landsleute aufzwingen -wollt. Die seelischen Familien sind über die ganze Welt hin -zerstreut. Führen wir sie wieder zusammen! Unsere Aufgabe -ist es, die chaotischen Nationen zu zerstören und an -ihrer Stelle harmonische Gruppen zu bilden. Nichts wird -dies verhindern können, und selbst die Verfolgungen werden -aus dem allgemeinen Leiden nur die allgemeine Liebe -der gemarterten Völker formen.“</p> - -<p>Und andere Male betonte er in schonungsloser Weise seine -persönliche Loslösung von dem Wettstreit der Nationen, obwohl -er die Idee der Nation nicht leugnete, ja sogar als -eine natürliche Tatsache anerkannte; denn Clerambault versteifte -sich nicht auf die Logik, ihm kam es nur darauf an, -das Götzenbild durch alle Lücken seines Harnisches zu treffen. -Diese seine Haltung war nicht minder gefährlich.</p> - -<p>„Ich kann keinen Anteil nehmen an den Streitigkeiten -eurer Nationen um die Überlegenheit. Mir ist es gleichgültig, -ob im Wettrennen diese oder jene Farbe den Sieg -behält. Wer auch gewinnt, es ist doch immer die Menschheit, -die den Sieg davonträgt. Für mich ist es nur gerecht, -daß das lebendigste, das klügste, das arbeitsamste Volk in -dem friedlichen Kampfe der Arbeit den Triumph erringe. -Entsetzlich dagegen wäre, wenn die zurückgedrängten Nebenbuhler -oder diejenigen, die eine Zurückdrängung befürchten, -zur Gewalt griffen, um sich die Konkurrenz vom Halse zu -schaffen. Dies würde die Unterordnung des Interesses aller -Menschen unter einen geschäftlichen Gesichtspunkt bedeuten. -Das Vaterland ist aber kein geschäftlicher Gesichtspunkt. Es -ist nun gewiß traurig, daß das Aufsteigen der einen Nation -den Niedergang der anderen verursacht, aber warum sagt -ihr nicht, wenn der große Handel des eigenen Landes den -kleinen Handel des eigenen Landes zugrunde richtet, dies -sei ein Majestätsverbrechen gegen den Staat? Und doch -richtet dieser Kampf viel traurigere und unverdientere Verheerungen -an. Das ganze gegenwärtige ökonomische Gesellschaftssystem -der Welt ist verhängnisvoll und lasterhaft, -hier müßte man mit der Heilung einsetzen. Der Krieg aber, -der versucht, den glücklicheren oder geschickteren Konkurrenten -zugunsten des ungeschickteren oder trägeren zu begaunern, -vergrößert nur die Mängel dieses Systems, denn er bereichert -einzelne Wenige und ruiniert die ganze Gemeinschaft.</p> - -<p>Es ist unmöglich, daß alle Völker auf derselben Straße -im selben Schritt vorwärtsmarschieren. Abwechselnd überholen -bald die einen die anderen und werden wieder selbst -überholt. Aber was tut es, wenn sie nur im selben Zuge -schreiten! Nur keine dumme Eigenliebe! Der Pol der Weltenergie -verändert ständig seine Stelle, selbst im gleichen -Lande verlegt er oft seinen Ruhepunkt. In Frankreich ist -er von der römischen Provence an die Loire der Valois -übergegangen, jetzt ist er in Paris, wird aber nicht immer -dort bleiben. Die ganze Erde gehorcht einem wechselnden -Rhythmus fruchtbaren Frühlings und einschlummernden -Herbstes, die großen geschäftlichen Routen bleiben nicht unveränderlich, -und die Schätze unter der Erde sind nicht unerschöpflich. -Ein Volk, das sich durch Jahrhunderte ohne zu -rechnen verausgabt hat, geht durch seinen Glanz dem Ende -entgegen. Es kann sich nur erhalten, wenn es auf die Reinheit -seines Blutes verzichtet und sich den anderen vermengt. -Es ist zwecklos, es ist verbrecherisch, seine vergangene Zeit der -Reife angeblich verlängern zu wollen, indem man andere -hindert heranzuwachsen oder, wie unsere alten Leute von -heutzutage, die Jungen in den Tod schickt. Das macht sie -nicht jünger, aber sie töten die Zukunft damit.</p> - -<p>Ein gesundes Volk versucht, statt sich gegen die Lebensgesetze -entrüstet aufzulehnen, sie zu verstehen. Es sieht -seinen wahren Fortschritt nicht im stupiden Willen, durchaus -nicht alt werden zu wollen, sondern in einer unablässigen -Bemühung, mit dem Alter fortzuschreiten, anders und -größer zu werden. Jedes Alter hat seine Aufgabe. Ein -ganzes Leben sich an die selbe anzuklammern, ist Faulheit -und Schwäche. Lernt euch zu verwandeln, der Wandel -ist das Leben. Die Werkstätte der Menschheit hat Arbeit für -alle! So arbeiten wir Völker jedes für seinen Teil, und -jedes sei stolz auf die Arbeit aller. Die Mühe und das Genie -aller anderen sind auch die unseren.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>iese Artikel erschienen da und dort, wo es ihnen eben gelang, -in irgendeinem jener kleinen fortschrittlichen, -anarchistischen oder literarischen Blätter unterzukommen, -in denen sonst die gewalttätigen Angriffe gegen Einzelpersonen -den wohlbedachten Kampf gegen das Regime zu -ersetzen versuchten. Die Aufsätze waren fast ganz unleserlich, -so hatte die Zensur sie zugerichtet, die übrigens, wenn -der Artikel dann in einer anderen Zeitung nachgedruckt -wurde, manchmal mit launischer Vergeßlichkeit das durchrutschen -ließ, was sie gestern verboten hatte, und das -wieder wegschnappte, was sie gestern hatte durchgehen -lassen. Es gehörte eine wirkliche Anstrengung dazu, ihren -Sinn zu erfassen. Seltsamerweise waren es aber nicht die -Freunde, sondern die Gegner Clerambaults, die sich dieser -Mühe unterzogen. In Paris sind sonst die Polemiken von -kurzer Dauer, denn die gefährlichsten Gegner, die wahrhaft -Geschulten im Federkrieg, wissen sehr genau, daß Schweigen -mehr schadet als Beschimpfung, und so gebieten sie oft ihrer -Gehässigkeit Stille, um sich gewissere Wirkung zu sichern.</p> - -<p>Aber in der hysterischen Krise, die damals die Seelen Europas -schüttelte, gab es keine Richtschnur mehr, nicht einmal -mehr eine für den Haß. Die Heftigkeit der Attacken -Octave Bertins brachte Clerambault jeden Augenblick wieder -der Öffentlichkeit in Erinnerung. Es half nichts, daß -Bertin selbst verächtlich die anderen aufforderte: „Reden -wir nicht mehr davon!“ Er redete selbst davon am Ende -jedes einzelnen Artikels, in dem er seine Galle entlud.</p> - -<p>Nun kannte Bertin zu genau alle geheimen Schwächen, -alle geistigen Mängel und alle kleinen Lächerlichkeiten seines -einstigen Freundes, als daß er sich das Vergnügen versagen -konnte, sie mit sicherem Pfeil zu treffen. Clerambault, -im Tiefsten verwundet und nicht klug genug, seinen Ärger -zu verbergen, ließ sich in den Kampf hineinreißen, antwortete -und zeigte, daß auch er den anderen bis aufs Blut -verletzen könne. Eine brennende Gehässigkeit brach zwischen -den beiden los.</p> - -<p>Das Resultat war vorauszusehen. Bisher war Clerambault -ungefährlich gewesen. Er beschränkte sich im ganzen -auf die sittliche Abhandlung, seine Polemik trat nicht aus -dem gedanklichen Kreis hervor und hätte ebensogut sich auf -Deutschland, England oder auf das Rom von einst beziehen -können wie auf das Frankreich von heute. In Wahrheit -verstand er eigentlich höchst wenig von den politischen Dingen, -über die er sich verbreitete, ebensowenig wie neun Zehntel -aller Männer seiner Gesellschaftsklasse und seines Berufes. -So konnte auch das, was er aufspielte, nicht die Herren -der Stunde verwirren. Der lärmende Federkrieg Clerambaults -und Bertins aber, inmitten des Durcheinanders und -Getöses der Zeitungen, hatte eine doppelte Folge. Einerseits -gewöhnte er Clerambault in seinem Gefecht zu feinerer Technik, -und das zwang ihn, sich einen sichereren Grund -unter den Füßen zu suchen als den der bloß logischen Streitigkeiten, -andererseits brachte er ihn in Zusammenhang mit -Männern, die die Tatsachen besser kannten und ihm Unterlagen -für seine Aufsätze brachten. Seit einiger Zeit hatte -sich in Frankreich ein kleiner, halb unterirdischer Zirkel gebildet, -der sich mit einer unbeeinflußten Untersuchung und -freien Kritik des Krieges und seiner Ursachen befaßte. -Der Staat, der sonst so wachsam jeden Versuch freien -Denkens zermalmte, hielt diese klugen, ruhigen Menschen, -die meist Gelehrte waren, kein lärmendes Aufsehen zu bewirken -suchten und sich mit Privatdebatten begnügten, für -ungefährlich. Es schien ihm politischer, sie bloß zu bewachen, -als zwischen vier Mauern einzusperren. Aber er täuschte -sich in seiner Berechnung. Ist einmal die Wahrheit in -bescheidener Mühe gefunden, und sei sie auch nur fünf -oder sechs Menschen offenbar, so kann sie nicht mehr entwurzelt -werden: sie steigt aus der Erde mit unwiderstehlicher -Kraft. Clerambault erfuhr damals zum erstenmal, -daß es solche leidenschaftliche Wahrheitssucher gab, die an -jene aus der Zeit des Dreyfusprozesses erinnerten, und ihr -geheimes Apostolat unter der allgemeinen Unterdrückung erinnerte -ihn irgendwie an die kleine christliche Gemeinschaft -zur Zeit der Katakomben. Mit ihrer Hilfe entdeckte er jetzt -neben den Ungerechtigkeiten auch die Lüge des „großen -Krieges“. Bisher hatte er davon nur ein dunkles Vorgefühl -gehabt, doch vermochte er nicht zu ahnen, bis zu welchem -Grade unsere nächste Zeitgeschichte gefälscht worden -war. Sein Entsetzen war ungeheuer. Selbst in den Stunden -eindringlichster Prüfung hatte sich seine naive Vorstellungsweise -niemals die trügerischen Untergründe ausdenken -können, auf denen ein solcher Kreuzzug für das Recht -beruhte. Und da er nicht der Mann war, seine Entdeckung -für sich zu behalten, schrie er sie in Aufsätzen offen aus, die -sofort von der Zensur untersagt wurden, schob sie dann in -satirischer, ironischer oder symbolischer Form in kleine Erzählungen -und Fabeln in der Art Voltaires ein, die manchmal -infolge Unachtsamkeit des Zensors glücklich durchgingen, -aber Clerambault den Machthabern als einen ausgesprochen -gefährlichen Menschen erscheinen ließen.</p> - -<p>Die ihn zu kennen meinten, waren sehr von ihm überrascht. -Von seinen Gegnern war er bisher allgemein als Sentimentaler -behandelt worden, der er ja auch im Grunde gewiß -war. Weil er es aber wußte und gleichzeitig Franzose war, -besaß er die Gabe, selbst darüber zu lachen und sich lustig zu -machen. Deutschen Sentimentalen mag es passen, blindlings -an sich zu glauben; aber im Grunde der Seele des so -beredten und empfindsamen Clerambault wachte der Blick -des Galliers, der immer auf der Hut ist im tiefsten Dickicht -seiner großen Wälder, der beobachtet, nichts übersieht und -immer bereit ist, zu lachen. Und das Seltsamste war, daß -dieser urhafte Trieb gerade in jenem Augenblick bei ihm ausbrach, -wo man es am wenigsten erwartet hätte, in der Zeit -der härtesten Prüfung und drohenden Gefahr. Das Gefühl -für das Lächerliche der Welt belebte Clerambault gleichsam -von neuem. Sein Charakter bekam plötzlich, kaum daß -er sich von den Konventionen, in denen er gefangen war, -freigemacht hatte, eine lebendige Vielfalt. Gut, zärtlich, -kampfsüchtig, reizbar, über das Ziel hinausschießend, den -Mißgriff anerkennend und heiter darüber hinweggehend, -sentimental, ironisch, skeptisch und gläubig — immer erstaunte -er selbst von neuem, wenn er sich im Spiegel dessen -sah, was er schrieb. Sein ganzes Leben, das er bisher vorsichtig -und bürgerlich in sich verschlossen hatte, brach nun, -durch die moralische Einsamkeit und die gesunde Luft des -Kampfes verstärkt, aus ihm heraus.</p> - -<p>Und Clerambault merkte, daß er sich selber nicht kannte. -Er war wie neugeboren seit jener Nacht der Angst, er hatte -eine Art Freude kennen gelernt, von der er nie gewußt -hatte, die schwindelige und losgelöste Freude des freien -Mannes im Kampfe. Alle seine Sinne waren wie ein -Bogen, gut und straff gespannt. Und er genoß im Tiefsten -dieses vollkommene Wohlgefühl.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>J</span>ene aber in seiner nächsten Umgebung hatten von diesem -Wohlergehen keinen Gewinn. Frau Clerambault bekam -von dem Kampf nur die Unannehmlichkeiten zu fühlen, -eine allgemeine Feindseligkeit, die schließlich selbst bei den kleinen -Lieferanten ihres Bezirkes zutage trat. Rosine siechte sichtlich -dahin. Die Wunden ihres Herzens, die sie verbarg, ließen -sie schweigend verbluten. Sie selbst beklagte sich nie, aber -ihre Mutter tat es für zwei. Ihre Verbitterung erstreckte -sich gleicherweise auf die Dummköpfe, die sie beschimpften, -und den unvorsichtigen Clerambault, der ihr diese Beschimpfung -einbrachte. Bei jeder Mahlzeit gab es ungeschickte -Vorwürfe, die ihn zum Schweigen bewegen sollten. Aber -sie richtete nichts aus, die stummen wie die lärmenden Anklagen -glitten machtlos an Clerambault ab. Zweifellos war -er oft traurig und bedrückt, aber er gab sich jetzt ganz der -Leidenschaft des Kampfes hin, und ein unbewußter, ja sogar -ein wenig kindlicher Egoismus ließ ihn alles ausschalten, -was ihm dieses neue Vergnügen hätte stören können.</p> - -<p>Äußere Umstände kamen Frau Clerambault zu Hilfe. Eine -alte Verwandte, die sie aufgezogen hatte, starb und hinterließ -den Clerambaults ihren kleinen Besitz im Berry, den sie -bewohnt hatte. Frau Clerambault benützte diesen Trauerfall, -um sich von Paris zu entfernen, das ihr jetzt zum Abscheu -geworden war, und vor allem um ihren Mann -diesem gefährlichen Milieu zu entreißen. Sie schützte außer -ihrem Schmerz praktische Gründe und die Gesundheit -Rosinens vor, der diese Luftveränderung gut tun würde. -Clerambault gab nach. Sie reisten alle drei ab, um ihre -kleine Erbschaft in Besitz zu nehmen, und blieben den Sommer -und Herbst über im Berry.</p> - -<p>Das altbürgerliche Haus lag auf dem Lande, am Ausgang -eines Dorfes. Aus der Erregung von Paris war Clerambault -plötzlich in eine stockende Ruhe versetzt. Die Stille -der Tage unterbrach nur der Ruf der Hähne in den Bauernhöfen, -das Brüllen des Viehes auf der Weide. Aber das -Herz Clerambaults war zu sehr fieberhaft geworden, um -sich dem friedfertigen und langsamen Rhythmus der Natur -anzupassen. Einst hatte er ihn bis zur Vergötterung geliebt, -einst war er in Harmonie mit dem Landvolk gewesen, -dem seine eigene Familie entstammte, aber heute machten -ihm die Bauern, mit denen er zu sprechen versuchte, den Eindruck -von Menschen eines anderen Planeten. Zwar waren -sie nicht vom Kriegsgift verseucht, sie zeigten keine Leidenschaft -und keinen Haß gegen den Feind, aber sie zeigten auch -keinen gegen den Krieg. Sie nahmen ihn als eine Tatsache -hin, ließen sich nichts über ihn vormachen (gewisse Bemerkungen -voll gutmütiger Ironie verrieten, daß sie wußten, -was er wert sei), aber zunächst beschränkten sie ihre Bemühung -darauf, ihn auszunützen. Sie machten gute Geschäfte. -Sie verloren zwar ihre Söhne, aber sie verloren -nicht ihr Hab und Gut. Wenn ihre Trauer sich auch nicht sehr -offensichtlich ausdrückte, so konnte man ihnen doch deutlich -anmerken, daß sie für das Leid nicht unempfindlich waren. -Aber schließlich: ein Menschenleben geht dahin und die Erde -bleibt. Sie hatten wenigstens nicht wie die Bourgeoisie der -Städte ihre Kinder aus nationalem Fanatismus in den -Tod geschickt, aber, sobald es einmal geschehen war, wußten -sie ihre Opfer in gute Werte umzusetzen und wahrscheinlich -hätten das sogar ihre hingeopferten Söhne ganz natürlich -gefunden. Muß man denn, wenn man das, was man liebt, -verliert, immer auch gleich den Kopf dazu verlieren? Die -Bauern hatten ihn nicht verloren. Man erzählt, der -Krieg habe im französischen Flachland etwa eine Million -neuer Grundbesitzer geschaffen. Die Gedankenwelt Clerambaults -fühlte sich hier ganz einsam und ausgeschlossen. -Sein Denken und das ihre sprachen nicht dieselbe Sprache. -Hie und da tauschten sie mit ihm einige allgemeine bekümmerte -Reden aus. Aber die Bauern beklagen sich ja -immer, wenn sie mit dem Städter sprechen. Es ist bei ihnen -schon so Sitte, eine Art, sich gegen einen möglichen Appell -an ihren Geldsack zu schützen. Sie hätten im selben Ton -über Maul- und Klauenseuche gesprochen. Clerambault -blieb für sie der Pariser. Was immer sie auch denken mochten, -ihm hätten sie es nie gesagt. Er war für sie von einer -anderen Rasse.</p> - -<p>Dieses Fehlen jeder Resonanz erstickte das Wort Clerambaults. -Leicht zu beeinflussen, wie er war, kam er dahin, es -selbst nicht mehr zu hören. Stille war um ihn. Die Stimmen -der unbekannten und fernen Freunde, die ihn zu erreichen -versuchten, wurden durch die Spionage der Post aufgefangen -— einen jener Schandmale, mit dem sich diese Zeit entehrt -hat. Unter dem Vorwand, die Spionage des Auslandes -zu unterdrücken, machte der Staat damals aus -seinen eigenen Bürgern Spione. Er begnügte sich nicht damit, -die Politik zu überwachen, er vergewaltigte auch das -Denken und erzog seine Agenten zum gemeinen Dienst von -Horchern an der Wand. Die Vorteile, die er ihnen für eine -solche Niedrigkeit bot, erfüllten bald das Land (alle Länder) -mit freiwilligen Spitzeln, Leuten der guten Gesellschaft, -drückebergerischen Schriftstellern in großer Zahl, die ihre -Sicherheit dadurch erkauften, daß sie die der andern verrieten -und ihre Angebereien mit dem Worte „Vaterland“ -deckten. Dank diesen Angebern war es den frei Denkenden, -die sich suchten, nicht möglich, einander die Hände zu reichen. -Das ungeheure Untier Staat hatte eine mißtrauische -Angst vor dem halben Dutzend freier, alleinstehender, -schwacher machtloser Menschen, so sehr brannte es der Dorn -seines schlechten Gewissens. Und jede dieser freien Seelen -siechte hin in ihrem Kerker, umschlossen von einer unsichtbaren -Überwachung. Und da einer vom anderen nicht wußte, daß -sie alle das gleiche litten, starben sie langsam hin in ihrer -eisigen Einsamkeit, ihrer Verzweiflung.</p> - -<p>Die Seele, die Clerambault in seinem eigenen Leibe trug, -war zu brennend, um sich durch dieses Leichentuch von -Schnee ersticken zu lassen. Aber die Seele allein reicht nicht -aus in solchen Krisen. Der Körper ist eine Pflanze, die der -menschlichen Erde bedarf. Der Sympathie beraubt, gezwungen, -sich von seiner eigenen Substanz zu nähren, -kränkelt er hin. Alle Überlegungen Clerambaults, mit denen -er sich zu beweisen suchte, daß sein Gedankengang jenem -von Tausenden Unbekannten entspräche, konnten nicht den -lebendigen, leibhaftigen Kontakt mit einem einzigen schlagenden -Herzen ersetzen. Der Geist kann sich mit dem Glauben -begnügen. Aber das Herz ist der ungläubige Thomas, -der berühren muß, um zu glauben.</p> - -<p>Clerambault hatte diese seine physische Schwäche nicht vorausgesehen. -Es war wie eine Erstickung: die Haut wird -trocken, das Blut vom brennenden Körper aufgesogen, die -Quellen des Lebens versiegen im luftleeren Raum.</p> - -<p>Da geschah es eines Abends, als er wie ein Schwindsüchtiger -an einem drückenden Tage von Zimmer zu Zimmer -auf der Suche nach einem Atemzug frischer Luft durch das -Haus geirrt war, daß ein Brief ankam, dem es gelungen -war, zwischen den Maschen des Netzes durchzuschlüpfen. -Ein Mann etwa seines Alters, ein Dorflehrer in irgendeinem -verlorenen Tale des Dauphiné, schrieb ihm:</p> - -<p>„Der Krieg hat mir alles genommen. Von denen, die ich -kannte, hat er die einen getötet, die anderen erkenne ich -nicht mehr. Auf allem, was mir einst das Leben lebenswert -erscheinen ließ, auf meiner Hoffnung eines Fortschrittes, -auf meinem Vertrauen in eine Zukunft geistiger -Brüderlichkeit, stampfen sie mit ihren Füßen herum. Ich -siechte hin vor Verzweiflung, als ich durch einen Zufall dank -einer Zeitung, die Sie beschimpfte, Ihre Aufsätze „Ihr Toten“ -und „An die einst Geliebte“ kennen lernte. Ich habe -sie gelesen und vor Freude geweint. Man ist also doch nicht -ganz allein? Man leidet also doch nicht allein? Und nicht -wahr, mein Herr, Sie glauben noch an diesen Glauben, -sagen Sie es mir, Sie glauben doch noch an ihn? Er lebt -also immer noch und sie werden ihn nicht töten können? -Ach, wie wohl das tut, ich fing schon an zu zweifeln! Verzeihen -Sie es mir, aber man ist alt, man ist allein, man ist -recht müde.... Ich segne Sie, mein Herr. Jetzt werde ich -ruhig sterben können, jetzt weiß ich, dank Ihnen, daß ich -mich nicht getäuscht habe!“</p> - -<p>Und es war sofort, als ob die Luft durch irgendeine plötzliche -Öffnung einbräche. Die Lunge spannte sich aus, das -Herz begann wieder zu schlagen, die Quelle des Lebens -wieder zu sprudeln, um das ausgetrocknete Strombett der -Seele von neuem zu füllen. O wie doch immer ein liebender -Mensch des andern bedarf! Du Hand, zu mir hinübergereicht -in der Stunde der Angst, du Hand, die du mich -fühlen ließest, daß ich nicht ein abgerissener Zweig war vom -Baum des Lebens, sondern hinabreiche bis zu seinem Herzen -— ich rette dich und du rettest mich. Ich gebe dir meine -Kraft und sie stirbt hin, wenn du sie nicht nimmst. Die einsame -Wahrheit ist wie ein Funke, der als einziger, züngelnd -und vergänglich vom Kiesel springt. Wird er nicht verlöschen? -Nein. Er hat eine andere Seele berührt, und ein Stern -flammt in der Tiefe des Horizonts auf.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>N</span>ur einen Augenblick war es Clerambault vergönnt, ihn -zu sehen. Dann trat er hinter dem Gewölk zurück und -verschwand für immer.</p> - -<p>Clerambault schrieb noch am selben Abend dem unbekannten -Freunde. Er vertraute ihm mit voller Hingabe -seine Prüfungen und seine gefährlichen Überzeugungen an. -Der Brief blieb ohne Antwort. Nach einigen Wochen schrieb -Clerambault nochmals, hatte aber auch diesmal keinen -Erfolg; doch sein Hunger nach einem Freund, mit dem er -leiden und hoffen konnte, war so gierig geworden, daß er -mit der Eisenbahn nach Grenoble fuhr und von dort zu -Fuß bis zu dem Dorf ging, dessen Adresse er bewahrt hatte. -Aber als er, das Herz schon ganz selig über die Überraschung, -die er bereiten würde, an die Tür der Schule klopfte, verstand -der Mann, der ihm auftat, nichts von dem, was er ihm -sagte. Nach kurzer Auseinandersetzung erfuhr er, daß der -Lehrer, mit dem er sprach, neu in das Dorf gekommen sei. -Sein Vorgänger war vor einem Monat versetzt und strafweise -in eine entfernte Gegend geschickt worden, aber es blieb -ihm erspart, die Reise zu machen. Eine Lungenentzündung -hatte ihn am Tage, ehe er den Ort verlassen sollte, den er -dreißig Jahre bewohnt, dahingerafft. Nun durfte er noch -weiter darin wohnen, aber unter der Erde. Clerambault -sah das Kreuz auf dem noch frischen Hügel und erfuhr niemals, -ob der entschwundene Freund wenigstens seine zärtlichen -Worte empfangen hatte. Es war besser für ihn, im -Zweifel zu verharren, denn niemals hatte der entschwundene -Freund seine Briefe erhalten, selbst jenes letzten Lichtscheins -hatte man ihn beraubt.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>as Ende jenes Sommers im Berry war eine der unfruchtbarsten -Epochen im Leben Clerambaults. Er -sprach mit niemandem mehr, er schrieb nicht mehr. Mit der -arbeitenden Bevölkerung in direkten Verkehr zu kommen, -bot sich keine Möglichkeit. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo -er vordem dem Volke nahetreten konnte (bei Massenaufläufen, -bei Festlichkeiten und bei der Arbeit an der Volksuniversität), -war es ihm immer lieb geworden. Aber eine Scheu, -übrigens eine, die beiderseitig war, hinderte ihn, sich ganz -hinzugeben. Beide Teile hatten immer das bald stolze, bald -peinliche Gefühl der eigenen Minderwertigkeit. Denn Clerambault -dünkte sich in vielen Dingen, und zwar in den wesentlichsten, -geringwertiger, als die intelligenten Arbeiter (und -er hatte auch recht, denn aus ihren Reihen werden die Führer -der Zukunft erstehen). Unter der Auslese der Arbeiterschaft -gab es damals anständige und männliche Geister, die Clerambault -wohl hätte verstehen können. Mit ihrem ungebrochenen -Idealismus hielten sie sich fest an die Wirklichkeit und, gewöhnt -an den täglichen Kampf, seine Täuschungen und seinen -Betrug, hatten sich diese Männer, von denen einige, obzwar -noch jung, schon Veteranen im sozialen Kampf waren, -zur Geduld erzogen. Sie hätten Clerambault darin belehren -können. Diese Leute wußten wohl, daß alles erarbeitet sein -muß, daß man nichts umsonst bekommt, daß alle diejenigen, -die das Glück der zukünftigen Generation wollen, es mit -ihren persönlichen Leiden bezahlen müssen. Sie wissen, daß -der geringste Fortschritt nur Schritt für Schritt erobert wird -und oft zwanzigmal verloren geht, ehe er endgültig erreicht -wird. (Es gibt ja nichts wirklich Endgültiges...) Clerambault -hatte großes Verlangen nach diesen Menschen, die -stark und geduldig wie die Erde waren. Und seine heiße -Intelligenz hätte sie bestrahlt und erwärmt.</p> - -<p>Aber zwischen ihnen und ihm bestand das altväterliche, verletzende -und der Gemeinschaft nicht weniger als dem Einzelnen -verhängnisvolle System der Kasten, das zwischen den -angeblich gleichen Bürgern unserer verlogenen Demokratien -steht, und das aus der übergroßen Verschiedenheit der Vermögensverhältnisse, -der Erziehung und der Lebensform -stammt. Zwischen den einzelnen Kasten bestand nur eine -Verbindung durch die Journalisten, die, eine Kaste für -sich bildend, weder die eine noch die andere wirklich darstellten. -Einzig die Stimme der Zeitungen durchhallte das -Schweigen Clerambaults. Nichts war imstande, ihr „Quorax -quorax breke-ke-kex“ zu stören.</p> - -<p>Die unglücklichen Folgen einer neuen Offensive fanden die -Journale wie immer unerschütterlich auf ihrem Posten. -Wieder einmal waren die optimistischen Orakel der Hinterlandspriester -zunichte geworden, aber niemand schien es zu -bemerken. Sie ließen nur andere Orakel folgen, die mit der -gleichen Zuversicht verabreicht und verschluckt wurden. Weder -diejenigen, die sie schrieben, noch die, die sie lasen, wollten -eingestehen, daß sie sich getäuscht hatten, und, so aufrichtig -sie auch gegen sich sein mochten, sie merkten nichts davon. -Sie erinnerten sich selber nicht mehr an das, was sie tags -zuvor gesagt hatten. Und wie wollte man auch dies seltsame -Wesen mit dem Vogelgehirn fassen? Kopf oben, Kopf unten -— man mußte schließlich ihre Gabe anerkennen, nach allen -Kapriolen immer wieder auf die Füße zu fallen. Jeden Tag -hatten sie eine andere Überzeugung. Sie brauchte nicht -dauerhaft zu sein, nachdem man am anderen Tage wieder -eine andere hatte. Zu Ende des Herbstes begann man in -den Zeitungen, um die sinkende Moral des Hinterlandes, -die bei dem Vorgefühl des traurigen Winters nachzugeben -begann, wieder neu zu kräftigen, eine neue Propaganda -deutscher Greuel. Sie erfüllte vortrefflich ihren Zweck. Das -Thermometer der öffentlichen Meinung stieg plötzlich wieder -zur Fiebertemperatur auf. Selbst in dem friedlichen Städtchen -des Berry äußerten sich während einiger Wochen alle -Leute in erbittertster Weise. Sogar der Priester steuerte sein -Scherflein bei und hielt eine Rachepredigt. Clerambault, -der es von seiner Frau beim Mittagessen erfuhr, sprach -seine Ansicht darüber in Gegenwart des bedienenden Mädchens -ohne Rücksicht aus. Am Abend wußte schon das ganze -Dorf, daß er ein Boche sei, und seitdem konnte es Clerambault -jeden Morgen an seiner Tür angeschrieben lesen. Die -Laune Frau Clerambaults wurde dadurch nicht gebessert. -Rosine wiederum, die in ihrem jugendlichen Kummer über -die getäuschte Liebe eine religiöse Krise durchmachte, war zu -sehr mit ihrem eigenen Schmerz und seinen Verwandlungen -beschäftigt, um an die Qual der anderen zu denken. Selbst -die zärtlichsten Naturen haben ihre Stunde eines naiven und -vollkommenen Egoismus.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>G</span>anz allein sich selbst hingegeben und der Möglichkeit -des Wirkens beraubt, wandte Clerambault sein ganzes -fieberndes Denken gegen sich. Nichts konnte ihn nunmehr -auf dem Wege der bitteren Wahrheit zurückhalten, -nichts mehr ihr grausam scharfes Licht abdämpfen. Er -fühlte in sich die brennende Seele jener <span class='it'>fuorusciti</span>, die, -verstoßen aus den Mauern ihrer harten Stadt, sie von -außen mit mitleidslosen Augen betrachteten. Nun war es -nicht mehr die schmerzhafte Vision jener ersten Nacht der -Prüfung, da die blutenden Wunden ihn noch mit seinem -menschlichen Kreise verbanden. Jetzt waren alle Bande gelöst. -Sein überklarer Geist schwebte, den Abgrund umkreisend, -immer tiefer in langsamen Spiralen einsamen Schweigens -in die Hölle hinab....</p> - -<p>„Ich sehe euch, ihr Herden, ihr Völker, ihr Myriaden Wesen, -die ihr es nötig habt, euch wie Austern zusammenzudrängen, -nur um euch vermehren und denken zu können. Jede -eurer Gruppen hat ihren besonderen Geruch, der ihr heilig -scheint. Ganz wie bei den Bienen, wo die Ausdünstung -der Königin die Einheit des Bienenstockes und die Arbeitsfreude -schafft. Ganz wie bei den Ameisen: Wer dort -nicht riecht wie das Ich und seine Rasse, wird getötet. Ihr -Menschenwaben, jede von euch hat ihren besonderen Geruch -von Rasse, Religion, Moral und althergebrachten Sitten. -Dieser Geruch durchdringt eure Körper, euer Werk und eure -Brut. Er bestimmt euer Leben von der Geburt bis zum -Tode. Weh dem, der ihn von sich abzuwaschen sucht.</p> - -<p>Wer die Dumpfheit dieses Bienenschwarmgedankens, diesen -Schweiß berauschter Nächte eines Volkes recht genießen will, -möge doch einmal die Gebräuche und Glaubensformeln aus -der Distanz der Geschichte betrachten; er möge sich von -Herodot, dem ironischen Spötter, den Film der menschlichen -Verirrungen aufrollen lassen, das lange Panorama -der bald erbärmlichen, bald lächerlichen, aber immer hochgeehrten -Gebräuche bei den Skythen, Issedonen, Geten, -Nasomonen, Gindaren, Sauromaten, Lydiern, Lybiern und -Ägyptern, den Zweifüßlern aller Farben von Ost nach West -und von Nord nach Süd. Der Großkönig, ein kluger Kopf, -fordert zum Scherz die Griechen, die ihre Toten verbrennen, -auf, sie zu verzehren, und die Hindus wiederum, die sie verspeisen, -sie zu verbrennen, und belustigt sich dann über ihre -beiderseitige Empörung. Der weise Herodot aber verneigt -sich vor seinem Publikum und, unmerklich lächelnd, enthält -er sich zwar eines Urteils, weist aber die zurecht, die sich -über jene lustig machen; denn: würde man allen Menschen -vorschlagen, eine Wahl unter den besten Gesetzen der verschiedenen -Länder zu treffen, so würde sich doch jeder für die -seines Vaterlandes entscheiden, denn es ist gewiß, daß jeder -überzeugt ist, es gäbe keine besseren. Es gibt kein wahreres -Wort als jenes Pindars: ‚Die Gewohnheit ist die Königin -aller Menschen.‘</p> - -<p>Jeder trinkt gern aus seinem Napf; so sollte er es wenigstens -ertragen, daß der andere aus dem seinigen trinkt. -Aber gerade das Gegenteil gilt: Um sich an dem seinen zu -erfreuen, muß man dem andern in seinen Napf spucken. So -will es Gott, denn man braucht ja einen Gott — mag er sein -wie er sei, Mensch oder Tier, oder bloß ein Gegenstand, eine -schwarze oder rote Linie, oder wie im Mittelalter eine Amsel, -ein Rabe, irgendein Wappenschild — nur damit man dann -auf ihn die eigenen Torheiten abladen kann.</p> - -<p>Heute, da die Fahne das Wappenschild ersetzt hat, erklären -wir uns frei von jedem Aberglauben. Doch wann -war er undurchdringlicher als heute? Jetzt zwingt uns das -neue Dogma der Gleichheit, genau so zu riechen wie die anderen, -wir haben nicht einmal mehr die Freiheit zu sagen, -daß wir nicht frei sind. Das wäre ein Gottesfrevel. Mit -dem Tragsattel auf dem Rücken muß man brüllen: ‚Es lebe -die Freiheit!‘ Die Tochter des Königs Cheops war auf Befehl -ihres Vaters Dirne geworden, um mit dem Schandgeld -ihres Körpers die Pyramide aufrichten zu helfen. Um -die Pyramide unserer massigen Republiken zu errichten, -müssen Millionen Bürger ihr Gewissen, ihre Seele und ihre -Körper der Lüge und dem Haß prostituieren.... Oh, wir -sind Meister in der großen Kunst des Lügens geworden!... -Allerdings, man hat ja immer gelogen, aber der Abstand -zu jenen Frühern besteht darin, daß sie sich ihrer Lüge bewußt -waren, und es beinahe naiv eingestanden wie ein natürliches -Bedürfnis, das man — wie es ja bei den Menschen -des Südens Sitte ist — ungeniert in Gegenwart von Vorübergehenden -abtut. ‚Ich werde immer lügen‘, sagt ganz -unschuldig Darius, ‚denn wenn es nützlich ist zu lügen, so -soll man sich darüber keine Skrupel machen. Diejenigen, die -lügen, wünschen dasselbe zu erreichen wie jene, die die Wahrheit -sagen: man lügt in der Hoffnung, irgendeinen Gewinn -davon zu haben, man sagt die Wahrheit, um daraus Vorteil -zu ziehen und sich das Vertrauen zu sichern. So gehen -wir zwar nicht den gleichen Weg, aber doch zum selben Ziele. -Denn ohne Hoffnung auf Vorteil wäre es ja für den, der -die Wahrheit sagt, gleichgültig, zu lügen, und für den, der -lügt, ebensogut, er sagte die Wahrheit.‘ Aber wir, meine -lieben Zeitgenossen, wir sind bedeutend schamhafter. Wir -schauen uns selbst nicht zu, wenn wir auf offener Straße -lügen... Wir lügen hinter geschlossenen Türen und Fenstern, -wir belügen uns selbst. Aber wir gestehen es uns -niemals ein, selbst nicht in aller Intimität. Nein, nein, -wir lügen nicht, wir „idealisieren“ nur.... Ach, ich möchte, -daß man euer Auge sehe und daß euer Auge sehend würde, -ihr freien Menschen!</p> - -<p>Frei! Worin, wovon seid ihr frei? Wer von euch ist heute -frei innerhalb eures gegenwärtigen Staates? Habt ihr die -Freiheit, zu handeln? Nein, da ja der Staat über euer -Leben verfügt, euch zu Schlächtern oder Hingeschlachteten -macht. Seid ihr frei, zu sprechen und zu schreiben, was -ihr wollt? Nein, denn man sperrt euch ein, wenn ihr eure -Gedanken aussprecht. Seid ihr frei, wenigstens für euch -allein zu denken? Nein, außer ihr verbergt eure Gedanken -gut, und selbst ein tiefer Keller ist für sie nicht sicher genug. -Schweigt! Hütet euch! Ihr seid gut überwacht... -Es gibt Galeerenhüter für die Tat: Unteroffiziere und -Betreßte. Und es gibt Galeerenhüter für den Geist: Kirchen -und Universitäten, die genau vorschreiben, was man -glauben und was man leugnen muß... Worüber beklagt -ihr euch? (Aber ihr beklagt euch ja gar nicht!) Macht euch -ja kein Kopfzerbrechen, wiederholt nur die Worte des Katechismus!</p> - -<p>Nun sagt ihr, daß dieser Katechismus in freier Wahl von -dem selbständigen und selbstherrlichen Volk genehmigt -worden sei! Eine schöne Selbstherrlichkeit! Einfaltspinsel, -die die Backen aufblasen mit ihrem Worte Demokratie... -Demokratie, das ist die Kunst, sich an die Stelle des Volkes -zu setzen und ihm feierlich in seinem Namen, aber zum -Vorteil einiger guter Hirten die Wolle abzuscheren. In -Friedenszeiten weiß das Volk nichts von dem, was vorgeht, -außer dem, was die Leute, die ein Interesse daran haben, -es zu prellen, ihm in ihren geknechteten Zeitungen zu -sagen Lust haben. Die Wahrheit ist unter Verschluß. In -Kriegszeiten macht man das besser, da ist das Volk unter -Verschluß. Selbst wenn es wirklich je gewußt hätte, was -es will, so hat es doch keine Möglichkeit mehr, ein Wort davon -zu sagen. Kadavergehorsam... Zehn Millionen Kadaver... -und die Lebendigen taugen auch nicht viel mehr, nachdem -sie vier Jahre im niederdrückenden Regime von patriotischen -Aufschneidereien, von Jahrmarkts-Paraden gestanden -haben und dem Tam-Tam, den Drohungen, Betrügereien, -Gehässigkeiten, Angebereien, Hochverratsprozessen -und dem Standgericht ausgesetzt waren. Die Demagogen -haben das letzte Aufgebot der Dunkelmännerei zusammengerafft, -um den letzten verzweifelten Lichtschein der Vernunft -in ihren Völkern zu ersticken und sie völlig zu verblöden.</p> - -<p>Ihnen genügt es nicht, sie zu knechten. Man muß die -Völker so dumm machen, daß sie selbst geknechtet sein -wollen. Die gewaltigen Autokratien Ägyptens, Persiens -und Assyriens, die mit dem Leben von Millionen ihr Spiel -trieben, schöpften das Geheimnis ihrer Macht aus dem -übernatürlichen Glanz ihrer falschen Göttlichkeit. Jede absolute -Monarchie war unbedingt bis an die äußersten Grenzen -der gläubigen Jahrhunderte eine Theokratie gewesen. -In unseren Demokratien aber ist es unmöglich, an die Göttlichkeit -irgend so eines Hanswursts, wie es unsere höchst anrüchigen -und mißachteten Minister sind, zu glauben. Man -hat sie zu sehr von der Nähe gesehen und kennt ihre Schäbigkeiten.... -So haben sie die Erfindung gemacht, die Götter -hinter die Leinwand ihres Jahrmarktzeltes zu stecken. Gott, -das ist jetzt die Republik, das Vaterland und die Gerechtigkeit, -die Zivilisation. Am Eingang des Zeltes sind sie aufgemalt, -jede Jahrmarktsbude zeigt in mannigfachen Farben -ihre schöne Riesin, und die Millionen drängen sich nur -so hinein, um sie zu sehen. Freilich, was sie denken, wenn -sie aus der Bude herauskommen, das wird nicht gesagt, -und sie wären selbst sehr verlegen, wenn sie sich etwas dabei -denken sollten. Die einen kommen überhaupt nicht mehr -heraus, die andern haben nichts gesehen. Nur jene, die -draußen geblieben sind vor der großen Bude, um zu gaffen, -die sehen, für die ist Gott da (schön aufgemalt). Die Götter -sind nichts als das Verlangen, an sie zu glauben.</p> - -<p>Warum aber dann die brennende Wut dieses Verlangens? -Weil man die Wirklichkeit nicht sehen kann. Oder eigentlich: -gerade weil man sie sieht. Das ist ja die ganze Tragik -der Menschheit, daß sie nicht sehen und nichts wissen will. -Sie hat nur das verzweifelte Bedürfnis, irgendwie ihren -Schmutz göttlich zu machen. Wir aber wollen ihr ins Gesicht -sehen!</p> - -<p>Der Instinkt des Mordes ist in das Herz der Natur geschrieben. -Ein wahrhaft teuflischer Instinkt, weil er die -Wesen nicht bloß geschaffen zu haben scheint, um zu essen, -sondern auch, um gegessen zu werden. Eine Spielart des -Kormorans nährt sich von Meerfischen. Die Fischer rotteten -nun diese Vögel aus, da verschwanden die Fische, denn sie -wiederum nährten sich von den Exkrementen der Vögel, die -sich von ihnen nährten. So ist die Kette der Wesen eine Schlange, -die sich in den Schwanz beißt und sich selber frißt.... -Wäre nun wenigstens nicht auch noch das Bewußtsein geschaffen, -daß der Mensch selbst dieser eigenen Marter zusehen -muß! Oh, wie dieser Hölle entfliehen?... Zwei Wege gibt -es, zwei einzige Wege, den Weg Buddhas, der den schmerzhaften -Wahn des Lebens zum Erlöschen bringt — und den -Weg des religiösen Wahns, der über Verbrechen und Schmerzen -den Schleier einer blendenden Lüge wirft! Das Volk, -das die andern vernichtet, wird da zum auserwählten Volke, -es wirkt für seinen Gott. Das Gewicht der Ungerechtigkeiten, -das die eine Waagschale des Lebens niederdrückt, findet -sein Gegengewicht im Jenseits der Träume, wo alle -Wunden und Qualen gelindert werden. Die Formen dieses -Himmelreiches sind verschieden von Volk zu Volk, von -Zeit zu Zeitalter, und diese Verschiedenheit nennt man dann -Fortschritt. Aber es ist doch immer ein und dasselbe -Verlangen nach einem Wahn. Man muß dieser furchtbaren -Bewußtheit das Maul stopfen, die alles sieht und Rechenschaft -verlangt für jede Ungerechtigkeit des Gesetzes. Wirft -man ihr nun nicht rasch einen Brocken zum Fraße hin, -irgendeinen Glauben, so heult sie vor Hunger und Angst. -Man muß glauben. Glauben oder krepieren.... Und darum -haben sich die Menschen zu Herden zusammengedrängt, um -sich gegenseitig zu bestärken und zu stützen. Um aus ihren -einzelnen persönlichen Zweifeln eine gemeinsame Sicherheit -zu machen.</p> - -<p>Was tun wir aber jetzt mit der Wahrheit? Die Wahrheit -— jetzt ist sie ja für jene der Feind. Freilich, das gestehen -sie nicht ein. In einem stillschweigenden Übereinkommen -nennen sie Wahrheit das widerliche Gemisch von ein bißchen -Wahrheit und vieler Lüge, wobei das bißchen Wahrheit -dazu dient, die Lüge zu übertünchen, die Lüge und die Knechtschaft, -die ewige Knechtschaft... Nicht die Monumente des -Glaubens und der Liebe sind die dauerhaftesten, sondern -weit mehr jene der Knechtschaft. Reims und das Parthenon -stürzen in Ruinen, aber die Pyramiden Ägyptens -inmitten der Wüste, den Luftspiegelungen und dem wandernden -Sand trotzen den Jahrhunderten... Wenn ich -an die Tausende unabhängiger Menschen denke, die der Geist -der Knechtschaft im Laufe der Jahrhunderte verschlungen -hat — die Ketzer und Revolutionäre, die Unbotmäßigen -gegen Staat und Kirche —, so wundere ich mich nicht mehr -über die Mittelmäßigkeit, die nun über der Welt wie eine -dicke fettige Brühe schwimmt...</p> - -<p>Wir aber, die wir uns noch auf der düstern Oberfläche -halten, die wir noch nicht untergetaucht sind, was sollen wir -gegenüber dieser unbarmherzigen Welt tun, wo ewig -der Starke den Schwächeren zermalmt und ewig wieder -einen noch Stärkeren findet, der ihn seinerseits vernichtet? -Sollen wir uns aus schmerzlichem Mitleid und aus Ermüdung -zur freiwilligen Hinopferung entschließen, oder -sollen wir mittun an der ewigen Erdrückung des Schwachen, -ohne innerlich nur den Schatten einer Erkenntnis zu haben -von der blinden Grausamkeit des Weltalls? Was bleibt uns -denn sonst noch? Sollen wir etwa versuchen, uns aus -dem hoffnungslosen Kampf wegzuschleichen aus Egoismus -oder aus Weisheit, die ja doch nur eine andere Form des -Egoismus ist?...“</p> - -<p>In dieser Krise ätzenden Pessimismusses, die Clerambault -in jenen Monaten der menschenfremden Isolierung durchwühlte, -sah er überhaupt keine Möglichkeit des Fortschrittes -mehr, jenes Fortschrittes, an den er einst geglaubt -hatte wie andere an den lieben Gott. Jetzt sah er die -menschliche Rasse einem mörderischen Geschick rettungslos -geweiht. Nachdem sie soviel andere Wesen auf ihrer -Erde vernichtet hatte, war es ihr Schicksal, sich nun mit -eigener Hand zu vernichten und damit ein Gesetz der Gerechtigkeit -zu erfüllen. Denn der Mensch ist Herr dieser Erde -nur durch Raub, durch Betrug und Kraft geworden (hauptsächlich -aber durch Betrug), wertvollere Wesen, als er ist, -sind vielleicht, gewiß sogar, unter seinen Schlägen hingeschwunden, -die einen hat er zerstört, die anderen erniedrigt, -zu Tieren gemacht. Seit den Tausenden von Jahren, die -er das Dasein mit den andern Wesen teilt, tut er so, als -verstünde er sie nicht (er lügt), als wüßte er nicht, daß sie -zu ihm Bruderwesen wären, leidend, liebend und träumend -wie er. Um sie besser ausbeuten und ohne Gewissensbisse -quälen zu können, hat er sich von seinen geistigen Führern -bestätigen lassen, daß diese Wesen nicht denkfähig seien, -daß er allein dieses Privileg besitze. Heute ist er nicht mehr -weit davon entfernt, dies auch von den anderen Menschenvölkern -zu sagen, die er bekämpft und vernichtet... Henker! -Henker, du bist mitleidslos gewesen. Mit welchem -Recht verlangst du heute Mitleid für dich?</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>V</span>on den alten Freundschaften, die einst zum Kreise Clerambaults -gehört hatten, war ihm eine einzige noch geblieben, -die mit Frau Mairet, deren Mann vor kurzem im -Argonnenwald gefallen war.</p> - -<p>François Mairet, der noch nicht das vierzigste Lebensjahr -erreicht hatte, als er unbemerkt im Schützengraben zugrunde -ging, war einer der ersten französischen Biologen, ein bescheidener -Gelehrter, ein großer Arbeiter gewesen, in dem -ein geduldiges Genie schlummerte, das der Ruhm später -gewiß entdeckt hätte. Er hatte aber gar keine Eile, den Besuch -dieser schönen Dirne zu empfangen, man teilt ja ihre -Gunst mit zu vielen Undankbaren. Ihm genügte die stille -Freude, die die innige Beziehung zur Wissenschaft ihren Auserwählten -gewährt, und ein einziges Herz auf Erden, um -diese Freude mit ihm gemeinsam zu genießen. Seine Frau -war die Hälfte all seiner Gedanken. Ein wenig jünger als -er, aus Hochschulkreisen stammend, gehörte sie zu jenen -ernsten, liebevollen, zugleich schwachen und stolzen Seelen, -die das Bedürfnis haben, sich hinzugeben, die sich aber nur -ein einzigesmal hingeben können. Sie lebte ganz im geistigen -Leben Mairets. Vielleicht hätte sie ebensogut das eines -anderen Mannes teilen können, wenn die Umstände sie mit -ihm verbunden hätten. Aber sobald sie Mairet geheiratet -hatte, hatte sie ihn restlos geheiratet. Wie viele Frauen, -und gerade die besten von ihnen, befähigte sie ihre Intelligenz, -gerade den zu verstehen, den ihr Herz erwählt hatte. -Sie hatte sich zu seiner Schülerin gemacht, um seine Gefährtin -zu werden, sie nahm Teil an seiner Arbeit, an seinen -Experimenten. Kinder hatten sie keine. Ihre Gemeinschaft -war eine der Gedanken. Beide waren sie freie Geister, voll -hoher freigeistiger und übernationaler Ideale.</p> - -<p>Als im Jahre 1914 Mairet einberufen wurde, folgte er -dem Rufe, bloß um seiner Pflicht zu genügen, aber ohne -innere Täuschung über die Sache, die der Zufall der Zeiten -und der Vaterländer ihm zu vertreten auferlegte. Von der -Front sandte er stoische und klare Briefe. Nie hatte er aufgehört, -den Krieg als etwas Erbärmliches zu betrachten, -aber er glaubte sich zum Opfer verpflichtet aus Gehorsam -gegen das Geschick, das ihn eben den Irrtümern, den Leiden -und Kämpfen jener armen Menschenrasse beigemengt hatte, -die sich langsam einem unbekannten Ziel entgegen entwickelte.</p> - -<p>Er kannte Clerambault. Familienbeziehungen in der Provinz, -aus der Zeit, ehe die einen oder die anderen nach -Paris übersiedelten, waren die Grundlage ihres freundschaftlichen -Verhältnisses geworden, das eigentlich mehr dauerhaft -war als intim — denn Mairet gab nur seiner Frau -sein Herz hin — dessen unzerstörbare Grundlage aber eine -beiderseitige reine Achtung war.</p> - -<p>Seit Kriegsbeginn hatte jeder einzelne mit seinen Sorgen -zu tun, und sie hatten nicht in Korrespondenz gestanden. -Die draußen im Felde schickten nicht Briefe an viele Freunde -herum, sie konzentrierten sie auf ein einzelnes Wesen, dem -sie dann alles sagten. Mairet hatte mehr als jemals seine -Gefährtin zum einzigen Verwalter seines Vertrauens gemacht, -seine Briefe waren ein Tagebuch, wo er gewissermaßen -mit lauter Stimme dachte. In einem seiner letzten -Briefe sprach er von Clerambault. Er hatte von seinen ersten -Artikeln durch die nationalistischen Zeitungen (die einzigen, -die an der Front geduldet wurden) erfahren, die zu -polemischen Zwecken Auszüge daraus brachten. Er schrieb -seiner Frau, welche Erleichterung er bei diesen Worten eines -anständigen und empörten Mannes empfunden hätte, -und bat sie, Clerambault wissen zu lassen, daß seine alte -Freundschaft für ihn dadurch nur noch inniger und wärmer -geworden sei. Kurze Zeit darauf fiel er, noch ehe er -die folgenden Aufsätze erhielt, die er seine Frau gebeten -hatte ihm zu senden.</p> - -<p>Als er hingegangen war, suchte sie, die einzig für ihn -lebte, sich jenen Menschen zu nähern, die ihm in den -letzten Stunden seines Lebens nahegestanden hatten. Sie -schrieb an Clerambault. Er, der sich in seinem Provinzwinkel -innerlich verzehrte, ohne die Energie zu finden, sich -daraus loszureißen, empfing den Ruf der Frau Mairet wie -eine Erlösung. Er kam nach Paris zurück. Es bedeutete für -sie beide ein bitteres Wohlgefühl, gemeinsam das Wesen des -Dahingegangenen wieder zu erwecken, und sie teilten es -sich so ein, daß sie sich einen Abend jeder Woche einzig dafür -frei hielten, um gemeinsam mit ihm beisammen zu sein. Clerambault -war der einzige aus dem Freundeskreis Mairets, -der die geheime Tragödie eines Opfers verstehen konnte, das -von keinem vaterländischen Wahn künstlich vergoldet war.</p> - -<p>Zuerst fühlte Frau Mairet eine Erleichterung darin, ihm -alles zu zeigen, was sie empfangen hatte. Sie las ihm die -Briefe vor, die vertraulichen Mitteilungen seiner Enttäuschung. -Mit Ergriffenheit durchschritten sie seine Gedankenkreise -und kamen dazu, alle die Probleme aufzurollen, die -den Tod Mairets und jenen von Millionen anderer verschuldet -hatten. Nichts konnte Clerambault bei dieser unerbittlichen -Fragestellung zurückhalten. Auch sie war nicht -die Frau, einer Suche nach der Wahrheit auszuweichen. — -Und doch...</p> - -<p>Clerambault bemerkte bald, daß seine Worte ihr ein gewisses -Unbehagen verursachten, sobald er laut aussprach, -was sie nur zu gut selbst wußte und was die Briefe -Mairets feststellten, nämlich die verbrecherische Sinnlosigkeit -solchen Sterbens, die Fruchtlosigkeit einer solchen Aufopferung. -Sie versuchte, das, was sie ihm anvertraut hatte, -gleichsam wieder zurückzunehmen, sie stritt über den Sinn -des Wortlautes mit einer Leidenschaft, die nicht immer ganz -aufrichtig schien, und gab auf einmal vor, sich gewisser -Worte Mairets zu erinnern, die eher eine Übereinstimmung, -ja sogar Zustimmung zur öffentlichen Meinung bekundeten. -Eines Tages bemerkte Clerambault, als sie ihm einen Brief, -den sie schon früher einmal gelesen hatte, wieder vorlas, wie -sie über einen Satz hinwegglitt, in dem sich der heroische -Pessimismus Mairets deutlich verriet. Und als er darauf -bestand, schien sie ein wenig beleidigt. Sie wurde ablehnend, -allmählich verwandelte sich ihr peinliches Gefühl in Kälte, -dann in Erregtheit, schließlich sogar in eine Art geheimer -Feindseligkeit. Es endete damit, daß sie Clerambault mied, -und ohne daß ihr Bruch offen eingestanden war, fühlte -er, daß sie ihm böse war und ihn nicht mehr sehen wollte.</p> - -<p>Denn in gleichem Maße, wie sich die unerbittliche Analyse -Clerambaults verschärfte und die Grundlagen der ganzen -zeitgenössischen Meinungen negierte, bildete sich bei Frau -Mairet ein gegensätzlicher Prozeß im Sinne einer Wiederherstellung -idealer Begriffe heraus. Ihre Trauer bedurfte -der Überzeugung, daß sie trotz allem irgendeinen heiligen -Grund habe. Es fehlte ihr eben der Verstorbene, um ihr zu -helfen, die Wahrheit zu ertragen. Denn zu zweien ist selbst -die furchtbarste Wahrheit noch eine Freude. Aber für den, -der allein zurückbleiben muß, wird sie tödlich.</p> - -<p>Clerambault verstand dies, seine bebende Feinfühligkeit -spürte, daß er die Frau leiden gemacht hatte, und er -fühlte ihr Leiden in sich selbst. Es fehlte nicht viel, so hätte -er ihrem Widerstande gegen sich selbst zugestimmt, denn er -sah, welch ungeheurer Schmerz in ihr verborgen war und -sah zugleich die ganze Kraftlosigkeit seiner Wahrheit, die ihr -keine Erleichterung brachte. Ja noch mehr: er sah, daß er -einem Leiden, das schon vorhanden war, nur noch ein neues -Leiden hinzugefügt hatte....</p> - -<p>Unlösbares Problem! Solche unglücklichen Menschen können -nicht ohne den mörderischen Wahn leben, dessen Opfer sie -sind. Und man kann ihnen den Wahn nicht wegnehmen, -ohne ihre Leiden unerträglich zu machen. Familien, die -Söhne oder Gatten oder Väter verloren haben, bedürfen -eben des Glaubens, es sei für eine gerechte und wahre Sache -geschehen. Die lügnerischen Staatsmänner sind gezwungen, -diese Lüge um der anderen willen und um ihrer selbst -willen aufrechtzuerhalten, denn wenn sie nur einen Augenblick -aufhörten, wäre das Leben weder für sie noch für die, -über die sie gebieten, erträglich. Der unglückliche Mensch ist -eben die Beute seiner eigenen Ideen, und wenn er ihnen -auch alles schon hingegeben hat, so muß er ihnen jeden -Tag noch immer mehr hingeben, oder er findet unter seinen -Schritten das Leere und stürzt hinab.... Was? Nach vier -Jahren namenloser Qual und Zerstörung sollten wir zugeben, -daß das alles umsonst war...? ... Nicht nur zugeben, -daß selbst der Sieg eine Vernichtung wäre, sondern -daß er es immer sein muß, daß der Krieg ein Wahnwitz ist -und wir uns getäuscht haben.... Niemals! Lieber sterben -bis zum letzten Mann. Schon ein einziger Mensch, dem -man die Erkenntnis aufzwingt, daß sein Leben sinnlos war, -gibt sich der Verzweiflung hin. Wie aber erst, wenn man es -einem Volke, zehn Völkern, der ganzen Menschheit sagt?</p> - -<p>Clerambault hörte den Schrei der menschlichen Menge:</p> - -<p>„Leben um jeden Preis! Retten wir uns um jeden Preis!“</p> - -<p>„Aber ihr wollt euch ja gerade nicht retten! Euer Weg -führt euch in neue Katastrophen, in eine Unzahl neuer -Qualen.“</p> - -<p>„Mögen sie noch so arg sein, sie sind doch nicht so furchtbar -als das, was du uns darbietest. Lieber mit einem Wahn -sterben, als ohne einen Wahn leben! Ohne Wahn, ohne -Illusionen leben... das wäre der lebendige Tod.“</p> - -<p>„Derjenige, der das Geheimnis des Lebens erkannt hat und -sein Wort gelesen“, sagt die harmonische Stimme Amiels, -des Enttäuschten, „entgeht dem großen Rad des Lebens, -er ist ausgetreten aus der Welt der Lebendigen.... Ist -einmal der Wahn dahin, so tritt wieder das Nichts in -sein ewiges Reich, die farbige Seifenblase ist zergangen im -ungeheuren Raum, die Qual des Gedankens aufgelöst in -die regungslose Ruhe des unbegrenzten Nichts.“</p> - -<p>Aber gerade diese Ruhe im Nichts ist ja die fürchterlichste -Qual für den Menschen der weißen Rasse. Lieber alle -Qualen, alle Qualen des Lebens! Nein, nehmt mir sie -nicht weg! Wer mir die mörderische Lüge wegnimmt, von -der ich lebe, ist mein Mörder!...</p> - -<p>Und Clerambault legte sich bitter den Titel bei, den ihm -zum Spott ein nationalistisches Blatt gegeben hatte: „<span class='it'>L’un -contre tous</span>“. „Der Eine gegen Alle.“ Ja, er war der -gemeinsame Feind, der Zerstörer des Wahns, von dem die -andern leben....</p> - -<p>Aber er wollte es eigentlich gar nicht. Er litt zu sehr unter -dem Gedanken, Leiden zu verursachen. Wie aus dieser -tragischen Sackgasse herauskommen? Wohin immer er sich -wandte, überall fand er den unlösbaren Zwiespalt: entweder -todbringenden Wahn oder den Tod ohne Wahn.</p> - -<p>„Ich will nicht das eine und will nicht das andere.“</p> - -<p>„Ob du es willst oder nicht, gib nach! Hier ist kein Durchlaß.“</p> - -<p>„Aber ich werde trotzdem zu meinem Ziele kommen.“</p> - -<hr class='pbk'/> - -<div><h1>Vierter Teil</h1></div> - -<hr class='pbk'/> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault durchschritt eine neue Gefahrzone. Sein -Wandeln in der Einsamkeit glich einer Bergbesteigung, -bei der man sich plötzlich vom Nebel umhüllt sieht und an den -Felsen klammern muß, ohne weiter vorwärts zu können. -Vor sich sah er nichts mehr, und nach welcher Seite immer -er sich wandte, von überall hörte er aus der Tiefe den -Sturzbach des Leidens brausen. Aber doch: er konnte nicht -unbeweglich verharren, obwohl er über dem Abgrund hing -und sein letzter Halt nachzugeben drohte.</p> - -<p>Er stand, von Dämmerung umgeben, an einem Wendepunkt. -Dazu kam, daß gerade an diesem Tage die Neuigkeiten, -die die Zeitungen belferten, ihm mit ihrem Wahnsinn -die Seele niederdrückten. Wiederum vergebliche Menschenhekatomben, -die der hypnotisierte Egoismus der Hinterlandleser -natürlich fand, wiederum Grausamkeiten auf allen -Seiten, verbrecherische Repressalien für Verbrechen, die aber -von diesen, einst doch anständigen Leuten stürmisch gefordert -und bejubelt wurden! Niemals war ihm der Horizont, der -die armen Menschentiere in ihren irdischen Niederungen -umschließt, umdüsterter und mitleidsloser erschienen.</p> - -<p>Clerambault fragte sich, ob dieses Gesetz der Liebe, das er -in sich fühlte, nicht vielleicht nur für andere Welten und eine -andere Menschheit Geltung habe. Unter seiner Post fand -er einige neue Drohbriefe, und im Vorgefühl, daß sein Leben -in der tragischen Sinnlosigkeit der Zeiten in den Händen -des erstbesten Narren stünde, wünschte er im stillen, diese -Begegnung möge nicht allzulange auf sich warten lassen. -Aber dennoch, von guter Rasse und fest verwurzelt, wie er -war, führte er sein Leben unverändert weiter, erfüllte methodisch -seine täglichen Pflichten und hielt sich zusammen, um -aufrecht und ungebeugt den Weg bis zum Ziele zu schreiten, -wohin auch immer er ihn führen sollte.</p> - -<p>An diesem Tage nun erinnerte er sich, daß er seine Nichte -Aline besuchen wollte, die eben eines Kindes genesen war; -sie war die Tochter einer verstorbenen und von ihm geliebten -Schwester, nur ein wenig älter als Maxime und -dessen einstige Jugendgespielin. Als Mädchen hatte sie -einen komplizierten Charakter gezeigt: unruhig, unbefriedigt, -alles nur auf sich beziehend, gefallsüchtig, herrschsüchtig, -allzu neugierig und von gefährlichen Abenteuern seltsam -angezogen, dabei ein wenig trocken und doch leidenschaftlich, -nachträgerisch, zornig und dann wieder plötzlich voll -der Fähigkeit, zärtlich und verführerisch zu werden. -Zwischen Maxime und ihr war es schon ziemlich weit geraten. -Man mußte acht haben auf die beiden. Maxime ließ -sich trotz seiner ironischen Veranlagung von diesen harten -kleinen Augensternen leicht verlocken, die ihn manchmal mit -ihren elektrischen Blitzen tief anstrahlten. Aline wiederum -wurde erregt und angezogen von Maximes Ironie. Sie -hatten sich recht geliebt, und recht aufeinander wütend gemacht. -Dann waren sie beide zu anderen Erfahrungen -übergegangen. Sie hatte in zwei oder drei andere Herzen -Verwirrung gebracht und sich schließlich höchst vernünftig, -als sie die Stunde und Gelegenheit für günstig hielt — -alles hat ja seine Zeit —, mit einem ehrbaren Handelsmann, -der gute Geschäfte in seinem Kunst- und Kirchenmöbelladen -in der Rue Bonaparte machte, verheiratet. Sie befand sich -gerade in andern Umständen, als ihr Mann an die Front -mußte. Selbstverständlich war sie glühende Patriotin, denn -„wer sich selbst liebt, liebt auch die Seinen“. Und sie wäre eine -der letzten gewesen, bei denen Clerambault Verständnis -für seine Gedanken des brüderlichen Mitempfindens erhofft -hätte. Mitempfinden hatte sie wenig für Freunde, und -keines für die Feinde. Sie hätte sie am liebsten in einem -Mörser zerstampft, mit derselben kalten Freude, mit der sie -einst Herzen und Insekten gequält hatte, um sich für irgendwelche, -ihr von anderen zugefügte Unannehmlichkeiten zu -rächen.</p> - -<p>Aber in demselben Maße, wie die in ihr wachsende Frucht -reifte, wandte sich all ihre Aufmerksamkeit dieser zu, -alle Kräfte ihres Herzens strömten nach innen. Der Krieg -entfernte sich für sie, sie hörte nicht mehr die Kanonade von -Noyon. Wenn sie davon sprach — immer weniger jeden -Tag —, so schien es, als handelte es sich dabei um eine -Kolonialexpedition. Sie erinnerte sich wohl der Gefahren -ihres Mannes, und sicherlich, sie hatte ein mitleidiges -„Armer Kerl“ für ihn, zugleich mit einem kleinen gerührten -Lächeln, das zu sagen schien: „Er hat wirklich Pech, -er ist ein wenig ungeschickt.“ Aber sie hielt sich bei diesem -Thema nie lange auf, und es ließ, Gott sei Dank, keine -Spuren in ihr zurück. Ihr Gewissen war ja ruhig, sie -hatte ihre Zeche bezahlt. Und schleunigst kehrten Alinens -Gedanken zur einzig wichtigen Aufgabe zurück. Im ganzen -weiten Universum war das Ei, das sie zu legen hatte, anscheinend -die einzige Sache von Belang für sie.</p> - -<p>Clerambault, mit seinen Kämpfen vollauf beschäftigt, hatte -Aline seit Wochen nicht gesehen und nichts von dieser Änderung -ihrer Gesinnung wahrgenommen. Wenn Rosine -einige Worte darüber fallen ließ, so hatte seine abgewandte -Aufmerksamkeit nicht darauf gehört. Ganz plötzlich, Schlag -auf Schlag, innerhalb vierundzwanzig Stunden, empfing -er die beiden Neuigkeiten zugleich: daß das Kind geboren sei -und daß Alinens Gatte, so wie seinerzeit Maxime, „vermißt“ -werde. Und sofort malte er sich den Schrecken -der armen jungen Mutter aus. Er sah sie so, wie er -sie immer gekannt hatte, geteilt zwischen einer Freude -und einem Leid, immer befähigter, dieses als jene zu empfinden. -Er sah sie, wie sie sich dem Schmerz ganz hingab -und selbst in ihrer Freude irgendeinen Vorwand für ihr -Leiden suchte, sah sie schon leidenschaftlich, bitter, aufgeregt, -herausfordernd gegen das Schicksal und böse gegen alle. -Ja, er war sogar nicht einmal sicher, ob sie nicht gerade jetzt -aus dem Gefühl des Hasses und der Rache gegen ihn persönlich -verärgert sein würde, um seiner Gedanken des Friedens -und der Versöhnung willen. Daß seine Haltung die -ganze Familie skandalisierte, wußte er, und bei niemandem -vermeinte er dafür weniger Duldung zu finden als bei -Aline. Aber es war ihm ein Bedürfnis, ob sie ihn nun -gut oder schlecht aufnehmen wollte, mit seinen zärtlichen -Gefühlen ihr zu Hilfe zu kommen. Und den Rücken gleichsam -schon beugend vor dem kalten Wassersturz, dem er entgegenging, -stieg er die Treppe empor und klingelte an -Alinens Tür.</p> - -<p>Er fand sie auf dem Bett hingestreckt, ausgeruhten Antlitzes, -verjüngt, verschönt, zärtlichen Wesens und strahlend vor -Glück, neben ihr das kleine Kind, das sie an die Seite -ihres Bettes hatte stellen lassen. Wie eine leuchtende, ältere -Schwester des weißgewickelten Säuglings sah sie aus, den -sie mit dem Lächeln heiterer Bewunderung betrachtete, wie -er, mit offenem Mäulchen auf dem Rücken liegend, in der -Luft seine Fingerchen spreizte wie ein Maikäfer seine Beine. -Er schien noch ganz in die Dumpfheit des unbewußten -Lebens versunken, im Traum noch von der goldenen Nacht -und der Wärme des mütterlichen Schoßes.</p> - -<p>Sie begrüßte Clerambault mit triumphierendem Überschwang: -„Ah, mein guter Onkel, wie lieb Sie sind! Kommen -Sie rasch, schauen Sie mein Süßes an, meinen -Schatz!“</p> - -<p>Sie frohlockte, ihr Meisterwerk zeigen zu dürfen, und war -jedem dankbar, der es beschaute. Nie hatte Clerambault -sie so zärtlich und so hübsch gesehen. Er beugte sich über -das Kind, aber er sah es fast nicht an, obwohl er ihm -alle höflichen Gesten machte und seiner Bewunderung in -begeisterten Ausrufen Ausdruck gab, die die Mutter zu erwarten -schien und im Flug wie eine Schwalbe einstreifte. -Er sah sie an, sah nur dieses selige Antlitz, diese guten -lachenden Augen, dieses gute Kinderlächeln. Oh, wie schön -ist das Glück, wie tut es wohl!... Alles, was er hatte sagen -wollen, war seinem Gedächtnis entschwunden. Er fühlte, -es war hier unnötig, nicht am Platze. Jetzt mußte er nur -das Wunder beschauen und höflich die Ekstase der kleinen -Bruthenne teilen. Ach, welches entzückende, eitle, unschuldige -Jubellied!</p> - -<p>Manchmal freilich überflog seine Augen der Schatten des -Krieges, der niedrigen und sinnlosen Metzelei, das Bild -des toten Sohnes, des verschwundenen Gatten, und mit -einem traurigen Lächeln über das Kind hingebeugt, mußte -er denken: „Ach, wozu Kinder in die Welt setzen, für -eine solche Schlächterei! Was wird der arme Kleine in -zwanzig Jahren vielleicht sehen müssen!“</p> - -<p>Aber sie, sie dachte nicht daran. Jeder Schatten schwand -hin an dem Licht, das von ihr strahlte. Von all den nahen -und fernen Sorgen — ach, alle waren jetzt ferne! — nahm -sie nichts wahr. Sie strahlte nur: „Ich habe einen Menschen -geboren.“ Den Menschen, den Menschen, in dem sich -für jede Mutter immer alle Hoffnungen der Menschheit -verkörpern.... Trauer und Torheit der Stunde, wo seid -ihr? Ach, was tut’s! Er ist es ja vielleicht, er, der sie -enden wird! Für jede Mutter ist das Kind ja immer das -Wunder, der Heiland!</p> - -<p>Erst am Ende seines Besuches wagte Clerambault ein -Wort betrübter Sympathie in bezug auf ihren Gatten. -Sie tat einen tiefen Seufzer: „Ach, der arme Armand“, -sagte sie, „sie haben ihn wohl gefangen genommen.“</p> - -<p>Clerambault fragte: „Hast du darüber etwas gehört?“ —</p> - -<p>„O nein, aber es ist doch wahrscheinlich.... Ich bin fast -ganz sicher.... Man hätte doch sonst was gehört.“ Sie -strich mit der Hand wie eine Fliege den peinlichen Gedanken -fort („Weg mit dir, wie kommst du daher?“). Und -schon trat das kleine Lachen wieder in ihre Augen. „Weißt -du“, fügte sie bei, „es ist vielleicht besser für ihn so... jetzt -kann er sich wenigstens ausruhen... mir ist es lieber, ihn -dort zu wissen als im Schützengraben...?“</p> - -<p>Und dann, ganz ohne Übergang, floß das Gespräch wieder -zu der weißen Amsel zurück. „Ach, wie wird er selig sein, wenn -er mein Kleines, mein Liebes, mein Gotteskind sieht!“</p> - -<p>Erst als Clerambault sich zum Fortgehen erhob, ließ sie sich -herab, auch daran zu denken, daß es auf dieser Erde noch -für andere ein Leiden gäbe. Sie besann sich des Todes -Maximes, und sie sagte ihm freundlich irgendein kleines -Wort der Sympathie. Wie gleichgültig, wie im Grunde -gleichgültig klang es... aber immerhin, es war guten -Willens gesagt. Und der gute Wille war etwas so Neues -an ihr. Und Wunder über Wunder! Mitten in der Zärtlichkeit, -mit der das Glück sie überflutete, sah sie eine Sekunde -das müde Antlitz, das müde Herz des alten Mannes. -Sie erinnerte sich dunkel, daß er Unklugheiten begangen -und dafür Unannehmlichkeiten gehabt hatte, und statt ihn -auszuschelten, wie es ihre Pflicht war, gewährte sie ihm -schweigend, mit einem großmütigen Lächeln Verzeihung. -Wie eine kleine Prinzessin sagte sie zärtlichen Tones, in -dem eine gönnerhafte Nuance durchschimmerte: „Beunruhige -dich nicht, mein guter Onkel... es wird schon wieder -alles in Ordnung kommen... komm, gib mir einen Kuß.“</p> - -<p>Und Clerambault ging lächelnd fort, erheitert von der Trösterin, -die er hatte trösten wollen. Er fühlte, wie wenig -unsere Leiden gegenüber der lächelnden Gleichgültigkeit der -Natur sind. Für sie ist es allein wichtig, im Frühjahr zu -blühen. Fallet ab, sterbet hin, tote Blätter! Der Baum -schlägt nur um so schöner aus, und der Frühling blüht -dann für andre.... O Frühling, o du lieber Frühling!</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>A</span>ber wie unbarmherzig bist du, Frühling, gegen alle jene, -denen du nicht mehr entgegenblühst, für alle, die ihre -Geliebten, ihre Hoffnungen, ihre Kraft, ihre Jugend, ihren -ganzen Lebenssinn verloren haben!</p> - -<p>Die Welt war voll von verstümmelten Seelen und Körpern, -die von Bitterkeiten zerfressen waren, die einen um ihres -verlorenen Glückes, die anderen, noch Bemitleidenswerteren, -um eines Glückes willen, das sie noch gar nicht gekannt -hatten und um das man sie in der schönsten Entfaltung -ihrer Liebesfähigkeit und ihrer zwanzig Jahre gebracht -hatte!</p> - -<p>An einem nebelnassen und kalten Januarabend kehrte Clerambault -vom Anstellen vor einem Holzlager zurück. Der -Menge, innerhalb derer er wartete, bis an ihn die Reihe kam, -war schließlich, nachdem sie stundenlang auf der Straße gewartet -hatte, mitgeteilt worden, daß heute nichts mehr verteilt -werde. An der Tür seines Hauses hörte er seinen -Namen aussprechen: ein junger Mann, der einen Brief -überbrachte, fragte nach ihm beim Hausmeister. Clerambault -trat auf ihn zu. Der junge Mensch schien von der -Begegnung verwirrt. Sein rechter Ärmel war an die Schulter -aufgesteckt, sein rechtes Auge war unter einer Binde verborgen. -Man sah an seiner blassen Farbe, daß er eine -monatelange Krankheit überstanden hatte. Clerambault -sprach ihn auf das herzlichste an und wollte den Brief entgegennehmen, -aber der junge Mann zog ihn rasch zurück und -sagte, es sei jetzt nicht mehr nötig. Clerambault lud ihn ein, -zu einem Gespräch zu ihm hinaufzukommen. Der andere -zögerte und wäre Clerambault ein feiner Beobachter gewesen, -so hätte er bemerkt, daß der Besucher von ihm fort -wollte. Aber ein wenig langsam im Gedankenlesen sagte er -nur gutmütig:</p> - -<p>„Es ist ja wahr, ich wohne ein wenig hoch....“</p> - -<p>Sofort in seiner Eitelkeit gereizt, antwortete der andere:</p> - -<p>„Ich kann noch ganz gut hinaufsteigen.“</p> - -<p>Und er begann sogleich die Treppen hinaufzusteigen.</p> - -<p>Clerambault merkte sofort, daß er außer seinen anderen -Wunden noch eine im Herzen hatte.</p> - -<p>Sie setzten sich in seinem ungeheizten Arbeitszimmer zusammen -hin. Wie das Zimmer, so war auch ihre Unterhaltung -anfänglich kalt. Clerambault konnte von seinem -Besucher nur steife, harte, ein wenig unklare Antworten -herausbekommen und alle in einem ein wenig gereizten -Ton. Er erfuhr, daß jener sich Julien Moreau nannte, daß -er Universitätsstudent war und drei Monate im Spital Val -de Grace gelegen hatte. Er lebte allein in Paris in einem -Zimmer des Quartier Latin, obwohl seine verwitwete Mutter -und einige Verwandten in Orleans waren. Er sagte -nicht gleich, warum er nicht zu ihnen gezogen war.</p> - -<p>Plötzlich, nach einem Schweigen, entschloß er sich zu sprechen. -Mit erstickter Stimme, die nur mühsam sich durchzuringen -vermochte und erst allmählich weicher wurde, sagte -er Clerambault, welche Wohltat ihm die Lektüre seiner Aufsätze -gewesen wäre, die ein Urlauber an die Front gebracht -hatte, und die dort von Hand zu Hand gingen. Sie entsprachen -dem erstickten Schrei seiner Seele: „Nicht lügen!“ -Die Zeitungen und die Schriften, die die Schamlosigkeit -hatten, der Armee ein verlogenes Bild ihrer selbst zu -zeichnen, die gefälschten Briefe von der Front, der schauspielerische -Heroismus, die übel angebrachten Scherze und -die widerlichen Windbeuteleien jener Drückebergerschriftsteller, -die aus dem Tod der anderen pathetische Phrasen -drechselten, alle diese Dinge hatten sie in Wut gebracht. Ein -Greuel waren für sie die fetten und schmutzigen Küsse, mit -denen diese Prostituierten von der Presse sie feucht bedeckten, -ein Spott schienen sie ihnen auf ihr Leiden. In -ihm, in Clerambault, hatten sie endlich ein Echo gefunden.... -Nicht als ob Clerambault sie verstanden hätte, -denn keiner, der ihr Los nicht geteilt hatte, konnte sie verstehen. -Aber er hatte Mitleid für sie gehabt, er hatte einfach -und mit Menschlichkeit von jenen Unglücklichen unter -allen Fahnen gesprochen, hatte gewagt, die allen Völkern -gemeinsamen Ungerechtigkeiten einmal auszusprechen, die -sie alle in gleiche Not getrieben. Er hatte nicht ihre Qual -verschwiegen, sondern sie in eine Höhe des Verstandenwerdens -erhoben, in der sie erträglich war.</p> - -<p>„Wenn Sie wüßten, wie sehr man eines Wortes wahrer -Sympathie bedarf! Es hilft nichts, daß man nach alledem, -was man gesehen, gelitten und leiden gemacht hat, hart geworden -ist, daß man alt geworden ist (es gibt unter uns -Grauköpfe mit gekrümmten Schultern), wir sind doch alle in -gewissen Augenblicken nur verlorene Kinder, die sich nach ihrer -Mutter sehnen, um sich trösten zu lassen. Und die Mütter... -Ach, die Mütter, sie sind ja so fern von uns!... Man -bekommt von seiner eigenen Familie Briefe, die einen niederschmettern.... -Das eigene Blut liefert uns aus.“</p> - -<p>Clerambault verbarg sein Gesicht in den Händen und stöhnte.</p> - -<p>„Was ist Ihnen?“ sagte Moreau. „Ist Ihnen nicht wohl?“</p> - -<p>„Aber Sie bringen mir ja gerade all das Böse, das ich getan -habe, in Erinnerung.“</p> - -<p>„Sie? Nein, Sie nicht! Die anderen!“</p> - -<p>„Ich ebenso wie alle anderen. Wir alle haben Vergebung -zu erflehen.“</p> - -<p>„Sie sind der Letzte, der das sagen sollte.“</p> - -<p>„Ich muß der Erste sein, denn ich bin einer der wenigen, die -sich über ihr Verbrechen selbst Rechenschaft ablegen.“</p> - -<p>Und er begann mit einer Anklage gegen seine ganze Generation, -unterbrach sich aber bald mit einer entmutigten -Gebärde.</p> - -<p>„Ach, das alles macht ja nichts mehr gut. Erzählen Sie -mir lieber, was Sie gelitten haben!“</p> - -<p>Es war in seiner Stimme so viel Demütigkeit, daß sich -Moreau von Liebe für diesen alten Mann, der sich selbst anklagte, -gleichsam überflutet fühlte. Sein Mißtrauen schwand -gänzlich hin. Er tat die geheime Tür seiner bitteren und -schmerzgeprüften Gedanken auf. Er erzählte, daß er schon -mehrmals bis an die Tür dieses Hauses gekommen wäre, -ohne daß er sich habe entschließen können, seinen Brief abzugeben -(den er übrigens noch immer nicht zeigen wollte). Seitdem -er das Spital verlassen, war es ihm nicht möglich gewesen, -mit einem einzigen Menschen zu sprechen. Die Leute im Hinterland -erbitterten ihn durch die Zurschaustellung ihrer kleinlichen -Sorgen, ihrer Geschäfte, Vergnügungen und der Einschränkung -ihrer Vergnügungen, sie erbitterten ihn durch -ihren Egoismus, ihre Unwissenheit und ihre Verständnislosigkeit. -Er fühlte sich unter ihnen fremder als unter den -Wilden Afrikas. Übrigens — er unterbrach sich und fuhr -dann erst wieder mit befangenen und erregten Andeutungen -fort, die ihm nicht aus der Kehle wollten — nicht nur unter -ihnen, sondern unter allen Menschen fühlte er sich ein Fremder, -denn er sei vom Leben, von der allgemeinen Freude und -Arbeit durch seine Gebrechen jetzt für immer abgeschnitten, -die aus ihm ein Wrack machten. Es verzehre ihn die törichte -Scham, einäugig und einarmig zu sein. Die Blicke -eiligen Bedauerns, die er auf der Straße bemerkte, ließen -ihn erröten, denn sie waren so von der Seite zugeworfen -wie ein Almosen, das man nebenhin gibt, das Antlitz vom -widerlichen Schauspiel abgewandt. In seiner aufgereizten -Eigenliebe übertrieb er seine eigene Entstellung. Er verabscheute -sein Gebrechen, dachte an die verlorenen Freuden, an -seine zerstörte Jugend. Wenn er Liebespaare vorübergehen -sah, so fühlte er Eifersucht und schloß sich ein, um zu weinen.</p> - -<p>Aber das war noch nicht alles. Und als er den Hauptteil -seiner Bitterkeit dem Mitgefühl Clerambaults, der ihn zu -sprechen ermutigte, anvertraut hatte, kam er zum eigentlichen -Grund der Qual, die er und seine Gefährten, schauernd -wie ein Geschwür, das man nicht anzusehen wagt, -in sich trugen. Aus dem Durcheinander seiner heftigen, -dunklen und gequälten Worte erkannte Clerambault, was -eigentlich die Seele all dieser jungen Menschen zerstörte. Es -war nicht allein ihre vernichtete Jugend, ihr hingeopfertes -Leben (obwohl dies schon an sich ein furchtbarer Schmerz -war.... Es ist ja sehr leicht für kalte Herzen, für alte Egoisten -und vertrocknete Intellektuelle, von oben herab diese -Liebe, dies Anklammern an das junge Leben und die Verzweiflung, -es zu verlieren, zu verurteilen). Das Allerfurchtbarste -aber für sie war, daß sie nicht wußten, wofür sie -dieses Leben hingeopfert hatten, und dann der alles vergiftende -Verdacht, es sei umsonst vertan. Denn der gemeine -Wille nach sinnloser Weltherrschaft irgendeiner Rasse -oder nach einem Stück Land an der Grenze zweier Staaten, -konnte nicht genug sein, um den Schmerz der Opfer zu -mindern. Sie wußten zu gut, daß der Mensch nur ein -Fußbreit Erde braucht, um zu sterben, und daß das Blut -aller Rassen die gleiche Quelle des Lebens ist, die darein -verströmt.</p> - -<p>Clerambault, dem das Bewußtsein seiner Pflicht, des weitaus -Älteren in der Nähe dieser Jungen, eine ruhige Sicherheit -gab, die er sonst für sich allein nicht besaß, sagte ihrem -Vertreter, ihrem Boten Worte der Hoffnung und der Tröstung.</p> - -<p>„Nein, euer Leiden ist nicht verloren. Es ist zwar die Frucht -eines grausamen Irrtums, aber auch der Irrtum ist nicht -ohne Sinn. Das Unglück von heute ist der gewaltsame Ausbruch -eines Übels, das Europa seit Jahrhunderten zerfrißt, -das Übel des Stolzes und der Gier, des gewissenlosen -Staatenfanatismusses, der kapitalistischen Pest, jenes -lügnerischen Triebwerkes der Zivilisation, das aus Unduldsamkeit, -Heuchelei und Gewalttätigkeit zusammengesetzt ist. -Jetzt bricht alles zusammen, jetzt ist alles neu aufzubauen. -Die Aufgabe ist ungeheuer. Mutlosigkeit ist jetzt nicht erlaubt, -denn keiner Generation war ein größeres Werk je -zugedacht als der euren. Es handelt sich jetzt darum, klar -zu sehen durch das Feuer der Schützengräben und die -giftigen Gase, mit denen euch ebenso wie der Feind die Antreiber -des Hinterlandes den Blick verwirren. Es handelt -sich darum, den wahren Kampf zu erkennen, und der -geht nicht gegen ein einzelnes Volk, sondern gegen eine -ganze ungesunde Gesellschaft, die auf die Ausbeutung und -die Eifersucht der Völker gegründet ist, auf die Knechtung -des freien Gewissens unter die Staatsmaschine. Nie hätten -die resignierten oder skeptischen Völker diesen wahren Kampf -mit solcher tragischen Gewißheit erkannt, ohne die Leiden -dieses Krieges, der sie zerwühlt. Nicht, daß ich damit das -Leiden segnete — lassen wir diesen Irrtum den Gläubigen -der Religionen von einst; wir von heute lieben nicht den -Schmerz, wir wollen die Freude. Kommt aber ein Schmerz -über uns, so soll er uns wenigstens dienlich sein. Das, was -ihr gelitten habt, sollen andere nicht mehr leiden! Deshalb -gebt nicht nach. Man hat euch da draußen gelehrt, daß, -wenn in der Schlacht einmal Order zum Angriff gegeben -ist, es noch gefährlicher ist, zurückzuweichen, als vorzurücken. -Seht euch deshalb nicht um, laßt eure Ruinen -hinter euch und stürmt nur nach vorwärts, der neuen -Welt entgegen.“</p> - -<p>Clerambault merkte, wie die Augen seines jungen Zuhörers, -während er sprach, zu sagen schienen:</p> - -<p>„Mehr! Noch mehr! Gib mir mehr als Hoffnung! Gib -mir die Gewißheit, gib mir den nahen, den baldigen Sieg!“</p> - -<p>Allen Menschen, selbst den Besten, ist so sehr das Bedürfnis -nach Betrogenwerden angeboren; es genügt ihnen nicht, -ihr Opfer einem künftigen Ideal zu bringen, sondern sie -wollen, daß man ihnen die Verwirklichung dieses Ideals -für recht bald verspricht, oder daß die Belohnung dann wenigstens -ewig währe, wie die Religionen es verheißen. -Jesus fand nur Gläubige, weil man in ihm die Gewißheit -eines Sieges in dieser Welt oder in jener andern sah. -Wer aber wahr bleiben will, darf niemals einen Sieg versprechen. -Er darf nicht die Gefahren außer acht lassen; -vielleicht wird das Ziel überhaupt nicht erreicht werden -und keinesfalls vor Ablauf längerer Zeit. Den Anhängern -scheint natürlich ein solcher Gedankengang niederschmetternd -in seinem Pessimismus: der die Lehre aber ausspricht, ist -selbst nicht Pessimist. Er hat die Ruhe des Menschen, der -nach einem Aufstieg von der Höhe aus die ganze Landschaft -umfängt. Sie aber sehen nur den nackten Hang, den sie -noch hinaufklimmen müssen. Wie nun kann er ihnen diese -Ruhe übermitteln?... Wenn die Schüler die Lehre ihres -Meisters schon nicht mit seinen Augen zu sehen vermögen, -so können sie doch wenigstens seine Augen selbst sehen, in -denen jene Vision widerglänzt, die ihnen noch versagt ist. -Sie können daraus die Gewißheit schöpfen, daß er um die -Wahrheit wisse (sie glauben es wenigstens...) und von -ihrer Unruhe befreit sei.</p> - -<p>Diese seelische Sicherheit, diese innere Harmonie, die die -Augen Julien Moreaus in denen Clerambaults suchten, besaß -Clerambault, der Gequälte und Beunruhigte, nicht!... -Aber besaß er sie wirklich nicht?... Wie er, demütig lächelnd, -gleichsam um sich zu entschuldigen, Julien ansah... da sah -er, daß Julien diese Sicherheit in ihm entdeckt hatte. Und -wie man gleichsam mitten aus dem Nebel aufsteigend plötzlich -im Lichte ist, fühlte er, daß das Licht in ihm war. Es -war in ihn gedrungen, weil er einen andern erleuchten -sollte.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>rleichtert und erheitert hatte ihn der Unglückliche verlassen. -Clerambault blieb zurück, betäubt von einer -leisen Trunkenheit. Er schwieg, um das ganz seltsame -Glück einer im eigenen Leben unglücklichen Seele zu genießen, -die mit einemmal fühlt, daß sie teil hat am Glücke -anderer Seelen in Gegenwart oder Zukunft. Alle Wesen -erstreben Glück, tiefes Erfühlen, Fülle des Seins, aber diese -Begriffe bedeuten nicht für alle das Gleiche. Die einen -wollen das Glück als Besitz, für die andern genügt als Besitz -schon das bloße Schauen, für andere wieder ist der -Glaube schon das wahre Sehen. Und sie alle, die dieser -Instinkt verbindet, bilden eine einzige Kette, angefangen -von jenen, die nur ihr eigenes Glück suchen, über jene, -die es für ihre Familie und ihr Volk suchen, bis auf zu jenen -Wesen, die die ganzen Millionen der Menschen, das Glück -des Alls umfassen. Wer selbst nicht im Glück lebt, schafft es -doch den andern, so wie jetzt Clerambault, und weiß -nicht darum; denn die andern sehen schon das Licht auf seiner -Stirn, indes seine Augen noch im Schatten sind.</p> - -<p>Der Blick des jungen Freundes hatte den armen Clerambault -über seinen unbekannten Reichtum belehrt, und dieses -Bewußtsein einer göttlichen Botschaft, die ihm auferlegt -war, stellte seine verlorene Bindung mit den Menschen wieder -her. Sie bekämpften ihn nur, weil er ihr verwegener Pfadfinder -war, ihr Christoph Kolumbus, der mitten auf dem -öden Ozean im Trotz darauf beharrte, den Weg zur neuen -Welt zu finden. Sie beschimpften ihn, aber sie folgten ihm -doch. Denn jeder wahre Gedanke, sei er verstanden oder -nicht, ist ein ausgesandtes Schiff, das die nachzüglerischen -Seelen im Schlepptau mit sich schleift.</p> - -<p>Von diesem Tage an wandte er die Augen von der unabänderlichen -Tatsache des Krieges und der Toten ab, um -sich den Lebenden und der Zukunft, die in unserer Hand -ruht, zuzuwenden. Möge die Anziehung derjenigen, die -wir verloren haben, noch so mächtig sein und uns schmerzlich -locken, zu ihnen hinabzusteigen, so müssen wir uns doch -dem gefährlichen Hauch entreißen, der, wie in Rom, von der -Gräberstraße aufsteigt. „Vorwärts! Halte dich nicht auf, -du hast noch kein Recht, so wie jene zu ruhen! Denn andere -bedürfen deiner. Sieh nur auf sie, wie sie gleich den Trümmern -der großen Armee sich hinschleppen und in der düsteren Weite -den verlorenen Weg suchen.“</p> - -<p>Clerambault wurde des düsteren Pessimismus gewahr, der -sich dieser jungen Leute nach dem Kriege zu bemächtigen -drohte, und diese Erkenntnis quälte ihn. Die moralische -Gefahr war groß, aber um sie kümmerte sich die Regierung -natürlich am wenigsten. Sie handelte wie die schlechten -Kutscher, die mit Peitschenschlägen das Pferd antreiben, um -im Galopp über einen steilen Abhang hinaufzukommen. -Das Pferd kommt auch wirklich hinauf, aber der Weg ist -droben noch nicht zu Ende und das Pferd bricht zusammen. -Es ist krumm für sein Leben... Mit welcher Begeisterung -waren doch die jungen Menschen in den ersten -Monaten des Krieges in den Sturm gerast! Dann war -die Leidenschaft verraucht, aber das Tier blieb angeschirrt -und von der Deichsel aufrecht gehalten; man peitschte -rings um das müde Wesen eine künstliche Erregung auf, -man mischte wundervolle Hoffnungen in sein tägliches -Futter und, ob auch der Alkohol der Betäubung darin jeden -Tag mehr verdunstete, so konnte es doch nicht zusammenbrechen. -Und das gequälte Tier beklagte sich nicht einmal, -ihm fehlte die Kraft zu denken. Und worüber und bei wem -hätte es sich beklagen sollen? Es gab eine stillschweigende -Vereinbarung gegen alle diese armen Opfer, nicht auf sie zu -hören, sich taub zu stellen und zu lügen.</p> - -<p>Aber Tag für Tag warf die rücklaufende Flut der Schlachten -ihre Trümmer auf den Sand hin — die Verstümmelten -und Verwundeten. Und durch sie kam zum erstenmal das -Brausen der Tiefe dieses menschlichen Ozeans ans Licht. -Die Unglücklichen, die plötzlich von dem Polypen, dessen -Glieder sie bildeten, losgerissen waren, fühlten, daß sie sich -im Leeren regten und nichts mehr erfassen konnten, weder -ihre Leidenschaft von gestern, noch den Traum der Zukunft. -Und voll Angst fragten sie sich, die einen nur dumpf, wenige -andre mit einer grausamen Klarheit, wofür sie gelebt -hätten, wofür man lebt....</p> - -<p>„Da jener, der zerstört wird, leidet, und derjenige, der vernichtet, -daran keinen Genuß findet und bald ebenso vernichtet -wird, so sage mir, was kein Philosoph zu beantworten weiß, -wessen Gefallen, oder wessen Nutzen dient dieses unglückselige -Leben des Weltalls, das sich zum Schaden und durch -den Tod aller Kreaturen, aus denen es gebildet ist, einzig -erhält?“ fragt Leopardi.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>s war dringend notwendig, darauf eine Antwort zu -geben und für jene einen Sinn des Lebens zu -finden. Ein Mann im Alter Clerambaults hat einen Sinn -des Lebens nicht so nötig. Er hat schon gelebt, ihm kann es -genug sein, sein Gewissen freizumachen: das ist für ihn -gleichsam sein öffentliches Testament. Aber für diese jungen -Leute, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben, kann es nicht -genug sein, die Wahrheit auf einem Leichenfelde zu sehen. -Wie immer auch die Vergangenheit gewesen sei, für sie -zählt doch nur die Zukunft. Ihnen muß man die Trümmer -aus dem Wege räumen!</p> - -<p>Woran leiden diese jungen Menschen am meisten? An ihrer -eigenen Qual? — Nein! Sondern an ihrem Zweifel -an dem Glauben, dem sie diese Qual zum Opfer dargebracht -haben. (Würde man denn irgendein Bedauern haben, sich -für die Frau geopfert zu haben, die man liebt, oder für sein -Kind?) Und dieser Zweifel vergiftet sie, er nimmt ihnen die -Kraft, auf ihrem Weg weiter fortzuschreiten, weil sie fürchten, -an seinem Ausgang die Verzweiflung zu finden. Deshalb -ruft man euch ja zu: „Hütet euch, das Ideal des Vaterlandes -zu erschüttern! Trachtet lieber, es wiederherzustellen.“ -Welch ein Hohn! Kann man denn wirklich durch -seinen Willen einen Glauben wiederherstellen, den man -einmal verloren hat? Man kann sich höchstens selbst belügen, -und das weiß man in seiner tiefsten Seele. Und gerade -dieses uneingestandene Bewußtsein tötet den Mut und die -Freude.</p> - -<p>So habt den Mut und verwerft den Glauben, an den ihr -nicht mehr glaubt! Die Bäume müssen, um neu zu -grünen, ihr Herbstlaub abschütteln. So sollt ihr aus -euren verlorenen Illusionen, wie die Bauern aus dem welken -Laub, ein Feuer machen, dann wird das neue Grün, -der neue Glaube nur schöner aufwachsen. Denn der neue -Glaube kann warten. Die Natur stirbt nicht, sie verwandelt -nur ewig ihre Formen. Laßt doch, wie sie, das -abgestorbene Kleid der Vergangenheit hinsinken!</p> - -<p>Seht nur recht hin, zieht die Bilanz dieser harten Jahre! -Ihr habt gekämpft und für das Vaterland gelitten. Und -was habt ihr dabei gewonnen? Ihr habt die Brüderlichkeit -der Völker entdeckt, die sich bekämpfen und miteinander -leiden. Ist diese Erkenntnis zu teuer bezahlt? Nein, wenn -ihr nur euer Herz sprechen laßt, wenn ihr wagt, es dem -neuen Glauben aufzutun, der gerade, als ihr es am wenigsten -erwartetet, zu euch gekommen ist.</p> - -<p>Das Täuschende und Niederdrückende ist, daß der Mensch an -sein anfängliches Ziel gebunden bleibt. Glaubt er dann nicht -mehr an dieses Ziel, so glaubt er, jetzt sei alles verloren. Nun -bringt niemals eine große Tat gerade jene Wirkung hervor, -die man von ihr erwartete, und es ist gut so, denn fast immer -übertrifft die tatsächliche Wirkung die erwartete und ist ganz -anderer Art als sie. Weise sein heißt nicht, mit seiner fertigen -Weisheit schon auszuziehen, sondern sie erst unterwegs -in Aufrichtigkeit zu entdecken. Wagt es, euch einzugestehen, -daß ihr nicht mehr dieselben Menschen seid wie 1914, und -wagt es zu sein: Dies wird dann der Hauptgewinn oder -vielleicht der einzige Gewinn dieses Krieges sein.... Aber -werdet ihr es wirklich wagen? So viele Beweggründe vereinen -sich ja, euch zu entmutigen; die Müdigkeit aller dieser -Jahre, die alten Gewohnheiten, die Furcht vor der Anstrengung, -in das eigene Ich hinabzublicken, das Abgestorbene -auszujäten, das Lebendige zu bejahen und dann -irgendein abergläubischer Respekt vor dem Alten, die -faule Vorliebe für das, was man schon kennt (sei es selbst -schlecht, sei es selbst tödlich), das träge Bedürfnis nach billiger -Klarheit, das einen lieber ins alte Geleise zurückkehren -läßt als neuen selbstgebahnten Wegen entgegengehen. Ist es -denn nicht das Ideal der meisten Franzosen von Kindheit -an, irgendeinen fertigen Lebensplan in die Hand zu -bekommen und ihn nicht mehr zu ändern?... Ach, daß doch -wenigstens dieser Krieg, der so viele eurer Heimstätten zerstört -hat, euch zwingen würde, aus eurem Schutt herauszutreten, -eine neue Heimstatt zu gründen und neue Wahrheiten -zu suchen!</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>V</span>ielen dieser jungen Leute fehlte es nicht an Verlangen, -mit der Vergangenheit zu brechen und in neue Welten -einzutreten — im Gegenteil: sie hatten es allzu hastig damit. -Noch waren sie aus ihrer alten Welt nicht heraus, so begannen -sie schon, die neue gründen zu wollen. Nur rasch, -nur keinen Übergang! Eine reinliche Scheidung! Entweder -bewußte Unterwerfung unter das Vergangene -oder Revolution!</p> - -<p>So empfand auch Moreau. Er machte aus der Hoffnung -Clerambaults auf eine soziale Erneuerung eine Gewißheit. -Und in seiner Aufforderung, geduldig Tag für Tag sich -die neue Wahrheit zu erobern, hörte er nur einen Appell -zur gewaltsamen Aktion, die sie sogleich erzwingt!</p> - -<p>Er führte Clerambault in zwei oder drei Kreise junger Intellektueller -revolutionärer Richtung ein. Sie waren nicht -sehr zahlreich, in allen Zusammenkünften begegnete man -immer wieder den selben. Von Staats wegen wurden sie -überwacht, was ihnen eher mehr Bedeutung gab, als wenn -das nicht geschehen wäre. Elende Macht, bis an die Zähne -bewaffnet, über Millionen von Bajonetten, über eine Polizei -und eine Justiz, beide folgsam und zu allem bereit, verfügend, -bist du dennoch stets furchtsam und kannst es nicht -ertragen, daß ein Dutzend freier Geister sich versammelt, -um über dich zu richten! Dabei hatten diese jungen Leute -durchaus nicht die Art von geheimen Verschwörern. Im Gegenteil, -sie taten alles mögliche, um verfolgt zu werden, aber -ihre ganze Tätigkeit beschränkte sich auf Worte. Was hätten -sie auch anders tun können? Sie waren isoliert von der -großen Menge ihrer geistigen Gefährten, die die große -Maschine des Krieges aufsog, die die Armee verschlang -und nur dann zurückgab, wenn sie für sie unbrauchbar -geworden waren. Was gab es denn noch an europäischer -Jugend im Hinterland? Abgesehen von den Drückebergern, -die sich nur allzuoft zu den traurigsten Diensten -mißbrauchen ließen und die anderen zum Kampfe hetzten, -damit man vergesse, daß sie selber nicht kämpften, setzten -sich die Repräsentanten der jungen Generation — <span class='it'>rari -nantes</span> —, die im Zivildienst verblieben waren, nur -aus gänzlich Kriegsuntauglichen zusammen, zu denen sich -allmählich die Schwerverwundeten wie Moreau gesellten. -In diesen verstümmelten und untergrabenen Körpern war -die Seele gleich brennenden Kerzen in einer Laterne mit -zerbrochenen Fenstern: sie verzehrte sich, sie züngelte und -rauchte, ein Windstoß konnte sie auslöschen. Aber da sie mit -ihrem Leben nicht mehr rechneten, schlug die Glut daraus -nur um so höher.</p> - -<p>Diese Seelen hatten übergangslose Stimmungen vom -äußersten Optimismus bis zum äußersten Pessimismus. -Und diese heftigen Schwankungen des Barometers entsprachen -nicht immer dem Luftdruck der äußeren Ereignisse. -Der Pessimismus war nur zu leicht erklärlich. Erstaunlicher -war aber der Optimismus, für den man kaum hätte Vernunftsgründe -finden können. Sie waren ja nur eine -Handvoll, die nichts tun konnte, gar keine Möglichkeit zur -Tat hatte, und jeder neue Tag schien ihre Gedanken sinnloser -zu machen. Aber je schlechter es stand, um so zufriedener -schienen sie zu sein. Sie besaßen einen Desperadooptimismus, -jene tolle Gläubigkeit der fanatischen und -unterdrückten Minorität, die den Antichrist braucht, -damit der Christus wiederkehre. Sie erwarteten gerade -aus den Verbrechen der alten stürzenden Weltordnung die -neue Weltordnung, und es war ihnen gleichgültig, ob sie -selbst dabei zugrunde gingen mit all ihren Träumen. Diese -jungen Unbedingten, die Clerambault kennen lernte, sahen -ihr Hauptziel darin, eine bloß teilweise Verwirklichung ihrer -Träume innerhalb der alten Ordnung zu verhindern. Alles -oder nichts! Die Welt zu verbessern, schien ihnen lächerlich. -Entweder eine vollendete Welt, oder sie soll zugrunde gehen. -Dieser mystische Glaube an den großen Umsturz, an eine -Weltrevolution spukte gerade in jenen Fieberköpfen am -leidenschaftlichsten, die am wenigsten an die Träume der Religionen -glaubten.... Und dabei waren sie selber religiöser -als alle Gläubigen der Kirche.... O tolle irdische Rasse! Es -ist immer derselbe Glaube an das Absolute, der die Narren -des Völkerkrieges, die Narren des Klassenkampfes, die -Friedensnarren in dieselbe Trunkenheit, in dieselbe Vernichtung -reißt! Fast möchte man glauben, daß die Menschheit, -als sie aus dem brennenden Schlamm der Schöpfung -auftauchte, einen Sonnenstich empfing, von dem sie -nie geheilt ward und der sie von Zeit zu Zeit mit solchen -Fieberanfällen durchschüttelt.</p> - -<p>Oder sind vielleicht diese Mystiker der Revolution Wegbereiter -von Verwandlungen, die in der Rasse keimen — -vielleicht noch Jahrhunderte keimen — und die vielleicht niemals -aufblühen werden? Denn es gibt in der Natur immer -Tausende von schlummernden Möglichkeiten für eine einzige -Erfüllung innerhalb jener Frist, die unserer Menschheit -zuteil geworden ist.</p> - -<p>Vielleicht ist es gerade das dunkle Gefühl dessen, was sein -könnte und doch nie sein wird, das manchmal dem revolutionären -Mystizismus eine andere, seltenere und tragischere -Form gibt — den ekstatischen Pessimismus, der -fieberig zum Selbstopfer drängt. Wie viele dieser Revolutionäre -haben wir gekannt, die im geheimen von der -zerschmetternden Übermacht des Bösen, von der unausbleiblichen -Niederlage ihres Glaubens überzeugt waren -und sich doch liebend begeisterten für das besiegte Ideal — -„... <span class='it'>sed victa Catoni</span>“ — und für die Hoffnung, für es -zu sterben, zu vernichten und vernichtet zu werden. Wie -viel tolle Glut hat die zerschmetterte Kommune, nicht durch -ihren Sieg, sondern durch die Art ihrer Zerschmetterung -aufflammen lassen! Es scheint, daß selbst in den Herzen -der ärgsten Materialisten ein Funke der ewigen Flamme, -der mißhandelten, verleugneten und doch immer neu -bekundeten Hoffnung lebt, jenes unzerstörbaren Traumes -aller Unterdrückten von einer besseren jenseitigen -Welt.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>iese jungen Leute nahmen Clerambault mit verehrungsvoller -Zuneigung auf. Sie versuchten, ihn ganz -zu dem ihrigen zu machen, die einen, weil sie in seinen Gedanken -das zu lesen glaubten, was sie selber glaubten, die anderen -in der Überzeugung, dieser gute alte Bürger, für den -das Gefühl bisher der einzige, zwar edle aber unzulängliche -Führer gewesen, würde sich nun durch ihr gestrafftes -Wissen überzeugen lassen und mit ihnen bis an die -äußersten logischen Konsequenzen ihrer Anschauungen -gehen. Clerambault setzte sich nur schwach zur Wehr, denn -er wußte, daß nichts in der Welt einen jungen Menschen -überzeugen konnte, der sich eben auf ein System festgelegt -hat. In diesem Lebensalter ist jede Diskussion vergebens. -Etwas früher, in den vorausgehenden Jahren, wo -der Einsiedlerkrebs noch seine Schale sucht, kann man auf -ihn wirken, und dann wiederum später, wenn die Muschel -abfällt oder schon, wenn sie ihn in seinen Bewegungen stört. -Aber solange das Kleid noch neu ist, gilt nur eines: es ihm -zu lassen, denn es ist ihm ja angepaßt. Wächst er es -aus oder wird es ihm zu groß, so drängt es ihn schon selbst, -ein anderes zu suchen. Nur keinen Zwang, aber sich auch -von niemandem zwingen lassen!</p> - -<p>Niemand in diesem Kreise dachte, zum mindestens anfangs, -daran, Clerambault zu vergewaltigen. Aber seine Gedanken -wurden manchmal ganz seltsam nach dem Geschmack seiner -Gäste verändert und seine Ideen hatten eine höchst -sonderbare Resonanz in ihrem Munde. Clerambault ließ -seine Freunde reden, er selbst sprach nicht viel, und wenn -er dann nach Hause kam, war er verwirrt und ein wenig -ironisch.</p> - -<p>„Sind das wirklich meine Gedanken?“ fragte er sich.</p> - -<p>Wie ist es doch schwer, seine Seele anderen Wesen mitzuteilen. -Vielleicht unmöglich sogar. Und wer weiß — die -Natur ist ja um so viel klüger als wir — vielleicht ist es für -uns gut so.</p> - -<p>Seine Ideen vollständig aussprechen — kann man es überhaupt, -soll man es überhaupt? Langsam ist man zu ihnen -gelangt, mit Mühe, auf dem Wege vieler Prüfungen, und -nun halten sie gewissermaßen die Gleichgewichtsschwebe zwischen -unseren inneren Elementen. Ändert man diese Elemente, -ihre Zusammensetzung und ihre Art, so ist die Formel -natürlich sofort ungültig und bringt ganz andere Wirkungen -hervor. Könnten wir unsere Gedanken plötzlich in -ihrer Gänze auf einmal in einen anderen Menschen hineinschleudern, -so bestünde die Gefahr, daß er toll würde, ja es -gibt sogar Fälle, wo der andere, wenn er sie verstände, -daran sterben würde. Aber die weise Natur hat ihre Vorsichtsmaßregeln -getroffen. Der andere versteht uns nicht, -er kann uns nicht verstehen. Sein Instinkt wehrt sich dagegen. -Er fühlt nur den Anstoß unserer Idee gegen die -seine, und wie auf dem Billard wird die Kugel wieder -weggestoßen, nur ist es hier weniger leicht vorauszusehen, -gegen welche Stelle der grünen Wand. Die Menschen hören -nicht bloß mit dem reinen Geist, sondern auch gleichzeitig -mit ihren Leidenschaften und ihrem Temperament. -Von dem, was man ihnen gibt, nimmt sich jeder nur, -was ihm paßt und wirft den Rest zurück, und zwar -aus einem dunkeln Instinkt der Verteidigung. Die Vernunft -tut sich nie einem neuen Gedanken sofort auf, sie -kontrolliert ihn gleichsam am Schalter, ehe sie ihn hereinläßt, -und sie läßt nur das herein, was ihr genehm ist. Was -hat man aus den hohen Gedanken eines Jesus und eines -Sokrates gemacht! Zu ihrer Zeit hat man sie getötet, um -dann zwanzig Jahrhunderte später aus ihnen Götter zu -machen, was ja nur eine andere Form ist, sie noch einmal -zu töten; denn man wirft damit ihren Gedanken ins -Himmelreich zurück. Würde man ihn sich in dieser unserer -irdischen Welt verwirklichen lassen, so wäre ihr Ende gekommen. -Das wußten sie selbst, und das Größte ihrer -Seele ist vielleicht nicht, was sie ausgesprochen, sondern -was sie verschwiegen haben. Wie pathetisch ist doch die -Beredsamkeit des Schweigens bei Jesus, wie schön der -Schleier über den antiken Symbolen und uralten Mythen, -um die schwachen und furchtsamen Augen zu schonen! Allzu -oft ist das Wort, das für einen das Leben bedeutet, für den -anderen der Tod oder, was noch ärger ist, der Mord.</p> - -<p>Was also tun, wenn man die Hände voll hat mit Wahrheiten? -Soll man die Saat im vollen Wurfe ausstreuen? -Aber dem Samen des Gedankens kann Unkraut oder -Gift entwachsen!....</p> - -<p>Vorwärts! Zage nicht! Du bist nicht der Herr des Schicksals, -aber du bist auch selbst Schicksal, du bist eine seiner Stimmen. -So sprich! Das ist die dir zugeteilte Aufgabe! Sag alles, -was du denkst, aber sage es mit Güte! Sei wie eine gute -Mutter, der es nicht gegeben ist, aus ihren Kindern vollkommene -Menschen zu machen, sondern nur zu versuchen, -sie geduldig zu unterrichten, damit sie es werden, wenn sie -es selber werden wollen. Man kann andere nicht gegen ihren -Willen oder ohne ihre Mithilfe befreien. Und selbst wenn -dies möglich wäre, was hätte es für einen Sinn? Denn -wenn sie sich nicht selbst befreien, fallen sie schon morgen -wieder in ihre Sklaverei zurück. Man muß ein Beispiel -geben und sagen: „Hier ist der Weg! Seht, man kann sich -befreien!“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>T</span>rotz all seinen Bemühungen, männlich zu handeln und -die Folgen seines Tuns den Göttern zu überlassen, war -es doch ein Glück für Clerambault, daß er nicht die ganze -Tragweite seiner Ideen überblickte. Denn seine eigentliche -Absicht war ja, ein Reich des Friedens zu gründen, in Wirklichkeit -aber wirkte seine Idee wohl in beträchtlichem Maße -an der Entfesselung des sozialen Kampfes mit. So paradox -es scheint, es ist dies das Schicksal jedes wahren -Pazifismus, weil er eine Verurteilung des Gegenwärtigen -bedeutet.</p> - -<p>Aber Clerambault war sich im unklaren darüber, daß gefährliche -Mächte eines Tages sich auf ihn berufen würden. -Und in einer seltsamen Gegenwirkung auf die Gewalttätigkeit -dieser jungen Leute arbeitete sich sein Geist gerade unter -ihnen immer mehr zu einer gewissen Harmonie durch. Je -weniger jene — sie unterschieden sich darin gar nicht von -vielen Nationalisten, die sie bekämpften — auf das Leben -gaben, um so höher schätzte er es für seinen Teil. Jenen -war die Idee fast durchweg wichtiger als das Leben. (In -diesem Wahn erblickt ja die allgemeine Meinung eine -Größe der Menschheit.)</p> - -<p>Dennoch fühlte sich Clerambault sehr beglückt, unter ihnen -auch einen Menschen zu finden, der das Leben um des -Lebens willen liebte. Es war ein Kamerad Moreaus namens -Gillot, schwer verwundet wie jener, und in seinem Zivilberufe -Zeichner in einer Fabrik. Ein Geschoß hatte ihn von -oben bis unten mit Splittern übersät. Er hatte ein Bein -verloren und sein Trommelfell war gesprengt. Aber Gillot -wehrte sich mit mehr Energie gegen das Schicksal als Moreau. -In den lebhaften Augen dieses kleinen dunkelbraunen -Burschen brannte trotz allem eine Flamme der Heiterkeit. -Er war ganz einig mit Moreau in der Verurteilung der -Sinnlosigkeit des Krieges und der Verbrechen der modernen -Gesellschaft, sie hatten dieselben Dinge und dieselben Menschen -gesehen, aber mit verschiedenen Augen. Und es kam -oft zu Diskussionen zwischen beiden.</p> - -<p>„Ja“, sagte Gillot eines Tages, als Moreau gerade Clerambault -eine grauenhafte Erinnerung aus dem Schützengraben -erzählte, „ja so war es..., nur steckt noch etwas -Ärgeres dahinter, nämlich, daß das alles auf uns keinen, -gar keinen Eindruck machte.“</p> - -<p>Moreau protestierte empört.</p> - -<p>„Auf dich vielleicht, und vielleicht auf zwei oder drei andere, -da und dort. Aber die große Masse!... Schließlich hat man -bei den Dingen überhaupt nichts mehr gefühlt.“</p> - -<p>Und Gillot fuhr rasch fort, um einen neuen Protest Moreaus -im voraus zu unterdrücken:</p> - -<p>„Ich sage das ja nicht, mein Lieber, um etwas aus uns zu -machen — dazu ist ja wahrhaftig kein Anlaß. Ich sage es -nur, weil es eben so ist.... Sehen Sie (er wendete sich jetzt -an Clerambault), die Leute, die von dort zurückkommen -und die das in Büchern erzählen, die sagen ja wirklich, was -sie fühlen. Aber diese Leute fühlen eben viel mehr als die -meisten Sterblichen, weil sie Künstler sind. So einen reizt -eben alles in den Nerven auf. Unsereins ist abgebrüht, und -wenn ich jetzt daran denke, scheint mir diese Fühllosigkeit -das Ärgste von allem. Wenn Sie hier eine von den Geschichten -lesen, die Ihnen die Haare zu Berge stehen lassen oder -bei denen sich Ihnen der Magen umdreht, so fehlt noch -immer die Pointe daran: nämlich, daß ein paar Burschen -dort vorne stehen, ihre Pfeife rauchen, Witze reißen oder -an etwas anderes denken. Und das ist ja nötig, denn sonst -krepierte man ja.... Der Mensch hat eben eine grauenhafte -Fähigkeit, sich an alles anzupassen.... Ich glaube, -er würde ganz gut in einer Düngergrube gedeihen. Es -ist ja wahr, man kann ein Grausen vor sich kriegen, aber -ich, der ich da zu Ihnen rede, ich bin selbst so gewesen. Ich -habe nicht, wie es der Kleine da tut, meine Zeit damit verbracht, -herumzusinnieren. Wie alle Welt, fand ich das, was -ich zu tun hatte und tun mußte, blödsinnig. Aber da das -ganze Leben eben blödsinnig ist — ich habe doch recht? —, -so tat man eben, was man tun mußte, tat, soviel eben -nötig war und wartete, bis es aufhörte.... Wartete -auf irgendein Ende, auf dieses oder jenes, auf das meines -Kadavers oder das des Krieges. Irgend etwas mußte ja -doch einmal zu Ende sein... Zwischendurch hat man -eben gelebt, geschlafen, gefressen, geschissen, Verzeihung, -— aber man muß die Wahrheit sagen — und wenn Sie, -mein Herr, den Grund von dem allen wissen wollen — der -Grund ist eben, daß man das Leben nicht liebt. Ja, man -liebt es nicht genug. Sie haben sehr recht, wenn Sie in einem -Ihrer Aufsätze sagen, es ist wundervoll, das Leben. Aber -jetzt sind nicht eben sehr viele, die danach aussehen, als ob -sie das glauben würden, zumindest unter denen, die wirklich -wach leben. Eher schon unter jenen, die schlafen und auf den -letzten großen Schlaf warten. Die sagen sich: „So liegt man -wenigstens schon und braucht sich nicht mehr zu rühren.“ -Nein, man liebt es nicht genug, das Leben, man lehrt es -uns ja auch nicht, es zu lieben, im Gegenteil, man tut alles, -was man kann, um es uns widerlich zu machen. Von Kindheit -an singt man uns Lobpreisungen auf den Tod, auf -die Schönheit des Todes oder einen Hymnus auf die, die -schon gestorben sind. Die Geschichte, der Katechismus, -der „Heldentod für das Vaterland“! Pfaffen und Patrioten -blasen es in einem Atem, und schließlich wird einem -das Leben selber ekelhaft. Man möchte sagen, es geschieht -heute das Möglichste, um es einem so dreckig als möglich -erscheinen zu lassen. Nirgends eine eigene Initiative mehr, -alles Mechanismus, und dabei nicht einmal Ordnung: -keiner leistet mehr ganze Arbeit, jeder nur Stückwerk, und -man weiß gar nicht mehr, was für einen Sinn es hat, und -meist hat es auch gar keinen Sinn. Es ist ein verdammtes -Durcheinander, von dem man nicht einmal etwas hat. Wie -ein Hering ist man irgendwo eingepackt und hingeschmissen. -Man weiß nicht, warum man lebt. Man lebt und kommt -nicht weiter. Vor grauen Tagen haben, so sagt man, die -Großväter für uns die Bastille erstürmt, und jetzt tun -diese Lumpen, die das Heft in der Hand haben, so, als gäbe -es für uns nichts mehr zu tun, als wäre schon das Paradies -auf Erden fertig. Steht es denn nicht auf allen unseren Denkmälern -geschrieben? Und doch weiß man, daß es nicht wahr -ist, daß irgend ein anderer Sturm sich vorbereitet, eine andere -Revolution.... Freilich! Jene von damals ist so schlecht gelungen! -Und alles ist so unklar... Nein, man hat kein -Vertrauen, man sieht nicht, wohin man geht, es ist keiner -da, der uns über diesem Kot und Sumpf irgend etwas -Schönes und Hohes zeigt.... Ja, sie tun alles, was sie -können, jetzt, um uns in Schwung zu bringen: Gerechtigkeit, -Freiheit, Brüderlichkeit.... Aber der Schwindel zieht -nicht mehr.... Man kann zwar dafür sterben, dazu sagt -man niemals nein... aber leben, das ist etwas anderes.“</p> - -<p>„Und nun?“ fragte Clerambault.</p> - -<p>„Ah, jetzt, jetzt, wo man nicht mehr zurück kann, jetzt denke -ich immer nur: Wenn man noch einmal von vorne anfangen -könnte.“</p> - -<p>„Und wann hat sich das Gefühl bei Ihnen so geändert?“</p> - -<p>„Das ist das Tollste! Sofort nach meiner Verwundung. -Kaum war ich mit einem Bein aus dem Leben draußen, so -wollte ich schon wieder ins Leben zurück. Wie schön es doch -eigentlich war — nur hatte man, Esel, der man war, es -nicht bemerkt.... Denken Sie, ich sehe mich noch, wie ich -zum erstenmal zum Bewußtsein kam, dort auf jenem -Trümmerfeld, noch mehr zerfetzt als die Leichen, die dort -kunterbunt übereinander und durcheinander, wie bei -einem Kegelspiel, lagen. Die ganz besudelte Erde schien -selbst zu bluten. Es war vollkommen Nacht, und ich fühlte -zuerst nichts, als daß es mich fror. Ich lag ganz starr.... -Welches Stück von mir fehlte mir eigentlich? Ich hatte -keine Eile, mit dem Nachsehen zu beginnen, denn mir graute -vor dem, was da zutage kommen könnte, und ich wollte -mich nicht rühren. Sicher war, daß ich noch lebte, vielleicht -nur noch einen Augenblick, aber ich gab verteufelt acht, -diesen nicht zu verlieren....</p> - -<p>Ich sah am Himmel ein Raketensignal. Was es bedeutete, -darum bekümmerte ich mich nicht mehr. Aber wie es aufstieg, -sich bog und die feurigen Blumen dann ausschüttete -— ich kann Ihnen nicht sagen, wie schön ich das fand, ich -sog es mit allen Sinnen ein.... Und auf einmal sah ich mich -als ganz kleines Kind, bei der Samaritaine am Ufer der Seine, -an einem Abend, wo es Feuerwerk gab, und ich sah dieses -Kind, als ob es ein anderes wäre, das mich amüsierte und -mir leid tat. Und dann dachte ich, daß es doch gut sei, in -das Leben hineingepflanzt zu sein und zu wachsen und -irgendetwas, irgendjemand, gleichgültig wen, zu haben und -ihn zu lieben. Sehen Sie, das kam nur von dieser Rakete.... -Dann kamen die Schmerzen, ich begann zu brüllen, ich steckte -wieder den Kopf in das Loch hinein.... Dann kamen die -Leute vom Hilfsplatz... ich hatte dort kein gutes Leben, -der Schmerz fraß mir wie ein Hund an den Knochen... -fast wäre es besser gewesen, dort im Loch geblieben zu sein... -und doch... selbst dort, und gerade dort... welches Paradies -schien es mir, noch einmal so leben zu können wie einst, nur -zu leben, zu leben ohne Schmerzen, so wie man jeden Tag -lebte... Und man merkte es nicht! Ohne Schmerzen... -ohne Schmerzen... und leben!... Aber das ist ein Traum. -Wenn der Schmerz nur einen Augenblick aufhörte, wenn -man nur eine Minute Ruhe hatte und bloß den Geschmack -der Luft auf der Zunge fühlte und den Körper so leicht nach -aller Qual.... Himmel, wie schön das war.... Und so war -früher das ganze Leben gewesen, und man hatte es nur -nicht bemerkt.... Mein Gott, wie dumm man ist, erst -dann das alles zu verstehen, wenn man’s nicht mehr hat. -Und wenn man es dann endlich liebt und um Verzeihung -bittet, daß man’s nicht zu schätzen wußte, dann antwortet -einem das Leben: Zu spät!“</p> - -<p>„Es ist nie zu spät“, sagte Clerambault.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>G</span>illot verlangte nichts sehnlicher, als ihm zu glauben. -Dieser gebildete Arbeiter war für den Lebenskampf -viel besser ausgerüstet als Moreau und selbst als Clerambault. -Nichts konnte ihn dauernd niederdrücken: fällt man -einmal hin, so steht man wieder auf. Man wird schon einmal -Rache dafür nehmen. In seinem tiefsten Herzen dachte -er bei allen Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg -stellten: „Man wird’s schon schaffen“, und war bereit, mit -der einzigen Pfote, die ihm blieb, darauf loszumarschieren, -so weit es nottat, und je früher, je lieber. Denn auch er, wie -alle anderen, glaubte inbrünstig an die Revolution und -reimte sie mit seinem Optimismus zusammen, der den -Umsturz von vornherein in Milde vollendet sah. Er war -ohne jede Gehässigkeit.</p> - -<p>Und doch konnte man sich darauf nicht verlassen, denn in -diesen Seelen aus dem Volke sind viele Überraschungen versteckt. -Sie sind zu leicht zu verführen und jeder Veränderung -geneigt... So hörte Clerambault eines Tages, wie Gillot -mit seinem Frontkameraden Lagneau, der gerade auf -Urlaub da war, davon sprach, alles krumm und klein zu -schlagen, wenn die Eingerückten wiederkämen und der Krieg -zu Ende sei, oder vielleicht noch früher.... Der Franzose -aus dem Volk, der oft so bezaubernd, lebhaft und munter -ist und einen Gedanken, fast ehe man ihn noch ausgesprochen -hat, erfaßt — mein Gott, wie rasch vergißt er -auch! Vergißt alles, was man gesagt hat, was er selber gesagt -hat, was er gesehen, geglaubt, gewollt hat, und -glaubt dabei immer dessen sicher zu sein, was er will, was -er sagt, sieht und glaubt. Vor Lagneau entwickelte Gillot -ganz ruhig genau die entgegengesetzten Ideen wie jene, die -er gestern gegen Clerambault verteidigt hatte, und nicht -nur seine Ideen hatten sich verwandelt, sondern auch gewissermaßen -sein Temperament. Am Morgen war ihm -nichts wild genug gewesen für sein Bedürfnis nach Tat und -Zerstörung, abends träumte er wiederum von nichts anderem, -als irgendwo ein kleines Geschäft zu haben, dick zu -verdienen, gut zu essen, ein paar Kinder aufzuziehen und -sich den Teufel um alles andere zu scheren. Obwohl diese -Leute sich in aller Aufrichtigkeit Internationalisten nannten, -gab es unter den Soldaten doch genug, die den alten französischen -Rassenhochmut — gar nicht bösartig aber fest verankert -— gegenüber der ganzen übrigen Welt hatten, ob -sie mit ihnen verbündet oder ihr Feind war. Und -selbst in Frankreich mißachteten die Pariser die aus der -Provinz, oder, wenn sie selber aus der Provinz waren, Paris. -Sie waren männliche, offene Kerle, immer bereit, loszuschlagen -wie Gillot, und sicher die Rechten, um eine Revolution -zu machen, sie zu zerstören und noch einmal zu -machen, aber dann gelangweilt das Ganze hinzuschmeißen -als Beute für den ersten besten Abenteurer, der gerade des -Weges kommt. Und das wissen die politischen Schleicher -allzu gut. Sie wissen, die beste Taktik, die Revolution zu -töten, ist, wenn die Stunde gekommen ist, sie ruhig vorbeigehen -zu lassen und das Volk dabei zu amüsieren.</p> - -<p>Und diese Stunde schien sehr nahe. Etwa ein Jahr vor dem -Ende des Krieges gab es in beiden Lagern einige Monate, -einige Wochen, wo die unermeßliche Geduld der -gemarterten Völker zu schwinden und ein Schrei loszubrechen -drohte: „Genug!“ Zum erstenmal hatte sich -unter ihnen die Empfindung verbreitet, daß sie blutig genarrt -würden, und man kann die Erbitterung der Menschen -aus dem Volke verstehen, wenn sie feststellten, wie -toll die Milliarden im Kriege ausgegossen wurden, während -vor dem Kriege ihre Herren wegen ein paar hunderttausend -Franken für die soziale Hilfe knauserten. Mehr als -alle Reden besaßen gewisse Ziffern die Fähigkeit, die Leute -aufzureizen. Man hatte berechnet, daß im Kriege ungefähr -75000 Franken verbraucht würden, um einen Menschen -zu töten, und man aus derselben Summe, die zehn Millionen -Tote macht, zehn Millionen Rentner hätte schaffen -können. Selbst die Dümmsten wurden nun des ungeheuerlichen -Reichtums der Erde und der verbrecherischen -Verschwendung, die man damit trieb, gewahr, der schamlosen -Verschwendung für einen leeren Wahn. Und vor -allem der schändlichsten Schändlichkeit: daß von einem -Ende Europas zum anderen an diesen Toten sich das -Geschmeiß der Kriegsgewinner und Leichenschänder dick -fraß.</p> - -<p>„Ah“, dachten die jungen Leute, „man rede uns nichts mehr -vor vom Kampfe der Demokratien gegen die Autokratien, es -ist immer derselbe Schwindel.“ Überall hat der Krieg den -Völkern die Schuldigen für die Rache kenntlich gemacht: -die herrschende Klasse, die erbärmliche, politische, geschäftliche -und geistige Bourgeoisie, die während eines einzelnen -Jahrhunderts der Allmacht mehr verbrach an Gewalttätigkeit, -Ruinen und Tollheiten, als in zehn Jahrhunderten -die Geißel der Könige und der Kirchen.</p> - -<p>Und kaum, daß sie fern aus dem Walde die Hacke Lenins -und Trotzkis, dieser heroischen Holzhauer, hallen hörten, -zitterten viele dieser niedergepreßten Herzen von neuer Hoffnung. -Mehr als einer in jedem Lande bereitete schon damals -sein Beil vor, um mit loszuschlagen — die herrschende -Klasse aber in beiden feindlichen Lagern, von einem -Ende Europas bis zum andern, sträubte sich gegen die gemeinsame -Gefahr. Es war keine besondere Verständigung -nötig, damit sie sich untereinander in diesem Punkte -verstanden: hier sprach ihr Instinkt. Die bürgerlichen Zeitungen -der Gegner Deutschlands ließen stillschweigend -dem Kaiser freie Hand, um die russische Freiheit zu erdrosseln, -weil sie die soziale Ungerechtigkeit, von der sie -alle gleicherweise lebten, bedrohte. In der Tollwut ihres -Hasses verbargen sie nur schlecht ihre Freude, als sie sahen, -wie der preußische Militarismus, das Untier, das sich dann -gegen sie selbst wenden sollte, sie an diesen großen Empörern -rächte. Aber gerade dadurch entflammte sich in den großen -Massen der Leidenden und bei den kleinen Gruppen der Unabhängigen -eine glühende Bewunderung für jene Ausgestoßenen, -die dem ganzen Weltall Schach boten.</p> - -<p>Es kochte im Kessel. Um seine Kraft zu ersticken, hatte ihn -die Regierung hermetisch verschlossen und sich selbst daraufgesetzt. -Die blödsinnige Bourgeoisie aber, die am Ruder -war und ständig noch neues Feuer unter dem Kessel entzündete, -war verwundert über das dumpfe gefahrdrohende -Grollen. Sie schob diese Revolte der Elemente dem bösen -Geist einiger freier Sprecher in die Schuhe, oder geheimnisvollen -Intrigen, oder dem feindlichen Geld, oder -den Pazifisten. Und sie sah nicht ein, was ein kleines -Kind gesehen hätte, nämlich daß man vor allem, um die -Explosion zu verhindern, das Feuer löschen mußte. Der -Gott aller dieser Mächte, wie immer sie sich nannten, ob -Kaiserreich oder Republik, war doch die Faust, die Kraft, -mochte sie sich noch so verschleiern und überpudern. Innen -blieb die harte, selbstsichere Gewalttätigkeit. Und in natürlichem -Rückstoß wurde der Glaube an die Gewalt auch -das Evangelium der Unterdrückten. So entstand ein dumpfer -unterirdischer Kampf zwischen sich entgegenarbeitenden -Druckwirkungen. Wo das Metall verbraucht war — -zunächst in Rußland — explodierte der ganze Kessel. -Wo der Deckel nicht so streng niedergehalten wurde — wie -in den neutralen Ländern — fuhr zischend der heiße Dampf -aus. In den kämpfenden Ländern, auf denen die Unterdrückung -lastete, herrschte eine trügerische Stille, die dem -Unterdrücker recht zu geben schien. Dort waren sie ebenso -wie gegen den Feind auch gegen ihre Mitbürger gepanzert, -denn die Kriegsmaschine war nach beiden Seiten -hin, nach vorn und nach rückwärts, drohend aufgestellt. Der -Verschluß aus härtestem Stahl schien noch gut zu schließen, -die Schrauben preßten ihn eisern an, so daß es unmöglich -war oder schien, daß er jemals aufging. Es sei denn, daß -plötzlich alles in die Luft flöge.</p> - -<p>Clerambault, nicht minder unter die furchtbare Schraube -gepreßt als die anderen, sah ringsum die Revolte sich vorbereiten. -Er begriff sie, er hielt sie sogar für unvermeidlich. -Aber deshalb liebte er sie noch nicht. Er fand sich nicht ab -mit der bequemen „<span class='it'>amor fati</span>“. Ihm genügte es, zu verstehen. -Aber keine Tyrannei schien ihm ein Recht auf Liebe -zu haben.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>ie jungen Leute aber verweigerten ihr die ihre durchaus -nicht und waren erstaunt, daß Clerambault so wenig -Begeisterung für das neue Idol aus dem Norden zeigte, -für die Diktatur des Proletariats. Sie hielten sich nicht -lange bei vorsichtigen Bedenken und halben Maßregeln auf, -um die Welt glücklich zu machen — auf ihre Art, wenn nicht -auf die seine —, sie diktierten gleich im ersten Anlauf die -Unterdrückung jeder Freiheit, die ihrer Idee von Freiheit -entgegengesetzt wäre. Die abgesetzte Bourgeoisie sollte des -Versammlungsrechtes, des Stimmrechtes, des Rechtes der -öffentlichen Meinungsäußerung beraubt werden.</p> - -<p>„Schön“, sagte Clerambault, „aber dann wird sie das -neue Proletariat werden. Dann ändert nur die Gewalt -ihren Posten.“</p> - -<p>„Aber das wird nur eine Zeitlang dauern. Wir werden -die letzte Unterdrückung sein, die eben die Unterdrückung in -alle Ewigkeit töten wird.“</p> - -<p>„Ja, immer der Krieg für Recht und Freiheit; immer -der letzte Krieg, der den Krieg für alle Zeiten töten soll. -Aber er befindet sich bisher recht wohl, und das Recht wie -die Freiheit bekommen dabei ihre Fußtritte.“</p> - -<p>Sie protestierten unwillig gegen den Vergleich. Sie sahen -im Krieg, und an denen, die ihn führten, nur Gemeinheit.</p> - -<p>„Und doch“, sagte Clerambault sanft, „haben eine ganze -Reihe von euch mitgetan und fast alle daran geglaubt.... -Nein, nein, protestiert nicht! Auch in dem Gefühl, das euch -damals dazu trieb, war etwas Edles. Man zeigte euch ein -Verbrechen, und ihr seid darauf losgegangen, um es zu -vernichten. Euer Eifer war wundervoll. Nur habt ihr geglaubt, -es gäbe nur dieses eine Verbrechen, und hätte man -das aus der Welt geschafft, so würde sie unschuldig und -rein sein wie im goldenen Zeitalter. Die selbe seltsame Naivität -ist mir schon in der Zeit der Dreyfusaffäre aufgefallen. -Damals war es so, als ob alle anständigen Leute -Europas (ich gehörte auch dazu) noch nie gehört hätten, daß -bisher jemals ein Unschuldiger ungerechter Weise verurteilt -worden sei. Ihr ganzes Leben war von dieser Erkenntnis -einfach umgestürzt, und sie setzten das Weltall in Bewegung, -um diesen Flecken auszutilgen.... Mein Gott, als die Wäsche -fertig war — eigentlich wurde sie ja nicht einmal fertig, -denn die Wäscher wurden müde mitten in der Arbeit und -der Reingewaschene selbst auch — nun, da war die ganze -Welt genau so schmutzig wie vorher. Es scheint eben, daß -der Mensch nicht fähig ist, die Gesamtheit des menschlichen -Elends mit seinem Blick zu umfassen. Er hat zu viel -Angst, die Ungeheuerlichkeit des Bösen zu sehen, und -um davon nicht ganz niedergeschmettert zu sein, sucht er -sich immer irgendeine einzelne Sache aus, lokalisiert in ihr -das ganze Böse der Welt und hütet sich, auf alles andere zu -schauen. Das alles, meine Freunde, ist mir verständlich, -weil es menschlich ist. Aber man muß eben mehr Mut haben. -In Wirklichkeit ist das Böse überall, beim Feinde sowohl, -wie bei uns selbst. Ihr habt es allmählich in unserem -Staatswesen entdeckt und jetzt wendet ihr euch mit der -gleichen Leidenschaft, die früher alles Böse nur im Feinde -sah, gegen die Regierungsformen, deren Fehler euch aufgegangen -sind. Erst wenn ihr einmal erkennen werdet, daß diese -Fehler auch in euch sind — und das ist zu befürchten, nach -den Erfahrungen aller Revolutionen, die immer leidenschaftlich -geworden sind, und in denen jene, die das -Recht bringen wollten, schließlich, ohne es selbst recht zu -verstehen, ihre eigenen Hände und ihr Herz beschmutzt -fanden —, dann werdet ihr euch mit einer düsteren Verzweiflung -gegen euch selbst wenden.... Ihr großen -Kinder, wann werdet ihr es euch abgewöhnen, gleich das -Absolute zu wollen.“</p> - -<p>Sie hätten ihm darauf antworten können, man müsse das -Absolute wollen, um das Wirkliche zu erreichen. Für den -Gedanken könne es Nuancen geben, aber die Tat dulde keine. -Clerambault solle sich zwischen ihnen oder ihren Gegnern entscheiden! -Hier gebe es keine Zwischenmöglichkeit.</p> - -<p>Und Clerambault verstand dies. Auf dem Feld der Tat gibt -es keine andere Wahl. Dort ist alles vorausbestimmt. -Ebenso wie der ungerechte Sieg mit notwendiger Gewißheit -die Revanche erzeugt, die dann wieder ihrerseits ungerecht -sein wird, so führt die kapitalistische Unterdrückung -zur proletarischen Revolution, die dann wieder nach ihrem -Vorbild unterdrückt werden wird. Es ist eine Kette ohne -Ende, in der eine eherne Dike waltet, die eine klare Vernunft -erkennt und sogar als ein Weltgesetz ehren kann. Aber das -Herz weigert sich, diese Gesetze anzuerkennen, sich ihnen zu -unterwerfen, denn seine Aufgabe ist es ja, das Gesetz des -ewigen Krieges zu zerbrechen. Wird es ihm jemals gelingen? -... Wer weiß? Jedenfalls ist eines gewiß, daß dieses Hoffen, -dieses Wollen des Herzens außerhalb der gewöhnlichen -Ordnung steht, daß es aus einer überirdischen, aus einer -geradezu religiösen Welt stammt.</p> - -<p>Aber Clerambault, der davon durchdrungen war, wagte -noch nicht, sich dies einzugestehen. Oder er wagte zum mindesten -nicht, das Wort „religiös“ auf sich zu beziehen, das -Wort, das die Religionen von heute — die so wenig religiösen -— diskreditiert haben.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>H</span>atte Clerambault also selbst noch nicht volle Klarheit in -sein Denken gebracht, so war es für seine Freunde noch -schwieriger, sich in seiner Weltauffassung auszukennen. Und -wäre ihnen selbst Gelegenheit dazu geboten gewesen, sie übersichtlich -zu erfassen, so hätten sie sie doch nie verstanden. Sie -konnten es nicht ertragen, daß ein Mann, der so energisch -den momentanen Zustand der Dinge als schlecht und mörderisch -verurteilte, trotzdem nicht ihre radikalsten Maßnahmen -billigte, um diesen Zustand aus der Welt zu schaffen. Von -ihrem Gesichtspunkt, demjenigen der sofortigen Aktion, -hatten sie nicht unrecht. Aber das Feld des Geistigen ist -viel weiter; seine Kämpfe spielen sich in größeren Räumen -ab und verzetteln sich nicht in blutigen Plänkeleien. -Clerambault erkannte das ewige Axiom der Tat „Der Zweck -heiligt die Mittel“ nicht an, selbst nicht unter der Voraussetzung, -daß diese von seinen Freunden gepriesene Kampfmethode -die erfolgreichste sei. Er war im Gegenteil der -Meinung, daß die Mittel für den wirklichen Fortschritt von -höherer Wichtigkeit seien als die Ziele. Denn Ziele ... gibt -es denn wirklich ein endgültiges Ziel?</p> - -<p>Diese allzu umfassende und verschwommene Art des Denkens -erbitterte aber die jungen Menschen und bestärkte sie -in jener gefährlichen Abneigung gegen die Intellektuellen, -die sich seit fünf Jahren bei der arbeitenden Bevölkerung -herausgebildet hatte. Sicherlich hatten die Intellektuellen -nichts Besseres verdient, denn wie weit waren -die Zeiten, wo die Geistigen an der Spitze der Revolutionen -standen! Jetzt schlossen sie sich mit allen reaktionären -Kräften zusammen, und selbst die verschwindend -kleine Zahl derer, die sich außerhalb des Clans gehalten -hatten und seine Irrtümer tadelten, zeigte sich, wie Clerambault, -unfähig, auf ihren Individualismus zu verzichten, -der sie einmal gerettet und nun zu Gefangenen -gemacht hatte. Kaum hatten nun die Revolutionäre die -Unfähigkeit selbst der Besten erkannt, sich den neuen Massenbewegungen -einzuordnen, so gingen sie einen Schritt -weiter und proklamierten den Niedergang der Intellektuellen. -Der Stolz der Arbeiterklasse, der sich schon in -Artikeln und Reden äußerte, ungeduldig, sich wie in -Rußland bald in Taten manifestieren zu können, dieser -Stolz verlangte, daß die Intellektuellen sklavisch ihren proletarischen -Herren gehorchten. Das Seltsamste dabei war, -daß einige unter den Intellektuellen selbst am leidenschaftlichsten -diese Erniedrigung ihres Standes verlangten — sie -hätten gern damit glauben gemacht, daß sie nicht mehr dazu -gehörten und vergaßen es sogar selbst.... Moreau freilich -vergaß es nicht. Aber nur mit noch größerer Bitterkeit -verabscheute er die Klasse, deren Nessushemd ihm auf der -Haut brannte. Seine Erbitterung war ohne Maß.</p> - -<p>Er trug jetzt gegen Clerambault seltsam aggressive Gefühle -zur Schau. Er unterbrach ihn in der Diskussion ohne jede -Höflichkeit, mit einer gewissen Art ironischer und gereizter -Schärfe, daß man oft das Gefühl hatte, er wolle ihn bewußt -verletzen.</p> - -<p>Clerambault nahm es ihm nicht übel. Er war voll Mitleid -mit ihm, denn er wußte, daß Moreau litt, und konnte sich -die Bitterkeit eines hingeopferten jungen Lebens gut vorstellen, -dem die sittliche Nahrung, die für einen fünfzigjährigen -Magen gehört — Geduld und Resignation — -nicht recht munden wollte.</p> - -<p>Eines Abends, als sich Moreau gegen Clerambault besonders -unangenehm gezeigt hatte und doch ihn durchaus nach -Hause begleiten wollte, gleichsam als könnte er sich nicht -entschließen, ihn zu verlassen, und als er da vor sich hinschweigend -und verschlossen an seiner Seite schritt, blieb -Clerambault einen Augenblick stehen und sagte, indem er -freundschaftlich seinen Arm nahm, lächelnd:</p> - -<p>„Mein armer Junge, dir geht es wohl nicht gut?“</p> - -<p>Moreau war verdutzt, raffte sich zusammen und fragte -trockenen Tones, woran man denn merken könnte, daß -„es nicht gut ginge“.</p> - -<p>„Nun daran, daß Sie so bösartig waren heute abend“, -antwortete Clerambault gutmütig.</p> - -<p>Moreau protestierte.</p> - -<p>„O doch! Was für Mühe haben Sie sich gegeben, um mir -weh zu tun: Ja, doch, ein wenig, nur ein ganz klein wenig.... -Ich weiß es sehr gut, daß Sie es nicht ganz ernstlich -wollen, aber wenn ein Mensch wie Sie einen andern -leiden machen will, so ist das ein Zeichen, daß er selber -leidet.... Habe ich nicht recht?“</p> - -<p>„Verzeihen Sie mir“, sagte Moreau, „es ist wahr. Mir -tat es weh, zu sehen, daß Sie nicht an unsere Aktion -glauben.“</p> - -<p>„Und Sie selbst?“ fragte Clerambault.</p> - -<p>Moreau verstand nicht.</p> - -<p>„Und Sie selbst“, wiederholte Clerambault, „glauben Sie -denn daran?“</p> - -<p>„Und ob ich daran glaube“, rief Moreau entrüstet.</p> - -<p>„Aber nein“, sagte Clerambault ganz sanft.</p> - -<p>Moreau war nahe daran, zornig auszubrechen. Dann sagte -er nachgiebiger: „Doch, durchaus!“</p> - -<p>Clerambault war weitergegangen.</p> - -<p>„Nun gut“, sagte er, „das ist ja Ihre Sache, Sie müssen -ja besser wissen als ich, was Sie eigentlich glauben.“</p> - -<p>Sie gingen nebeneinander her, ohne zu sprechen. Nach -einigen Minuten faßte Moreau Clerambault am Arm und -sagte:</p> - -<p>„Wieso konnten Sie das wissen?“</p> - -<p>Sein Widerstand war gebrochen. Er enthüllte die Verzweiflung, -die sich unter seinem aggressiven Willen zur -Gläubigkeit und zur Tat verbarg. Innerlich war er von Pessimismus -zerfressen, der ja immer eine natürliche Folge -jedes in seinen Illusionen schmerzhaft enttäuschten, übermäßigen -Idealismus ist. Die religiöse Seele von einst war -ganz ruhevoll: sie stellte das Gottesreich hinüber in ein -Jenseits, das kein irdisches Geschehnis erreichen oder zerstören -konnte. Aber die religiöse Seele von heute, die das -Gottesreich mitten in unsere Welt stellen will und es auf -dem Grunde der menschlichen Vernunft und der Liebe aufbaut, -die wird lebensüberdrüssig, sobald das Leben ihren -Traum einstürzen läßt. Es gab Tage, wo Moreau sich am -liebsten die Adern aufgeschnitten hätte! Die Menschheit -schien ihm wie eine faulende Frucht, voll Verzweiflung sah -er den Zusammenbruch, den Untergang, die Niederlage, -die von allem Anfang im Schicksal der menschlichen Rasse -wie ein Wurm in der Frucht eingesponnen sitzt, und er -konnte die Idee dieses unsinnigen und tragischen Schicksals, -dem die Menschen nie entrinnen werden, nicht ertragen. -Wie Clerambault fühlte er in seinen Adern das -Gift des Wissens und der Vernunft; aber indes Clerambault -die Krise überstanden hatte und die Gefahr nur in -der Zügellosigkeit des Geistes sah und nicht schon in seinem -Wesen, war Moreau von der Vorstellung besessen, die -Vernunft sei selbst schon von Gift durchtränkt. Seine -krankhaft erregte Phantasie erschöpfte sich selbstquälerisch -in immer neuen Vorstellungen, sie zeigte ihm die Menschheit -mit dem unauslöschlichen Brandmal der Krankheit ihrer -Geistigkeit behaftet. Im vorhinein sah er alle Möglichkeiten -von Katastrophen, denen sie zudrängte. Sah man denn -nicht schon das tragische Schauspiel, wie die Vernunft vor -Hochmut taumelte angesichts der ihr von der Wissenschaft -ausgelieferten Gewalten, angesichts jener Dämonen der -Natur, die ihr durch die magische Formel der Chemie untertan -waren, und wie sie in Verwirrung über die zu rasch -überhandnehmende Macht diese zu ihrem eigenen Selbstmord -mißbrauchte?</p> - -<p>Aber Moreau war zu jung, um unter dem Druck solcher Wahnvorstellung -zu verbleiben. Man mußte etwas tun, etwas tun -um jeden Preis, um nicht allein mit dieser Vision zu bleiben.</p> - -<p>„Nein, hindern Sie uns nicht an der Tat! Im Gegenteil, -feuern Sie uns dazu an!“</p> - -<p>„Mein Freund“, sagte Clerambault, „man darf die anderen -nur dann zu einer gefährlichen Tat ermutigen, wenn man -selber mittut. Mir sind die Aufhetzer, selbst wenn sie aufrichtig -sind, unerträglich, all jene, die andere treiben, Märtyrer -zu werden, ohne selbst das Beispiel zu geben. Es gibt -nur einen Typus des wahrhaft heiligen Revolutionärs: -das ist der Gekreuzigte. Aber nur sehr wenige Menschen -sind für die Aureole des Kreuzes geboren. Der -Hauptfehler besteht darin, sich selbst übermenschliche und unmenschliche -Pflichten zu setzen. Es ist ungesund für die -Mehrheit der Menschen, sich zum Übermenschen erheben -zu wollen, und vielleicht für sie selbst nur eine Quelle unnützer -Qualen. Aber jeder Mensch kann trachten, in seinem -kleinen Kreise das innere Licht auszustrahlen, Ordnung, -Frieden und Güte. Und das ist das wahre Glück.“</p> - -<p>„Aber das genügt mir nicht“, sagte Moreau. „Das läßt -zuviel Raum für den Zweifel. Alles oder nichts.“</p> - -<p>„Ja, eure Revolution hat keinen Raum für den Zweifel. -Für euch heiße und harte Herzen, für euch geometrische Gehirne -heißt es: alles oder nichts. Nur keinen Übergang! -Aber, was wäre das Leben ohne Übergänge? Sind sie denn -nicht seine Schönheit und seine Güte? Eine zerbrechliche -Schönheit freilich, eine kraftlose Güte, überall Schwäche -und Hunger nach Liebe. Man muß lieben, man muß -helfen, Tag für Tag und Schritt für Schritt. Die Welt verwandelt -sich nicht mit einem Schlag und niemals ganz, -weder durch Gewaltstreiche, noch durch Gnadenstöße. Aber -Sekunde für Sekunde geht sie ins Unendliche hinüber, und -der schlichteste Mann, der das fühlt, hat Teil an der Unendlichkeit. -Nur Geduld! Eine einzige Ungerechtigkeit, die -man beseitigt, erlöst noch nicht die Menschheit, aber sie verklärt -einen Tag. Und es werden andere kommen und andere -Verklärungen, und jeder Tag bringt seine Sonne. -Möchten Sie das verhindern?“</p> - -<p>„Wir können nicht warten“, sagte Moreau. „Wir haben -keine Zeit. Jeder Tag, den wir leben, stellt uns Probleme, -die uns ganz aufzehren und die wir sofort lösen -müssen. Wenn wir sie nicht beherrschen, werden wir ihnen -untertan. Wir, damit meine ich nicht so sehr unsere Personen, -wir sind ja schon Hingeopferte. Aber alles, was wir -lieben, was uns noch dem Leben verbindet: die Hoffnung -auf die Zukunft, das Heil der Menschheit.... Fühlen Sie -doch, wie diese quälenden Fragen um aller Zukünftigen -willen uns bedrücken, um aller, die Kinder haben. Dieser -Krieg ist ja noch nicht zu Ende, und es ist nur allzu klar, -daß er durch seine Verbrechen und seine Lügen neue, nahe -Kriege heraufbeschwört. Wofür zieht man Kinder auf? -Wofür wachsen sie heran? Vielleicht für ähnliche Schlächtereien? -Welcher Ausweg ist da möglich? Man hat rasch -ihre ganze Reihe erschöpft.... Man könnte diese toll gewordenen -Nationen, diese närrischen alten Kontinente verlassen -und auswandern, aber wohin? Gibt es denn irgendwo -auf dem Erdball noch fünfzig Joch Erde, die den -freien anständigen Menschen Unterschlupf gewähren? Oder -eine Wahl treffen? Sie sehen wohl, man muß sich entscheiden. -Entweder für die Nation oder für die Revolution. -Was bleibt denn sonst noch? Das Nichtwiderstreben -gegen das Übel? Scheint Ihnen das wünschenswert? -Das hat doch nur einen Sinn, wenn man gläubig ist, -religiös gläubig, sonst wäre es nur die Resignation von -Schafen, die sich hinschlachten lassen. Aber die meisten, -leider Gottes, entscheiden sich für nichts und ziehen es vor, -gar nicht zu denken, schauen krampfhaft von der Zukunft -weg und lügen sich vor, daß das, was sie gesehen und gelitten -haben, nun für ewige Zeiten vorüber sei ... Darum -müssen wir für jene eine Entscheidung fällen, ob sie wollen -oder nicht, sie nach vorwärts treiben, sie retten gegen ihren -eigenen Willen. Die Revolution, das sind immer nur einzelne -Menschen, die für die ganze Menschheit etwas wollen.“</p> - -<p>„Mir paßte es nicht sehr“, antwortete Clerambault, „wenn -jemand anderer für mich wollte, und ebensowenig, -für einen anderen zu wollen. Ich möchte lieber jedem helfen, -frei zu sein, und selbst der Freiheit keines anderen Menschen -im Wege stehen. Aber ich weiß, ich verlange zuviel.“</p> - -<p>„Sie verlangen das Unmögliche“, sagte Moreau. „Wenn -man einmal beginnt, zu wollen, darf man nicht auf halbem -Wege stehen bleiben. Es gibt nur zwei Arten Menschen: -diejenigen, welche zuviel wollen — Lenin und alle Großen -(es gibt ihrer wohl kaum mehr als zwei Dutzend in der -ganzen Weltgeschichte) und dann die anderen, die zu wenig -wollen, die das Wollen nicht verstehen. Das ist der große -Rest, das sind wir, das bin ich selbst.... Sie haben es nur -zu gut erkannt.... Mein ganzer Wille kommt nur aus Verzweiflung.“</p> - -<p>„Warum denn verzweifeln?“ sagte Clerambault. „Das -Schicksal des Menschen formt sich jeden Tag und keiner -kennt es. Unser Schicksal ist das, was wir sind. Sind wir -mutlos, so entmutigen wir es.“</p> - -<p>Aber Moreau sagte niedergeschlagen:</p> - -<p>„Nein, wir werden nicht stark genug sein, wir werden nicht -stark genug sein.... Glauben Sie, ich wüßte nicht, was für -lächerlich geringe Erfolgsaussichten bei uns jetzt die Revolution -hat? Jetzt, in der gegenwärtigen Zeit, nach den -Verwüstungen, der ökonomischen Vernichtung, der Demoralisation, -der tödlichen Müdigkeit, nach all diesen Dingen, -die von den vier Kriegsjahren verschuldet sind?“</p> - -<p>Und er fügte das Geständnis bei:</p> - -<p>„Ich habe schon das erstemal gelogen, als ich Sie sah, als -ich behauptete, alle meine Kameraden fühlten so stark wie -wir das Leiden und die Erbitterung darüber. Gillot hat -Sie richtig belehrt: wir sind nur ganz wenige. Die anderen -sind meistens gute Kerle, aber schwache, schwache Naturen ... -Sie beurteilen die Dinge ziemlich richtig, aber statt mit -dem Kopf gegen die Mauer zu rennen, ziehen sie vor, lieber -gar nicht daran zu denken und sich mit Ironie schadlos zu -halten. Ach, dieses französische Lachen, das ist unser Reichtum -und auch unser Untergang! Es ist ja so schön, aber eine wie -gute Handhabe für alle Unterdrücker. „Mögen sie Spottlieder -singen, wenn sie nur ihre Steuern zahlen“, sagte jener -Italiener, und bei uns heißt es: „Mögen sie lachen, wenn sie -nur sterben.“ Dazu kommt noch diese furchtbare Anpassungsfähigkeit, -von der Gillot zu Ihnen sprach. Man kann den -Menschen zu den tollsten und qualvollsten Lebensbedingungen -treiben — wenn sie nur lange genug dauern und er sie -innerhalb der Herde mitmacht, so gewöhnt er sich an alles, -an das Warme und an das Kalte, an den Tod und das -Verbrechen. Die ganze Kraft, die für den Widerstand nötig -wäre, verbraucht man auf die Gewöhnung, und dann rollt -man sich in irgendeine Ecke, ohne sich zu rühren, aus Angst, -man könne mit irgendeiner Veränderung die eingeschläferte -Qual wieder aufwecken. Ach, es lastet eine solche Müdigkeit -auf uns allen! Wenn die Soldaten zurückkommen werden, -dann werden sie nur einen Wunsch haben: zu vergessen und -zu schlafen.“</p> - -<p>„Und Lagneau, der Hitzkopf, der Tollkopf, der davon redet, -alles krumm und klein zu schlagen?“</p> - -<p>„Lagneau? Den kenne ich seit Kriegsausbruch. Ich habe -gesehen, wie er eins nach dem andern war, Kriegsbegeisterter, -Revanchetrompeter, Annexionist, Internationaler, Sozialist, -Anarchist, Bolschewist und „<span class='it'>Je-m’en-fichiste</span>“. Er -wird schließlich als Reaktionär enden und sich wieder hinausschicken -lassen, um sich mit Hurra und Heil auf jeden -Feind, den sich die Regierung unter unseren heutigen Feinden -oder Freunden aussuchen wird, zu werfen. Und das -Volk? Es ist unserer Ansicht, aber gleichzeitig auch der Ansicht -der Gegner. Das Volk hat immer hintereinander alle -Ansichten.“</p> - -<p>„Sie sind also Revolutionär aus Verzweiflung?“ sagte -lachend Clerambault.</p> - -<p>„Es gibt viele dieser Art unter uns.“</p> - -<p>„Aber Gillot ist doch aus dem Krieg optimistischer zurückgekommen, -als er jemals war?“</p> - -<p>„Gillot kann vergessen“, sagte bitter Moreau. „Ich neide -ihm dieses Glück nicht.“</p> - -<p>„Aber wir dürfen es ihm nicht zerstören“, sagte Clerambault. -„Helfen Sie Gillot. Er hat Sie nötig.“</p> - -<p>„Mich?“ staunte Moreau ungläubig.</p> - -<p>„Er hat zu seiner Stärke notwendig, daß man an seine -Kraft glaubt. So glauben Sie daran.“</p> - -<p>„Kann man denn glauben wollen?“</p> - -<p>„Sie wissen ja etwas davon.... Nicht wahr, nein, man -kann es nicht ... Aber man kann glauben aus Liebe“.</p> - -<p>„Aus Liebe zu jenen, die gläubig sind?“</p> - -<p>„Glaubt man denn nicht immer nur aus Liebe, kann man -denn anders gläubig sein als aus Liebe?“</p> - -<p>Moreau war gerührt. Seine intellektuelle, von Wissensdurst -brennende und verzehrte Jugend hatte, wie die der -besten in der bürgerlichen Klasse, am Mangel brüderlicher -Zuneigung gelitten. Menschliche Verbrüderung und -Seelengemeinschaft ist ja aus der modernen Erziehung verbannt. -Erst allmählich und mißtrauisch war dieses konstant -unterdrückte Urgefühl in den Schützengräben, in diesen -Gräbern der lebendig zusammengedrängten leidenden -Leiber, wieder erwacht. Aber man hatte Scham, sich ihm -hinzugeben. Die gemeinsame Verhärtung, die Furcht vor -Sentimentalität, die Ironie umkrusteten das Herz. Erst seit -der Krankheit Moreaus war die Umschalung von Stolz -nachgiebiger geworden, und es kostete Clerambault keine -Mühe, sie gänzlich zu zerbrechen. Die Wohltat, die von -diesem Manne ausging, war, daß bei der Berührung mit -ihm die Eigensucht in den Menschen hinschwand, denn er -besaß selbst keine. Man zeigte sich ihm, wie er sich selbst allen -zeigte, mit seiner wahren Natur, seinen Schwächen und all -den Aufschreien, die sonst ein falscher Stolz zu ersticken sucht. -Moreau, der an der Front, ohne es sich offen einzugestehen, -die Überlegenheit seiner Kameraden oder der Unteroffiziere, -also von Menschen aus einer niedrigeren Schicht, erkannt -hatte, fühlte für Gillot Sympathie und war glücklich, daß -Clerambault an sie appellierte. Clerambault hatte seinen -geheimsten Wunsch erweckt, einem andern eine Notwendigkeit -zu sein.</p> - -<p>Und ebenso flüsterte Clerambault Gillot die Anregung ein, -Optimist für zwei zu sein und Moreau zu helfen. So fanden -beide, in ihrem Bedürfnis, dem andern zu helfen, selbst -eine Hilfe nach dem Gesetz des Lebens: „Wer gibt, der hat.“</p> - -<p>In welcher Zeit immer man lebt, und sei es auch eine der -Zertrümmerung, so ist doch nichts verloren, solange noch in -der Seele einer Rasse ein Funke der männlichen Freundschaft -lebendig bleibt. Man muß ihn erwecken, muß die frierenden -einsamen Herzen einander annähern, damit wenigstens -eine der Früchte dieses Völkerkrieges die Vereinigung -der Elite der Klassen, die Verbrüderung der beiden Jugenden -sei — jener aus der Welt der Arbeit und jener aus der des -Gedankens —, die, indem sie sich ergänzen, die Zukunft erneuern -sollen.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>I</span>st der beste Weg zur Einigung der, daß keiner den andern -beherrschen will, so muß auch das Gegenteil gültig -sein, nämlich, daß keiner sich vom andern unterdrücken -lassen darf. Gerade dazu aber trieb diese jungen Intellektuellen -dieser revolutionären Gruppen eine seltsame Eigenliebe. -Sie schulmeisterten verächtlich Clerambault im -Namen des neuen Prinzips, das die Intellektuellen in -den Dienst des Proletariats stellen wollte ... „Dienen, dienen!“ -Das war das Schlußwort des einst so stolzen Richard -Wagner, aber auch das Wort manch eines enttäuschten -Stolzes. Manche wollen, sobald sie sehen, daß sie nicht -Herr sein können, sofort Sklaven sein.</p> - -<p>„Am schwersten ist es in dieser Welt“, dachte Clerambault, -„anständige Menschen zu finden, die einfach meinesgleichen -sein wollen. Sind diese aber unauffindbar und bedarf es unbedingt -einer Tyrannei, so ziehe ich noch diejenige, die einen -Aesop und Epiktet körperlich zu Sklaven machte, aber ihren -Geist vollkommen frei gab, jener vor, die äußere Freiheit -mit Seelenknechtschaft verbindet.“</p> - -<p>Durch diese Unduldsamkeit wurde er sich erst so recht seiner -Unfähigkeit bewußt, sich irgendeiner Partei anzuschließen. -Zwischen den beiden Möglichkeiten, der der Revolution und -der des Krieges, konnte er (und er tat es auch offen) seine -Vorliebe für die Revolution bekunden, denn sie allein bot -ihm eine Hoffnung auf Erneuerung, indes die andere jede -Zukunft tötete. Aber eine Partei vorziehen, bedeutet noch -lange nicht, damit schon seine geistige Unabhängigkeit aufzugeben. -In den Demokratien ist gerade die Auffassung -so irrig und so widersinnig, daß alle die gleichen Pflichten -hätten und dieselben Aufgaben. In einer kämpfenden Gemeinschaft -sind die Aufgaben sehr verschieden. Während der -Hauptteil der Armee dafür ficht, einen sofortigen Erfolg -zu erzielen, müssen andere die ewigen Werte gegen den Sieger -von morgen, wie gegen den von gestern behaupten, -denn sie schreiten ihnen voraus und erleuchten sie alle: ihr -Licht glänzt fernhin auf den Weg, weit hinaus über den -Qualm des Kampfes. Clerambault hatte sich zu lange von -diesem Qualm den Blick trüben lassen, als daß er sich -neuerdings in ein solches Getümmel stürzen wollte. Aber -in dieser Welt der Blinden ist schon die Bemühung, sehen -zu wollen, ein Ungehöriges und vielleicht sogar ein Verbrechen.</p> - -<p>Diese ironische Wahrheit wurde ihm während einer Unterhaltung -so recht bewußt, in der einer dieser kleinen Saint-Justs -ihm gerade den Text gelesen und ihn recht frech mit dem -„Astrologen, der sich in die Tiefe des Brunnens fallen ließ“, -verglichen hatte.</p> - - - <div class='poetry-container' style=''> - <div class='lgp'> <!-- rend=';' --> -<div class='stanza-outer'> -<p class='line0'><span class='it'>... On lui dit: Pauvre bête,</span></p> -<p class='line0'><span class='it'>Tandis qu’à peine à tes pieds tu peux voir,</span></p> -<p class='line0'><span class='it'>Penses-tu lire au-dessus de ta tête?</span></p> -</div> -</div></div> <!-- end poetry block --><!-- end rend --> - -<p class='noindent'>Und da er nicht humorlos war, fand er den Vergleich nicht -ganz unberechtigt. Gewiß, er gehörte ein wenig der Gemeinschaft -jener an....</p> - - - <div class='poetry-container' style=''> - <div class='lgp'> <!-- rend=';' --> -<div class='stanza-outer'> -<p class='line0'><span class='it'>... De ceux qui bayent aux chimères,</span></p> -<p class='line0'><span class='it'>Cependant qu’ils sont en danger,</span></p> -<p class='line0'><span class='it'>Soit pour eux soit pour leurs affaires....</span></p> -</div> -</div></div> <!-- end poetry block --><!-- end rend --> - -<p class='noindent'>Aber wollte denn diese Republik auf die Astrologen verzichten, -wie die erste Republik noch auf die Chemiker? Oder -meint ihr sie in Reih und Glied disziplinieren zu können? -Dann ist zu erwarten, daß wir alle zusammen in den -Grund des Brunnens hineinfallen. Wollt ihr das wirklich? -Ich würde nicht Nein sagen, handelte es sich nur darum, -euer Schicksal zu teilen. Aber euern Haß will ich -nicht teilen!</p> - -<p>„Auch Sie haben Ihren Haß“, antwortete ihm einer der -jungen Leute.</p> - -<p>Gerade in diesem Augenblick trat ein anderer mit einer -Zeitung in der Hand herein und rief Clerambault zu: -„Meinen Glückwunsch, Ihr Feind Bertin ist tot....“</p> - -<p>Der reizbare Journalist war innerhalb weniger Stunden von -einer ansteckenden Lungenentzündung dahingerafft worden. -Seit sechs Monaten hatte er wütend alle jene verfolgt, die er -im Verdacht hatte, den Frieden zu suchen oder auch nur zu -wünschen. Denn allmählich war er dazu gekommen, nicht -nur im Vaterlande, sondern auch im Kriege selbst eine -heilige Sache zu sehen. Unter den Opfern seiner Böswilligkeit -war Clerambault sein beliebtestes. Bertin konnte nicht -verzeihen, daß er gewagt hatte, seinen Angriffen standzuhalten. -Die Erwiderung Clerambaults hatte ihn anfangs -wütend gemacht. Als Clerambault aber dann verächtlich auf -seine Anschuldigungen und Beschimpfungen kein Wort mehr -erwiderte, verlor er jedes Maß. Seine gewaltsam aufgeblähte -übermütige Eitelkeit war davon so verletzt, daß einzig -die vollständige, restlose Vernichtung des Gegners ihn noch -befriedigen konnte. Clerambault erschien ihm nicht mehr -bloß als persönlicher Feind, sondern als Feind des Staates, -als Hochverräter, und er setzte alle Mühe daran, dafür Beweise -zu erbringen, stempelte ihn zum Zentrum eines großen -pazifistischen Komplotts, dessen Lächerlichkeit zu jeder anderen -Zeit jedem in die Augen gesprungen wäre. Aber damals -hatte man keine Augen mehr. Gerade in den letzten -Wochen überstieg die Polemik Bertins in Ansprung und -Heftigkeit alles, was er bisher geschrieben hatte. Sie bedeutete -eine wirkliche Drohung für all jene, die der Ketzerei -des Friedenswillens schuldig oder verdächtig waren.</p> - -<p>Mit lärmender Befriedigung wurde daher die Nachricht -von seinem Tode in der kleinen Versammlung aufgenommen, -und man hielt ihm seine Grabrede in einer Tonart, -die an Energie nichts den Meistern dieser Gattung -nachgab. Clerambault, in die Zeitung vertieft, hörte kaum -zu, als einer, der an seiner Seite saß, ihm auf die Schulter -klopfte und sagte:</p> - -<p>„Nicht wahr, das macht Ihnen Vergnügen?“</p> - -<p>Clerambault fuhr auf.</p> - -<p>„Vergnügen!“ sagte er. „Vergnügen!“ wiederholte er.</p> - -<p>Er nahm seinen Hut und ging weg.</p> - -<p>Er trat auf die dunkle Straße, deren Lichter wegen eines -Luftangriffalarms abgelöscht waren.</p> - -<p>In seinen Gedanken sah er ein feines Knabengesicht voll -warmer Blässe, mit schönen, zärtlichen, braunen Augen, gelocktem -Haar, belebtem und lachendem Munde, mit klingendem -Stimmfall.... Bertin zur Zeit ihrer ersten Begegnung, -als sie beide noch siebzehn Jahre alt waren. Und -er gedachte ihrer langen, einsamen Nachtwachen, ihrer teuren -Vertrautheit, ihrer Gespräche und Träume — denn -auch Bertin träumte damals. Trotz all seines praktischen -Sinnes, seiner frühreifen Ironie konnte er sich nicht unerfüllbarer -Hoffnungen erwehren, nicht der edlen Projekte -für eine neue Menschheit. Ach, wie die Zukunft doch ihren -Kinderblicken schön erschienen war, und wie bei solchen Visionen -in verzückten Augenblicken ihre beiden Herzen sich -leidenschaftlich in liebender Freundschaft hingaben!</p> - -<p>Und was hatte nun das Leben aus ihnen beiden gemacht! -Was für eine hartnäckige Erbitterung, was für ein haßvolles -Bestreben Bertins, seine eigenen Träume von einst -und den Freund, der ihnen treu geblieben, zu Boden zu -stampfen! Und er selbst, Clerambault, der sich vom gleichen -mörderischen Sturm hinreißen ließ, und versuchte, Schlag -auf Schlag den Gegner blutig zu treffen... der — voll -Entsetzen gestand er sich’s ein — im ersten Augenblick, als -er vom Tode des einstigen Freundes hörte, eine Art Erleichterung -empfunden hatte.... Was für ein Dämon -wirkt doch in uns, was für schlechte Instinkte steigen in uns -auf?</p> - -<p>In diesen Gedanken verloren, hatte er seinen Weg verfehlt. -Er bemerkte, daß er in die entgegengesetzte Richtung -ging, statt nach Hause. Vom Himmel her, der vom Lichtkeil -der Scheinwerfer durchschnitten war, hörte man furchtbare -Explosionen. Zeppeline waren über der Stadt. Von den -Festungswerken donnerten die Kanonen, Luftkämpfe spielten -sich ab. Wofür zerrissen sich denn diese rasenden Völker? -Um alle dorthin zu gelangen, wo jetzt Bertin war, in jenes -Nichts, das gleichermaßen alle Menschen und alle Vaterländer -erwartet, sie und alle anderen, die Revolutionäre, die -andere Gewalttätigkeiten vorbereiten, andere mörderische -Ideale den bisherigen entgegenstellen, neue Götzen der -Schlächterei, die der Mensch sich selbst unablässig erschafft, -um seine bösen Instinkte zu adeln.</p> - -<p>Mein Gott, fühlen sie denn nicht die Dummheit ihres rasenden -Tuns, im Angesicht der Sterbenden, mit deren jedem -die ganze Menschheit in den Abgrund stürzt? Wie können -Millionen Wesen, die doch nur einen Augenblick zu leben -haben, sich so abmühen, diesen Augenblick durch ihren erbitterten -und lächerlichen Ideenkampf sich so zur Hölle zu -machen? Bettler sind sie alle, die einander für eine Handvoll -Kupfermünzen, die man ihnen hinwirft und die überdies -falsch sind, gegenseitig erschlagen! Alle sind sie gleicher -Weise verurteilte Opfer, und statt sich zusammenzuschließen, -kämpfen sie wider einander.... Ach, ihr Unglücklichen, -geben wir einander doch den Friedenskuß! Auf jeder Stirn, -die an mir vorübergleitet, sehe ich den Schweiß des Todeskampfes....</p> - -<p>Aber ein Menschenhaufen, Männer und Weiber, an denen -er vorüberkam, brüllte und heulte vor Freude.</p> - -<p>„Er fällt! Einer fällt! Die Schweinehunde verbrennen!...“</p> - -<p>Und die beutegierigen Vögel wiederum, die da oben schwebten, -jauchzten in ihrem Herzen bei jedem Todeswurf, den -sie über die Stadt säten. Waren sie nicht wie Gladiatoren, -die sich gegenseitig in der Arena die Brust durchstoßen, nur -damit ein unsichtbarer Nero zufrieden sei?</p> - -<p>Oh, meine armen Brüder in Ketten!</p> - -<hr class='pbk'/> - -<div><h1>Fünfter Teil</h1></div> - -<hr class='pbk'/> - -<div class='blockquote-right30percent'> - -<p class='noindent'><span class='it'>They also serve who only -stand and wait.</span> <span class='gesp'>Milton</span></p> - -</div> - -<p><span class='dropcap'>N</span>och einmal fand er sich in der Einsamkeit wieder. Nun -aber schien ihm die Einsamkeit, so wie er sie nie gesehen, -schön und still, mit einem gütigen Antlitz, zärtlichen -Augen und sanften Händen, die ihre beruhigende Kühle auf -seine Stirn legten. Und diesmal wußte er, daß die göttliche -Gefährtin ihn erwählt hatte.</p> - -<p>Es ist nicht jedermanns Sache, allein zu sein. Viele klagen -mit einem geheimen Stolz darüber, es zu sein, und durch -Jahrhunderte klingt diese Klage, aber sie beweist, den -Klagenden unbewußt, daß sie nicht Erwählte der Einsamkeit -waren, nicht ihre Vertrauten. Sie haben nur die -erste Tür aufgetan und warten gelangweilt im Vorraum. -Doch sie haben nicht die Geduld gehabt zu warten, bis sie -an die Reihe kamen, einzutreten, oder ihr Aufbegehren hat sie -wieder ausgestoßen. Man dringt nicht in das Herz der -Einsamkeit ohne die Gabe der Gnade oder ohne fromm erduldete -Prüfung. Es tut not, vor der Türe den Staub des -Weges zurückzulassen, die lärmenden Stimmen der Außenwelt, -die kleinen eigensüchtigen, eitlen Gedanken, den klagenden -Aufruhr enttäuschter Liebe und verwundeten Strebens. -Gleich den reinen orphischen Schatten, deren sterbende -Stimme uns auf goldenen Täfelchen erhalten blieb, muß -man nackt und allein die „dem Kreise der Schmerzen entflohene -Seele der eisigen Quelle darbieten, die dem See -des Erinnerns entspringt.“</p> - -<p>Es ist das Wunder der Auferstehung. Wer seinen sterblichen -Leib verläßt und meint, alles verloren zu haben, entdeckt, -daß er erst jetzt in sein wahres Wesen tritt. Und nicht -nur er selbst, auch die anderen sind ihm nun zurückgegeben, -und er sieht, daß er sie bis jetzt noch nie besessen. Draußen -im Getümmel konnte er nie über die Köpfe der Nächsten -hinwegsehen und selbst dem Nächsten, der, gegen seine Brust -gepreßt, ihn fortschob, konnte er nicht lange in die Augen -schauen. Es fehlt an Zeit und fehlt an Abstand. Man spürt -nur das Zusammenstoßen von Körpern, die sich in ihren gemeinsam -enggedrängten Schicksalen zerpressen und die der -dichte Strom des Massenschicksals weiterdrängt. Seinen -Sohn hatte Clerambault erst erkannt, als er schon tot war. -Und die flüchtige Stunde, da er und seine Tochter sich erfühlten, -war jene, wo schon alle Bande des verhängnisvollen -Wahns vom Übermaß des Schmerzes gelöst waren.</p> - -<p>Nun da er auf dem Weg allmählichen Ausschaltens und Auslesens -in die Einsamkeit gelangt und, wie man meinen sollte, -von der Leidenschaft der Lebendigen abgeschieden war, nun -fand er sie alle wieder in einer leuchtenden Vertrautheit. -Alle, nicht nur die Seinen, seine Frau, seine Kinder, sondern -alle die Wesen, die er bisher irrig mit seiner schönrednerischen -Liebe zu umfassen gemeint hatte — alle malten sich auf dem -Grunde seiner inneren Dunkelkammer ab. Am nächtigen -Strom des Schicksals, der die Menschheit hinreißt, des -Schicksals, das er mit ihr selbst verwechselt hatte, schienen -ihm die Millionen Kämpfender wie ringende Balken in der -Flut, und jeder Mensch war für sich eine Welt von Freude -und Leiden, Traum und Bemühung. Und jeder Mensch war -auch das Ich. Ich neige mich über ihn und sehe mich selbst. -„Ich“ sagen mir seine Augen, „Ich“ sagt mir sein Herz. -Ach, wie ich euch jetzt verstehe, wie doch eure Irrtümer die -meinen sind. Selbst in der Erbitterung jener, die mich bekämpfen, -erkenne ich dich, mein Bruder, ich lasse mich nicht -täuschen: ich bin es selbst.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>V</span>on nun ab begann Clerambault die Menschen nicht mehr -mit seinen Augen zu sehen, mit den Augen unter seiner -Stirn, sondern mit seinem Herzen. Er sah sie nicht mehr -mit seiner Idee als Pazifist, als Tolstoianer (was ja nur -wiederum ein anderer Wahn ist), sondern aus dem Denken -jedes einzelnen heraus, indem er sich in ihn verwandelte. -Und er entdeckte, er durchschaute die Menschen seiner Umgebung, -gerade diejenigen, die ihm die feindlichsten waren, -die Intellektuellen und die Politiker, er sah ihre Falten, -ihre weiß gewordenen Haare, den bitteren Zug um den -Mund, ihren gekrümmten Rücken und ihre gebrechlichen -Beine, sah, wie sie angespannt, angekrampft waren und jeden -Augenblick in Gefahr, zusammenzubrechen.... Wie waren -sie doch gealtert in den letzten sechs Monaten! Im Anfang hatte -die Kampfbegeisterung sie noch aufgestrafft, aber je länger -der Krieg fortdauerte, je mehr (was immer auch für einen -Ausgang er nehmen würde) seine ungeheuren Verheerungen -zur Gewißheit wurden, desto mehr lastete auf jedem die -Trauer um Gefallene und die Furcht, das Wenige, was ihm -geblieben war und das für ihn ein Unendliches bedeutete, zu -verlieren. Sie taten alles, um ihre Angst nicht zu verraten, -mit der äußersten Qual preßten sie die Zähne zusammen, aber -selbst bei den Gläubigsten unter ihnen war die Wunde des -Zweifels offen.... Freilich, man mußte schweigen! Darüber -durfte man nicht sprechen; es aussprechen, hieß sich selbst vernichten.... -Clerambault, der sich an Madame Mairet erinnerte, -gelobte sich, von Mitleid durchdrungen, zu schweigen. -Aber es war schon zu spät, man kannte seine Anschauungen, -er war gewissermaßen die lebendige Verneinung, das wandelnde -Gewissen. Man haßte ihn, aber Clerambault war -ihnen darum nicht mehr böse. Am liebsten hätte er ihnen -geholfen, ihre Illusionen wieder neu aufzubauen.</p> - -<p>Von welch tragischer Größe, wie bemitleidenswert wird doch -diese Leidenschaft einer Überzeugung im Innern einer Seele -gerade dann, wenn sie sich selbst ihrer nicht mehr sicher fühlt. -Bei den Politikern bedient sich diese Leidenschaft des lächerlichen -Apparats der scharlatanhaften Deklamation, bei den -Intellektuellen des tollen Trotzes krankhaft überreizter Gehirne. -Aber des ungeachtet sah man überall die unheilbare -Wunde, hörte den Angstschrei nach Gläubigkeit, den Schrei -nach dem heroischen Wahn. Bei den jungen und schlichteren -Menschen nahm diese Gläubigkeit einen rührenden -Charakter an, bei ihnen gab es nicht dieses Pathos, dieses -vorgetäuschte Allwissen. Nur den Schwur ekstatischer Liebe -kannte sie, die alles hingegeben hat und dafür nur ein Wort -erwartet, die Antwort: „Ja, es ist wahr, du lebst, meine Geliebte, -mein Vaterland, du göttliche Macht, die mir das -Leben und alles, was ich liebte, genommen hat....“ Und -man fühlte ein Verlangen, sich hinzuknien vor diesen armen, -kleinen Trauerkleidern, diesen Müttern, Bräuten und Schwestern, -ihre abgemagerten Hände zu küssen, die vor Hoffnung -und Furcht eines Jenseits zitterten, und zu sagen: „Weint -nicht! Ihr werdet getröstet sein!“</p> - -<p>Aber wie sie trösten, wenn man nicht an jenes Ideal glaubt, -das sie leben läßt und das sie tötet? Ohne daß er sie kommen -gefühlt, war die lange gesuchte Antwort endlich ihm -nahe geworden, die Antwort: „Man muß die Menschen -mehr als den Wahn und mehr als die Wahrheit lieben.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>ie Liebe Clerambaults fand keine Gegenliebe. Niemals -war er mehr attackiert worden, obwohl er schon seit Monaten -keine Zeile mehr veröffentlicht hatte, und im Herbst -1917 erreichten die Angriffe gegen ihn ein ganz unerhörtes -Maß von Gewalttätigkeit. Lächerlich war dieses Mißverhältnis -zwischen der schwachen Stimme dieses einzelnen Mannes -und jenen Wutausbrüchen, doch dieses Mißverhältnis ergab -sich gleicherweise in allen Ländern der Welt. Ein Dutzend armseliger, -isolierter, engumschlossener Pazifisten, die keine Möglichkeit -besaßen, in irgendeiner großen Zeitung zu Worte zu -kommen, und die ihre gewiß rechtliche, aber doch nicht weitklingende -Stimme kaum erheben konnten, entfesselte eine -wahre Frenesie von Beschimpfungen und Drohungen gegen -sich. Beim kleinsten Widerspruch verfiel das vielköpfige Ungeheuer, -die öffentliche Meinung, sofort in Epilepsie. — Der -weise Perrotin, der sich sonst über nichts wunderte, der klug -abseits geblieben war und Clerambault in sein Verderben -rennen ließ (da sein Herz es so wollte), erschrak im stillen -vor diesem aufschäumenden Übermaß tyrannischer Dummheit. -Ist man einmal in der Geschichte um Jahre über -solche Zeiten hinaus, so wird man darüber lächeln, aber von -nahe gesehen, merkte man, daß die menschliche Vernunft damals -dicht vor dem Zusammenbruche stand. Man mußte sich -fragen, warum gerade in diesem Kriege die Menschen viel -allgemeiner ihre Ruhe verloren hatten als in jedem anderen -der Vergangenheit. Ist er denn wirklich gewalttätiger gewesen? -Kinderei! Und bewußtes Vergessen alles dessen, -was zu unserer Zeit vor unseren Augen geschehen ist in -Armenien, auf dem Balkan, bei der Niederdrückung der -Kommune, in Kolonialkriegen und bei den neuen Konquistadoren -Chinas und des Kongos.... Von allen Wesen -der Erde ist, wir wissen es ja, der Mensch das grausamste -Tier. — Oder kam es davon, daß sich die Menschen besonders -auf diesen Krieg vorbereitet hatten? Im Gegenteil! -Die Völker des Abendlandes waren an einem Punkt -der Entwicklung angelangt, wo der Krieg dermaßen absurd -wird, daß es unmöglich ist, ihn bei voller, bewußt bewahrter -Vernunft durchzuführen. Deshalb war es nötig, -die Vernunft zu betäuben, zu delirieren, wollte man nicht -den Tod erleiden, den Tod durch Verzweiflung oder durch den -schwärzesten Pessimismus. Deshalb regte auch die Stimme -eines einzelnen, der seine Vernunft behalten hatte, die anderen, -die alle gewaltsam vergessen wollten, so zum Zorn -auf, denn sie hatten Angst, diese Stimme könne sie selbst -erwecken und sie würden ernüchtert, nackt sich selbst und ihrer -ganzen Schmach ins Auge sehen müssen.</p> - -<p>Überdies war damals die Situation für den Krieg ungünstig. -Die große neuangefachte Hoffnung auf den Sieg -und den Ruhm verflüchtigte sich, denn immer klarer wurde -es, von welcher Seite man auch das Problem betrachtete, -daß der Krieg für alle Beteiligten ein sehr schlechtes Geschäft -sein würde. Weder die materiellen Interessen, noch der -Ehrgeiz, noch der Idealismus schienen auf ihre Rechnung -zu kommen, und diese bittere bald bevorstehende Enttäuschung, -daß Millionen Menschen ohne Resultat aufgeopfert -sein sollten, ließ die Menschen, die sich moralisch verantwortlich -fühlten, vor Wut schäumen. Sie hatten nur zwei Möglichkeiten, -entweder sich selbst anzuklagen oder sich an anderen -zu rächen. Und da fiel ihnen die Wahl natürlich nicht -schwer. Wer diesen Mißerfolg vorausgesehen und alles -daran gesetzt hatte, ihn zu verhindern, den machten sie nun -verantwortlich für das Mißlingen. Jeder Rückzug in der -Armee, jede Dummheit der Diplomaten suchte sich sofort -mit einer pazifistischen Machination zu entschuldigen. Diesen -Menschen, die niemand kannte, die bei niemand beliebt -waren und auf die niemand hörte, schrieben ihre Gegner -eine ungeheure Macht zu, eine ganze Organisation der Niederlage. -Und damit niemand sich darüber täusche, daß sie -nicht den starken Sieg wollten, hing man ihnen das Wort -„Flaumacher“ um den Hals. Es fehlte nur noch, daß man, so -wie einst in der guten alten Zeit die Ketzer, sie auch verbrannte. -Der Henker war noch nicht zur Stelle, wohl aber -die Henkersknechte.</p> - -<p>Um in Schwung zu kommen, hielt man sich zunächst an ungefährliche -Leute, an Frauen, Lehrer, die niemand kannte, -und die sich schlecht zu verteidigen wußten. Dann erst suchte -man sich die saftigeren Bissen aus. Für gerissene Politiker -war das eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich gefährlicher -Rivalen zu entledigen, die einige unangenehme Geheimnisse -ihrer Herren von gestern wußten. Und nach dem alten -Rezept vermischte man dann in geschickter Weise die Anklagen, -nähte gemeine Schwindler und jene Menschen, deren -Charakter oder Geist beunruhigte, in denselben Sack, damit -bei diesem Mischmasch das verdutzte Publikum nicht einmal -mehr versuchen konnte, einen anständigen Menschen von -einem Lumpen zu unterscheiden. Wer noch nicht genügend -durch seine Tätigkeit kompromittiert war, galt dann als -kompromittiert durch seine Bekanntschaften und seine Beziehungen. -Und fehlten auch diese, so konnte man sie ja -herbeischaffen, sie wurden ganz nach Maß des Anklageaktes -jederzeit rasch zurechtgeschnitten.</p> - -<p>War es festzustellen, ob Xavier Thouron im bestellten Auftrage -Clerambault aufsuchte? Es wäre wohl möglich gewesen, -daß er aus eigenem Antrieb kam, freilich, wer konnte -sagen, zu welchem Zweck. Wußte er es selbst? Im Sumpf -der Großstadt gibt es immer skrupellose, fieberhaft tätige -arbeitsscheue Abenteurer, die überall wie die Wölfe herumschnüffeln -und suchen, „<span class='it'>quem devorent</span>“. Ihr Hunger -und ihre Neugier sind ungeheuer und alles dient ihnen -dazu, dieses bodenlose Faß zu füllen. Schwarz oder Weiß, -sie tun alles ohne Gewissensbedenken, sie sind ebenso bereit, -einen ins Wasser zu werfen, wie hineinzuspringen, um ihn -herauszuziehen. Um ihr Leben haben sie keine Angst, sie -wollen nur das Tier in sich füttern und amüsieren. Wenn -solche Menschen nur für einen Augenblick aufhörten, ihre -Grimassen zu schneiden und zu schlingen, würden sie an -Langeweile und Selbstabscheu zugrunde gehen. Aber damit -hat es keine Not, dazu sind sie zu klug; sie verlieren keine -Zeit damit, darüber nachzudenken, wie sie „in Schönheit -sterben“ könnten.</p> - -<p>Niemand hätte recht sagen können, was Thouron eigentlich -wollte, als er Clerambault aufsuchte. Wie immer war -er ausgehungert, herumgehetzt, ziellos und nach einem Braten -schnuppernd. Er gehörte zu den Seltenen seiner Klasse -(und damit zum Typ der großen Journalisten), die, ohne -sich die Mühe zu nehmen, das, worüber sie sprechen, zuvor -zu lesen, sich doch rasch eine lebendige, blendende und oft -wie durch ein Wunder sogar ziemlich richtige Vorstellung -machen können. Ohne zuviel Irrtümer entwickelte er Clerambaults -„Evangelium“ und tat so, als ob er daran -glaube. Vielleicht glaubte er wirklich daran, solange er -sprach. Warum auch nicht? Er war ja auch zu gewissen -Stunden Pazifist. Das hing vom Wind ab, der gerade -wehte, von der Haltung gewisser Kollegen, denen er gerade -nachbetete oder denen er widersprach. Clerambault war von -seinen Worten berührt. Nie hatte er sich ganz das kindliche -Vertrauen in den ersten Besten, der ihn um Hilfe bat, abgewöhnen -können, und dann war er von den gegnerischen -Zeitungen nicht allzu verwöhnt. In der Überfülle des -Herzens ließ er sich also seine geheimsten Gedanken entlocken. -Der andere nahm sie in scheinbarer Ergebenheit auf.</p> - -<p>Eine so eng eingegangene Bekanntschaft konnte nicht auf -diesem Punkt stehen bleiben. Ein Briefwechsel begann zwischen -den beiden, in dem der eine sprach und der andere ihn -zum Sprechen verlockte. Thouron wollte durchaus Clerambault -bereden, seine Gedanken in kleinen populären -Traktaten auszusprechen, und bot sich an, sie in den Arbeiterkreisen -zu verbreiten. Clerambault zögerte und sagte -schließlich nein, und zwar nicht deshalb, weil er aus Prinzip -(wie es heuchlerisch die Anhänger der bestehenden Ordnung -und Ungerechtigkeit tun) die geheime Propaganda einer -neuen Wahrheit mißbilligte, wenn keine öffentliche möglich -war — jede unterdrückte Wahrheit flüchtet sich ins -Unterirdische, in die Katakomben —, sondern er sagte -nein, weil er sich seinerseits für eine solche Form der Wirksamkeit -nicht bestimmt fühlte. Seine Aufgabe war, ganz -offen zu sagen, was er dachte, und die Folgen seiner -Worte auf sich zu nehmen. Das Wort mußte sich dann -durch sich selbst verbreiten — seine Aufgabe konnte -nicht sein, es den Menschen ins Haus zu tragen. Überdies -warnte ihn ein geheimer Instinkt — er wäre errötet, -hätte er sich erlaubt, ihn wach werden zu lassen —, eine -Art von Mißtrauen gegen die dienstfertig angebotene Hilfe -seines neuen Commis voyageur. Freilich konnte er dessen -Eifer nicht immer im Zaume halten. Thouron veröffentlichte -in seiner Zeitung eine Verteidigung Clerambaults, -erzählte darin über seine Gespräche und Besuche, entwickelte -die Gedanken seines Meisters und kommentierte sie. Clerambault -war sehr erstaunt, als er seine eigenen Gedanken -dort las, denn er kannte sie in dieser Form nicht wieder. -Dennoch konnte er aber seine Vaterschaft nicht verleugnen, -denn in die Kommentare Thourons waren Zitate aus seinen -Briefen eingefügt, deren Text vollkommen korrekt war. Freilich -erkannte er sich in diesen noch weniger, denn die selben -Sätze nahmen in den Zusätzen, in die sie eingepfropft -waren, einen Akzent und eine Farbe an, die er ihnen nie -gegeben hatte. Dazu kam, daß die Zensur, besorgt um das -Heil des Staates, hie und da aus den Zitaten eine halbe -Zeile oder ganze Zeilen und ganz unschuldige Absätze herausgeschnitten -hatte, deren Unterdrückung natürlich dem -überreizten Gefühl des Lesers die ungeheuerlichsten Dinge -suggerierte. Die Wirkung dieser Veröffentlichung ließ selbstverständlich -nicht auf sich warten; es war Öl ins Feuer, -und Clerambault wußte nicht, welche Heiligen er anrufen -sollte, um seinen Verteidiger zum Schweigen zu bringen. -Böse konnte er ihm freilich nicht sein, denn Thouron bekam -auch sein gutes Teil an Drohungen und Beschimpfungen -ab, nahm sie aber entgegen, ohne mit der Wimper zu -zucken. Sein Fell war schon von früher reichlich gegerbt.</p> - -<p>Daß sie beide gemeinsam beschimpft worden waren, schien -Thouron ein Verfügungsrecht über Clerambault zu geben. -Zuerst versuchte er, ihm Aktien seiner Zeitung anzuhängen, -und nahm ihn dann, ohne ihn vorher zu verständigen, öffentlich -in das Ehrenkomitee seines Blattes auf. Er war -sehr ungehalten darüber, daß Clerambault, der erst einige -Wochen später davon erfuhr, damit nicht zufrieden war, und -von nun ab erkalteten ihre Beziehungen, obwohl Thouron -nicht aufhörte, deshalb doch von Zeit zu Zeit in seinen Artikeln -den Namen seines „berühmten Freundes“ wie eine Fahne -zu hissen.... Clerambault ließ es ruhig geschehen, überglücklich, -ihn um diesen Preis los zu sein. Und er hatte ihn -schon ganz aus den Augen verloren, als er eines Tages -hörte, Thouron sei verhaftet. Man beschuldigte ihn irgendeiner -schmutzigen Geldangelegenheit, in der die öffentliche -Erregtheit natürlich die Hand des Feindes sehen wollte. -Die dem von höherer Stelle gegebenen Wink immer gehorsame -Justiz fand natürlich zwischen diesen Mogeleien und -der sozusagen pazifistischen Tätigkeit, die Thouron in seinem -Blatte abwechselnd mit plötzlichen Anfällen von Kriegswut -ab und zu, aber nie regelmäßig und bewußt, entwickelt -hatte, Zusammenhänge. Selbstverständlich machte man -ihn zum Teilhaber an dem Defaitistenkomplott. Und die -Beschlagnahme seiner Korrespondenz gab nun gute Gelegenheit, -alle diejenigen zu kompromittieren, die man -gerade kompromittieren wollte. Thouron hatte sich sorgfältig -alle an ihn gerichteten Briefe aufbewahrt, es waren -darunter solche von allen Parteien, und nun konnte man -nach Belieben auswählen. Und man wählte.</p> - -<p>Clerambault erfuhr durch die Zeitungen, daß auch er zu den -Erwählten zählte. Nun jubelten sie! Endlich hatte man -ihn erwischt! Jetzt erklärte sich ja alles. Denn nicht wahr, -dafür, daß irgendein Mensch anders denkt, als die ganze -Welt, dafür muß doch irgendein unterirdischer niedriger Beweggrund -vorhanden sein! Man muß ihn nur suchen, dann -wird man ihn schon finden.... Nun hatte man ihn gefunden. -Ohne weiteres abzuwarten, kündigte ein Pariser -Blatt öffentlich den „Verrat“ Clerambaults an. In den -Akten der Justiz war dafür natürlich kein Beleg, aber die -Justiz ließ es ruhig sagen und berichtigte nicht, es ging sie -ja nichts an. Vergebens bat Clerambault den Untersuchungsrichter, -zu dem er berufen ward, man möchte ihm -doch sagen, was für ein Delikt er begangen habe. Der -Richter war höflich, zeigte alles Entgegenkommen, das -einem Mann seines Namens gebührte, schien aber keine -Eile zu haben, zu einem Ende zu kommen. Es war, als ob -er noch auf irgendetwas wartete ... Worauf?... Auf das -Delikt.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>F</span>rau Clerambault hatte nichts von einer antiken Römerin -oder von dem Geiste der stolzen Jüdin in der berühmten -Affäre, die Frankreich vor ungefähr zwanzig Jahren in -einem leidenschaftlichen Widerspruch zerriß — von jenen -Frauen, die gerade durch die öffentliche Ungerechtigkeit -gegen ihren Mann nur noch enger mit ihm verbunden werden. -Ihr wohnte jener Instinkt ängstlichen Respekts der -französischen Bourgeoisie vor der staatlichen Justiz inne, -und obwohl sie guten Grund hatte zu wissen, daß die Beschuldigungen -gegen Clerambault nicht stichhaltig waren, so -schien ihr die Tatsache selbst, daß er überhaupt unter Anklage -stand, schon eine Unehre, von der sie sich beschmutzt -fühlte. Sie konnte nicht schweigend darüber hinwegkommen. -Clerambault fand als Antwort auf ihre Vorwürfe, -ohne es selbst zu wollen, gerade die Form, die sie am meisten -außer sich brachte. Statt ihr zu entgegnen oder zum mindesten -sich zu verteidigen, sagte er nur:</p> - -<p>„Du Arme.... Ja, ja, ich verstehe dich ja.... Es ist ein Unglück -für dich.... Ja, ja, du hast ja recht ...“</p> - -<p>Und er wartete, bis das Unwetter vorüber war. Diese ruhige -Hinnahme brachte Frau Clerambault, die wütend war, -ihm nicht beikommen zu können, gänzlich aus der Fassung. -Denn sie fühlte vollkommen, daß er nichts an seiner Handlungsweise -ändern würde, obwohl er ihr recht gab. Aus -Verzweiflung ließ sie ihm das letzte Wort und schüttete -ihre ganze Erbitterung vor ihrem Bruder aus. Leo Camus -war der Letzte, ihr zur Nachsicht zu raten, er schlug ihr -vielmehr vor, sich scheiden zu lassen, ja, er stellte ihr dies -sogar als ihre Pflicht hin. Aber das war zuviel verlangt. -Der traditionelle Abscheu vor der Ehescheidung ließ in -dieser braven Bürgerfrau erst so recht das Bewußtsein ihrer -tiefen Treue erwachen. Das Heilmittel schien ihr schlimmer -als das Übel. So blieben die beiden Eheleute beisammen, -aber die Innigkeit ihrer Gemeinschaft war dahin.</p> - -<p>Rosine war fast immer abwesend. Um ihre Qual zu vergessen, -bereitete sie sich für eine Krankenpflegerinprüfung -vor und verbrachte den größten Teil des Tages außerhalb -des Hauses. Aber auch wenn sie daheim war, weilten -ihre Gedanken anderwärts. Clerambault hatte die einstige -Stellung im Herzen seiner Tochter verloren, ein anderer -hatte sie inne: Daniel. Sie blieb kühl gegenüber den zärtlichen -Annäherungen ihres Vaters: es war dies für sie eine -Art, ihn dafür zu bestrafen, daß er absichtslos den Bruch mit -dem Freunde verursacht hatte. Sie war sich vollkommen -dieser Abwehr bewußt und zu gerecht, um sich daraus nicht -einen Vorwurf zu machen. Aber das änderte nichts an -ihrem Verhalten: ungerecht sein erleichtert das Herz.</p> - -<p>Auch Daniel vergaß nicht, daß er unvergessen war. Er -mochte seine Handlungsweise nicht sehr rühmenswert finden -und schob, um allen Gewissensbissen auszuweichen, die Verantwortung -dafür seiner Umgebung zu, deren tyrannischer -Meinungszwang ihn gebunden hätte. Aber im Innersten -war er nicht recht befriedigt.</p> - -<p>Der Zufall kam den beiden schmollenden Verliebten zu -Hilfe. Ernstlich, wenn auch nicht gefährlich verletzt, wurde -Daniel nach Paris zurückgebracht. Während seiner Rekonvaleszenz -begegnete er Rosine vor dem Bon Marché. Er -zögerte einen Augenblick, doch sie tat nicht desgleichen, sondern -kam auf ihn zu; sie gingen zusammen über den Platz -und begannen eine lange Unterhaltung, die nach anfänglichem -Zögern und einem Hin und Her von Vorwürfen und -Geständnissen schließlich zu einer völligen Einigung führte. -Und so sehr waren die beiden in ihre zärtliche Auseinandersetzung -vertieft, daß sie Frau Clerambault nicht vorüberkommen -sahen. Die gute Frau, wütend über diese für sie -unerwartete Begegnung, lief schleunigst nach Hause, die -Neuigkeit Clerambault zu übermitteln, denn trotz ihrer -Unstimmigkeiten konnte sie vor ihm nicht schweigen. Auf ihre -aufgeregte Erzählung — denn die Intimität ihrer Tochter -mit einem Manne, dessen Familie sie beleidigt hatte, schien -ihr unerhört unstatthaft — erwiderte Clerambault nach seiner -neuen Gewohnheit zunächst nichts. Dann lächelte er, hob -den Kopf und sagte schließlich:</p> - -<p>„Das ist ja ausgezeichnet.“</p> - -<p>Frau Clerambault unterbrach sich, zuckte mit den Achseln -und machte Miene, aus dem Zimmer zu gehen. Bei der Tür -aber wandte sie sich noch einmal um und sagte empört:</p> - -<p>„Diese Leute haben dich und deine Tochter beleidigt, und -ihr waret beide einer Meinung, man solle nicht mehr mit -ihnen verkehren. Jetzt macht deine Tochter, die sich von -ihnen hat zurückweisen lassen, ihnen wieder Avancen und -du findest das ausgezeichnet! Das soll der Teufel verstehen.... -Ihr seid ja Narren.“</p> - -<p>Clerambault versuchte ihr zu erklären, daß das Glück seiner -Tochter nicht darin bestünde, seiner Meinung zu sein, und -daß Rosine nur recht hatte, für ihren Teil die Dummheiten -ihres Vaters gutzumachen.</p> - -<p>„Deine Dummheiten ... nun“, sagte Frau Clerambault, -„das ist das erste vernünftige Wort, das du in deinem ganzen -Leben ausgesprochen hast.“</p> - -<p>„Siehst du“, antwortete Clerambault.</p> - -<p>Er ließ sich von ihr versprechen, Rosine nichts zu sagen, -damit sie ganz frei ihren kleinen Liebesroman durchführen -könne.</p> - -<p>Als Rosine heimkehrte, strahlte ihr Gesicht, aber sie erzählte -nichts. Für Frau Clerambault war es eine große -Anstrengung, zu schweigen, Clerambault dagegen beobachtete -mit zärtlichem Behagen, wie das Glück wieder im Gesicht -seiner Tochter strahlte. Er wußte nicht genau, was vorgefallen -war, aber er konnte es sich wohl denken — nämlich, -daß Rosine ihn ganz einfach über Bord geworfen hatte. -Zweifellos hatten die beiden Verliebten sich auf Kosten ihrer -Eltern geeinigt und mit wundervoller Gleichmütigkeit die -gegenseitigen Übertreibungen ihrer alten Leute einander -preisgegeben. Daniel war in den Leidensjahren des Schützengrabens, -ohne in seinem Patriotismus erschüttert zu -sein, doch vom engherzigen Fanatismus seiner Familie frei -geworden, Rosine wiederum — sie handelten Zug um Zug -— hatte sanft zugegeben, daß ihr Vater im Irrtum war. -Ihr frommes und ein wenig gleichgültiges Herz fand sich -leicht mit der stoischen Unterwerfung Daniels unter die herrschende -Ordnung zusammen, und sie hatten beschlossen, gemeinsam -ihren Weg zu gehen, ohne sich weiterhin zu kümmern -um die Zänkereien der Alten, die vor ihnen waren, und -die sie nun hinter sich zurückließen. Über die Zukunft machten -sie sich weiter keine Sorgen. So wie all die Millionen -Wesen verlangten sie von der großen Welt nichts als ihr -Teil an augenblicklichem Glück und schlossen die Augen -vor dem Rest.</p> - -<p>Frau Clerambault war aus dem Zimmer gegangen, verärgert -darüber, daß ihre Tochter nichts von der Begegnung -erzählt hatte. Clerambault und Rosine träumten vor sich -hin, er vor dem Fenster, seine Zigarre rauchend, Rosine eine -Zeitung in der Hand, in der sie nicht las. Vor ihren inneren -Augen versuchte sie, sich noch einmal die Einzelheiten ihrer -eben erlebten Augenblicke wieder vorzumalen, da begegneten -sie dem müden Gesicht ihres Vaters. Es war ein Ausdruck -von Melancholie darin, der sie erschütterte. Sie stand auf, -stellte sich hinter ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter -und sagte mit einem kleinen Seufzer von Mitleid, der aber -doch ihre innere Zufriedenheit nicht ganz verbergen konnte:</p> - -<p>„Armer Papa!“</p> - -<p>Clerambault hob die Augen, sah Rosine an, deren Züge -gegen ihren eigenen Willen noch ganz hell und strahlend -waren.</p> - -<p>„Das kleine Mädchen aber“, sagte er, „ist also nicht mehr -arm?“</p> - -<p>Rosine errötete.</p> - -<p>„Warum sagst du das?“ fragte sie.</p> - -<p>Clerambault drohte mit dem Finger. Rosine neigte sich von -rückwärts über ihn, lehnte ihre Wange an die Wange ihres -Vaters.</p> - -<p>„Es ist also nicht mehr arm?“ wiederholte er.</p> - -<p>„Nein“, sagte Rosine, „im Gegenteil, sie ist jetzt sehr reich.“</p> - -<p>„So sag doch ein wenig, was hat sie alles?“</p> - -<p>„Sie hat ... natürlich zunächst ihren lieben Papa ...“</p> - -<p>„Oh, die kleine Lügnerin“, sagte Clerambault, während er -versuchte, sich von ihr loszumachen und ihr in die Augen -zu sehen.</p> - -<p>Aber Rosine bedeckte ihm die Augen und den Mund mit -der Hand.</p> - -<p>„Nein, ich will nicht, daß du mich anschaust, ich will nicht, -daß du noch weiterredest.“ Und sie umarmte ihn und sagte -dann nochmals, während ihre Hand ihn umschmeichelte:</p> - -<p>„Armer Papa!“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>en Sorgen des Hauses war sie nun glücklich entkommen, -und bald flog sie ganz aus dem Nest. Nach -erfolgreicher Absolvierung ihrer Pflegerinprüfung wurde -sie in ein Provinzspital gesandt: nun fühlten die Clerambaults -noch schmerzlicher die Leere ihres Heims.</p> - -<p>Der Einsamere von ihnen war aber nicht Clerambault. Er -wußte es und beklagte aufrichtig seine Frau, die weder stark -genug war, ihm zu folgen, noch sich von ihm loszulösen. Er -für seinen Teil konnte, was immer auch geschah, auf gewisse -Sympathien zählen, ja, es war sogar gewiß, daß gerade -eine Verfolgung neue erwecken und die bisher zurückgehaltenen -ans Tageslicht bringen würde. Und eben in diesem -Augenblick war eine sehr teure Zuneigung zu ihm gekommen.</p> - -<p>Eines Tages, als er allein in seinem Zimmer saß, läutete -es, er ging hinaus und öffnete die Tür. Eine Dame, die er -nicht kannte, überreichte ihm einen Brief und sagte, er sei -für ihn bestimmt. Im Dunkel des Vorraumes glaubte sie -anfangs, es mit einem Diener zu tun zu haben, und merkte -erst später ihren Irrtum. Er wollte sie bitten, einzutreten, -aber sie sagte:</p> - -<p>„Nein, ich bin nur die Überbringerin.“</p> - -<p>Sie ging wieder fort, aber kaum daß sie gegangen war, bemerkte -er ein kleines Veilchensträußchen, das sie auf den -Schrank bei der Tür hingelegt hatte.</p> - -<p>Im Briefe aber stand:</p> - -<p class='line' style='text-align:center;'>„<span class='it'>Tu ne cede malis, sed contra audentior ito.</span>“</p> - -<p>„Sie kämpfen für uns, und Ihr Herz ist in uns. Geben Sie -uns Ihre Leiden, ich gebe Ihnen meine Hoffnung, meine -Kraft, meine Liebe — ich, der ich nicht mehr tätig sein kann, -der nur durch Sie tätig zu sein vermag.“</p> - -<p>Die jugendliche Inbrunst und die letzten, ein wenig mysteriösen -Worte bewegten und erregten Clerambault. Er versuchte, -sich das Bildnis seiner Besucherin zu erwecken. Sie -war nicht mehr ganz jung gewesen: ziemlich scharfe Züge, -dunkle und ernste Augen, die leise aus dem matten Antlitz -lächelten. Wo hatte er sie nur schon gesehen? Aber trotz -aller inneren Mühe verschwand das Bild immer mehr.</p> - -<p>Schon einige Tage später fand er die Fremde in einer Allee -des Luxembourggartens einige Schritte vor sich wieder. Sie -ging an ihm vorbei, aber er überquerte die Allee, um ihr -zu begegnen. Sie blieb stehen, als sie ihn kommen sah. Er -dankte ihr und fragte sie, warum sie so rasch fortgegangen -sei, ohne sich ihm bekanntzumachen? In diesem Augenblick -bemerkte er, daß er sie seit langem kannte. Schon oft war -er ihr früher im Luxembourggarten oder den umliegenden -Straßen mit einem großen Jungen, offenbar ihrem Sohne, -begegnet, und immer, wenn er an ihnen vorbei kam, hatten -ihn ihre Blicke mit einem leisen Lächeln vertrauter Ehrfurcht -begrüßt und, ohne daß er ihren Namen wußte, ohne -daß er jemals mit ihnen ein Wort gewechselt hatte, gehörten -sie für ihn zu jenen lieben und vertrauten Schatten, die -unser tägliches Leben begleiten, und die wir nicht immer bemerken, -solange sie neben uns sind, die uns aber sofort eine -Leere fühlen lassen, sobald sie verschwinden. Deshalb übertrug -sich unbewußt auch sein Gedanke von der Frau vor -ihm auf den jungen Begleiter, der ihm an ihrer Seite fehlte, -und er sagte mit einer plötzlichen unvorsichtigen Eingebung -(unvorsichtig, denn wer weiß in diesen Zeiten der Trauer -jene, die noch in der Welt der Lebendigen sind?):</p> - -<p>„War es Ihr Sohn, der an mich geschrieben hat?“ „Ja“, -sagte sie, „er liebt Sie sehr. Wir lieben Sie seit langem.“</p> - -<p>„Er soll doch zu mir kommen!“</p> - -<p>Ein Schatten von Traurigkeit verhüllte das Antlitz der -Mutter.</p> - -<p>„Er kann ja nicht.“</p> - -<p>„Wo ist er denn? An der Front?“</p> - -<p>„Nein, hier.“</p> - -<p>Nach einem Augenblick des Schweigens fragte Clerambault:</p> - -<p>„Ist er verwundet?“</p> - -<p>„Wollen Sie ihn sehen?“ antwortete die Mutter.</p> - -<p>Clerambault begleitete sie. Sie schwieg, und er wagte nicht, -zu fragen. Er sagte nur:</p> - -<p>„Zum mindesten haben Sie ihn um sich.“</p> - -<p>Sie verstand und reichte ihm die Hand.</p> - -<p>„Wir stehen einander sehr nahe.“</p> - -<p>Er wiederholte:</p> - -<p>„Aber Sie haben ihn wenigstens noch.“</p> - -<p>„Ich habe seine Seele“, sagte sie.</p> - -<p>Sie waren zu dem Haus gelangt, einem jener alten Gebäude -aus dem siebzehnten Jahrhundert, in einer der engen -und noch historisch erhaltenen Straßen zwischen dem Luxembourg -und Saint-Sulpice, in denen noch die zusammengehaltene -Schönheit des alten Paris sichtbar geblieben ist. -Die große Tür selbst war tagsüber geschlossen, Frau Froment -ging Clerambault voraus, stieg am Ende des steingepflasterten -Hofes ein paar Schwellen empor und schloß -die Tür der ebenerdig gelegenen Wohnung auf.</p> - -<p>„Mein kleiner Edme“, sagte sie, während sie die Zimmertür -auftat, „eine Überraschung für dich!... Rate einmal ...“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault sah im Bett einen jungen Mann ausgestreckt, -der ihn ansah. Das blonde Antlitz des Fünfundzwanzigjährigen, -dem die Abendsonne einen rötlichen -Schein gab, war von klugen Augen erhellt und schien so -gesund und ruhevoll, daß man gar nicht auf den Gedanken -einer Krankheit kam, wenn man ihn sah.</p> - -<p>„Sie!...“ sagte er, „Sie hier!“</p> - -<p>Eine freudige Überraschung verjüngte noch mehr seine knabenhaften -Züge, aber weder sein Leib noch seine Arme -machten eine Bewegung unter der Decke. Und Clerambault -merkte, daß nur sein Kopf wirklich lebendig war.</p> - -<p>„Mama hat mich verraten“, sagte Edme Froment.</p> - -<p>„Sie wollten mich also nicht sehen?“ fragte Clerambault -und neigte sich über sein Kissen. „Das will ich nicht sagen“, -antwortete Edme, „ich möchte nur nicht gern gesehen -werden.“</p> - -<p>„Und warum denn?“ fragte Clerambault gutmütig, mit -einer leichten Anstrengung, heiter zu scheinen.</p> - -<p>„Weil man niemand einladet, wenn man nicht mehr zu -Hause ist.“</p> - -<p>„Wo sind Sie denn?“</p> - -<p>„Mein Gott, ich möchte fast darauf schwören ... in einer -ägyptischen Mumie....“</p> - -<p>Und er deutete mit einem Blick auf das Bett, in dem sein -Körper unbeweglich lag.</p> - -<p>„Es ist kein Leben mehr darin“, sagte er.</p> - -<p>„Du bist der Lebendigste von uns allen“, protestierte eine -Stimme neben ihm.</p> - -<p>Clerambault bemerkte auf der anderen Seite des Bettes -einen jungen Mann etwa im Alter Edme Froments, der -voll Gesundheit und Kraft schien. Edme Froment lächelte -und sagte zu Clerambault:</p> - -<p>„Mein Freund Chastenay hat so viel Leben in sich, daß er -mir davon leiht.“</p> - -<p>„Ach, wenn ich es dir geben könnte“, sagte der andere.</p> - -<p>Die beiden Freunde wechselten einen zärtlichen Blick.</p> - -<p>Chastenay fuhr fort:</p> - -<p>„Ich würde dir dann doch nur einen Teil dessen geben, was -ich dir verdanke ...“</p> - -<p>Und indem er sich an Clerambault wandte:</p> - -<p>„Er ist es, der uns alle aufrecht hält, nicht wahr, Frau -Fanny?“</p> - -<p>Die Mutter sagte zärtlich:</p> - -<p>„Mein guter Sohn, das ist wohl wahr.“</p> - -<p>„Ihr macht euch den Umstand zunutze“, sagte Edme, „daß ich -mich nicht verteidigen kann....“ (Und zu Clerambault -sprechend:) „Sie sehen, ich bin gefangen und kann mich -nicht rühren.“</p> - -<p>„Sie sind verwundet?“</p> - -<p>„Gelähmt.“</p> - -<p>Clerambault wagte nicht, nach Einzelheiten zu fragen.</p> - -<p>„Sie haben aber keine Schmerzen?“</p> - -<p>„Ach, ich wünschte es mir vielleicht, denn der Schmerz ist -immerhin noch ein Band, das uns mit dieser Welt verknüpft. -Aber ich gebe es zu, daß ich mich an das schwere -Schweigen dieses Körpers, in den ich eingetan bin, langsam -gewöhne ... übrigens, sprechen wir nicht mehr davon, -jedenfalls der Geist ist frei. Wenn es auch nicht wahr ist, -daß er „<span class='it'>agitat molem</span>“, so schlüpft er doch gern heraus.“</p> - -<p>„Jüngst“, sagte Clerambault, „war er bei mir zu Gaste.“</p> - -<p>„Das war nicht zum erstenmal, er ist oft zu Ihnen gekommen.“</p> - -<p>„Und ich glaubte mich so allein....“</p> - -<p>„Erinnern Sie sich“, sagte Edme, „an das Wort Randolphs -zu Cecil: Die Stimme eines einzigen Menschen ist -imstande, in einer Stunde mehr Leben in uns zu bringen, -als der Lärm von 500 Trompeten, die unaufhörlich blasen.“</p> - -<p>„Das gilt aber auch von dir“, sagte Chastenay.</p> - -<p>Froment schien seine Worte nicht gehört zu haben und -sagte wieder zu Clerambault:</p> - -<p>„Sie haben uns erweckt!“</p> - -<p>Clerambault betrachtete die schönen, tapferen und ruhigen -Augen des vor ihm Liegenden und sagte:</p> - -<p>„Diese Augen bedurften dessen nicht!“</p> - -<p>„Jetzt bedürfen sie dessen nicht mehr“, antwortete Edme. -„Man sieht besser aus der Entfernung, wenn man aus den -Dingen heraus ist. Aber solange ich nahe, ganz nahe war, -konnte ich nichts unterscheiden.“</p> - -<p>„So sagen Sie mir, was Sie jetzt sehen?“</p> - -<p>„Es ist spät“, antwortete Edme, „und ich bin ein wenig -müde. Wollen Sie vielleicht ein andermal kommen?“</p> - -<p>„Ich komme morgen wieder.“</p> - -<p>Clerambault trat aus dem Zimmer, Chastenay ging ihm -nach. Er fühlte das Bedürfnis, die Geschichte der Tragödie, -deren Held und Opfer sein Freund geworden war, -jemandem anzuvertrauen, der die Qual und die Größe -eines solchen Aktes würdigen konnte.</p> - -<p>Edme Froment, den ein Granatsplitter an der Wirbelsäule -getroffen und in seiner Vollkraft gelähmt hatte, war -einer der jungen geistigen Führer seiner Generation, schön, -leidenschaftlich, beredt, übervoll von Leben und Träumen, -liebend und geliebt, ehrgeizig im schönsten Sinne, und nun -ein lebendig Toter. Seine Mutter, die ihren ganzen Stolz -und ihre ganze Liebe in ihn gesetzt hatte, sah ihn auf Lebenszeit -verurteilt, und ihre Qual mußte ungeheuer sein. Aber -beide verbargen sie voreinander. Diese gegenseitige Spannung -hielt sie aufrecht. Beide waren sie aufeinander stolz. -Sie pflegte ihn, wusch ihn, reichte ihm das Essen wie einem -kleinen Kinde, er wiederum zwang sich zur Ruhe, um sie zu -beruhigen, und trug sie auf den Schwingen des Geistes -empor.</p> - -<p>„Ach“, sagte Chastenay, „man muß sich schämen, zu leben -und gesund zu sein, noch Arme zu haben, um das Leben -zu umfassen, und Gelenke, um zu gehen und zu springen, -und mit vollem Bewußtsein die Frische der Luft zu trinken.“</p> - -<p>Er breitete beim Sprechen die Arme aus, hob den Kopf, -und atmete tief ein.</p> - -<p>„Und das Traurigste“, fuhr er fort, indem er Kopf und -Stimme beschämt senkte, „das Traurigste ist, daß ich diese -Scham gar nicht wirklich fühle.“</p> - -<p>Clerambault mußte unwillkürlich lächeln.</p> - -<p>„Ja, es ist nicht sehr heroisch von mir“, fuhr Chastenay -fort, „und doch liebe ich Froment wie niemand anderen -auf der Welt. Sein Schicksal quält mich unablässig .... -und doch, es ist stärker als ich. Wenn ich daran denke, daß -ich unter so vielen Hingeschlachteten das Glück habe, jetzt -hier zu sein, zu fühlen mit allen meinen lebendigen Sinnen, -so ist es mir schwer, meine Freude zu verbergen.... Ach, -es ist ja so schön, so ganz leben zu dürfen!... Der arme -Froment ... Aber Sie werden mich furchtbar egoistisch -finden?“</p> - -<p>„Nein, durchaus nicht“, sagte Clerambault. „Sie sprechen, -wie die gesunde Natur spricht. Wären alle so aufrichtig wie -Sie, so wäre die Menschheit nicht eine Beute jener gefährlichen -Lust der Vergötterung des Leidens; Sie haben übrigens -alles Recht, das Leben zu genießen, nachdem sie seine -härtesten Proben bestanden haben.“</p> - -<p>(Und er deutete auf das Kriegskreuz des jungen Mannes.)</p> - -<p>„Ich bin hingegangen und gehe wieder zurück“, sagte Chastenay, -„aber glauben Sie mir, es ist meinerseits kein Verdienst -dabei. Ich täte es ja nicht, wenn ich dem Zwang ausweichen -könnte. Es hat keinen Sinn, sich Staub in die -Augen zu streuen: wenn man in das dritte Jahr des Krieges -kommt, so hat man nicht mehr jene Liebe zum Wagnis und -jene Gleichgültigkeit wie im Anfang. Damals, das muß ich -zugestehen, hatte ich sie noch, damals war ich eine reine -Unschuld an Heldentum. Aber es ist schon lange her, daß -ich diese Jungfernschaft verloren habe, die aus Unbildung -und Schönrederei zusammengeflickt war. Ist die einmal -weg, so wird der Irrsinn des Krieges, die Idiotie der -Massaker, die Häßlichkeit und Schauerlichkeit dieser Opfer -auch dem Beschränktesten klar. Wenn es auch gar zu unmännlich -wäre, vor dem Unvermeidlichen die Flucht zu -ergreifen, so drängt man sich wenigstens nicht dazu, irgend -etwas Unnötiges zu tun. Der große Corneille war -eben auch ein Held des Hinterlandes. Die an der Front, -die ich gekannt habe, die waren fast alle Helden gegen ihren -Willen.“</p> - -<p>„Aber das ist ja der wahre Heroismus“, sagte Clerambault.</p> - -<p>„Und das ist jener Froments“, antwortete Chastenay, „er -ist Held, weil er nicht anders kann, weil er nicht mehr bloß -ein Mensch sein kann. Aber was ihn uns so teuer macht, ist, -daß er trotzdem ein Mensch geblieben ist.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>ie ganze Richtigkeit dieser Worte wurde Clerambault in -der langen Unterhaltung klar, die er am nächsten Nachmittag -mit Froment hatte. Es war um so mehr Verdienst -darin, wenn sich der Stolz Froments im Zusammenbruch -seines Lebens nicht verleugnete, als er vordem niemals den -Kult des Verzichts betrieben hatte. Im Gegenteil, er hatte -immer große Hoffnungen und einen starken Ehrgeiz gehabt, -den seine geistigen Gaben und seine glückliche Jugend durchaus -rechtfertigten. Nicht einen einzigen Tag hatte er sich -wie Chastenay einer Illusion über den Krieg hingegeben, -sondern sofort seine gefährliche Torheit durchschaut. Diese -Erkenntnis verdankte er nicht nur seinem starken Intellekt, -sondern vor allem der geistigen Führerin, die von Kindheit -an die Seele ihres Sohnes aus dem Reinsten ihres Wesens -geformt hatte.</p> - -<p>Frau Froment, die Clerambault fast täglich bei seinen Besuchen -antraf, hielt sich abseits beim Fenster und warf von -Zeit zu Zeit von ihrer Arbeit einen Blick voll Zärtlichkeit auf -ihren Sohn. Sie war eine jener Frauen, die zwar nicht eine -außerordentliche Intelligenz, aber doch ein Genie des Herzens -besitzen. Als Witwe eines Arztes, der viel älter war -als sie, und dessen weitreichender Geist den ihren befruchtet -hatte, waren ihr in ihrem Leben nur zwei sehr tiefe, untereinander -sehr verschiedene Neigungen bewußt geworden: -die fast kindliche Neigung für ihren Gatten und die fast -zärtliche für ihren Sohn.</p> - -<p>Doktor Froment, ein Mann von großer Bildung und eigenartiger -Denkweise, die er unter einer aufmerksamen Höflichkeit -verbarg, um die anderen, von denen er sich unterschied, -nicht zu verletzen, war lange Zeit seines Lebens auf -Reisen gewesen. Er hatte fast ganz Europa, Ägypten, -Persien und Indien bereist, und zwar nicht nur aus wissenschaftlichem, -sondern auch aus religiösem Interesse; ihn beschäftigten -ganz besonders die neue Glaubensbewegung -in der Welt, der Babismus, die <span class='it'>Christian Science</span> und -die theosophischen Lehren. In inniger Beziehung zu der -pazifistischen Bewegung, ein Freund der Baronin Suttner, -der er in Wien begegnet war, sah er seit langem die große -Katastrophe voraus, der Europa und diejenigen, die er -liebte, entgegengingen. Aber als Mann von Mut und -innerlich längst gewohnt, dem ewig Ungerechten der Natur -ins Auge zu schauen, versuchte er weder sich noch die -Seinigen über das Drohende hinwegzutäuschen, sondern -einzig ihre Seele gegen die kommenden Anstürme dieser -Wogen zu stärken. Noch mehr aber als durch seine Worte -war er für seine Frau — der Sohn war noch ein Kind zur -Zeit seines Todes — durch sein Beispiel eine heilige Erinnerung -geworden, denn im langsamen und grausamen -Leiden, das ihn gefangen gehalten hatte — ein Darmkrebs -— hatte er bis zum letzten Tage ruhig seine Aufgabe erfüllt -und überdies noch die Nächsten seiner Umgebung durch -seine Ruhe getröstet.</p> - -<p>Frau Froment bewahrte in ihrem Herzen dieses edle Bild -wie einen inneren Gott. Die ehrfürchtige Erinnerung für -den toten Gefährten wurde in ihrem Leben das, was bei -anderen der religiöse Glaube ist. Da sie an kein anderes -Leben in der Zukunft glaubte, wandte sich ihr Gebet, insbesondere -in den Stunden der Sorge, an ihn, wie an einen -immer gegenwärtigen Freund, der bei einem wacht und -einen berät. Durch das eigenartige Phänomen der Wiedererneuerung, -das oft nach dem Tode eines geliebten Wesens -eintritt, schien das Innerste der Seele ihres Mannes in sie -übergegangen zu sein. So erwuchs ihr Sohn in einer von -ruhigen Ausblicken umhüllten Gedankenatmosphäre, die -ganz verschieden war von jener tropisch fieberigen Landschaft, -in der die junge Generation vor 1914, unruhig, glühend, -aggressiv und vom Warten ungeduldig gemacht, -mannbar wurde.... Als dann der Krieg ausbrach, mußte -Frau Froment weder sich noch ihren Sohn gegen die Verführung -der nationalen Leidenschaft schützen: sie war beiden -von vornherein fremd. Sie versuchten auch nicht, dem Unvermeidlichen -zu widerstehen, wußten sie doch schon so lange, -daß dieses Unglück unterwegs war. Für sie handelte es sich -einzig darum, alles zu ertragen, ohne sich ihm zu beugen, -um das zu retten, was gerettet sein mußte: die Treue der -Seele zu ihrem Glauben. Frau Froment glaubte nicht, daß -es nötig sei, „über dem Getümmel“ zu bleiben, um es zu -beherrschen, und was zwei oder drei französische, englische, -deutsche Schriftsteller durch ihre Artikel für die internationale -Versöhnung versuchten, das erfüllte sie von sich aus -in ihrem beschränkten Kreis viel einfacher und viel wirksamer.</p> - -<p>Sie hatte ihre alten Beziehungen aufrechterhalten, und -ohne sich in dem vom Kriegswahn verseuchten Milieu gehemmt -zu fühlen, ohne jemals leere Demonstrationen gegen -den Krieg zu versuchen, schuf sie durch ihre bloße Gegenwart, -durch ihr ruhiges Wort, ihren klaren Blick, ihr beherrschtes -Urteil, durch den Respekt, den ihre Güte einflößte, eine Art -Hemmung gegen die sinnlosen Übertreibungen des Hasses. -Sie war es auch, die in den Kreisen, die sie dafür empfänglich -hielt, die Botschaft der freien Europäer und die Artikel -Clerambaults verbreitete, der davon niemals erfuhr, und -sie hatte die Genugtuung, daß sie in den Herzen Widerklang -fanden. Aber ihre größte Freude war, daß ihr Sohn selbst -daran geformt wurde.</p> - -<p>Edme Froment hatte nichts von einem Tolstoianer in seinem -Pazifismus. Zu Anfang betrachtete er den Krieg noch -viel mehr als Dummheit wie als Verbrechen. Wäre ihm -Freiheit gelassen worden, so hätte er sich, wie Perrotin, aus -der Welt der Tat in den erhabenen Dilettantismus der -Kunst und der Ideen zurückgezogen und niemals versucht, -die öffentliche Meinung zu bekämpfen, weil er diesen Kampf -für aussichtslos hielt. Ihm flößte damals die Narrheit der -Welt eher Verachtung als Mitleid ein. Zur Teilnahme am -Kriege gewaltsam gezwungen, sah er erst ein, daß diese -Narrheit durch das Leiden längst überzahlt war, und es -überflüssig sei, auf die Verurteilung des Krieges noch die -Verachtung zu häufen. Der Mensch schuf sich selbst seine -Hölle auf Erden, es war nicht notwendig, ihn noch einmal -dafür zu richten. Zu gleicher Zeit hatten ihm die Worte Clerambaults, -die er während seiner Urlaubszeit in Paris kennen -lernte, gezeigt, daß er Besseres zu tun habe, als sich als -Richter seiner gefesselten Kameraden aufzuspielen: nämlich -zu versuchen, deren Last zu teilen und sie davon zu befreien.</p> - -<p>Nur ging der junge Schüler darin weiter als sein Lehrer, -dessen liebebedürftige, ein wenig schwächliche Natur glücklich -war in einer Gemeinschaft mit den Menschen, der daran litt, -sich von ihnen zu trennen, selbst wenn sie im Irrtum waren. -Clerambault zweifelte stets an sich. Er sah nach rechts und -links, suchte in den Augen der menschlichen Masse nach einer -Zustimmung zu seinen Ideen und erschöpfte sich im unfruchtbaren -Bemühen, sein inneres Gesetz mit den sozialen Bestrebungen -und Kämpfen seiner Zeit in Einklang zu bringen. -Für Froment, den Hingestreckten, der in seinem unterjochten -Körper die Seele eines Führers hatte, bestand kein Zweifel -an der absoluten Pflicht für jeden, dem die Flamme eines -großen Ideals anvertraut ist, sie über die Häupter seiner -Gefährten zu erheben. Warum versuchen, das Licht ängstlich -zuzudecken oder es im Schein der andern Leuchten aufgehen -zu lassen? Der Gemeinplatz der Demokratien: „Die ganze -Welt ist klüger als der eine Voltaire“, war für ihn ein -Irrtum ... Demokritos sagt: „<span class='it'>Unus mihi pro populo -est</span>.“ „Ein einziger zählt für mich soviel wie tausend.“ Nach -der Meinung unserer Zeit stellt die staatliche Gesellschaft den -Gipfel der menschlichen Entwicklung dar. Wer kann die -Wahrheit dieser Hypothese beweisen? „Für mich“, sagte -Froment, „ist der höchste Gipfelpunkt einzig im überlegenen -Individuum. Millionen Menschen haben gelebt und sind -gestorben, um eine einzige höchste Gedankenblüte zu entfalten. -In verschwenderischer Art geht die Natur zu diesem -Ziele, sie opfert ganze Völker, um einen Jesus, einen -Buddha, einen Äschylos, einen Leonardo, einen Newton, -einen Beethoven zu schaffen. Was wären denn die Völker, -was wäre die Menschheit ohne diese Menschen?.... Wir wollen -damit nicht das egoistische Ideal des Übermenschen aufnehmen. -Ein großer Mann ist groß für, ist groß statt aller -anderen Menschen. Seine Persönlichkeit drückt Millionen -Menschen aus und führt sie empor, denn sie ist die Verkörperlichung -ihrer geheimsten Kräfte, ihrer höchsten Wünsche. Sie -drängt sie alle in ihrem Wesen zusammen — und schon sind sie -verwirklicht. Die einzige Tatsache, daß ein Mensch Christus -gewesen ist, hat Jahrhunderte der Menschheit erhoben und -über die Erde hinweggetragen und sie mit göttlichen Kräften -erfüllt. Und obwohl neunzehn Jahrhunderte seitdem -vergangen sind, haben doch die Millionen Menschen niemals -die Höhe des Vorbildes erreicht und mühen sich noch -immer, ihm nachzukommen. — Wird das individualistische -Ideal in dieser Weise verstanden, so ist es fruchtbarer für die -menschliche Gesellschaft als das kommunistische, das nur -zu der mechanisch-technischen Vollendung eines Ameisenhaufens -führt. Zum mindesten ist es aber unentbehrlich als -Korrektiv und als Ergänzung des anderen.“</p> - -<p>Dieser stolze Individualismus, den Froment in heißen -Worten ausdrückte, richtete den immer ein wenig schwankenden -Geist Clerambaults auf, der leicht unentschieden -blieb, teils aus Güte, teils aus Zweifel an sich selbst, teils -durch die Bemühung, immer auch die anderen zu verstehen.</p> - -<p>Noch einen anderen Dienst erwies ihm Froment dadurch, -daß er mehr als Clerambault über die internationalen Gedanken -informiert war. Da er durch seine Familie unter -den Intellektuellen aller Länder Beziehungen hatte und -vier oder fünf fremde Sprachen beherrschte, konnte Froment -dem älteren Freunde Kenntnis geben von den anderen -großen Einsamen, die in jeder Nation für das Recht des -freien Gewissens kämpften. Er zeigte ihm die ganze unterirdische -Arbeit des niedergehaltenen Gedankens, der sich -bemühte, die Wahrheit zu finden. Und es war dies ein -tröstliches Schauspiel, daß selbst das Zeitalter der furchtbarsten -moralischen Tyrannei, die seit der Inquisition auf -der Seele der Menschheit lastete, es doch nicht zuwege -brachte, in der Elite jedes Volkes den unbändigen Lebenswillen -nach Freiheit und Wahrheit zu ersticken.</p> - -<p>Freilich, diese unabhängigen Persönlichkeiten waren selten, -aber darum war ihre moralische Macht eine um so größere. -Ergreifend zeichnete sich ihre Silhouette gegen den leeren -Horizont ab, und im Sturz der Völker in die Tiefe des -Abgrundes, wo Millionen Seelen zu einem formlosen Brei -sich vermengten, erklang ihre Stimme als das einzige menschliche -Wort. Daß sie tätig waren, wurde vor allem sichtbar -durch die Wut derjenigen, die ihr Tun zu leugnen suchten. -Schon vor einem Jahrhundert schrieb Chateaubriand:</p> - -<p>„Kämpfe haben keinen Sinn mehr. Man muß <span class='gesp'>sein</span>, das -ist die einzige Sache, die notwendig ist.“</p> - -<p>Doch er sah nicht voraus, daß in unserer Zeit „sein“, das -heißt „man selbst sein“, „frei sein“, gerade den allergrößten -Kampf erforderte. Aber die Menschen, die ganz ihr wahres -Ich sind, dominieren schon durch diese einzige Tatsache der -Gleichförmigkeit der anderen.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault war nicht der Einzige, der die Energie Froments -als so wohltuend empfand und empfing. Bei -jedem seiner Besuche begegnete er am Krankenlager des -jungen Mannes irgendeinem Freund, der gekommen war, -um ihn aufzurichten und — ohne daß er es sich eingestand — -von ihm aufgerichtet zu werden. Zwei oder drei waren junge -Leute im Alter Froments, die anderen ältere Männer, meist -schon über fünfzig hinaus, entweder alte Freunde der Familie -oder solche, die Froment schon vor dem Kriege gekannt -hatten. Einer von ihnen, ein alter Hellenist mit -feinem und zerstreutem Lächeln, war sein Lehrer gewesen. -Unter den anderen war noch ein Bildhauer mit grauem -Haar, schlaffen und von tragischen Falten durchzogenem -Gesicht, ein Landjunker mit kurzgeschorenen Haaren, roter -Gesichtsfarbe, dem viereckigen Kopf eines Bauern, schließlich -noch ein weißbärtiger Arzt mit einem Ausdruck von Sanftmut -in seinem müden Gesicht, dessen Blick durch den verschiedenen -Ausdruck der beiden Augen überraschte: das eine schien -scharf mit einem Zwinkern von Zweifel zu beobachten, das -andere melancholisch vor sich hinzuträumen.</p> - -<p>Diese Menschen, die sich manchmal bei dem Kranken vereint -fanden, glichen einander in keiner Weise. Man konnte in -dieser kleinen Gruppe alle Gedankenformen vertreten finden -vom Katholiken zum Freigeist und selbst zum Bolschewisten, -als welcher sich einer der jungen Kameraden Froments bekannte. -In ihnen war der Einfluß der verschiedensten -geistigen Ahnen sichtbar wirksam: im alten Hellenisten derjenige -des ironischen Lucian, bei dem Grafen de Coulanges -derjenige der alten französischen Chronisten der Collection -Michaud. (Er liebte es, auf seinem Landgut sich abends -von der Tierzucht und den chemischen Düngungen dadurch -zu erholen, daß er die dunkelgoldfarbige Sprache Froissarts -und die gleichzeitig dornige und saftige des spitzbübischen -Gondi las.) Der Bildhauer zermürbte seine Stirn, -um eine Metaphysik in Beethoven und Rodin herauszufinden, -der Doktor Verrier, der für Religion das mitleidige -Lächeln des Wissenschaftlers hatte, versetzte die Wunderwelt, -deren er bedurfte, in das Reich der biologischen Hypothesen -und der blendenden Gleichungen der modernen Physik und -Chemie. So schmerzlich ihm auch das Leiden der Zeit war, -so entschwand die Ära des Krieges mit all ihrem blutnassen -Ruhm in die Ferne gegenüber den heroischen geistigen -Entdeckungen, die der freie Deutsche Einstein inmitten der -menschlichen Verirrung, ein neuer Newton, vollbrachte.</p> - -<p>So schien alles zwischen diesen Menschen widersprechend zu -sein, sowohl ihre geistige Form als auch ihr Temperament. -Aber in einem waren sie alle einig, daß sie keiner Partei zugehörten, -nur aus sich selbst heraus dachten und Ehrfurcht -und Liebe für die Freiheit hatten, für die ihre und für -die der anderen! Und das ist doch das Wesentliche! In -unserer gegenwärtigen Epoche zerbrechen die alten Formen, -stürzen die politischen, religiösen oder sozialen Parteien zusammen. -Es bedeutet ja nur einen kleinen Fortschritt, sich -statt einen Monarchisten einen Sozialisten oder Republikaner -zu nennen, insolange diese Gruppen sich noch dem -Nationalismus ihres Staates, dem Glauben oder der -Klasse unterwerfen. In Wahrheit gibt es heute nur noch -zwei Formen des Geistes: die einen, die sich in ihre Grenze einschließen, -und die anderen, die allem Lebendigen aufgetan -sind, die in sich die ganze Menschheit fühlen, sogar ihre -Feinde. So wenig zahlreich diese Männer auch sein mögen, -sie formen, ohne es zu wissen, die wahre Internationale, -jene, die auf dem Kultus der Wahrheit und des umfassenden -und allen gleich zugehörigen Lebens ruht. Einzeln zu schwach -(sie wissen es wohl), ihr unermeßliches Ideal zu umfassen, -umfaßt doch das Ideal sie alle. Und alle in ihm geeint, -wandern sie, jeder auf einem verschiedenen Wege, dem unbekannten -Gott entgegen.</p> - -<p>Was nun in diesem Augenblick diese so verschiedenen freien -Seelen um Edme Froment versammelte, war das dunkle -Gefühl, er sei der Punkt, wo sich ihre Zielrichtungen begegneten, -der Kreuzweg, von dem man alle Wege ausstrahlen -sieht. Froment war nicht immer ein solcher -Mittelpunkt gewesen; solange er noch Herrschaft über -seinen Körper und seine Gesundheit hatte, ging auch er -seinen Weg abseits von den anderen. Aber seit sein Lauf -unterbrochen war, hatte er sich nach einer Periode kurzer -Verzweiflung — die er aber sorgsam den Blicken seiner -Umgebung verbarg — gleichsam als Wegkreuz aufgestellt: -gerade weil er selbst nicht mehr tätig sein konnte, vermochte -er die Tat der anderen besser zu überblicken und im Geist -daran teilzunehmen. Er sah in den verschiedenen Strömungen -— Vaterland, Revolution, Staats- und Klassenkampf, -Wissenschaft und Glauben — nur die vermengten -Kräfte eines Wildbaches mit seinen Stromschnellen, Wirbeln -und sandigen Stellen; manchmal scheint er zurückgeworfen -oder gebrochen zu werden oder zu schlafen. Aber -die Strömungen gehen doch unwiderstehlich nach vorwärts: -selbst die Reaktion wird immer weiter gerissen. Und er, der -junge Gekreuzigte am Kreuzweg, vermählte sich allen Strömungen, -dem ganzen Strom.</p> - -<p>Clerambault fand in ihm einige Züge Perrotins wieder. -Aber Welten trennten Froment von Perrotin. Wenn auch -er so wie jener nichts Vorhandenes leugnete und alles zu verstehen -suchte, so tat er es doch mit einer begeisterten Seele. -Alles wurde in seinem Herzen Bewegung und beherrschte -Leidenschaft. Alles, Tod und Leben, war bei ihm Gang und -Aufstieg — unbeweglich nur er selbst, sein eigener Leib.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>I</span>nzwischen war eine dunkle Stunde gekommen. Man hatte -die Wende der Jahre 1917/18 überschritten. Die nebligen -Winternächte waren schwer von der Erwartung des -letzten Ansturms der deutschen Armeen. Seit Monaten war er -durch drohende Gerüchte angekündigt, die Streifzüge der Flieger -über Paris schienen schon seine Vorboten zu sein. Die -Verfechter des Krieges „bis zum endgültigen Siege“ spiegelten -vollkommene Sicherheit vor, die Zeitungen fuhren fort zu -prahlen, und Clemenceau behauptete, nie besser geschlafen -zu haben. Aber die geistige Spannung verriet sich in der -wachsenden Schärfe des Hasses zwischen den Nichtkämpfern. -Man lenkte die öffentliche Beunruhigung auf die Verdächtigen -des Hinterlandes, auf die Flaumacher ab. Hochverratsprozesse -erhitzten und beschäftigten die Moral des -Hinterlandes, die Angeber mit der Heldengeste Corneilles, -die patriotischen Denunzianten, die fanatischen Zeugen -vervielfältigten sich, und das Gebell der öffentlichen Ankläger -kläffte durch Tage zornig hinter den armen, gehetzten -Opfern her. Als dann zu Ende März die über Paris hängende -deutsche Offensive losbrach, erreichte der überhitzte -Bürgerhaß seinen Zenith, und es war gewiß, daß, wenn ein -Durchbruch gelungen wäre, noch ehe die feindliche Armee -Paris erreicht hätte, der Galgen von Vincennes, dieser -Altar des rächenden und bedrohten Vaterlandes, seine -Opfer empfangen hätte, gleichgültig, ob sie schuldig oder -unschuldig, ob sie nur angeklagt oder abgeurteilt waren.</p> - -<p>Clerambault wurde öfters in den Straßen beschimpft. Er -regte sich darüber nicht auf, vielleicht, weil er sich des Gefährlichen -der Situation nicht ganz bewußt war. Eines -Tages traf Moreau ihn inmitten einer Gruppe von Passanten -in einer Diskussion mit einem wutschäumenden jungen -Menschen, der ihn in verletzender Weise angegangen hatte. -Während er noch sprach, hörte man ganz in der Nähe die -Explosionen der „dicken Berta“. Clerambault schien es -nicht zu merken, er fuhr ruhig fort, vor dem Zornigen seine -Ideen zu entwickeln. In dieser Beharrlichkeit war eine gewisse -Komik, und die Zuhörer, die als gute Franzosen das -gleich merkten, tauschten darüber allerhand, zwar nicht sehr -höfliche, aber doch auch nicht böswillige Witze aus. Moreau -faßte Clerambault am Arm, um ihn wegzuziehen. Clerambault -schaute auf, sah die lachenden Leute, erfaßte nun -seinerseits das Komische der Situation und lachte mit den -anderen.</p> - -<p>„Was für ein alter Narr ... Nicht wahr?“ sagte er zu -Moreau, der ihn wegzog.</p> - -<p>„Es gibt aber auch andere Narren. Man muß sich in acht -nehmen“, antwortete Moreau in recht energischer Weise. -Aber Clerambault wollte ihn nicht verstehen.</p> - -<p>Inzwischen war das Untersuchungsverfahren seines Prozesses -in eine neue Phase getreten. Clerambault war des -Vergehens gegen das Gesetz vom 5. August 1914, das „staatsgefährliche -Äußerungen während des Krieges“ verhindern -sollte, beschuldigt; man klagte ihn der pazifistischen Propaganda -in den Arbeiterskreisen an, in denen Thouron die Schriften -Clerambaults mit seinem Einverständnis verbreitet hätte. -Nichts konnte unrichtiger sein, denn weder wußte Clerambault -von einer Propaganda dieser Art, noch hatte er sie -autorisiert, was Thouron auch bezeugen konnte. Aber nun -ergab sich das Seltsame, daß Thouron dies nicht bezeugte. -Sein Verhalten erwies sich als äußerst merkwürdig; statt die -Dinge richtig zu stellen, machte er allerhand Winkelzüge, -tat so, als ob er etwas zu verbergen hätte, ja, er tat es -sogar in einer gewissen absichtlichen Weise und hätte sich gar -nicht gefährlicher benehmen können, wenn es seine innerste -Absicht gewesen wäre, solch einen Verdacht zu erwecken. -Verhängnisvollerweise lenkte sich dieser Verdacht nun gegen -Clerambault. Zwar sagte Thouron nichts gegen ihn oder -gegen irgend jemanden aus, er weigerte sich, irgendetwas -zu sagen, aber er ließ immer durchblicken, daß, wenn er -reden wollte.... Aber er wollte nicht. Man konfrontierte -ihn mit Clerambault. Er benahm sich tadellos, geradezu -ritterlich, legte die Hand auf das Herz und versicherte den -„Meister“, den „Freund“ seiner kindlichen Verehrung. Clerambault -versuchte ihn voll Ungeduld endlich zu einer klaren -Darstellung dessen zu bringen, was zwischen ihnen vorgegangen -war, der andere aber fuhr immer nur fort, seine -„unerschütterliche Ergebenheit“ zu bezeugen. Mehr könne -er nicht sagen, nichts seinen Aussagen hinzufügen, er nehme -alles auf sich.</p> - -<p>Dieses Benehmen ließ ihn nach außen sympathisch erscheinen, -Clerambault aber in den Verdacht kommen, als -wolle er sich durch Aufopferung seines Vasallen aus der -Affäre ziehen. Die Zeitungen zögerten nicht lange und beschuldigten -ihn der Feigheit. Inzwischen folgte eine Vorladung -der anderen, seit zwei Monaten mußte sich Clerambault -zu ganz nichtigen Verhören begeben, zu denen ihn -die Richter zitierten, ohne daß sich irgendeine Entscheidung -anzeigte. Nun sollte man glauben, daß ein Mann, der solange -ohne die geringsten Beweise angeklagt und unter dem -schimpflichen Verdacht gehalten wurde, bei der Öffentlichkeit -Sympathien gefunden hätte. Aber im Gegenteil: sie -wurde noch gereizter gegen ihn, man verzieh es ihm nicht, -daß er nicht schon verurteilt war. Die tollsten Erfindungen -zirkulierten in der Presse, man behauptete, die Sachverständigen -hätten an der Form gewisser Buchstaben und an -einzelnen besonderen Schriftzeichen entdeckt, daß eine der -Flugschriften Clerambaults von Deutschen gedruckt und -verbreitet worden war. So dumm diese Erfindungen waren, -sie fanden doch Zugang bei der ungeheuren Leichtgläubigkeit -der Leute, die (man behauptete es wenigstens) -vor dem Krieg vernünftig gewesen waren. Es waren erst -vier Jahre seitdem vergangen, aber es schienen schon Jahrhunderte -zu sein.</p> - -<p>Kurz, die braven Leute verurteilten einen der Ihren ohne -weitere Nachfrage; es war nicht das erstemal und wird nicht -das letztemal sein. Die gut abgerichtete öffentliche Meinung -empörte sich darüber, daß Clerambault noch frei herumging, -und die reaktionären Blätter, die fürchteten, ihre Beute -könne ihnen entgehen, klagten die Justiz an, versuchten sie -einzuschüchtern und verlangten, die Affäre müsse dem Zivilgerichte -entzogen und dem Militärgerichte übergeben werden. -Rasch erreichte die Erregung einen jener Paroxismen, -die in Paris im allgemeinen kurz, aber furchtbar zügellos -sind. Denn dieses sonst so vernünftige Volk deliriert von -Zeit zu Zeit. Man muß sich fragen, wie die Leute, die zum -großen Teil gar nicht böse sind und von Natur aus zu gegenseitiger -Nachsicht, ja Gleichgültigkeit geneigt, plötzlich zu -solchen Explosionen von zornigem Fanatismus kommen, -bei denen sie gleichzeitig ihren Kopf und ihr Herz verlieren. -Manche sagen, dieses Volk hätte eine Frauennatur, sowohl -in seinen Tugenden wie in seinen Lastern, und daß die Feinheit -seiner Nerven und die Sensibilität, der ja seine Kunst -und sein Geschmack den Vorrang verdanken, es plötzlich in -hysterische Krisen verfallen lassen. Ich glaube vielmehr, daß -jedes Volk nur durch Zufall einmal menschlich ist — wenn -man unter Mensch ein vernünftiges Tier versteht (was ja sehr -schmeichelhaft, aber gänzlich unbewiesen ist). Die Menschen -machen von ihrer Vernunft nur selten Gebrauch. Im allgemeinen -sind sie von der Anstrengung zu denken, gleich ermattet, -und man tut ihnen wohl, wenn man ihnen das Wollen -abnimmt und für sie nur das will, was die wenigste Anstrengung -erfordert. Die Anstrengung nun, irgendeine neue -Idee zu hassen, ist wirklich keine allzugroße. Aber brechen -wir nicht den Stab über sie! Der Freund aller Verfolgten -hat mit seinem nachsichtigen Heroismus gesagt: „Sie wissen -nicht, was sie tun.“</p> - -<p>Eine nationalistische Zeitung fand sich bereit, die bösartigen -Instinkte, die in diesen armen Menschen schlummerten, aufzuwecken. -Sie lebte ja einzig nur von der Ausbeutung -der Verdächtigung und des Hasses, was sie „für die Erneuerung -Frankreichs arbeiten“ nannte. Für sie bestand -eben Frankreich einzig aus ihr selbst und ihren Gesinnungsgenossen. -Sie veröffentlichte gegen „Cleramboche“ eine -Reihe mörderischer Artikel, ähnlich jenen, die so gut ihr Ziel -gegen Jaurès erreicht hatten, sie hetzte die öffentliche Meinung -auf, indem sie schrie: geheimnisvolle Einflüsse seien -am Werk, den Verräter zu schützen, und man müsse darüber -wachen, daß er nicht entkomme. Und schließlich appellierte -sie an die Justiz des Volkes.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>V</span>iktor Vaucoux haßte Clerambault.</p> - -<p>Er kannte ihn nicht. Der Haß braucht ja seinen Gegner -nicht zu kennen. Aber hätte Vaucoux Clerambault gekannt, -so hätte er ihn noch mehr gehaßt. Ehe er wußte, daß es -einen Clerambault gebe, war er schon sein geborener Feind. -Es gibt in jedem Land geistige Rassen, die sich feindlicher sind -als die des Blutes oder die der Uniformen.</p> - -<p>Er stammte aus begüterter Bürgerschaft im Westen Frankreichs, -aus einer Beamtenfamilie des Kaiserreiches und des -Systems von Zucht und Ordnung, die sich seit vierzig Jahren -in den Schmollwinkel einer sterilen Opposition zurückgezogen -hatte. Er besaß Güter in der Charente, dort verbrachte er -den Sommer, die übrige Zeit war er in Paris. Es war eine -dekadente Familie, wie es die jener Gesellschaftsklasse ja gewöhnlich -sind, und sowohl gegen seine Klasse als gegen die eigene -Familie wandte sich sein Herrschinstinkt, für den er im -Leben keine andere Verwendung fand. Die Unterdrückung -seiner Herrschbegierde gab ihm einen tyrannischen Charakter, -er despotierte, ohne es zu wissen, die Seinen, gleichsam aus -einem Recht und einer unbestreitbaren Pflicht heraus. Das -Wort Toleranz hatte keinen Sinn für ihn. Für ihn war -es gewiß: er konnte sich nicht irren. Dabei war er intelligent, -hatte eine gewisse sittliche Gesundheit — ja sogar -ein Herz, aber das alles unter einer dicken Rinde wie -bei einem alten überwucherten Stamm zusammengepreßt -und gebunden. Seine Kräfte, die sich nicht auswirken -konnten, stauten sich und stockten. Von außen nahm er -nichts auf. Wenn er las, wenn er reiste, tat er es mit feindlichen -Augen und dem Verlangen, <span class='gesp'>sich</span> wieder zu finden. -Nichts schnitt durch die Rinde in sein innerstes Wesen hinein. -Was er an Leben hatte, kam von unten, von der -Wurzel, von der Erde — von den Toten.</p> - -<p>Er war der Typus jener Rassenschicht, die, zwar stark, aber -doch schon gealtert, nicht mehr genug Leben hat, um sich -nach außenhin zu entwickeln, und sich im Gefühl einer aggressiven -Verteidigung zusammenschließt. Sie beobachtet -mit Mißtrauen und Antipathie die neuen jungen Kräfte, -die sich rings um sie, innerhalb und außerhalb ihres Volkes, -entwickeln, die aufsteigenden Nationen und Klassen, alle -die leidenschaftlichen und ungeschickten Versuche sittlicher -und sozialer Erneuerung. Solche Leute brauchen, wie der -arme Barrès und sein verkrüppelter Held<a id='rB'/><a href='#fB' style='text-decoration:none'><sup><span style='font-size:0.9em'>[B]</span></sup></a>, Mauern, -Schranken, Grenzen und Feinde.</p> - -<p>In diesem Belagerungszustand lebte auch Vaucoux und -ließ die Seinen so leben. Seine sanfte, gleichmütige, verblühte -Frau hatte das einzige Mittel gefunden, diesem Zustand -zu entkommen: sie war gestorben. Allein mit seiner -Trauer zurückgeblieben, die er eifersüchtig behütete — wie -alles, was ihm gehörte —, errichtete er einen Schutzwall um -die Jugend seines einzigen, dreizehnjährigen Sohnes und -lehrte ihn, mit dem Vater zusammen diesen Schutzwall zu -bewachen. Wie seltsam, Söhne zu zeugen, um mit ihnen -gegen die Zukunft zu kämpfen! Sich selbst überlassen, hätte -der junge Bursche vielleicht das Leben von sich aus entdeckt, -aber im Gefängnis des Vaters wurde er eine Beute des -Vaters. Sie lebten in einem versperrten Haus mit wenig -Beziehungen, wenig Büchern, wenig Zeitungen, mit Ausnahme -einer einzigen, deren versteinerte Prinzipien am besten -Vaucoux’ Bedürfnis nach Erhaltung (im Sinne von Mumifizierung) -entsprachen. Sein Opfer, sein Sohn, konnte ihm -nicht entkommen. Er impfte ihm seine geistige Abirrung ein, -wie Insekten ihre Eier in den lebendigen Körper eines anderen -Tieres einpflanzen, und als der Krieg ausbrach, führte er -ihn in das Rekrutierungsbureau und ließ ihn einschreiben. -Für einen Mann seiner Art war das Vaterland das reinste -aller Wesen, das heiligste der heiligen. Er mußte nicht erst, -um sich zu begeistern, die heiße Luft und den Rausch der -Menge eintrinken (er hielt sich weit weg von der großen -Masse). Das Vaterland war in ihm. Das Vaterland: die -Vergangenheit, die ewige Vergangenheit.</p> - -<p>Und sein Sohn wurde getötet wie derjenige Clerambaults, -wie diejenigen von Millionen Vätern für den Glauben -jener Väter an ein vergangenes Ideal, an das sie selbst gar -nicht glaubten.</p> - -<p>Aber Vaucoux kannte nicht die Zweifel Clerambaults. -Zweifeln? Er wußte gar nicht, was Zweifeln bedeutete, und -hätte er es sich erlaubt, er würde sich verachtet haben. Dieser -harte Mensch liebte seinen Sohn leidenschaftlich, obwohl er -es ihm nie gezeigt hatte, und er wußte keine andere Art, es -nun zu beweisen, als durch einen leidenschaftlichen Haß -gegen diejenigen, die ihn getötet hatten. Freilich zählte er -sich nicht selber zu jenen, die ihn hingeschlachtet hatten.</p> - -<p>Für seine Rache waren ihm aber nur begrenzte Möglichkeiten -gegeben. Obwohl er Rheumatiker war und einen -steifen Arm hatte, wollte er in die Armee eintreten, wurde -aber nicht angenommen. Er mußte aber doch etwas tun -und vermochte es nur durch Denken. Allein in seinem -Haus, als Gefährten nur seine tote Frau und seinen toten -Sohn, gab er sich durch Stunden leidenschaftlichen Betrachtungen -hin. Wie ein Tier im Gefängnis, das an den -Stäben rüttelt, drehten sie sich rasend im Kreise des Krieges, -soweit ihn die Schützengräben zogen, voll Gier auszubrechen -und nach einer Öffnung suchend.</p> - -<p>Die Artikel Clerambaults, die ihm durch das Wutgeheul -seiner Zeitung bekannt wurden, brachten ihn außer sich. -Was?... Man versuchte ihm den Knochen des Hasses -aus den Zähnen zu reißen?... Schon aus dem wenigen, -was er von Clerambault vor dem Kriege kannte, -war dieser ihm unerträglich gewesen. Der Schriftsteller -durch seine Bemühung um neue Kunstformen, der Mann -durch seine Lebens- und Menschenliebe, seinen demokratischen -Idealismus, seinen ein wenig einfältigen Optimismus -und seine europäischen Wünsche. Auf den ersten -Blick, mit dem Instinkt des Rheumatikers (in den Gelenken -und im Geiste) hatte Vaucoux Clerambault unter jene eingereiht, -die einen Luftzug im Hause mit den verschlossenen -Fenstern und Türen, im Vaterlande, machen. Im Vaterlande, -natürlich so, wie er es verstand, denn für ihn gab es -kein anderes. So brauchte er nicht die besonderen Aufreizungen -der Zeitungen, um in dem Verfasser des „Aufrufes -an die Lebendigen“ und „Ihr Toten, verzeihet uns“ den -Agenten des Feindes — den Feind zu sehen.</p> - -<p>Und das Rachefieber, das ihn verzehrte, warf sich auf diese -Beute.</p> - -<hr class='footnotemark'/> - -<div class='footnote'> -<p class='footnote'> -<span class='footnote-id' id='fB'><a href='#rB'>[B]</a></span> - -„Simon und ich verstanden nun unseren Haß gegen die Fremden, -gegen die Barbaren und unseren Egoismus, in den wir mit uns selbst -unsere ganze kleine moralische Familie <span class='gesp'>einschließen</span>. Die erste Aufgabe -dessen, der leben will, ist, sich mit <span class='gesp'>hohen Mauern zu umgeben</span>. -Aber in seinen <span class='gesp'>geschlossenen</span> Garten läßt er jene ein, die von ähnlichen -Formen des Gefühls und gleichen Interessen geleitet sind.“ -(<span class='it'>Un Homme libre.</span>) In drei Zeilen spricht dieser „freie Mensch“ also -dreimal von „einschließen“, „sich mit Mauern umgeben“, „verschließen“.</p> - -</div> - -<hr class='footnotemark'/> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>M</span>ein Gott, wie bequem ist es, zu hassen, wenn man diejenigen -nicht versteht, die anderer Meinung sind!</p> - -<p>Clerambault war diese Leichtigkeit nicht gegeben, denn er -verstand vollkommen auch jene, die ihn verabscheuten, verstand -sie bis ins Letzte! Diese guten Leute litten bis zur -Tollwut an der Ungerechtigkeit des Feindes — zweifellos -deshalb, weil sie ihnen weh tat, aber auch aus ganz rechtschaffenen -Gründen, weil es eben <span class='gesp'>die</span> Ungerechtigkeit war, -die Ungerechtigkeit sonder gleichen. Denn kurzsichtig, wie -sie waren, erschien sie ihnen ganz einzigartig ungeheuerlich -und erfüllte verwirrend ihr ganzes Gesichtsfeld. Wie beschränkt -ist doch bei einem gewöhnlichen Menschen die Fähigkeit -des Gefühls und des Urteils! Versinkend in der ungeheuren -Weite, klammert er sich an die erstbesten vorübertreibenden -Trümmer, und so wie der Mensch den tausendfältigen -Strom des Lichtes sich zu einigen wenigen Farben -vereinfacht, so wird ihm das Gute und das Böse in den -Adern des Weltalls nur erkenntlich, wenn er es in ein -paar selbsterlebte Beispiele wie in Flaschen füllen kann. -Für ihn ist dann <span class='gesp'>das</span> ganze Gute, <span class='gesp'>das</span> ganze Böse der -Welt in diesen paar etikettierten Beispielen verschlossen, -und er konzentriert auf sie seine ganze Kraft der Liebe -und des Hasses. Für tausende sonst vortreffliche Leute ist -die Verurteilung Dreyfus’ oder die Torpedierung der „Lusitania“ -<span class='gesp'>das</span> Verbrechen des Jahrhunderts geblieben. -Diese guten Leute sehen eben nicht, daß der ganze Weg -der menschlichen Gesellschaft mit Verbrechen gepflastert -ist, über die sie ahnungslos hinwegschreiten, denn sie alle -haben unbewußt ihren Vorteil von unbekannten Ungerechtigkeiten, -die zu verhindern sie niemals die geringste Anstrengung -gemacht haben. Und welche Ungerechtigkeiten -sind eigentlich die schlimmeren, jene, die ein langdauerndes -und tiefes Echo im Gewissen der Welt erwecken, oder die -anderen, um die einzig das niedergetretene Opfer weiß?... -Aber diese braven Leute haben nicht genügend lange Arme, -um alles Elend der Welt zu umfassen. Wer zu viel umfaßt, -eignet sich nur wenig an. Deshalb klammern sie sich -gewöhnlich nur an irgendeine einzelne Ungerechtigkeit. Aber -die machen sie dann ganz zu ihrer Angelegenheit. Haben sie -sich einmal irgendein Verbrechen ausgewählt für ihren Haß, -dann verbrauchen sie dabei die ganze Kraft der Erbitterung, -die in ihren Eingeweiden lebt. Der Hund hat seinen Knochen -gefunden und knabbert daran. Weh’ dem, der daran -rührt!</p> - -<p>Clerambault hatte daran gerührt. So hatte er kein Recht, -sich zu beklagen, wenn er nun gebissen ward. Und er beklagte -sich auch nicht. Die Menschen haben ein Anrecht, die -Ungerechtigkeit, die sie sehen, zu bekämpfen, und es ist nicht -ihre Schuld, wenn sie davon nur die große Zehe sehen, so -wie Gulliver in Brobdignac. Jeder tut, was er kann.</p> - -<p>Und so bissen sie zu.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>s war am Karfreitag. Die große Sturzflut der Offensive -warf sich gegen das Herz Frankreichs. Auch der Tag der -heiligen Trauer unterbrach das Massaker nicht, denn der -bürgerliche Krieg kennt keinen Gottesfrieden mehr. Christus -war in einer seiner Kirchen bombardiert worden, und die -Nachricht von der mörderischen Explosion in der Kirche -Saint-Gervais gerade um die Vesperstunde verbreitete sich -nachts im lichtlosen Paris, das von Trauer, Zorn und -Furcht erfüllt war.</p> - -<p>Die Freunde hatten sich in ihrer Betrübnis bei Froment -versammelt. Ohne Verabredung waren sie hingekommen, -weil sie sicher waren, einander dort zu finden. Überall -sahen sie Gewalt: in der Vergangenheit, in der Zukunft, bei -dem Feinde, bei den Ihren, im Lager der Reaktion ebenso -wie in dem der Revolution. Ihre Angst und ihre Zweifel -vereinigten sich in einem einzigen Gedanken, und der Bildhauer -sagte:</p> - -<p>„Vergeblich beruhen unsere heiligsten Überzeugungen, unser -Glaube an den Frieden und die menschliche Brüderlichkeit -auf der Vernunft und der Liebe. Gibt es denn wirklich gar -keine Hoffnung, daß sie jemals Macht gewinnen über die -Menschen? Wir sind zu schwach!“</p> - -<p>Und Clerambault rezitierte, ganz ohne es zu wollen, die -Worte des Jesaias, die ihm plötzlich in Erinnerung kamen:</p> - -<p>„Dunkel bedecken die Erde, und der Schatten umhüllt die -Völker....“</p> - -<p>Er hielt inne. Aber von seinem kaum erhellten Bett fuhr -Froment unsichtbar fort:</p> - -<p>„Stehet auf, denn von den Gipfeln der Berge erscheinet -das Licht....“</p> - -<p>„Ja, es erscheint“, wiederholte aus dem Dämmer die -Stimme der Frau Froment, die zu Füßen des Bettes an -der Seite Clerambaults saß. Clerambault faßte ihre Hand. -Es war wie ein kühler Schauer, der durch das Zimmer lief.</p> - -<p>„Warum sagen Sie das?“ fragte der Graf Coulanges.</p> - -<p>„Weil ich Ihn sehe!“</p> - -<p>„Ich sehe Ihn auch“, sagte Clerambault.</p> - -<p>Der Doktor Verrier fragte:</p> - -<p>„Wen?“</p> - -<p>Aber ehe die Antwort noch ausgesprochen war, wußten -schon alle das Wort im voraus.</p> - -<p>„Der das Licht bringt ..., den Gott, der sie besiegt....“</p> - -<p>„Ihr wartet auf einen Gott!“ sagte der alte Hellenist, „Ihr -glaubt also an das Wunder?“</p> - -<p>„Das Wunder sind wir. Ist es denn nicht ein Wunder, -daß in dieser Welt unaufhörlicher Gewalttätigkeit wir den -Glauben an die Liebe und die Gemeinschaft der Menschen -bewahrt haben?“</p> - -<p>Coulanges sagte bitter:</p> - -<p>„Seit Jahrhunderten erwartet man den Christus, und -immer, wenn er kommt, erkennt man ihn nicht und kreuzigt -ihn. Und alle vergessen ihn dann mit Ausnahme einer -Handvoll Bettler, die gut und beschränkt sind. Diese Handvoll -vermehrt sich, und während eines Menschenalters blüht -der Glaube. Dann aber wird er verfälscht, wird durch seinen -Erfolg verraten, durch seine ehrgeizigen Diener, die Kirche. -Und das geht dann durch Jahrhunderte so dahin.... -<span class='it'>Adveniat regnum tuum</span> ... Aber wo, wo ist denn das -Gottesreich?“</p> - -<p>„In uns“, antwortete Clerambault. „Die Kette unserer -Prüfungen und Hoffnungen formt den ewigen Christus. -Wir sollten glücklich sein, wenn wir daran denken, daß uns -das Vorrecht zuteil ward, den neuen Gott in unserem -Herzen beherbergen zu dürfen wie das Kind in der Krippe.“</p> - -<p>„Aber was gibt uns das Zeichen, daß er gekommen ist?“ -fragte der Arzt.</p> - -<p>„Unser Sein“, antwortete Clerambault.</p> - -<p>„Unsere Leiden“, antwortete Froment.</p> - -<p>„Unser verkannter Glaube“, antwortete der Bildhauer.</p> - -<p>„Die einzige Tatsache schon, daß wir sind“, setzte Clerambault -hinzu, „dieser Widersinn, den wir der Natur ins Antlitz -schleudern, den diese aber bestreitet. Hundertmal entflammt -sich die Flamme und verlöscht wieder, ehe sie leuchten bleibt. -Jeder Christus, jeder Gott hat sich vorher zu gestalten versucht -in einer ganzen Reihe von Vorläufern. Überall sind -sie, verloren und vereinsamt im Raume und vereinsamt in -den Jahrhunderten. Aber diese Einsamen, die einander nicht -kennen, sehen alle am Horizont den gleichen leuchtenden -Punkt, den Blick des Erlösers. Und er kommt!“</p> - -<p>Froment sagte:</p> - -<p>„Er ist gekommen!“</p> - -<hr class='tbk103'/> - -<p>Als sie voneinander in einem Gefühl gegenseitiger Liebe -und fast wortlos geschieden waren, um nicht den gläubigen -Zauber, der sie umfaßte, zu zerstören, und jeder sich allein in -der Nacht der Straße fand, da bewahrten sie alle die Erinnerung -eines Schauers der Erleuchtung, den sie nicht verstehen -konnten. Der Vorhang war wieder vor ihnen niedergesunken. -Aber sie konnten nicht vergessen, daß er sich für -eine Sekunde ihnen aufgetan hatte.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>E</span>inige Tage später kam Clerambault, der einer Vorladung -des Untersuchungsrichters Folge geleistet hatte, -über und über mit Kot bedeckt nach Hause. Sein Hut, den er -in der Hand hielt, war ganz zerfetzt und seine Haare naß vom -Regen. Das Dienstmädchen stieß bei seinem Anblick einen -Schrei aus, er bedeutete ihr zu schweigen und ging in sein -Zimmer. Rosine war nicht zu Hause. Sonst sahen sich die -beiden Eheleute, die allein in der leeren Wohnung geblieben -waren, nur mehr bei den Mahlzeiten und sprachen sich auch -dann so selten als möglich. Aber der Schrei des Dienstmädchens -ließ Frau Clerambault ein neues Unglück vorausfühlen, -und die Erklärungen des Mädchens bestätigten nur -ihren Verdacht. Sie trat in das Zimmer Clerambaults -und rief nun ihrerseits aus:</p> - -<p>„Mein Gott, was hast du denn schon wieder gemacht?“</p> - -<p>Clerambault in seiner Beschämung lächelte schüchtern und -entschuldigte sich.</p> - -<p>„Ich bin ausgerutscht ...“</p> - -<p>Er versuchte die Spuren des Überfalls wegzusäubern.</p> - -<p>„Du bist ausgerutscht?... Drehe dich doch um ... Wie -du dich zugerichtet hast.... Mein Gott, man hat doch mit -dir keinen ruhigen Augenblick.... Du gibst wirklich gar nicht -acht.... Bis zu den Augen hinauf hast du Kotspritzer ... -und da auf der Wange....“</p> - -<p>„Ja, ich glaube, ich habe mich angeschlagen.“</p> - -<p>„Ach, was man für ein Unglück mit dir hat.... ‚du -glaubst‘ ... daß du dich angestoßen hast?... Bist du ausgerutscht?... -Bist du gefallen ...?“</p> - -<p>Sie sah ihm ins Gesicht. „Es ist nicht wahr!“</p> - -<p>„Aber ich sage dir doch ...“</p> - -<p>„Es ist nicht wahr ... sage mir doch die Wahrheit ... Man -hat dich geschlagen ...?“</p> - -<p>Er antwortete nicht.</p> - -<p>„Sie haben dich geschlagen!... Ah, diese wilden Tiere.... -Du armer Mann! Sie haben dich geschlagen! Dich, der -du so gut bist, dich, der in seinem ganzen Leben niemandem -Böses getan hat.... Ah, das ist doch zu viel Gemeinheit....“</p> - -<p>Sie umarmte ihn schluchzend.</p> - -<p>„Du gute Frau“, sagte er sehr gerührt, „das ist doch nicht -so wichtig. Und dann, ich mache dich ja schmutzig, du darfst -mich jetzt nicht anrühren.“</p> - -<p>„Das macht nichts“, sagte sie, „ich habe zu viel auf dem -Herzen! Verzeihe mir!“</p> - -<p>„Was soll ich dir denn verzeihen, ... was redest du denn -da?“</p> - -<p>„Auch ich bin schlecht gegen dich gewesen. Ich habe dich -nicht verstanden ... (ich werde dich ja nie verstehen), aber -ich weiß doch gut, daß, was immer du tust, du nichts als -das Rechte willst. Ich hätte dich verteidigen sollen und habe -es nicht getan, ich war dir böse über deine Dummheit (und -bin doch selbst die Dumme), ich war dir böse, daß du uns -mit allen andern auseinandergebracht hast.... Aber jetzt -... nein, das ist wirklich zu gemein.... Menschen, die nicht -würdig sind, deine Schuhriemen zu lösen, ... und sie -haben dich geschlagen! Laß mich doch dein armes beschmutztes -Gesicht küssen!“</p> - -<p>Es war so gut, sich wiederzufinden, nachdem man sich so -lange verloren hatte. Sie weinte lange am Halse Clerambaults. -Dann half sie ihm sich umkleiden, wusch ihm die -Wange mit Arnika und trug seine Kleider fort, um sie ausbürsten -zu lassen. Bei Tisch behütete sie ihn mit treuen, -unruhigen Augen und versuchte, ihn von seinen Sorgen abzulenken, -indem sie von altvertrauten Dingen sprach. Und -wie sie so beide an diesem Abend allein und ohne Kinder -im Hause waren, kam die Erinnerung an lang vergangene -Jahre, an die erste Zeit ihrer Ehe zurück. Und dieses geheime -Wiedererinnern hatte eine melancholische und verklärte -Milde, wie das Vesperläuten über das Dunkel noch -ein letztes warmes Leuchten des verlorenen Mittagläutens -hinklingen läßt.</p> - -<p>Gegen zehn Uhr abends ging noch einmal die Glocke. Es war -Julian Moreau mit seinem Freunde Gillot. Sie hatten -die Abendblätter gelesen, die auf ihre Art über den Vorfall -berichteten. Die einen sprachen von einer exemplarischen -Züchtigung durch die öffentliche Verachtung und rühmten -die „spontane“ Entrüstung der Menge. Die anderen, die -ernsten Blätter, taten so, als ob sie prinzipiell eine Volksjustiz, -die sich auf der Straße Luft machte, für ungehörig erklärten, -aber sie schoben die Verantwortung dafür auf die -Schwäche der Regierung, die solange zögerte, Licht in die -Affäre zu bringen. Es war gar nicht unwahrscheinlich, daß -dieser Tadel der Regierung von der Regierung selbst inspiriert -war, denn die geschickten Politiker lassen sich bei -manchen Gelegenheiten zu gewissen Dingen zwingen, die -sie gern selbst tun möchten, aber auf die sie nicht sehr stolz -sind. Die Arretierung Clerambaults schien also unmittelbar -bevorzustehen. Moreau und sein Freund waren darüber -beunruhigt, aber Clerambault machte ihnen ein Zeichen, -sie sollten in Gegenwart seiner Frau schweigen und führte -sie, nachdem er einige Zeit über den Vorfall in heiterer -Weise gescherzt hatte, in sein Zimmer. Dort fragte er sie, -was sie beunruhigte. Sie zeigten ihm einen haßerfüllten -Artikel jenes nationalen Blattes, das seit Wochen die Hetze -gegen Clerambault aufführte. Die Manifestation von heute -hatte jene auf den Geschmack gebracht, und sie forderten ihre -Freunde auf, sie morgen zu wiederholen. Moreau und -Gillot befürchteten Gewalttätigkeiten, wenn sich Clerambault -in den Justizpalast begeben würde, und sie waren gekommen, -um ihn zu überreden, nicht auszugehen. Sie -kannten seinen ein wenig furchtsamen Charakter und glaubten, -ihm nicht besonders zusprechen zu müssen. Aber ebensowenig -wie damals, als Moreau ihn mitten in einer Ansammlung -diskutierend getroffen hatte, schien Clerambault -sie zu verstehen.</p> - -<p>„Ich soll nicht ausgehen? Warum denn nicht, mir fehlt -doch nichts?“</p> - -<p>„Aber es wäre klüger!“</p> - -<p>„Im Gegenteil, es wird mir gut tun.“</p> - -<p>„Aber man weiß nicht, was Ihnen zustoßen kann.“</p> - -<p>„Das weiß man niemals, dazu hat man noch Zeit, sobald -es einmal geschehen ist.“</p> - -<p>„Also, um aufrichtig zu sprechen: es ist gefährlich. Man -reizt schon seit langem die Leute auf. Sie sind heute verhaßt -und Ihr Name genügt, ein paar von den Dummköpfen, -die Sie nur durch ihre Zeitungen kennen, bis zum -Platzen zu ärgern. Und diese Antreiber suchen ja nur einen -Eklat. Gerade durch die Ungeschicklichkeit Ihrer Gegner -haben Ihre Worte mehr Echo gefunden, als Sie dachten. -Nun fürchten sie, daß diese Ideen sich Bahn brechen und -wollen ein Exempel statuieren, um alle abzuschrecken, die -Ihrer Meinung sind.“</p> - -<p>„Ja, aber“, sagte Clerambault, „wenn es wirklich solche -gibt, die meiner Meinung sind — ich war dessen bisher -noch nicht gewiß — so darf ich mich in einem solchen Augenblick -doch nicht zurückziehen. Will man an mir ein -Exempel statuieren, so muß ich es über mich ergehen -lassen.“</p> - -<p>Er schien so guten Mutes, daß die beiden sich fragten, ob er -sie wirklich verstanden habe. „Ich wiederhole Ihnen“, sagte -Gillot nochmals, „daß Sie viel riskieren.“</p> - -<p>„Mein Freund“, sagte Clerambault, „heute riskiert die -ganze Welt sehr viel.“</p> - -<p>„Aber es muß doch wenigstens ein Nutzen bei so etwas sein; -warum wollen Sie ihnen eine Gefälligkeit erweisen und sich -in den Rachen des Löwen wagen?“</p> - -<p>„Nun, ich glaube wiederum, daß das uns im Gegenteil -sehr nützlich sein kann“, sagte Clerambault, „und daß, was -immer auch geschieht, der Löwe das Nachsehen haben wird. -Ich möchte auch das auseinandersetzen.... Sie verbreiten -ja nur unsere Ideen, denn die Gewalttätigkeit heiligt immer -die Sache, die sie verfolgt. Sie wollen Schrecken verbreiten, -und sie werden auch Schrecken verbreiten ... aber bei den -Ihren ..., bei denen, die noch zögern und verängstigt sind. -Lassen wir sie nur ungerecht sein, es geht auf ihre Kosten ...“</p> - -<p>Er schien zu vergessen, daß es auch auf die Kosten der Seinen -ging.</p> - -<p>Als sie aber sahen, daß er entschlossen war, wuchs mit ihrer -Unruhe auch ihr Respekt und sie erklärten:</p> - -<p>„In diesem Falle aber kommen wir mit unseren Freunden, -um Sie zu begleiten.“</p> - -<p>„Nein, nein, was ist das für ein törichter Einfall! Ihr -wollt mich doch nicht lächerlich machen ... und schließlich, -ich bin ja doch sicher, daß nichts geschehen wird!“</p> - -<p>Ihr Drängen blieb ohne jeden Erfolg.</p> - -<p>„Mich werden Sie jedenfalls nicht verhindern können, -zu kommen“, sagte Moreau, „ich habe einen ebenso -harten Kopf wie Sie. Lieber will ich die ganze Nacht auf -der Bank gegenüber der Tür verbringen, als Sie zu verfehlen -und allein zu lassen.“</p> - -<p>„Gehen Sie nur heim in Ihr Bett“, sagte Clerambault, -„und schlafen Sie ruhig. Wenn Sie unbedingt wollen, so -kommen Sie eben morgen früh, aber Sie werden Ihre -Zeit verlieren. Es wird nichts geschehen. Auf jeden Fall: -umarmen wir uns.“</p> - -<p>Sie umarmten ihn zärtlich.</p> - -<p>„Sehen Sie“, sagte Gillot schon an der Türschwelle, „man -hat irgendwie die Pflicht, Sie zu behüten, wir sind ein -wenig Ihre Kinder.“</p> - -<p>„Ja, das ist wahr“, sagte Clerambault mit einem guten -Lächeln.</p> - -<p>Er dachte an seinen Sohn. Als er die Tür schloß, vergingen -einige Minuten, bis er bemerkte, daß er aufrechtstehend -träumte, mit der Lampe in der Hand unbeweglich im Vorzimmer -stehend, in dem er sich eben von seinen Freunden verabschiedet -hatte. Es war fast Mitternacht, und Clerambault -war müde. Dennoch trat er, statt in das gemeinsame Schlafgemach -zu gehen, ganz unbewußt noch einmal in sein Zimmer -zurück. Das Zimmer, das Haus, die Straße waren -eingeschlafen; er setzte sich hin und fiel wieder in seine Starre -zurück. Undeutlich, ohne es eigentlich zu sehen, betrachtete -er den Lichtreflex vor sich auf der Glasscheibe einer Rembrandt-Radierung, -der „Auferstehung des Lazarus“, die -an einer Seitenwand seiner Bibliothek aufgehangen war.... -Er lächelte einem teuren Antlitz zu, das lautlos eingetreten -und nun bei ihm war.</p> - -<p>„Bist du nun zufrieden?“ dachte er, „das wolltest du doch?...“</p> - -<p>Und Maxime sagte: „Ja.“</p> - -<p>Und er fügte mit leisem Spott bei:</p> - -<p>„Es war nicht ganz ohne Mühe, bis ich dich so weit gebracht -habe, Papa.“</p> - -<p>„Ja“, sagte Clerambault, „wir haben viel von unseren Kindern -zu lernen.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>C</span>lerambault legte sich zu Bett. Seine Frau war schon -eingeschlafen. Keine Sorge ließ sie jemals den Frieden -jenes tiefen Schlummers verlieren, in den manche Seelen -wie in ein Grab hinabstürzen. Die Seele Clerambaults -hatte weniger Ungeduld, sich zu versenken. Auf dem Rücken -ausgestreckt, blieb er die ganze Nacht unbeweglich mit offenen -Augen liegen.</p> - -<p>Blasses Licht erhellte die Straße, zarte Halbdämmerung. -Stille Sterne standen am dunklen Himmel. Einer von -ihnen glitt nieder und beschrieb einen Kreis: es war ein -Flugzeug, das über der schlafenden Stadt wachte. Die -Augen Clerambaults folgten seinem Flug und schwebten -mit. Sein waches Ohr hörte nun auch das ferne Sausen -des menschlichen Planeten, diese Sphärenmusik, die die -Weisen Ioniens noch nicht geahnt hatten.</p> - -<p>Er war glücklich. Sein Körper und sein Geist schienen ihm -gleichsam beschwingt, seine Glieder ebenso wie seine Gedanken -entspannt, und so ließ er sich hinwegtragen und -schwebte.... Die Bilder des fiebrigen und ermattenden -Tages zogen noch einmal im Fluge vorbei, doch sie hielten ihn -nicht mehr fest.... Ein alter Mann, von einer Bande junger -Bürger gestoßen ... zuviel Lärm, zuviel Bewegung!... -Aber schon sind sie wieder weit, so wie Gesichter, die man -einen Augenblick an den Fenstern eines vorüberfliegenden -Zuges grinsen sieht. Aber der Zug ist vorüber, das Bild -stürzt in das Dunkel des donnernden Tunnels.... Aber -auf dem nächtlichen Himmel gleiten noch immer geheimnisvolle -Sterne, und rings um ihn sind die schweigenden -Räume, die dunkle Durchsichtigkeit und eisige Frische der -Luft über der nackten Seele. Oh, Unendlichkeit in einem -Tropfen des Lebens, im Funken eines Herzens, das erlöschen -will, das sich aber freigemacht hat und weiß, wie -bald es in seine große Heimat wiederkehrt!</p> - -<p>Und wie der treue Verwalter eines ihm vertrauten Gutes -machte Clerambault noch einmal die Bilanz seines Tages. -Er überflog alle seine Versuche, seine Anstrengungen, seine -Anläufe, seine Irrtümer. Wie wenig blieb übrig von -seinem Leben? Fast alles, was er aufgebaut, hatte er nachher -mit seinen eigenen Händen zerstört. Er hatte im gleichen -Herzen verneint, was er vordem bejaht hatte, und nie aufgehört, -im Walde der Zweifel und Widersprüche herumzuirren, -müde, blutend, erschöpft und als einzige Wegzeiger -die Sterne, die manchmal zwischen dem Gezweige -auftauchten und wieder verschwanden. Was für -ein Sinn war in diesem langen, stürmischen Lauf, der -in Nacht mündete? Ein einziger! Er war frei gewesen.</p> - -<p>Frei ...! Was war denn dies, diese Freiheit, die ihn mit -ihrer herrischen Trunkenheit übermannte, die Freiheit, -deren Herrn und Beute er sich zugleich fühlte, <span class='gesp'>dieser Zwang, frei zu sein?</span> -Er gab sich keiner Täuschung hin, -er wußte wohl, daß er ebenso wie die anderen der ewigen Gebundenheit -nicht entfliehen konnte, aber seine Fron war eine -andere (es ist nicht jedem die gleiche bestimmt). Das Wort -Freiheit drückt nur eines der hohen und klaren Gesetze der -unsichtbaren Herrin der Welt aus — der Notwendigkeit. -Sie ist es, die den Aufruhr der Vorkämpfer erweckt und sie -in Feindschaft stellt zur ewigen Vergangenheit, die die -dunklen Massen mit sich hinschleppt. Sie ist das Schlachtfeld -der ewigen Gegenwart, wo ewig die Vergangenheit mit der -Zukunft kämpft, und in diesem Kampfe zerbrechen unausgesetzt -die alten Gesetze, um neuen Gesetzen Raum zu geben, -die dann ihrerseits vernichtet werden.</p> - -<p>O Freiheit! Immer trägst du Ketten, aber es sind nicht -mehr die zu engen der Vergangenheit. Jede deiner Bewegungen -macht dein Gefängnis weiter. Wer weiß? Wer -weiß?... Vielleicht später einmal ... wenn man die -Mauern deines Gefängnisses zertrümmert....</p> - -<p>Inzwischen aber bemühen sich alle, die du retten willst, leidenschaftlich, -dich zu verlieren. Du bist der Staatsfeind, -„<span class='it'>L’Un contre tous</span>“, „der Eine gegen Alle“. (So hatten sie -den schwachen, den unsicheren, den mittelmäßigen Clerambault -genannt; aber nicht an sich selbst denkt er jetzt, sondern -an <span class='gesp'>den</span>, der immer war, seit Menschen sind, an <span class='gesp'>den</span>, der -nicht aufhört, ihre Torheit zu bekämpfen, um sie zu befreien, -<span class='gesp'>der Eine, gegen den sie alle sind</span>.) Wie oft haben -sie ihn im Laufe der Jahrhunderte zur Seite gestoßen und -niedergeschmettert! Aber im Schoße der Angst überkommt -ihn eine übernatürliche Freude und erfüllt ihn rauschend, -denn er ist das heilige Korn, das Goldkorn der Freiheit. Im -dunkeln Schicksal der Welt rollt seit dem Chaos — aus -welcher Ähre mag es gefallen sein? — das Samenkorn des -Lichtes. Schutzlos, hat es sich im Grunde des wilden Menschenherzens -eingekapselt. Im Lauf der Jahrhunderte hat es -dem Ansturm der Urgesetze widerstanden, die das Leben zerknicken -und zerbrechen. Und das goldene Samenkorn wird -größer und größer, unaufhaltsam.</p> - -<p>Der Mensch, das waffenloseste Tier, hat sich gegen die Natur -erhoben und sie bekämpft. Jeder seiner Schritte war mit -seinem Blut genetzt, und nicht nur außerhalb seiner selbst, -sondern in sich selbst, mußte er die Natur verfolgen, da er -ja selber ihr Teil ist. Und dies ist die schwerste Schlacht, die -der zerteilte Mensch gegen sich selbst führt. Wer wird siegen? -Einerseits die Natur auf ihren erzenen Wegen, die die Völker -und die Welt in den Abgrund reißt, auf der anderen -Seite das freie Wort. Verlacht es nur, ihr Sklaven!... -„Lächerlich!“ sagen sie, diese Anbeter der Gewalt: „Ein armseliger -Köter, der hinter den Rädern eines Schnellzuges -herkläfft.“ Ja, so stünde es, wäre der Mensch nur ein Stück -Materie unter dem Prägehammer des Schicksals, das blutet -und vergeblich stöhnt. Aber jener Geist ist in ihm, der -Achilles an der Ferse und Goliath an seiner Stirn zu treffen -weiß. Er braucht nur eine Schraube auszureißen, und der -reißende Zug entgleist und sein Lauf ist zerbrochen.... Rollt -hin durch die Jahrhunderte, ihr Planetenkreise, ihr dunklen -Menschenmassen, erhellt von den Blitzen des befreienden -Geistes, von Buddha, Jesus, den Weisen, den Zerbrechern -der Ketten.... Der Blitz naht, ich fühle ihn in meinem Gebein -knistern, wie unter dem Hufschlag des Pferdes der -Funken im Stein; die Luft bebt, die große Windwelle erhebt -sich.... Der Schauer, der dem Geschehnis voranläuft.... -Die dicke Wolke des Hasses preßt sich zusammen, häuft und -stößt sich.... O Feuer, bald bist du aufgesprungen!... -Ihr, die ihr allein gegen alle seid, worüber klagt ihr? Ihr -seid dem Joch, das euch niederdrückt, entronnen, und so wie -man im Alpdruck sich dem schwarzen Wasser eines Traumes -entringt, wieder kämpfend an die Oberfläche kommt, wieder -hinabstürzt und fast schon erstickt, um dann plötzlich in -einem verzweifelten Ruck aller Glieder sich aus dem Wasser -zu reißen und — gerettet! — auf das harte Gestein des Ufers -hinstürzt.... Möge es mein Fleisch schmerzend zerfetzen! -Um so besser, ich erwache doch wieder in freier Luft.</p> - -<p>Nun bin ich, du drohende Welt, deiner Fesseln los, du -kannst mich nicht mehr anschmieden. Und ihr, die ihr mich -und meinen verabscheuten Willen bekämpft, wißt, daß dieser -mein Wille in euch ist! Ihr wollt, wie ich, frei sein, und ihr -leidet daran, es nicht zu sein. Dies euer Leiden macht euch -zu meinen Feinden. Aber selbst wenn ihr mich tötet, dann -ist es nicht mehr an euch, zu sagen, ihr hättet das Licht, das -in mir war, nicht gesehen, oder, falls ihr es gesehen habt, -es zurückzuweisen! Schlagt also zu! Indem ihr mich bekämpft, -bekämpft ihr euch selbst. Von vornherein seid ihr -die Besiegten. Und ich, indem ich mich verteidige, verteidige -euch alle. Der „Eine gegen Alle“ ist der „Eine für -Alle“, und er wird bald der „Eine mit Allen“ sein.</p> - -<p>Nein, ich werde nicht allein bleiben, ich bin es nie gewesen. -Gruß euch, ihr Weltbrüder! So weit ihr auch sein möget, über -die Welt hingestreut wie der Samen aus einer Hand, so seid -ihr doch alle hier an meiner Seite: ich weiß es. Denn niemals -ist der Gedanke eines einsamen Menschen so wie er -selbst allein. Jede Idee, die in einem Menschen ersteht, -keimt schon in anderen Menschen, und immer, wenn irgendein -Unglücklicher, verkannt, geschmäht, sie in seinem Herzen -erwachen fühlt, möge er freudig sein. Denn es ist die ganze -Erde, die erwacht.... Der erste Funke, der in einer einsamen -Seele erglänzt, ist schon die Spitze jenes Strahls, der -die Nacht durchleuchten wird. So komme, Licht, verbrenne -die Nacht, die mich umgibt und die mich erfüllt....!</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>U</span>nd es kam. Das klare Licht des Tages war so jung und -hell wie nur je. Der Schmutz der Menschen kann es nicht -beflecken, die Sonne trinkt ihn auf wie einen Nebel.</p> - -<p>Frau Clerambault erwachte und sah ihren Mann mit offenen -Augen. Sie meinte, auch er sei eben erwacht, und -sagte:</p> - -<p>„Du hast gut geschlafen. Du hast dich nicht ein einzigesmal -in der Nacht gerührt.“</p> - -<p>Er widersprach nicht, lächelte aber bei dem Gedanken an die -lange Fahrt, die er gemacht hatte. Der Geist, der unruhige -Vogel, der durch die Nacht hinstreift, nun faßte er -wieder Fuß. Clerambault stand vom Bette auf.</p> - -<p>Zur gleichen Stunde stand ein anderer auf, der ebensowenig -wie er in dieser Nacht geschlafen hatte, und der ebenso das -Bildnis seines toten Sohnes sich vor den Blick gerufen -und der an ihn — an ihn, Clerambault, den er nicht kannte -— mit der ganzen Starrheit des Hasses dachte.</p> - -<p>Die erste Post brachte einen Brief von Rosine. Sie vertraute -ihrem Vater das Geheimnis an, das er seit langem -ahnte. Daniel hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, und -sie würden sich bei seiner nächsten Heimkehr von der Front -vermählen. Der Form halber erbat sie sich die Zustimmung -der Eltern, sie wußte wohl, daß ihr Wille auch der ihrige -war. Der Brief strahlte von einem Glück, das sich seine -jubelnde Gewißheit durch nichts zerstören ließ. Das traurige -Rätsel der zerrissenen Welt hatte nun plötzlich einen Sinn -bekommen, ihre junge, alles auftrinkende Seele empfand -das Leiden einer Welt als nicht zu hohen Preis für die -Blüte, die sie von diesem blutigen Rosenstrauch pflücken -durfte.... Immerhin verriet sich auch ihr mitfühlendes -Herz. Sie vergaß nicht die anderen und ihre Qual, den -Vater und seine Sorgen. Aber sie rührte sie mit seligen -Armen an, und es war, als wollte sie mit einer naiven und -zärtlichen Übermütigkeit sagen:</p> - -<p>„Ihr guten Freunde, quält euch doch nicht immer mit -euren Gedanken. Ihr seid wirklich unklug, man soll nicht -traurig sein. Ihr seht, das Glück kommt schließlich doch.“</p> - -<p>Clerambault lächelte gerührt, während er den Brief las.</p> - -<p>„Ja, ja, ganz gewiß, das Glück kommt, nur hat nicht die -ganze Welt Zeit, darauf zu warten.... Grüße es von mir, -kleine Rosine, und lasse es nicht mehr von dir.“</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>G</span>egen elf Uhr kam der Graf Coulanges, sich nach ihm zu -erkundigen. Er hatte Moreau und Gillot unten gefunden, -sie bewachten die Tür. Getreu ihrem Versprechen, wollten -sie Clerambault begleiten, aber sie waren eine Stunde früher -gekommen, als es eigentlich notwendig war, und wagten -nicht hinaufzugehen. Clerambault ließ sie heraufrufen und -verspottete sie wegen ihres übermäßigen Eifers. Sie gaben -zu, daß sie aus Mißtrauen gegen ihn gefürchtet hatten, er -würde, ohne auf sie zu warten, aus dem Hause entwischen, -und Clerambault mußte zugeben, eine ähnliche Absicht gehabt -zu haben.</p> - -<p>Die letzten Nachrichten von der Front waren gut. Seit -kurzer Zeit schien die deutsche Offensive ins Stocken geraten. -Seltsame Zeichen der Ermattung wurden sichtbar und Gerüchte, -die nicht unbegründet schienen, deuteten auf einen -geheimen Desorganisationsprozeß in dieser gewaltigen -Masse. Sie hatte, sagte man, die Grenzen ihrer Kraft erreicht -und überschritten: der Riese wurde matt. Man sprach -von einer Ansteckung durch den revolutionären Geist, den -die deutschen Truppen von der Ostfront aus Rußland zurückgebracht -hatten.</p> - -<p>Mit der Beweglichkeit, die für den französischen Geist so -charakteristisch ist, verkündeten mit einem Male die Pessimisten -von gestern den nahen Sieg. Moreau und Gillot -sahen in kurzer Zeit ein Abflauen der Leidenschaft, die Rückkehr -zur Vernunft, die Versöhnung der Völker und den -Triumph der Ideen Clerambaults voraus. Clerambault -warnte sie, sich allzufrüh den Illusionen hinzugeben, und es -bereitete ihm Spaß, ihnen zu beschreiben, was geschehen -würde, sobald der Frieden unterschrieben sei (denn das mußte -doch, wann immer auch, einmal geschehen).</p> - -<p>„Mir ist“, sagte er, „als könnte ich, wie der hinkende Teufel -nachts über die Stadt schwebend, den ersten Abend nach -dem Waffenstillstand sehen. Und ich sehe in den Häusern, -deren Vorhänge vor dem Jubelschrei der Straße herabgelassen -sind, unendlich viel Herzen in Trauer, Herzen, die -sich krampfhaft während all dieser Jahre mit dem Gedanken -eines Sieges aufrechtgehalten haben, der ihrem Unglück einen -Sinn oder den falschen Schein eines Sinnes gibt. Nun -können sie endlich sich entspannen oder zerbrechen, schlafen -oder endlich sterben. Die Politiker denken natürlich daran, -wie sie auf das schnellste und ausgiebigste die gewonnene -Partie ausnützen können oder, wenn sie sich verrechnet -haben, an einen neuen Aufschwung auf dem Trapez. Die -Fachleute des Krieges werden trachten, den Spaß solange -als möglich fortdauern oder, wenn ihnen dies -nicht gelingt, den Tanz so bald als möglich wieder beginnen -zu lassen. Die Vorkriegspazifisten werden eilig aus -ihren Winkeln und Löchern hervorkriechen und sich in rührenden -Demonstrationen ergehen. Die alten Bonzen, die -durch fünf Jahre die Trommel zum Vormarsch rührten, -werden, Palmenzweige in den Händen, lächelnd und das -Herz auf den Lippen, auftauchen und von Liebe reden. -Und die Kämpfer selbst, die im Schützengraben geschworen -haben, niemals zu vergessen, auch sie werden sich bereitwillig -mit allen Erklärungen, Glückwünschen und Händedrücken, -die man ihnen verabreicht, abfinden. Es ist ja auch -zu viel verlangt, nicht zu vergessen. Fünf Jahre aufreibender -Strapazen bereiten den Menschen gut zur Nachgiebigkeit -vor, durch die Erschöpfung, durch das ewige Einerlei, -durch den Wunsch nach einem Ende. Die rauschenden Klänge -des Sieges werden die Schmerzensrufe der Besiegten -ersticken. Und die meisten Menschen werden an nichts -anderes denken, als wieder die alten, schläfrigen Gewohnheiten -von vor dem Krieg aufzunehmen. Zuerst wird man -auf den Gräbern tanzen, dann wird man wieder schlafen. -Vom Krieg bleibt nichts als eine Prahlerei am Biertisch. -Und wer weiß, vielleicht wird ihnen dies Sichnichterinnern -so gut glücken, daß sie bald wieder dem Tanzmeister, dem -Sensenmann, helfen werden, aufs neue anzufangen. Selbstverständlich -nicht sofort, aber etwas später, wenn man gut -ausgeschlafen hat.... So wird überall der Friede sein — solange, -bis überall der neue Krieg da ist, denn Krieg und -Friede, meine Freunde, sind im letzten Sinne, wie sie meist -verstanden werden, nur zwei verschiedene Etiketten für dieselbe -Flasche. Es ist ganz so, wie der König Bomba von seinen -tapferen Soldaten sagt: „Zieht sie rot oder zieht sie grün -an, sie werden doch Fersengeld geben.“ Ihr könnt es Frieden -oder Krieg nennen, aber es gibt weder Frieden noch Krieg, -es gibt nur die allgemeine Knechtschaft, die Bewegung der wie -in Ebbe und Flut hingerissenen Massen und es wird solange -so bleiben, bis sich starke Seelen über den menschlichen Ozean -erheben und den scheinbar sinnlosen Kampf gegen das Schicksal -beginnen, das diese schweren Massen in Bewegung setzt.“</p> - -<p>„Gegen die Natur kämpfen?“ fragte Coulanges. „Denken -Sie daran, ihre Gesetze vergewaltigen zu wollen?“</p> - -<p>„Es gibt“, antwortete Clerambault, „kein einziges unabänderliches -Gesetz. Gesetze leben, verwandeln sich und sterben -wie alle irdischen Wesen, und es ist Pflicht des Geistes, -nicht, wie die Stoiker es wollen, sie einfach hinzunehmen, -sondern sie zu verändern, sie auf unser Maß zuzuschneiden. -Die Gesetze sind die Form der Seele. Entfaltet sich die -Seele, so müssen sie mit ihr wachsen. Ein gerechtes Gesetz ist -nur jenes, das auf mich paßt.... Bin ich im Unrecht, wenn -ich fordere, daß der Schuh sich dem Fuße anpasse und nicht -der Fuß dem Schuh?“</p> - -<p>„Ich sage nicht, daß Sie im Unrecht sind“, erwiderte der -Graf. „Den Versuch, die Natur zu vergewaltigen, machen -wir ja auch in der Züchtung. Wir verändern nicht nur die -Form, sondern auch den Instinkt der Tiere, warum sollte -das nicht auch beim Menschen gelingen.... Nein, ich -widerspreche Ihnen nicht, im Gegenteil, ich bin der Meinung, -daß es das Ziel und die Pflicht jedes Menschen, der dieses -Namens würdig ist, sein muß, so, wie Sie sagen, die menschliche -Natur gewaltsam weiter fortzubringen. Das ist die -Quelle des wahren Fortschrittes, und es ist ein wirklicher -Wert darin, auch wenn man das Unmögliche will. Freilich, -das soll nicht sagen, daß wir mit dem, was wir versuchen, -auch Erfolg haben werden.“</p> - -<p>„Nein, wir werden keinen Erfolg haben, weder für uns noch -für die Unseren. Es ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich, -daß unsere unglückliche Nation, vielleicht unser ganzes -Abendland, sich auf einem absteigenden Ast befindet, und ich -fürchte, daß der Absturz bald erfolgen wird, infolge ihrer -Laster und Tugenden, von denen diese wie jene mörderisch -sind durch ihren Stolz und ihren Haß, ihre provinzlerische -Eifersucht, durch die endlose Schraube der Revanchen, durch -beharrliche Verblendung, durch die erdrückende Treue zur -Vergangenheit und jene verjährte Auffassung von Ehre und -Pflicht, die sie die Zukunft für Gräber hinopfern läßt. Ich -fürchte nur allzusehr, daß auch die letzte Mahnung dieses -Krieges ihren lärmenden und zugleich trägen Heroismus -in nichts belehrt hat.... In früheren Zeiten hätte dieser -Gedanke mich niedergedrückt. Jetzt aber fühle ich mich wie -von meinem eigenen Leib von allem Todgeweihten losgelöst, -ich bin ihm nicht mehr anders als durch das Mitleid verbunden. -Aber dafür ist mein Geist brüderlich mit allem, -das — auf welchem Punkte der Erde auch immer — das -neue Licht empfängt. Kennt ihr die schönen Worte des -Sehers von Saint-Jean d’Acre: ‚Die Sonne der Wahrheit -ist wie das Himmelsgestirn, mit vielen Orten des Aufstieges. -An einem Tage erhebt es sich im Zeichen des Krebses, -ein andermal im Zeichen der Waage, aber die Sonne ist eine -und eine einzige Sonne. Einmal ging der Strahl der -Sonne der Wahrheit vom Wendekreis Abrahams auf und -ging unter im Zeichen Moses und entflammte den Horizont. -Dann erhob sie sich wieder im Zeichen Christi, glühend und -Glanz verbreitend. Diejenigen, die Abraham dienten, wurden -blind am Tage, da das Licht über dem Sinai glänzte. Aber -meine Augen werden stets — von welchem Punkt immer -sie sich erhebt — der aufgehenden Sonne entgegengerichtet -sein. Und ginge die Sonne im Westen auf, es wäre doch -die Sonne.‘ “</p> - -<p>„Und heute kommt uns von Norden das Licht“, sagte -lächelnd Moreau.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>O</span>bwohl die Vorladung auf ein Uhr lautete und es -kaum Mittag war, hatte es Clerambault doch eilig, -fortzugehen. Er fürchtete, zu spät zu kommen.</p> - -<p>Er hatte nicht weit zu gehen. Seine Freunde hätten ihn -nicht gegen die übrigens sehr spärliche Rotte zu verteidigen -brauchen, die ihn beim Eingang des Justizpalastes erwartete, -denn die Nachrichten des heutigen Tages lenkten von den -gestrigen ab. Höchstens hätten einige feige Köter, die sich -mehr lärmend als beunruhigend gebärdeten, versucht, ihm -von rückwärts die Zähne zu zeigen.</p> - -<p>Sie waren an die Ecke der Rue Vaugirard und Rue d’Assas -gekommen, als Clerambault bemerkte, daß er etwas vergessen -hatte, und seine Freunde für einen Augenblick stehen -ließ, um noch einmal hinaufzugehen und einige Papiere aus -seiner Wohnung zu holen. Sie blieben unten, um auf ihn -zu warten, und sahen, wie er den Fahrweg überquerte. Auf -dem Trottoir gegenüber, bei einem Wagenplatz, trat ihn ein -Mann seines Alters an, ein nicht sehr großer und ein wenig -schwerfälliger Mann aus dem Bürgerstand. Alles geschah so -schnell, daß sie nicht einmal Zeit hatten, einen Schrei auszustoßen: -ein Wortwechsel, ein ausgestreckter Arm, ein Knall. -Sie sahen Clerambault wanken und liefen hin. Aber es -war schon zu spät.</p> - -<p>Sie streckten ihn auf eine Bank hin, die Menge — -mehr neugierig als erregt — (ach, man hatte so viel -solcher Dinge gesehen und gelesen) drängte sich herzu und -gaffte.</p> - -<p>„Was ist denn?“</p> - -<p>„Ein Flaumacher.“</p> - -<p>„So, dann ist es schon gut! Die Schurken haben uns genug -geschadet.“</p> - -<p>„Nun, es gibt schon ein größeres Verbrechen, als zu wünschen, -daß dieser Krieg einmal zu Ende ist.“</p> - -<p>„Es gibt nur eine Möglichkeit, daß er zu einem Ende kommt, -und die ist, ihn bis an das Ende zu führen. Nur die Pazifisten -verlängern den Krieg.“</p> - -<p>„Sie sind sogar schuld daran! Ohne sie wäre nie einer gekommen, -der Boche hat mit ihnen gerechnet.“</p> - -<p>Und Clerambault dachte im Halbbewußtsein an die alte -Frau, die ihr Stück Holz zum Scheiterhaufen des Johann -Huß hinschleppte .... <span class='it'>Sancta Simplicitas</span>!</p> - -<p>Vaucoux hatte nicht die Flucht ergriffen und sich widerstandslos -den Revolver aus der Hand nehmen lassen. Man hielt -ihn fest bei den Armen. Er blieb unbeweglich und sah nur -sein Opfer an, das wiederum ihn betrachtete. Beide dachten -an ihre Söhne.</p> - -<p>Moreau bedrohte Vaucoux. Aber unerschütterlich und starr -in seinem Haßglauben sagte Vaucoux:</p> - -<p>„Ich habe den Feind getötet!“</p> - -<p>Gillot, der sich über Clerambault neigte, sah, wie er schwach -lächelnd Vaucoux betrachtete.</p> - -<p>„Mein armer Freund“, dachte er, „in dir selbst ist der Feind.“</p> - -<p>Er schloß wieder die Augen .... Jahrhunderte gingen vorbei....</p> - -<p>„Es gibt keine Feinde mehr!“</p> - -<p>Und Clerambault empfand selig den Frieden kommender -Welten.</p> - -<h3>§</h3> - -<p><span class='dropcap'>D</span>a ihn das Bewußtsein schon verlassen hatte, trugen ihn -die Freunde in das nahe gelegene Haus Froments. -Aber ehe sie es betreten hatten, war er verschieden.</p> - -<p>Sie legten ihn auf ein Bett in einem Zimmer neben jenem, -in dem der junge Gelähmte, umgeben von seinen Freunden, -ruhte. Die Tür stand offen und der Schatten des toten -Freundes schien bei ihnen zu weilen.</p> - -<p>Moreau ereiferte sich bitter über den Widersinn dieses Mordes, -der, statt einen der großen Verbrecher der triumphierenden -Reaktion oder einen der bekannten Anführer der revolutionären -Minderheiten zu treffen, sich gerade gegen einen -ungefährlichen, unabhängigen, allen brüderlich gesinnten -und fast zu nachsichtigen Menschen gewendet hatte.</p> - -<p>Aber Edme Froment sagte:</p> - -<p>„Der Haß täuscht sich nicht. Ihn leitet ein sicherer Instinkt... -Nein, er hat sich sein Ziel gut gesucht. Oft sieht der Feind viel -klarer als der Freund. Versuchen wir nicht, uns einer Illusion -hinzugeben: der gefährlichste Feind der Gesellschaft und -der bestehenden Ordnung ist und war in dieser Welt der -Gewalttätigkeit, der Lüge und der anderen Kompromisse -von je und immer her der Mann des vollkommenen Friedens -und des freien Gewissens. Nicht durch Zufall ist Jesus -gekreuzigt worden, es mußte so sein, und er wäre später auch -immer wieder zum Schafott geschleppt worden. Der Mann -des Evangeliums ist der radikalste Revolutionär von allen, -denn er ist die unerreichbare Quelle, aus der durch den -Spalt der harten Erde die Revolutionen aufspringen. Er -ist das ewige Prinzip der Nichtunterwerfung des Geistes -unter den Cäsar, wer immer es auch sei, der ewige Auflehner -gegen die ungerechte Gewalt. So erklärt sich der Haß der -Staatsknechte und der hörig gemachten Völker gegen den -gemarterten Christ, der auf sie niederschaut und schweigt, -und gegen seine Schüler, gegen uns, die ewigen Dienstverweigerer, -die „<span class='it'>conscientious objectors</span>“ wider alle -Tyranneien, mögen sie nun von oben kommen oder von -unten, mögen sie jene von morgen oder jene von heute sein -— gegen uns, die Verkünder dessen, der größer ist als wir, -der der Welt das Wort des Heiles bringt, dessen, den sie ins -Grab gelegt, des Meisters, den sie zu Tode martern werden -bis ans Ende der Welt, und der doch immer wieder auferstehen -wird — der freie Geist, unser Herr und Gott!“</p> - -<p class='line' style='text-align:left;margin-left:2em;margin-top:4em;'><span class='gesp'>Sierre</span> 1916 — <span class='gesp'>Paris</span> 1920</p> - -<hr class='pbk'/> - -<p class='line' style='text-align:center;margin-top:.5em;font-size:1.2em;font-weight:bold;'>Anmerkungen zur Transkription</p> - -<p>Offensichtliche Druck- und Rechtschreibfehler wurden korrigiert. -Bei Varianten der Schreibweise wurde die häufigste verwendet.</p> - -<p>Die Zeichensetzung wurde nur bei eindeutigen Druckfehlern geändert. -Für dieses eBook wurde ein Cover erstellt, das nun gemeinfrei ist.</p> - -<p class='noindent'>[Das Ende von <span class='it'>Clerambault</span>, -von Romain Rolland.]</p> - -<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK CLERAMBAULT ***</div> -<div style='text-align:left'> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Updated editions will replace the previous one—the old editions will -be renamed. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. 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Redistribution is subject to the trademark -license, especially commercial redistribution. -</div> - -<div style='margin:0.83em 0; font-size:1.1em; text-align:center'>START: FULL LICENSE<br /> -<span style='font-size:smaller'>THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE<br /> -PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK</span> -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free -distribution of electronic works, by using or distributing this work -(or any other work associated in any way with the phrase “Project -Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full -Project Gutenberg™ License available with this file or online at -www.gutenberg.org/license. -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -1.A. 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Information about the Mission of Project Gutenberg™ -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of -electronic works in formats readable by the widest variety of -computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It -exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations -from people in all walks of life. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Volunteers and financial support to provide volunteers with the -assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s -goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will -remain freely available for generations to come. In 2001, the Project -Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure -and permanent future for Project Gutenberg™ and future -generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see -Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit -501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the -state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal -Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification -number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by -U.S. federal laws and your state’s laws. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, -Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up -to date contact information can be found at the Foundation’s website -and official page at www.gutenberg.org/contact -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread -public support and donations to carry out its mission of -increasing the number of public domain and licensed works that can be -freely distributed in machine-readable form accessible by the widest -array of equipment including outdated equipment. Many small donations -($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt -status with the IRS. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Foundation is committed to complying with the laws regulating -charities and charitable donations in all 50 states of the United -States. Compliance requirements are not uniform and it takes a -considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up -with these requirements. 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Donations are accepted in a number of other -ways including checks, online payments and credit card donations. To -donate, please visit: www.gutenberg.org/donate -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Professor Michael S. Hart was the originator of the Project -Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be -freely shared with anyone. For forty years, he produced and -distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of -volunteer support. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed -editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in -the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not -necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper -edition. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Most people start at our website which has the main PG search -facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -This website includes information about Project Gutenberg™, -including how to make donations to the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to -subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. -</div> - -</div> - -</body> -</html> diff --git a/old/66532-h/images/cover.jpg b/old/66532-h/images/cover.jpg Binary files differdeleted file mode 100644 index bf0f47c..0000000 --- a/old/66532-h/images/cover.jpg +++ /dev/null diff --git a/old/66532-h/images/illo133.png b/old/66532-h/images/illo133.png Binary files differdeleted file mode 100644 index 1254749..0000000 --- a/old/66532-h/images/illo133.png +++ /dev/null |
