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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-01-25 01:09:37 -0800 |
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If you are not located in the United States, you -will have to check the laws of the country where you are located before -using this eBook. - -Title: Auf märkischer Erde - -Author: Hanns von Zobeltitz - -Release Date: October 11, 2022 [eBook #69133] - -Language: German - -Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at - https://www.pgdp.net - -*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUF MÄRKISCHER ERDE *** - - - #################################################################### - - Anmerkungen zur Transkription - - Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1910 so weit - wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler - wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht - mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original - unverändert. Fremdsprachliche und regional gefärbte Ausdrucksweisen - wurden unverändert übernommen. - - Die Buchversion wurde in Frakturschrift gesetzt. Besondere - Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der folgenden - Sonderzeichen gekennzeichnet: - - kursiv: _Unterstriche_ - fett: =Gleichheitszeichen= - gesperrt: +Pluszeichen+ - - #################################################################### - - - - - Auf märkischer Erde - - - - - _~HANNS VON ZOBELTITZ~_ - - Auf märkischer Erde - - Roman - - [Illustration] - - ~NEUFELD & HENIUS / VERLAG / BERLIN~ - - - - - +Alle Rechte vorbehalten+ - - ~Copyright 1910 by Egon Fleischel & Co., Berlin~ - - - Gedruckt bei A. Heine, G. m. b. H., Gräfenhainichen - - - - -Erstes Kapitel - - -Die Rackowschen waren soeben fortgefahren. Im großen Zimmer räumte -Helene mit dem Stubenmädchen den Kaffeetisch ab. Ihr feines Näschen -schnoberte, wie’s der Vater nannte, dem leisen, süßen Duft von Waffeln -und Pariser Parfüm nach, der noch im Raum lag. Immer hinterließ Tante -Marie diesen Veilchengeruch mit dem Moschusakzent, und immer rief er in -Helenens erregbarer Phantasie unklare Vorstellungen wach von unerhörtem -Luxus, von rauschenden Seidenkleidern, kostbaren indischen Schals, -koketten Kapotthütchen, von funkelnden Brillanten und Perlenreihen, -die sich um tiefentblößte weiße Nacken schmeichelten. Ganz merkwürdig: -immer war dann auch das Bild der schönen Kaiserin Eugenie da, von der -die Rackowschen vorhin wieder erzählt hatten. Tante Marie von ihrer -Anmut und Eleganz, von den Kleidern, die sie auf der Brunnenpromenade -in Ems getragen, und wie groß der Umfang ihrer Krinoline gewesen wäre; -Onkel Ernst mit zugespitzten dicken Lippen von ihrer Schönheit, ihrem -üppigen rotblonden Haar, ihrem blendenden Teint. Und daß und wie der -General Fleury immer um sie gewesen wäre. Da hatten die Herren gelacht, -aber Tante Marie und Martha hatten verstohlene Blicke gewechselt. - -Die Tassen klirrten leise unter ihren Händen. Sie fühlte, wie ihr das -Blut in die Wangen stieg. - -Der Rittmeister schritt schweigend auf dem hausgewirkten Läufer -entlang, der in der Diagonale des großen Zimmers lag, von der -Korridortür bis zur Tür der Vorratskammer. Straff aufrecht ging er, -die Hände auf dem Rücken, den Kopf mit dem weißen, ein wenig gelockten -Haar etwas vorgebeugt, seine gewohnten zwölf Schrittchen hin, zwölf -Schrittchen zurück. Jedesmal, wenn er kehrt machte, sah er zärtlich -zu seinem Spätling hinüber. Aber seine Gedanken waren nicht um Helene -beschäftigt. Auch sie gingen nach Paris. Immer, wenn der Name Paris -fiel, dachte er an seine große Zeit zurück, an die Tage, an denen er -sich das Kreuz von Eisen gewonnen hatte, an seinen geliebten Marschall -Vorwärts und an den anderen Napoleon, den er heut noch haßte wie Anno -13. Ebenso haßte, wie er den Neffen verachtete, ihn und das ganze -Getriebe um ihn her. Ein ehrlicher und kritikloser Haß war’s, und eine -ehrliche und kritiklose Verachtung, ganz im altpreußischen Zuschnitt. - -An dem letzten der drei Fenster saß Mutter. Mutter -- Omama genannt, -seit die Kinder von Bruder Wilhelm im Hause waren und heranwuchsen. -Selbst Helene vergaß sich manchmal und sagte Omama zu ihrer Mutter. Vor -dem birkenen Nähtisch saß sie und träumte mit ihren großen blauen Augen -ins Freie, in die grünen Fliederbüsche des Gartens hinaus. Die Hände im -Schoß und die Lippen in leiser, stummer Bewegung. Vielleicht skandierte -sie wieder einmal. Schrieb’s wohl auch am Abend heimlich auf und -legte es heimlich in das Glaskästchen mit den blauen Bändern, wo ihr -Allerheiligstes und Allerheimlichstes war, ihr Reliquienschrein. Der -alte Rittmeister nannte ihn spottend den Körnersarg. Denn ganz unten -lagen ein paar vertrocknete Veilchen, die der Sänger einst der Omama -verehrt hatte. Lang, lang war’s her, und aus der jungen Komteß Grucker -war ein verhutzeltes altes Frauchen geworden, aus der gefeierten -Schönheit, der reichen Erbin eine kleine, greise märkische Edelfrau. -Aber sie konnten’s beide nicht vergessen: Omama nicht die eine -Begegnung, die eine Stunde unter der Eiche im Park, und der Rittmeister -nicht seine rasende Eifersucht. Trotzdem die schleichende Zeit sonst so -vieles ertötet und begraben hatte. - -Es war totenstill im großen Zimmer. Nur das Ticken der Kuckucksuhr -klang, und bisweilen schnappte Diana, die am Ofen lag, nach einer -verspäteten Fliege. Dann blitzte der alte Herr aus seinen scharfen -Augen mißbilligend hinüber und machte halblaut: Kusch. Gleich legte der -Köter gehorsam den feinen Kopf zwischen die Pfoten. Einen höllischen -Respekt hatten die Hunde. Der Rittmeister dressierte sie selber; noch -nach der alten Methode, mit Peitsche und Korallenhalsband. - -Der Kaffeetisch war längst abgeräumt. Das Mädchen hatte das Damasttuch -mit hinausgenommen, Helene breitete die braune Plüschdecke über den -Tisch. Wie immer verdroß sie dabei der große runde Fleck, auf dem am -Abend die Lampe stand. Sie strich von rechts drüber hin und von links. -Es half nichts. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. -Abgeschabt und ärmlich. Altmodisch und ärmlich. Wo sie auch hinsah, -alles im Zimmer abgeschabt, altmodisch und ärmlich. Die Tapete mit den -kleinen Vierecken und den bunten Sträußchen in jedem Quadrat voller -Flecken; der Sofateppich mit dem Rosenmuster dünn; die Zimmerdecke -grau verblakt; das eckige, steiflehnige Kanapee eingesessen. Und sie -dachte wieder an das elegante Rackow und an die elegante Tante Marie, -die so häßlich war wie die Nacht und doch alle Welt bezauberte, dachte -darüber hinaus wieder an Paris und an die Toiletten der Imperatrice, -an funkelnde Diamanten und an Perlenketten, die sich um tiefentblößte -weiße Nacken schmeichelten. Und an die Große Oper dachte sie, von der -die Rackower erzählt hatten. An die erste Aufführung des „Tannhäuser“, -der die im vorigen Jahr in Paris beigewohnt hatten, dachte sie, und was -das für eine kuriose Musik gewesen sein sollte, von einem Deutschen -namens Wagner, einem Revolutionsmann von 48 -- und dann dachte sie an -die Desirée Artôt und an die kleine Pauline Lucca, die in Berlin seit -dem vorigen Jahr alle Herzen entflammte. Bruder Wilhelm konnte ja nicht -genug Wesens von ihr machen. - -Helene war an den Ofen getreten. Fast wie im Trotz lehnte sie sich -fest an ihn und fühlte dabei, daß ihre Hände fiebrig heiß auf den -kalten Kacheln lagen. - -Immer noch machte Vater seinen eintönigen Marsch in der Diagonale. -Immer noch träumte Mutter zum Fenster hinaus. Immer noch -- immer noch. -Die Luft war so drückend, und es schien, als senkte sich die graue -Zimmerdecke langsam immer tiefer. - -„Ich geh’ hinaus auf die Veranda“, sagte sie plötzlich scharf in die -Stille hinein. Und wunderte sich, daß sie’s überhaupt sagte. - -Der alte Rittmeister unterbrach seinen Marsch nicht, nickte nur, -lächelte ihr zu. Mutter sah flüchtig auf. „Nimm mein Tuch um, Lenchen. -Es wird schon kalt gegen Abend.“ - -„Mich friert nicht. Ich geh’ zur Post mit den Jungens. Oder ich geh’ zu -Pastors.“ - -Eigentlich hätte sie sagen mögen: ich geh’ in die weite Welt hinaus. -Und wußte doch, daß ihre Welt drüben an der neuen Chaussee, an der -schnurgeraden Pappelreihe ihr Ende hatte. Aber vielleicht sah, faßte -sie dort wirklich die Post, die von Frankfurt kam ... und hinter -Frankfurt lag Berlin ... zwei Stunden nur mit der Eisenbahn, und der -wundervolle köstliche Dampfwagen raste von Berlin weiter hinaus in die -Weite, in diese köstliche, wundervolle Weite .. - -Aber dann, als die schwere eichene Haustür hinter ihr ins Schloß -gefallen war, blieb sie doch auf der Veranda stehen. - -Denn da saß Martha, hatte eine gewaltige irdene Schüssel im Schoß und -schnipselte Bohnen. Fleißig wie immer. Grad daß sie über das bessere -Kleid, das sie den Rackowern zu Ehren in der Eile angetan, die große -Küchenschürze gebunden hatte. - -Als Helene sie so sah, wurde wieder etwas wie Trotz in ihr wach, eine -Auflehnung gegen das Bild der Alltäglichkeit. Sie fragte hastig: „Warum -quälst du dich selber, Martha? Laß das doch Mamsell machen.“ Und sie -wurde rot dabei, denn sie liebte die junge Schwägerin in ihrem heißen -Herzen, hegte eine unwillige Bewunderung für sie. - -Martha Hackentin sah nur einen Augenblick auf. „Ich kann doch nicht -müßig sein. Mamsell hat in der Leuteküche zu tun.“ Da lief Helene -zurück an den Schrank im Flur, holte sich ein Küchenmesser, zog sich -einen Stuhl heran und griff in die irdene Schüssel. Es ging ihr gut von -der Hand, wenn sie irgendeine Arbeit begann, aber sie hatte keinerlei -Neigung zur wirtschaftlichen Betätigung und erlahmte schnell. - -Auch jetzt lehnte sie sich bald zurück und sah der Schwägerin zu. Sah -auf den glatten dunklen Scheitel und die weiße, etwas niedrige Stirn, -die tief über das Gefäß gesenkt war. Sah auf die Hände, die, so gut sie -gehalten waren, die stark tätige Hausfrau verrieten. - -„Sehnst du dich nie nach der Stadt?“ fragte sie plötzlich. - -„Wie sollte ich, Helene? Ich bin ja gern in Rohlbeck. Ich bin doch -hier zu Hause.“ Martha hatte auf einen Moment die klaren grauen Augen -gehoben, hatte ein wenig mit dem Kopf geschüttelt: Helene tat oft gar -zu merkwürdige Fragen. - -„Nun ... du bist doch aus der Stadt. Du bist doch kein Landkind.“ - -„Aber ich hab’ hier meine Heimat gefunden. Meine liebe zweite Heimat.“ -Sie schwieg einen Augenblick. „Ich hab’ meine Kinder hier und meine -Arbeit.“ - -„Ja. Freilich! Arbeit hast du, von früh bis spät. Die erste im Hause -auf und die letzte in den Federn. Man müßte sich eigentlich schämen vor -dir. Man müßte --“ - -„Du Närrin! Mir ist’s noch nie zu viel geworden.“ - -Eine Weile war’s stille zwischen ihnen. Auch Helene hatte wieder in die -Schüssel gegriffen, aber sie zog die Bohnen nur spielend durch ihre -feingliedrigen langen Hände. Es war wieder, wie es oft war. Sie hätte -der Schwägerin nicht weh tun wollen -- um alles in der Welt nicht. Aber -sie einmal ein wenig aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, an -ihrem ewig gleichen, schönen Maßhalten zu rütteln: das reizte sie wie -eine verbotene Frucht. - -„Wilhelm bleibt diesmal fürchterlich lange in Berlin.“ - -„Er muß wohl.“ - -„Wenn ich an deiner Stelle wär’, Martha -- ich stürbe vor Sehnsucht.“ - -„Es stirbt sich nicht so leicht, du Kind.“ - -Noch immer klang die Stimme gleich gelassen. Aber die Hände ruhten doch -auf eines Atemzugs Länge am Rande der Schlüssel, und die weiße, schmale -Stirn hatte sich noch ein wenig tiefer geneigt. - -„Du sagst das so: Wilhelm muß! Meine brüderliche Liebe hat an unserer -Öde hier nie besonderen Gout gefunden.“ - -Diesmal sah Martha voll auf. Eine leichte Röte stieg in ihr weiches -Gesicht, flutete über den klaren Teint, der vielleicht das Schönste an -ihr war, und ebbte gleich wieder ab. - -„Das war nicht hübsch von dir, Helene“, sagte sie dann bestimmt. „Du -weißt es doch: die kleine Klitsche kann nicht zwei Familien ernähren, -und Wilhelm war nicht so ... nicht so vorsichtig, sich eine reiche Frau -zu nehmen. Da muß er eben Geld verdienen ... und hat’s gewiß dabei oft -schwer genug.“ - -„Das elende Geld!“ rief Helene. „Das herrliche, das wunderherrliche -Geld. Ach Martha ... einmal so recht in Friedrichsdore wühlen können! -Scheffelweise möcht’ ich’s haben. So reich sein wie die Rackower, ein -großes, glänzendes Haus machen, reisen, die Welt sehen ...“ - -„Und glaubst du, daß das glücklich macht?“ - -„Ja! Ja! Mich gewiß. So wie ich nun mal bin. Sieh mich nur strafend an, -nenn’ mich nur schlecht! Ich kann mich nicht ändern. Ihr alle könnt -mich nicht ändern!“ Heiß hatte sie’s herausgestoßen, mit halblauter, -mühsam verhaltener Stimme. Den rostbraunen Haarschopf warf sie zurück, -strich sich mit beiden Händen über die Schläfen. Und dann kam gleich -der Rückschlag. Die Hände sanken in den Schoß. „Aber wir sind ja hier -alle arm wie die Kirchenmäuse. Die ganze Sippe: die Golziner, die -Steckschen, die Buckschen. Grad nur die Rackower machen eine Ausnahme, -weil die Tante Marquise die Millionen hat. Sonst ... es ist ein Jammer -um den elenden märkischen Sand!“ - -Martha war aufgestanden. Sie setzte die große Schüssel auf den eichenen -Tisch. Nun siegte der Unwille doch über ihre Gelassenheit. „Du bist -ein rechtes Kind, Helene“, sagte sie ziemlich scharf. „Schäm’ dich, -unsere liebe Scholle zu schelten. Die ist treu, wenn sie auch karg -sein mag. Und wir müssen Treue um Treue vergelten. Geh hinüber auf den -Kirchhof, schau’ dir die alten Gräber an. Da liegen deine Vorfahren, -Reihe um Reihe, seit dreihundert Jahren. Seit dreihundert Jahren hat -das gegolten: Treue um Treue. Daß dir das die Städterin sagen muß, dir, -Helene! Schäme dich!“ - -Eine Sekunde stand Helene noch im Trotz. Dann flog sie der Schwägerin -jäh um den Hals und küßte sie rechts und links auf die Wangen. „Du -Gute! Du Liebe! Du Allerbeste ...“ - -Da trat gerade der alte Herr aus der Haustür, und als er seinen -Spätling und die Schwiegertochter in der engen Umarmung sah, lachte er -froh: „So hab’ ich euch gern. Das heißt“ -- er legte den gekrümmten -rechten Zeigefinger um den Nasenrücken -- „das heißt ... die -Überschwenglichkeit stammt natürlich von der Helene. Hat sie von der -guten Mama. Die war auch so ... gleich aus dem Häuschen ... das heißt, -damals, als wir noch jung waren. Lieber Gott ... ja ... und ist das -heut nicht ein schöner Septemberabend?“ - -Das letzte sagte er schon, sich umwendend, auf der Mitte der -tief ausgetretenen Treppenstufen, die von der Veranda in den -Garten hinabführten. Und ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er -weiter hinunter, den breiten sandigen Fahrweg entlang, der, von -sonnverbrannten kümmerlichen Rasenbeeten umsäumt, am Tore in den -Dorfanger mündete. - -Es war die Stunde, zu der er sich seit Jahrzehnten, Sommer und Winter, -dort am Torweg mit dem Pastor ~loci~ traf. Das Wetter mußte schon -sehr schlecht sein, wenn der alte Rittmeister und Pastor Heckstein ihr -Rendezvous in die große Stube des Schlosses, wie das herrschaftliche -Haus trotz aller Einfachheit von alters her genannt wurde, oder in -das verräucherte Studierzimmer des Pfarrhauses verlegten. Wetterfeste -Greise, die sie waren. Dem Rittmeister verschlug’s nichts, mit seinen -fast siebzig Jahren bei strengster Kälte ein paar Kesseltreiben -mitzumachen, und Heckstein, der nur wenige Jahre jünger war, fuhr im -Winter regelmäßig im offenen Wägelchen ohne Pelz nach seinen beiden -Filialdörfern, Dommelt und Rackow, stand im dünnen Talar in der -ungeheizten Kirche auf der Kanzel und lachte nachher vor der Kirchtür -seinen anderen Freund und Patron Ernst Hackentin aus, wenn der -schimpfend die gewaltige Kugel seines Korpus in kostbaren Zobelpelz aus -dem gutsherrlichen Gestühl herausrollte. - -Auch heut kam er pünktlich des Wegs vom Pfarrhause her, der kleine -hagere Mann im schwarzen Düffelrock mit dem schwarzen breitkrämpigen -weichen Filzhut über dem scharfkantigen bartlosen Gesicht, aus dessen -brauner Lederhaut die großen Augen hell und gutmütig, aber auch eigen -lustig und listig herausleuchteten. Er stapfte mit gemächlichen -Schritten, hob hier seinen dicken Knotenstock drollig drohend gegen den -halbwüchsigen Christian Metzger, der in der letzten Konfirmandenstunde -gedöst haben mochte und nun schleunigst Reißaus nahm; blieb dort -stehen, um einer Gänseherde, die in wohlgeordneter Marschordnung -über den Anger zog, wohlgefällig nachzuschauen, und fragte die -Frau Kantorin, die am Zaun stand, wie ihre berühmten Gravensteiner -heuer zu geraten versprächen. Da gerade die hübsche Anna Flehr, die -Kantorstochter, am selbigen Zaun Maulaffen feilhielt, so kniff er ihr -im Vorübergehen fest in die runde, rosige Backe. Für ein hübsches -Menschenkind hatte er das gleiche Verständnis wie für einen guten -Apfel, wobei ihm aber ein frisches Mädel lieber war als ein Bube und -ein duftender Gravensteiner lieber als eine schrumpliche Reinette. - -Vor ihm her trottelte Waldmann, rastete, machte einen Bogen, lief -wieder ein Stückchen voraus, kam zurück, schlenkerte mit dem langen -Behang -- kurz, benahm sich höchst willkürlich. Ganz im Gegensatz zur -Diana, die haarscharf hinter dem linken Fuß ihres gestrengen Herrn -blieb, mit der feinen Nase dicht an dessen grauem Beinkleid. Und die -grundsätzlich nie von dem pastoralen Dackel Notiz nahm. - -Schon von weitem grüßten sich die beiden alten Herren. Der Rittmeister -hob militärisch zwei Finger an sein Käppchen; der Pastor berührte -flüchtig die Hutkrempe. - -„N’Abend, Hackentin. Wie geht’s? Wie steht’s?“ - -„N’Abend, Pastor. Alles gut zu Wege bei dir?“ - -Sie nannten sich seit achtunddreißig Jahren du; seit Heckstein den -Wilhelm getauft hatte. Mit dem stand er nun auch schon zwölf Jahre -auf du und du, seit dem Tauftage seines Ältesten. Und dem hatte -Heckstein neulich mit einem freundschaftlichen Jagdhieb eröffnet: „Na, -Junker Hans, wenn ich deinen Erstgeborenen taufe, machen wir beide -Brüderschaft. Sput’ dich nur ’n bissel, daß ich nicht zu lange warten -brauch’.“ - -Ein paar Augenblicke blieben die alten Freunde zwischen den Pfosten -des Torwegs stehen, zwei vierkantig behauenen, schwarzgeteerten -Eichenstämmen, jeder mit einer Vollkugel gekrönt, die gelegentlich auf -der Feldmark gefunden worden waren; Kantor Flehr, der ein Bücherwurm -war, hatte damals eine gelehrte Untersuchung angestellt, nach der sie -russischer Providenz sein sollten und aus den Julitagen 1759 stammten, -in denen General Wedel sich vor Soltykow über die Oder zurückziehen -mußte. - -Der Pastor sah auf die frische Radspur. „Die Rackower waren hier. Wie -waren sie denn, Hackentin?“ - -„Ernst ist noch ’n bissel dicker geworden, denk’ ich. Das heißt --- wenn’s möglich ist. Mariechen war herablassend wie immer, ganz -Marquise, hatte ein Monstrum von Krinoline an, ein Kleid mit verrückt -vielen Volants und dazu einen neuen Sonnenschirm, blaue Seide mit -Spitzen, der wohl wieder die Weiber auf zehn Meilen im Umkreis -verdreht machen wird. Das heißt -- sie nannte das Ding natürlich nicht -Schirm, sondern ~ombrelle~. Auf der Rechnung nimmt sich das -übrigens tout-egal aus, und bezahlt wird die doch sobald nicht.“ - -Sie zwinkerten sich, verständnisvoll lächelnd, mit den Augen zu -und bogen in die Allee von hochstämmigen Kastanien ein, die sich -längs des Gartenzauns hinzog. Langsam, behaglich schritten sie -nebeneinander her; Diana immer mit der Nasenspitze am linken Bein des -Rittmeisters, Waldmann bald voraus, bald zurück, bald stehen bleibend -und die schlanke Engländerin mit klugen Augen, halb neidisch, halb -mißachtungsvoll anschauend. - -„Ja, und Ernst hat eine neue Delikatesse erfunden. ~Crêpes à la -Suzette~, glaub’ ich, nennt er das Deubelszeug. Das heißt -- es sind -Eierkuchen mit irgend ’ner Soße aus Likören, wenn ich recht verstanden -hab’. Du kannst dir ja das Rezept von ihm geben lassen. Die Pastorin -wird sich schon darauf verstehen.“ - -„Nee, Hackentin. Ich bleibe bei Speckeierkuchen. Wenn’s dazu langt, -will ich schon froh sein. Denn was so unsere Bauern sind -- du kennst -sie ja -- wenn die uns die Eier abliefern, wundert sich meine Guste -immer, daß Hühner überhaupt so kleine Eier legen können. Was hat Ernst -denn sonst noch erzählt?“ - -Der alte Rittmeister schnellte mit dem Fuß ein Steinchen zur Seite. -„Sie sind auf der Durchreise von Ems ein paar Tage in Berlin gewesen, -haben auch Wilhelm gesprochen, der wieder mal große Rosinen im Kopf -haben soll. Das heißt -- von wegen der Eisenbahnkonzession -- du -weißt ja. Die Rosinen kenne ich nachgerade, aber den Kuchen, in dem -sie gebacken werden sollen, den werd’ ich wohl nicht erleben. Na, ich -will mich nicht ärgern. Was Ernst sonst erzählte? Politik, Politik und -nochmal Politik. Unser herrlicher Landtag -- daß ihn der Deibel hole -- -treibt sein Spielchen weiter, Hohenlohe macht Bücklinge, und Majestät -können zusehen, ob schließlich ’n paar Kröten von der Kammer bewilligt -werden. Das heißt -- wahrscheinlich nicht mal das. Schlechte Zeiten, -Heckstein ... hundsmiserable Zeiten. Ein altes Preußenherz möcht’ sich -am liebsten umdrehen bei dem Skandal.“ - -Oft zitierte der Pastor nicht Bibelworte. Die sparte er sich für -den Sonntag auf. Aber manchmal glitt ihm doch eins über die Lippen. -„Hoffnung läßt nicht zuschanden werden“, meinte er. - -„Jawohl, Heckstein, ich weiß. Steht Römer fünf. Aber im Hiob steht -auch: der Menschen Hoffnung ist verloren. Siehst du ... so steht’s -um meine Hoffnung. Das heißt -- um die Armee geht’s, und wenn unser -Allergnädigster Herr nur wollte! Bloß dem Wrangel ’nen Wink geben, und -der fegte wie Anno achtundvierzig den ganzen liberalen Schwindel zum -Tempel raus. Gegen Demokraten helfen nur Soldaten. So aber frißt das -Geschwür weiter ... bis in unsere eigenen Familien hinein!“ - -Das war ein Punkt, auf den der Pastor das Gespräch nur ungern -lossteuern sah. Denn das ging auf Fritz Hackentin, des Rittmeisters -Zweiten, der erst Leutnant bei den Franzern gewesen war, dann zur -Themis geschworen hatte und nun als Kreisrichter in Stellberg saß. Ein -guter Junge, aber ein unruhiger Kopf. Etwas unruhiges Blut hatten die -Rohlbecker Hackentine ja alle. Das kam von den Gruckers herüber, in -denen nun mal der romantische Zug lag. Wenn man so daran dachte: als -die alte Gnädige jung gewesen war, als sie noch vierelang fuhr und -selber kutschierte -- - -Aber auf den Fritz durfte Hackentin nicht zu sprechen kommen. Das wurde -sonst ungemütlich, und dazu war der Abend zu schön. - -Zum Glück waren sie gerade unter der letzten Kastanie angelangt. Drüben -stand der Kantor in seiner Haustür, der lange Labammel, dürr wie die -endlose Pfeife, aus der er qualmte. Kaum, daß er sie aus den Zähnen -zog, um seinen Gruß anzubringen. - -„Na, Flehr, was macht der Bakel?“ rief Hackentin über die beiden Zäune -hinüber. - -„Danke, Herr Rittmeister. Wie das Sprichwort sagt: Wer den Stock -fürchtet, kann nur mit dem Stock regiert werden. Man braucht ihn eben.“ - -„Ja, Kantor, vielleicht waren’s bessere Zeiten, als man ihn mehr -brauchte. Das heißt -- nicht bloß in der Schulstube.“ - -„Ich weiß nicht, Herr Rittmeister, ob das bessere Zeiten waren.“ - -„Vielleicht erfahren Sie’s noch.“ Hackentin wandte sich. Halblaut, -etwas unwirsch meinte er zu seinem alten Freunde: „Der ist auch schon -angesteckt, liest mit dem Grunowschen Müller zusammen die ‚Tribüne‘. Du -solltest ihm mal feste den Daumen aufs Auge drücken, Heckstein --“ - -„Er ist nicht der Schlechteste. Seine Bengels hält er stramm in -Ordnung, mit und ohne Rohrstöckchen, je nachdem. Sie lernen bei ihm -gerade richtig: nicht zu viel und nicht zu wenig. Und solchen Chor in -der Kirche, wie er ihn zurechtgebracht hat, wirst du im ganzen Kreise -vergeblich suchen. Von der Musika versteht er was. ‚Meine Hochachtung‘, -würde dein Schwager Grucker sagen. Na, und was die politische Gesinnung -anbetrifft, ... du kennst ja meine Ansicht: das kommt und geht. Wenn -wir ein paar Jährchen weiter sind mit Gottes Hilfe, lachen wir beide -wohl über die Aufregung von heute. Denn, weißt du, im Grunde ist alles, -was brandenburgisch ist, doch loyal bis auf die Knochen.“ - -Der Alte grollte: „Das haben wir achtundvierzig gesehn ...“ - -„Ach was! Was war denn da außer Berlin los? Berlin aber ist gar -nicht brandenburgisch, wenn’s auch zufällig mitten in unserer lieben -Sandstreubüchse liegt. Berlin ist Berlin. Da muß immer gestänkert -werden. Aber sonst? Der Flehr da ist typisch. Mal gelegentlich ’n -bissel das Maul vollnehmen, mal recht klug schnacken, mal sich recht -gebildet fühlen und mal recht schön liberal wählen, wenn’s hoch kommt. -Mehr aber nicht.“ - -„Ist gerade genug. Order muß pariert werden.“ - -„Wird auch ... Da kommt ja die Lene. He, Leneken, wohin denn so eilig?“ - -Mit ihren schnellen Schritten kam sie vom Schlosse her. Einen Hut -hatte sie nicht aufgesetzt; in der leisen Dämmerung, die schon -anhob, spielten ihre Haarwellen ins Goldig-Rote. Ein Tuch hatte sie -umgenommen; fest lag das dünne Gewebe um die Schultern, umspannte knapp -die jugendliche Büste und war hinten in der Taille zusammengeknotet. - -„Ich will der Post auflauern, Onkel Pastor.“ - -„Denkst wohl, der Schwager Postillion bringt dir’n Schatz mit, Lene?“ - -„Der könnte mir grad’ fehlen, Onkel Pastor. Willst du -- Waldmann, du -Frechdachs! Sieh dir mal Diana an, wie die artig ist.“ - -„Im Pfarrhaus gibt’s frischen Pflaumenkuchen, Leneken.“ - -„Ich hasch’ mir beim Zurückkommen ein Stück.“ - -Sie nickte dem Vater zu, sie winkte von weitem zum Kantor hinüber und -huschte weiter, durch das Tor, den Anger entlang. - -Die beiden Alten sahen ihr wohlgefällig nach. Es war immer, als -schwebte sie über dem Boden. Ganz eigen zierlich setzte sie unter -dem weitbauschigen Rock, der grad nur die modische Krinolinenform -andeutete, die Füßchen. Schuster Freyer in Logow war sonst kein Held in -seinem Fach, aber für das gnädige Fräulein auf Rohlbeck tat er immer -sein Bestes. - -„Ein Mordsmädel, deine Lene!“ meinte der Pastor schmunzelnd. - -Der Rittmeister nickte. „Ein gutes Kind. Das heißt -- es ist noch -junger Most. Das gärt und gärt und will manchmal überschäumen. Man muß -die Lene ein bißchen straff im Zügel halten.“ - -Heckstein lächelte verstohlen. Er wußte am besten, daß die Kinder im -Schloß nie recht im Zügel gehalten worden waren. Nicht gleichmäßig -wenigstens. Mal hatten die Zügel am Boden geschleift, mal waren sie -wieder gewaltsam angezogen worden; und wenn Hackentin am rechten -Zügelende zog, zerrte die alte Gnädige vielleicht gerade am linken. -Aber das tat am Ende nicht viel. Es war ein guter Kern in den Kindern. - -Wie er das überdachte, während sie langsam wieder unter dem grünen -Dach der Kastanien hinschlenderten, fiel ihm ein, daß die Gelegenheit -vielleicht günstig wäre, für den Kantor noch ein gutes Wort einzulegen. - -„Sieh mal, Hackentin,“ begann er aufs neue, „da hast du eben auf den -Flehr geschimpft. Hast aber ganz vergessen, was der Mann sich für eine -Mühe mit der Lene gegeben hat und noch gibt. Ich meine von wegen ihres -Gesanges.“ - -„Wird ihm doch auch bezahlt.“ - -„Na hör’ mal: die paar Dittchen für die Stunde! Du kannst froh sein, -daß wir solch einen musikalischen Kantor hier haben, der dafür sorgt, -daß Lenes schöne Stimme nicht verkommt. Aber neulich hat er mir selber -gestanden, daß er am Rande seiner Kunst ist.“ - -„Jawohl -- jawohl -- ich weiß schon. Das heißt -- daß Lene in die Stadt -müsse, einen anderen, besseren Lehrer bekommen. Die Litanei hat er mir -auch schon vorgebetet. Unsinn, Pastor. Dazu langt’s nicht mehr. Und ich -will auch nicht. Will nicht, daß der Lene alle möglichen Fladusen in -den Kopf gesetzt werden. Damit darfst du mir nicht kommen ...“ - -Der Rittmeister rückte sein Käppchen plötzlich ganz weit nach rückwärts -auf die weißen lockigen Nackenhaare, wandte sich kurz um, und da Diana -der Kehrtwendung nicht schnell genug folgte, vielmehr mit fragendem -Blick aufsah, kriegte sie einen sanften Hieb -- - -„Und im übrigen ist der Kantor doch ein Demokrat.“ - -Helene war indessen den Dorfanger entlang gegangen, hatte ein paar -Worte mit der Frau Kantorin gewechselt, die immer aussah wie ein -scheues, in der Gefangenschaft gehaltenes Reh, wenn jemand vom -Schloß sie ansprach, und die um so scheuer und demütiger wurde, je -freundlicher die Worte waren, die man an sie richtete. Dann hatte -Lene bei Meister Winkel, dem lobesamen Schneider des Dorfes und dessen -Krämer, eine Bestellung der Schwägerin ausgerichtet, die sich auf -ein Paar Hosen ihres Neffen Hans bezog, und dann war sie am Kirchhof -ein paar Augenblicke stehengeblieben. Da lag, seitlich der kleinen -Backsteinkirche, die noch immer des richtigen Geläuts entbehrte, -weil weder Patron noch Gemeinde die Mittel aufbrachten, das alte -Erbbegräbnis. Es mochte noch in besseren Zeiten gebaut sein, vor -hundert oder hundertfünfzig Jahren vielleicht: die eisenbeschlagene Tür -war sogar von ein paar Säulen eingerahmt, wirklichen Sandsteinsäulen, -mit einem Giebelchen darüber, in dem das Hackentinsche Wappen mit den -drei Hecken als Sandsteinrelief eingelassen war. Aber der Zahn der -Zeit hatte den Bau angefressen. Die Säulen waren zermürbt, das Wappen -war kaum noch erkennbar, das Ziegeldach schadhaft -- gut, daß der -dicht wuchernde Efeu das Schlimmste zudeckte. Das Erbbegräbnis hatte -auch schon lange nicht mehr zugereicht; links und rechts daneben lagen -Hackentinsche Gräber. Schlichte Gräber, die sich wenig von denen der -wohlhabenden Bauern unterschieden. Höchstens, daß sie ein wenig mehr -gepflegt waren, und auch das nur, weil die junge Gnädige eine besondere -Vorliebe für den Kirchhof hatte. - -Ein paar Minuten stand Helene am Zaun. Ihr lagen Marthas Worte im Sinn -von der Treue um Treue. Die hatten sie vorhin gepackt und klangen noch -in ihr nach. Aber wie sie so auf die Gräber sah, über denen sich zwei -große Maulbeerbäume mit weitgespannten Ästen breiteten, die noch auf -des großen Friedrichs Befehl gepflanzt worden waren, fing sie plötzlich -an zu frösteln. - -Neulich in Rackow hatte sie in einem Bande Gedichte geblättert. -Eigentlich nur, weil Tante Marie so viel Wesens von dem großen -Franzosen Victor Hugo machte. Jetzt fiel ihr mit einem Male ein Satz -daraus ein: „~Gloire, jeunesse, orgueil, biens que la tombe -emporte ...~“ - -Ruhm und Jugend und Stolz -- - -Nein! Nein! Für sie hatten die Gräber nichts Erhebendes! Sie konnte -sich nur vor ihnen fürchten. Wie Moderluft wehte es aus ihnen. Ein -Schauer überrann sie. Und sie zog das dünne Tuch fester um die -Schultern und eilte rasch weiter, am Krug vorüber und an der Schmiede, -der neuen Chaussee zu, die dicht am Dorfausgang die schmale Wintze -überbrückte. - -Da stand schon der Doktor Hemming mit den beiden Junkern. Oder vielmehr -er stand, seitlich der Brücke, an eine dicke Weide gelehnt und himmelte -über das Stoppelfeld zum Horizont hinüber. Die Jungens aber saßen -auf der Steinbrüstung der Brücke; der langaufgeschossene Hans schien -es seinem Hauslehrer nachmachen zu wollen, er starrte träumend mit -gesenktem Kopf auf das rinnende Wasser, während Thede -- Theodor -- -irgendeine Bohnenstange aufgegabelt hatte, die dreimal so lang war wie -der Knirps, und mit ihr ebenso kräftig wie zwecklos in den zerwühlten -Uferrändern umherstakte. Vielleicht dachte er in seiner wallenden -Phantasie, auf diese bequeme Art ein paar der berühmten Wintze-Krebse -zu fangen und Mutter in die Küche liefern zu können. - -Alle drei achteten nicht auf die Nahende. Und Helene war das ganz -recht. Denn der Hauslehrer mit seinen wasserblauen Schmachtaugen -langweilte sie immer; außerdem konnte sie ihn nicht leiden, weil er -immer ja sagte, auch wenn ihm der Widerspruch auf der sommersprossigen -Stirn geschrieben stand. Und die Jungens -- die Jungens waren eben -dumme Gören mit hundert unnützen Fragen, dazu mit unfehlbar schmutzigen -Pfoten, die überall hinklatschten, wo sie nichts zu suchen hatten. - -Aber das war es nicht allein. Die Equipage, die vor dem Kruge hielt und -augenscheinlich auch auf die Post wartete, beschäftigte ihre Gedanken. -Sie hatte die Rackower Schimmel sofort erkannt und den dicken Jochen, -den zweiten Herrschaftskutscher. Es war überhaupt zweite Garnitur, -Wagen, Pferde und Kutscher. Wen ließen die Rackower nur abholen? Sie -hatten ja nichts davon erzählt, daß sie einen Gast erwarteten. Aber -sie hatten freilich fast immer Gäste im Haus. Ob es jemand von den -Leibern aus Frankfurt a. O. war? Einer von den jagdlustigen Herren -vom Leibregiment, der noch ein paar Rebhühner knallen wollte? Oder -ein Ulan aus Züllichau? Oder kam nur Onkel Artenau aus Stellberg, um -der Marquise seine neueste Pracht- und Prunkstickerei vorzuführen? -Pfui Spinne ... solch ein Mann, der sich Königlich Preußischer Major -schimpfen ließ, und den halben Tag am Stickrahmen saß wie eine alte -Jungfer. - -Mit einem Male hatte Junker Thede doch die Tante erspäht. Er schmiß -die Bohnenstange ins Wasser, daß es hoch aufspritzte, schwang seine -kurzen Beinchen mit einem Wuppdich über die Brüstung, stieß ein -Indianergeheul aus, kam im Galopp angejagt und -- richtig -- da wollten -auch schon seine Pfoten mit den Farbenklexen von Tinte, Flußmoder und -Tuschkastenresten an ihren Rock aus geblümter Indienne. „Tante Lene, -Tante Lene, weißt du schon das Allerneueste?“ - -„Finger weg, Thede! Himmel, wie der Junge wieder aussieht!?“ Und da -gerade Doktor Hemming sich umschaute, den Strohhut, den er immer bis -in den November hinein trug, lüftete und anstatt auf den harmlosen -Horizont zu ihr himmelte, mochte der auch gleich sein Teil abbekommen. -„Nein, wie Sie den Bengel mit solchen Händen herumlaufen lassen -können?! Unsere Ferkelchen sind ja reinlicher als er.“ Und dann kam -doch die Neugier ihrer jungen Jahre: „Das Allerneueste? Na, das wird -wieder mal was Feines sein?“ - -„Ein Russe kommt nach Rackow. Ein wirklicher, leibhaftiger Russe.“ - -„Woher hast du denn dein großes Wissen, Thede?“ - -„Na ... von dem Rackower Jochen ... natürlich.“ - -Inzwischen hatte auch der Hans sich von der Brückenmauer herabbequemt. -Im Vollgefühl seiner höheren Weisheit höhnte er: „Ja -- und Thede -stellt sich den Russen mit einer Bärenfellmütze und einem +so+ -langen Bart vor. So wie er in der Fibel abgemalt ist.“ - - „Der Russe lebt in Eis und Schnee, - Säuft vielen Schnaps und noch mehr Tee,“ - -gab der Hauslehrer einen Fibelvers eigener Erfindung zum besten -und wartete, ob sein Witzchen nicht ein Lächeln auf dem schönen -Mädchengesicht heraufzaubern würde. - -Aber er wartete vergeblich. „Ach Unsinn --“ meinte Helene nur und -schlenderte langsam über die Brücke auf die Chaussee. Ach Unsinn -- -sagte sie, und doch beschäftigte sie der Russe gewaltig. Ein Russe, ein -leibhaftiger Moskowiter! Wo den die Rackower nur aufgegabelt hatten? -Und warum die heut nachmittag nichts von ihm erzählt hatten? Gewiß, -weil er wieder einmal eine Überraschung für den ganzen Kreis sein -sollte. Sicher irgendein Großfürst oder einer der millionenschweren -Bojaren. Oder mindestens ein Diplomat. Aber dann hätten sie doch nicht -die zweite Garnitur, Pferde, Wagen und Jochen, zum Abholen geschickt ... - -Da kam sie aber wirklich, die Post. - -Auf dem Stellberger Berge, wo sich die Chaussee in den Wald verlor, -wirbelte eine kleine Staubwolke auf, wälzte sich näher und näher den -Hang hinunter. Bald wurden dahinter, in kleinen Abständen, noch zwei -Wölkchen sichtbar -- die Beichaisen. Der Verkehr von Frankfurt a. O. -nach Posen mußte lebhaft sein, jetzt im Frühherbst. - -Nun unterschied man schon Wagen und Pferde. Und als die Hauptpost -draußen an der Schneidemühle vorüberrollte, setzte der Postillion sein -Horn an die Lippen. Es klang deutlich, getragen und langsam, herüber: - - „Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt’ ich auf mein Grab, - Da kam ein stolzer Reiter und brach sie ab ...“ - -Der Hauslehrer stand wieder neben Helene. Er fühlte das -unwiderstehliche Bedürfnis, geistreich und sinnig zu sein: „Wie lange -noch, und wir hören den guten Schwager zum letzten Male. Wenn der Herr -Baron erst die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen bauen wird, verödet -die Chaussee, und dann heißt es auch für Rohlbeck, was der Dichter -Scherenberg klagt: - - Mit Totenschnelle geht es fort, - Kein Schwager knallt hinein, - Kein Wegesgruß, kein schelmisch Wort, - Kein Posthorn weckt den müden Ort - Und klingt zum Träumen ein. - O Eisenbahn, was bist du kommen, - Hast unser Posthorn uns genommen!“ - -„Ich denke, Sie wollen ein Mann des Fortschritts sein, Herr Doktor?“ -warf Helene schnippisch ein. - -„Am rechten Ort, gnädiges Fräulein. Immer am rechten Ort. Aber die -Poesie darf darüber nicht verkümmern. Hören Sie doch nur: ‚Ach -Reitersmann, ach Reitersmann, laß doch die Lilien stehn. Sie soll ja -mein fein’s Liebchen noch einmal sehn ...‘ Ist das nicht schön? ... -‚Dann begraben mich die Leute ums Morgen ... rot ...‘“ - -„Schade nur, Herr Doktor, daß der Postillion so schauderhaft falsch -bläst --“ meinte sie spitz und ärgerte sich, daß sie es sagte. Denn -eigentlich hatte der Postillion gar nicht falsch geblasen, und sie -selber lauschte solchem Volkslied über alle Welt gern. Und sie -dachte daran, wie sie bisweilen in dem stillen Abendfrieden ins Feld -hinausgewandert war, ganz allein, sich auf einen Grenzstein gesetzt -hatte, den Kopf in beide Hände vergraben, um dem Klang des Posthorns zu -lauschen, der ihr immer wie ein Gruß aus weiter, weiter Welt erschien. - -Doch da hielt schon die Hauptpost dicht an der Brücke. - -Die beiden Junker stürmten mit Geheul voran; teils, um die lederne -Posttasche aufzufangen, die der Schwager im kunstvollen Bogen vom -hohen Bock herabschleuderte; teils, um den erwarteten „Moskowiter“ mit -eigenen Augen zu schauen. - -Recht enttäuscht waren sie. Denn der Herr, der ausstieg, hatte gar -nichts Besonderes an sich. In ihren Augen zumal. - -Es war ein schlanker, junger Mann in grauem Reiseanzug, der lange -Rock eng in der Taille, die Pantalons sehr weit. Das brünette Gesicht -bildhübsch, etwas scharf und ganz glatt rasiert. Auf dem braunen Haar -trug er einen gewaltigen Kalabreser, und um seinen hohen Kragen war -kunstvoll eine bunte Krawatte geschlungen, in der ein großer Brillant -funkelte. - -Als er ausgestiegen war und die kleine Gruppe -- Helene, Doktor Hemming -und die beiden Junker -- sah, stutzte er und zog den Hut. Aber Helene -fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß, ärgerte sich wieder und -machte kehrt. So mochte der Fremde merken, daß die junge Dame ihn -nicht erwartete. Und da kam auch schon Jochen, meldete sich, wies auf -seinen Wagen und half den Koffer aus dem hinteren Verschlag der Post -herausheben. Es mußte sehr schnell gehen, denn der Kutscher der ersten -Beichaise drängte und drohte weiterzufahren. - -„Habt ihr die Posttasche?“ fragte Hemming. „Nun denn -- marsch! -Großvater wartet.“ Und er ging den Jungens, die um ihr Leben gern sich -den Koffer des Fremden noch näher angesehen hätten, voraus, um Helene -einzuholen. Aber sie hatte sich beeilt, und er wollte nicht auffällig -hasten. So kam er erst dicht vor dem herrschaftlichen Tor wieder an -ihre Seite, und im gleichen Augenblick überholte sie auch die Rackower -Equipage. Der „Russe“ saß weit zurückgelehnt, in etwas theatralischer -Pose, die Beine vorgestreckt, im Fond und lüftete noch einmal mit einer -gewissen Grandezza seinen Heckerhut. - -Der Doktor grüßte zurück, während Helene den Nacken straffte. Sie sagte -sogar: „Warum grüßen Sie denn?“ - -„Aber ... der Herr ist doch Gast der Rackower Herrschaften. Ich kann -doch nicht unhöflich sein.“ - -„Ich weiß nicht, wie der Mann dazu kommt, mich zu grüßen. Er ist mir -doch nicht vorgestellt.“ - -Sie fühlte selbst, daß sie ungerecht und unlogisch war. Man nahm es -sonst auf dem Lande nicht so genau. Es war aber etwas wie das Gefühl -in ihr: du mußt dich wehren! Ohne daß sie recht wußte, weshalb und -wogegen. Sie war jäh aus dem Gleichgewicht geworfen. Am liebsten hätte -sie sich mit Herrn Hemming gezankt, nur um eine Ablenkung zu finden. -Sie spitzte schon das Mäulchen, um ihm irgendeine Sottise zu sagen. -Doch dann besann sie sich: es lohnte nicht. Es blieb immer einseitig, -das Streiten mit diesem weichen Menschen, diesem Ja- und Amensager, -dieser Qualle, die auswich, sobald man fest zugriff. - -So faßte sie lieber die Jungens, die herangekommen waren, an den -Achseln, Hans rechts, Thede links, und jagte mit ihnen den Weg entlang, -daß die Posttasche am langen Lederriemen sich wie eine Sturmfahne um -ihre Köpfe schwang. Jagte die Verandatreppe hinauf, durch den dunklen -Flur in die große Stube, warf die Tasche auf den Tisch: „Da habt ihr -sie --“ - -Mutter saß noch immer an ihrem Traumfenster, schrak aber auf: „Kind, -Helene, wie kann man so laut sein. So laut und so wild.“ Vater stand am -Ofen, kramte in der Tasche nach dem Brillenfutteral: „Steck’ die Lampe -an, Lene.“ - -Wie alle Abend, wenn die Dämmerung heranschlich. Und wie alle Abend -stand nun schon die große, hohe Moderateurlampe mitten auf dem -Tisch, auf dem runden, abgeschabten Fleck der braunen Plüschdecke. -Wie alle Abend pumpte Helene das Öl auf, horchte auf das leise -„Gluck-Gluck-Gluck“, nahm Glocke und Zylinder ab, strich mit ihren -hastenden Händen ein Vierteldutzend Schwefelhölzer vergeblich auf dem -scharfgeritzten Deckel des Porzellanbehälters an, bis endlich eins -zündete. - -Mit einem Male war plötzlich in ihr alle Aufregung erloschen. -Gluck-Gluck-Gluck machte das Öl in der Lampe, und ihr klang’s wie: alle -Abend -- alle Abend -- alle Abend ... - -Nun leuchtete die Lampe auf, warf ihren milden Lichtkreis gerade über -den runden Tisch, indes das übrige Zimmer in der Dämmerung blieb. Vater -holte vom Schreibtisch den kleinen Schlüssel, schloß die Posttasche -auf, wie alle Abend. Und wie alle Abend sammelte sich um den Tisch für -das große Ereignis das ganze Haus. Mutter kam von ihrem Traumplatz, -Martha kam; der Hauslehrer war plötzlich da, und die Jungens boxten und -knufften sich schweigend am Ofen. Wie alle Abend. Vater faßte tief in -die Tasche hinein, legte den kleinen Pack Briefe und Zeitungen sorgsam -vor sich hin, setzte umständlich die Brille auf und begann zu sortieren. - -„Da, Herr Doktor --“ Das war auch derselbe Ton und dieselbe Bewegung -an jedem Abend, ein widerwilliger Ton und ein verächtliches Schnippsen -der Finger, die dem Hauslehrer seine Zeitung hinüberschnellten. Die -Volkszeitung! Jeden Abend aufs neue empörte sich der alte Herr darüber, -daß in seinem Hause dies verfl-- Demokratenblatt gehalten werden durfte. - -„Da, liebe Martha ... von Wilhelm ...“ - -Ein paar Briefe, die schon äußerlich einen geschäftlichen Charakter -zeigten, den blauen Firmenstempel etwa von Moses Conitzer in Stellberg, -schob er zur Seite. Dann endlich setzte er sich und faltete fast -feierlich die Kreuzzeitung auseinander. Und regelmäßig sagte dabei -Mutter aus ihrem hochlehnigen Ohrenstuhl heraus: „Hackentin, mir die -Familiennachrichten.“ - -Eigentlich gab er nur sehr ungern ein Stück Zeitung ab, ehe er sie -selber, langsam und gewissenhaft, von Anfang bis zu Ende studiert -hatte. Wenn sie keine Beilage brachte, knurrte er wohl auch ein -langgezogenes ‚Neee ... nachher ...‘ oder er lachte: ‚Erfährst schon -noch früh genug, wer wieder mal in die Mariage geraten ist oder wer’n -Kind gekriegt hat.‘ Heut gab es eine Beilage: „Da ... Elisabeth ...“ - -Und dann wurde es still im Bannkreis der Lampe, an der Runde des großen -Tisches. - -Der Rittmeister und Hemming entfalteten ihre Zeitungen; Martha las, -Zeile für Zeile, den Brief ihres Mannes; die alte Gnädige vertiefte -sich in die Familiennachrichten; die beiden Jungens wußten, daß sie -das Maul und die streitbaren Hände stille zu halten hatten, holten ihre -Lieblingsschmöker, Hans einen Band der Beckerschen Weltgeschichte, -Thede sein „Gumal und Lina“, und steckten die Nasen hinein. - -Ganz stille war’s, bis auf das Knistern des Papiers. - -Der Stuhl zwischen Martha und Mutter blieb leer -- Helenens Stuhl. Sie -stickte sonst um diese Stunde oder häkelte Frivolitäten. Heut mochte -sie’s nicht. Auf leisen Sohlen schlich sie ins dunkle Nebenzimmer, -setzte sich an den geöffneten Flügel und träumte vor sich hin. - -Manchmal glitt ihre Linke über die Klaviatur, ohne daß sie eine Taste -niederdrückte ... manchmal zitterte wohl auch ein ganz leiser Klang aus -den Saiten, ein Hauch nur. - -Von links her kam dann und wann ein gedämpftes Tellerklirren. Auguste -deckte im Saal den Abendtisch. Und mitten in ihre Träumerei hinein -dachte Helene: ‚Was es wohl geben wird? Speckbratkartoffeln natürlich -und saure Milch ...‘ - -Langsam kroch drüben über den Wiesen der Mond hinauf. Jetzt legte sich -ein Streif blauweißes Licht über das Fensterbrett, nun zog er schon bis -zum Flügelende hin. - -Einmal sagte Mutter: „Da zeigt Graf Schulenburg von den Alexandern -seine Verlobung an ... mit der Witwe seines Bruders ... Meta, geborene -Freiin von Eckardstein. Er lag mal ein Manöver hier. Eckardstein ... -Eckardstein? Das ist ganz junger Adel ... nicht wahr, Karl?“ - -„Natürlich, Elisabeth ... das heißt, vom Alten Fritz her, glaub ich, -oder so ... Aber nun laßt mich zufrieden mit Hinz und Kunz. Da soll man -noch Sinn dafür haben ... schlechte Zeiten ... Schandzeiten ...“ - -‚Was er wohl antworten wird?‘ dachte Helene. ‚Ja bei den Zeiten. Was, -Herr Doktor, bewegte Zeiten ... sagen ... selbstverständlich. Die -Qualle hat grad noch den Mut, sich ihre liberale Zeitung zu halten. -Weiter langt’s nicht.‘ - -Richtig ... - -„Jawohl, Herr Rittmeister, bewegte Zeiten.“ - -„+Schand+zeiten, sag’ ich Ihnen, Doktor. Da haben wir’s: in der -Schlußsitzung des Abgeordnetenhauses der Militäretat abgelehnt -- das -heißt, grad noch zehn Abgeordnete haben dafür gestimmt!“ - -Helene interessierte die Politik gar nicht. Langweilte sie geradezu. -Knapp, daß sie wußte, wie nun schon zwei Jahre oder darüber der Streit -um die Armee zwischen Landtag und König sich hinzog, daß sich der -Konflikt immer schärfer und schärfer zuspitzte. Merkwürdig, wie sich -die Männer über solche Dinge ereifern konnten. Vater nun gar. Manchmal -bebte seine gute alte Stimme förmlich vor Erregung, wenn er von den -verfl-- Demokraten sprach, die alles besser wissen wollten. - -„So ... so ... das sind doch noch brave Leute. Vorgestern war eine -Deputation aus dem Kreise Bromberg beim König auf Schloß Babelsberg, -um Majestät ihre Ergebenheit und die Stimmung des Kreises zugunsten -der Militär-Reorganisation auszusprechen. Der Treskow auf Grocholin -... übrigens ein Treskow ohne c ... hm ..., der Pfarrer Ehrlich auf -Groß-Murzyno, der Lehrer Stieff aus Raczkowerdorf ... Also auch mal ’n -Lehrer ... merkwürdig ...“ - -Das war wieder eine Spitze. Aber die Qualle regte sich nicht. - -Es wurde wieder ganz stille. - -Plötzlich fragte Vater: „Na, Doktor, was meint denn Ihr Blättchen? Das -heißt -- eigentlich gelüstet es mich nicht nach der Weisheit.“ - -„Es ist wohl noch alles unentschieden, Herr Rittmeister.“ Wie das Gluck -... Gluck in der Lampe kam es heraus. „Das Ministerium wird wohl gehen -müssen.“ - -„So ... meinen Sie? Auf das Ministerium kommt’s übrigens spottwenig an. -Das heißt: in Preußen muß der König regieren. Punktum.“ - -Wieder las Vater. Die Zeitung knisterte und knisterte. - -Einmal sprach Martha mit ihrer sanften Stimme: „Wilhelm kommt am -Sonntag.“ Es klang so viel Glück aus dem Wort und frohe Erwartung. Aber -es achtete niemand darauf, nur gerade daß die Jungens aufschauten. In -deren Augen war ja doch die Neugier: was bringt Papa uns mit? - -Mit einem Male schlug Vater mit der flachen Hand auf das Papier. -Und seine Stimme bebte wieder. „Da haben wir’s. Hört mal. Hier, -ganz versteckt, steht es: ‚Der bisherige Gesandte am französischen -Hofe, Herr von Bismarck-Schönhausen, ist gestern abend von des -Königs Majestät zum Staatsminister und interimistischen Vorsitzenden -des Staatsministeriums ernannt worden.‘ Das heißt also: Da haben -wir den Mann des königlichen Vertrauens. Bismarck-Schönhausen ... -Bismarck-Schönhausen ... war der nicht Gesandter in Petersburg, -Elisabeth?“ - -„Ja, ich glaube ... warte einmal ... er hat eine Puttkamer zur Frau ... -ich entsinne mich ... von den pommerschen Puttkamers ... Viertlum oder -so hieß das Gut.“ - -„So ... so! Was du nicht immer alles weißt.“ - -Vater war ganz aufgeregt. Als sich Helene umwandte, sah sie, daß er -aufgestanden war und schneller als sonst seinen Lieblingsgang auf dem -Läufer in der Diagonale des Zimmers machte. Alle Augenblicke erschien -seine Silhouette vor dem hellen Türrahmen. Die Zeitung flatterte in -seiner Hand, und er sprach in abgerissenen Worten, halb für sich, -halb für die anderen: „Bismarck ... Bismarck-Schönhausen. Das muß der -Bismarck sein, der Anno achtundvierzig den Demokraten ordentlich die -Wahrheit gezeigt hat. Das heißt: im Vereinigten Landtag ... damals. So -... und ’n Puttkamer aus Viertlum. Hm ... das heißt: eigentlich mag ich -diese Herrschaften da nicht, die Blankenburgs und Theddens, die mit -dem lieben Gott immer ’n Privatabkommen haben wollen, fast wie Tante -Marianne ... ja ... aber wackere, feste Leute sind’s schon, loyal bis -in die Knochen, als ob’s Märker wären, die Pommern. Ja ... und was -sagen Sie nun eigentlich dazu, Doktor?“ - -Ganz leise stand Helene auf. Das mußte sie sehen, was die Qualle für -ein Gesicht machen würde. - -Aber sie kam nicht auf ihre Rechnung. Der Hauslehrer schien aus allen -Wolken gefallen. Er sah aus seiner Zeitung hoch, mit himmelnden Augen: - -„Verzeihung, Herr Rittmeister, ich habe hier gerade eine Rezension -gelesen ... über ein paar neue Stücke im Wallnertheater. ‚Verplefft‘ -von Herrn von Moser ... es soll sehr amüsant gewesen sein.“ - -„Herr von Moser?“ sagte Mama sofort dazwischen. „Das ist auch ein -früherer Offizier. Bei den Gardeschützen stand er, den Neuchatellern. -Wer jetzt nicht alles schreibt?“ - -Vater sah erst den Doktor, dann Mutter an, schüttelte den Kopf und -lachte. Lachte, daß die Stube dröhnte. - -„Na, wenn’s wahr ist und Sie haben gar nicht zugehört, Herr Doktor ... -dann ist’s schon ’ne kuriose Geschichte. Wozu halten Sie sich denn -justement das Blatt? Das heißt: wenn Sie so wenig Interesse für die -Politik haben? Kreuzdonnerwetter ...“ - -Da ging zum Glück die Tür zum Saal. Auguste kam herein, gluckste: „Es -ist angerichtet.“ Ein Duft nach gebratenem Speck umwehte sie. Natürlich -... es gab wieder Speckbratkartoffeln und saure Milch ... wie an jedem -Abend. Saure Milch mit Torf, dachte Helene und sah schon im Geiste -die Schüssel vor sich, mit dem geriebenen Schwarzbrot, das sie „Torf“ -nannten, schüttelte sich und hatte den Herrn von Bismarck-Schönhausen -vergessen samt der ganzen Politik. - - - - -Zweites Kapitel - - -In Stellberg war Herbstmarkt. - -Es war eigentlich nicht viel los. Nur die Pferdejuden hatten zu -tun. Mancher Bauer schlug jetzt billig einen Gaul los, den er zur -Winterbestellung nicht mehr zu brauchen meinte und nicht bis zum -Frühjahr durchfuttern wollte. Vor dem „König von Preußen“ trottelte -alle Augenblick eine Schindmähre, am Halfter geführt, in mehr oder -minder widerwilligem Trab vorbei, und Moritz Cohn aus Ziebingen, -Hartwig Kantorowicz aus Meseritz, Ephraim Hentschel aus Zielenzig -standen in ihren langen, dunklen Kaftanen, den hohen, glänzend -gewichsten Stiefeln, unter der Mütze die Löckchen über die Schläfen -fallend, dabei und machten die Gäule herunter. Bis dann der eine oder -der andere doch den Bauer in die Schankstube winkte. - -Auf dem Marktplatz waren in zwei Reihen die Buden aufgeschlagen, Zelt- -und Bretterwerk. Kleinkram lag darin, Schnittwaren, Hausgerät, allerlei -Tand. Von den Stangen wehten die bunten Taschentücher, die der Bauer -liebt, mit schönen Bildern darauf: das Königspaar, die Krönung, auch -noch die Völkerschlacht bei Leipzig. Dicke wollene, blaue und rote -Unterröcke baumelten daneben und weiße Schürzen. In der einen Bude -gab’s Peitschen aller Art und Regenschirme, in der nächsten lockten die -neuesten Bilderbogen von Gustav Kühn aus Neu-Ruppin. Die schönste Bude -aber hatte Tante Hufnagel, die dicke Konditorsfrau. Sie hatte auch den -meisten Zulauf. Mit ihren zwei Mamsellen stand sie hinter dem langen -Tisch, und sie lächelten alle drei so süß, wie ihre Ware war: Berge von -Streuselkuchen und Brezeln, Düten mit Bonbons, vor allem jedoch Stöße -von Pfefferkuchen; die „Mehlweißchen“ von Tante Hufnagel waren berühmt -bis über Frankfurt hinaus, und auf den Lebkuchenkerzen hatte keine -Konkurrenz so schöne Verslein wie sie. - -Das große, immer umlagerte Konditorzelt stand gerade gegenüber der -Apotheke „Zum Mohren“. - -Auch in der Apotheke gab’s heute mächtig viel Arbeit. Die Gelegenheit -des Marktes mußte benutzt werden, allerlei Bedarf an Medizin für Mensch -und Vieh einzukaufen. Außerdem war der humpelnde Provisor ein halber -oder drei Viertel Doktor, nur daß er seine Verordnungen ohne Rezept -und umsonst lieferte, sogar mit einem derben Witzlein dazu. Auch gab es -in der Apotheke manche schöne Dinge, die nicht zur Heilkunst gehörten, -aber in hohem Ansehen standen: allerlei Wohlriechendes, Lederzucker, -buntschillernde süße Magenmorsaille mit merkwürdig viel Gewürzen, -und vor allem einen Apothekerschnaps, bitter wie Galle, scharf wie -Schwefelsäure und wärmend wie ein gutgeheizter Kachelofen -- einen -herrlichen Apothekerschnaps, der „Doktor“ hieß, aber ein Dutzend -Doktoren wert war und doch nur einen Silbergroschen kostete. - -Der Provisor Dingeldey hatte an solchen großen Tagen alle Hände voll -zu tun. Denn sein Chef, Herr Herr, war durch andere Obliegenheiten -vollauf in Anspruch genommen. Höchstens, daß er mal ein eiliges Rezept -zusammenbrauen half, was selten genug vorkam, denn an Markttagen -verschrieb Doktor Tiburtius wenig oder gar nichts. Da saß der auch an -dem großen braunen Tisch im Nebenzimmer der Offizin und trank seinen -gezehrten Oberungar, den er für das bekömmlichste Getränk der Welt -erklärte. Er trank ihn -- und nicht zu knapp. Wie eine ungeheure -Koralle stand ihm die Nase im Gesicht, und zweimal im Jahr hatte er -das Zipperlein. Das merkten jedesmal seine Patienten im ganzen Kreise -am eignen Leibe: denn in diesen schlimmen Perioden verordnete er fast -ausschließlich Rizinusöl, abwechselnd mit Kurella. Über Land fahren, -zu seinen Kranken, konnte er freilich nicht, wenn er die Füße in den -dicksten Strümpfen immer am Ofen halten mußte. So beschränkte er -sich darauf, die Mägen auszufegen, wie er es nannte. Und gerade in -diesen Zeiten, hieß es, machte er die glänzendsten Kuren. Wenn er dann -wieder gesund war, half er mit Grobheit nach. Er konnte furchtbar grob -sein, der Doktor Tiburtius. Bei den Bauern hielt er’s für geradezu -unentbehrlich; auf den Gutshöfen war er nur wenig höflicher. - -Herr Apotheker Herr persönlich widmete sich an den Markttagen fast -ausschließlich den Gästen im Nebenzimmer der Offizin. Er wäre sehr -entrüstet gewesen, wenn ihm jemand gesagt hätte, er unterhielte da -eine Weinstube. Empört wäre er gewesen, wenn jemand geäußert hätte, -er bediente seine Gäste. Die Tatsache stand trotzdem fest, daß man im -braunen Zimmer Getränke erhielt, die nicht aus der lateinischen Küche -stammten. Man mußte freilich zu den Honoratioren zählen, man durfte -auch nicht bezahlen. Aber die Eingeweihten wußten, daß jede Flasche -unweigerlich einen Taler kostete, nur der Champagner -- Grüneberger -Landkarte war’s von Foerster & Grempler und trug auf der Etikette einen -Plan der gesegneten Gemarkung -- nur die Pulle Champagner kostete -zwei Taler. Den Obolus legte man beim Abschied schweigend auf den -Tabakskasten am Fenster; vergaß es einmal ein Gast, so kam’s auf die -Jahresrechnung der Apotheke. Im übrigen wurde Herr Herr durchaus als -Herr behandelt. Er saß mitten unter seinen Gästen, wenn er nicht gerade -unterwegs war nach dem Keller, und wenn er besonders gut aufgelegt -war, so pfiff er ihnen etwas vor. In der ganzen Provinz Brandenburg -einschließlich Berlin pfiff anerkanntermaßen niemand so künstlerisch -schön als Herr Herr. - -Es war noch früh am Tage, gegen elf Uhr, und die Tafelrunde noch klein. -Obenan saß der Doktor Tiburtius vor seinem Oberungar. Neben ihm links -der Kreisrichter, Fritz von Hackentin und der Herr des Hauses bei -einer Flasche Pontac; ihnen gegenüber Major a. D. von Artenau, ein -Hüne von Gestalt mit einem riesigen Schnauzbart und buschigen grauen -Brauen über den vom ewigen Sticken entzündeten Augen. Er hatte noch -um kein Getränk gebeten, wartete vielmehr auf einen Partner für eine -„Landkarte“ oder noch lieber für ein kleines Böwlchen; denn abgesehen -von seiner grandiosen Stickkunst war er auch der anerkannte Meister im -Bowlenbrauen. - -Das Gespräch ging langsam. Der Doktor schimpfte auf den Schäfer Knorr -in Lobitten, der wieder einmal gegen Gesetz und Kleiderordnung einem -alten Weibe das ausgefallene Schultergelenk eingerenkt hätte, und -auf die Themis mit den verbundenen Augen, die die allerdummsten und -allertollsten Kurpfuschereien dulde, wobei der Kreisrichter einen -bitterbösen Seitenblick abbekam. - -Fritz Hackentin hörte sich das lächelnd an. Er hielt die schlanke -rechte Hand um sein Glas gelegt, drehte es langsam hin und her, hatte -sein gewöhnliches ironisches Zwinkern um die klugen grauen Augen und -empfand ein kleines Vergnügen darüber, wie der Doktor sich mehr und -mehr in die Wut hineinsteigerte. Und erst als der schließlich mit -einem „Himmelkreuzdonnerwetter, wozu hat unsereiner denn eigentlich -studiert!“ schloß, fragte er trocken: „Ja, hat Meister Knorr denn das -Gelenk wirklich wieder in Ordnung gebracht?“ - -„Was geht denn in drei Deibels Namen mich das an? Ob die olle Gillerten -ein Krüppel bleibt oder nicht! Verdient hätte sie’s schon. Was, Herr -Herr, hab’ ich recht?“ - -„Hat der Schäfer Geld für die Kur genommen?“ - -„Den Geier wird er getan haben. Dazu sind die Kanaille viel zu schlau. -Das wird gelegentlich auf andere Weise abgemacht. Heimlich und -heimtückisch.“ - -„Ja, lieber Doktor, wenn der Mann sich nicht hat bezahlen lassen, dann -kann die Justiz auch nichts machen.“ - -„Das ist eben der Skandal. Aber ich faß den Knorr schon noch. Der Kerl -muß sitzen! Der Kerl muß ...“ - -Weiter kam er nicht. Denn Artenau hatte den Hals gereckt, rief -dazwischen: „Da kommt der Conte aus Sodelzig ...“ und sie sahen alle -auf. - -Das Gespann des Grafen Grucker war auch sehenswert. Vor dem Wagen zwei -edle Pferde, wie immer naß und mit Schaumflocken übersät, denn der alte -Graf fuhr wie ein Toller; das Geschirr arg desolat, hier und dort mit -Stricken und Bindfaden geflickt; der Wagen selber aber, die im ganzen -Kreise berühmte „Wurst“, bestand aus nicht viel mehr als aus einem -langen gepolsterten Brett, das über die Achsen gelegt war. Im Reitsitz -saß der Graf darauf, und ganz hinten hockte in einer Art Korb der -Kutscher. - -Man hörte schon von der Straße aus die dröhnende Stimme: „Meine -Hochachtung! Daß du mir die Schinder ordentlich abreibst!“ - -Dann klang’s aus der Offizin: „Meine Hochachtung! Na, Herr Provisor, -erst mal’n Doktor. Aberst gut vermengeliert. So, danke --“ - -Dann flog die Tür auf, und der untersetzte starke Mann krachte ins -Zimmer: „Meine Hochachtung! Da wär’n wer ja. ’n Tag allinsgesamt. -Artenau, ich seh’s dir an deiner schönen Nasenspitze an, du hast -auf mich gewartet. Also mansch uns man ’n Röhrenwasser. Puh --“ und -er setzte sich auf einen Stuhl, daß es krachte, reichte jedem über -den Tisch die Rechte hin und drückte die verschiedenen Hände, bis -die Besitzer „au“ sagten. Mit der Linken aber krabbelte er aus der -Joppentasche ein halbes Dutzend Zigarren heraus, lang, dick und schwarz -wie die Nacht, legte sie vor sich auf den Tisch, zündete sich die erste -an und meinte, „Kindersch, ich muß euch ’ne Geschichte erzählen.“ - -„Nämlich, wie ich zum Frühjahrsmarkt hier nach Stellberg fahre, sagt -die Gräfin: ‚Otto,‘ sagt sie, ‚du mußt so gut sein und die Mamsell -mitnehmen.‘ ‚Wozu denn?‘ frag ich. ‚Sie muß Geschirr für die Leutküche -kaufen.‘ Also Mamsell wird auf die Wurst gepackt, hinten auf ’n -Kutschersitz, und der Karl muß hinter mir reiten. Man soll ja nun mal -den Weibern nichts abschlagen. Alles geht auch ganz gut, bloß daß der -Artenau da ’ne recht längliche Bowle gebraut hatte und wir längelicht -hier sitzen blieben. Um dreie läßt die Mamsell gehorsamst fragen, ob -der Herr Graf nicht bald abführe, und um viere läßt sie wieder fragen. -Da kann doch der geduldigste Mensch ein Wüterich werden. Aber ich bin -ganz stille, und Abend gegen neune fahren wir wirklich los. Wie der -Hausknecht vom ‚König von Preußen‘ am Wagen leuchtet, seh ich die -Mamsell mit ’nem großen Korbe auf dem jungfräulichen Schoß und mit -großen, dicken Tränen auf den Backen. Pimperlings rennen die runter. -Ich kann alles, aber heulen kann ich nicht sehen. Warum heult das -Frauenzimmer: bloß weil sie ’n paar Stündeken hat warten müssen. Als -ob ich im Leben nicht schon manchmal viel länger hätt warten müssen, -wenn ~par exemple~ zum Beispiel die Gräfin nicht mit der Toilette -fertig wurde. Na also, ich denke: das Heulen mußt du der Mamsell -abgewöhnen. Fahr also drauflos, gleich furioso über das Pflaster, und -das Frauenzimmer schreit, als ob es am Spieße steckt. Dann das Stück -Chaussee und dann ... na, ihr kennt ja den Waldweg über Ebersvorwerk, -schön ist er nicht. Und die Mamsell schreit und schreit. Laß sie man -schreien, denk ich, sie sitzt ja dahinten wie in Abrahams Schoß. Sie -wird schon stille werden. Wird sie auch, so etwa von Doberow an. Mal -dreh ich mich um. ‚Mamsellken‘, ruf ich. Keine Antwort. ‚Karl, ist -denn Mamsell noch da?‘ ‚Jawohl, Herr Jraf.‘ Na also. Ich fahr also -wieder zu, nicht schlecht, die Füchse hatten lange gestanden. Da sind -wir denn endlich. Ich steig ab, die Mamsell steigt ab. Nicht ’ne Träne -mehr, aber ’n Gesicht, wie siebzehn Tage Regenwetter. Kein Ton. Aber -wie ich frag: ‚Na, Mamsellken?‘ da reißt sie ’s Tuch vom Korb und weist -so mit der Hand darauf hin, als wie wenn sie sagen möchte: Da hast du -die Bescherung! ’s waren nämlich man bloß noch Scherben drin, blaue, -braune, graue und weiße, keiner größer wie ’n Dalerstück. Und wie ich -lache: ‚Mamsellken, lassen Sie das man nich die Frau Gräfin sehen, daß -Sie so schlecht verpackt haben‘, da schmeißt sie mir den ganzen Zauber -vor die Beine: ‚Un zu Johanni zieh ick, Herr Jraf!‘“ - -Er lachte, daß die Wände dröhnten, und alle lachten mit, so ansteckend -war dies tiefe Lachen aus voller Brust. Man mußte immer mit ihm lachen, -wenn auch seine Geschichten selten eine richtige Pointe hatten. Er -lachte selber, bis er nicht mehr konnte. Dann zog er ein rotseidenes -Taschentuch, so groß, daß man damit den halben Tisch hätte zudecken -können, und wischte sich die Augen aus. „Na, Artenau, du alter -Stickereimajor, biste fertig? Laß mal schmecken. Heut wird aber nich so -lange gepichelt. Ich wollte eigentlich nur den Rittmeister sprechen. -Kommt Vater nicht, Fritze?“ - -„Ich denk doch, Onkel Grucker. Wilhelm ist in Rohlbeck und wollte mit -Papa kommen.“ - -„So, der Wilhelm. Na, der wird uns wohl die Eisenbahn in der Tasche -mitbringen. Ich pfeife übrigens auf die Eisenbahn, mir ist meine -Wurscht lieber.“ - -„Ich pfeife auch auf die Eisenbahn“, warf Doktor Tiburtius dazwischen. -„Stellberg kriegt ja doch keinen Bahnhof, und dann sitzen wir ganz in -der Bredouille. Das bißchen Verkehr, was wir hier haben, geht auch -noch in die Wicken. Die Chaussee ja: die war gut. Aber die Eisenbahn? -Das ist man dummes Zeug. Ist gar kein Bedarf dazu da. Zwischen Berlin -und Hamburg, oder zwischen Berlin und Leipzig und so, das laß ich mir -gefallen. Aber bei uns? Na, Ihrem Bruder Wilhelm mag sie schon helfen, -Herr von Hackentin, uns hilft sie sicher nichts -- die Eisenbahn!“ - -Der Kreisrichter hatte wieder sein überlegenes ironisches Lächeln. -„Gegen einen Kulturfortschritt soll man sich nie sträuben.“ - -„Laß uns bloß mit deiner Kultur und dem Fortschritt zufrieden, -mein Junge“, rief der Graf. „Wir haben schon genug Kultur, und den -sogenannten Fortschritt hab ich noch von achtundvierzig her im Magen. -Aber ich will mich nicht ärgern. Und da hätten wir ja übrigens den -Rackower ... meine Hochachtung, wen bringt denn der mit?“ - -Vor der Tür hielt der Rackower Viererzug. Rappen, in glänzender -Kondition mit Silbergeschirren; ein elegantes Coupé dahinter. - -„Meine Hochachtung, Dicker!“ schrie Grucker dem Eintretenden entgegen. - -„~Bonjour, messieurs!~“ Ernst Hackentin machte eine seriöse -Handbewegung „Erlauben Sie ... gestattet, daß ich unseren lieben Gast -vorstelle, Herr Alfred Schwarz, Kaiserlich Russischer Hofopernsänger.“ - -Man rückte zusammen. Unwillkürlich schob man sich immer zusammen, -sobald der Rackower an einem Tisch erschien; auch dann, wenn mehr als -genügend Raum vorhanden war. Er war wirklich übermenschlich dick, der -kleine Mann. Eine Fettkugel war er mit ganz kurzen Beinchen und ganz -kurzen Armen; der Kopf darüber glich einer zweiten Kugel; glattrasiert, -bartlos, mit einer ungeheuerlichen Glatze, die nur im Nacken ein -schmaler, graumelierter Haarkranz abschloß; im faltenlosen Gesicht lag -stets ein Zug ungemessenster Sorglosigkeit, schrankenlosen Behagens, -und dazu blitzten und blinkerten die kleinen Augen wohlwollend und -listig zugleich. - -Schwer ließ er sich nieder. In gemessenem Abstand von der Tischkante, -die ja nicht, wie an der Rackower Tafel, den im ganzen Kreis bekannten -ovalen Ausschnitt trug. - -„Hier, mein lieber Schwarz, hier, bitte ...“ Er nannte die Namen. -„Mein verehrter Herr Herr, dürfen wir uns bei Ihnen zu einer Flasche -Pontac invitieren? Vielleicht ein wenig temperiert, wenn es Ihnen keine -besondere Mühe macht. Wie geht es der verehrten Gräfin, lieber Grucker? -Ah ... gut ... freut mich riesig. Danke, Marie ist auch gut zu Wege. -Famöses Herbstwetter, nicht wahr? Ich bin sehr froh, daß es unser -lieber Gast so gut trifft.“ - -Der Rackower sprach mit ganz sanftem Tonfall, deutlich akzentuiert, -aber leise. Immer, auch bei Nichtigkeiten, als wenn ihm ungeheuer daran -läge, zu überzeugen. Grucker nannte seine Art zu reden manchmal den -Hofpredigerton. Er sprach auch gern und langatmig, mit ausgesuchter -Höflichkeit, in jeder Einzelwendung. Dazwischen mußte seine silberne -Schnupftabakdose, mit dem Namenszug in farbigen Steinen auf dem Deckel, -die Runde machen, wenn es irgend anging. - -Sonst fesselte seine Redegabe meist auch die Widerstrebenden. Er hatte -ja immer den Sack voll Neuigkeiten, schon aus den Pariser Zeitungen, -die er sich hielt. Aber heut konzentrierte sich das Interesse doch mehr -auf seinen Gast als auf ihn. Ein russischer Hofopernsänger? Etwas -noch nicht Dagewesenes im Kreise. Erstens schon an sich: ein Sänger. -Zweitens: ein Opernsänger. Drittens: ein russischer! Warum den die -Rackower eingeladen hatten? Doppelt merkwürdig, weil Marie Hackentin -sonst ja immer die Exklusive markierte. Denn auch ein Hofopernsänger -blieb doch immerhin ein Komödiant. - -Herr Alfred Schwarz saß zwischen den Herren wie ein Mann, der gewohnt -ist, das allgemeine Interesse zu erregen. Schweigsam zuerst, aber -mit dem Ausdruck artigsten Zuhörens in dem jugendlichen schönen -Gesicht. Dann allmählich auftauend, weltgewandt in das allgemeine -Gespräch eingreifend, jede Frage mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit -beantwortend. Er saß in sehr legerer Haltung, die schlanken Beine -übereinander geschlagen, so daß auf dem einen Fuß das Streifchen eines -seidenen Strumpfes sichtbar wurde, und drehte sich aus dem Etui, das -auf seinem Schoß lag, eine Zigarette nach der anderen. - -Grucker, der leidenschaftliche Kettenraucher, schnoperte eine ganze -Weile nach dem starken süßen Duft, bis er fragte: „Schmeckt denn das -Deubelszeug eigentlich?“ - -„Wollen Sie nicht einmal selbst versuchen, Herr Graf?“ Die flinken, -schlanken Hände hatten sofort eine Papyros gedreht. „Bitte, wollen Sie -hier anfeuchten ...“ - -„Lecken soll ich?“ Alle lachten, denn Grucker machte die Sache mit -seiner dicken, schweren Zunge möglichst ungeschickt. Die erste -Zigarette zerkrümelte, mit der zweiten ging es besser, und dann -schmunzelte der Konte: „Weiß Gott, nicht übel, so zwischen durch. Ein -famöser Tabak das muß ihm der Neid lassen.“ - -„Die Großfürstin Maria Constantinowna hatte die Gnade, mir ein paar -Pfund zu senden.“ - -„Sie waren lange in Petersburg?“ fragte Fritz Hackentin über den Tisch -herüber. - -„Vier Saisons. Ich kam ein Jahr nach der Beendigung des Krimkrieges an -die Newa.“ - -„Schlimme Tage für Rußland --“ - -„Bah! Man merkte davon in Petersburg wenig. Der Russe trägt nicht -schwer. Das Land mochte erschöpft sein, aber es war doch durch die -Lieferungen sehr viel Geld verdient worden, und der Rubel rollte. Wir -hatten fast immer das Haus zum Brechen voll.“ - -Artenau war längst fasziniert von dem auffallend schönen Brillanten, -den der Sänger in der Krawatte trug. Schließlich zwang er sich nicht -länger, beugte sich weit vor und meinte mit seiner stockenden Stimme: -„Sie haben da einen wunderschönen Solitär ...“ - -„Seine Majestät der Zar ließen mir die Nadel nach einer Vorstellung -des „Fra Diavolo“ überreichen. Übrigens --“ er lachte gleichmütig -- -„nachträglich hab ich erfahren, daß Seine Majestät mir einen weit -kostbareren Stein bestimmt hatten. Aber das geht in Rußland nun einmal -so: auf dem Wege von Seiner Majestät bis zu mir wurde der Brillant -immer kleiner.“ - -„Schweinebande!“ rief Doktor Tiburtius dazwischen. „An den Galgen -sollte die Gesellschaft.“ - -„Es ist in der Welt nicht anders. Die kleinen Diebe hängt man, die -großen läßt man laufen.“ - -„Oho! Oho, Herr Schwarz! Bei uns ist’s doch anders. In Preußen gibt’s -noch Richter. Bei uns gilt gleiches Recht für jedermann, und wenn -wir auf etwas stolz sein dürfen, dann ist’s die Ehrlichkeit unserer -gesamten Beamtenschaft.“ - -Der Sänger verbeugte sich verbindlich: „Ich bin ja selber preußischer -Untertan, wenn auch aus einem entlegenen Winkel des Königreichs.“ - -„Nämlich, wenn man fragen darf?“ - -„Ich bin dicht an der französischen Grenze geboren, in einem kleinen -Ort nahe Saarbrücken.“ - -Plötzlich fuhr Graf Grucker in die Höhe: „Die Rohlbecker! Und die Lene -ist auch mit. Donnerwetter, da muß ich doch ...“ Er stülpte seine Kappe -auf und hastete zur Tür hinaus. - -Draußen half Wilhelm Hackentin seinem Vater aus dem Wagen. - -Vater und Sohn waren sehr verschieden. Wilhelm überragte den -Rittmeister fast um Haupteslänge, und sein Gesicht zeigte nicht die -Hackentinschen Züge, sondern die Gruckerschen, mit dem ausgeprägten -Kinn, der kühn geschwungenen Nase. Er hieß nicht umsonst der „schöne“ -Wilhelm. Und man sah ihm an, er hielt auf sein Äußeres. Während der -Vater einen grauen, ausgedienten Flausrock trug, war er sehr elegant -und sehr geschmackvoll gekleidet, in einem langen hellen Redingote, -unter dem weite, gestreifte Beinkleider mit breiten, schwarzen Galons -hervorsahen; und während der Rittmeister Handschuhe grundsätzlich -verschmähte, außer beim Kirchgang, deckten seine auffallend kleinen -Hände weiche gelbe Lederhandschuhe; der alte Herr trug eine Jagdkappe, -abgetragen wie sein Überrock, der Sohn eine seidene schwarze Reisemütze -von fast kokettem Schnitt. - -„Meine Hochachtung!“ rief der Graf schon auf der obersten Stufe zur -Apothekentür, und dann hatte er den Rittmeister umhalst und küßte -ihn schallend erst auf die rechte, dann auf die linke Backe. „Tag, -Schwager. Tag, Wilhelm!“ Auch der bekam seine Küsse, und dann hob -Grucker die Nichte mit seinen mächtigen Armen aus dem Wagen, schwenkte -sie einmal im Kreis, daß die Röcke flogen, setzte sie nieder, und -gleich hatte auch sie ihr Teil: diesmal aber traf’s nicht die Wangen, -sondern die Lippen. Lene hielt übrigens ganz stille. Hätte sich ja auch -nicht rühren können, so fest hielt der Onkel. Wollte sich auch nicht -rühren: denn Onkel Grucker war eben Onkel Grucker. Und ihr Pate dazu. - -Er schnalzte mit der Zunge und lachte: „Meine Hochachtung! Geht man -hinein und sorgt, daß mir der Artenau das Röhrenwasser nicht aussauft. -Ich muß mit der Lene erst ... na, Puttchen, he? -- was müssen wir denn?“ - -Sie hatte bei ihm schon eingehakt: „... zu Tante Hufnagel gehen ...“ - -„Na natürlich. Und wenn’s ’n Daler kost’.“ - -Das war immer so. Wenn der Graf auf den Jahrmärkten einer seiner -Nichten habhaft wurde -- und manchmal waren’s auch nur Wahlnichten, -aber jung und hübsch mußten sie sein --, dann zog er mit ihnen zu -Tante Hufnagel. Und gewöhnlich hatten sie dabei einen Kometenschweif -hinter sich: die liebe Jugend des Städtchens. Denn die wußte, daß es -dem Sodelziger Herrn, so sparsam der sonst war, auf ein paar Hände voll -Pfeffernüsse nicht ankam. Manchmal auch nicht auf eine Handvoll blanker -Dreier. Gerad wie dem alten Wrangel in Berlin. - -„Na, Puttchen, was macht das Herz?“ scherzte er, während sie über die -Straße gingen. - -„Onkel Grucker, ich hab keins.“ - -„Meine Hochachtung! ’n Mädel ohne Herz. So was läßt der liebe Gott ja -gar nicht zu. Na hör mal, Deern, ... und ich dachte doch, der hübsche -Gardeschütze, der dich immer mit so großen Gucklöchern ansah, bei uns, -bei dem Manöverdiner ... der Neuchateller ... wie hieß das Luderchen -doch ...“ - -„Merivaux, Onkel Grucker. Das ist aber auch das Einzige, was ich von -ihm weiß.“ - -„Merivaux -- so! Der Deixel soll die französischen Namen behalten. Sind -aber brave Kerle, die Neuchateller. Haben sich als gute Royalisten -gezeigt, als die da unten Revolution machten. Anno sechsundfünfzig und -so. Ja -- Tag, Tante Hufnagel. Meine Hochachtung!“ - -Madame Hufnagel knixte ganz tief, die beiden Mamsellen knixten noch -tiefer, und alle drei lächelten so süß, wie ihre Waren waren. - -„Na, nu greif mal zu, Puttchen.“ - -Helene Hackentin zierte sich nicht. Wie hätte man sich denn auch -vor der Bude von Tante Hufnagel zieren können. Sie stopfte ein paar -Pralinees ins Kröpfchen und steckte sich die Taschen voll. Rechts ein -Paket Schokoladenpfefferkuchen und links den kleinen Karton mit einem -Königsberger Marzipanherz. „Siehst du, Onkel Grucker, nu hab ich ’n -Herz!“ Famos übrigens, daß die Pelerine links und rechts ordentliche -Taschen hatte. - -Brrr -- brrr schmiß der Graf eine Handvoll Pfeffernüsse über die -blonden, braunen, schwarzen Köpfe hin. Es summte in der Luft wie ein -Schrotschuß Und die liebe Jugend jagte hinterher, stolperte, schubste -sich, balgte sich, lag auf den Pflastersteinen und jauchzte. Grucker -aber hatte gerad noch einen Blondkopf an den langen Zöpfen erwischt. -„Bist du nicht eine kleine Tiburtia? Die Nas’ kenn’ ich doch! Sperr’s -Maul auf und mach die Augen zu. So ... da ...“ Unbarmherzig schob er -einen wahren Riesenkloß Mehlweißchen in den aufgerissenen Schlund und -wollte sich totlachen, wie das Unglückswurm zwischen Lachen und Greinen -biß und schluckte. - -„So, Tante Hufnagel ... Schluß. Was kost’t der Kitt? ’n Daler zwanzig -... hier! Bist fertig, Puttchen? Na, denn woll’n wir mal. ’n Abend ... -’n Abend ...“ - -Und wieder knixte Madame Hufnagel ganz tief, beide Mamsellen knixten -noch tiefer, alle drei lächelten so süß wie Marzipan. Helene hakte -wieder ein, aber dann besann sie sich und meinte, ein wenig zögernd: -„Nun muß ich zu Tante Artenau ...“ - -„Meine Hochachtung! Nee aber -- was willst du denn da? Etwa zusehen, -wie die semmelblonde Julie das Kunststück fertig bringt, ein Hühnerei -in der Achselhöhle auszubrüten? Pfui Spinne. Komm du man mit zu uns -ordentlichen Leuten.“ - -Es stand ihr auf dem Gesicht geschrieben: ihr war das auch lieber. Aber -sie zögerte noch immer, griff in die linke Manteltasche -- gut doch, -daß der Mantel so schöne Taschen hatte! -- krabbelte sich ein Stückchen -Pfefferkuchen heraus und steckte es zwischen die Zähne. Gerad noch so -viel Platz blieb, daß sie fragen konnte: „Wer ist denn drin, Onkel -Grucker?“ - -„Wer wird denn drin sein, Mademoiselle Neugier? Artenau und Tiburtius -und Fritze, dein Bruder Demokrat ... na, und Ernst mit seinem -Moskowiter Sänger.“ - -Es war gut, daß sie nicht über den Straßendamm konnten. Gerad kam -nämlich von der Kirche her ein Haufen Menschen mit einer „Moritat“ in -der Mitte, und der Mann mit der Schauleinewand pflanzte sich just vor -der Apotheke auf. So etwas mußte Grucker sich immer in der Nähe ansehen -und anhören, blieb also stehen, sagte lachend: „Meine Hochachtung ... -wunderschön!“ und merkte gar nicht, wie Helene aus eigenem Antrieb -den Schritt hemmte und daß sie trotzig den Nacken steifte. Bis der -Leierkasten sein Lied abgespielt und der Mann das Epos von dem -siebenfachen Mord vorgetragen hatte -- - - „Und so hat in einer Nacht - Er sieben Christen umgebracht“ -- - -Währenddessen konnte Helene sich besinnen. Sie knabberte dabei langsam -ihren Pfefferkuchen auf. Da wären wir ja beinah’ recht albern gewesen, -dachte sie. Warum denn nicht? Was geht mich dieser ... dieser Russe -an. Nun gerade! Und als Grucker sein Dittchen auf den Sammelteller -geworfen hatte und sich wieder in Bewegung setzte, fragte sie: „Also -der Rackower Gast? Was ist denn das für ein Menschenkind?“ - -„Biste neugierig, Puttchen?“ - -„Bewahre. Ich frag nur so ...“ - -„Na also, wenn du nur so fragst: er trägt seidne Strümpfe und ’ne -Krawattennadel, die ihm der Kaiser aller Reußen geschenkt haben soll. -Sonst ’n ganz manierliches Kerlchen, scheint’s. Schmokt auch ’n ganz -wundervollen Toback. Meine Hochachtung -- wirklich! Weiter weiß meines -Vaters Sohn nichts von ihm.“ - -Da waren sie auch schon in der Offizin. - -Aber nun zögerte Helene doch wieder. Es war sehr laut im Nebenzimmer. -Auch der Graf horchte auf. „Die scheinen ja ’n bissel scharf aneinander -geraten. Hör’ mal, Lene ...“ - -„Ich möchte doch lieber ...“ - -„Na, du wirst dich doch nicht fürchten! Was sich zankt, liebt sich, -Leneken.“ - -Er stieß die Türe auf, stapfte mit seinem lauten „Meine Hochachtung!“ -über die Schwelle, stieß aber direkt auf seinen Neffen Fritz Hackentin, -der -- mit dem Hut in der Hand -- hinauswollte, rot im Gesicht und vor -Erregung zitternd. Der Bruder stand daneben, suchte ihm den Hut zu -entwinden. - -„Hallo, mein Junge!“ rief Grucker. „Hier wird nicht desertiert.“ Er -faßte ihn mit beiden Händen um den Leib, hob ihn hoch, wie man ein Kind -hochhebt, drehte ihn um und schob ihn, ohne loszulassen, wieder zum -Tisch hin. „Komm, Lene, Mädel, streichle mal ’n bißken. Kreuzdonnerstag -und Freitag, man wird doch hier in Ruh’ sein Glas Wein trinken können!“ - -„Laß mich, Onkel Grucker ... laß mich!“ - -Aber die eisernen Fäuste hielten fest. „Nee, Fritz. So kommst du nicht -los. Erst ’n Versöhnungsschluck. Habt wieder mal hohe Politik getrieben --- he? Verflucht und zugenäht! Na, was gab’s denn?“ - -Drüben saß der alte Rittmeister. Er war so blaß im Gesicht, wie der -Sohn rot war, und die Hand, die er am Glas hielt, zitterte auch. Aber -er zwang sich. „Wenn du’s wissen willst, Schwager. Das heißt, daß mein -Sohn Fritz uns gerad erzählt hat, daß er Mitglied vom Nationalverein -ist. Und da hab ich ihm meine Meinung gesagt. Das heißt, über die ganze -Schreierei und über den vielgeliebten Schützenherzog in Gotha dazu. Und -das kann er nicht vertragen.“ - -„Deshalb ist es besser, ich gehe!“ stieß der Kreisrichter hervor. -„Meine Überzeugung lasse ich nicht antasten, auch von dir nicht, Papa.“ - -Der Graf hatte ein Lachen, das oft geradezu erlösend wirken konnte. -So lachte er jetzt. Und es paßte in dies Lachen hinein, was er -zwischendurch in einzelnen Brocken vorbrachte: „Brat mir einer -’n Storch ... kriegen sich Vater und Sohn wegen Herzog Ernst von -Sachsen-Koburg-Gotha, Durchlaucht und so, an den Kragen ... aber -den Storch recht knusperig, bitte! Kinderkens, seid gut ... lieber -Artenau, du oller Stickereimajor, nu aber schnell ’ne neue Mischung ... -was Besänftigendes. Heut wird nicht mehr Politik gemacht ... hier setzt -du dich, Fritze ... so ... na, und da hab ich euch die Lene mitgebracht -... Lene ... Puttchen ... komm her. Es frißt dich keiner ...“ - -Sie war an der Tür stehengeblieben. - -Daß sich Vater und Bruder stritten, war ihr nichts Neues. Das ging -nun schon seit Jahren, man hatte sich nachgerade daran gewöhnt: Vater -und Fritz vertrugen sich schließlich immer wieder, und Onkel Grucker -brachte das gewiß heute schnell zuwege. Er verstand das Leimen. - -Aber diesmal war’s ihr peinlich. Weil der Fremde dabei war. Der Russe, -gegen den sie vom ersten Sehen an etwas wie instinktive Abneigung -empfunden hatte. - -Das Zimmer war mit Tabaksrauch gefüllt. Mehr noch als Onkel Pastors -Arbeitsstube am Sonnabend. Mit dem Messer hätte man den Qualm -durchschneiden können, und die Augen taten einem weh; kaum, daß man die -Herren am Tisch unterscheiden konnte: den Doktor, der bei Lene noch von -früher her immer einen Lebertrangeschmack auf der Zunge hervorrief, den -lustigen Herrn Herr, Artenau, Onkel Ernst ... - -Ja ... und da stand der Russe am Fenster. - -Fast wie sie an der Tür. Vielleicht hatte er auch den gleichen Gedanken -wie sie: ich wollte, ich wäre nicht hier. Zu verwundern wär’s nicht. - -Das Gespräch am Tisch ging noch ein paar Augenblicke weiter. Schon -gemäßigter. Sie hörte nur einzelne Worte ... „Das deutsche Vaterland -...“ sagte Fritz. „Nee, unser altes Preußen ...“ sagte Vater, und Onkel -Grucker: „Nu laßt’s mal endlich ...“ - -Da war auch schon der Rackower aufgestanden, dem jeder politische -Streit unbequem war, hatte das Monokel ins Auge geklemmt und ihr -zugenickt, war zu seinem Gast ans Fenster getreten. Und der wandte ihr -im nächsten Moment das Gesicht zu, verbeugte sich. - -Zu dumm, zu kindisch, daß man immer noch rot wurde wie ein Backfisch ... - -„Na, Leneken, wo steckst du denn?“ rief der Graf schon zum drittenmal. -„So komm doch! ’s ist wieder Friede im Lande.“ - -Langsam ging sie an den Tisch, nickte, reichte die Hand. Und nun walzte -sich Onkel Ernst heran, stellte ihr den Russen vor. Jäh überflutete -sie wieder die alberne Röte. Aber sie überwand sie diesmal schnell; -vielleicht, weil es ihr so komisch vorkam, daß er Schwarz hieß, einfach -Schwarz, während sie irgendeinen Namen auf off oder itsch erwartet -hatte. - -Der Friede schien wirklich geschlossen, die Gläser wurden neu gefüllt, -Grucker hatte schon wieder eine seiner langen dicken Zigarren in Brand. -Dann hieß es plötzlich, wie zur Besiegelung des Friedens: „Lieber Herr -Herr, pfeifen Sie uns eins“, und der Apotheker ließ sich nicht lange -bitten. Er spitzte die Lippen und pfiff. Erst von Schumann: „Wohlauf, -noch getrunken, den funkelnden Wein ...“ und dann sein Glanzstück aus -„Fra Diavolo“. - -Eigentlich liebte Helene dies Kunstpfeifen wenig. Es hatte für ihr -empfindliches Ohr immer ein wenig Schrilles. Aber das mußte sie -zugeben: Herr Herr machte seine Sache gut, und es war +doch+ -Musik. Stets, wenn ein Lied erklang, wurde ihre Seele wach. - -Und dann war sie mit einem Male, sie wußte selbst nicht, wie es -eigentlich gekommen war, in einem Gespräch mit dem Russen. Sie nannte -ihn im stillen immer den Russen, wenn er auch Schwarz hieß. - -Er hatte an die Produktion des Apothekers angeknüpft, aber sie waren -im Nu darüber hinaus. Von der Musik im allgemeinen sprach er, von den -neuesten Opern dann, von Spontini, von Donizetti, von Lortzing und vor -allem von Meyerbeer. Eigen erfreut schien er, daß sie gut Bescheid -wußte. Einmal sagte er: „Ich hätte nie geahnt, daß man hier, in der -Landeinsamkeit, Musik so liebt.“ - -„Gerade, wenn man so einsam lebt, meine ich, muß man sie doppelt -lieben.“ - -„Sie ist die große Herzenströsterin.“ Er sprach es mit Emphase, aber -das entging ihr. - -„Ich finde, daß sie immer neue Sehnsucht weckt“, erwiderte sie. - -Als ob er sie nicht ganz verstanden hätte, so schaute er sie an. -Er wiegte den schönen Kopf: „Gewiß, sie weckt Sehnsuchten, aber -nur, um sie wieder zu stillen.“ Und dann: „Sie üben selber Musik, -gnädiges Fräulein? Aber was frage ich -- wer sich so stark für Musik -interessiert, muß auch versuchen, dem inneren Drang zum Leben zu -verhelfen.“ - -„Ich singe ... ein wenig.“ Erst als sie es gesagt hatte, fiel ihr ein, -daß Onkel Grucker vorhin von Herrn Schwarz als dem „Moskowiter Sänger“ -gesprochen hatte. Es war aber nur eine ganz unklare Vorstellung in ihr, -was der Onkel eigentlich damit gemeint hatte, und sie war nun doch -neugierig: „Sie singen auch -- nicht wahr?“ fragte sie, und es mochte -wohl sehr naiv klingen. Denn er lachte ganz leise, verneigte sich ein -wenig: „Es ist ja mein Beruf, gnädiges Fräulein. Ich bin Opernsänger.“ - -Das war ihr eine kleine Enttäuschung. Er hatte so weltmännisch -geplaudert; für einen Diplomaten würde sie ihn gehalten haben, -vielleicht auch für einen Offizier in Zivil. Opernsänger ... Komödiant -... das hätte sie nicht gedacht. Aber es interessierte sie gewaltig, -und aus dem Untergrund ihres Bewußtseins stiegen zugleich Erinnerungen -an eigene heiße, tolle Träume empor, in denen sie sich selber gefeiert -gesehen hatte, wie die Jenny Lind gefeiert worden, wie jetzt die Lucca -in Berlin. So daß sie sich der ersten Empfindung schämte und lebhaft, -doppelt liebenswürdig meinte: „Jetzt verstehe ich erst. Nicht wahr, -Herr Schwarz, Sie waren in Petersburg engagiert und daher“ ... nun -überkam sie wieder eine leichte Verlegenheit ... „daher hieß es auch, -daß Sie Russe wären? Wo haben Sie eigentlich meine Verwandten kennen -gelernt?“ - -„In Ems, gnädiges Fräulein. Wir gebrauchten zur gleichen Zeit die -Kur. Das russische Klima hatte bei mir eine kleine Halsaffektion -hervorgerufen. Man muß vorsichtig sein in meinem Beruf.“ - -Sie hatten ganz ungestört miteinander sprechen können, denn die übrige -Tafelrunde war völlig durch Herrn Herr in Anspruch genommen. Der mochte -wohl von dem Wunsch beseelt sein, ein politisches Gespräch nicht neu -aufkommen zu lassen. Hatte erzählt, daß er von Frankfurt eine von den -neuen merkwürdigen Lampen mitgebracht hätte, die mit Petroleum gespeist -würden, einem Öl, das in Amerika aus der Erde fließe. Der und jener -hatte davon schon gehört, der Rackower und Wilhelm Hackentin hatten -die Lampen auch in Berlin gesehen. Doktor Tiburtius wollte wissen, daß -man Erdöl schon im Altertum zur Beleuchtung gebraucht hätte; Ben Akiba -habe nun einmal recht: es gebe nichts Neues unter der Sonne. Im übrigen -wäre das ein gefährliches Zeug, stinke wie die Pest und explodiere wie -Schießpulver. Als der Apotheker schließlich das Lämplein holte und -umständlich anzündete, rückten die Herren wirklich vorsichtig ihre -Stühle rückwärts, am weitesten Artenau. - -„Meine Hochachtung“, rief Grucker und klatschte sich auf die -Oberschenkel. - -Da blickte Helene auf und sah durch die dichten schweren Tabakswolken -die helle, gelbliche Flamme über dem gläsernen Bassin. Und mit einem -Male kam es ihr vor, als wäre sie emporgeflogen, weit hinauf, und nun -wieder jäh auf die Erde zurückgeworfen. Die Lampe im großen Zimmer zu -Rohlbeck stand plötzlich vor ihr, sie hörte das Gluck-Gluck, und sie -sah den häßlichen Fleck, den das schwere Gestell in die alte, braune -Plüschdecke gedrückt hatte. - -Sie mochte nicht weiter sprechen, und nur wie von fernher hörte sie, -was die andern sagten. Bruder Wilhelm natürlich schon von Plänen und -Spekulationen, die man in Berlin an das Erdöl knüpfe. Du lieber Gott, -das war auch solch Phantast, der gute Wilhelm. Immer wollte er in -den Himmel fliegen, und immer setzte ihn das Schicksal hart auf den -Rohlbecker Sand zurück. Dann sprach ja wohl Fritz davon, daß das -Petroleum, wenn die Zeitungen recht berichteten, sehr billig werden -würde, daß es das Licht der Armen werden könnte; die Quellen in -Nordamerika sollten schier unerschöpflich sein. Und da mischte sich -Vater ein. Was für ein Unsinn, meinte der. Billig -- bei den hohen -Transportkosten übers Weltmeer. Die armen Leute übrigens -- die armen -Leute! Erstens gibt’s, gottlob, auf dem Lande keine wirklich armen -Leute, das heißt, die Rohlbecker Herrschaft ausgenommen. Und zweitens -sollten die armen Leute nur ihre Talglichter weiter ziehen, das heißt, -der Kienspan sei auch nicht zu verachten. Und drittens käme die ganze -Geschichte doch nur auf eine Konkurrenz für den Landwirt heraus, das -heißt, dem guten Rüböl sollte der Garaus gemacht werden. Viertens und -letztens aber: in sein Haus käme die neumodsche Sache nicht hinein, das -heißt, er hätte nicht Lust, in die Luft gesprengt zu werden. Einmal, -in der Schlacht von Leipzig, wär’s schon nahe daran gewesen, und daran -hätte er noch genug. Worauf Artenau dringend bat: „Lieber Herr Herr, -bitte, nehmen Sie das Ding fort. Aber erst auslöschen, erst auslöschen -...“ und alle lachten. - -Nein, alle lachten nicht. Ihr selber war die Kehle wie zugeschnürt, -und Herr Schwarz hatte nur ein Lächeln. Ein kleines, feines Lächeln, -das etwa sagen mochte: Liebe Leute, was seid ihr für wunderliche -Menschenkinder, und wie eng muß euch der Horizont gezogen sein. - -Der gelbe Lichtschein über dem gläsernen Behälter war erloschen, der -Tabaksschwaden strich wieder über den Tisch. Die Lampe aber wanderte -den Tisch entlang. Jeder tastete und fühlte an dem neuen Lichtspender -herum, und jeder gab seinen Senf dazu. - -Ganz still saß Helene. Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken, und -die Hände hatte sie im Schoß verschränkt; fest preßten sich die Finger -ineinander. - -„Ich muß Sie singen hören, gnädiges Fräulein“, hörte sie neben sich. - -Da kam der alte Trotz über sie. Sie zog die Achsel hoch. „Wozu? Es -lohnt nicht!“ gab sie kurz, fast bitter zurück. - -„Das können Sie selber nicht wissen. Und ... Sie haben einen Timbre in -der Stimme, der meine Erwartung hochspannt.“ - -Sie sah ihn an. War das eben eine Phrase gewesen? Aber er hielt stand. -„Glauben Sie’s mir nur, gnädiges Fräulein.“ Er beugte sich ein wenig -vor und sprach leise weiter, in seinem weichen, einschmeichelnden -Tonfall: „Es muß doch wohl so etwas geben wie Vorbedeutungen? Als -ich vor drei Tagen durch den märkischen Sand rollte, in der Enge der -Postchaise, ehrlich gestanden, mit ein wenig gemischten Gefühlen: warum -hast du eigentlich die Einladung angenommen? Du hättest doch lieber in -Berlin bleiben oder du hättest nach Paris gehen sollen -- sehen Sie, -da überkam mich plötzlich die Empfindung: du wirst hier etwas erleben. -Eine ganz sichere Empfindung. Es ist mir früher schon ähnlich ergangen, -und ich habe mich nie getäuscht. Als ich dann ausstieg, da fiel mein -erster Blick auf eine junge Dame. Darf ich es aussprechen, auf eine -sehr schöne junge Dame. Und ich wußte sofort: dein Erlebnis beginnt. -Ich wußte, daß ich Sie wiedersehen würde.“ - -Er schwieg. - -Ihr war das Blut ins Gesicht gewallt. Aber sie straffte den Nacken. -Was fiel dem Herrn ein? Wie konnte er so zu ihr sprechen? Ihre Finger -schoben sich noch fester ineinander. Starr sah sie geradeaus, mit einem -hochmütigen Blick. - -„Hätte ich das nicht sagen dürfen?“ hörte sie wieder die weiche -Flüsterstimme. „Dann müssen Sie mir verzeihen. Ich bin ein Fremder -hier und vielleicht nicht gewöhnt, die Worte auf die Goldwage zu -legen. Wir Künstler dünken uns ja allzu leicht freier als der -Alltäglichkeitsmensch ... Sind Sie zornig auf mich? Ich will mich -bessern ... und dennoch, ich muß es Ihnen sagen: Ihr Unwille macht Sie -nur noch reizvoller.“ - -Sie war empört. Sie antwortete nicht, sie bewegte sich nicht. Sie war -empört, und doch lauschte sie: wird er nicht weiter sprechen? Und doch -baute sie sich schon eine goldene Brücke: bin ich nicht am Ende ein -rechtes Kind? Da draußen in der weiten, weiten Welt mag man noch ganz -andere Worte wagen und sagen, und niemand nimmt Anstoß daran. - -„Ich muß Sie singen hören!“ wiederholte er. „Ich muß!“ - -Er wartete. Bis er sich dann plötzlich zu dem Rackower umwandte. „Herr -von Hackentin, wissen Sie, daß Sie eigentlich recht grausam gegen Ihren -Gast waren?“ - -„Eheu!“ machte der Dicke. Er war zwar anscheinend während der letzten -Minuten aufmerksam dem Gespräch der Herren gefolgt, in dem die Geister -wieder aufeinander zu platzen schienen: einem Gespräch über den neuen -Ministerpräsidenten Herrn von Bismarck-Schönhausen -- aber er hatte -dabei kein Auge von dem jungen Mädchen gewandt. Konnte er doch, wie -Grucker immer behauptete, unter seinem Monokel „um die Ecke gucken“. - -„Eheu!“ sagte er noch einmal. „Wie meinen Sie das, mein lieber Schwarz? -Ich bin desolat“ -- und sah dabei sehr vergnügt darein. - -„Sie haben mir noch nicht dazu verholfen, das gnädige Fräulein singen -zu hören.“ - -Der Rackower schlug sich vor die Stirn. „Beim Zeus! Nein -- bei Apoll -und allen Musen! Ich bin ganz desolat. Aber wissen Sie, mein lieber -Schwarz, ein vorsichtiger Gastfreund spielt nicht all seine Atouts -gleich aus. Wir hatten unsere liebe Helene natürlich auf dem Programm.“ -Er sah wieder einmal um die Ecke nach der Nichte hin und nickte: -„Nun, schöne Helene? Du wirst Tante Marie und uns doch die Freude -machen, recht bald einmal zu uns zu kommen? Oder willst du, daß wir -dich feierlich invitieren: ~Madame la Baronne et Monsieur le Baron -Ernest~ usw.? Ist doch sonst nicht zwischen Rohlbeck und Rackow -Sitte gewesen.“ - -Er hatte es langsam, in seinem zierlichen, leisen Hofton gesagt, und so -gewann Helene etwas Zeit. Eine Galgenfrist, schien ihr. Zuerst hatte -ihr ein kräftiges, trotziges Landmädel-Nein auf der Zunge gelegen. Dann -hatte sie sagen wollen: ‚Ich komme schon, aber erst, wenn dieser Herr -abgereist ist.‘ Nein, das ging ja nicht. Also: ‚Ich komme schon, aber -ich singe nicht.‘ Nun sprach sie: „Ja, danke, Onkel Ernst ... gern!“ -Wurde wieder einmal rot dabei und dachte: ‚Wartet nur! Stockheiser werd -ich sein. Heiser, wie eure Primadonnen sein sollen, wenn sie nicht -singen wollen.‘ Und wußte dabei doch: ‚Du wirst singen ...‘ - - - - -Drittes Kapitel - - -Im Kreise Stellberg gab es kaum ein wirkliches Schloß. Helene Hackentin -hatte nicht unrecht: sie waren ja alle arm wie die Kirchenmäuse, -die Golziner, die Steckschen, die Brunowschen; gerade daß sie sich -durchschlugen auf dem kargen Boden. Grucker hätte vielleicht bauen -können, sprach wohl auch seit Jahrzehnten davon, war aber zu bequem -und war ein zu guter Wirt. Fleißig und sparsam, wie sie fast alle, nur -nicht so der Not gehorchend, mehr der Gewohnheit nach. Ein wirkliches -Schloß gab es freilich, aber das war mehr Burg als Schloß: der riesige -Kasten in Nugow, in dem der alte böhmische Graf wie ein halber -Einsiedler hauste, Graf Delkowitz, Edler von Kastricz. Das war aber -ein Fremder im Kreise, und die Ansässigen kamen selten in die uralte -Johanniterburg, deren gewaltiger Turm wie ein Wahrzeichen vergangener -Zeiten ins Land ragte. - -Auch das Rackower Herrenhaus war kein Schloß. Immerhin war’s ein -stattlicher Bau, langgestreckt, einstöckig, mit ein paar in das hohe -Dach eingefügten Mansarden und einem neueren rückwärtigen Flügel, den -Ernst Hackentin angebaut hatte, als er die hannöversche Erbtochter -heimführte. Die Freiin von Lastrop sollte ja entsetzt gewesen sein, -als sie mit ihren Eltern zum ersten Male nach Rackow gekommen war, um -sich ihren zukünftigen Wohnsitz anzuschauen. Der Anbau war geradezu -Bedingung gewesen; aber mit dem Ausbau waren Ernst Hackentin und Frau -Marie, die Marquise, wie sie im Kreise mit gutmütigem Spott genannt -wurde, eigentlich bis auf den heutigen Tag nicht fertig geworden. - -Daß sie nicht niedergerissen und ganz neu gebaut, hatte oft -Verwunderung erregt. Einmal, als der alte Lastrop das Zeitliche -gesegnet, war’s auch nahe daran gewesen. Der berühmte Landesbaurat -Schinkel war in seinem letzten Lebensjahr in Rackow zu Gaste, und -Ernst Hackentin sagte bisweilen: „Ja, wenn unser großer Schinkel nicht -darüber hinweggestorben wäre.“ Aber die Mittel hatten doch wohl nicht -gereicht. Sie saßen ja in einer brillanten Assiette, die Rackower, hieß -es; aber sie führten einen riesigen Train, reisten viel, gingen im -Winter zu Hofe. Manchmal lachte man im Kreise: Isaak Böhm aus Frankfurt -oder gar der kleine Jakob Friedländer aus Zielenzig sollten plötzlich -neben anderen illustren Gästen in Rackow gesehen worden sein. Nun -- -augenblickliche Verlegenheiten kann schließlich jeder haben. Man weiß -das ja. Es ging auch niemand etwas an, zumal die Rackower kinderlos -waren. Und dann: ein so liebenswürdiges Haus, so liebenswürdige Wirte -wie sie gab es auf zwanzig Meilen in der Runde nicht. Wennschon die -„Marquise“ bisweilen sehr herablassend sein konnte. War da jüngst -der Amtsrat Weese auf Neu-Bukerow nobilitiert worden, ein Mann, mit -dem der ganze Adel des Kreises seit Menschengedenken als mit einem -Standesgenossen verkehrt hatte. Was tut die Marquise, als sie zum -ersten Male wieder mit ihm zusammenkommt? Sie reicht ihm die Hand zum -Kuß: „Ich freue mich unsäglich, Herr von Weese, Sie nun endlich ganz -als einen der Unseren begrüßen zu können.“ Du lieber Himmel, der alte -Mann hatte nachher selber herzlich darüber gelacht. Böse sein konnte -man der Marquise ja nicht. Sie war so herzensgut. Und Stil hatte sie -doch auch in ihrer Art. - -Gastfrei war das Rackower Haus wie kein anderes im ganzen Kreise, und -auch die Art der Gastfreundschaft hatte Stil. Hannöverschen Stil -- -englischen Stil. - -Ein paar junge Mädchen, ein paar junge Herren waren meist zu Gaste -in Rackow; Hausherr und Hausfrau liebten die Jugend. Die Mädchen -logierten im Anbau, die Herren oben in den Mansarden, wo jedes der -kleinen Zimmer seinen originellen Namen hatte: da gab es ein „Pompeji“, -so genannt nach der roten Tapete, ein „Handtuch“, weil das Zimmer -sehr schmal und lang war, eine „Bärenhöhle“, weil hier jahrelang ein -Leutnant von Baer während seines Sommerurlaubs gehaust hatte, und eine -„Bleikammer“, sintemalen dieses Zimmer der lieben Sonne besonders -ausgesetzt war. Unten im Anbau waren die Namen poetischer: es gab den -„Pfau“, die „Nachtigall“ und das „Alpenröschen“; es gab sogar eine -„Sehnsuchtskammer“, als das letzte Zimmer der Reihe. - -In der Sehnsuchtskammer wohnte diesmal Helene Hackentin. - -Am Tage nach dem Markt war Tante Marie nach Rohlbeck gekommen. -Unangemeldet, auf ihrem Selbstkutschierer mit den Ponys. Hatte sich die -liebe ~petite-nièce~ auf acht Tage ausgebeten: „Du kommst gleich -mit mir, ~mignonne~. Pack’ deine Siebensachen. Vergiß auch ein -helles Fähnchen nicht. Vielleicht macht es sich, daß wir ein Tänzchen -riskieren.“ - -Der alte Rittmeister hatte ein wenig geflucht. Mama barmte: „Du bist -recht grausam, Marie, uns das Kind zu entführen. Denkst gar nicht an -uns Alte!“ Aber die Marquise lachte: „Es ist nur um das Gewöhnen, -liebe Elisabeth. Ihr sollt euch dran gewöhnen, daß Helene euch früher -oder später, besser früher als später, ganz entführt wird. Seid keine -Egoisten. Ihr habt ja Martha, Wilhelm ist jetzt auch da -- und dann -eure Enkel. Gönnt anderen auch etwas.“ - -„Das heißt --“ begann der Rittmeister brummig. Aber er kam nicht -weiter. Bei der Rackowerin kam man nie weiter, wenn sie sich -vorgenommen hatte, zu persuadieren. Zudem: es war ein Axiom, daß die -jungen Mädchen sich in Rackow bewegen lernten, sich abschliffen, -gleichsam einen Blick in die große Welt taten. Dem widerstrebten Eltern -nur in den seltensten Fällen. - -Die aber, die es zunächst anging, stand am unschlüssigsten. Immer -war sie leidenschaftlich gern in Rackow gewesen. Nun stand sie und -stand, steif und unbeholfen, und drehte an dem Schürzenzipfel wie ein -Backfisch. - -„Vielen Dank, liebe Tante ... aber ...“ - -Die Marquise lachte wieder. Ihr goldiges Lachen, das das häßliche -Gamingesicht so seltsam verschönen konnte: „Aber ... aber! Aber ich -habe nichts anzuziehen. Nicht wahr? Mignonne, du hast deine Jugend, -hast deine blanken Augen. Mein Herz, was willst du noch mehr! ~En -avant~ ... ~en avant~ ... in einer Viertelstunde muß dein -Köfferchen gepackt sein.“ - -Noch einen Moment stand Helene. Dann flog sie plötzlich aus der Tür und -die Treppe hinauf. - -Frau Marie hatte sich in den großen Lehnstuhl mit den mächtigen -Ohrenwangen gesetzt. Das zierliche Figürchen verschwand fast in dem -Ungeheuer, die Krinoline mußte sie gewaltsam zusammendrücken, und dabei -bauschte sie sich erst recht unförmlich auf. Es sah eigentlich komisch -aus. Aber die kleine Persönlichkeit beherrschte doch das ganze Zimmer. -Sie hielt auch hier Cercle und hatte für jeden eine liebenswürdige -Bemerkung. Der Rittmeister bekam eine Anerkennung, wie artig seine -Hunde seien; der alten Gnädigen sagte sie ein heiteres Wort, wie -Mignonne hübscher würde von Tag zu Tag und daß sie ganz die Augen der -Mama hätte. Martha, die ihr eine Limonade brachte, erhielt ein Lob -für die vortreffliche Mischung, die Mamsell in Rackow nie erzielte, -und Wilhelm mußte über die Fortschritte des Bahnprojekts berichten. -Dabei wurde er immer Feuer und Flamme. Sein schönes Gesicht leuchtete -auf, er zwirbelte den koketten Spitzbart mit den wohlgepflegten weißen -Fingern -- und immer hatte er die bestimmteste Zusage von Exzellenz -Itzenplitz, die Konzession schon „in der Tasche“ ... gerade daß noch -einige kleine Schwierigkeiten zu überwinden waren. Er stöhnte freilich -auch immer: „Mein liebes Rohlbeck! Weib und Kind muß ich allein -lassen ... aber was soll man tun?“ Ein klein bissel malitiös konnte -die Marquise manchmal doch sein: „Nun, Wilhelm, Berlin ist auch ganz -pläsierlich“, meinte sie und kicherte. Doch da sie Martha, die sie -besonders gern hatte, nicht weh tun wollte, fügte sie gleich hinzu: -„Leicht hast du’s allerdings nicht in Berlin, ich weiß das, Wilhelm. Es -ist ja jetzt ein großes Wettrennen um die Bahnkonzessionen. Graf Redern -erzählte uns davon. Aber es wird doch auch enorm verdient. Wie heißt -doch der Mann, der die erste Geige spielt? Richtig: Stroußberg ... ein -Jude ... natürlich. Der soll ja bei der Bahn oben in Preußen ein großes -Vermögen machen. Wilhelm, Wilhelm ... ich seh dich schon als Millionär! -Nun: ~à tous seigneurs, tous honneurs~!“ - -Dann kam Helene herunter. Hinauf war sie gestürmt, ganz langsam schlich -sie nun ins Zimmer, und es klang eigen kleinlaut, als sie sagte: „Ich -bin fertig, Tante Marie.“ - -Etwas Unsicheres, Sprunghaftes lag auch jetzt noch in ihrem Wesen. Sie -war in den beiden Tagen, die sie in Rackow war, ihrer selbst nicht froh -geworden. - -Und es war doch so schön hier. Der Oktober meinte es diesmal besonders -gut. Wenn der Amtmann Schmidthals, der seit einem Menschenalter Rackow -ziemlich oder ganz selbständig verwaltete, -- Graf Grucker legte, -sobald auf die Verwaltung seitens des alten „Mistikers“ die Rede -kam, den Akzent immer auf die erste Silbe -- wenn Schmidthals bei -der Veranda vorüberkam und die graue Kappe von dem grauen Haar zog, -schmunzelte er jedesmal: „So ahnen Herbst haben wir noch nie gehabbt.“ - -Die Rackower waren Spätaufsteher. Onkel Ernst erhob sich erst gegen -zehn Uhr aus seinem Riesenbett, und Tante Marie wurde überhaupt erst -gegen Mittag sichtbar. Bis zur Mittagsstunde blieben die Gäste sich -selber überlassen. Doch auch sie kamen in Rackow bald ins selige -Faulenzen hinein. Helene aber war von Hause aus an frühes Aufstehen -gewöhnt, denn der alte Rittmeister verlangte ihre Gegenwart bei seiner -Morgensuppe, die unweigerlich aus Brotschnittchen mit heißem Wasser -aufgebrüht bestand. - -So war sie auch hier schon gegen sieben Uhr am Frühstückstisch auf der -Veranda. - -Gestern hatte sie den Herrlichkeiten dieses Rackower Frühstückstisches -ganz allein gegenübergesessen: der großen silbernen Kaffeemaschine, dem -silbernen Brotröster, den vielen kalten Platten. Allein mit Höhne, dem -Leibdiener Onkel Ernsts, der geräuschlos seines Amtes waltete, immer -mit einer diskreten Gönnermiene, wie man sie armen Verwandten gegenüber -hat. - -Heut erschien, zu ihrer Überraschung, fast gleichzeitig mit ihr der -Neuchateller: Leutnant de Merivaux von den Gardeschützen. In hohen -Stiefeln, mit der Jagdjoppe; das frische Gesicht zartrosig, trotz -des eben überstandenen Manövers, den kleinen Schnurrbart lustig -aufgedreht. Lustig war das ganze Kerlchen. Kerlchen -- pardon! -- -nein: der schlanke junge Herr. Aber lustig war er doch, mit seinen -leuchtenden blauen Augen und dem gegen alle militärische Vorschrift -kurz geschorenen schwarzen Haar, mit seinen raschen Bewegungen und dem -leisen Radebrechen in der Sprache, von dem man nie recht wußte, war es -echt, war es ein wenig gemacht. - -„~Bonjour~, gnädiges Fräulein!“ rief er gleich und streckte ihr -beide Hände entgegen. „Ein so schöner Morgen, ein wonniger Morgen. -Wie kann man nur so lange liegen in den Federn, wenn die Sonne so -wunderschön scheint und Fräulein von ’ackentin auf der Veranda sitzt. -Oh, was sind das hier für faule Menschen.“ - -Dann saß er auch schon. „Mein lieber ’öhne, eine Tasse Mokka. Aber -recht stark. So ... und recht viel Milch. Danke: Milch, keine Sahne. -Mein gnädiges Fräulein, und Sie schmieren mir ein Brot. Ah ... hier -bekommt man doch richtiges weißes Brot ... Semmel ... nicht immer -~pain bis~. Ich kann nicht vertragen dies schwarze Brot. Ich hab -so ein gar sehr schwachen Magen ... ein Magen wie ein schwächliches -Kind.“ Wobei er sich eine Scheibe Schinken auf den Teller legte, die -für zwei starke Männer ausgereicht hätte. „~Grand merci~, gnädiges -Fräulein. ~Je vous en fais mes remerciments!~ Sie sind sehr gütig. -Noch ein Ei, ~mon chèr~ ’öhne ... bitte sehr ...“ - -Man konnte ihm nicht böse sein. Eigentlich wäre sie lieber allein -geblieben wie gestern, diese einzig ruhige Stunde in dem geräuschvollen -Rackower Leben. Aber mit den Wölfen mußte man nun einmal heulen. - -Er trank seinen Kaffee in ganz kleinen Schlückchen, zerpflückte sein -geliebtes ~pain blanc~, ließ seine blauen Augen leuchten, erzählte -von Berlin und von seiner Kaserne, ganz draußen, weit draußen, fast -bei Treptow, wo „sich die Fuchs sagen gut’ Nacht“. Und dann fragte -er plötzlich: „Warum ’aben Sie gestern nicht wollen singen, gnädiges -Fräulein! Wo wir doch alle so sehr gebeten ’aben.“ - -„Ich war nicht disponiert, Herr von Merivaux.“ - -„Ah! Das haben Sie gestern auch gesagt. Aber es ist doch nicht wahr ...“ - -„Bitte sehr, Herr von Merivaux!“ - -„Pardon, gnädiges Fräulein. Aber wenn eine Sängerin nicht disponiert -ist, hört man es an ihrer Sprache. Sie sind doch nicht heiser. Werden -Sie heut singen?“ - -„Ich weiß es nicht. Ich glaube kaum.“ - -„Ich ’abe nicht vergessen, wie Sie ’aben gesungen auf Soldelzig, bei -Comte Grucker.“ - -„Verstehen Sie denn etwas von Gesang?“ - -„~Si peu que rien!~ Leider. Aber ich lieb’ die Musik über alles, -und besonders hab’ ich Sie hören gern singen.“ - -Helene mußte lachen. Es kam zu komisch heraus, wie er das sagte. Und -dabei machte er so eigne Augen. Fast verliebte Augen. Gut, daß man -wußte, man brauchte ihn nicht seriös zu nehmen. - -„Etwa so gern, wie Sie nach einem guten Diner eine Zigarre rauchen. -Nicht wahr, Herr von Merivaux.“ - -„Ja! Ganz gewiß. Ungefähr so. Ah, eine gute Zigarre. ~Mon cher~ -’öhne ... Sie wissen gewiß, wo der Herr Baron hat stehen seine guten -Zigarren. Sie sehen ganz aus, als ob Sie auch rauchten gern eine gute -Zigarre.“ Er gab dem Diener einen kleinen freundschaftlichen Klaps. -„Also wie eine sehr, sehr gute Zigarre, gnädiges Fräulein. ~Mais, mon -dieu~, ... Sie dürfen das nicht übelnehmen.“ - -„Ich denke gar nicht daran. Ich fühle mich sogar sehr geehrt!“ - -Höhne hatte inzwischen wirklich eine Kiste Importen gebracht. Merivaux -zündete sich umständlich eine Zigarre an, und tat liebevoll den ersten -Zug. „Bei einer guten Zigarre kommen immer gute Gedanken. Bei Ihrem -Gesang, gnädiges Fräulein, denk ich, kann man auch nur ’aben gute -Gedanken. Als Sie in Sodelzig haben gesungen das Lied von der Baronin -Rothschild -- ‚~si vous n’avez rien à me dire~‘ -- hab ich immerzu -denken müssen an meine liebe Heimat, an unsere schönen Berge, an den -blauen See ... ja ... und an meine gute ~maman~ ...“ - -Er war aufgestanden. Er blies schnell hintereinander ein paar -kunstvolle Ringe und lachte: der erste Ring hatte sich zur Decke -erhoben, war langsam gesunken und lag nun, für einen Augenblick, gleich -einem Kränzlein just um Helenens weißes Morgenhäubchen. - -Merivaux lachte, sah auf sie herab, und sie wurde böse: „Was lachen Sie -eigentlich, Herr von Merivaux! Über mich?“ - -Da sagte er: „Schade ... nämlich, er ist jetzt fort. Ja so, -gnädiges Fräulein, Sie wissen ja nichts davon. Ich hatte Ihnen -eine ~auréole~ aufgesetzt ... aus Tabaksrauch ... und ist -ein Sonnenstrahl dazu gekommen. Wenn Sie wüßten, wie scharmant das -ausgesehen ’at!“ - -Unwillkürlich faßte sie nach dem Haar. - -Aber er schüttelte den Kopf. „Nein, nun ist das fort: ~auréole~ -und Sonnenstrahl. Aber ... scharmant sieht das immer noch aus ... das -...“ - -Ein wenig verwirrt war sie doch, ein wenig verlegen. „Was Sie immer für -törichtes Zeug reden, Herr von Merivaux!“ - -„Ich? Aber nein doch ... Sind Sie fertig mit dem Dejeuner, gnädiges -Fräulein? Wollen wir ein wenig in den Garten?“ - -Sie war schon aufgestanden und nickte. - -Langsam schritten sie die kleine Treppe hinunter. - -Frau Marie war eine Gartenkünstlerin. Sie hatte eine Wüstenei -vorgefunden und ein kleines Paradies geschaffen. Vor dem Hause lag -ein großes Rosenparterre; gutgehaltene, kurzgeschorene, manneshohe -Taxushecken schlossen es seitlich ab; breite Einschnitte, die gewölbten -grünen Toren glichen, führten von hier in den eigentlichen Park, der -sich weit hinzog und allmählich in Wiesen und Waldpartien überging. -Nicht so ausgedehnt war das Ganze, wie der Park von Muskau, den der -Graf Pückler angelegt hatte, aber einzelne Teile konnten an Schönheit -doch mit dem Meisterwerk des alten Semilasso wetteifern. - -Man war stolz im ganzen Kreise auf den Park von Rackow, und auch Helene -war es. Sie führte Merivaux von einem Ausblick zum andern; an dem -Borkenhäuschen vorüber, in dem im Hochsommer meist der Kaffee genommen -wurde, zum schilfumstandenen Teich; von dort zur Höhe, von der man die -schönste Aussicht auf das Dorf Rackow hatte und darüber hinweg zu dem -Hügelzuge, an dem Rohlbeck lag. - -„Da, sehen Sie, Herr von Merivaux. Da bin ich zu Hause ...“ - -Indem sie das sagte, fühlte sie: es war wirklich schön. Der -Herbstzauber ruhte auf dem Landschaftsbilde; die Sonne malte ihre -farbigen Reflexe; das Dörfchen unten mit dem hohen altersgrauen -Kirchturm war wie eingebettet in Grün, Rot und Gold; weite Felder -dann, und dahinter der Höhenzug mit den festgeschlossenen geradlinigen -dunklen Kieferforsten. - -Aufmerksam schaute der junge Offizier in die Weite. Eine Weile schwieg -er. Aber dann begann er von seiner Heimat zu sprechen, von dem ewig -blauen See, von ragenden Felsen, von schneegekrönten Häuptern. Er -sprach von den Weinhängen, auf denen jetzt die feurigen Trauben -reiften, von der üppigen Vegetation am Gestade des Neuchateller -Sees mit den Wäldern von echten Kastanien, von den Magnolien und -Mandelbäumen im Garten von Schloß Merivaux. - -Er konnte also auch ernst sprechen. Sieh einmal an. Ernst und schön. -Sie mußte das zugeben. Aber es reizte sie. Sie, die sich immer in -die Weite sehnte, lehnte sich plötzlich dagegen auf, daß man ihr die -Schönheit der Fremde rühmte, wo sie die Schönheit der eigenen Heimat -gelobt wissen wollte. - -„Warum sagen Sie mir das alles?“ fragte sie scharf dazwischen. - -„Weil ich wohl möchte, daß Sie es kennen lernten, gnädiges Fräulein.“ - -„So finden Sie es schöner ... schöner als bei uns?“ - -Er lächelte überlegen. „Das hier ist wie eine Oase. Aber sonst, ~mon -dieu~ ... nicht so böse Augen machen, bitte ... sonst ist die Mark -Brandenbourg ein armes Land.“ - -„Warum sind Sie denn aber hergekommen?“ - -„Oh ... warum? Wie können Sie fragen? Weil wir sind Royalisten. Man hat -uns geknechtet daheim, die Demagogen haben gesiegt. Aber wir ’alten -treu zu unserem Fürsten, zu unserem König. Wir wollen ihm weiterdienen. -~Vive le roi!~“ - -Sie waren weitergegangen, den breiten Weg zurück. Jetzt blieb Merivaux -plötzlich stehen. Er griff mit einer seiner heftigen Bewegungen in die -Fliederbüsche, knickte ein paar Zweiglein. „Mein Vater haben sie in -~prison~ geworfen, die Revolutionäre, als der Aufstand kam. Dann -hat uns Preußen im Stich gelassen ... Politik ... Politik ... was weiß -ich. Aber wir bleiben treu ... treu bis zum Tod. Verstehen Sie das, -gnädiges Fräulein?“ - -Helene nickte. Sie fühlte: das war jetzt nicht mehr der kleine lustige -Leutnant, der zu ihr sprach. Es war ein Mann, der einer Überzeugung -diente. Es stieg heiß in ihr auf. Sie begriff vielleicht nicht ganz. -Aber sie empfand: ein Mann, der seine schöne Heimat verläßt, die er -über alles liebt, um in der Fremde dem Herrscher mit Blut und Leben zu -dienen, dem die Vasallentreue gebührte! Alles um der Treue willen! - -Wieder gingen sie ein Stück weiter, schweigend nun. - -Da kam ihnen bei der Wegbiegung Herr Schwarz entgegen. Im langen -braunen Rock, auf dem Kopf ein winziges Hütchen, in der Hand einen -leichten Stock mit goldener Krücke, um den hohen Hemdkragen ein -seidenes Cachenez. - -Helene sah ihn -- und mit einem Male fühlte sie, jäh erschreckend, wie -plötzlich all die Sympathie für den jungen, frischen Menschen neben -ihr verblich, wie sich all ihre Gedanken widerstrebend dem Sänger -zuwandten. Dabei trotzte es in ihr auf: ich will nichts von ihm wissen, -ich will nicht -- will nicht! Und sie straffte sich, setzte ihre -hochmütigste Miene auf. - -Herr Schwarz ignorierte beides: die kühle Gleichgültigkeit in dem -schönen Mädchengesicht und Abwehr und Verdruß in den Zügen des jungen -Offiziers. Der hatte sich schnell eine Gerte aus dem Busch gebrochen -und schwippte damit durch die Luft, schlug sich an die Stiefelschäfte. - -Vollständig fast ignorierte Herr Schwarz den Neuchateller; gerade -nur die notwendigste Höflichkeit lag in seinem Gruß. Er wandte sich -ausschließlich an Helene. - -„Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen? Aber was frage ich! Ich -bin ja nicht mit Blindheit geschlagen.“ - -„Fragen Sie doch lieber. Oder soll ich Ihnen sagen: Fräulein von -Hackentin ’at mir gerad eben gesagt, daß sie ist stock’eiser. -Stock’eiser, Monsieur Schwarz --“ - -Der Sänger lachte. „Dann wird das gnädige Fräulein einen Scherz gemacht -haben. Als ich vor einer Stunde etwa mein Fenster öffnete, hörte ich -ein paar halblaute Töne, eine Kadenz nur ... unter mir mußte man auch -das Fenster aufgetan haben -- nun, kurz und gut, ich wußte sofort, daß -diese Stimme nur die von Fräulein von Hackentin sein konnte. Ich wußte, -heut ist das gnädige Fräulein nicht mehr indisponiert, heut wird sie -singen.“ - -„Sie wird nicht singen --“ sagte Helene und setzte den Kopf noch -gerader auf den Nacken. - -Er nahm seinen Stock zwischen beide Hände vor die Brust, daß die -goldene Krücke unter das Kinn zu liegen kam, lächelte wieder, überlegen -und fast ein wenig ironisch: „Sie wird doch singen, wenn der Kollege -sehr bittet.“ - -„Der Kollege? Welcher Kollege, Herr Schwarz?“ - -„Nur meine Wenigkeit, gnädiges Fräulein. Sie müssen das Wort schon mit -in den Kauf nehmen: wir huldigen ja derselben Kunst, der göttlichen -...“ Plötzlich brach er ab. „Ist das nicht übrigens ein wonniger -Oktobermorgen? So warm wie im Hochsommer.“ - -Merivaux machte eine Bewegung mit dem Zeigefinger um den Hals: „Aber -Sie ’aben gepummelt das Cachenez um die Kehle.“ - -„Vorsicht ist zu allen guten Dingen nutze, Herr Leutnant. Diese ‚Kehle‘ -hier aber ist ein gut Ding. Nicht für mich nur, sondern für die Welt, -in der man den ~bel canto~ zu schätzen weiß.“ - -Sie waren weitergegangen und standen vor dem kleinen chinesischen -Pavillon, der die Fernsicht nach der anderen Seite bot: nicht auf -Rohlbeck, sondern nach Stellberg hin. Fast das gleiche Bild, nur daß -das Dorf im Vordergrunde fehlte. Und da sagte Schwarz: „Wie schön doch -diese Mark Brandenburg ist. Ich hätte es nie für möglich gehalten. Man -hatte mir so viel erzählt von ihrem öden Sande, daß ich in eine Wüste -zu kommen fürchtete. Aber nun kann ich mich gar nicht satt sehen an -diesen weiten Blicken auf die geraden schlichten Linien der Landschaft. -Ich kenne doch ein großes Stück Welt, kenne romantischere, äußerlich -reizvollere Gegenden. So gepackt aber hat’s mich selten wie hier. Wie -das alles zusammenstimmt: Landschaft und Menschen. Alles so offen, so -einfach, ohne Kompliziertheit, immer zum Herzen sprechend. Sprechend? -Nein, klingend, tönend. Man muß es lieben, beides, Land und Leute.“ - -Helene schwieg, trotzdem er zu ihr sprach. Nur zu ihr. Sie wollte nicht -antworten. Aber hindern konnte sie doch nicht, daß sich die Worte -wieder in ihre Seele schmeichelten, die Worte und der Klang dieser -Stimme. - -„Ist doch ein armselig Land!“ sagte Merivaux dazwischen. Wie aus Trotz -heraus. - -„Wie Sie das nur behaupten können! Es gibt gewiß reichere Erdenflecken. -Länder, in denen wirklich Milch und Honig fließt, Gegenden, die auch -auf das äußere Auge stärker wirken. Die Mark spricht, für mich, zur -Seele. Und nun die Menschen! Merkwürdige Menschen. Schlendere ich -gestern abend durch das Dorf. Ganz allein. An einem Zaun steht ein -alter Bauer, ich fang ein Gespräch mit ihm an. Wortkarg gibt er Rede -und Antwort. Und dann hat er -- ich sprach vom Wetter -- fast genau -Hamlets Wort: es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...“ - -Merivaux schlug sich wieder mit seiner Gerte auf den Stiefelschaft, daß -es klatschte: „Da ’aben Sie dazu gedichtert, Monsieur Schwarz. Einfach -hineingedichtert. Der Bauer ist Bauer, und Bauer bleibt Bauer.“ - -Der Sänger zog die Achseln hoch und sah zu Helene hinüber, als -erwartete er einen Einwurf, eine Parteinahme für sich. Aber die blieb -aus. Ihre Gedanken waren eine andere Straße gezogen. In ihr klangen nur -seine Worte über das Landschaftsbild. Zuerst hatte sie sich darüber -gefreut, gerade weil sie im Gegensatz zu Merivaux’ Urteil standen. Nun -schienen sie ihr doch ein wenig phrasenhaft, ein wenig gekünstelt. Was -hatte der Neuchateller eben gesagt? Hineingedichtert ... - -Da sagte Schwarz, und sie horchte wieder auf seine weiche, -einschmeichelnde Stimme: „Wir wollen nicht streiten. Der Morgen ist -wirklich zu schön dazu. Kommen wir nicht auf diesem Wege zur Fasanerie, -gnädiges Fräulein?“ - -Sie nickte, und sie gingen weiter. - -Erst zu dreien, dann blieb Merivaux ein paar Schritte zurück. Einmal -sah sie sich nach ihm um; flüchtig, eigentlich nur aus Höflichkeit, -als Verwandte des Hauses, dessen Gast auch er war. Aber er stand an -den Büschen, hatte die Zweige auseinandergebogen, spähte vielleicht -nach einem Vogelnest. Das mochte ihn mehr interessieren als alles, was -der Russe -- immer noch nannte sie ihn in Gedanken so -- erzählte. Der -hatte schnell wieder den Übergang gefunden vom märkischen Bauer zur -großen Welt. Aus der Enge in die Weite, schien es ihr. Er sprach von -Petersburg, von Paris, von Wien, vom geselligen Leben, vom Theater. Es -war ihr so fremd, es war ihr so neu -- fast alles, was er sagte. Man -mochte wollen oder nicht: man mußte lauschen. Auch dem, was er über -sich einfließen ließ: von dem unwiderstehlichen Drang, der ihn, den -Sohn eines Bergwerkdirektors, zur Kunst getrieben hätte; wie er schon -auf dem Gymnasium durch seine Stimme Aufsehen erregt, welche Kämpfe er -zu durchringen gehabt, wie dann das Glück über ihn gekommen wäre. Und -nun sei er auf der Höhe -- - -„Auf der Höhe ... ja ... und doch nimmer befriedigt ...“ - -Es klang so weich, es klang so schmerzlich: nimmer befriedigt. - -Ein Geständnis war es. Es schlug eine Saite in ihrer eigenen Seele an. -Sie +mußte+ fragen: „Nimmer befriedigt? Sie? Und warum?“ Ganz -zögernd nur, scheu kam das letzte Wort. - -„Ja ... warum? Wer kann das eigentlich sagen? Da ist der heiße Wunsch, -immer Reiferes, immer Vollkommneres zu leisten, das große Streben, das -den Künstler bis zum letzten Atemzuge nicht verlassen darf. Und daneben -steht die unendliche Leere.“ - -Es zwang sie, ihn anzusehen. Fast schien es, als glänzten seine Augen -feucht. - -Sie schüttelte zaghaft den Kopf. „Die Leere?“ - -„So ist es, mein gnädiges Fräulein. Nicht anders. Streben und -Beifallslohn ... wunderbar schön sind sie, bezaubernd, berauschend. -Aber der Rausch verfliegt, der Zauber erlischt. Es bleibt nur der -graue Alltag, in den keine Sonne hineinleuchtet. Manchmal glaubt man -freilich, einen freundlichen Sonnenstrahl festhalten zu können ... aber -...“ - -Er brach ab. - -Schweigend gingen sie noch ein paar Schritte weiter, blieben dann -stehen. Helene war’s, als stockte ihr der Atem. - -Da fragte er: „Werden Sie heut singen?“ - -Sie neigte den Kopf, ohne ein Wort. Aber es war doch eine Bejahung. - -Und dann war mit einem Male Merivaux neben ihnen und noch ein anderer, -den er unterwegs aufgelesen haben mußte. - -Merivaux hatte wieder ein fröhliches Lachen, das ihr geradezu weh tat -in diesem Augenblick. „Also, Monsieur Schwarz, also hier ’ab ich einen -ganz Sachverständigen. Also, Monsieur Smithals, also was ’alten Sie von -die märkischen Bauer?“ - -Worauf der stämmige Alte auch lachte: „Unse Pauern? Verfluchtigte -Sakarmenter sind’s, Herr Leutnant.“ - - * * - * - -Helene war unter den Fröhlichen sehr still gewesen. - -Man war bei Tisch immer fröhlich in Rackow. Die Tafelrunde hatte -hier ihre besondere Weihe. Onkel Ernst war ein Schlemmer. Er nannte -sich einen Gourmet, aber er war beides: Gourmet und Gourmand; er aß -möglichst erlesen und aß -- wie ein Scheunendrescher. Wenn er am -eigenen Tisch vor seinem berühmten ovalen Ausschnitt präsidierte, in -den sein Bäuchelchen gerade hineinpaßte, glänzte sein Gesicht vor -Behagen und Wonne: „Nun, Mariechen, was gibt’s denn heut?“ fragte -er noch vor der Suppe, obwohl er das Menü schon vorher mit Monsieur -Bombourdan, dem Chef, eingehend erwogen hatte. Und Tante Marie, die -selber aß wie ein Piepmatz, aber noch eine weit feinere Zunge hatte als -der Rackower, lächelte gnädig: „Du wirst schon zufrieden sein.“ Dann -sah Onkel Ernst regelmäßig unter seinem Monokel „um die Ecke“, musterte -der Reihe nach seine Gäste und freute sich, wenn er auch bei ihnen -einiges Verständnis erhoffen konnte. - -Heut mochte das angehen. Die Rohlbecker waren heraufgekommen. Die -Rohlbecker Damen -- mit denen war zwar in bezug auf kulinarische -Genüsse nicht viel anzufangen; der alte Rittmeister würdigte eigentlich -nur eine Delikatesse, im Juni den Matjeshering, von dem er sich -regelmäßig einmal im Jahr ein kleines Tönnchen aus Hamburg kommen ließ. -Aber Wilhelm Hackentin hatte sich in Berlin neuerdings zu einem kleinen -Schlecker ausgebildet, der eine Holsteiner Auster von einer Native mit -geschlossenen Augen zu unterscheiden wußte. Der lustige Merivaux kannte -sich auch aus; französisches Blut! Neulich hatte der davon gesprochen, -daß man Hammelkoteletten eigentlich nur in einer Pfanne braten sollte, -die mit einer Zwiebel ganz, ganz leicht ausgestrichen wäre -- „grad -nur ein ’auch“. Nicht übel. Und Alfred Schwarz war geradezu ein Mann -nach Onkel Ernsts Herzen. Das Bürschlein hatte schon in Ems eine Zunge -bewiesen, die der Nachbarschaft seiner berühmten Stimmbänder nichts -nachgab. Eine Bordeauxzunge, die Lage und Jahrgang geradezu erstaunlich -zu beurteilen wußte, im Handumdrehen, und die auch beim Champagner -nicht versagte. Petersburger Schule, so lächerlich das war. Das Volk -soff Wuttki, Wuttki und nochmals Wuttki, aber dafür aßen und tranken -die oberen Zehntausend desto besser. - -Man war wie immer sehr fröhlich am Rackower Tisch. - -Nicht laut indessen. Selbst die heitersten Scherzworte flogen in -gedämpftem Ton herüber und hinüber. Gerade, daß die kleine, mollig -runde Grete Waldegg, die Tochter vom Stockschen Oberstleutnant, -manchmal aufkicherte, wenn ihr Tischherr, der rote Fritze Hackentin, -ein bissel mit ihr zu schäkern versuchte. - -Helene war unter den Fröhlichen sehr still. - -Merivaux hatte sie geführt und gab sich umsonst redlichste Mühe, ein -Lächeln auf dem heut so eigen ernsten Gesicht heraufzulocken. Auf ihrer -anderen Seite saß ihr Bruder Wilhelm. Der wußte, so gesprächig er -war, auch nichts mit ihr anzufangen. Sie saß mit gesenkten Augen und -berührte die Speisen kaum. Nur ein Glas roten Champagners, Spezialität -des Rackower Kellers, Marke Ruinart & Cie. in Reims -- trank sie hastig -leer. - -Ihr gegenüber hatte, zwischen Martha Hackentin und Tante Marie, der -Russe seinen Platz. - -Manchmal, auf den Bruchteil einer Sekunde, sah Helene zu ihm hinüber. -Wie unter einem Zwang. So lebhaft er sich unterhielt: jedesmal trafen -sich doch ihre Blicke. Und immer senkte Helene, erschrocken, die Augen -wieder auf ihren Teller. - -Der Kaffee wurde im Damast-Salon genommen. Nicht um den großen -runden Tisch, wie in Rohlbeck und in den anderen Gutshäusern, wo der -Nachmittagskaffee mit „Stippe“ eine besondere Rolle spielte. Frau -Marie wußte in ihrem roten Salon die Gäste unaufdringlich in einzelne -Gruppen zu gliedern, Altersklassen und Interessensphären geschickt -zusammenzuschieben. - -Auch ihr Salon hatte Stil. An den damastbespannten Wänden ein paar -gute Bilder, ein Aquarell von Hildebrand mit aller Farbenpracht der -Tropen, ein treffliches Porträt von Franz Krüger, das Onkel Ernst noch -in seiner Jugend Maienblüte, als schlanken Jüngling, darstellte, -ein großer Stich nach Guido Reni. Zwischen den Möbeln, wo es irgend -anging, Blattpflanzen und blühende Blumen, die der Gärtner täglich -erneuern mußte, und neben dem Kamin eine ziemlich große Voliere, -hinter deren vergoldeten Stäben ein Dutzend winzig kleiner Tropenvögel -das kurze Leben verträumte. Das kurze Leben: denn diese bunten -Kinder einer südlicheren Sonne starben dahin wie die Fliegen, trotz -der liebevollsten Pflege, und der Berliner Händler mußte alle paar -Wochen Nachschub senden. War Tante Marie aber besonders in Stimmung, -so öffnete sie die Tür der Voliere, lockte die Tierchen heraus, bis -sie frei im Salon umherflatterten. Es gab dann immer lautes Jubeln, -viel „Ahs“ und „Ohs“. Nur dem alten Rittmeister war die „Unzucht“ -ein Greuel. Er huldigte Frau Marie mit einem Respekt, in dem sich -chevalereskes Wesen und derbes Landjunkertum eigen mischten. Aber -ihre Behandlung der Tropenfremdlinge nannte er, dem sonst jede -Humanitätsduselei weltenfern lag, Tierquälerei. - -Unter dem Stich nach Guido Reni stand der wunderschöne Bechsteinflügel -in gläsernen Untersätzen auf dem dunkelroten Teppich. - -Helene und die mollig runde Grete Waldegg waren von der Hausfrau an dem -Tischchen beschäftigt worden, auf dem die silberne Kaffeemaschine mit -all ihrem Zubehör prunkte. Das war in Rackow immer das Amt der jungen -Mädchen: sie hatten den Mokka zu bereiten, Herrn Höhne zu assistieren, -den älteren Damen persönlich das Meißener Schälchen mit einem artigen -Knicks zu überreichen. Tante Marie sah dem gern zu, durch die scharfen -Gläser ihrer langstieligen Lorgnette, und manchmal gab’s nachher eine -kleine Instruktionsstunde: „Cherie, so faßt man aber eine Tasse nicht -an“ ... „Mignonne, vor einer Greisin könntest du dich wirklich ein -wenig tiefer beugen“ ... „Mein liebes Kind, man macht bei solcher -Gelegenheit kein ~air moussade~ ... lächeln mußt du, liebenswürdig -lächeln ...“ - -Ihr eigenes kleines spitzes Gamingesicht hatte ja meist auch solch ein -liebenswürdiges, komplisantes Lächeln. Auch jetzt, wo sie -- nachdem -der Kaffee genommen war -- einen Blick der Aufforderung zu Herrn -Schwarz hinübersandte. Der stand an der Tür zur Bibliothek, der einzige -Gast in Frack und weißer Battistbinde, mit ein paar Orden im Knopfloch, -das Täßchen noch in der Hand. Ziemlich vereinsamt. Aber er zeigte es -nicht, daß er sich vereinsamt fühlte. Seine Blicke waren all die Zeit -im Zimmer umhergewandert, um schließlich immer wieder auf Helenens -rostbraunem Haar, das in hundert winzigen Löckchen sich gegen den -glatten Scheitel sträubte, haften zu bleiben. - -Er verstand den Blick der Hausherrin sofort. Vielleicht hatte er darauf -gewartet. Ganz leicht verbeugte er sich, setzte die Schale beiseite, -ging auf den Flügel zu, öffnete die Klaviatur. Höhne eilte diensteifrig -herbei, schob den Stuhl zurecht. - -Helene hatte sich mit Molly und Bruder Fritz ins Schmollwinkelchen -neben der Voliere geflüchtet. Ganz tief zurückgelehnt saß sie, hatte -die Hände im Schoß verschränkt. Und um ihre roten Lippen spielte ein -etwas spöttischer Zug. Sie fand, daß der Russe keine gute Figur machte. -Es war immer wie eine Pose; sein Stehen an der Tür, sein gleitendes -Schreiten, die Art, wie er jetzt am Flügel Platz nahm, einen Moment -nachzusinnen schien. Eine kleine Schadenfreude war in ihr und doch auch -eine große Erwartung. - -Doch nun klangen die ersten Töne auf. Schwarz schlug ein paar Akkorde -an, dann setzte er ein. - -Er sang die große Arie aus „Zar und Zimmermann“: „Einst spielt ich mit -Zepter und Krone und Stern ...“ - -Es wurde still im Raum. - -Der spöttelnde Zug erlosch in Helenens Gesicht. Es spannte sich. Sie -richtete sich auf, und dann beugte sich ihr schlanker Körper mehr und -mehr nach vorn. Und die Hände hoben sich aus dem Schoß, preßten sich -gegen die Brust, eng verschlungen. - -Großer Gott ... war das denn möglich? Gab es das? Solch eine Stimme! -Solchen Wohlklang, solche Kraft ... und solche Kunst! Eine Himmelsgabe, -köstlich und wunderbar, gemeistert in edelster Schule! Ein Vortrag, der -aus tiefstem Empfinden kommen mußte, der zu dem Herzen sprach, daß es -jubeln mußte. Nein, nicht jubeln: stumm lauschen, stumm genießen, in -Demut genießen! - -Gleich Perlen auf Goldschnur gereiht, so war es, Ton auf Ton. Klar, -rein ... erhaben ... groß ... herrlich! - -Sie dachte nur: der erste wahrhafte Künstler, den du hörst. Welch eine -Gnade ... - -Der letzte Ton verklang. - -Der Beifall brach los. - -Sie hörte ihn kaum. Sie sah nicht, wie Vater klatschte, wie selbst die -stille Martha die Hände rührte. Sah nicht, wie Ernst Hackentin sein -Bäuchlein trommelte; nicht, wie der Garde-Schütze, der neben Wilhelm -hinter dem Stuhl der Mutter stand, die Hände hob, um sie dann gleich -sinken zu lassen. Sah auch nicht, wie Tante Marie quer durch den Saal -schwebte, trippelnd, raschelnd und lächelnd, am Flügel stehenblieb, dem -Sänger zuflüsterte. - -Tief in Träumen befangen saß Helene. In Träumen, die vor ihr die -Pforten einer neuen Welt weit auftaten ... - -Dann horchte sie doch auf, erschreckt zuerst. - -Von neuem hob es an. Sie fühlte sogleich, daß eine andere Hand den -Flügel meisterte. Als sie den Blick hob, sah sie, daß Tante Marie vor -dem Instrument saß, daß der Russe neben ihr stand. - -„Letzte Rose“ sang er. - - „Letzte Rose ... o wie einsam magst du hier verblühen ... - Deine andern freundlichen schönen Schwestern sind ja längst, ja - längst dahin ...“ - -Es war anders als vorhin. Vielleicht war es noch schöner. Seine Stimme -klang gleich kräftig, aber weicher, einschmeichelnder. Wie ein ewiges -Locken war es, ein süßes, verführerisches Bitten, Flehen, Werben ... - -Wieder saß sie weit vornübergebeugt, die Hände gegen die hochatmende -Brust gepreßt. Und nun die Augen auf ihn gerichtet. Sie sah nur -sein Profil, die scharf geschnittenen Linien des schönen Gesichts. -Gleich einer Silhouette hob sich das ab von dem Hintergrund der roten -Damasttapete, hell beleuchtet von den vielen Kerzen des Kronleuchters. -Die kleine Gestalt von Tante Marie war nur wie ein helles Fleckchen vor -dem Flügel. Über ihr Köpfchen blickte er hinweg auf die Notenblätter. -Zwei -- dreimal griff seine Hand nach vorn, um sie zu wenden. - -Dann plötzlich, ganz zuletzt, wandte er den Kopf. Sein Blick streifte -durch den Raum, wie suchend, blieb auf Helene haften. Ein Lächeln kam -zu ihr hinüber: war’s recht so? Ein siegesgewisses Lächeln: nicht wahr -... es ist schön gewesen! - -Noch eine glänzende Perlenkette von Tönen, sieghaft wie jenes Lächeln, -mühelos quellend wie im Triumph des großen Könnens. Und er schwieg. - -Wieder der starke Beifall. Ganz leicht neigte er den Kopf zum Dank. -Vater, Wilhelm waren schon neben ihm, schüttelten ihm die Hand, Onkel -Ernst hob sich aus seinem Sorgenstuhl, rollte sich zum Flügel. Tante -Marie hatte den Drehsessel umgewendet, lachte zu ihm in die Höhe. - -Aber plötzlich löste er sich aus der Plaudergruppe. Mit raschen -Schritten ging er quer durch das Zimmer, blieb vor Helene stehen und -bat, ehe sie noch recht zur Besinnung kommen konnte: „Jetzt werden Sie -singen, gnädiges Fräulein!“ Bat -- und es war doch fast wie ein Befehl. -Sie schrak heftig zusammen, aber sie stand auf. Schüttelte den Kopf, -hob die Hände zur Abwehr. So stark war sie erschrocken, daß sie nicht -sprechen konnte. Nicht einmal das eine: ‚Jetzt -- nimmermehr.‘ - -„Darf ich Sie zum Flügel führen?“ hörte sie seine Stimme. Und zugleich -neben sich ein leises, etwas spöttisches Kichern der molligen -rundlichen Molly. Es klang ihr auch wie: ‚Jetzt singen ... wie sollte -die Lene das riskieren.‘ Aber es peitschte ihren Trotz auf. Sie legte -mit einem plötzlichen Entschluß ihre Hand in seinen Arm, ging ein paar -Schritte, blieb dann doch wieder stehen: „Ich kann jetzt nicht singen -... nach Ihnen!“ - -„Gnädiges Fräulein ...“ - -Sie standen mitten im Zimmer, gerade unter dem Kronleuchter, und nun -nicht mehr allein. Tante Marie war herangetreten: „Aber, Mignonne!“ -Vater kam und erklärte im Rittmeisterton: „Ziere dich nicht. Das ist -ridicül. Das heißt: Sing, so gut du kannst. Mehr verlangt keiner.“ - -‚Ich kann nicht --‘ wollte sie noch einmal sagen. Aber sie fühlte sich -von Schwarz unwiderstehlich weitergezogen, mit einem ganz sachten -Druck seines Armes, stand schon am Flügel und wußte gar nicht, wie sie -dorthin gekommen war. - -„Was werden Sie uns singen?“ fragte Schwarz. Und zum dritten Male -wollte sie entgegnen: ‚Gar nicht singen will ich‘ und hatte doch schon -die Hand nach dem Notenschränkchen neben dem Instrument ausgestreckt. -Er griff gleichzeitig zu. Die Blätter raschelten. Auf einen Augenblick -berührte ihre heiße Stirn fast seine Wange. Wieder schrak sie zusammen, -richtete sich hastig auf, schüttelte den Kopf. Wortlos ... - -‚Warum quälen sie mich!‘ schrie es in ihr. ‚Warum quälen sie mich? Ich -kann ja doch gar nichts. Kann ja nicht singen ... hier nicht ... heut -nicht ...‘ - -„Mendelssohn liegt Ihnen gewiß, gnädiges Fräulein?“ - -Er hatte ein Blatt herausgesucht, wies es ihr hin. Und in heller -Verzweiflung neigte sie den Kopf. - -„Soll ich akkompagnieren?“ - -Endlich fand sie die Sprache wieder: „Nein -- nein! Ich begleite mich -immer selber ...“ Der Gedanke, hinter ihm zu stehen, ihm folgen zu -müssen, war ihr unerträglich. - -Dann war plötzlich Bruder Wilhelm neben ihr. Sie mochte ihm leid tun. -Er schob ihr den Stuhl zurecht, raunte ihr ein paar liebe Worte zu -- - -Und nun saß sie, hatte die Hände auf den Tasten, sah auf das Notenblatt -und meinte, keinen Finger rühren, keinen Ton herausbringen zu können. -Die Stimme stickte ihr ja im Halse, die Kehle war so trocken, war wie -zugeschnürt. Weinen hätte sie mögen. - -Aber mit einem Male, ganz jäh, war das alles anders. - -Mit einem Male kam es wie eine große Befreiung über sie. Unerklärlich, -wie das geschah. Ganz plötzlich hatte sie das Empfinden: ‚Du mußt -singen! Du kannst es! Du wirst es gut machen, wirst ihm beweisen, daß -du keine elende Stümperin bist. Daß auch dir Gott die Gabe verlieh ...‘ - -Noch sah sie wie durch einen Tränenschleier die Noten. Aber gleich -darauf ward es helle vor ihr. Das leise, unsichere Beben der Finger, -das sie vorhin gespürt, verschwand. Sie fühlte, wie die Stimme frei -wurde ... ganz frei -- - -Und so sang sie -- - - „Wie ist Natur so hold, so gut!“ - -Das Goethesche Lied hatte er für sie gewählt. - -Während sie sang, wurde sie froh. Das war ja fast immer so; aber heut -doch anders wie sonst; eine wahre Lust, hinauszujubeln, erwachte in ihr. - - „Auf der Welle blinken - Tausend schwebende Sterne, - Weiche Nebel trinken - Rings die türmende Ferne ...“ - -Es war wie ein Rausch. Ein holder, beseligender, traumhafter Rausch. -Sie fühlte wohl, daß es ihr glückte, daß sie gut sang, besser als je. -Aber sie gab, was sie gab, doch völlig unbewußt. Die Töne quollen in -ihr empor, ohne daß sie suchte. - -Und dann war alles aus. Mit dem letzten Ton entschwanden ihr Wille und -Kraft, die Begeisterung erlosch, die Spannung der Seele ließ nach. Müd -und matt wie ein Vögelchen, das aus Wolkenhöhen zu Boden geschmettert -wurde, hockte sie vor dem Instrument, die Hände waren von den Tasten -gesunken und lagen im Schoß. Sie hörte nur undeutlich den Beifall, -dachte nur: ‚ach ... es war ja doch nichts, du kannst ja gar nichts; -und wenn sie klatschen ... was verstehen sie!‘ Ein Schluchzen stieg auf -in ihr. Sie biß die Zähne aufeinander, preßte die Lippen zusammen; tief -herab glitt ihr Kopf, und die Stirn schmerzte. - -Mehr sollte sie singen. Die Stimmen schwirrten durcheinander. Man -bat, machte Vorschläge: eines der Taubertschen Kinderlieder, das -Rothschild-Liedchen: ~Si vous n’avez rien à me dire~ ... - -Nein! Nein! Nein! - -Dann stand sie jäh auf. Mit dem plötzlichen Entschluß: ‚jetzt willst du -das letzte wissen ... sein Urteil ... und wenn es dein Todesurteil wäre -...‘ - -Sie wandte sich kurz um. - -Und da sah sie ihn. Er stand nicht in der Gruppe der Verwandten am -Instrument. Er war zurückgetreten, lehnte wie vorhin, ehe er gesungen, -an der Tür zur Bibliothek. - -Sie sah ihn und sah, daß seine Augen zu ihr herüberleuchteten. Und -nun kam er, faßte ihre beiden Hände, unbekümmert um alle, die um sie -waren, und sprach: „Sie werden eine große Sängerin werden! Eine von den -ganz großen, vor denen sich Könige und Fürsten neigen. Ich preise mich -glücklich, daß ich als Erster Ihnen das sagen darf.“ - - - - -Viertes Kapitel - - -Kantor Flehr schob mit gesenktem Haupt langsam über die Dorfaue. Man -konnte es ihm ansehen, daß er Sorgen hatte, die ganze Hucke voll, und -zwar, trotzdem Kartoffelferien waren und die liebe Jugend ihm daher den -Schädel nicht heiß machte. - -Sorgen hatte Kantor Flehr zwar eigentlich immer. Ein -Dorfschulmeisterlein im Königreich Preußen und keine Sorgen: das gab’s -ja einfach nicht. Gerade daß man vor dem Verhungern geschützt war -- -bei der Herde Kinder, die sich so nach und nach einfand. Recht machen -konnte man es auch niemand: dem Herrn Patron nicht; dem Herrn Pastor -nicht, obwohl beide noch nicht die schlimmsten waren, im Gegenteil. Den -Bauern und Kätnern, dem lumpigsten Tagelöhner erst recht nicht. Und -deren Ehegesponsten nun schon gar nicht. Denn im Grunde genommen: den -Weibsen wär’s am liebsten gewesen, wenn sie ihre Rangen gar nicht in -die Schule zu schicken brauchten, oder wenn er den Nürnberger Trichter -besäße, um Bub und Mädel in einem einzigen Viertelstündchen- alles -einzutrichtern, was sie fürs Leben gebrauchten. Damit besagte Rangen -den besagten Eltern in Feld und Wirtschaft helfen könnten, von früh bis -spät. Von der Bildung hielt das Volk verflucht wenig. Aber man selber -hatte doch nun mal sein Pflichtgefühl und seine Ideale. Hatte man, und -konnte, durfte man nicht preisgeben. Wenn schon das ganze Dasein immer -wieder die elendsten Kompromisse verlangte. - -Sorgen also hatte Kantor Flehr eigentlich immer, und sie hatten -ihm wohl auch die tausend Runzeln und Fältchen in das alte Gesicht -gegraben. Aber an diese alltäglichen Sorgen gewöhnte man sich -allgemach, wie man sich daran gewöhnt hatte, daß Quetschkartoffeln -mit einem Brocken Speck gar kein so übles Essen waren, oder daran, -daß man immer wieder einen Pflock zurückstecken mußte, was die eigene -geistige Fortbildung anbetraf, oder daran, daß Goethe und Schiller nur -an Sonntagsnachmittagen vom kleinen Bücherbord heruntergenommen werden -konnten; auch daran, daß das alte Klavier von Jahr zu Jahr dünner im -Ton wurde. - -Es mußte schon einiges Besondere zusammenkommen, wenn Kantor Flehr -den Kopf so tief auf der Brust trug wie heute, den schmalen, langen -Oberkörper so vornübergeneigt hielt. - -So war es aber auch. Der Tag verdiente drei Kreuze im Kalender. - -Erst hatte man vom alten Heckstein wieder einmal eine kleine Vorlesung -entgegennehmen müssen über den Geist der „Regulative --“. -Selbstverständlich, das wußte man ja, kam die Salbaderei dem guten -Heckstein selber nicht recht aus dem Herzen; war ein viel zu -aufgeklärter Mann dazu, um vom Geist dieser Regulative überhaupt -aus Überzeugung sprechen zu können, dieser Einschnürungs- und -Verdummungsparagraphen. Aber ein Keil drückte da eben den andern. Und -das war schließlich dem Pastor doch wohl aus dem Herzen gekommen, -daß er sagte: „Überhaupt, Herr Kantor, Sie sind mir zu liberal!“ Ja -... hm ... was sollte man darauf erwidern, wenn der Alte so seinen -gichtgekrümmten Zeigefinger hob? Zu liberal! Du mein Gottchen! Man -hatte doch eben seine Ideale. Und wer die nicht, innerlich mindestens, -hochzuhalten wußte in dieser Zeit, wo die Reaktion wieder mal umging, -als ob sie die letzten paar Säulchen untergraben wollte, auf die sich -noch die Freiheit des Staatsbürgers stützen konnte ... ja, wer sich -seine bißchen Ideale nicht zu wahren wußte, der ging eben moralisch vor -die Hunde. Nicht mehr Staatsbürger, sondern Staatsknecht war man -dann ... - -Nun ja ... und eine Stunde darauf war der Schulze gekommen, Christian -Lehmpuhl. Hatte wieder mal solch ein Schreiben vom Herrn Landrat, -Hochwohlgeboren. Wenn man nur die Handschrift des hochmögenden -allmächtigen Kreissekretärs sah, konnte einem die Galle überlaufen; es -roch ordentlich nach Bureaukratie daraus. „Es wird darauf aufmerksam -gemacht ...“ fing es immer an. „Wonach zu richten“ oder „Es wird mit -Bestimmtheit erwartet ...“ schloß es. Diesmal auch. Und dazwischen -gab’s Donner und Blitz gegen die „auf Untergrabung der Königlichen -Autorität abzielenden Bestrebungen“; gegen die „schlechten, -staatsfeindlichen Zeitungen“, die den „Geist der Auflehnung zu -verbreiten suchen“; gab’s eine Lobrede auf das Kreisblatt. Das -Kreisblatt! Das Käseblatt! Da stand nun Christian Lehmpuhl und wußte -sich nicht Rat. Was sollte man ihm raten? Gegen den Herrn Landrat?! -Der Wind und Wetter machen oder die Sonne scheinen lassen konnte über -Gerechte und Ungerechte. Zumal, wo man doch genau wußte, daß die Bauern -weder eine vernünftige Zeitung +noch+ das Kreisblatt lasen. Was -lasen die denn überhaupt! Na ja ... schließlich war’s denn wieder auf -aller Weisheit Schluß herausgekommen: „Da wer’ ik woll die Krakulle -rumschicken müssen“, hatte der Schulze beschlossen. Schön ... schön: -also morgen ging das berühmte gebogene Holzstück von Haus zu Haus, und -daran flatterte das Schreiben des Landrats wie ein Fähnchen. Aber der -Bauer wandte es ja doch nur rechts und drehte es links; es las keiner, -oder wenn es einer las, verstand er’s nicht. Und das war noch das -Beste ... - -Ja ... und dann war der Herr Doktor Hemming aus dem Schloß -herübergekommen. Der Mann wußte ja eminent viel, alles was wahr -ist; ein tüchtiger Pädagoge sollte er auch sein, und die Junker -lernten mächtig, hieß es. Aber ein unausstehlicher Mensch blieb er -mit seinem hochmütig-herablassenden: „Herr Kollege“. Immer klang -das wie schneidende Ironie. Und immer hatte er gleich die Politik -beim Wickel. Immer in seiner herausfordernden Art. „Es rührt sich -endlich, Herr Kollege. Es rührt sich. Haben Sie das neueste Flugblatt -des Deutschen Nationalvereins gelesen? Großzügig -- famos! Und unser -Landtag! Da ist doch noch mal Wille und Kraft. Waldeck und Twesten -und die anderen. Alle -- ganze Männer! Nicht wahr? Wenn die Regierung -ihre Sache auf die Spitze treiben will, sie soll’s nur wagen. Dieser -Ansturm des Militarismus wird am festen Willen des Volkes zerschellen, -ist eigentlich schon zerschellt, und auch diese neue Größe, dieser -Herr von Bismarck, wird daran nichts ändern. Sagen Sie selber, Herr -Kollege, soll unsere Nation verbluten unter der Last der Armee? Dieses -unproduktiven Heeres, das kein Volksheer mehr ist, sondern nur noch ein -dynastisches Werkzeug? Wer könnte das leugnen? Glauben Sie mir nur, -Herr Kollege, die Überzeugung wächst in immer weitere Kreise hinein, -daß es auf diesem Wege nicht mehr weitergehen kann. Selbst in die -Kreise des Junkertums. Fragen Sie mal bei Herrn Fritz von Hackentin an, -wie der über die gegenwärtige Situation denkt.“ - -Eine Viertelstunde war das so weitergegangen. Eigentlich ganz -interessant. Man sprach ja gern mal mit einem gebildeten Mann über -politische Dinge, wo man so ganz vereinsamt lebte. Wenn nur nicht -dieser entsetzliche Hochmut in dem Doktor Hemming gesessen hätte. -Sprach man denn überhaupt mit ihm? Er sprach ja allein. - -Ja, und dann kam’s zum Schluß: „Übrigens läßt der Rittmeister Ihnen -sagen, Herr Kollege, daß er mit Ihnen zu reden hätte. Sie möchten doch -gegen Mittag mal im Schloß vorsprechen.“ - -Na ja ... und das war vielleicht das Ärgerlichste. Das dickste Ende kam -nach. Denn der alte Rittmeister war zwar ein lieber, prächtiger Mann, -aber gut Kirschenessen war unter Umständen mit ihm nicht. Im Grunde war -und blieb er doch immer der Junker, der keine Überzeugung neben der -eigenen dulden konnte. Der König von Rohlbeck! Du mein Gottchen! Ein -armseliges Königreich. Nur daß man doch darin leben mußte, daß man es -unmöglich mit dem alten Herrn verderben durfte. Mit ihm nicht, mit der -Herrschaft überhaupt nicht. Es gab da doch zu viel Fäden, die man nicht -zerreißen konnte. - -Was der Herr Rittmeister nur wollte? Natürlich betraf’s auch wieder die -Politik. Man hörte das ja ordentlich im voraus: „Das heißt, Kantor, ich -muß sagen ...“ - -Ja, Kantor Flehr hatte heute seine dreifach gesiebten Sorgen. Das graue -Haupt sank immer tiefer auf die schmale Brust herab, je näher er den -beiden schwarzen Stämmen mit den Kanonenkugeln darauf kam, die den -Eingang zum Schloßgarten flankierten. - -Aber dicht vor dem dräuenden Tor hatte er noch eine Begegnung. Von der -anderen Seite kam der Großbauer Metschke, Adolf Metschke, und hielt ihn -fest. War sonst eigentlich ein ordentlicher Mann, der Metschke, hatte -außerdem eine prächtige Stimme, die manchmal den ganzen Kirchenchor -zusammenhielt. Aber wen er einmal festhielt, der kam nicht so leicht -los. - -„Gut, dat ik Ihnen treffe, Herr Kantohr. Ik wollt zundersch mit Ihnen -reden. Is das denn die Wahrheit, daß se de Soldaten abschaffn wolln?“ - -„Aber Metschke --“ - -„Jestern ist Sie da nämlich ’n Schlosser aus Ziebinge im Krug gewesen. -Der hat’s vertellt. Vor janz jewiß. Nu muß Se mein Willem zur Stellung. -Sähen Se, Herr Kantohr, da mächt ik doch jerne wissen, ob’s wirklich -seine Richtigkeit haben tut?“ - -Flehr schüttelte den Kopf. „Metschke, woher soll ich das wissen. Man -spricht ja so allerlei. Aber abschaffen ... ganz abschaffen ... daran -ist nicht zu denken. Mein ich.“ - -„Se müßten’s doch eberscht wissen, Herr Kantohr. ’s soll doch schon in -die Blätter stehn.“ - -„Da wird viel geschrieben, lieber Metschke.“ - -Adolf Metschke ließ endlich den Westenknopf frei, aber er stellte -sich dafür in Positur gerade vor den Eingang. Kraute mit dem linken -Zeigefinger hinter dem Ohr in seinem flachsblonden Schopf, spuckte -aus und meinte: „Dat kann woll stimmen. ’s wär ja och janz scheen, -aber ik kann Se nich dran glauben, Herr Kantohr. Ick bin Se selwst -Suldat ’wesen. Franzer, Se wissen schon. Na, un so was muß woll sin. -Min Willem soll och zu de Franzer, wenn’s so bliewt. Un ’s wird woll -so bliewn. Nämlich wie sollt das der Keenig denn machen, wenn die -Franzosen kommen und er keine Suldaten nich hat?“ - -Im allgemeinen beschränkte der brave Flehr sein Bildungsbemühen -pflichtgemäß auf die Jugend; bei den Alten war, das hatte die -Erfahrung ihn gelehrt, doch Hopfen und Malz verloren. Aber manchmal -wandelte ihn doch das Bedürfnis an, auch ihnen gegenüber aufklärend zu -wirken. - -„Ich sagte Ihnen ja schon, Metschke, an die Abschaffung der Armee denkt -niemand im Ernst. Aber es wird wohl von Freunden des Volks erwogen, ob -man nicht mit weniger Soldaten auskommen kann oder ob man die Soldaten -nicht nur ganz kurze Zeit bei der Fahne behalten braucht.“ - -Metschke kraute sich weiter hinter dem Ohr. Er sann nach. „’s wäre -woll janz scheen so“, meinte er. „Wenn der Willem nich so lang aus de -Wirtschaft müßte.“ Pause. „Aber, Herr Kantohr, des jeeht och nich mit -sohne kurze Zeit. Des ist man bloß Jerede. Ik bin doch selwst beis -Kommiß jewesen, Franzer, Herr Kantohr. Un so aus ’m Pauern, was noch -jrün und naß hinter de Ohren is, ’n orndlichen Suldaten machen, das is -nich so haste nicht, kannste nich. Da is der langsame Schritt und da is -’s Jewehr un ’s Schieße un die Instruxon un so ...“ - -Es schien, der brave Metschke hatte starke Lust, seine militärischen -Erinnerungen noch lang auszuspinnen. Doch der Kantor wurde ungeduldig. -Er zog die große silberne Zwiebel aus der Tasche. „Lieber Metschke, ich -muß zum Herrn Rittmeister ...“ - -„So ... zum ollen gnä’gen Herrn. Den sullt’ man mal fragen. Der weiß -Bescheid. De hat die Franzosen aus’m Lande mit rausgeschmissen, un ’s -Eiserne Kreuz hätt’ er ...“ Damit gab er endlich den Eingang frei. -„Scheen Dank ock, Herr Kantohr ... ick meen, et jeeht nich ...“ - -Langsam ging Flehr weiter, den geraden breiten Weg entlang, der zur -Verandatreppe führte. Zuerst mit einem Lächeln im runzligen Gesicht und -mit einem Kopfschütteln über diesen Bauern, über die Bauern überhaupt: -die wurden innerlich doch nicht frei, die klebten, klebten wie an ihrer -Scholle so an allem, was alt hergebracht war. Und wer weiß: wenn der -Schlosser aus Ziebingen etwa wieder im Krug seine neuen Weisheiten zum -besten gab, ob ihm dann nicht Adolf Metschke als alter Franzer das Fell -tüchtig vollgerbte. Womit vielleicht nicht mal ein Unglück geschah. -Denn man mochte noch so liberal denken, ... hm ... daß solche Schwätzer -zu wühlen versuchten ... hm ... das konnte man doch nicht billigen. - -Allmählich erstarb das Lächeln zwischen den Runzeln und Falten, aus -denen das zweimal wöchentlich angesetzte Rasiermesser die grauen -Stoppeln nie ordentlich herausbekam. - -Was eigentlich der alte Rittmeister nur wollte? - -Es war so gar nicht seine Art, jemand zu sich zu bescheiden. Hochmütig -war er wahrhaftig nicht. Er ging in die ärmste Hütte, und im -Kantorhause hatte er oft genug, fast freundnachbarlich, vorgesprochen. - -Was er nur wollte? - -Und da saß ja auch schon die alte Gnädige an ihrem Fenster, mit -ihrem verschleierten Blick, und nickte auf seinen Gruß ganz eigen --- schon von weitem. Die alte Gnädige! Ja ... als man nach Rohlbeck -gekommen war, da war sie noch jung gewesen und schön und lustig. War -vierelang gefahren, mit dem Diener auf dem Bock. Die Zeiten hatten -sich geändert; besser waren sie nicht geworden, auch nicht für die -Herrschaft. Eigentlich zum Gotterbarmen. Wirklich verschwendet hatten -die Hackentins nie, aber das schöne Vermögen zerrann ihnen doch unter -den Händen. Wirtschaften konnten sie nicht. Freilich -- ein Armer -klopfte auch heut noch nicht vergebens im Schloß an. Und wenn man’s -recht überlegte: auch im Kantorhause hatten sie oft genug geholfen ... - -Was nur der alte Rittmeister wollte? - -„Herein!“ - -Das kam ganz in Rittmeisterton aus der großen Stube. - -„Na, da wären wir ja also, Herr Kantor ...“ - -Dem Rittmeister stak immer noch das „Er“ zwischen den Lippen. -Natürlich, er wußte, das ging nicht mehr in der neuen Zeit, Anno 1862. -Selbst zum kleinsten Kossäten mußte man „Sie“ sagen. Aber das „Sie“ -wollte bisweilen nicht recht über die Lippen, und dann kamen allerlei -wunderliche Umschreibungen heraus. - -„Also, da wären wir ja, Herr Kantor“, wiederholte er. „Guten Tag auch. -Das heißt, ob es ein guter Tag ist heut, wer will das wissen?“ - -Er stand in der Mitte der Stube. Am Fenster saß die alte Gnädige, -am Ofen saß Wilhelm Hackentin, und beide nickten dem Kantor zu. Der -dienerte, wobei seine endlos lange Gestalt fast zu einem rechten Winkel -zusammenknickte, und dann rieb er sich, verlegen wartend, die knochigen -Hände. - -„Wir wollen uns lieber setzen, Herr Kantor,“ begann der Rittmeister -wieder, blieb aber stehen, um nach einem Weilchen fortzufahren: „Aber -warum setzt man sich denn nicht? Da ... bitte ...“ - -Herr Flehr setzte sich wirklich; aber nur auf die Kante des nächsten -Stuhls, und er dachte noch immer: ‚was der Rittmeister nur will?‘ - -„Also ... nämlich ... das heißt, wir müssen ein ernstes Wort -miteinander reden, Herr Kantor.“ Damit begann der alte Herr seine -gewohnte Wanderung auf der Diagonale des Zimmers. Es wurde ihm -leichter, während des Gehens zu sprechen. Auch jetzt. Freilich in -wohlkonstruierten Sätzen kam die Rede nicht heraus: - -„Also ... nämlich ... das heißt, gestern in Rackow. Da war ein -Sachverständiger, das heißt, man sagt es. Ein kaiserlich russischer -Hofopernsänger. Das heißt, manchmal denk ich, er ist ein Luftikus. Da -hat das gnädige Fräulein gesungen, Helene. Und der Monsieur Schwarz -oder Weiß -- Namen kann ich nie behalten --, der hat ein großes -Wesen davon gemacht. Mag ja auch sein ... das heißt, ich habe selber -gefunden, Lene sang sehr schön. Aber was versteh ich davon?! Also der -Mann hat allerlei Fladusen vorgebracht: eine unvergleichlich schöne -Stimme, eine Wunderstimme und so, wie sie nur alle hundert Jahre -vorkommt. Und daß es ’ne Sünde und ’ne Schande wär, wenn solch eine -Stimme nicht an die Öffentlichkeit käme. Öffentlichkeit -- schrecklich! -Ja ... und sie haben alle auf mich eingeredet, das heißt, der Sänger -voran und dann die Rackower und da der Wilhelm auch, Helene müßte nach -Berlin. Das heißt ... nämlich ... da liegt der Haken! Ihre Kunst in -Ehren, mein lieber Kantor, aber mit der Schule, oder wie man’s nennt, -da hapert es noch. So das Tippelchen auf ’m i. Also nach Berlin, zu -irgendeiner ganz großen Lehrerin. In Berlin gibt’s natürlich so was. -Was gibt’s denn am Ende in Berlin nicht? Nämlich aber: das kostet ein -riesiges Geld. Die Berliner nehmen’s von den Lebendigen und den Toten. -Und da ... das heißt, da möcht ich erst mal den Kantor Flehr fragen, -auf Ehre und Gewissen, ob er nach seinen Kenntnissen meint ... das -heißt, ob er wirklich und wahrhaftig glaubt, daß es mit der Stimme von -dem gnädigen Fräulein so etwas ganz Besonderes auf sich hat?“ - -Der alte Rittmeister hatte sich heiß geredet. Ganz fließend hatte er -schließlich gesprochen, während er dreimal die Diagonale des Zimmers -durchmaß. Jetzt erst sah er auf und zu dem Kantor hinüber. Und da stand -er still und staunte. - -Es war wohl auch ein wunderliches Bild. - -Ruckweise, langsam hatte sich die lange Gestalt gestreckt und gehoben. -Das Kinn zuerst, der Nacken dann; der immer gebeugte Rücken war gerade -geworden, und nun stand der ganze Mann aufrecht da, ganz aufrecht, -hatte die hageren Hände vor der Brust gefaltet, und aus seinen grauen -Augen leuchtete es. - -Nichts sagte er als: „Lieber Gott, ich danke dir, daß ich das noch -erlebe!“ Sagte es so rührend, daß die alte Gnädige am Fenster leise -aufschluchzen mußte. - -Auch den Rittmeister mußte es wohl packen. Aber er knurrte nur ein paar -ganz unverständliche Töne, und um seiner Bewegung Herr zu werden, fuhr -er den Kantor an: „Das heißt, wir spielen doch hier nicht Komödie. Man -kann doch nie auf eine klare Frage eine deutliche Antwort bekommen -- -hol’ mich der Deubel!“ - -Sonst hätte solch ein Ton Herrn Flehr gleich aus der Kontenance -gebracht. Diesmal nicht. Mit erhobener Stirn gab er zurück: „Ja, -Herr Rittmeister, die sollen Sie haben. Ich bin nur ein einfacher -Dorfschulmeister, aber von Gesang versteh ich einiges mehr als die -meisten meiner Kollegen. Das muß wohl angeboren sein. Darum kann ich -auch, wie der Herr Rittmeister es verlangen, auf Ehre und Gewissen -erklären: solch eine Stimme, wie die von dem gnädigen Fräulein, mag’s -wirklich nur alle hundert Jahre einmal geben. Das hab’ ich dem Herrn -Pastor schon vor Jahr und Tag gesagt und hab ihn gebeten --“ - -„Ich weiß, ich weiß“, wehrte der alte Rittmeister ab, und dann begann -er seine Wanderung von neuem, schweigend, mit immer schnelleren -Schritten. - -„-- und es ist wohl Pflicht, solch eine Gottesgabe zu schulen --“ wagte -der Kantor noch einzuwerfen. - -„Pflicht! Pflicht!“ kam’s von dem Teppich herüber. „Ich weiß allein, -was Pflicht ist. Das braucht man mir nicht zu sagen. Das heißt, ob’s -für die Lene ein Glück ist, darauf kommt es an. Dem Mädel den Kopf -verkeilen, ihr Rosinen in den Sinn setzen ... ja, und wenn Gott den -Schaden besieht, wer hat etwas davon? Öffentlich auftreten -- da müßt -ich doch vorher in der Grube liegen! Soll eine Hackentin vielleicht als -Komödiantin auf der Bühne stehen?!“ - -Die müde Stimme der alten Gnädigen klang dazwischen: „Solch wirklich -ganz große Sängerin ist doch eine Ausnahme, Hackentin. Denk’ an die -Sonntag, die eine Gräfin Rossi wurde ...“ - -„Komödiantin bleibt Komödiantin.“ - -„Aber Papa, es hat ja noch niemand ernstlich vom Theater -gesprochen“, meinte Wilhelm. „Neben der Opernsängerin steht doch die -Konzertsängerin.“ - -„Die muß auch vor die Öffentlichkeit. Das heißt, die singt auch jedem -Laffen für ’n preußischen Taler was vor!“ - -Da sprach Kantor Flehr noch einmal. Er war schon wieder in sich -zusammengesunken, aber nun richtete er sich auf, rang ein wenig mit -sich, straffte wie den äußeren auch den inneren Menschen: - -„Mit Verlaub, Herr Rittmeister“, begann er, und aus seiner sonst so -gedrückten Stimme klang ein fester, warmer Ton. „Kommt es denn so -auf das Äußere an, darauf, ob das gnädige Fräulein später einmal, so -oder so, fremde Menschen entzücken, begeistern soll? Das ist gewiß -auch etwas Herrliches, aber die Hauptsache, meine ich, ist es doch -nicht. Die Hauptsache, mein’ ich, ist, daß das gnädige Fräulein -+für sich+ lernt. Wenn der liebe Gott einem Menschen solch eine -Wundergabe verleiht, begnadet er ihn dadurch vor Millionen, aber er -legt ihm auch Pflichten dafür auf. Das wollt ich vorhin schon sagen: -die Pflicht, in der Kunst das Höchste anzustreben. Und weil das der -Einzelne nicht immer allein kann, müssen alle, die ihn liebhaben, dabei -mithelfen. Das hilft nun mal nichts, Herr Rittmeister -- mit Verlaub zu -sagen. Denn wenn es nicht geschieht, verkümmert die Gottesgabe ... und -dann verkümmert damit der ganze Mensch! Er hätte so groß werden können, -aber er wird arm und klein. Unglücklich wird er, Herr Rittmeister ... -und wenn ihm sonst das Leben mit allen Gütern dieser Welt überschüttet -... er wird arm und klein und unglücklich ...“ - -Der Rittmeister war stehengeblieben. Er sah mit hellem Staunen zu -seinem Kantor hinüber: daß der so sprechen konnte. Die alte Gnädige -hatte sich erhoben, kam auf ihren Mann zu, bat leise: „Papachen ...“ - -Das Ticken der Kuckucksuhr hörte man, so still war es. - -Bis dann Hackentin plötzlich sagte: „Die Lene hat einen guten Anwalt an -unserem Flehr ... hol’ mich dieser und jener.“ Er zauste einmal rechts -und einmal links an seinem weißen Schnurrbart. „Das heißt, Herr Kantor, -ich bin noch nicht beim Ja und Amen. Aber unglücklich ... unglücklich -soll uns die Lene nicht werden ...“ - -Und so kam Helene Hackentin nach Berlin. Zuerst nur, damit Frau -Harriers-Wippern, die Herr Schwarz als die erste der Berliner -Gesangslehrerinnen namhaft gemacht hatte, ihre Stimme prüfe. Zu mehr -wollte sich der alte Rittmeister nicht verstehen. - -Wilhelm mußte sowieso wieder nach der Hauptstadt; er sollte die -Schwester unter seine Obhut nehmen. - -Es war die erste größere Reise für Helene; über Frankfurt a. O. war -sie noch nie hinausgekommen. Und diese Reise, samt allem, was mit ihr -zusammenhing, war für sie ein so großes Ereignis, daß dadurch manch -inneres Erleben der letzten Tage in den Hintergrund geschoben wurde. -Wohl zitterte es in ihr nach: im Wachen und im Träumen. Sie schrak -bisweilen mitten in ihren kleinen Reisevorbereitungen zusammen, hörte -plötzlich wieder die weiche, klingende Stimme, hörte die leise ihr -zugeflüsterten Worte: „Ich hab heute ja nur für +Sie+ gesungen!“ -Aber das erlosch immer wieder. Sie lächelte wohl auch darüber: es -war ja nicht mehr als eine artige Courmacherei, wie sie gewiß in der -großen Welt da draußen üblich war und nicht viel bedeutete. Für sie -sicher nicht viel bedeutete. Denn sie hatte ja nun ihre Kunst. Die -große, himmlische Kunst. Die mußte ihr alles sein. Nur die herzliche -Dankbarkeit gegen Schwarz blieb lebendig: er hatte den Bann gebrochen, -er hatte den Weg geöffnet und gebahnt; ohne ihn wäre sie wohl ewig in -der Enge geblieben. Und als er ihr in Rackow zum Abschied die Hand -gereicht, sie noch einmal mit glänzenden Augen angesehen, da hatte sie -standgehalten, den Druck seiner Hand ehrlich erwidert, hatte für sein -„Auf Wiedersehen!“ ein herzliches „Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen so -sehr!“ gehabt. - -Ihr junges Herz strömte überhaupt über vor Dankbarkeit. Wie gut und -lieb nun alle zu ihr waren. Wieviel Opfer für sie gebracht wurden! - -Die Tränen flossen beim Abschied. Aber die Augen blickten schon wieder -hell über die Herbstlandschaft, ehe die Post noch die Stellberger -Fichten erreicht hatte. - -Sie saßen allein in der Beichaise, Wilhelm und sie. Dem Bruder schien -es ähnlich zu gehen wie ihr. Auch er, der immer ein wenig leicht am -Wasser baute, hatte beim Abschied Frau und Kinder mit feuchten Augen -umarmt; als die Post über die Grenze von Rohlbeck rollte, beugte er -sich weit hinaus, sah noch einmal zurück: „Mein liebes altes Rohlbeck!“ -Dann saß er eine ganze Weile betrübt und bekümmert in seiner Ecke. -Aber kurz vor Stellberg hatte er sich schon wieder aufgerichtet: „Nun, -Kleinchen! So in Gedanken? Wart’ nur, was du für Augen machen wirst!“ -Er hatte fröhlich gelacht dabei und fing an, von Berlin zu erzählen. - -Merkwürdig schnell vergingen dabei die fünf Stunden Postfahrt. Es gab -ja schon jetzt genug zu hören und zu sehen: bald kutschierte auf der -Chaussee ein Bekannter vorüber und mußte mit Hallo begrüßt werden; -bald hielt man zum Pferdewechsel auf einer Poststation, stieg aus, -wanderte ein paar Schritte auf und ab, sie immer zärtlich bei dem -Bruder eingehakt, trank in Stellberg Kaffee, aß in Reppen Mittagbrot. -Spaßhaft, wie Bruder Wilhelm überall bekannt war. Auf jeder Station -kamen Leute zu ihm: „Nun, Herr Baron, wieder einmal nach Berlin?“ -- -„Wie gehen die Geschäfte?“ -- „Geht’s voran mit unserer Eisenbahn?“ -Und er schüttelte die Hände, gab Auskunft, lachte, lud den zu einem -Schnäpschen und jenen zu einem Schoppen Bordeaux ein. - -Dann war mit einem Male die Oderbrücke da. Mächtig rauschte der Strom, -und drüben breitete sich im Herbstsonnenlicht das Städtebild, Mauer an -Mauer, Dach an Dach, turmüberragt. - -Frankfurt kannte Helene. Ein paar Male schon war sie hier gewesen, -mit Vater oder Martha, um Einkäufe zu besorgen. Ihr war’s +die+ -Großstadt. Das Auerbachsche Kleiderstoffgeschäft erschien ihr mit -seinen mächtigen Schaufenstern als ein Riesenhaus, und die Rasenacksche -Konditorei hatte schon in ihren Kindheitsträumen neben Tante Hufnagel -eine Rolle gespielt. - -„Kleinchen,“ meinte der Bruder, „wir haben über zwei Stunden Zeit bis -zur Abfahrt des Zuges, und ich habe Geschäfte zu erledigen. Du kennst -dich ja hier aus in dem Nest.“ Nest sagte er. „Kannst mich in ’ner -Stunde in der Weinstube von Lienau abholen.“ - -Ihr war’s ganz recht so. Auch körperlich eine Wohltat, sich die Füße -zu vertreten nach der langen Fahrt. Und so frank und frei durch die -Straße zu bummeln, hier stehenzubleiben und dort, in ein Schaufenster -hineinzugucken, dies zu bewundern und das anzustaunen. Wirklich: -sie kam sogar bei Rasenack nicht vorbei. Eine Tasse Schokolade mit -Schlagsahne wenigstens konnte sie sich leisten. Sie war ja so reich: -von allen Seiten hatte man ihr noch etwas in das kleine Portemonnaie -hineingesteckt, immer der eine, ohne daß der andere etwas davon wissen -sollte; und am letzten Tage war gar Tante Marie in Rohlbeck gewesen, -hatte sie zur Seite genommen und ihr etwas Raschelndes in die Hand -gedrückt. „Da, Mignonne!“ Ein Zehntalerschein war’s, als sie ihn -nachher besah. Zehn Taler -- ein Vermögen! - -Knapp zur rechten Zeit kam man auf den Bahnhof. Der Breslauer Zug -stand schon bereit, und Wilhelm Hackentin konnte gerade noch seine -Schwester und sich in ein ziemlich überfülltes Coupé bringen. Helene -war atemlos vom schnellen Gehen, aber auch von der Aufregung, zum -ersten Male mit der Eisenbahn zu fahren. Sie hatte ein wenig die klare -Besinnung verloren, der Bruder mußte sie dirigieren und schieben. -Es läutete schon, als sie endlich saß -- und da sah sie noch, wie -Merivaux, der Gardeschütze, auf dem Perron entlanghastete. Im ersten -Augenblicksempfinden wollte sie ihm zurufen: „Hier ist noch ein Platz!“ -Wollte winken -- doch dann ließ sie die Hand gleich sinken und lehnte -sich schweratmend zurück. Sie dachte: ‚Der ist böse auf dich. Schade. -Nicht ein gutes Wort hatte er in Rackow mehr für dich. Weshalb nur? Du -hast ihm doch nichts getan.‘ - -Da pfiff die Lokomotive, zog an, keuchend. Eine dichte Rauch- und -Dampfwolke fauchte an dem Fenster vorüber, ein starker Stoß kam, ein -rasselnder Ruck und noch einer. Helene griff erschrocken nach der Hand -des Bruders: war ein Unglück geschehen? Doch der lächelte, hatte schon -sein Zigarrenetui aus der Tasche gezogen. Und dann begann ein Gleiten, -gleichmäßig, wie in immer neu atemholendem Rhythmus; draußen flogen die -letzten Häuser vorüber, und die ersten Bäume tauchten auf, verschwanden -wieder; da war noch ein Fabrikschornstein in der Ferne, kam näher, -näher, jetzt stand er fast vor dem Fenster -- nun lag er schon weit -zurück; eine Schar Krähen flatterte auf und zerstob; auf der Straße -drüben trabte ein Pferd wie im Versuch des Wettlaufs, wurde im Nu -überholt, wurde kleiner und immer kleiner, war nur noch ein schwarzer -Punkt und nun nicht mehr zu sehen. - -Weit vornübergebeugt saß Helene und spähte auf die ewig wechselnden -Bilder, auf ihr Kommen und Gehen, ihr Auf- und Untertauchen, lauschte -dem Klingen der Räder auf den Schienenstößen, fuhr zusammen, wenn der -Pfiff der Lokomotive auftönte, wie ein greller Hilfeschrei, freute -sich, sobald wieder eins der kleinen Bahnwärterhäuschen kam mit dem -stramm stehenden Mann davor, der sein Fähnchen wie zum Salut in der -Hand hielt, schrak auf, als gleich rasenden Gespensterwagen, donnernd -und polternd, ein Zug auf dem Nebengeleise vorüberbrauste. - -Ganz langsam nur beruhigten sich ihre Nerven, und es kam ein -wundervolles Empfinden über sie wie in einem Traum: so also ging es aus -der Enge in die Weite, in die große herrliche Welt da draußen. Eine -Zaubergewalt trug sie hinaus, hinein in das Leben. Dort vorn fauchte, -schnob der feurige Riese in ihrem Dienst, spannte seine Kräfte, daß sie -gleich Hunderten von starken Rossen dahin jagten, nimmermüde, -- der -gewaltige Feuerriese, der sie hinaustrug, hinauf, weiter und weiter, -höher und immer höher, hinaus in die Welt, hinauf zum Ruhm ... - -Ein paar Male sah sie zu Bruder Wilhelm hinüber. Der saß in seiner -Ecke, die Zigarre zwischen den Lippen, hatte sein Notizbuch -vorgenommen; er mochte wohl wieder seine Geschäfte im Kopf haben. -Da durfte sie nicht stören. Flüchtig glitt ihr Blick über die -Mitreisenden. Wie gleichgültig die alle gegen das große Wunder waren! -Der dicke Mann dort schlief; eine Dame drüben kramte gerade aus ihrer -Reisetasche ein paar Butterbrote heraus, eine andere, jüngere, las in -einem abgegriffenen Bande, schien schon bei den letzten Seiten zu sein, -hatte einen zweiten Band bereits auf dem Schoß. Mit ihren scharfen -Augen konnte Helene den Titel lesen. „Gutzkow, Der Zauberer von Rom“ -stand darauf. Und dann saß neben ihr ein junger Mann, der auf einer -großen Karte, die er auf den Knien ausgebreitet hielt, herumstudierte; -deutlich konnte sie erkennen, daß sein Zeigefinger schwarzen, starken -Linien folgte: Berlin-Köln-Paris. Also nach Paris reiste er. Wundersam, -wie diese Eisenbahn die Länder aneinanderzurücken schien. Und wie -schnell das ging. Helene fiel ein, daß Mutter gelegentlich erzählt -hatte, wie sie mit ihren Eltern im eigenen Wagen nach Karlsbad gefahren -sei; damals, als Goethe dort zur Kur war. Vier Tage hatte die Reise -gewährt. Jetzt brauchte man vielleicht einen Tag ... - -Plötzlich wurde ein unwiderstehliches Mitteilungsgefühl in ihr -lebendig. Sie legte ihre Hand auf des Bruders Arm. „Wir fliegen ja --“ -sagte sie fast beklommen. - -Wilhelm ließ sein Notizbuch sinken und lachte: „Fliegen, Lene? Mit -dem elenden Bummelzug? Ach nein. Soweit sind wir in unserem guten -Preußen noch nicht. Aber in England --“ und er fing an, ihr vom -englischen Eisenbahnwesen zu erzählen, von dem großen Jagdzug, der -seit Jahresfrist dort Süd und Nord, London und Edinburg verband. Er -erzählte von den Schnellzügen zwischen Paris und Marseille, sprach -von Nordamerika. Überall schien er Bescheid zu wissen, und seine -blauen Augen leuchteten dabei. „Ja, mein Kleinchen, wir leben in einer -großen Zeit. Wir stehen aber erst im Anfang der Entwicklung. Wir -sind vielleicht nur die Pioniere, die das Feld vorbereiten, die Saat -aussäen, die unsere Kinder und Kindeskinder ernten sollen ...“ - -Er sprach lange und sprach gut. Alles verstand sie freilich nicht. Aber -ihr Respekt vor dem Bruder wuchs. Nur daß sie dabei über ein leises -Verwundern nicht hinauskam: zu Hause, in Rohlbeck, hatte Wilhelm oft -fast etwas Gedrücktes. Es war, als fiele das mehr und mehr ab von ihm, -je weiter er sich von der Heimat entfernte. Als atmete er freier, als -wüchsen ihm die Gedanken. Aber schien sich nicht auch vor ihr die Welt -zu weiten? - -Die Dämmerung sank herab. Der Abend kam. - -Als der Zug sich Berlin näherte, war es dunkel. Aus der Dunkelheit -leuchteten, wie in einem neuen Wunder, blinkende Lichter auf. -Vereinzelt erst, mehr und mehr dann; ganze Reihen schließlich. -Als hätte die große Stadt sich Helene Hackentin zu Ehren in ein -Lichtermeer getaucht. Überall flammte und glühte es. Aus den -Fenstern, die vorüberhuschten, von den Straßenfronten herauf, und -bunt und farbig, weiß, rot, grün aus den Weichenlaternen der rechts -und links endlos wachsenden Schienengeleise. Bis der Zug in den -Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof einrollte. - -Beängstigend dies Leben und Treiben, und doch wieder so wundervoll, -so eigen berauschend. Die Scharen von Reisenden, die der Zug entlud, -die hastend und drängend dem Ausgang zustrebten; die Gepäckträger, die -sich durch die Menge schoben, die Karren mit Koffern und Ballen; ein -Rufen, Schreien, Schwatzen, Fragen, Auskunftgeben, Willkommenheißen, -Abschiednehmen ohne Ende. Dann auf einen Augenblick noch einen Gruß von -Merivaux, im Vorüberschieben nur. Ein flüchtiges Wort zwischen Wilhelm -und ihm: „Sind Sie mit demselben Zuge gekommen?“ -- „Schade ... wir -hätten zusammen fahren können.“ Schade -- auch Helene dachte wieder -flüchtig: ‚Schade --‘ - -„Schnell, Kleinchen -- sonst bekommen wir keine Droschke!“ - -Und nun die Fahrt durch Berlin. Nahm denn das gar kein Ende? „Sind wir -noch nicht bald da, Wilhelm?“ - -„Geduld, Lene. In Berlin muß man Geduld lernen.“ - -Immer neue Straßen, breite und enge, immer neue Häusermassen. Immer -mächtiger und höher, immer heller beleuchtet, immer reicher die -Schaufenster, immer stärker der Verkehr. - -„Das ist der Dönhofsplatz, Lene. Sieh mal, das ist das Abgeordnetenhaus --- da zerbrechen sich die angeblich Weisesten die Köpfe um das Wohl und -Wehe des Landes. So -- und nun kommt unsere gute ‚Stadt London‘.“ - -Der Oberkellner, ein pikfeiner Herr im Frack und weißer Weste, stand am -Eingang und dienerte: „Die Zimmer sind bereit, Herr Baron. Nr. 34 für -das gnädigste Fräulein.“ Die teppichbelegte Treppe ging’s hinauf, eins, -zwei Stockwerke hoch, daß einem der Atem fast versagte. „Hier, Lene --- vorläufig nimm vorlieb“, sagte Bruder Wilhelm. „Dein Koffer kommt -sofort. Mach’ dich recht schnell ein bissel zurecht, wir essen nachher -unten.“ - -Groß war das Zimmer Nr. 34 nicht, und schön war es auch nicht mit -seiner schäbigen Hoteleleganz, dem schmalen Bett, dem kleinen -Waschtisch und der Plüschgarnitur, an der die Quasten abgerissen waren. -Aber Helene sah das alles nicht. Sie hatte nur einen Wunsch; ein paar -Minuten ganz still und ruhig zu sitzen, dort auf dem Bettrand sich ein -wenig sammeln zu dürfen, recht zum Bewußtsein zu kommen: du bist nun -also wirklich in Berlin. Es war ja alles wie ein Traum. - -Lange freilich ließ ihr Wilhelm nicht Zeit. Nach knapp einer -Viertelstunde schon pochte er: „Bist du fertig?“ Gerade daß sie noch -den Reisestaub abschütteln konnte, das Haar ein wenig glattstreichen. -Als sie heraustrat auf den schmalen Korridor, der ihr endlos erschien, -wie eine ganze Straße, musterte der Bruder sie. „Na, es mag angehen -für heut abend“, sagte er ein wenig von oben herab, aber mit seinem -sonnigsten Lächeln. - -Dann saßen sie unten im Speisesaal, im strahlenden Licht der großen -Gaskronen. Es war ja doch wohl Gaslicht, von dem sie schon so viel -gehört hatte? Dies seltsam helle, eigen flackernde Licht, das von der -Decke herableuchtete und aus vielarmigen Leuchtern an den weißen Wänden. - -Wilhelm bestellte eine Flasche Champagner und suchte ihr in der -riesengroßen Speisekarte ein paar Gerichte aus. Aber sie konnte kaum -essen. Es war zu überwältigend -- das alles. Der große Saal, in Licht -getaucht, die vielen Menschen an den Tischen, das Schwatzen und Lachen -der Gäste, die hin und her gleitenden Kellner. - -„Prosit, Kleinchen. Was machst du denn für Augen? Fast, als ob du ins -Paradies schautest. Ach Kind, gewöhn’ dir das ab. Es ist nicht gut, -wenn man sich verwundert zeigt, und mit dem Wasser wird schließlich -auch in Berlin gekocht. Da ... trink nur ...“ - -Und sie trank. Wie Feuer strömte es durch die Adern, stark und süß. - -„Ach ... Wilhelm ... lieber Wilhelm ...“ - -„Ja doch, du kleines Provinzschäfchen. Es ist schon anders wie in -Rohlbeck. Was? Aber ob’s immer besser ist? Na, darüber wollen wir uns -heut den Kopf nicht zerbrechen. Freuen wir uns der Stunde.“ Er nahm -von der Fruchtschale ein paar Rosinen, warf sie in ihren Spitzkelch. -„Siehst du, wie das perlt und perlt, wie der Schaum gleich wieder -aufsteigt. So ist Berlin. Hier perlt das Leben immer aufs neue hoch, -schäumt und schäumt. Trink aus, Lene, trink aus, ehe der Schaum -verfliegt.“ - -Es war wohl spät, als sie die Treppen wieder hinaufstiegen, eins, zwei -hohe, steile Treppen. „Wir wohnen dem Himmel nahe, Lene“, scherzte der -Bruder. „Schlaf wohl und träume etwas Schönes. Man sagt ja: was man in -der ersten Nacht in einem fremden Hause träumt, geht unweigerlich in -Erfüllung.“ - -Die Augen wollten ihr zufallen vor Ermüdung. Aber der Schlaf wollte -nicht kommen. Lange, lange nicht. Von der Straße herauf drang es wie -ein unaufhörliches Tosen. Wagenrollen auf hartem Pflaster, Hunderte von -Menschenstimmen, ebbend jetzt, wieder anschwellend dann. - -Aus all dem Hasten dort unten stieg ihr ein Bild der großen Stadt -empor, unklar und verworren, wie ein Kind es sich in Gedanken formt -und aufbaut. Ein Labyrinth war’s schließlich mit tausend Wegen, die -von himmelhohen Wänden eng umschlossen wurden, und sie lief und -lief in ihnen umher, ohne ihr Ziel zu finden, immer schneller und -immer hastender, stieß mit den Händen überall auf die kalten, öden, -eisenharten Steinmauern, wußte nicht ein noch aus ... - -Da kam einer, hatte eine hohe Pelzmütze auf, an der ein glitzernder -Edelstein funkelte, nahm sie an der Hand, wollte sie führen. „Wir -finden schon den Ausweg, Helene Hackentin“, sagte er mit seiner -einschmeichelnden Stimme. „Ganz gewiß, wir finden ihn.“ Aber sie -hasteten beide weiter und weiter, und immer wieder trafen sie aufs neue -himmelhohe, kalte, öde Steinwände, aus denen es keinen Ausweg gab. - -Dann war sie, mit einem Male, in der kleinen Kirche von Rohlbeck. -Die Orgel klang dünn, wie immer. Der alte Heckstein verließ eben die -Kanzel; sie saß im Herrschaftsgestühl, links die Mama und rechts der -Vater; auch Martha war da, mit ihrem lieben, glatten, ruhigen Gesicht, -das ein wenig traurig aussah. Wilhelm war ja wieder in Berlin. „Das -heißt,“ sagte Vater, „Heckstein hat heut schön gepredigt.“ „Nein, -Papachen,“ gab Mama zurück, „er hat wieder einmal einen alten Bock -geschlachtet.“ „Wenn schon,“ meinte der Vater darauf, „die Hauptsache -ist, daß wir unser Kind wiederhaben.“ Und da setzte Kantor Flehr mit -dem Schlußgesang ein. - -‚Natürlich, du träumst das alles --‘ sagte sich Helene dabei. ‚Träumst -es und bist doch eigentlich ganz wach. Hörst ja den Lärm von der Straße -und das Laufen auf der Treppe und das Zuschlagen der Türen. Merkwürdig -ist das. Aber es ist so schön, dies Träumen. Gerade das letzte, das -von Rohlbeck. Und eigentlich hast du heut, den ganzen Tag, noch nicht -einmal an Rohlbeck gedacht. An unser liebes altes Rohlbeck -- und an -Vater und Mutter ...‘ - -Da faltete sie die Hände. Sie wollte wohl eines ihrer alten -Kindergebete vor sich hersagen. Aber sie kam nicht dazu. Mit einem -müden, frohen Lächeln schlief sie ein. - - - - -Fünftes Kapitel - - -Am nächsten Morgen brachte Wilhelm ein kleines Billett mit an den -Frühstückstisch, hielt es der Schwester hin, daß sie gerade nur die -Handschrift auf der Adreßseite sehen konnte, und fragte scherzend: -„Rate! Von wem?“ - -Helene hatte prächtig geschlafen und war in rosigster Laune. „Vom -Kaiser von Rußland!“ gab sie lachend zurück. - -„Nicht ganz, aber beinahe. Von einem gewissen kaiserlich russischen -Hofopernsänger wenigstens.“ - -Er wartete wohl, daß sie heftig zugreifen würde. Doch er irrte. Ihre -Hand hob sich zwar, sank aber gleich wieder zurück, und sie machte -sich eifrig an ihrem Milchbrot zu tun. Daß ihre Hand dabei ein wenig -zitterte, bemerkte er nicht, fragte nur wieder: „Bist du denn gar nicht -neugierig?“ - -„Du wirst mir ja schon sagen, was Herr Schwarz dir geschrieben hat.“ - -„Sehr richtig bemerkt, Lene. Also laß mal dein Brötchen ruhen ... -ist übrigens famos, das Berliner Gebäck, nicht wahr? Anders als die -Wassersemmeln, die die Semmelmuhme von Lagow im Tragkorb bringt?“ - -„Sehr fein ist’s. Also ...“ - -„Ja, also. Herr Schwarz scheint wirklich einer der liebenswürdigsten -Tenore des neunzehnten Jahrhunderts. Er schreibt mir: ‚Sehr -verehrter Herr von Hackentin! Gestern hatte ich Gelegenheit, Madame -Harriers-Wippern zu sprechen. Sie ist erfreut über die Mitteilungen, -die ich ihr machen konnte, und gern bereit, das gnädige Fräulein -zu prüfen. Da ich nach unserer Verabredung annehme, daß Sie gestern -angekommen sind, habe ich Sie gleich für heut mittag 12½ Uhr angesagt. -Meine gehorsamsten Empfehlungen an Fräulein Schwester und die Bitte, -daß das gnädige Fräulein sich nicht wegen des Probesingens Sorge macht. -Das könnte nur schaden und ist auch total unnötig: ich weiß, was ich -gesagt habe, und übernehme jede Garantie. Hochachtungsvollst‘ und so -weiter und so weiter ...“ - -Wilhelm faltete den Brief wieder zusammen: „Hoffentlich bist du gut -disponiert, Helene ...“ - -Er bekam nicht gleich Antwort. Aber diesmal konnte Helene ihre Erregung -nicht verbergen. Das Blut strömte ihr ins Gesicht, kam und ging. Das -Messerchen, das sie noch in der Hand hielt, klirrte gegen den Teller. - -„Aber Helene!“ Er schüttelte den Kopf. „Bist doch sonst solch tapferes -Mädel. Du wirst doch singen?“ - -Sie fand noch immer kein Wort. Es wirbelte in ihrem Kopf. Sie wollte -lachen und sagen: ‚Natürlich werd ich singen. Gut werd ich singen. Was -denkst du denn eigentlich?!‘, aber ihr war es, als könnte sie nicht -einen Ton herausbringen. - -Dann streckte sie endlich, immer noch schweigend, die Hand hin. Er gab -ihr den Brief. Sie überlas einmal, zweimal die etwas flüchtigen Zeilen. -Mechanisch zuerst, wie um Zeit zu gewinnen. Dann aufmerksamer, Wort -für Wort. Dabei wurde sie ruhiger. Sie rückte gleichsam von der Probe -auf ihr Können ab. Aber zugleich kam eine andere Überlegung: ‚Daß Herr -Schwarz so großes Interesse an dir nimmt!‘ Es hatte etwas Peinliches -für sie, es hatte zugleich etwas Wohltuendes. Es verdroß sie, setzte -sie in Verlegenheit -- und doch freute sie sich darüber. Und daß es sie -freute, verdroß sie wieder. Dabei fühlte sie aufs neue das seltsame -Prickeln in ihren Adern, das sie neulich abends in Rackow empfunden -hatte, als er sich über sie beugte und ihr leise zuflüsterte mit seiner -weichen, einschmeichelnden Stimme: „Sie wissen doch, daß ich nur für -Sie gesungen habe!“ Sie dachte: ‚Heut also wirst du ihn wiedersehn‘, -und indem sie das dachte, sah sie im Geiste schon sein schmales feines -Gesicht vor sich und seine Augen auf sich gerichtet. - -Wilhelm wurde ungeduldig. So raffte sie sich auf, mit einem jähen -Entschluß: „Ich möchte aber nicht, daß Herr Schwarz bei Frau -Harriers-Wippern ist, wenn ich singen soll --“ - -„Ja ... gib mir doch noch mal den Brief. Er schreibt ja gar nichts -davon ...“ - -„Er ... er wird doch dabei sein ...“ - -„Und wenn er’s ist, stört dich das?“ - -„Ja ... es stört mich.“ - -Der Bruder drehte den Brief in den Händen herum. „Nimm es mir nicht -übel, Helene, das ist ein bissel kindisch“, sagte er ärgerlich. „Ist -eigentlich auch undankbar. Ich kann dem Mann doch nicht schreiben: -‚meine Schwester wünscht Ihre Gegenwart nicht‘. Übrigens weiß ich nicht -einmal seine Adresse.“ - -„Doch! Die steht ja auf dem Bogen. Hotel de Rome.“ - -„So. Richtig. Der Herr Hofopernsänger wohnt etwas vornehmer als wir. Ja -... aber was soll ich ihm denn schreiben?“ - -Sie zog die Stirn kraus, bis eine kleine schmale Trotzfalte zwischen -den Brauen stand. „Schreib, was du willst. Ich ... wir dankten ihm ... -er möchte sich aber nicht bemühen. Lieber Gott, solch ein kluger Mann, -wie du bist, wird doch eine passende Ausrede finden. Ich bitte dich -recht sehr, Wilhelm, schreibe gleich ... schicke einen Boten!“ - -Wilhelm Hackentin schüttelte den Kopf. „Es ist mir wirklich höchst -fatal, Lene.“ - -„Ich bitte dich! Tu es mir zuliebe. Ich ... ich würde sonst nicht -singen können. Glaub’ es mir.“ - -Er trank seinen Kaffee aus, ging dann hinüber nach dem Schreibtisch, -der am Fenster stand. „Meinetwegen ...“ sagte er im Fortgehen. - -Sie sah, wie er sich drüben den Stuhl zurechtrückte, sich setzte, zur -Feder griff. - -Ganz still saß sie, immer die Augen auf ihn gerichtet, immer noch mit -der kleinen schmalen Trotzfalte zwischen den Augenbrauen. Sah auf den -Bruder und sah doch über ihn hinweg. - -Wilhelm schrieb hastig, setzte einmal ab, fuhr fort, überlas, was er -geschrieben hatte. Nun stand er auf, kam zurück. „Hier, Helene ...“ - -Da griff sie nach dem Bogen in seiner Hand und sagte jäh: „Ich hab es -mir überlegt. Wir wollen den Brief nicht abschicken.“ - -Er lachte laut auf. „Na, da hätten wir’s ja. Also eine Kaprice! Weiter -nichts als Laune. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. -Das, scheint mir, trifft bei dir auch zu. Nun laß mich aber wenigstens -in Ruhe eine zweite Tasse Kaffee trinken.“ - - * * - * - -Frau Harriers-Wippern wohnte in der Viktoriastraße. - -Wilhelm hatte eine Droschke nehmen wollen, aber Helene bat, daß sie zu -Fuß gehen dürfte. Ihr war es, als müßte und könnte sie sich einen Druck -von der Seele fortlaufen, wie sie wohl in Rohlbeck weit hinaus, über -die Felder nach dem Forst gelaufen war, wenn die Unruhe sie geschüttelt -hatte. - -So gingen sie. Manchmal sah Wilhelm die Schwester heimlich von -der Seite an. Er wurde nicht recht klug aus ihr. Ihr Gesicht -zeigte eigentlich keine besondere Spannung. Aber ihre Gangart war -eigen hastig. Manchmal lief sie fast, um dann wieder plötzlich -stehenzubleiben, mit irgendeiner Ausrede, mit einem Blick in ein -Schaufenster. Aber er sah wohl, daß dieser Blick nur flüchtig über -die Auslagen hinglitt, viel flüchtiger, als er’s von dem Provinzmädel -erwartet hätte. Ihre Gedanken mußten ganz wo anders sein. - -Einmal fragte er: „Hast wohl doch ein bissel Herzklopfen, Lene?“ - -Da schüttelte sie den Kopf. - -Sie gingen durch die Leipziger Straße. Dann und wann machte er sie auf -ein Gebäude, auf eine Sehenswürdigkeit aufmerksam. „Da hast du das -Kriegsministerium.“ „Das ist das Denkmal vom Grafen Brandenburg ... -weißt du, dem Sohn König Wilhelms des Zweiten und seiner morganatischen -Gattin, der Gräfin Dönhoff“ -- „Das sind die alten Torgebäude und -dahinter steht die Stadtmauer, die um das ganze innere Berlin geht.“ - -Sie nickte dann, aber er fühlte, sie hörte kaum, was er sagte. - -Am Tor mußten sie eine Weile warten. Auf der Verbindungsbahn kam durch -die Hirschelstraße ein langer Güterzug angekrochen; die Maschine -läutete, ein Beamter mit einer roten Fahne ging vor ihr her, um die -Passanten abzuhalten. Er erklärte ihr das wieder: wie diese Bahn die -einzelnen Bahnhöfe für den Güterverkehr miteinander in Verbindung -setze, so daß also ein Frachtstück, das etwa von Stettin käme und nach -Breslau bestimmt wäre, nicht umgeladen zu werden brauchte. „So?“ sagte -sie und weiter nichts. - -„Dort drüben -- der Potsdamer Bahnhof war der erste in Berlin. Die Bahn -nach Potsdam war nämlich überhaupt die erste in Preußen, ist schon -vor mehr als zwanzig Jahren gebaut worden. Du, Lene, da passierte -eine komische Affäre. Der alte Nagler, der damals an der Spitze der -Post stand, wollte nämlich von der Eisenbahn nichts wissen. Und um zu -beweisen, daß sie ganz unnötig wäre, ließ er säuberlich konstatieren, -daß der ganze Verkehr zwischen Potsdam und Berlin täglich mit drei -Voitüren bewältigt würde. Wozu also eine Eisenbahn? Übrigens sind die -Herren mit den langen Zöpfen heut noch nicht ausgestorben.“ - -„So“, sagte sie wieder und weiter nichts. - -Inzwischen war der Güterzug vorübergepoltert, die Menschenmasse, -die sich aufgestaut hatte, wälzte sich über den Platz und zog die -Geschwister mit. Durch die stille Bellevuestraße gingen sie. „Das ist -der Tiergarten,“ meinte Wilhelm und zeigte auf die entlaubten Bäume. -„Fünf Minuten weiter wohnt Tante Oschitz, der wir heut nachmittag -unsere Visite machen werden.“ - -„So“, sagte sie zum dritten Male. Und da gab er es auf. - -Und nun waren sie in der Viktoriastraße. Wilhelm suchte die Hausnummern -ab. „Hier ist’s.“ - -Da sah er, zum ersten Male, daß aus dem Gesicht der Schwester jeder -Blutstropfen gewichen war. Eigen glänzend standen die großen blauen -Augen in dem weißen Antlitz. Nur die Lippen waren rot, rot wie -Korallen. Und die Unterlippe hatte Helene ein klein wenig zwischen die -Zähne gezogen. - -„Du hast ja doch Angst --“ - -„Bewahre. Was denkst du dir denn.“ - -Sie gingen die teppichbelegte Treppe hinauf, schellten. Ein Diener -öffnete. Wilhelm reichte ihm seine Karte. Er verschwand, kam gleich -zurück: „Die gnädige Frau läßt bitten.“ - -Helene sah ihn nicht sofort, aber sie fühlte: +er+ ist hier. - -Sie sah zuerst nur die hohe schlanke Frau, die mit liebenswürdigem -Lächeln auf sie zukam. Und sie sah auch, daß Frau Harriers-Wippern -ein wenig stutzte, als sie dicht vor ihr stand, wie in einer leichten -Überraschung. „Fräulein von Hackentin, ich freue mich, daß Sie sich mir -anvertrauen wollen“, sagte sie. „Kollege Schwarz hat mir viel von Ihnen -erzählt.“ Das Lächeln in dem jugendlichen Gesicht vertiefte sich ein -wenig. „Aber er hat nicht übertrieben, wie ich soeben bemerke.“ - -Da trat er auch schon hinter den großen Blattgewächsen, die den -einen Teil des Salons abgrenzten, hervor: „Sie sind sehr indiskret, -gnädige Frau“, scherzte er. „Ich gestehe aber, daß ich ein schlechter -Schilderer war.“ - -Einen Augenblick hielt er Helenens Hand in der seinen. Auf einen -Moment kreuzten sich ihre Augen. Ihre Hand war eiskalt, aber ihr Blick -hielt dem seinen stand. Vielleicht sogar mit einem etwas feindseligen -Ausdruck. Schwarz senkte das Auge zuerst, fast wie in leichter -Verlegenheit. Er wandte sich schnell zu Wilhelm Hackentin, ihn zu -begrüßen. Und da sagte Frau Harriers-Wippern auch schon, auf die Tür -des Nebenzimmers deutend: „Jetzt, bitte, lassen die Herren uns allein.“ - -Die Probe verlief ganz anders, als Helene erwartet hatte. - -Es war, als hätte die große Sängerin und Sangesmeisterin ihr die -mühsam errungene Ruhe von den Augen abgelesen. Sie ließ ihr Zeit, bat -zunächst, abzulegen, begann zu plaudern. Vom Alltäglichen, von der -kleinen Reise, von den ersten Eindrücken in Berlin. Anfangs sprach -sie fast allein. Dann, allmählich, brachte sie Helene zum Sprechen, -lauschte, fragte nach dem bisherigen Unterricht. „Ein alter Kantor vom -Lande. Sieh da! Das sind noch nicht die schlechtesten, und ich freue -mich immer aufs neue, welche Liebe zur Musik in diesen Leuten steckt, -von der leidigsten Schulmeisterei nicht zu töten.“ Fragte weiter, was -Helene gesungen habe. Sprach dazwischen wieder von eigenem Erleben. - -Langsam wich die Starrheit aus dem Gesicht des jungen Mädchens, das -Blut strömte in die Wangen zurück. Der +eine+ Gedanke, der -den ganzen Morgen auf ihr gelastet, wurde von dem Zwang, zuhören, -antworten, Auskunft geben zu müssen, verdrängt; von dem Interesse an -der schönen liebenswürdigen Dame, von der Verwunderung: „Wird sie dich -denn noch nicht zum Singen auffordern?“ Ihr Denken konzentrierte sich -wieder mehr und mehr auf das Kommende. Es war auch dabei ein leises -Sorgegefühl: ‚Wie wirst du bestehen?‘ Aber es lag nichts Drückendes, -nichts Beengendes darin. - -Soeben hatte die Sängerin noch von ihrer Jugend geplaudert, daß sie im -Kloster erzogen worden sei. Nun stand sie plötzlich am Flügel, schlug -ein paar Akkorde an: „Bitte, Fräulein von Hackentin, eine Skala ...“ - -Es war so überraschend, daß Helene gar nicht recht zur Besinnung kam. -Aber indem sie sang, schmolz auch der letzte Rest des Angstempfindens. -„Brav!“ hörte sie nur. „Und nun noch einmal. Ordentlich heraus aus dem -Kehlchen ...“ - -„So. Und nun singen Sie mir mal etwas ganz Einfaches. Ganz ohne -Begleitung. Vielleicht irgendein Volksliedchen. Ganz wie Ihnen der -Schnabel gewachsen ist, mit Verlaub zu sagen. Soll ich helfen? Wie -wär’s mit ‚Ein getreues Herze wissen, hat des höchsten Schatzes Preis -...‘ Das kennen Sie doch -- nicht wahr? Also nun los ...“ - -So sang sie. - -Frau Wippern nickte ihr zu, als die erste Strophe verklungen war. Sang -dann die zweite, recht, als ob sie selber die größte Freude daran -hätte, ließ Helene die dritte singen: saß am Flügel nieder, blätterte -in einem Notenheft. „Wie ist’s? Nehmen wir etwas aus unseres guten Papa -Webers „Freischütz“: ‚Kommt ein schlanker Bursch gegangen ...‘“ - -„Brav! Brav!“ hieß es dann wieder. „Nun noch einmal ein paar -Tonleitern. Geben Sie her, was Sie haben. Denken Sie, Sie stünden auf -Bergeshöhe, ganz allein, und schmetterten die Töne in die freie weite -Luft, mit den Lerchen um die Wette.“ - -Und nun stand Frau Wippern wieder neben Helene. „Öffnen Sie, bitte, -einmal den Mund, Sie kleine Lerche. Recht weit, bitte, daß ich -ordentlich hineinsehen kann. Ohne Sorge: ich bin ja kein Dentist, und -Ihre Beißerchen können sich außerdem sehen lassen. So ... nun mal -tief Atem holen ... langsam ausstoßen. Sehr schön.“ Sie klopfte ihr -zärtlich auf die Wange. „Sie sind ein mutiges Menschenkind! Seine -helle Freude hat man daran.“ Sie lachte. „Wenn Sie wüßten, mit welchen -Angstmeierkindern ich manchmal zu tun habe!“ Dann wurde sie wieder -ernst. „Aber nun lassen Sie sich sagen, was ich nach solch einer kurzen -Probe sagen kann, sagen darf. Das Material ist einfach wundervoll, und -Gott und Ihrem alten Kantor sei’s gedankt, den ich dafür im Geiste -umarmen möchte: es ist unverbildet. Gesund ist’s, kerngesund! Eine -Wonne für jeden Lehrer. Was daraus zu machen ist? Ich könnte wohl -sagen: Großes ... das Größte! Aber, liebes Fräulein von Hackentin, -prophezeien ist ein mißlich Ding. Das hat mir seinerzeit meine -unvergeßliche Lehrerin, meine teure Franziska Cornes, auch vorgehalten, -als ich so vor ihr stand, wie Sie heut vor mir. Eine Menschenstimme -ist kein mechanisches Instrument. Sie ist hundert Zufälligkeiten, ist -den mannigfachsten Anfechtungen unterworfen. Und der Lehrer allein -tut’s auch nicht. Der Schüler muß die rechte Liebe haben, unermüdliche -Geduld, einen nimmermüden Fleiß. Er darf nie vergessen, welch kostbares -Gut ihm verliehen wurde, muß dies Gut pflegen und hegen wie ein -Heiligtum --“ - -Sie schwieg und sah Helene in das schöne Gesicht, aus dem die Erregung -der Stunde leuchtete. - -„Nun, Fräulein von Hackentin, wie ist’s? Wollen wir’s daraufhin wagen?“ - -Da schlug Helene in die dargebotene Hand ein und beugte sich zugleich -im unwillkürlichen Impuls, diese Hand zu küssen. Aber Frau Wippern -zog sie schnell fort: „Da haben wir’s.“ Sie lachte schon wieder ihr -berühmtes silberhelles Lachen. „Als ob ich eine alte Dame wäre mit -meinen sechsundzwanzig Jahren. Bloß, weil ich Lehrerin bin und so -ernste Worte sprechen kann. Nicht wahr? Und jetzt können wir ja auch -die Herren der Schöpfung erlösen.“ - -Wilhelm war stark befangen, aber Schwarz kam gleich auf die Damen zu: -„Nun, hab ich zuviel gesagt? Ich sehe es Ihnen beiden ja an: es war -vortrefflich. Meinen Glückwunsch der Lehrerin und der Schülerin!“ -- - -Dann gingen sie zu dritt die Viktoriastraße hinauf, durch die -Lennéstraße dem Brandenburger Tor zu. Helene in der Mitte, Schwarz ihr -zur Rechten, der Bruder links. - -In Helenens Seele zitterte das Erleben nach. Sie war über die Prüfung -hinweggekommen, sie wußte selbst nicht wie. Nun klang es in ihr gleich -Musik. Seltsam weich war sie gestimmt. Wie in einem leisen leichten -wonnigen Rausch schritt sie dahin. Die Erde schien unter ihr zu federn. -Aller Welt hätte sie ein Liebes tun mögen. Da war der Bruder, der -gute Wilhelm! Ja ... und der andere, der war doch ein guter Kamerad. -Wie dumm sie heut morgen gewesen war. Und so unfreundlich. Allerlei -törichte Gedanken hatte sie in sich herumgewälzt. - -„Du, Lene, dort drüben wohnt Strousberg.“ - -Am Morgen hatte sie über Wilhelms Worte hinweggehört, jetzt merkte sie -auf. Vielleicht nur, um ihm eine kleine Freude damit zu erweisen. - -„Strousberg -- wer ist das?“ - -„Aber besinn dich doch. Ich hab ja so viel von ihm erzählt. Bethel -Henry Strousberg, gestern noch ein unbekannter Journalist, heut -ein Faiseur, der seine geschickten Finger in allen möglichen -Eisenbahnunternehmungen hat. Er wird noch viel von sich reden machen. -Denk’ an mich.“ - -„Werd ich! Werd ich!“ - -Und sie gingen weiter am Saume des Tiergartens entlang, durch die -Schulgartenstraße, die altersgraue Stadtmauer zur Rechten. Schwarz -hatte nur wenige Worte gesprochen seit seinen letzten im Musikzimmer. -Und nun wunderte sie sich darüber, und sie wartete auf das, was -er sagen würde. Er mußte, mußte ihr doch noch etwas sagen! Es war -unmöglich, daß sie so weitergingen und sich dann trennten und ... und -wer weiß, wann einmal wiedersahen ... niemals vielleicht ... - -Oder wartete er darauf, daß sie ihm danken würde? Vielleicht hätte -sie’s gemußt. Aber da war etwas in ihr, das ihr die Zunge band. Das -Danken mochte Wilhelm besorgen. - -Der hatte noch eine Weile von Strousberg weiter gesprochen, dem großen -Finanzgenie, der scheinbar aus Papier Gold zu machen verstand. Doch nun -fragte er, an der Schwester vorbei: „Wir wurden vorhin unterbrochen, -Herr Schwarz. Was also haben Sie für den Winter vor?“ - -„Ja, so, Herr von Hackentin -- es schweben noch verschiedene -Engagementsanträge. Eigentlich sollte ich wieder an die Newa. Aber das -Klima bekommt mir auf die Dauer nicht. Dann hieß es Wien. Ließe ich mir -schon eher gefallen. Die goldige Kaiserstadt an der Donau, wo der Spieß -mit dem Backhändl dran sich allezeit dreht. Eine wirkliche Musikstadt -zugleich. Freilich, am liebsten möchte ich mich für eine Saison gar -nicht binden. Nur gastieren -- mit einem ~pied-à-terre~ hier. -Berlin hat es mir nun einmal angetan -- neuerdings --“ - -Wie er das letzte sagte, fühlte sie, daß sein Auge das ihre suchte. -Und mit einem Male überkam sie wieder die Angst, die sie heute früh -geschüttelt hatte. Glühend heiß und eiseskalt. Es war nicht mehr der -gute Kamerad, der da neben ihr herschritt, dem man dankbar sein mußte: -Es war das Schicksal. - -Starr sah sie geradeaus. - -„Wien ... ja ... eine herrliche Stadt“, hörte sie Wilhelm neben sich. -„Ein bissel Phäakenstadt. Aber das reiche wunderbare Hinterland, -Ungarn, der ganze Orient -- da ist noch eine Zukunft. Da ist viel Geld -zu verdienen. Und Sie würden doch lieber hierbleiben? Ist kein Platz -für Sie an unserer Oper?“ - -„Kaum, höchstens als Gast. Hier schwört man zu dem schönen Woworski --“ -er zog ein wenig die Achseln hoch -- „dann soll ja auch Albert Niemann -herkommen. Und schließlich: Exzellenz von Hülsen ist mir persönlich -nicht allzu sympathisch. Er sieht mir sein Theaterreich zu sehr wie -eine Kompagnie Soldaten an. Aber ich bleibe doch wohl in Berlin. Ich -kann mich, ich will mich jetzt hier nicht loslösen ...“ - -Wieder fühlte sie seinen Blick. Und wieder sah sie starr geradeaus. - -Da rief Wilhelm: „Lene, das Brandenburger Tor! Siehst du die Quadriga? -Weißt du: Vater erzählt so gern davon, wie sie Napoleon geraubt hat und -wie wir sie uns wiedergeholt haben! Anno achtzehnhundertvierzehn. Du -... hör’ mal ... du hast Glück heute ...“ - -Von jenseits des Tores klang Trommelwirbel, von dem Wachthause her. Und -dann rollte aus der mittelsten Toröffnung ein schlichter, zweispänniger -offener Wagen. Ein Greis saß darin, mit weißem Bart, ausrasiert am -Kinn. Gerade aufgerichtet saß er in seiner schmucklosen Uniform, dem -geschlossenen Paletot, der hohen Mütze. - -„Der König --“ - -Ganz dicht fuhr der Wagen an ihnen vorüber. Helene verneigte sich tief. -Es durchschauerte sie: gar nicht tief genug konnte sie sich neigen vor -des Königs Majestät. So war es ihr von klein auf gesagt und gelehrt -worden. - -Ein paar Leute standen rechts, standen links. Nur wenige grüßten. - -Und dabei hatte der königliche Greis so huldreich an den Mützenschirm -gefaßt; fast war es, als ob sein gutes klares Auge auf einen Moment auf -der kleinen Gruppe geweilt hätte, als ob über das ernste Antlitz der -Schein eines gütigen Lächelns geglitten wäre. - -„Warum grüßen denn die Leute nicht, Wilhelm?“ Jetzt endlich fand Helene -die Sprache wieder, und in ihr klang ein Ton der Empörung. „Muß man den -König denn nicht grüßen?“ - -„Du Kind! Ja, man müßte. Aber man muß nicht. Dem Prinz-Regenten haben -sie noch zugejubelt. Jetzt ist das anders. Seit ein paar Monaten -besonders. Die Regierung ist unbeliebt, und der Berliner hält sich für -verpflichtet, das auch dem König zu markieren. Manchmal denk ich: gut, -daß Vater still in Rohlbeck sitzt. Der würde seinen Zorn nicht bändigen -können.“ - -Sie waren durch das Tor geschritten. Die Wache war unter Gewehr. Es -mußte soeben abgelöst worden sein. Die Gardeschützen waren aufgezogen. -Über die grünen Röcke und die goldenen Knöpfe blitzte die Sonne. Und da --- am Flügel seiner Mannschaft stand Merivaux, den Degen noch in der -Hand. - -„~Bon jour, monsieur de Merivaux~“ rief Wilhelm über das Gitter. - -Der junge Offizier blickte überrascht auf, senkte den Degen zum Gruß. -„Weggetreten“, kommandierte er mit heller Stimme. Die Büchsen klirrten -gegen die Gewehrständer, es gab auf einen Moment ein Rasseln und -Rauschen. Dann, so schien es, wollte der Neuchateller an das Gitter -treten. Aber als ob er sich im letzten Augenblick besönne, grüßte er -nur noch einmal und wandte sich nach der Säulenhalle, wo der Kamerad, -den er abgelöst hatte, wartend stand. - -„~Monsieur de Merivaux~ makte ja ein serr brummiges Gesicht.“ -Es klang etwas spöttisch, wie Schwarz das sagte. Es klang etwas -komödienhaft mit der übertriebenen Nachahmung des Akzents. Und es sah -spöttisch und herausfordernd zugleich aus, wie er dabei mit seinem -dünnen Stöckchen gegen die Beinkleider klopfte. - -Drüben stand eine einsame Droschke. - -„Können wir nicht nach Hause fahren“, bat Helene plötzlich. „Ich bin so -müde, Wilhelm.“ - - * * - * - -Nun war Helene Hackentin bei der Tante Oschitz untergebracht. „Auf ein -paar Wochen,“ hatte Vater geschrieben, „das heißt, wenn wir’s so lange -ohne dich aushalten.“ „Ich behalte dich auch ein paar Monate,“ hatte -Tante Marianne gesagt, „das heißt, wenn du keine Späne machst.“ - -Frau von Oschitz bewohnte dasselbe kleine Haus in der Tiergartenstraße, -das der verstorbene Geheime Rat vor einem Vierteljahrhundert gekauft -hatte. Rechts nach der Bendlerstraße zu war vor wenigen Jahren ein -dreistöckiges Miethaus entstanden, links eine große Villa aufgeführt -worden. Dazwischen stand das graue Häuslein, das noch aus der -kurfürstlichen Zeit stammte und einst ein Lustschlößchen gewesen sein -sollte; ein tiefer Vorgarten schied es von der Straße; dahinter dehnte -sich ein noch größerer, wenig gepflegter Garten bis zum Landwehrgraben. -„Meine Insel“ nannte Tante Oschitz ihren Besitz manchmal, und er -war wirklich wie ein abgeschiedenes Stückchen Erde. Wenn Helene in -der ungeheuerlich tiefen Fensternische stand, in der ein ganzer -Schreibtisch Platz gefunden hatte, und in den Garten hinaussah, konnte -sie denken, daß sie in Rohlbeck wäre. Der Lärm der Stadt drang nicht -bis hierher, die weite, von hohen Bäumen umrahmte Rasenfläche glich -einer Wiese, und sogar eine Stallung fehlte nicht. Die Pferde freilich -hatte Tante Marianne bald nach dem Tode ihres Mannes abgeschafft. „Das -Geld, das sie fressen, kann ich besser verwenden.“ - -Die kleine, zarte Dame sollte einst eine Schönheit gewesen sein. -Heut sah man wenig davon. Das Gesicht war mit Fältchen übersät, vor -der Zeit gealtert. So hieß sie in der Familie die +alte+ Tante -Oschitz und war doch noch gar nicht so sehr alt. Helene wußte das: -Mutter, die immer gern den Jahren anderer nachrechnete, hatte oft -genug davon erzählt: Marianne Hackentin war Hofdame bei der Prinzessin -der Niederlande gewesen, hatte ungezählte Körbe ausgeteilt und erst -mit dreißig und einigen Jahren, als sie „längst aus dem Schneider -heraus war“, wie Mama das ausdrückte, den Geheimrat erhört -- „Matthäi -am letzten“. Der einzige Sohn aber, Harro, war siebzehn. Also hatte -Tante Marianne etwa die Fünfzig erreicht. Helene kam sie vor wie eine -Greisin. Und die kleine, schwächliche Frau wußte sich, bei aller -Güte, auch den Respekt einer Greisin zu wahren. Selbst dann, wenn man -manchmal gern über sie gelacht hätte. - -Einst, erzählte man in der Familie, sollte Tante Oschitz sehr -lebenslustig gewesen sein. Mit ihrer Verheiratung war eine Veränderung -ihres Wesens eingetreten, über die sogar der Rackower, ihr -Jugendfreund, noch heute den Kopf schüttelte; seit sie Witwe war, lebte -sie fast ganz weltabgeschieden. Nur ihrem Harro und ihren guten Werken; -allenfalls noch ihrer Porzellansammlung, obwohl sie jeden Groschen, den -sie dafür ausgab, eigentlich als Sünde betrachtete. Sie war sehr fromm. -Die Landeskirche genügte ihr nicht, und sie hatte sich einem kleinen -Kreise ähnlich gerichteter Seelen angeschlossen, die der Pastor Müller -um sich versammelte. Ein Geistlicher, der auch aus der Landeskirche -ausgeschieden war. „Tränen-Müller“ hieß er unter den Ketzern Berlins, -denn in seinen Konventikeln sollten die Tränlein fließen wie Bächlein -auf den Wiesen. - -Als Tante Oschitz zum letzten Male in Rohlbeck gewesen war, hatte sie -ein gewaltiges Ringen mit dem alten Heckstein gehabt. Seitdem streckte -der, sobald die Rede auf sie kam, immer abwehrend beide Hände aus: -„Hackentin, verschone mich bloß mit der Oschitzen. Die ist mir über.“ -Und dazu lachte der „dreimal gesottene Rationalist“, -- so hatte sie -ihn genannt, bis er nicht mehr konnte. - -Übrigens mußte Helene dem „Tränen-Müller“ eigentlich dankbar sein. -Das Zünglein, ob Tante Marianne sie auf längere Zeit aufnehmen wollte -oder nicht, hatte anfangs ein wenig geschwankt, aber er hatte für sie -entschieden. Der schöne Mann liebte die „Schönheit der Kreatur“, wie -er es ausdrückte. Als der sich an einem der ersten Abende einfand, -hatte Helene das Zimmer verlassen wollen, um nicht zu stören. Da war -er auf sie zugekommen, hatte seine weißen, weichen Hände sanft auf -ihre Schultern gelegt, sie auf den Stuhl niedergedrückt und mit seiner -unendlich milden Stimme gesagt: „So bleiben Sie doch, liebes Kind. Ich -sehe Sie so gern an.“ Und außerdem liebte er die Musik, sogar die -weltliche. Von ihm zuerst hörte sie vom trefflichen Grell, dem Direktor -der Singakademie, und vom Sternschen Gesangverein. - -Es war sehr still auf der einsamen Insel. Tante Marianne liebte die -tiefste Ruhe um sich her. Die Dienstboten schlichen auf Filzsohlen und -flüsterten nur. Sogar Harro war auf diese Stille hin erzogen, er sprach -im Hause immer vorsichtig und gedämpft. Und doch sprühte dem blonden -Gymnasiasten das helle Leben, ja der Übermut aus den blauen, glänzenden -Augen. Manchmal, wenn er mit Helene im hinteren Garten spazieren ging, -rief er plötzlich laut: „Laß uns laufen! Um die Wette laufen! Bis -uns der Atem ausgeht!“ Das taten sie dann. Sie rasten an den hohen -Taxushecken entlang bis zum Landwehrgraben und wieder zurück, bis sie -wirklich nicht mehr konnten und stehenbleiben mußten, mit roten Wangen -und jagenden Pulsen. „Ah, war das schön! War das schön!“ - -‚Ein Prachtjunge, der Harro! Man muß ihn gern haben!‘ dachte Helene -dann. ‚Wer weiß, ob ich’s ohne ihn so gut aushielte auf der einsamen -Insel?‘ - -Denn Tante Oschitz hatte auch ihre „Mucken“. Sie tyrannisierte auf ihre -milde Art das ganze Haus und alles, was darin war. - -„Nimm dich in acht vor Tante Marianne!“ hatte Wilhelm bei der -Übersiedlung gesagt. „Es hat manchem nicht gut getan, mit ihr Kirschen -essen zu wollen.“ - -Dabei standen sich eigentlich gerade der Bruder und Tante Oschitz -merkwürdig gut. Manchmal saß Wilhelm wohl eine Stunde und länger bei -ihr allein. Manchmal hörte sie fast andächtig zu, wenn er von seinen -Projekten sprach. Manchmal freilich strich sie ihm auch eine bittere -Wahrheit fingerdick aufs Brot. Gleich in den ersten Tagen einmal. Da -hatte er ihr im Auftrag von Vater von der Pension gesprochen, die der -für Helene bezahlen wollte. - -„Nein, mein lieber Wilhelm, Geld nehme ich nicht. Der Rittmeister -hat’s nicht dazu, wird schon seine Mühe haben, das sündhaft schwere -Geld für den Unterricht aufzubringen. In Rohlbeck konnte man ja nie -rechnen, hat immer nur depensiert. So ist’s denn da immer weiter bergab -gegangen.“ Sie sagte es, die Hände im Schoß gekreuzt, mit sanfter -Stimme, die aber einen eigen bestimmten Klang hatte. - -„Sparsam genug haben Vater und Mutter, weiß Gott, gelebt.“ - -„Laß doch den lieben Gott aus dem Spiel. Ja, sparsam haben sie gelebt, -aber wirtschaften konnten sie nicht. Damit sind sie bei aufgepritschten -Brotsuppen und Braunbier auf den Hund gekommen. Ich hab’s doch noch -erlebt, als deine Mutter ihr letztes Väterliches ausgezahlt bekam. -Dreißigtausend Taler waren es, und in zwei Goldtönnchen ist’s in -Rohlbeck angekommen. Was haben sie damit gemacht? Die Tönnchen unter -ihre Betten gestellt, und wenn jemand Geld brauchte, dann langte -er hinein. Wenn ich’s nicht beschwören könnte, würde ich’s selber -nicht glauben. Nicht zinstragend angelegt, nichts -- nichts! Einfach -aufgebraucht, bei Wassersuppen und Braunbier. Und dabei ist Heinersdorf -verkauft worden, und Grunow mußte verkauft werden. Es ist eigentlich -gar nicht auszudenken. Sünde ist’s -- Sünde!“ - -„Die alte Zeit, Tante Marianne. Mir wär’s auch lieber; die Eltern -hätten besser gewirtschaftet und ich brauchte mich hier nicht zu -schinden.“ - -„Wie häßlich gesagt -- schinden? Geldverdienen ist ehrliche Arbeit. So -jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen, steht in der -Heiligen Schrift. Ich laß es dir übrigens, du bist ein emsiger Mann, in -deiner Art. Aber daneben steckt das Rohlbecker Blut in dir. Dem kann -nicht genug gesteuert werden.“ -- - -Still und friedfertig floß das Leben dahin auf der einsamen Insel. - -Aber die Stille und der Friede des Hauses, denen sich Helene äußerlich -anzupassen hatte, füllten ihr Herz nicht. Ihr Herz war unruhig und -voller Unrast. - -In ihren Nöten war die Kunst ihr einziger Halt. Doch je weiter die Zeit -ging, desto mehr fühlte sie, auch die Kunst war nur ein zerbrechlicher -Stecken für sie. Der stärkste Fleiß half da nicht. Er mochte die -Stunden töten. Daneben aber blieben andere Stunden, in denen ihre Kunst -nur ihre Seele immer stärker aufpeitschte. - -Wohl war Frau Harriers-Wippern zufrieden. Fast immer gleich zufrieden. -Helene sah es ihr mehr an, als daß sie es aussprach, denn sie war -ziemlich karg mit Anerkennung und Lob und verlangte viel, was Helene -zuerst ganz wunderlich vorkam: endlose Atemübungen, sorgsame Studien -vor dem Spiegel, predigte immer wieder: „Langsam -- langsam! Geduld, -Fräulein von Hackentin!“ Bisweilen aber nannte sie sie doch ihre -liebste Schülerin, bisweilen sprach sie doch von erstaunlich schnellen -Fortschritten. Aber dann und wann, und nur immer häufiger, schüttelte -sie auch den Kopf: „Sie dürfen sich nicht überanstrengen, liebes Kind.“ - -„Es strengt mich nicht an. Nie! Nie!“ - -„Sie wissen das selbst nicht. Mir kann das nicht entgehen. Ihr -Temperament reißt Sie zu sehr fort. Es ist etwas Herrliches, gerade -für unsere Kunst, um ein starkes Temperament. Nur müssen wir es straff -im Zügel zu halten wissen. Bei Ihnen steigert’s sich manchmal bis zur -Leidenschaftlichkeit.“ - -Und Helene wußte: ja -- bis zur Leidenschaft! - -Das war ihr Schicksal. Er war ihr Schicksal. - -Sie hatte sich dagegen gesträubt mit aller Kraft ihres Willens. Mit all -ihrem Stolz. Es war stärker als sie. - - * * - * - -Alfred Schwarz war wirklich in Berlin geblieben. War wenigstens meist -in Berlin. Ende Oktober gastierte er in der Friedrich-Wilhelmstadt; -unmittelbar nach Theodor Wachtel und mit gleich großem Erfolge. - -Sie hatte ihn bis dahin nur wenige Male gesehen. Einmal traf -sie ihn zufällig -- war es zufällig? -- im Vorzimmer von Frau -Harriers-Wippern. Einmal begegnete sie ihm auf dem Wege zu ihrer -Lehrerin. Sie sprachen nur knappe Worte miteinander. Er erkundigte -sich nach ihren Fortschritten, wie sie sich eingelebt hätte. Sie gab -so kurz als möglich Auskunft, nur so viel, als die kargste Höflichkeit -forderte. Kaum so viel: denn die Abwehr lohte in ihrer Seele. - -Aber sie mußte an ihn denken, Tag und Nacht. Im Zorn auf ihn und auf -sich selber. In schmerzvoller Sehnsucht dann. Immer sah sie ihn vor -sich, immer hörte sie seine Stimme. Mitten im Traum schrak sie auf: -sie waren wieder in Rackow gewesen, er hatte wieder die „Letzte Rose“ -gesungen, er hatte wieder gesagt: nur für Sie -- nur für dich! Sie -schrak auf und biß vor Scham in ihr Kissen und weinte -- - -Und nun gastierte er -- Frau Harriers-Wippern hatte es beiläufig -erzählt -- in der Friedrich-Wilhelmstadt. - -Ein paar Male war sie in der Königlichen Oper gewesen. Auf Billetts -ihrer Lehrerin. Das gehörte ja zu ihrer Ausbildung. Ein paar -Male auch in Konzerten. Einmal hatte sie Tante Oschitz in eine -Beethovensche Symphonie begleitet, ein andermal durfte Harro mit ihr -in ein Stockhausensches Konzert. Der gute Junge! Fast hätte er laut -aufgejubelt, und wie er den ritterlichen Kavalier spielte! - -Aber die Friedrich-Wilhelmstadt: Tante Marianne hätte nur die Achseln -gezuckt. Und sie durfte doch auch nicht fragen, nicht bitten. Sie -wollte ja auch gar nicht ... Nein! Nein! Nein! - -Da kam Wilhelm: „Lene, hier! Herr Schwarz hat mir zwei Billetts -geschickt ...“ - -Nein! Nein! -- Ja! Ja! - -Tante Oschitz machte eine bedenkliche Miene, aber Wilhelm streichelte -sie mit klugen Worten. - -Er sang den Postillion. - -Und es war fast eine Enttäuschung. Er sang wundervoll, er spielte -hinreißend. Das Haus jubelte ihm zu, wie es kaum Wachtel zugejubelt -hatte. Und dennoch war es eine Enttäuschung: sie mochte ihn nicht als -Postillion. Es tat ihr weh, ihn mit der Peitsche knallen zu hören. Es -war ihr wie eine Erniedrigung. Sie schalt mit sich selber -- und sie -war doch auch froh darüber; erleichtert fast. - -Zwei Tage darauf fuhren am Nachmittag die Rackower vor. - -Frau Marie und Frau Marianne liebten sich nicht und waren daher -doppelt artig gegeneinander. Immer erkundigten sie sich nach ihren -beiderseitigen Interessen, für die sie doch kein Interesse hatten. -Tante Marie nach der Mission in Indien, Tante Oschitz nach den -Winterplänen der Rackower. Immer mit kleinen Malicen zwischen allen -Artigkeiten. Onkel Ernst gab Harro einen derben Klaps: „Nun, mein -Junge, wann hast du denn endlich die gräßlichen Schulbänke hinter dir?“ -und tätschelte Helene beide Wangen: „Viele Grüße aus Rohlbeck. Sind -alle gut zu Wege, bißchen fatigue siehst du aus, Leneken ...“ Dabei sah -er schmunzelnd unter seinem Monokel um die Ecke auf die beiden Damen, -die sich drüben am Kaffeetisch so eifrig und stimmungsvoll unterhielten. - -Und dann hieß es: „Heut abend entführen wir dir natürlich die Lene. -Aber, liebste Kusine, das ist doch selbstverständlich. Mach’ bloß kein -so böses Gesicht. Wir liefern dir unsere Lene auch pflichtschuldigst -persönlich ab. Um den Hausschlüssel müssen wir freilich bitten.“ - -Den Hausschlüssel bekam Helene nicht. Aber Urlaub bekam sie -- „es wird -auf dich gewartet werden.“ - -Vom Theater kein Wort. Und doch wußte Helene: heut abend singt er in -Flotows „Martha“. Heut abend höre ich wieder die „Letzte Rose“ ... - -Ganz still saß sie nachher im Wagen. Wußte nicht, ob sie sich freuen -oder fürchten sollte. Würde es wieder eine Enttäuschung sein? -Vielleicht konnte sie es überhaupt nicht vertragen, ihn auf der Bühne -zu sehen, im Komödiantengewand, geschminkt und aufgeputzt. Vielleicht -konnte sie den lärmenden Beifall nicht ertragen, der ihm zujauchzte. -So schön wie in Rackow sang er auch gewiß nicht ... damals, als er nur -für sie gesungen hatte ... - -Dabei mußte sie Rede und Antwort stehen. Über ihren Unterricht, über -Tante Marianne. Ja, und dann sprach Tante Marie wieder von Rohlbeck. -Rohlbeck ... Rohlbeck ... was war das eigentlich? Wo lag das? Es war ja -fast wie ausgelöscht in ihrer Erinnerung. Selten nur hatte sie in all -der letzten Zeit an die Eltern gedacht, an Martha ... gerade nur die -Pflichtbriefe hatte sie geschrieben. Sie verlangten ja auch nicht viel -Nachricht daheim, das Porto war teuer. Ja ... und nun pochte das auch -wieder an ... - -„Der Rittmeister und Fritz haben sich gründlich brouilliert. Kein -Wunder: Fritz ist dem liberalen Wahlverein beigetreten. Ein Hackentin. -Eigentlich wirklich ein Skandal. Die Politik ...“ - -Ach, was ging sie die Politik an. Heut abend hörte sie die „Letzte -Rose“ ... - -Sie saßen in der Fremdenloge. Vorn Tante Marie und Helene, dahinter -Onkel Ernst. Und kaum hatte er die Bühne betreten, so wußte sie, daß er -sie bemerkt hatte -- wußte: heut singt er wieder nur für dich. Nur für -dich. Mag das ganze Haus ihm zujubeln und toben: er singt nur für dich! -Nur für dich! - -Es versank alles vor ihr. All der Firlefanz dort oben zwischen den -gemalten Kulissen. Sie sah auch nicht darauf hin, sah auch kaum ihn. -Nur hören -- lauschen -- lauschen -- - -Heut zum ersten Male schmolz auch ihre Abwehr, schmolz ihr Stolz. -Nichts war in ihr als ein läutendes reines Glücksklingen. - -Bis der Vorhang zum letzten Male fiel. - -„Na, kleine Enthusiastin! War’s schön?“ meinte Onkel Ernst, während der -Logenschließer ihm in den Pelz half. „Mariechen, wir fahren gleich nach -dem Hotel. Schwarz kann in einer Viertelstunde auch dort sein.“ - -Zuerst verstand sie nicht. Dann bäumte es sich in ihrem Herzen auf. -Ihn wiedersehen! Heute noch ... nach diesen Stunden! Fast wie eine -Unmöglichkeit erschien es ihr. Als ein Traum, als unfaßbares Glück, -und doch bebte und zitterte sie vor der Minute, in der seine Augen den -ihren begegnen, seine Hand die ihre fassen würde. - -„Wer kommt denn noch, Ernst?“ - -Onkel Ernst nannte ein paar Namen, gleichgültige Namen. Offiziere -wahrscheinlich, Diplomaten. „Merivaux hat abgeschrieben. Die -Gardeschützen haben eine große Übung im Terrain.“ - -Merivaux! Richtig ... der Neuchateller. Ja -- so! Mein Gott, wie -gleichgültig das alles war. - -Und dann, schon im Wagen, mußte sie es doch sagen: „Tante Oschitz wird -ungehalten sein. Ich möchte lieber nach Hause.“ Sprach’s, wußte, daß es -Lüge war und doch auch Wahrheit. - -Es war zu dunkel, als daß die Rackower die Blutwelle hätten sehen -können, die ihre Wangen überflutete. Das Rollen des Wagens übertönte -den angstvoll zitternden Ton ihrer Stimme. Onkel Ernst sagte nur: „Ach -du Schäfchen ...“ - -Ein paar Minuten darauf stand sie im Salon des Hotel de Rome. Es wurden -ihr ein paar Herren vorgestellt, sie hörte die Namen nicht. Man sagte -ihr einige Artigkeiten, sie fand nur ein Lächeln. Das Herz klopfte ihr -bis in den Hals hinauf. - -Dann war er mit einem Male da. In der Tür stand er, im Frack mit weißer -Binde, sah sich um, suchte sie ... ja ... suchte sie ... - -Sie las auf seinem Gesicht noch die Erregung der Bühne. Dann ein ganz -leichtes, fast unmerkliches Kopfneigen zu ihr hinüber, ein frohes -Lächeln: ‚Da bist du ja ... ich bin so glücklich, daß du hier bist ...‘ -und er trat zu Tante Marie, küßte ihr die Hand. - -Tante Marie hielt Cercle. Sie saß am Kamin, als einzige Dame; die -Herren standen um sie herum, plauderten, Deutsch und Französisch. Nun -winkte sie mit dem Fächer: „Helene ...“ - -Wie schwer ihr die wenigen Schritte wurden. Als ob sie Blei an den -Sohlen trüge; und sie hätte doch fliegen mögen. - -„Mignonne, Herr Schwarz wollte dich begrüßen.“ - -Wortlos stand sie, knickste, unbewußt, was sie tat, fühlte seine Hand, -empfand seinen Blick, wagte die Augen nicht zu erheben. Ihn nicht -anzusehen. Denn sie fühlte: siehst du ihn an, jetzt an, so weiß er, daß -du sein willenloses Geschöpf bist, für immer und ewig. - -Da öffneten sich auch schon die Flügeltüren. Der Oberkellner kam -majestätisch auf Tante Marie zu: „~Madame, est servi.~“ Ein -fremder Herr verbeugte sich: „Gnädiges Fräulein, ich habe die Ehre ...“ -Sie legte ihre Hand in seinen Arm. Einmal dachte sie, wie im Fluge: -‚Ein Glück, daß er dich nicht führt.‘ Dann: ‚Wärst du doch weit von -hier, bei Tante Oschitz und Harro, oder in Rohlbeck ...‘ Dann wieder: -‚Wirst du ihn nachher noch sprechen?‘ ... - -Erst als sie saßen, als Graf Werther ein paar Worte zu ihr gesprochen -hatte, bemerkte sie, daß Alfred Schwarz ihr zur Rechten saß. Wieder -schrak sie zusammen, wieder wagte sie nicht, aufzusehen, nicht, ihn -anzusehen. Und sehnte sich doch mit aller Leidenschaft ihrer Seele nach -einem Blick aus seinen Augen, nach einem Wort von seinen Lippen. - -Dann fiel ihr mit einem Male ein, daß Vater wohl manchmal gesagt hatte: -„Bist doch mein tapferes Mädel!“ Sie klammerte sich an das Wort. ‚Nein: -nicht feige sein! Ankämpfen, ankämpfen! Um Gottes willen, was sollen -denn diese fremden Menschen denken?‘ - -Es war ihr immer noch, als säße sie in einem großen Schleier. Nur -undeutlich sah sie drüben die weiße Feder auf dem Turban, den Tante -Marie trug, und den blitzenden Crachat auf der Brust des Herrn neben -ihr. Nur undeutlich hörte sie, was man sprach. Aber nun zwang sie -sich. ‚Bist doch mein tapferes Mädel!’ Nun kämpfte sie gegen sich an. -Und langsam, ganz langsam sank der Schleier nieder. Der Wille kam ihr -zurück. Sie nahm ein paar Bissen, sie trank hastig ein Glas Champagner. -Sie konnte jetzt antworten. „Ja, ich bin noch nicht lange in Berlin.“ --- „Jawohl, es gefällt mir ausgezeichnet.“ ... „Bei meiner Tante -Oschitz.“ -- „Ganz richtig, mein verstorbener Onkel war Vortragender -Rat im Kultusministerium.“ - -Und dann hörte sie plötzlich auch seine Stimme neben sich. Leise -flüsterte er: „Habe ich gut gesungen heut abend? Ich sang auch heut nur -für ... nur für ein wunderschönes junges Mädchen, das rechts in der -Fremdenloge saß. Ein wunderschönes Mädchen mit rostbraunem Haar, mit -blauen, leuchtenden Augen ...“ - -Die ganze Tischrunde, meinte sie, müßte es gehört haben. Aber das -schwirrte und schwirrte durcheinander. - -„Darf ich denn diese wunderschönen blauen Augen jetzt nicht -wiedersehen?“ - -Es zwang sie. Er zwang sie. Sie mußte sich ihm zuwenden. Dabei raffte -sie noch einmal all ihren Willen, all ihre Kraft zusammen, rang um ein -Lächeln, suchte nach einem abwehrenden leichten Scherz zur Antwort. -Aber als sie ihn ansah, brachen Wille und Kraft zusammen. - -Vielleicht fühlte er es. Vielleicht stieg das Mitleid in ihm empor. Er -sprach lauter, so daß es die Nächsten hören mußten: „Es war ein recht -gutes Ensemble. Fanden Sie nicht auch, gnädiges Fräulein? Das Orchester -ist sogar vortrefflich. Man darf ja nicht die Ansprüche stellen, die -einer großen Oper gegenüber berechtigt sind. Aber immerhin, es ist mehr -als Mittelmaß. Dazu dies dankbare Publikum!“ - -Sie verstand seine Absicht, war ihm dankbar. Aber sie brachte nur mit -Mühe ein „Es war sehr schön --“ über die Lippen. Ein Hauch war es nur, -wohl ihm allein verständlich, und er mochte es deuten -- in seinem -Sinne. Er strahlte sie an. Und als ob sie nun seiner Stimmung Flügel -verliehen hätte, riß er das Tischgespräch an sich. In sprühender -Laune erzählte er vom russischen Hofe, gab kleine Theateranekdoten, -Kulissenscherze zum besten; sprach dann wieder ernster: von Richard -Wagner, den er in Zürich kennen gelernt hatte, von dem greisen -Meyerbeer, dem er in Paris nähergetreten war, von Rubinstein, in -dessen Petersburger Heim er Gast gewesen. Er sprach vortrefflich, -pointenreich. Daß er -- immer er im Mittelpunkt aller Wendungen -stand, was verschlug’s? Vielleicht gab gerade das Persönliche seiner -Unterhaltungsgabe besonderen Reiz. - -Helene lauschte und lauschte. Manchmal senkte es sich wieder über sie -gleich einem dichten Schleier, so daß sie nicht mehr die Worte, nur -noch den Klang seiner Stimme wie im wohligen Traume hörte; dann kamen -Momente, in denen sie mit einem heimlichen Jubel dachte: eigentlich -spricht er nur zu dir, nur für dich allein. Und ein -- zwei Male -fühlte sie, wie, während er sprach, seine Hand unter der Tafel die -ihre suchte. Dann schrak sie zusammen, rückte ab von ihm und konnte -doch nicht wehren, daß er ihren Arm streifte, ganz leise, zärtlich, -verstohlen. - -Tante Marie hob die Tafel auf. - -Im Salon nebenan wurde der Kaffee genommen. Und hier gewann Helene -endlich die Selbstbeherrschung zurück. Sie stand, getrennt von ihm, in -einem Kreise der jüngeren Herren, fand sich in dem leichten Plauderton -zurecht. Es gab einige Anknüpfungspunkte. Der eine der Herren hatte -in Sodelzig bei Onkel Grucker in Quartier gelegen, der andere kannte -Fritz -- „den sonderbaren Schwärmer, der ja unter die Demokraten -gegangen sein soll“ -- von der Universität her. Wilhelm kannten fast -alle. „Warum ist Ihr Herr Bruder heut nicht hier?“ Graf Werther lachte: -„Wilhelm Hackentin sitzt bei Ewest mit ein paar englischen Herren -zusammen, die nach ungezählten Pfunden aussehen. Ich war vorhin auf -einen Stipps drin und sah ihn zwischen wallenden grauen Bärten, ganz -ehrwürdig vor lauter Wohlhabenheit.“ - -Plötzlich war Schwarz wieder neben ihr, und wie er vorhin das Gespräch -der ganzen Tafel beherrscht hatte, so wußte er sie jetzt aus der -Unterhaltung der anderen herauszureißen, sie für sich selber zu -isolieren. Was er zuerst sagte, das durften, konnten sie alle noch -hören. Nach ihren Studien fragte er. Ob sie sich zufrieden fühle bei -der Kollegin Wippern? Wartete die Antwort nicht ab, sondern ergänzte -selber: „Unsere treffliche Harriers-Wippern ist ja Ihres Lobes voll. -Meine Lieblingsschülerin, sagt sie immer wieder. Aber eigentlich müßten -Sie zur Viardot nach Baden-Baden. Das wäre die rechte Lehrerin für Sie.“ - -Dann, als sie für ein paar Augenblicke allein standen, flüsterte er -hastig: „Entsetzlich -- diese Geselligkeit. Dieser Zwang! Nicht zwei -Worte kann man unbeobachtet mit jemand sprechen, dem man so viel zu -sagen hätte, so unendlich viel ...“ - -Sie sah scheu, erschrocken, fast verständnislos zu ihm auf, senkte -gleich wieder den Blick. Ihr war’s ja, als hätten sie den ganzen Abend -über miteinander gesprochen, zueinander, nur zueinander und füreinander. - -„... so unendlich viel zu sagen!“ wiederholte er heiß. „Es muß anders -werden. Ah, jetzt nur einmal einen Spaziergang durch den Rackower Park, -allein, ohne diese zudringlichen, neugierigen, fremden Gesichter. -Allein ... wir beide ... wie schön müßte das sein! - -... So sprechen Sie doch! Nur ein paar Worte, ich beschwöre Sie. Morgen --- nicht wahr? -- Morgen gegen ein Uhr gehen Sie zur Wippern ...“ - -Sie konnte ja nicht sprechen. Ihre Stimme war erstickt. Vor Angst, vor -Scham, vor fassungsloser Scheu. Aber der Stolz war von ihr abgefallen, -verweht, dahin. Sie neigte willenlos den Kopf. - -„Ein Uhr ... Dank ...“ hörte sie noch. Und da kam Onkel Ernst -angekugelt, quer durch den Salon: „Leneken, jetzt mußt du aber leider -fort. Sonst kriegen wir’s mit Tante Oschitz zu tun, und ich bin kein -Ritter Georg -- das Drachentöten war nie meine Force.“ - -Er nahm sie an der Hand, schielte unter seinem Einglas um die Ecke -auf Graf Werther hin und auf Schwarz, die plötzlich in ein angeregtes -Gespräch verwickelt schienen, führte Helene zur Tante. Sie knixte, -küßte die Hand, bekam einen kleinen zärtlichen Klaps mit dem Fächer, -grüßte noch flüchtig nach rechts und links, mußte von Onkel Ernst -einen dicken Schmatz auf die Stirn in den Kauf nehmen: „Fameus hast du -ausgesehen, Lene. Trotz deines simplen Fähnchens. Tante Marie müßte -eigentlich mal mit dir zu Bonwitt fahren .... Nacht, Kind. Grüße den -Drachen.“ - -Draußen stand Höhne mit dem diskret vertraulichen Domestikengesicht, -das er armen Verwandten gegenüber immer hatte, geleitete sie, mit zwei -Schritt Distanz, die Treppe hinunter zum Hotelwagen: „Untertänigst gute -Nacht, gnädiges Fräulein.“ - -Und dann huschte sie durch den Vorgarten, der im ersten Schnee lag, -unter den bereiften Bäumen hin, in fliegender Eile. Schon von weitem -sah sie, daß die Lampe im Zimmer von Tante Marianne noch leuchtete. Ein -schmaler Lichtkegel fiel aus dem Fenster im Erdgeschoß quer über den -weißen Rasen. - -Gleich, auf das erste leise Pochen, war Tante Marianne an der Tür. In -ihr dickes Umschlagetuch ganz eingehüllt; das kleine, schmale Gesicht -hob sich aus dem Schwarz wie ein Nonnenantlitz. - -Es sah so ernst und so streng aus, daß Helene zusammenbebte, als ob sie -sich einer Schuld bewußt wäre. Aber Tante Marianne hatte kein tadelndes -Wort. Sie nickte nur, und es klang höchstens ein wenig spöttisch: „War -es sehr schön, Helene? Nun ja, natürlich. Die Rackowschen sind ja die -berühmten Amüseurs. Da steht das Licht. Gute Nacht, mein Kind.“ - -Nun war sie oben in ihrem Zimmerchen. - -Als sie den Leuchter auf den Nachttisch stellte, fiel ihr erster Blick -auf ein kleines, altes Buch, das bisher nie dort gelegen hatte. Ein -Lesezeichen lag darin, in Kreuzesform geschnitten. Und als sie das Buch -aufschlug, las sie: - - „Wer die Welt erkieset, - daß er Gott verlieset, - Wenn es geht ans Scheyden, - Verlieret er alle Beyden.“ - - - - -Sechstes Kapitel - - -‚... Wer die Welt erkieset ...‘ - -An jenem Abend, als Helene den Spruch des alten Tauler zum ersten Male -las, hatte er sie schwer getroffen. - -Nun lächelte sie darüber. Sie hatte ja gar nicht ‚die Welt erkieset‘. -Nur einen einzigen, einen geliebten Mann hatte sie sich zu einem -stillen, heimlichen Glück gewonnen. Sie hatte ja gar nicht Gott -verlassen: der liebe Gott dort oben über den Wolken hatte ihr ja in -seiner unergründlichen Güte diesen einzigen, den über alles geliebten -Mann geschenkt! - -Ihr Herz war so voll. Ihr Glück war so groß. Und daß es so heimlich und -verschwiegen, das war zu allem Herrlichen noch eine besondere Gnade. An -jedem Abend lag sie mit gefalteten Händen und träumte offenen Auges ein -Dankesgebet. Nun wußte sie es: er hatte sie geliebt vom ersten Sehen -an; er würde sie lieben bis zu seines Herzens letztem Schlag. Und sie --- sie! Ach, was kam es auf sie an?! Wenn sie auf dem Altar, den sie -sich errichtet, zu Asche verglühte, was verschlug’s! - -Nein, nicht zu Asche verglühen. Immer aufs neue erglühen, leben und -lieben! Jeden Augenblick festhalten, Hand in Hand mit dem Geliebten -bitten, beten: verweile doch ... du bist so schön! Und über den -Augenblick hinaus Pläne schmieden, Hand in Hand mit dem Geliebten. Aug’ -in Aug’ mit ihm goldene Pläne, Zukunftsschlösser bauen, Stein auf Stein -zu wunderbaren Wölbungen zusammentragen und zu festen Fundamenten. -Die Zukunft -- die Zukunft gehörte ja ihnen und ihrem Glück! Aber auch -geduldig warten und ausharren wollte sie, sich biegen und beugen und -arbeiten, studieren. Alles, alles, wie er es wünschte und wollte ... - -Sie sahen sich täglich. - -Die Liebe machte sie beide erfinderisch. Manchmal mußte sie über ihn -lächeln: wie unerschöpflich sein Register an Auskunftsmitteln war. -Manchmal scherzte sie, sprach zu ihm Goethes Wort aus der „Iphigenie“: -„Mir schien List und Klugheit nicht den Mann zu schänden --“. Manchmal -erschrak sie vor seinen Anschlägen und stimmte doch jubelnd bei. Heut -mußte der gute Wilhelm herhalten, den Elefanten spielen; morgen sahen -sie sich in einem Konzert, in der Oper; dann begegneten sie sich bei -der Harriers-Wippern; ein großer Spaziergang durch die verwachsenen, -verschneiten Wege des Tiergartens, vom Goldfischteich bis zu Kroll, -von Kroll bis zum Hofjäger, kreuz und quer, einte sie heut; morgen -mußte sie Besorgungen in der Stadt vorschützen, und er führte sie durch -die vergessenen kleinen Straßen Alt-Berlins, wo sie sicher waren, -keinem Bekannten zu begegnen. Oder sie trafen sich im Alten Museum, in -irgendeinem Teil, wo es für sie nichts zu sehen gab: bei den Ägyptern -oder vor den Münzkästen. Da standen sie dann vor irgendeiner Mumie oder -den Diadochenmünzen, drückten sich die Hände, flüsterten, raunten, -scherzten -- und blickten sich in die Augen. Und wenn der Aufseher -gerade vorüberging, machten sie ernste, wichtige Gesichter und wiesen -mit ausgestrecktem Zeigefinger: „Außerordentlich interessant ... -Erstaunlich, diese Alten!“ - -Wovon sie sprachen, worüber sie raunten und flüsterten? Über ihre -Liebe, über ihr Glück. Wie das gekommen, wie das war, wie das bleiben -sollte -- in alle Ewigkeit. Nur über ihre Liebe, nur über ihr Glück. -Oder doch fast nur. Denn er sprach auch bisweilen von seiner Tätigkeit, -von seinen Erfolgen; auch wohl von den kleinen unberechenbaren -Verdrießlichkeiten und Enttäuschungen, die keinem Schaffenden erspart -bleiben. Aber sie brauchte ihn dann nur hell anzusehen, seine Hand zu -drücken, und die Schatten verflogen. Selten, sehr selten sprach er von -ihrer Kunst. Das tat manchmal ein wenig weh. Aber es genügte ja, daß er -wußte, sie schritt fort. Und wie schritt sie fort! Sagte das nicht auch -Frau Harriers-Wippern: „Vor ein paar Wochen zeigten Sie nur das starke -Temperament, jetzt fühle ich die Seele in Ihrer Stimme.“ Das tat die -Liebe -- auch das tat die Liebe! - -Ein paar Male mußte Alfred verreisen. Auf vier, fünf Tage, einmal -auf eine ganze Woche. Nach Dresden, nach Köln, nach Hannover zu -Gastspielen. Das waren trostlose Tage. Dann legte sich jedesmal die -Stille der einsamen Insel mit Zentnerschwere auf Helene. Nicht als -Frieden empfand sie die Ruhe, nur als Öde. Ihrem ganzen Leben fehlte -der Inhalt; selbst die Kunst war keine Trösterin. Tante Mariannes -leise, dünne Stimme tat ihr fast körperlich weh. Nichts interessierte -sie. Was kümmerte es sie, wenn Tante Oschitz aus der „Kreuzzeitung“ -vorlas, daß Preußen an der Halsstarrigkeit der liberalen Abgeordneten -zugrunde gehen würde, daß der König, Bismarck und Roon auch gegen diese -verstockten Demokraten die Heeresreorganisation durchsetzen müßten; daß -die Russen sich mit den Polen in den Haaren lägen? Was kümmerte es sie, -wenn der Tränen-Müller im dämmrigen Salon schöne Worte über die Weihe -der kommenden Weihnacht sprach, während ein halbes Dutzend alter Damen, -um ihn gruppiert, Missionsstrümpfe strickte. - -Ja, wenn Harro noch der alte gewesen wäre, der junge, liebe, frische -Kamerad. Aber um Harros Unbefangenheit war es geschehen. Anfangs hatte -sie sich amüsiert, wie er ihr Ritterdienste leistete, daß er ein wenig -verliebt in sie war, wie er das äußerte, mit verstohlenen Blicken, -mit halben Worten. Nun war das anders. Er konnte sie schweigend eine -Viertelstunde lang anstarren, fest zusammengepreßt die Lippen und -düster die Augen. Manchmal war es zum Fürchten. Manchmal dachte sie: -Er ahnt etwas von deinem heimlichen Glück, er ist eifersüchtig, er -quält sich und will dich quälen. Dann war’s wieder, als wollte er -gutmachen. Sie fand plötzlich auf ihrem Zimmer ein paar Rosen. Rosen -zur Winterszeit! Daß der Junge nur nicht sein ganzes Taschengeld für -sie verpulverte. Oder er faßte plötzlich nach ihrer Hand und bat: „Du -übst wohl viel, aber uns singst du gar nichts mehr vor. Tu’s wieder, -liebe Helene.“ Sie mußte den Kopf schütteln. Was sie jetzt hätte singen -können, wie sie’s hätte singen mögen, das paßte nicht für die einsame -Insel, auch nicht für Harro -- - -Schreckliche Tage, diese Tage, an denen Alfred fern war. Aber auch -die Sehnsucht hatte ihre Süßigkeit. Und dann flogen ja die heimlichen -Briefe herüber und hinüber, ~Poste restante~-Briefe, die sie von -der Hauptpost in der Spandauer Straße abholen mußte, jedesmal mit -erneutem Herzklopfen. Ein kümmerlicher Ersatz freilich, solch ein -Brief. Auch faßte Alfred sich immer so kurz. Kein Wunder zwar bei -dieser aufreibenden Tätigkeit auf den Gastspielreisen, bei den langen -Fahrten, den Proben, den vielen Verpflichtungen. Aber das Schreiben lag -ihm wohl überhaupt nicht. Er berichtete nur, und Herz und Augen suchten -in seinen Zeilen oft vergeblich nach den heißen Liebesworten. - -Was tat’s! Was verschlug’s?! Ein paar Tage, und er war wieder da! Sie -sah ihn wieder, sie flüsterten und raunten, sie lachten und jubelten -und waren glücklich. - -Dann setzte der Winter, der so lange gezögert hatte, mit voller Macht -ein und erwies sich als ein arger Störenfried. - -Den richtigen deutschen Winter, wie er nun mit einem Male da war, -fürchtete Alfred. Über das bißchen Schnee und ein, zwei Grad Kälte -war er fortgekommen; als aber die Eisblumen an den Fenstern blühten, -fühlte er im Geist schon den Katarrh, begann zu schelten, daß man an -der Spree gegen Witterungsungunst schlechter geschützt sei als an der -Newa, und ging trotz Pelzkragen und Schal nur ungern über die Straße. -Mit den heimlichen Wanderungen durch den Tiergarten oder durch das -Gassengewirr vom Molkenmarkt zum Alexanderplatz war es vorbei. Das -Landkind, das mit Vater bei achtzehn Grad Kälte im offenen Schlitten -zu fahren gewohnt war, wollte das nicht recht begreifen. Aber da der -geliebte Mann so empfindlich war, half’s ja nichts: sie mußte sich -fügen. - -Sie ratschlagten. - -„Ich mache einfach bei deiner Tante Besuch“, meinte er. „Ich habe schon -manchen Drachen gezähmt, um mit dem Rackower zu sprechen.“ - -„Tante Marianne ist kein Drachen. Aber --“ - -„Aber --“, fragte er heftig zurück. „Sollte ich ihr etwa deiner Meinung -nach nicht vornehm genug sein?“ - -Es kränkte sie ein wenig. Ihr ‚Aber‘ konnte sie doch nicht recht -begründen. „Ich hab’s nur so in den Fingerspitzen, Fred ... es tut -nicht gut.“ - -„In den Fingerspitzen? Zeig’ doch mal her.“ Er lachte und küßte -jeden einzelnen Finger einzeln auf die rosige Spitze. „In diesen -allerliebsten Dingerchen hier können ja nur die allerschönsten Ideen -hausen. Wenn in den Fingerspitzen überhaupt Ideen wohnen können.“ - -Er machte seinen Besuch, wurde sogar angenommen; brachte zur Einführung -eine Empfehlung der Rackowschen Herrschaften, sprach sehr zierlich über -die reizende Lage der einsamen Insel, bewunderte das alte Berliner -Porzellan in der Mahagoniservante, spielte, ganz beiläufig, darauf an, -daß er eigentlich die wundervolle Stimme von Fräulein von Hackentin -entdeckt hätte -- und wurde, ehe er es sich noch versah, in Gnaden -entlassen. Oder richtiger: nur entlassen. - -Helene war nicht anwesend gewesen. Als ihr aber Tante Oschitz von dem -Besuch erzählte, setzte sie hinzu: „Dieser Herr Schwarz oder wie er -heißt, paßt zu den Rackowschen. Er ist auch ein Fant!“ - -Das Blut jagte über Helenens Wangen. Gut, daß es zwischen den tiefen -Mauern immer so dämmerig war. „Ein Fant! Tante Marianne, wie kann man -so hart urteilen nach einmaligem Sehen!“ stieß sie heiß hervor. Empört -war sie. Das war noch das mindeste, was sie der Tante sagen mußte. - -Die alte Dame schwieg eine Weile. „Vielleicht hast du recht, Kind,“ -meinte sie dann. „Wir sollen nicht allzu schnell urteilen. Ich erkenne -auch an, daß dieser Herr dein Bestes gewollt hat. So magst du ihm wohl -dankbar sein dürfen. Aber ungerecht war ich, glaube ich mindestens, -doch nicht. Ich habe in den Gesichtern der Menschen lesen gelernt: in -diesem hübschen glatten Gesicht sehe ich nichts als Oberflächlichkeit.“ - -„Daß du ihn einmal singen hörtest, Tante!“ - -„Ich bin wohl nicht musikalisch genug, um das würdigen zu können, -Helene. Aber gesetzt, er sänge wie Orpheus, so würde mich das nicht -beeinflussen. Kunst ist ein Kräutlein nicht für alle Leutlein, sagt -ein altes Sprichwort. Bei seiner Kunst müßte ich immer an das Theater -denken, und ich liebe diese Welt des Scheins und des Trugs nicht. Du -weißt es.“ - -Sie sprach das alles mit ihrer ruhigen, leisen, sanften Stimme. Daß -diese Stimme doch so wehe tun konnte! - -„Herr Pastor Müller geht aber auch ins Theater.“ - -„Das mag wohl sein, und er wird wissen, wie er es mit sich und Gott -abmacht. Du mußt mich nicht falsch verstehen, Helene: ich richte nicht. -Ich spreche nur ein subjektives Empfinden aus. Und nun ist’s wohl genug -von diesem Herrn Schwarz --“ - -„Deine Frau Tante ist +doch+ ein Drachen,“ sagte Alfred, als sie -sich am Tage darauf trafen. „Sie hat mich kaum eines Wortes gewürdigt. -Ja und Nein war ihre Rede, und es fehlte nur das Amen. Das wird wohl -gefolgt sein, mit drei Kreuzen, als sich die Tür hinter mir geschlossen -hatte.“ - -Es klang sehr verletzt, und sie fand nicht den Mut, ihm ein Wort -zugunsten von Tante Oschitz zu sagen. - -„Helene, Schönste, Liebste -- könntest du nicht einmal zu mir kommen? -Du kennst meine kleine Wohnung ja gar nicht, weißt nicht, wie ich -hause. Ich denke es mir so reizend, dir eine Tasse Tee zu bereiten, bei -mir, echt russisch, auf einem riesigen Samowar.“ - -Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf. - -„Sei nicht so klein, Helene ...“ - -Wieder schüttelte sie den Kopf. - -Er kannte das schon: sie gab eigentlich immer nach, aber bisweilen grub -sich zwischen ihre Brauen ein Fältchen des Eigenwillens ein, dabei -spannte sich ihr Nacken, sie schloß die Augen, als wollte sie ihn nicht -ansehen -- dann war jedes Wort vergeblich. - -„Liebste Närrin! Ich hab übrigens noch einen anderen Vorschlag. Eine -Entdeckung hab ich neulich gemacht --“ - -Seitdem trafen sie sich meist in einer winzig kleinen Konditorei in der -Bendlerstraße. Nur ein Katzensprung war’s von der einsamen Insel, und -doch waren sie hier sicher vor jeder Entdeckung. Denn die Konditorei -war jetzt, im Winter, nur während der Mittagsstunden einigermaßen -besucht, von den Eisläufern, die sich hier bei einem Glase Punsch ein -wenig aufwärmen wollten. - -Einen schmalen Verkaufsraum gab’s dort und dahinter ein einziges -Zimmerchen mit vier Tischchen. Ein verschossener brauner Plüschvorhang -trennte beide Räume. Vorn saß hinter dem Ladentisch ein verrunzeltes -Fräuleinchen, immer tief über einen Leihbibliotheksband gebeugt. -„Versteinert, wie ihre Kuchen,“ meinte Alfred. Im Gastzimmer waren sie -stets allein. Es kam wohl vor, daß die dünne Türklingel ging und Helene -aufschrecken ließ. Aber es war dann immer nur irgendein Dienstbote, der -etwas holte: ein Dutzend Pfannkuchen, ein paar Spritzkuchen, ein paar -Windbeutel. - -Manchmal gab’s Anlaß zu einem Scherz. „Hörst du, Helene, Baisers! -Baisers! Komm -- komm, kleine süße Konditorin ...“ - -Zuerst hatten sie sich gegenüber gesessen an einem runden Tische mit -fleckiger Marmorplatte. Aber es gab da an der Wand ein uraltes Sofa. -Zu dem hatte er sie in einer Dämmerungsstunde geführt. - -Ach, diese glückseligen Dämmerungsstunden, in denen sie sich am ehesten -fortstehlen konnte. Tante las dann, und Harro saß über seinen dreimal -gesegneten Schulaufgaben. - -Fräulein Minna -- sie wußten schon, daß das Kuchenfräulein Minna hieß --- kam jedesmal hereingetrippelt, wollte auf einen Stuhl steigen, um -die eine Gasflamme anzuzünden. - -„Aber Fräulein Minna, Sie Verschwenderin! Es ist ja noch ganz -hell!“ rief Fred empört. Und sie trippelte wieder fort, mit einem -verständnisvollen Lächeln, trippelte zu ihrem Leihbibliotheksbande, in -dem gewiß immer unendlich viel Liebe vorkam. - -Der ganze Raum war erfüllt von einem süßen Duft. Zuerst hatte der -Helene angewidert. Nun wußte sie nichts mehr davon. So wenig wie -davon, ob das Stückchen Kuchen, das sie pflichtschuldigst zerkrümelte, -altbacken war oder nicht. - -O diese Dämmerungsstunden im Schutze des alten, lieben braunen -Plüschvorhangs, auf dem tiefeingesessenen Sofa, wo sie zuerst allein -gesessen hatte -- und nun mit ihm saß. Eng aneinandergeschmiegt, -plaudernd, raunend, flüsternd, Hand in Hand, wo sie träumten, sich -Zukunftsschlösser bauten ... - -Eifrig bauten sie jetzt Zukunftsschlösser. Er wußte, daß sie ein -armes Mädchen war, arm wie eine märkische Kirchenmaus. Nichts brachte -sie ihm als ihre Liebe, ihre große Liebe. Aber dafür hatten ja beide -ihre Kunst. Ein Jahr noch, und sie möchte hinaustreten können auf die -Bretter, die die Welt bedeuten. Ihre neue Welt! Ihr stand es nun fest, -auch sie ging zur Bühne. Der Widerstand der Eltern würde schon zu -besiegen sein. Daran zweifelten beide nicht. Zweifel? Es gab für sie -überhaupt keine Zweifel: hell, sonnig lag die Zukunft vor ihnen. - -Ein Jahr noch! Was war ein Jahr?! Wo jeder Tag, von einem Sehen zum -andern, für Helene verrauschte wie ein Augenblick. - -In der kleinen Konditorei feierten sie auch ihr Weihnachten miteinander. - -Helene hatte nach Rohlbeck kommen sollen. Aber als Wilhelm sich wenige -Tage vor dem Fest einfand, um alles zu verabreden, hatte sie ein -Tuch um den Hals und klagte. Nein, bei dieser eisigen Kälte durfte -sie ihre Stimme der Gefahr nicht aussetzen. Es ging wirklich nicht, -Wilhelm sah das selber ein, auch Tante Oschitz riet ab. Schade ... -die Eltern werden’s schmerzlich empfinden. Jawohl ... aber auch sie -werden’s einsehen. Und Geld hätte es auch gekostet ... alles kostete -so viel Geld, und Vater hatte erst vor kurzem geschrieben, mit den -Kartoffelpreisen sei’s jammervoll, „das heißt, liebe Lene, du brauchst -dir darüber keine Kopfschmerzen zu machen“. - -Als Bruder Wilhelm gegangen war, huschte Helene treppauf in ihr -Zimmer, lachte wie ein Schulmädchen, das die französische Stunde -geschwänzt hat, und kramte ganz unten aus dem Kommodenkasten die kleine -Perlenstickerei heraus, an der sie so glückselig heimlich arbeitete, -bei jeder Perle einen Wunsch für ihn hineinflechtend, ein ‚Sei -glücklich! Behalt mich lieb!‘ - -Tante Marianne hatte eine große Weihnachten. Sie bescherte vielen armen -Kindern, meist aus dem Osten Berlins, wo dem Pastor Müller jüngst von -seiner Gemeinde ein eignes Kapellchen gebaut worden war. - -Aber sie hatte auch Helene nicht vergessen. Unmittelbar neben Harros -Aufbau stand ihr Gabentisch. Da lagen die Briefe und kleinen Geschenke -aus Rohlbeck und von der Tante ein Pelzmuff und ein Buch mit Goldtitel -und Goldschnitt: „Amaranth“ war’s, von Oskar von Redwitz. Daneben lag -noch ein kleines Bändchen: „Neue Gedichte“ von Emanuel Geibel. Sie -blätterte mit ungeduldiger Hand darin. Auf der ersten Seite stand in -Harros steifer Handschrift: „Seiner lieben Kusine“ ... Als sie flüchtig -aufsah ihm einen Dank zuzuwinken, sah sie, daß er seinen Aufbau noch -gar nicht beachtet hatte, daß seine Augen nicht von ihr ließen -- - -Der gute dumme Junge! Wenn er wüßte, wenn er wüßte ...! Aber es tat ihr -doch leid, daß sie so gar nicht an ihn gedacht hatte. An wen hatte sie -denn überhaupt gedacht in all den letzten Wochen, als nur an den einen, -den einen! - -Tante Marianne stand inmitten der Kinder, die scheu und verlegen ihre -wollenen Jacken und Strümpfe, ihre Pfefferkuchen, Äpfel und Nüsse -beschauten. Für jedes hatte Tante Marianne ein gütiges Wort. - -Jetzt war es an der Zeit -- - -Helene huschte hinüber, zu dem großen Weihnachtsbaum, dankte, küßte die -Hand: „Ich gehe nur auf ein paar Minuten zu Frau Harriers-Wippern.“ - -‚Wie ich schon lügen kann,‘ fand sie selber und freute sich darüber. -Lachen hätte sie mögen. - -Tante Marianne war vollauf beschäftigt. „Nimm aber den Pelzkragen, -Kind!“ sagte sie nur zerstreut und hatte schon wieder einen kleinen -Blondkopf beim Wickel, band ihm zur Probe ein paar feste wollene -Ohrenklappen über das Flachshaar. - -Jetzt war es an der Zeit. Jede Minute war kostbar, jede Minute ein -Weihnachtsgeschenk. Im Nu hatte sie den Mantel um, den Kapotthut auf, -eilte die Treppe hinunter. - -Da stand Harro im Flur. Gerade vor der Haustür, breitbeinig, mit seinem -finstersten Gesicht. - -„Du willst fort, Helene? Heut? Jetzt? Am Heiligen Abend?“ - -„Nur zu Frau Harriers-Wippern.“ - -Das Lügen war nicht so leicht wie vorhin. Der Junge hatte ein paar -Augen, die dreinschauten, als wollten sie einen durchbohren. - -„Sie hat mich zur Bescherung gebeten. Ich komme gleich zurück, lieber -Harro.“ - -„Ich bringe dich --“ Er griff schon nach dem Kleiderrahmen an der Wand. - -„Nein, das gebe ich nicht zu. Du darfst jetzt nicht von Tante fort.“ - -„Wir kommen ja gleich zurück.“ Fast höhnisch klang’s, wie er das -„gleich“ betonte. - -„Unter keinen Umständen, Harro. Laß nur, ich bitt’ dich!“ - -Der Boden brannte ihr unter den Füßen. Wie nur den dummen, lieben, -eifersüchtigen Jungen beruhigen, beseitigen? - -„Ich danke dir auch vielmals für das schöne Buch, Harro. Geibels -Gedichte hatt’ ich mir schon lange gewünscht. Wie gut du das getroffen -hast.“ - -Er stand noch immer. - -Da kam ihr ein toller Einfall. - -Sie packte plötzlich den Kopf des Jungen mit beiden Händen und -küßte ihn: „Dank, Harro!“ und noch einmal „Dank! Dank!“ Küßte ihn -auf die zuckenden Lippen. Derb und herzlich. Und dann ließ sie ihn -stehen, rannte zur Tür, rannte durch den Vorgarten, jagte die stille, -menschenleere Straße entlang. Immer vor sich hin lachend. Ein Küßchen -in Ehren ... da hatte sie einen Glücklichen gemacht, recht zum schönen -Weihnachtsfeste. Ein Küßchen in Ehren ... weiß Gott in Ehren, denn -solch Kuß zwischen Vetter und Kusine war ja nicht viel anders als -zwischen Geschwistern ... aber was der Junge für Augen gemacht hatte! - -Das Lachen noch auf den Lippen, die Wangen vom schnellen Lauf in der -kalten Luft gerötet, so kam sie in die Konditorei, nickte dem alten -Fräulein zu, hob den Plüschvorhang -- und wäre fast in ein lautes -Jubeln ausgebrochen. Denn da stand Fred, hatte eine richtige kleine -Weihnachtspyramide vor und zündete die gelben Wachslichterchen an. -Gerade nur zwei Spannen hoch war das Gestellchen, streckte seine acht -gradlinigen grünen Arme steif von sich, vier größere unten, vier -kleinere oben; auf der Spitze aber turnte ein goldenes Engelchen. - -Sie flog auf den Geliebten zu, sie flog ihm an den Hals: - -„Ach du ... du ... das hast du für mich ...?“ - -„Selbst auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Schloß gekauft und -höchsteigenhändig hertransportiert. Gibt’s etwas Lieberes, -Scheußlicheres als solch eine Berliner Pyramide?“ - -Und dann saßen sie nebeneinander auf dem Sofa, und erst mußte er die -Augen zumachen, „aber fest, ganz fest“, und sie baute ihm unter der -Pyramide den kleinen Tabaksbeutel auf, in dessen Perlenstickerei sie -so unzählige gute Wünsche hineingearbeitet hatte. Und darauf hielt -er ihr mit der Linken die Augen zu und kramte aus der Tasche heraus. -Eine Brosche war’s mit gelben geschliffenen Topasen, zierlich in -Goldfiligran gefaßt, ein rotes Juchtentäschchen für Visitenkarten, -ein Fläschchen ~Violet de Parme~. Und nun ging’s ans Sehen und -Bewundern und Bedanken. Mit den kleinen Punschgläsern, die Fräulein -Minna hereingebracht, stießen sie an; ein Schüsselchen mit süßem -geriebenem Mohn stand daneben, dem Berliner Weihnachtsessen; davon -steckte Helene ihm einen Löffel voll in den Mund und wollte sich -totlachen, als er sich entsetzt schüttelte. - -Mit einem Male klang ein Klavier, dünn und fein, aber ganz deutlich. Es -mußte wohl oben, über der Konditorei, beschert werden: „Stille Nacht -... heilige Nacht ...“ - -Und da begann Helene mitzusingen. Ganz leise zuerst. Dann stimmte er -ein, und nun sangen sie beide, laut und voll und jubelnd. - -Sie merkten es gar nicht: der Plüschvorhang hob sich verstohlen, -zwischen den braunen Falten schob sich das alte verrunzelte Gesicht von -Fräulein Minna hindurch. Ganz still stand sie, andachtsvoll lauschend, -mit verklärter Miene. - - „Stille Nacht, heilige Nacht, - Alles schläft, einsam wacht - Nur das traute, hochheilige Paar. - Holder Knabe im lockigen Haar -- - Schlaf in himmlischer Ruh --“ - -Der Gesang verhallte. Sie sahen sich an mit leuchtenden Augen und -wußten beide, daß sie noch nie, nie so schön gesungen hatten, nie -schöner singen würden, als eben. - -Langsam glitten die Falten des braunen Vorhangs wieder zusammen. - -„War das schön! War das schön!“ hauchte Helene. Und er küßte ihr die -Tränen aus den Augen. - -Eine ganze Weile saßen sie still. Die winzigen gelben Wachslichterchen -brannten herunter. Weihnachtsduft zog durch den Raum. Nun erlosch das -letzte Licht -- - -Da stand Helene auf. „Ich muß fort“, sprach sie leise und gepreßt. Es -wurde ihr so schwer, so schwer. - -„Bleib doch noch!“ bat er. „Bleib doch --“ - -Aber sie schüttelte den Kopf, faßte noch einmal seine beiden Hände: -„Dank ... Dank für diese Stunde!“ Noch einmal umarmte sie ihn. - -Draußen an dem Kuchentisch mit den vielen Glasglocken und Flaschen -stand Fräulein Minna. Sie knixte tief, als Helene vorüberkam: „Wie -wunderschön haben die Herrschaften gesungen. Unser Domchor kann’s nicht -schöner.“ - -Sie hörte es nicht. Es war wie ein großer Rückschlag auf all die Freude -und Seligkeit in ihr, eine herzbeklemmende Angst: Harros Augen standen -vor ihrer Seele. Diese hellen Knabenaugen, die sie wie entgeistert -angeschaut hatten. - -Und auf dem kurzen Weg nach Hause überschlich sie noch ein anderes -Gefühl, zum erstenmal: die Scheu vor der Lüge. Bisher hatte die -Heimlichkeit täglich neuen Reiz für sie gehabt, plötzlich, jäh, -erschrak sie vor ihr. Weshalb jetzt, plötzlich -- sie wußte es nicht. -Vielleicht taten auch das die hellen Knabenaugen. - -Die Straße entlang hastete sie, aber als sie in den Vorgarten kam, -wurden ihre Schritte langsamer und langsamer. Noch nie war ihr der Mut -gesunken, jetzt lähmte eine dumpfe Zaghaftigkeit ihr die Glieder. Und -trotzdem wiederholte sie sich immer wieder: ‚es war doch so schön ... -es war doch so schön‘ -- und hätte weinen mögen. - -Der große Tannenbaum war schon erloschen. Tante Oschitz saß ermüdet -in einem Lehnstuhl am Ofen, fragte nur flüchtig: „War’s schön?“ Ganz -seltsam klang das Helene. Sie nickte stumm. Dann sah sie verstohlen -auf Harro. Der saß an seinem Gabentisch, den Kopf ganz tief über ein -Buch gebeugt. Leseratte, die er war. Es wurde Helene leichter ums Herz. -Vielleicht -- vielleicht hatte sie sich doch getäuscht. Er machte -einen so kindlichen Eindruck, wie er dasaß, die Hände an den Schläfen, -die Finger in das dichte blonde Haar gewühlt, versunken in sein -Geschenkbuch. Nicht einmal aufgeblickt hatte er bei ihrem Kommen. - -Dann meldete auch schon der alte Diener, daß angerichtet wäre. Tante -Marianne stand auf: „Kommt Kinder!“ Wie Harro nun den Kopf hob, da -sah Helene die flammende Röte auf seiner Stirn, auf seinen Wangen und -empfand, daß er ihren Blicken auswich. Und als er dann am zierlich -gedeckten kleinen Tisch das Gebet sprechen sollte, wie alle Tage, da -kamen die gewohnten Worte eigen zerstückt von seinen Lippen. Er sprach -wie ein Träumender. So daß die Mutter sagte: „Aber Harro! Was hast du -denn? Es ist ja wirklich, als ob du unseren Herrn Jesu über deinem -neuen Band Grube vergessen könntest. Schäme dich!“ - -Er schrak zusammen. Aber es war wie ein Trotz in ihm. Kein Wort der -Entschuldigung sprach er, setzte sich, steckte sich mit seinen raschen -knabenhaften Bewegungen die Serviette zurecht; immer ohne aufzusehen. -Und die Bierkarpfen, von denen er gestern im voraus geschwärmt, rührte -er kaum an. - -Recht schweigsam verlief das kleine Mahl. Eigentlich sprach nur Tante: -von dem Jubel der Kinder vorhin, von der Freude des Schenkens, von -der Weihe dieses Abends. Nur mit halber Aufmerksamkeit folgte Helene. -Ihre Gedanken wanderten. Aber einmal schrak sie auf, wie aus einem -Traum. Tante Marianne erzählte, daß man im Palais, als sie noch Hofdame -gewesen, neben den Tannenbäumen stets auch eine der alten Berliner -Weihnachtspyramiden gehabt hätte ... „Du hast sicher solch ein Ding -noch nie gesehen, Helene, solch eine Pyramide mit den steifen, gerade -abstehenden Armen ...“ - -Bald nach Tisch brachte der Diener die Leuchter hinein, stellte sie auf -den Tisch an der Tür, die Porzellankästchen mit den Schwefelhölzern -daneben und auf jeden Leuchter die Lichtputzschere. Wie an jedem -Abend. „Der gnädigen Herrschaft wünsche ich gute Nacht“, sagte er -leise, wie immer. Das war wie an jedem Abend das Zeichen zum Aufbruch. -Tante Marianne glitt, langsam und geräuschlos, zu dem Tisch an der -Tür hinüber, zündete umständlich die drei Kerzenstümpfe an. „Gute -Nacht, Kinder.“ Dann küßte sie den Sohn, legte auf einen Augenblick -ihre Rechte in die Helenes, die sich tief über die kühle Matronenhand -neigte. Und wie an jedem Abend stiegen die beiden gemeinsam die Treppe -hinauf. - -Das war sonst oft, fast immer unter halblautem Lachen und Scherzen -geschehen, und manchmal hatten sie, zumal in der ersten Zeit, noch ein -paar Minuten auf der großen Truhe oben im Flur gesessen und geplaudert. - -Heut ging Harro stumm neben Helene her. So stumm -- das Herz wurde ihr -schwer und schwerer. ‚Wenn ich nur erst in meinem Zimmer wäre,‘ dachte -sie beklommen. - -Nun war sie oben. - -„Gute Nacht, Harro“, sagte sie rasch. „Schlaf wohl!“ und reichte ihm -die Hand hin. - -Da griff er, mit einem Ruck des Armes, zu, sah sie zum erstenmal heute -abend an. Mit einem eigenen Blick, nicht mehr versteint, sondern -forschend, vorwurfsvoll. Das Helle, Kindliche schien in den blauen -Augen erloschen, ein dunkles, wissendes Leuchten war darin. Seine -Hand bebte, wie sie so die ihre umfaßte. Um seine Lippen zuckte es. -Plötzlich, ehe sie es hindern konnte, hatte er ihr die Hand geküßt. Sie -fühlte eine schwere Träne auf dem Gelenk. Und dann lief er auch schon, -wortlos, den Flur hinunter, seinem Zimmer zu. - - - - -Siebentes Kapitel - - -Zwischen Weihnacht und Neujahr war Alfred verreist. Er gastierte in -Frankfurt am Main, und seine Abwesenheit dehnte sich bis Anfang Januar -aus, länger, als er Helene gesagt hatte. Es war eine öde, trübe Zeit -für sie, zumal auch Frau Harriers-Wippern Ferien hielt. Die Stunden -schlichen dahin und die Tage, und Helene kam in ein Grübeln hinein, das -ihrem Wesen sonst ganz fremd war. Wie auf Wolken war sie gewandelt in -all den letzten Wochen, wie in einem Rausch. Nun dünkte sie alles um -sie her so nüchtern, so leer, ihr Dasein so schal, als wäre ihm jeder -Inhalt genommen. - -Auch die einsame Insel drückte auf sie, die noch vertiefte Stille -dieser Woche, die Tante Marianne so ganz als weihnachtlich empfand. An -den Festtagen fuhr unweigerlich am frühen Vormittag die Mietkutsche -vor. Tante Oschitz hätte jeden Zwang zum Besuch des Gottesdienstes -verworfen, denn er entsprach so gar nicht ihren Anschauungen; aber -sie sah es als selbstverständlich an, daß Helene und Harro sich ihr -anschlossen. Eine Qual schon allein diese endlose Fahrt, den Vetter -auf dem Rücksitz gegenüber! Das Kapellchen, dem die festliche Weihe -fehlte; die Predigt, deren steten, sanften Druck auf die Tränendrüsen -Helene instinktiv empfand; noch einmal die lange, lange Fahrt, während -derer Tante mit Harro ein immer vergebliches Examen über das, was -der Tränen-Müller soeben verkündet, anstellte. Trotz auf der einen, -Verstimmung auf der andern Seite. Verstimmung, die eigentlich den -ganzen Tag über anhielt, um sich erst gegen Abend in eine schmerzliche -Mutterzärtlichkeit aufzulösen. - -Es war ja gut, daß Harro der Verstimmung wie der Zärtlichkeit auswich --- und anderem. Er war tagsüber fast nie zu Hause, hatte tausend -Ausreden. Oft genug fehlte er sogar bei den Mahlzeiten; bisweilen kam -er erst spät in der Nacht zurück, heimlich, auf verbotenem Wege, mit -falschen Schlüsseln. Vielleicht steckte er auch mit den Dienstboten -im Bunde. Jedenfalls hörte Helene in ihren unruhigen Nächten oft noch -nach Mitternacht seinen leisen Schritt auf dem Korridor. Und es gab ihr -jedesmal einen Stich ins Herz: auch daran war sie schuld. Ganz genau -wußte sie das. - -Einmal, nachmittags, war Tante Marianne zu ihrem Bankier gefahren. -Helene saß unten im Salon. Es dämmerte schon leicht, so daß sie ihr -Buch aus der Hand legen mußte. Ein paar Male ging sie im Zimmer auf -und nieder, setzte sich vor das Instrument, schlug ein paar Akkorde -an. Wie eine halbe Ewigkeit erschienen ihr die Tage, in denen sie -nicht geübt hatte. Sie dachte nach: wann hast du überhaupt zum letzten -Male gesungen? Und da schoß ihr durch den Sinn: ‚Am heiligen Abend! Am -heiligen Abend -- mit ihm!‘ In jener Stunde, in der sie eigentlich zum -letzten Male sich ganz, ganz glücklich gefühlt hatte -- - -So deutlich ... so zum Greifen deutlich stand plötzlich wieder sein -Bild vor ihrer Seele. - -Ob auch er wohl jetzt ihrer gedachte? - -Tiefer sanken die Schatten herab. Fast dunkel war es im Zimmer. - -Ganz leise und sacht fing sie an, gerade so, wie sie beide neulich -- -neulich angefangen hatten. - - „Nur wer die Sehnsucht kennt, - Weiß, was ich leide! - Allein und abgetrennt - Von aller Freude --“ - -Sie wußte nicht, wie das Goethelied ihr ins Gedächtnis gekommen war. -Nur das fühlte sie, daß es so ganz ihrer Stimmung entsprach. Und ihre -Stimme hob sich, schwoll und schwoll -- - - „Ach, der mich liebt und kennt, - Ist in der Weite --“ - -Einmal war es, als ginge eine Tür. Aber sie überhörte es. All ihre -Seele war bei dem Gesang. Wie auf Flügeln trug es sie himmelan, als ob -ihre Kunst das Herz läutere. Dies zuckende Herz -- - - „Nur wer die Sehnsucht kennt, - Weiß, was ich leide!“ - -Ein paar Atemzüge lang saß sie ganz still, die Hände noch auf den -Tasten, mit geschlossenen Augen. Ihr war so wohl und war so weh -- - -Da hörte sie deutlich nebenan, im Arbeitszimmer des Herrn von Oschitz, -ein verhaltenes Schluchzen. Ein einziger kurzer Ton nur war’s. Fast nie -betrat jemand dies düstere, kleine Gemach des Verstorbenen. Und noch -einmal klang’s auf, so daß sie zusammenschauerte. Ein Wehlaut, wie mit -Trotz unterdrückt. - -Fast im gleichen Moment aber sprach jemand nebenan. Des alten Dieners -Stimme: „Die Lampe, junger Herr -- Sie woll’n sich wohl die Augen ganz -verderben.“ Und dann schlug wieder eine Tür heftig zu. - -‚Armer Harro! Lieber armer Junge! Auch dir muß ich weh tun, du dummer -lieber Junge --‘ - -Während des ganzen Abends, die halbe Nacht über wurde sie den Gedanken -an ihn nicht los. - -Diese unruhigen Nächte! - -Da kamen die Gedanken, wanderten, erloschen und stiegen aufs neue -empor. Und die Sehnsucht kam, krallte sich ein, wurde zum zehrenden -Schmerz; wollte sich aufrichten, sich emporranken am Glückserinnern, -wurde herabgezerrt vom zagenden Zweifel. Wie zerborsten, zertrümmert -sah Helene bisweilen den stolzen, schönen Bau der Zukunft vor sich, -den sie so froh, so siegesgewiß aufgerichtet hatten. Hindernisse -auf Hindernisse, an die sie nie gedacht, türmten sich auf dem Wege, -sperrten jede Aussicht. - -Er schrieb so selten, so furchtbar selten für ihre Sehnsucht. Seine -Briefe waren so kurz und karg. Gierig suchte sie zwischen den Zeilen, -was nicht in ihnen stand. Immer nur von +seinen+ Erfolgen, -Triumphen schrieb er, von +seiner+ Arbeit. Manchmal, wenn sie -solch ein Billett mutlos in den Schoß sinken ließ, kam ihr ein -häßlicher Gedanke: er +spricht+ eigentlich auch immer nur von -sich. Aber sie schüttelte solch Empfinden ab wie einen Schmutztropfen. -Sie schämte sich. - -Vor Jahren hatte sie in Rohlbeck einmal Goethes „Wahrheit und Dichtung“ -gelesen. Jetzt ging sie an Harros Bücherschrank, suchte sich den Band -heraus, ließ Frankfurts Straßen und Gassen wieder vor sich aufsteigen, -ging wie im Traum mit dem Geliebten zum alten Römer und in das Haus -am Großen Hirschgraben. Von dem schönen Gretchen las sie, von Goethes -Sekundanerliebe, und dachte an Harro. Dachte dann jäh auch: ‚die -schönen Frankfurterinnen!‘ Es war wie der Blitz einer Eifersucht. Er -traf und schmerzte. Aber gleich bat sie Alfred die Sünde ab -- und -dann lachte sie leise vor sich hin. Wie man so töricht werden kann vor -Sehnsucht. - -Das Lachen erstarb, die Sehnsucht blieb. - -Tante Oschitz kümmerte sich nicht groß um Helene. Das hatte sie nach -einigen Anläufen aufgegeben. In ihr lag es nicht, um Seelen zu kämpfen. -Sie selber hatte sich durchringen müssen. Das mochten andere auch tun, -und es gelang jedem, so Gott es wollte. - -Helene war ihr auch wesensfremd. Sie hatte sie gern, aber nicht mehr; -es gab keine engeren Verbindungsglieder zwischen beiden, als die -Verwandtschaft schlug. Und wenn sie doch einmal, selten, eine Brücke -suchte, so schreckte ihre Herbheit Helene ab, vielleicht gerade weil -diese herbe Art sich meist so eigen mit sanften Worten gab. - -Trotz allem konnte Tante Marianne die Veränderung in Helenens Wesen -nicht entgehen. - -„Du siehst schlecht aus, Kind“, sagte sie eines Tages. „Ich glaube, du -kommst zu wenig an die Luft.“ - -„Ich bin ganz wohl.“ - -Sie saßen sich in der tiefen Fensternische, unten im Salon, gegenüber; -Tante Marianne mit einer ihrer Handarbeiten beschäftigt, die Harro -früher bisweilen respektlos genug mit Penelopes Geweben verglichen -hatte; Helene über ihrem Buch. - -„Man täuscht sich in der Jugend leicht über das eigene Befinden. -Wirklich: dein Aussehen straft deine Versicherung Lügen.“ - -„Ich bin ganz wohl“, wiederholte Helene hartnäckig. - -Tante Oschitz sah schärfer zu und schüttelte den Kopf. „Ich will Harro -sagen, daß ihr morgen einen tüchtigen Spaziergang macht.“ - -„Bitte -- nein, Tante --“ - -Es kam so heftig heraus, daß die alte Dame stutzig wurde. „Habt ihr -euch entzweit, du und Harro?“ fragte sie erstaunt. „Ihr wart doch so -gute Freunde.“ - -„O ja ... o nein! Nur ... ich meine ... Harro hat so vieles andere vor -jetzt. Er braucht auf mich keine Rücksichten zu nehmen.“ - -„Viel zu viel hat der Schlingel vor. Ich bin auch nicht blind.“ Tante -Marianne lächelte -- für ihren Jungen hatte sie im letzten Grunde ihres -Herzens immer Entschuldigungen bereit. „Aber es bleibt dabei. Morgen -treibe ich euch beide aus dem Hause.“ - -Es blieb wirklich dabei. Und es wurde ein qualvoller Spaziergang durch -den verschneiten Tiergarten. Sie rasten im schnellsten Tempo ihren -Gesundheitsmarsch ab. Immer dachte Helene: ‚das sind dieselben Wege, -dieselben Wege, die er und ich gingen.‘ Immer dachte sie dazwischen: -‚der arme Junge, der arme Junge!‘ - -Die Querallee waren sie gegangen, zum Großen Stern, bogen nun wieder -in das Weggewirr ein, das zur Rousseau-Insel zurückführte. Ohne ein -Wort zu sprechen. Manchmal sah Helene scheu auf ihren Begleiter. Er -hatte die Hände tief in die Manteltaschen gesteckt, zur Faust geballt; -der schöngeformte Kopf war auf die Brust gesenkt; auf der Stirn -unter der Pelzmütze lagen dichte Falten; die Lippen hatte er fest -aufeinandergepreßt. - -Plötzlich, mitten in der Einsamkeit, blieb er stehen. - -„Helene --“ sagte er jäh, und dann stockte er wieder. Ganz tief, ganz -alt hatte seine Stimme geklungen. - -Ein Beben überlief sie, eine unbestimmte Angst. Unwillkürlich war auch -sie stehengeblieben und wäre doch am liebsten geflohen. - -Mit einem Male riß er die Fäuste aus den Taschen, die Tränen stiegen -ihm in die Augen. Er faßte nach ihren Händen. Und nun hatte seine -Stimme wieder den rührenden Ton der Jugend: „Liebe Helene, kann ich dir -nicht helfen?“ - -Sie empfand alles, was in seinem Herzen vorging. Durchlebte es mit ihm -in einem Augenblick: seine ehrliche Jungenliebe, -- sein Sehnen -- der -reine, schöne Wunsch, sich selber für sie zu opfern! Wußte, daß auch er -sich einen Altar aufgebaut hatte, auf dem er sein eigenes Herz für sie -in Rauch und Asche verbrennen wollte! Fühlte den heiligen Ernst, der in -ihm glühte! - -Die Angst glitt ab von ihr. Aber weinen hätte sie mögen. Ans Herz hätte -sie ihn nehmen mögen wie einen Bruder. Nein -- mehr war er, als ihr je -ein Bruder gewesen war, je sein würde! - -Lügen konnte sie nicht in diesen Augenblicken. Nicht lügen ... schrie -es in ihr. Nicht einmal leugnen! - -Aber sie konnte auch nicht anders, als den Kopf schütteln. Ernst und -schwer und nun auch mit tränenden Augen. - -„Ich hab dich gestern singen hören“, sprach er weiter. Ganz langsam -kamen die Worte ihm von den Lippen. „Du sangst so wunderbar schön ... -das Beethovensche Lied ... das Harfnerlied. So wunderbar schön, aber es -war, als bräche dir das Herz darüber entzwei.“ - -Sie neigte den Kopf. „Unsagbar wohl hat es mir doch getan“, sagte sie. -Es waren ihre ersten Worte. Und wie sie sich selber sprechen hörte, -kam ihr allmählich das Bewußtsein ihrer Überlegenheit wieder. Der -Überlegenheit, die ihr bei fast gleichen Jahren ihr Geschlecht gab und -ihr Erleben. Gerade nun empfand sie das: wie jung der liebe Harro da -neben ihr war, und auch das andere: wie sie selber in diesen letzten -Monaten gereift war. - -Ihre Überlegenheit kam zurück, und damit ihre Sicherheit. Aber der -innige Wunsch blieb, dies junge Herz zu schonen, ihm gut zu tun, wie -sie nur konnte. - -Sie drückte ihm die Hände. „Ich danke dir, lieber Harro. Ich weiß, wie -gut du es meinst. Ich will dir immer eine treue Freundin bleiben.“ - -Er zuckte zusammen. „Helfen möchte ich dir!“ - -„Wir Menschen können einander wohl nur selten helfen.“ - -„Du sagst, du wolltest meine Freundin sein. Dann mußt du auch Vertrauen -zu mir haben, Helene!“ - -Da war schon wieder der Trotz in seiner Stimme, der rechte -Jungenstrotz. Und das tat ihr wohl. - -Sie antwortete nicht gleich, sie begann auszuschreiten. - -„Es gibt Dinge, Harro, die man auch dem besten, liebsten Freunde nicht -mitteilen darf. Stimmungen gibt es und Kämpfe, die man nur selber -durchringen und überwinden kann.“ - -Er nickte, rasch hintereinander, ein paar Male, als ob er gleich -empfinde. Doch dann trotzte er wieder auf. „Das ist nicht die richtige -Freundschaft!“ - -„Wir wollen’s der Zeit überlassen, Harro.“ - -Sie gingen schneller, und er merkte wohl, daß sie ihm auswich. Jetzt -schwieg auch er. Biß wieder die Zähne aufeinander, stopfte beide Hände, -zur Faust geballt, trotzend in die Manteltaschen, ließ den Kopf tief -hängen, und unter der Pelzkappe zog sich das krause Faltengewirr über -die Stirn. Einmal kam etwas wie ein bitterer Lachton zwischen den -geschlossenen Lippen hervor. - -‚Nun ist er doch wieder ganz der törichte Junge‘, dachte sie. ‚Gottlob! -Töricht und dabei so lieb, so lieb!‘ - -Und da waren sie auch schon dicht an der Tiergartenstraße. Durch die -Bäume schimmerte grau die einsame Insel mit dem roten Ziegeldach -darüber. - -‚Ein gutes Wort mußt du ihm doch noch sagen ...‘ - -Die Hand streckte sie ihm hin. „Schlag ein, Harro! Also auf gute -Freundschaft!“ - -Er sah auf. Ganz dicht standen seine Brauen aneinander. Er zögerte, -rang mit sich. Die Fäuste kämpften in den Manteltaschen: sollen wir -oder sollen wir nicht? Die Oberzähne nagten an der Lippe. - -Plötzlich stieß er heraus: „Ja -- du --!“ Machte kurz kehrte und rannte -in den Tiergarten zurück. -- -- - -Nun aber, nun war Alfred endlich in Berlin. Sie sah ihn wieder, hörte -seine Stimme, hielt seine Hand in der ihren, saß neben ihm in der -lieben, kleinen Konditorei auf dem alten Sofa und bat ihm im geheimen -all ihr Zagen und Sorgen, all ihren Kleinmut ab. Nicht im geheimen nur. -Ganz offen, ganz ehrlich: „Ich war so töricht, Fred ... ich habe mich -so geängstigt ... so hoffnungslos war ich. Ach, Fred, du darfst mich -nicht so lange allein lassen. Ich ertrage das nicht. Die Sehnsucht ist -zu groß.“ - -„Ja, die Sehnsucht! Glaubst du denn, Helene, ich hätte nicht unter -der Sehnsucht gelitten?“ Er legte den Arm um sie, zog sie an sich. -„Aber ich weiß wohl, wir Männer kommen leichter darüber hinweg als -ihr Frauen. Schon durch den Beruf. Was war das wieder für eine -abscheuliche, anstrengende Sache, dieses ganze Gastspiel! Schon allein -die Fahrt bei dieser Kälte. Man ist in Deutschland doch noch um ein -Jahrzehnt zurück oder länger. Gerade daß immer alle fünf Stationen -eine Fußflasche mit heißem Wasser ins Coupé geschoben wird, während -es selbst in Rußland schon ordentlich geheizte Wagen gibt. Ridikül -ist’s. Und der ungemütliche Aufenthalt im Frankfurter Hotel, und diese -jammervollen Theaterverhältnisse in der lobesamen Freien Reichsstadt!“ - -„Warst du am Großen Hirschgraben?“ - -„Wo?“ - -„Am Großen Hirschgraben ... wo der junge Goethe gewohnt hat.“ - -Er lachte. „Ach, du liebe, liebe Närrin. Was ist mir der junge Goethe! -Hat der am Großen Hirschgraben gewohnt? Ich weiß nicht einmal, wo der -liegt. Aber den Tannhäuser hab ich gesungen: das war wenigstens ein -Erfolg, der wohltun konnte.“ Und er erzählte von der Aufführung -- lang -und breit -- - -Sie wußte selbst nicht, warum es ihr weh tat, daß er vom jungen Goethe -nichts wußte, nichts wissen wollte. Es war ja auch ungerecht, daß -sie’s mit einer leisen Bitterkeit empfand, sie gestand es sich ein. -Und ungerechter noch, daß sie nicht mit der gewohnten Aufmerksamkeit -zuhören konnte. Aber sie mußte sich geradezu anstrengen, ihm zu folgen. - -Nicht einmal fragte er: wie ist es dir denn ergangen in diesen langen, -langen Tagen? Freilich, ein Mann hatte eben seinen Beruf, und es war -wohl in der Ordnung, daß er ganz in ihm aufging. Aber weh tat es doch. -Nun -- auch sie würde ja einmal ihren Beruf haben. -- - -Und wonnig, beseligend war es doch schon, ihn wieder zu haben. Seine -Nähe zu fühlen, seine Hand zu halten. Was wollte sie denn mehr: er -liebte sie -- er liebte sie! Er sah ihr in die Augen, tief, tief, er -suchte ihre Lippen -- - -Was wollte sie mehr? Was wollte sie mehr! Nichts -- nichts -- nichts! - -Dann zog er ihr kleines Weihnachtsgeschenk heraus: „Das ist mein treuer -Begleiter gewesen“, sagte er. - -Nun hatte sie ihm längst die Kunst abgelernt, zwischen spitzen Fingern -eine Zigarette zu drehen. Er lachte jedesmal, wenn sie ihm die -hinhielt, daß er sie anfeuchte. „Nein, daß mußt du tun -- schmeckt -besser so!“ Und sie lachte wieder, ließ die Zunge vorsichtig über den -Papierrand gehen. „Jetzt rauche auch du ein paar Züge!“ Das konnte sie -nicht, das lernte sie nicht. Versuchte es, ihm zuliebe, und erstickte -fast. „Kleine Deutsche -- du!“ spöttelte er. „Da waren meine russischen -Freundinnen erfahrener.“ Sie zog ein Gesichtchen. „Aber Lene! ~Tempi -passati!~ Du bist doch nicht eifersüchtig?“ -- „Rasend eifersüchtig -könnte ich sein.“ -- „Ach geh! Das ist ja immer eine Dummheit.“ - -Ein paar Augenblicke sah sie wortlos vor sich hin. Dann schlang sie jäh -die Arme um seinen Hals und küßte, küßte ihn. - -Fast täglich sahen sie sich nun. Aber meist nur wie im Fluge, auf -karge Minuten. Seine Zeit war sehr knapp, er studierte ein paar neue -Rollen, hatte mancherlei gesellige Verpflichtungen. Auch ging er nicht -mehr so gern wie ehedem in die kleine Konditorei; er behauptete, das -gute Kuchenfräulein fiele ihm auf die Nerven und der süße Dunst in -dem winzigen Lokal wäre schier unerträglich jetzt im Winter, wo nie -gelüftet würde. - -„Warum kommst du nicht endlich einmal zu mir? Ich habe dich so oft -gebeten. Nachgerade -- weißt du, Helene -- empfinde ich es fast wie -einen Mangel an Vertrauen.“ - -Ein paar Male sagte er das. Aber sie antwortete nie. Immer straffte -sich dann ihr Nacken, und sie bog den Kopf zurück mit dem ablehnenden, -abwehrenden, eigensinnigen Ausdruck, den er schon kannte. - -Einmal hatten sie sich im Vorzimmer von Frau Harriers-Wippern -verabredet. Er mußte ein wenig warten, die Unterrichtsstunde schien -sich auszudehnen. Als Helene herauskam, sah er, daß sie geweint hatte. -„Nun?“ fragte er. „Was hast du denn?“ - -Erst wollte sie nicht recht mit der Sprache heraus. Endlich gestand -sie, daß Frau Harriers mit ihr nicht mehr so zufrieden wäre wie früher, -ihr leise Vorwürfe gemacht hätte: sie sei nicht aufmerksam genug, übe -auch wohl nicht mehr so fleißig wie ehedem. Es schien Helene sehr -nahegegangen zu sein. - -„Ach -- bah!“ machte er. „Jeder Lehrer muß gelegentlich tadeln. Aber -wenn sie schon recht hat: warum hat denn dein Eifer nachgelassen?“ - -Sie sah ihn an: mußte er sich denn nicht selber sagen, woran das lag? -Daß sie nur an ihn, nur an ihn denken konnte. - -Eine Antwort wartete er nicht ab. „Übrigens, Helene, hab ich dir längst -gesagt, daß die gute Harriers nicht mehr die rechte Lehrerin für -dich ist.“ Er wurde eifriger. „Ich will dir einen Vorschlag machen: -entschließe dich kurz und schnell und fahre zur Viardot!“ - -„Aber du weißt doch, daß das nicht geht.“ - -„Nicht geht? Warum denn nicht? Um des elenden Mammons willen? Ich hab -genug verdient in den letzten Jahren. Ein Wort von dir, und wir sitzen -morgen früh in der Bahn -- wir beide, ganz allein, Helene --“ - -Sie waren aus dem Hause getreten, gingen langsam die Viktoriastraße -hinunter, dem Tiergarten zu. - -„Sei nicht so klein, Helene! Du bist doch Künstlerin. Du willst eines -Künstlers Frau werden. Wir haben das Recht, freier, größer zu denken -als andere Menschen. Wirf endlich einmal dein Philistertum hinter dich. -Helene, Geliebte -- wir beide, allein --“ - -Wieder straffte sich ihr Nacken. Aber dann ließ sie den Kopf sinken. -Glühend heiß stieg es in ihr empor. - -Sein leises Raunen klang so einschmeichelnd in ihr Ohr. „Wenn du mich -wirklich lieb hast, Helene, wirst du ja sagen. Liebe muß Vertrauen -haben, Liebe soll doch auch Opfer bringen können. Opfer? Ich will ja -gar kein Opfer. Laß dir sagen, Helene: wir fahren nicht gleich nach -Baden-Baden. Wir fahren erst nach Helgoland. Nach dem freien Stück -englischen Bodens. In drei Tagen sind wir Mann und Frau. Helene, -Geliebte, so kann es nicht weitergehen.“ - -Ihre Hände krampften sich in der kleinen Muff zusammen. ‚Mann und -Frau!‘ dachte sie. ‚Großer guter Gott, wäre denn das möglich?‘ Ein -unsagbares Glücksempfinden war in ihr und eine herzbeklemmende Angst. -‚Lieber Gott, hab Erbarmen --‘ - -Da sah sie drüben, auf der anderen Seite der Straße, Harro gehen. Er -kam aus der Schule, hatte die schwarze Mappe mit seinen Büchern unter -dem Arm, ging hart an den Vorgärten entlang und spähte mit finsterer -Miene zu ihnen herüber. Sie sah es deutlich: seinen trotzigen Mund und -das Faltengewirr auf der Stirn. - -Mit einem Male rief sie laut: „Harro! Harro!“ - -Es war der Entschluß eines Augenblicks. Ein Entschluß, der über sie -gekommen war, sie wußte selbst nicht wie. Ein Hilfeschrei vor sich -selber vielleicht. Stehen blieb sie, als ob plötzlich Bleilasten an -ihren Füßen hingen. Und kaum hatte sie gerufen, so brach es wie ein -herzzerreißender Jammer über sie herein: ‚Du hast ja Alfred tödlich -beleidigt. Das wird er dir nie verzeihen.‘ - -Der Vetter kam mit hastigen Schritten quer über die Straße. - -Aber nun sah sie nicht mehr hin, nun sah sie nur Alfred. Sah erst -das Schürzen seiner Lippen, dann das Auffunkeln in seinen Augen. -Niederknien hätte sie mögen vor ihm: ‚Vergib mir, vergib! Bis ans Ende -der Welt gehe ich mit dir ... allein mit dir ...‘ - -Plötzlich dachte sie: ‚jetzt schlägt er dich, schlägt dich nieder. Und -auch das wäre Seligkeit ...‘ - -Und dann sah sie plötzlich, wie er sein Gesicht zwang. Ganz ruhig, ein -wenig spöttisch sagte er: „Das ist ja wohl Ihr Herr Vetter, gnädiges -Fräulein? Guten Tag, Herr von Oschitz.“ - -Weiter gingen sie, nun zu dritt. Nein, sie ging nicht, sie schleppte -sich vorwärts. Ketten hingen ihr an den Gliedern, Ketten umschnürten -ihre Seele. Kaum zu atmen vermochte sie. - -Harro sprach kein Wort. Er hatte flüchtig seine Pelzkappe berührt, dann -wieder beide Hände in die Manteltaschen gesteckt, ganz tief und zu -Fäusten geballt. Rechts schritt er neben Helene her, den Kopf im Nacken. - -Aber Alfred sprach. Völlig beherrscht, angeregt sogar, heiter, etwas -überlegen. Daß es doch ein glücklicher Zufall gewesen wäre, wie man -sich bei der Harriers getroffen; vom Winterwetter und der Eisbahn; von -seiner Schulbankzeit und wie erleichtert er aufgeatmet hätte, als er -den Ranzen hinter sich geworfen. - -Bis zur einsamen Insel ging er mit. „Hat mich sehr gefreut, Herr von -Oschitz. Bitte, legen Sie mich der Frau Mama zu Füßen. -- Addio, -gnädiges Fräulein ...“ Und dann noch, ganz flüchtig scheinbar, nur ihr -verständlich: „Ja so ... wir wurden vorher unterbrochen ... vielleicht -überlegen Sie sich doch meinen Vorschlag. Die Viardot ist nun einmal -die erste Lehrerin Europas. ~Au revoir!~“ - -Die eiserne Gartentür flog lautschallend ins Schloß, von Harro -geschleudert. - -Nun noch der kleine Weg durch den Vorgarten. - -Da tat Harro endlich den Mund auf, fragte: „Warum hast du mich gerufen?“ - -Sie hatte die Frage erwartet und erschrak doch vor ihr. Hatte sich die -Antwort zurechtgelegt und brachte sie doch nur mühsam heraus: „Ich ... -sah dich dort ... drüben ...“ - -„So? So! Es war also nur eine Begrüßung, quer über die Straße. Es klang -auch ganz so ... so wie eine Begrüßung.“ - -Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie war so matt, so zerschlagen, -so widerstandslos. - -„Quäl’ mich nicht, Harro!“ bat sie. - -Er war stehengeblieben, sah zu Boden, sah dann wieder sie an. Der Trotz -wich aus seinem Gesicht, aber die Bitterkeit blieb in seiner Stimme: -„Nein, ich will dich nicht quälen. Ich hab dich zu lieb dazu. Ich seh -ja auch, dich ... dich quält anderes genug.“ - -„Es wird schon wieder besser werden. Es ist nur, weißt du -- du hast -doch gewiß auch oft Verdruß in den Stunden.“ - -Sie war eine so schlechte Lügnerin, schämte sich so, daß sie gerade vor -Harro lügen mußte. Das Blut schoß ihr ins Gesicht. - -„In den Stunden also --“ - -„Quäl’ mich nicht, Harro!“ - -Da ging er weiter. Die Haustür glitt ins Schloß, ganz sanft drückte -Harro sie zu. Schweigend schritten sie nebeneinander die breiten -Eichenstufen hinan. Erst vor ihrer Tür, oben im halbdunklen Korridor, -blieb er noch einmal stehen. Tief schöpfte er Atem, es war, als ringe -er mit sich. Dann sprach er dringend, heiß: „Du hast neulich nichts von -mir wissen wollen, Helene. Aber ich muß es dir doch noch einmal sagen, -wie gern ich dir helfen möchte. Wenn ... wenn er nur deiner wert ist -...“ - -Ganz leise hatte er das letzte geflüstert in seiner verhaltenen dunklen -Jungensstimme. Verschämt fast und doch so innig. Sie hörte es mit -geschlossenen Augen, gegen die Wand gelehnt. - -Als sie die Augen öffnete, war Harro fort. Und sie ging in ihr Zimmer -und weinte sich aus. - - * * - * - -Am Nachmittag kam Bruder Wilhelm. Helene wurde heruntergerufen, ließ -aber um Entschuldigung bitten: sie hätte schreckliche Kopfschmerzen. -Die Wahrheit war’s und doch nicht die ganze Wahrheit, sondern eine -Ausrede. Nur niemand sehen, niemand hören wollte sie. - -Da kam aber Wilhelm selbst heraufgepoltert, sah in das dunkle Zimmer, -holte vom Korridor die Lampe: „Aber Lene, was machst du? Tante Marianne -klagte auch, du sähst miserabel aus. Laß doch mal zusehen. Wo fehlt’s -denn?“ - -Die Augen taten ihr weh in dem plötzlichen grellen Licht. Sie hielt die -Hand vor, auch deshalb: wozu brauchte er die Tränenspuren zu sehen! -Ein Lächeln zwang sie heraus, indem sie ihm die Hand gab: „Kopfweh, -Wilhelm, weiter nichts. Morgen ist alles wieder gut.“ - -Der große Optimist war leicht beruhigt, schob die Lampe beiseite, -setzte sich: „Na ja, so leicht sind wir Hackentiner nicht -unterzukriegen. Ja ... und ich möcht dir doch noch Prost Neujahr sagen. -Eine ganze Hucke Grüße und Wünsche bring ich dir aus unserm lieben -alten Rohlbeck mit.“ - -„Ach ... Rohlbeck ... ja, unser altes liebes Rohlbeck ...“ Wie sie das -sagte, hatte sie eine ganz unbestimmte Empfindung: dies Rohlbeck mußte -weit, weit abliegen. Unermeßlich weit. - -Wilhelm machte sich’s behaglich und begann zu erzählen. Natürlich -zuerst von Martha und seinen Schlingels; mit dem üblichen kleinen -Seufzer: ja, wer es so gut hätte und immer bei ihnen sein könnte. Von -Vater und Mutter dann und von ganz Rohlbeck, mit dem alten Heckstein -an der Spitze, der am ersten Feiertag prächtig gepredigt, aber am -zweiten dafür wieder mal einen uralten Bock abgeschlachtet hätte -- -„na, freilich hatten wir am Abend bis Glock eins Whist gedroschen.“ Vom -Weihnachtsfest erzählte Wilhelm: wie sie alle in der großen Stube um -den Christbaum gestanden hätten. Vater hätte gemeint: „Sehr schön, sehr -schön, das heißt, schöner wär’s, wenn die Lene hier wäre“, und Mutter -hatte etwas wie Tränen in der Stimme gehabt. Mutter wurde recht alt. - -Anfangs hörte Helene nur mit halbem Ohr zu. Aber allmählich, mehr und -mehr, gewannen die lieben Gestalten, von denen Wilhelm sprach, doch -Leben vor ihrer Seele. Gerade, weil die so matt und flügellahm war. Ihr -war’s, als wehte der Duft der großen Kiefer, um die sie alle gestanden, -noch heut zu ihr; der großen Kiefer, die Vater in jedem Jahr mit dem -Großknecht selber im Walde aussuchen ging. Etwas wie leises, leises -Heimweh überkam sie; jetzt, plötzlich, nachdem sie so lange fast gar -nicht an die Heimat gedacht hatte. - -Ganz anders klang es wie vorhin, als sie nun noch einmal sagte: „Ja ... -ja, unser liebes altes Rohlbeck!“ - -Sie schwiegen ein Weilchen. Dann fragte er, wie sie über das Fest -fortgekommen wäre. „Pläsierlich wird’s ja nicht gewesen sein, taxier -ich. So mit Tante Oschitz ... ich kenn das. Du hättest doch lieber -mitkommen sollen, Lene. Na, übrigens, Vater wird ja jedenfalls zum 3. -Februar herkommen.“ - -„Vater -- herkommen?“ - -„Ihr lebt aber hier, scheint’s, wirklich auf der berühmten einsamen -Insel. Lest ihr denn keine Zeitungen? Zum großen Veteranenfest! -Kinder, seid ihr komisch. Zur Enthüllung des Denkmals des -hochseligen Königs sollen doch möglichst all die alten Krieger von -Achtzehnhundertdreizehn, aus den Freiheitskriegen, nach Berlin kommen. -Hast du denn nicht einmal vom König gelesen, wie er das Programm -abgeändert hat? Da hatten die Hofschranzen fein säuberlich geschrieben: -‚Alle Krüppel werden dem Veteranenzuge in Wagen aus dem königlichen -Marstall folgen.‘ Dick streicht’s unser allergnädigster Herr aus und -schreibt eigenhändig dafür hin: ‚Diejenigen, welche infolge ihrer bei -der Landesverteidigung erhaltenen ehrenvollen Wunden gelähmt sind ...‘ -und so weiter. Fein, nicht wahr? Und schön! Ja, also, ich denk’, Vater -wird bestimmt kommen.“ - -Helene schwieg. In ihr arbeitete es: Vater würde kommen, und Vaters -Jägeraugen waren scharf. Er las gewiß in ihrem Gesicht, was sie -erlebt. Und wenn er dann fragte! War’s doch überhaupt wie ein Wunder, -daß bisher alle blind gewesen waren -- bis auf das eine Paar heller -Jungensaugen! Wenn Vater kam und sie ansah und fragte -- -- -- - -„Gerade redselig bist du nicht, Lene.“ - -„Wilhelm, mein armer Kopf.“ - -„Ja so ...“ und er erzählte weiter. Von den Rackowern, die diesmal -den Winter daheim bleiben wollten. Sie müßten sparen, hatte der dicke -Ernst gesagt. „Na, Lene, die Rackowschen und sparen! Schaden könnt’s -ja nicht, denn man munkelt, Ernst sitze bei Ephraim Hirsch feste in -der Kreide. Aber die und sparen. Tante Marie hat zu Weihnachten einen -Kaschmirschal geschenkt bekommen, der seine tausend Taler unter Brüdern -kostet.“ Übrigens hätten sie sehr nach Helene gefragt. - -„Wann bist du denn zurückgekommen?“ Sie sagte es eigentlich nur, um -etwas zu sagen. - -„Gestern nachmittag. Ich wär schon gestern zu dir gekommen, aber meine -englischen Freunde hatten mich auf acht Uhr zu Ewest eingeladen. Da -traf ich übrigens auch den Russen, wie du ihn ja wohl immer nanntest, -Herrn Schwarz. In einer höchst fidelen Gesellschaft.“ - -Ganz weit lehnte sie sich zurück und deckte die Hand noch fester über -die Augen. - -„Theatervölkchen, weißt du. Wir haben noch ein paar Flaschen Cliquot -zusammen getrunken. Meinen Engländern machte das einen Heidenspaß. Der -eine, Mister Forster, hätte am liebsten angebändelt. Es war da eine -bildschöne Person darunter, aus Frankfurt, die gefiel dem edlen Briten -über die Maßen -- doch die war in festen Händen. Aber was red’ ich da -... das ist ja nichts für Mädchenohren.“ - -Er schämte sich ein wenig und lachte verlegen. Sah nicht, wie die -Schwester ganz hintenübersank, wie sie sich dann wieder aufrichtete, -starr und steif. Hörte nicht, wie ihre Brust sich hob, ihr Atem -schneller ging und immer schneller. - -Er sah und hörte nichts. Er sprach schon wieder von Rohlbeck. Es ging -so doch nicht mehr lange mit dem ewigen Hin- und Herkutschieren. Wenn -endlich die Konzession für die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen -hinaus wäre -- und er hätte sie sicher in der Tasche, und das gäbe -einen ordentlichen Batzen Geld --, dann müßten sie ganz nach Berlin -ziehen. Schon der Jungens wegen, damit die in eine ordentliche Schule -kämen. - -„Na, Lene, und nun Gott befohlen. Soll ich die Lampe mit herausnehmen? -Bist wohl lieber im Dunkeln? Ja, solche verdeubelten Kopfschmerzen. -Kenn’ ich, hab ich auch manchmal; wenn auch von anderer Art. Adieu, -Lene, gib mir die Hand. Donnerwetter, was hast du für eiskalte Hände. -Soll ich dir ’n Doktor schicken? Gute Besserung liebe Lene --“ - -Nun war er endlich gegangen. - -Helene hatte ihr Taschentuch herausgezerrt und biß auf das Leinen. -Sonst hätte sie aufschreien müssen. Aufschreien, daß es durch das ganze -Haus gellte. - -Ihm nachschreien: das ist gelogen! Wie kannst du es wagen, vor meinen -Ohren Alfred so zu verleumden! Weißt du denn nicht, daß er mich liebt? -Mich -- nur mich! - -Gelogen! Gelogen! Gelogen! - -Immer wieder sprach sie es in Gedanken vor sich hin. Es tat ihr -körperlich weh, es war, als ob das Wort jedesmal einer spitzen Nadel -gleich ihr ins Gehirn stoße. Aber sie wiederholte, wiederholte: gelogen --- gelogen -- gelogen -- - -Eine Stunde wohl saß sie so, ohne sich zu rühren. Ohne einen einzigen -anderen Gedanken fassen zu können. Nur, daß ihr wohl ein Wort durch -den Sinn schoß, das er neulich gesprochen hatte, lachend: „Du bist -doch nicht eifersüchtig?“ Aber es war nur wie eine unklare Erinnerung. -Eifersüchtig?! Wie sollte sie eifersüchtig sein? Es war doch alles -gelogen -- gelogen -- gelogen -- - -Einmal steckte Tante Oschitz den Kopf durch die Türspalt: „Immer noch -Kopfschmerzen? Armes Kind! Mach dir doch einen ordentlichen Umschlag -von Eau de Cologne.“ - -„Ja, liebe Tante.“ - -„Ich muß zu Madame Sandern. Willst du das Abendbrot auf dein Zimmer?“ - -„Wie du befiehlst, liebe Tante.“ - -O Gott, daß auch diese sanfte Stimme schmerzen konnte. - -„Soll dir das Mädchen die Lampe bringen?“ - -„Bitte nein, liebe Tante.“ - -„Recht gute Besserung, Kind. Ich stelle dir unten das Akonit hin. Zehn -Tropfen, hörst du.“ - -„Ja, liebe Tante.“ - -Langsam schloß sich die Tür wieder. Tante Marianne hatte so -geräuschlose Sohlen. Aber heut hörte Helene jeden, jeden ihrer Schritte -auf der Treppe, bis zur letzten Stufe, und jeder dieser sanften -schleifenden Tritte schmerzte. - -Wieder saß sie im tiefen Dunkel. Saß regungslos. Und dachte immer -wieder: gelogen -- gelogen -- gelogen -- - -Und dachte nun doch zurück an den heutigen Vormittag. Gerade weil -sie ja wußte, was der Bruder da leichthin geredet hatte, war gelogen. -Selbstverständlich gelogen. Alfred, der ihr heute -- heute -- ins Ohr -geflüstert hatte: „Mann und Frau“ ... „wir allein, ganz allein“: Alfred -sollte gestern abend ... - -... sollte überhaupt! Ach, diese schlechten, schlechten Menschen! - -Lachen müßte man -- wenn man nur könnte -- - -Aber sie selber: sie selber war auch schlecht gewesen. Denn schlecht -war es, daß sie kein volles Vertrauen zu ihm fassen konnte. Wie kam -das überhaupt? Wenn man jemand liebt, muß man volles Vertrauen haben. -Unbedingtes, grenzenloses Vertrauen. Muß Opfer bringen können. Ja, -hätte sie denn nicht für ihn sterben mögen ... sterben mit tausend -Freuden! - -Sie aber ... sie hatte nach Harro gerufen. Wie um Hilfe. Nach dem -dummen Jungen, der seines Weges kam, schlendernd, mit der Mappe -unter dem Arm. Die Fäuste in den Manteltaschen. In den Augen dieses -argwöhnische Überwachen. Was fiel dem Jungen ein! - -Mit Verachtung hätte Alfred sie strafen müssen. Aber er war der -Großmütigere gewesen, der Überlegene, der Verzeihende. - -Und immer -- immer war sie klein gewesen, klein und kleinlich ... - -Und nun gar eifersüchtig. Nein, nein! Das nicht! Es war ja alles -erlogen -- erlogen -- erlogen -- - -Wieder saß sie eine Weile ganz still, regungslos. - -Dann sprang sie plötzlich jäh auf. Sie tastete im Dunkeln nach ihrem -Schrank, riß ihren Mantel heraus und den Pelzhut. Alles im Dunkeln, -ohne zu wählen; warf den Mantel um. Mit hastenden, unsicheren Händen. -Der Hut wollte und wollte nicht sitzen. Ihr Haar hatte sich wohl -gelockert. Sie griff hinein, preßte es gewaltsam unter die Hutform, -schürzte die Bänder unter dem Kinn. - -Aber als sie die Türklinke in der Hand hatte, wandte sie sich noch -einmal um. Nun brauchte sie doch Licht. Strich das Schwefelholz an, -entzündete die Kerze, kniete vor der Kommode nieder. Da lag, ganz unten -versteckt, die Brosche mit den Topasen. Die mußte sie doch anstecken -- -heute. - -Das ging nur vor dem Spiegel. ‚Mein Gott, wie siehst du aus!‘ dachte -sie erschrocken. Auf einen Augenblick kam ihr die Besinnung zurück. -Soweit wenigstens, daß sie sich das Haar glatt strich. ‚Nein, häßlich -darf er dich nicht finden.‘ So weit wenigstens, daß sie die Knöpfe des -Mantels richtig schloß, den Hut gerade rückte. - -Die Topasen schimmerten und glänzten, wie sie so bei dem matten Schein -der Kerze die Brosche vor sich hin hielt. Ein leises Lächeln huschte -über ihr Gesicht. Darüber wird er sich gewiß freuen, daß du die -angesteckt hast. Heute -- - -Nun war sie fertig, war ruhig. Wirklich, glaubte sie, ‚ich bin nun ganz -ruhig‘. Es war ja nur der Entschluß, der so schwer war. - -Sie löschte die Kerze. Sie huschte die Treppe herunter und über den -Flur. Leise, vorsichtig, öffnete sie die Haustür. An Harros scharfe -Ohren dachte sie dabei. Leise, vorsichtig drückte sie die Tür wieder -zu. Es war doch ein Glücksfall, daß Tante Oschitz gerade heut abend aus -war. Bei der alten Madame Sandern. Da saßen sie jetzt und strickten -Missionsstrümpfe. Komisch eigentlich: um die Neger da hinten, da unten -in Afrika sorgte sich Tante Oschitz. - -Draußen war es schneidend kalt. Aber die Kälte tat Helene wohl. Sie -atmete tief auf. Der Kopfschmerz war verschwunden. Wie fortgezaubert. -Durch die Kälte vielleicht, durch den Entschluß vielleicht. Durch einen -großen, guten Entschluß! Der das Herz so leicht macht und so froh. - -Schnellen Schrittes ging sie die Tiergartenstraße entlang, dann durch -die Lennéstraße. Es war sehr leer auf den Straßen bei der starken -Kälte. Im Rauhreif standen links die Bäume des Tiergartens, winkten -rechts die des Radziwillparks über die alte Stadtmauer. Sogar auf dem -Pariser Platz war es still. Der Posten an der Brandenburger Torwache -lief in schwerem Mantel hinter dem Gitter herum, um sich warm zu -halten. ‚Das ist der Weg, den wir am ersten Tage in Berlin gegangen -sind‘, dachte Helene. ‚Und nun gehe ich zu ihm -- zu ihm!‘ - -Das kurze Stück Unter den Linden, die Wilhelmstraße. ‚Ja, zu ihm! -Was er wohl für Augen machen wird? ‚Du, Helene?!‘ Ans Herz wird er -mich nehmen, und ich will ihm abbitten, alle meine Zweifel, all meine -häßlichen kleinen, kleinlichen Gedanken.‘ - -Jetzt kam die lange Behrenstraße. Ganz am Ende wohnte er, fast -gegenüber dem Opernhause. Oft genug war sie ja vorübergegangen, hatte -zu seinen Fenstern emporgesehen mit pochendem, sehnsüchtigem Herzen. - -Plötzlich kam ihr der Gedanke: wenn er nun nicht zu Hause ist? Aber das -war ja unmöglich. Er +mußte+ zu Hause sein, heute: das wollte das -Schicksal. - -Sie war sehr schnell gegangen, zuletzt fast gelaufen. - -Nun, plötzlich, als sie auf der anderen Straßenseite die erleuchteten -Fenster des Ewestschen Restaurants sah, stockte ihr der Atem. Dort -also hatte er gesessen, in lustiger Gesellschaft, gestern abend -- -in solcher Gesellschaft. Was hatte Wilhelm erzählt? Doch das war ja -gelogen -- gelogen -- gelogen -- - -Sie wiederholte es sich immer wieder, immer eindringlicher. Aber das -würgende Gefühl in der Brust wurde sie nicht los, die atembeklemmende -Enge. Mühsam nur kam sie vorwärts, und jetzt erst fühlte sie die -schneidende Kälte, den scharfen Wind, der die Straße entlang jagte, ihr -gerade ins Gesicht. Sie schauerte zusammen. An der Rückfront des Palais -mußte sie einen Augenblick stehen bleiben. Und da schoß ihr plötzlich -der Gedanke durch den Sinn: ‚Hier wohnt der alte König, und Vater kommt -als sein Gast. Vater!‘ - -‚Vater --‘ - -‚Was Vater wohl dazu sagen würde, wenn er dich hier fände, auf diesem -Wege?!‘ - -Sooft hatte er ihr den Nacken gesteift, hatte sie den Kopf zurückwerfen -lassen, der Hackentinsche Stolz. Halb unbewußt beides: Familienstolz -und Mädchenstolz. Heut hatte sie das beides weit hinter sich geworfen. -Aber nun war’s doch, als hörte sie Vaters Stimme: „Mädel, wo hast du -deinen Stolz?“ - -Sie biß die Zähne aufeinander, stand noch einen Moment mit -geschlossenen Augen. ‚Mein Stolz? Ja, mein Stolz! Was ist mein Stolz -gegen meine Liebe!‘ Und weiter ging sie, an den kümmerlichen Büschen -des Opernplatzes entlang, jetzt schon seine Fenster suchend. - -Die Fenster waren dunkel. Er war nicht daheim. - -Aber er mußte ja zu Hause sein. Er hatte gewiß auch ein Zimmer nach dem -Hofe hinaus. - -Wieder stand sie ein paar Minuten, nach den Fenstern dort drüben -hinüberspähend, als ob im nächsten Augenblick hinter den Rouleaus ein -Lichtschein aufflammen müßte. - -Dann wollte sie über die Straße. Sie mußte ja doch über die Straße. In -dies Haus drüben, die zwei Treppen hinauf. Sie +mußte+ ja doch ... - -Aber es war wie eine Lähmung in ihr. Die Füße wollten sie nicht -hinübertragen. Der Mädchenstolz, der Hackentinsche Stolz war mit einem -Male wieder da: Helene Hackentin geht in später Abendstunde zu ihrem -Geliebten! - -Als ob ihr das jemand ins Ohr raunte. Wie häßlich das war, wie gemein -das klang! - -Dabei wiederholte sie schwer, langsam die Worte. Triumphierend wollte -sie es sich selber zurufen: ‚Ja doch! Ja doch! Gerade das: zu ihrem -Geliebten!‘ Aber es ging nicht, der häßliche Klang blieb und blieb. - -Einmal sah sie sich wirr um. War es denn überhaupt schon so spät? Sie -hatte keine Uhr befragt. Die Straße, der Platz waren menschenleer; -doch die Häuser waren noch nicht geschlossen; das Opernhaus war noch -erleuchtet. Aber das tat ja alles gar nichts, bedeutete ja gar nichts. -Und wenn es zur Mitternachtsstunde gewesen wäre -- - -Ganz menschenleer war die Straße. - -Plötzlich hörte sie Stimmen. Und sie sah drüben, dicht an den Häusern -entlang, ein Paar gehen. Einen Mann und eine Frau, Arm in Arm -- - -... Alfred ... - -Starr aufgerichtet stand sie, starr, wie versteint. Ihre Augen spähten -durch die Dunkelheit. Nun traten die beiden in den kümmerlichen -Lichtkreis der nächsten Laterne. Nun klangen noch einmal ihre Stimmen -herüber, ein Scherzwort, ein kurzes Auflachen. Jetzt waren sie drüben -am Hause, stiegen die paar Stufen zur Tür hinauf. Die Tür knarrte, ging -auf, schloß sich wieder hinter den beiden. - -Starr aufgerichtet stand Helene, starr, wie versteint. Den Kopf weit -vorgestreckt, die Augen auf die Tür gerichtet, hinter der die beiden -verschwunden waren: Alfred ... und die Frau! Jetzt hatten sie wohl die -zweite Treppe erreicht, jetzt standen sie vor seiner Wohnung, jetzt zog -er den Schlüssel aus der Tasche. - -Mit einem Male flammte es hinter den Rouleaus auf. In einem dämmrigen -Schein, wie wenn jemand ein Schwefelholz entzündet. Ein leuchtender -Punkt zuerst, dann das ganze Fenster füllend, daß ein breiter -Lichtstreif durch die blaue Stoffgardine auf die Straße hinaus fiel. -Und hinter dem blauen Vorhang silhouettenhaft, scharf umrissen, zwei -Gestalten -- - -Noch immer stand Helene starr aufgerichtet, wie zu Stein erstarrt, mit -weit vorgestrecktem Kopf, die schmerzenden Augen nach drüben gerichtet, -die Hände gegen die keuchende Brust gepreßt. Noch immer konnte sie das -Unfaßbare nicht begreifen. Aber es bohrte sich ihr wie mit tausend -spitzen Nadeln ins Hirn, es schnürte ihr den Atem ein, es legte sich -mit Zentnerlasten auf sie: das Unfaßbare, das Unbegreifbare, das -Fürchterliche ... die Erkenntnis! - -Dann kam endlich ein einzelner Ton des Jammers aus ihrer Brust, ein -einziger Wehlaut nur. Die Starrheit wich. Sie schlug die Hände vor das -Gesicht. Und dann rannte sie quer durch die kümmerlichen Büsche des -öden Platzes, als ob sie dem Entsetzen entfliehen wollte, das noch mit -ihr ging und das sie nie, nie verlassen konnte. - -Sie jagte über den Platz, als ob sie gehetzt würde, als ob der Schimpf -und die Schande hinter ihr drein wären. - -Mit einem Male aber waren ihre Kräfte am Ende. Auf die ungeheure -seelische Anspannung folgte jäh der Rückschlag. Sie taumelte, raffte -sich noch einmal auf. Stand, sah sich wirr um, tat noch ein paar -mühsame Schritte vorwärts -- - -Da fühlte sie eine sanfte, starke Hand an ihrem Arm. Hörte eine Stimme: -„Liebe Helene ... ich bin’s ... ich, Harro! Komm ... erlaube, daß ich -dich stütze ... liebe Helene ...“ - -Klar bewußt wurde ihr all das nicht. Aber in ihrer ohnmächtigen -Hilflosigkeit empfand sie die hilfreiche Hand, empfand sie den -zärtlichen, mitleidsvollen Ton der Stimme. Sie lehnte sich auf den Arm, -ließ sich willenlos halten und stützen. Wie von fern her hörte sie -wieder: „Nicht durch die vielen Menschen, Helene, nicht wahr? Die Oper -ist eben aus. Drüben bekommen wir gewiß einen Wagen.“ - -Er führte sie, langsam, sorglich, wie man eine Kranke führt. Hob sie in -die Droschke, setzte sich still neben sie, fragte nicht, hielt nur ihre -Hand mit einem weichen, gleichmäßigen Druck. - -Ganz zusammengesunken saß sie in ihrer Ecke. Manchmal ging ein Schauern -über sie hin, sie zuckte zusammen wie in einem schrecklichen Traum, -schluchzte weh auf. Manchmal faßte ihre freie Hand nach dem Halse, als -suchte sie etwas, das sie einengte, ihr den Odem abschnürte. - -Die Droschke trottete und trottete über das Pflaster. Es tat so weh, so -weh ... - -Einmal fuhr Helene auf, rief wie erwachend, fast feindselig: „Wohin -bringst du mich!“ - -Da war wieder die liebe, zärtliche, mitleidsvolle Stimme: „Ängstige -dich nicht, Helene ... nach Hause ...“ Ganz seltsam klang die Stimme, -so ruhig, so zuversichtlich. War das wirklich Harros Stimme, war das -Harros Hand, die die ihre hielt? Merkwürdig ... Harros Hand ... und tat -so wohl ... - -Wieder kauerte sie sich zusammen, ganz tief in ihre Ecke. Schreckte von -neuem auf: „Wo kommst du denn her?“ - -„So laß doch, Helene. Ich kam ganz zufällig über den Opernplatz.“ - -Ob er wohl log? Gewiß log er. Das fühlte sie. Aber weiter konnte sie -nicht denken. Nur daß er gut zu ihr war, wußte sie. - -Weiter und weiter rasselte der Wagen, immer im gleichmäßigen langsamen -Trotteltrab. Jeden Hufschlag empfand sie. Es klang fast wie: ‚Wie soll -das nun werden? Wie ... soll ... das ... nun ... werden?‘ Aber auch dem -konnte sie nicht nachdenken. Es war alles so verworren, so unklar. Nur -ein großer, großer Schmerz war da. - -Endlich hielt der Wagen. - -„Mama ist nicht zu Hause. Johann auch nicht, nur Luise“, hörte sie -wieder. „Ich bring dich hinauf. So ... komm ... gib mir deine Hand.“ - -Das war also doch Harro. Wie verständig der Harro war! Der Junge! - -Und dann lag sie auf dem Sofa oben in ihrem Zimmer. Die Lampe brannte, -aber Harro hatte den Schirm vorgezogen, das Licht blendete nicht. Es -war schön warm; draußen war es doch eisig kalt gewesen. Und die alte -Luise war da, brachte heißen Tee, zog ihr die Stiefel aus, rieb ihr die -Füße. Und als sie gegangen, kam Harro noch einmal herein, setzte sich -zu ihr, streichelte ihr die Hand. - -Was war denn das? - -Der große Junge hatte ja dicke Tränen in den Wimpern. - -Sie sah ihn an, richtete sich mühsam hoch, sah ihn wieder an, mit -erwachenden Augen. Sank zurück, schlug die Hände vor das Gesicht und -schluchzte -- schluchzte bitterlich. - -Mit einem Male stand nun alles wieder vor ihrer Seele -- durchlebte sie -all ihr Unglück noch einmal, rang mit der Verzweiflung, bäumte sich -auf, brach völlig zusammen. Nun hörte sie nicht mehr, was Harro ihr -zusprach, fühlte nicht mehr den leisen, mitleidsvollen Druck seiner -Hand. Fühlte nur eins: es ist aus und zu Ende ... dein Glück liegt in -Trümmern und Scherben ... - -Eine endlose, endlose Nacht. - -Tante Marianne war gekommen, aufs heftigste erschrocken. „Wir hatten -noch einen Spaziergang gemacht, Helene und ich“, hatte Harro erklärt. -„Da ist sie plötzlich ohnmächtig geworden. Sie war ja schon in den -letzten Tagen nicht wohl. Erinnere dich nur, Mama.“ - -Der Arzt wurde gerufen, Tante brachte Helene zu Bett. Willenlos ließ -sie alles mit sich geschehen, sprach nicht, lag mit geschlossenen -Augen. Der Medizinalrat machte ein bedenkliches Gesicht -- „Ein -Nervenfieber im Anzug“ -- verschrieb ein Rezept, wollte am nächsten -Morgen wiederkommen. - -Nicht von Helenens Bett wich die Tante. Ein paar Male kam Harro auf den -Fußspitzen, öffnete eine Türspalte, schlich wieder zurück. Die Medizin -wurde gebracht. „Du mußt einnehmen, liebes Kind!“ Gehorsam richtete -sich Helene auf. „Du bist so gut zu mir, liebe Tante --“ sank wieder -zurück, lag mit geschlossenen Augen, endlose, endlose Stunden. Manchmal -dachte Tante Marianne: es scheint doch, sie schläft. Aber dann sah -sie wieder, wie die Hände auf der Bettdecke leise hin und her gingen, -immer, als suchten sie nach etwas Verlorenem. Wie bei einer Fiebernden, -und doch war der Puls ganz regelmäßig und die Stirn eher kühl als heiß. - -Als der Morgen dämmerte, wurden die Hände ruhiger. Manchmal bewegte -Helene die Lippen, als wollte sie etwas sagen oder als spräche sie -mit sich selber. Tante Marianne sah das alles, sah auch, wie sich -zwischen den Brauen ein paar Fältchen eingruben. Wie bei Harro, dachte -sie; es muß doch etwas wie eine Familienähnlichkeit sein. Es schien -nun wirklich, als schliefe Helene fest. Auch ihre Lippen waren jetzt -ruhig, seltsam zusammengepreßt nur, ganz schmal und blutlos. - -Durch die tiefen Fensternischen brach das Tageslicht. Ein erster -schmaler Sonnenstrahl legte sich quer über die Bettdecke. Tante -Marianne wollte aufstehen, den Vorhang zuziehen. Da schlug Helene die -Augen auf. Sie haschte nach der Hand der Tante und sagte matt, aber -ganz klar: „Daß ich dir soviel Mühe mache, Tante.“ Sie zog die Hand an -ihre Lippen. „Ich werde euch allen das nie danken können. Ich bin wohl -überhaupt eine recht undankbare Kreatur.“ - -Tante Marianne war sehr glücklich. Wer so sprach, konnte nicht -ernstlich krank sein! In aufwallender Herzlichkeit beugte sie sich über -die Nichte, küßte sie: „Du liebes böses Kind! Wir haben uns wirklich -geängstigt. Was für Geschichten machst du nur!“ - -In Helenes Augen lag immer noch etwas Starres. „Ja ... was für -Geschichten ...“ sagte sie langsam. Und dann gleich: „Aber ängstigen -braucht ihr euch nicht. Es muß wie ein plötzlicher Anfall gewesen sein. -Jetzt bin ich ganz wohl. Und du hast die ganze Nacht hier gewacht. Ich -schäme mich, Tante ...“ - -„Aber, Helene! Und ganz wohl: das glaube nur nicht. Da müssen wir erst -den Doktor hören.“ - -Helene saß aufrecht in ihrem Bett. Sie fühlte, daß ihr Haar sich gelöst -hatte, griff nach der einen schweren Flechte, die ihr wie ein Goldband -über der Brust hing. Ein flüchtiges Rot ging über ihre Wangen, während -sie die hochsteckte. „Ganz wohl? Ganz gesund hätte ich sagen sollen“, -sprach sie wieder in ihrem schweren fremden Tonfall. - -„Aber Kind, das ist doch dasselbe --“ - -Sie antwortete nicht, ließ sich zurückfallen, schloß die Augen, sah -wieder auf. Etwas unsicher und zaghaft. Griff von neuem nach der Hand -der Tante, sagte langsam, als ob ihr doch jedes Wort schwer fiel: -„Liebe Tante ... ich habe eine sehr große Bitte ... ich möchte so -schnell als möglich nach Hause ... nach Rohlbeck ...“ - -Dabei blieb sie. Immer wiederholte sie es. Der Tante, dem Arzt, auch -Wilhelm gegenüber, der gerufen worden war. - -Sie schien auch wirklich ganz gesund. Der Medizinalrat machte zwar -einige Einwendungen, sprach dann von einem Nervenchock, gab jedoch zu, -daß sie durchaus reisefähig wäre. So gab man ihrem Wunsche schließlich -nach. Tante Marianne war vielleicht ein wenig pikiert über die Hast, -mit der Helene ihre kleinen Vorbereitungen traf; sie schüttelte den -Kopf, konnte sich in den plötzlichen Entschluß nicht hineindenken; die -offenbare Veränderung im Wesen der Nichte verwirrte, versöhnte sie aber -auch einigermaßen. Eine fremde, stille Schweigsamkeit war in Helene, -eine fast wortlose, aber innige Dankbarkeit sprach aus ihr. - -Wilhelm wollte die Schwester am nächsten Tage wenigstens bis Frankfurt -bringen. Am Abend kam er noch einmal, um sich als unabkömmlich zu -entschuldigen. Nun sollte Harro für ihn einspringen. Ob er wohl die -Klasse auf einen Tag ohne Schaden versäumen könnte? Er wurde rot, dann -erklärte er sein „Selbstverständlich“. Tante Marianne ging hinauf, um -Helene Mitteilung zu machen. Sie kniete vor ihrem Köfferchen, sah auf -wie erschrocken, sagte dann hastig: „Aber ich kann doch wahrhaftig -allein reisen!“ Als die Tante ihr zusprach: „zu unserer Beruhigung, -Kind! Wenigstens, daß wir wissen, du bist gut in der Post untergekommen ---“ senkte sie den Kopf. Es war also abgemacht. - -In ganz früher Morgenstunde mußte sie aus dem Hause, denn -der Zug ging schon um acht Uhr, und man gebrauchte bis zum -Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof fast eine Stunde. - -So elend und übernächtigt sah sie aus, als sie herunterkam, daß -die Tante erschrak. Aber Helene schien ganz ruhig. Sie sagte jedem -einzelnen Dienstboten Lebewohl; dann umarmte sie die Tante, dankte ihr -noch einmal. - -„Liebes Kind, du kommst ja bald wieder. Nimm’s nicht so feierlich.“ - -„Wenn ich wirklich wiederkomme --“ - -„Aber, Helene!“ - -Sie stand einen Moment mit hängendem Kopf, wie tief in Gedanken -versunken, griff dann nach der Hand der Tante, zog sie an die Lippen. -Es war wie eine Abbitte. Und sie sagte auch wirklich nach einer kleinen -Pause: „Verzeih mir, Tante Marianne. Ich hätte wohl manchmal anders -sein können. Behalt mich ein wenig lieb ...“ - -Schweigsam saßen die beiden Reisenden nebeneinander. - -Bisweilen sah Harro verstohlen auf Helene, bisweilen wollte er -irgendeine kleine Unterhaltung anfangen. Immer wieder verstummte er. -Aber er umgab sie mit schonendster Sorglichkeit. - -Einmal, kurz vor Frankfurt, sprach Helene wie aus einer langen -Gedankenkette heraus: „Ich muß dich noch um etwas bitten --“ - -„Gewiß, Helene! Sag’s nur!“ - -„Bitte, geh zu Frau Harriers-Wippern und entschuldige mich. Sag’, daß -ich plötzlich hätte abreisen müssen. Ich würde ihr von Rohlbeck aus -schreiben.“ - -„Ich gehe gleich morgen.“ Und dann sagte er fast dasselbe wie seine -Mutter: „Helene, du kommst doch bald wieder!“ - -Da sah sie ihn an, eigentlich zum erstenmal heute, und sie schüttelte -langsam den Kopf. - -„Helene --“ - -Es war, als suchte er nach Worten. Über das junge Gesicht strömte -wieder das Rot. Er mußte erst eine Scheu überwinden. - -„Helene ... du hast doch deine Kunst!“ kam es dann plötzlich heraus. Es -klang fast wie vorwurfsvoll und tröstend zugleich. - -Sie hatte die Hände im Schoß geschlossen. Sie drückten sich noch fester -ineinander. Ihr Blick wich wieder seinem Auge aus. Und dann sagte sie, -auch wie in einer inneren Scheu, ganz leise: „Harro ... mir ist’s, als -sei auch die zerbrochen ...“ - -Erst als sie schon am Wagen stand, in dem schmalen Posthof, unmittelbar -vor dem Einsteigen, sprach sie noch einmal zu ihm. Ganz kurz nur: „Du -bist gestern sehr gut zu mir gewesen, Harro. Ich danke dir vielmals. -Und wenn du kannst, Harro ... denke nicht schlecht von mir.“ - -Er schluckte ein paar Male, als ob er mit Tränen kämpfte. Dabei -hatte er die Hände wieder in den Manteltaschen, zu Fäusten geballt. -Ruckweise nur erwiderte er: „Schlecht von dir! Ach ... Helene ... nie -... niemals. Ich ... du weißt es ... ich hab dich ja so lieb. Manchmal -denk ich, du müßtest eigentlich meine Schwester sein ... manchmal ...“ -Plötzlich riß er die Hände aus den Taschen und griff nach ihrer Hand. -Das Blut kam und ging in seinem Gesicht. „Nimm’s dir doch nicht so zu -Herzen, Helene! Das ist ja alles dummes Zeug ... das ...“ - -Der Postillion blies. Der Kondukteur drängte. Über Harro schien etwas -wie innere Wut zu kommen, er mußte sich irgendwie Luft machen. Mit -einem Ellbogenstoß schob er einen dicken Wollhändler zur Seite, schrie -ihn an: „Was machen Sie sich hier mausig. Sehen Sie nicht, daß die -Dame einsteigen will!“ -- Dann hob er Helene in den Wagen, deckte ihr -die Reisedecke über die Knie, drückte noch einmal ihre Hände. „Adieu, -Helene ... auf Wiedersehen ...“ Da war seine Stimme schon wieder -knabenhaft weich geworden. „Bleib gesund ...“ - -Und dann stand er, die Mütze in der Hand, neben dem hohen Wagen. Der -Wind spielte mit seinem blonden Haar. „Adieu ... liebe, liebe Helene -...“ - -Trotz allem: Helene fühlte sich erleichtert, als sie allein war unter -fremden Menschen. - -In den endlosen Stunden der Nacht, während sie gelegen hatte, wach mit -geschlossenen Augen, mit der Verzweiflung ringend, war, langsam und -allmählich, ein neues Gefühl in ihr erwacht. Während der ganzen Fahrt -heute war es gewachsen und gewachsen. Nun sie allein war unter den -fremden Passagieren, sann und sann sie ihm nach. Es war ein Empfinden, -das ihr unsagbare Schmerzen brachte und an das sie sich doch klammerte -wie der Ertrinkende an die schmalste Bootsplanke. Es war der Vorwurf: -wo hattest du deinen Stolz?! - -Gestern abend -- deutlich stand der Moment vor ihrer Seele -- gestern -abend, am Palais, war einer Warnung gleich in letzter Minute der -Weckruf in ihr erklungen: was Vater wohl sagen würde? ‚Mädel, wo hast -du deinen Stolz?‘ - -Gestern abend hatte die Leidenschaft sie darüber hinweggepeitscht. Nun -klang er immer wieder auf, der Vorwurf: wo hattest du deinen Stolz? - -Es war ja freilich nur wie eine schmale Bootsplanke -- - -Wie sie so saß und sann und grübelte, rann es ihr immer wieder siedend -heiß durch die Adern. ‚Und wenn er heut käme und umfaßte dich und du -hörtest seine Stimme: wo bliebe dein Stolz? Wie Schnee in der Sonne -wäre er.‘ Aber wenn sie so dachte, dann bäumte sich jetzt ihr ganzes -Inneres dagegen auf. Die Scham überflutete sie: ‚Nein! Nein! Und wenn -er käme! Eine andere war ich gestern -- eine andere bin ich heute! Ein -Leben liegt zwischen gestern und heut.‘ - -Auch das fragte sie sich immer wieder: warum fliehst du vor ihm? - -Plötzlich in der Nacht, aus der Verzweiflung geboren, war ihr der -Entschluß gekommen, und sie hatte nach ihm gegriffen: auch wie der -Ertrinkende nach der schmalen Bootsplanke. Nun war ihr Stolz wach -geworden und schrie ihr zu: warum fliehst du vor ihm! Aber da war auch -die Scheu vor dem Kampf und die übergroße Müdigkeit. Da war die Furcht -vor den forschenden Blicken -- auch vor Harros wissenden Augen. Da war -die Sehnsucht nach Ruhe, nach der Enge und Stille des Landes, nach dem -Frieden des Elternhauses. - -In ewig gleichem Trabe zog die Post ihres Weges, zwischen den ewig -gleichen Pappelreihen entlang, durch die ewig gleichen Schneeflächen, -die sich rechts und links breiteten, schier endlos. - -Gleichgültig saßen die drei anderen Fahrgäste in ihren Ecken. Fremde -Leute -- gottlob. Dann und wann blies der Postillion ein kurzes Lied, -immer, wenn der Wagen durch ein Dorf ratterte. Ein paar Stimmen dann -am Wege, ein Hundegekläff, ein Peitschenknall -- und wieder die weite, -weite Schneeebene. - -Als sie hinausgefahren war aus der Heimat, hatten die Wiesen noch im -Grün gestanden. Nun war es Winter geworden. Winter -- - -Die Gegend wurde bekannter; hier ging der Weg nach Sodelzig ab; dann -klangen die Hufschläge scharf auf dem berühmten Pflaster von Stellberg. -An der Apotheke fuhr die Post vorbei -- hinter jenem Fenster dort hatte -sie ihn zum ersten Male gesprochen. - -Die drei Hügel kamen, die Mutter Hoffnung, Liebe, Glaube getauft hatte: -vom ersten aus sollte man hoffend die Kirchturmspitze von Rohlbeck -suchen; beim zweiten sich in der Liebe beglückt fühlen, die in der -Heimat wartete; das dritte brachte die nahe Gewißheit des Wiedersehens. -Glaube war für Mutter Gewißheit. - -Aber je näher die Heimat kam, desto banger wurde Helene. - -Warum war sie aus Berlin geflohen? Trug sie die Unruhe nicht in sich, -mit sich, in den Frieden der Heimat hinein? Mußte sie nicht auch -hier fragenden, forschenden Augen begegnen? Würde man nicht auch im -Elternhause um Auskunft drängen? - -Sie sah das nun alles ganz, ganz anders vor sich, als in der -vergangenen Nacht, wo die schmerzliche Sehnsucht nach der Heimat sie -ergriffen hatte. Sie hörte das Fragen, sie fühlte das Forschen der -Ihren und wußte, daß keine Antwort sie befriedigen würde. Wem konnte, -sollte sie sagen: ich bin geflohen -- vor ihm! - -Eine: eine war vielleicht im Elternhause, die sie ganz verstehen -konnte. Vielleicht? - -Nun schimmerte schon der rote, hohe Schornstein der Dampfmühle über das -Schneefeld. Und wie sie das sah, da fiel ihr noch ein rein Äußerliches -auf die Seele. Sie sah im Geiste auch das ganz deutlich: die Jungen an -der Chaussee, die Posttasche abzuholen, den Hauslehrer dabei -- - -Mit einem plötzlichen Entschluß sprang sie auf und pochte vorn an die -kleine Wagenscheibe. Der Kondukteur sah sich um, öffnete, fragte. Sie -wolle hier aussteigen. Jawohl -- hier! Und das Gepäck? Das Gepäck -sollte in Rohlbeck abgegeben werden, bei denen, die die Posttasche für -das Dominium holten. - -Die Chaise hielt. Der dicke Wollhändler wachte auf und machte brummend -Platz, so wenig, als zum Aussteigen gerade unumgänglich nötig war. Der -Kondukteur war abgestiegen, stand am Schlag: „Es ist aber tiefer -Schnee --“ - -Aus ihrem kleinen Portemonnaie holte Helene das letzte -Zehngroschenstück für ihn hervor. - -Und dann bog sie in den Feldweg ein, der von der Dampfmühle nach dem -Gutshof führte. - -Es war wirklich tiefer Schnee und kein Fußweg ausgetreten. Anfangs -hastete Helene, dann wurde ihr das Ausschreiten schwer und immer -schwerer. Sie fühlte, daß ihr der Schweiß ausbrach vor körperlicher -Anstrengung, und dabei schüttelte sie der Frost. - -Schwerer und schwerer wurde der Weg -- und schwerer und schwerer wurde -ihr das Herz. - -Welch ein Wiedersehen! - -Nun war sie am Kreuzweg, dicht hinter dem Garten. Wie ein -phantastischer Gedankenblitz fuhr ihr durch den Sinn: vor diesem -Kreuzweg hatte sie sich als Kind immer gefürchtet; die alte Beate, -die Kindermuhme, erzählte so gruselige Geschichten vom Kreuzweg zur -Nachtzeit. - -Und jetzt kannte sie den anderen Kreuzweg; den Kreuzweg des Lebens, der -in die Nacht führte ... - -Das Dach des Elternhauses leuchtete über die kahlen Baumgipfel. - -Da flog Helene, die letzten Kräfte anspannend, durch den Garten. Zum -Seiteneingang hin, zu den Wirtschaftsräumen im Souterrain. Auch die -Bettler pochten hier an -- auch die Bettler. - -Hochaufatmend stand sie unten im kalten, halbdunklen Flur. Die Tür zur -Leuteküche war nicht ganz geschlossen, ein dichter, heißer Brodem kroch -aus ihr hervor. - -Hochaufatmend stand sie, vom schnellen Lauf erschöpft. Die Hände preßte -sie gegen die Brust: ‚Lieber Gott, gib mir eine gnädige Aufnahme --‘ - -Mit einem Male ging ganz hinten im Flur die Tür zur Milchkammer. - -Helene stürzte vorwärts, umklammerte die Schwägerin, legte den Kopf an -ihre Brust, bat nur immer wieder: „Martha ... Martha ... hilf mir!“ - -Und Martha half in ihrer stillen, schlichten, resoluten Weise. Ohne -viel Worte, ohne Fragen und Drängen, ohne forschende Augen. - -„Wie sich das gut trifft“, sagte sie. „Dein Zimmer ist geheizt. Wir -erwarteten nämlich Margaret Zieldorf. Komme nur --“ Und wie eine, die -alles errät, fügte sie hinzu: „Den Eltern bring ich’s nachher bei, -damit sie nicht erschrecken.“ Fragte auch gleich nach dem Gepäck, rief -eine Magd. „Gut, daß die Jungens Arbeitsstunde haben.“ An alles dachte -sie. - -Oben brachte sie Helene zu Bett. „Nun ruh dich nur. Ich besorg dir -gleich etwas Warmes. Still! Erst ruhen und eine warme Tasse Brühe.“ Zog -die Decke fest um Helene, beugte sich herab, küßte sie auf beide Wangen. - -Mit weit offenen Augen lag Helene. Nun erst fühlte sie die Abspannung -nach der Fahrt, nach dem Gang durch den Schnee und die kalte Starrheit -aller Glieder. Manchmal schüttelte der Körper zusammen vor Frost. -Aber langsam, allmählich kam doch die wohlige Wärme. Der große, -braune Kachelofen sprühte, ab und an gab’s ein heimliches Knastern in -den Buchenscheiten. Dann kam Martha zurück, setzte sich aufs Bett: -„Natürlich hatte die Köchin keine Brühe, aber ich hab dir schnell ein -Warmbier gemacht. Hier -- so -- und nun trinkst du. Still! Nicht reden. -Morgen ist auch noch ein Tag.“ - -„... die Eltern ...“ - -„Ja doch, laß mich nur sorgen. Vorläufig bist du mal krank. Nein ... -ich will gar nichts wissen. Trink noch einmal. Übrigens, Vater liegt -auch zu Bett.“ - -„Vater?“ - -„Du brauchst nicht zu erschrecken, er ist kerngesund. Aber er sollte -doch nach Berlin reisen, zum Jubiläum der Befreiungsveteranen, und das -paßt ihm nicht.“ - -Martha lachte ganz leise, streichelte Helenes Hand und erzählte weiter, -wie man einem Kind erzählt, um es auf andere Gedanken zu bringen. -„Nämlich, wie Papa die große Einladungskarte bekommt, stutzt er und -sagt bloß: ‚Das heißt‘ ... wird ganz rot, steckt die Einladung ein -und geht aus dem Zimmer. Den ganzen Tag gestern haben wir ihn kaum zu -Gesicht bekommen, und gegen Abend wurde er ‚krank‘ -- ‚das heißt‘, -meinte er ‚nach Berlin kann ich nun nicht‘. Wir hatten wirklich etwas -Sorge. Aber dann kam der Pastor, und da erfuhren wir’s: unser guter -Papa ist nämlich gar nicht Rittmeister. Premierleutnant ist er, und -die Einladung war an den Premierleutnant von Hackentin gerichtet, wie -das wohl in den Listen steht. Die Leute haben ihn nur zum Rittmeister -ernannt, und allmählich hat er’s selber geglaubt. Nun nimmt er’s -gewaltig krumm, liegt im Bett, schimpft mit Diana und sagt, wenn einer -von uns hereinkommt, immer wieder: ‚Das heißt, nach Berlin kriegt ihr -mich nicht. Ich bin krank.‘ Aber das Essen schmeckt ihm, Gott sei Dank.“ - -„Der arme Papa --“ - -„Laß nur gut sein. Es ist doch mehr komisch als tragisch. Aber nun will -ich mal nach meinen Rangen sehen.“ - -Sie war schon bis an die Tür, da rief Helene sie zurück. Mit leiser, -ängstlicher Stimme. Wie ein Flehen klang’s. Und als sie noch einmal an -das Bett trat, richtete Helene sich auf und klammerte sich fest an ihr: -„Geh nicht fort ... ich muß mein Herz erleichtern ... ich muß dir alles -erzählen ...“ - -Und so sagte sie’s. - -Martha saß bei ihr, hatte ihre beiden Hände genommen, unterbrach nicht, -fragte nicht. Und als Helene zu Ende kam, hastend bald, bald stockend, -unter heißen Tränen, da küßte sie ihr die von den Wangen. Hielt die -Bebende sanft umschlungen und sagte leise: „Es ist kein Menschenherz, -dem nicht Kampf beschieden wurde. Auch du wirst darüber hinfortkommen, -liebe Lene. Es ist gut, daß du nun heimgekehrt bist.“ - -„Ich war so leichtgläubig! Ich war so leichtsinnig!“ - -„Du hast an ihn geglaubt, denn du hast ihn geliebt. Schilt dich nicht, -Helene. Deine Liebe entsühnt dich ... Und nun gebe dir der liebe Gott -Ruhe für dein armes Herz. Hier im Elternhause!“ - -Als Helene am nächsten Morgen erwachte, staunte sie: wie hatte sie nur -so fest und gut schlafen können! - -Wie eine Fremde sah sie sich im Zimmer um. Das war also das enge -Zimmerchen, aus dem sie hinausgeflüchtet war, vor drei Monaten erst, in -das sie nun wieder zurückflüchtete. - -Der große Kachelofen bullerte bereits; ganz leise mußte die Trine in -der Frühe geheizt haben. Durch die blaugestärkten steifen Gardinen -brach die Morgensonne. Drüben stand der schmale, hohe Kleiderschrank -aus Birkenholz, hüben der kleine Waschtisch mit gehäkelten Spitzen -und am Fenster ihr winziger, birkener Mädchenschreibtisch mit den -geschweiften Füßen. Alles wie ehedem. Gerade, als ob das Zimmerchen nur -auf sie gewartet hätte. - -Dann glitt ihr Blick die Wand entlang. Und da fiel er drüben auf eine -eingerahmte Perlenstickerei. Richtig -- das war ja die Arbeit der -verstorbenen Tante Melanie. Merkwürdig, in all den Jahren, in denen -sie das Zimmer als ihr kleines, eigenstes Heiligtum betrachtet, hatte -sie diese kunstvolle Perlenstickerei eigentlich gar nicht beachtet. -Sie wußte nicht einmal mehr, wie der Spruch lautete, der da in bunten -Perlen auf weißem Seidengrund stand. Nie hatte sie ihn bewußt gelesen. - -Nun las sie: - - „Im Lieben wohnt Betrüben - Und kann nie anders seyn.“ - -Und sie wandte sich ab. Die Tränen stiegen ihr in die Augen. -- - -Es war Sonntag. - -Die Kirchenglocke läutete zum ersten Male, als Helene die Treppe -hinunterstieg. - -Unten am Frühstückstisch saßen nur Martha und Mutter. Gerade mußten sie -miteinander gesprochen haben: von ihr. „Lene,“ sagte Mutter und hatte -ein Tränchen, „da haben wir dich also wieder. Komm, laß schauen, wie du -aussiehst.“ Küßte sie und fuhr fort: „Schmalbäckig bist du geworden, -aber ich seh schon, es ist nichts Ernstes. Wir wollen dich schon wieder -herausfuttern.“ - -Dann ging Helene zu Vater hinüber. Der lag wirklich auch heut im Bett, -hatte einen Teller mit Reinetten vor sich, schälte sich gerade einen -Apfel. „Lene, Kind, ei, sieh mal! Martha hat mir schon erzählt. Ja -- -das heißt, eigentlich siehst du gar nicht so elend aus. Ganz gewiß hat -die Oschitzen nicht gut für dich gesorgt. Ruhig, Diana ... willst du -wohl die Lene in Frieden lassen. Ja, das heißt, ich bin selber krank. -Wollte ja auch nach eurem großmächtigen Berlin, ja, das heißt, wollte, -aber da hat mir der Hexenschuß ’nen Strich in die Rechnung gemacht.“ - -Merkwürdig, merkwürdig: die Welt stürzte gar nicht ein darüber, daß -Helene Hackentin ins Elternhaus zurückgeflüchtet war. Merkwürdig, -merkwürdig: sie lasen ihr nicht vom Gesicht ab, was sie erlebt und -erlitten hatte und immer noch litt. - -Die Jungens umtollten sie wie früher; der Hauslehrer machte seine -verliebten Rollaugen wie früher. Und als es zum zweiten Male läutete, -stand Mutter auf der Veranda in ihrem schwarzen Kirchenkleide, mit der -schwarzen Seidenhaube auf dem Kopf, das goldgeränderte Gesangbuch in -der Hand: „Jetzt müssen wir gehen, Lene. Ich bin nur neugierig, was der -Heckstein wieder mal für einen alten Bock schlachten wird.“ - -Zwischen Mutter und Martha saß sie dann im Herrschaftsgestühl. - -Oben vor der Orgel stand der alte Flehr. - -Der hatte das gnädige Fräulein gleich gesehen, und während er die -Register zog, dachte er bewegt: ‚Wie sie nun wohl singen wird, unser -Fräulein Helene, nun sie auf der hohen Schule war. Das wird wie eine -~vox angelica~ klingen.‘ - -Aber als die erste Strophe aufklang, lauschte und lauschte er -vergebens: die große, helle Stimme fehlte im Chor. Und als er sich -verstohlen umwandte, sah er, wie Helene starr vor sich hinblickte -- -mit festverschlossenen Lippen. - - - - -Achtes Kapitel - - -Wieder lag der Schnee über der Rohlbecker Flur, und die Buchenscheite -knatterten in den Kachelöfen. Der alte Rittmeister -- das war -er geblieben, wenn er auch in den Listen der Veteranen nur als -Premierleutnant figurierte -- der Rittmeister war trotz der schlechten -Ernte des letzten Jahres in gehobener Stimmung. Donnerten doch -endlich einmal wieder die preußischen Kanonen: gerade vor acht Tagen -hatten die Preußen und Österreicher die Dänen aus Schleswig-Holstein -herausgeworfen, so daß die nur noch in Düppel und auf Alsen saßen. -Man denke: Preußen und Österreicher! Fast wie Anno 1813/14 war das, -und wenn der Rittmeister auch manchmal über die Strategie der -Bundesgenossen von damals bedenklich den Kopf geschüttelt hatte, auf -die österreichische Tapferkeit ließ er nichts kommen. Sogar die alte -Gnädige nahm Interesse an den Vorgängen „da oben“. Recht genau verstand -sie die Zusammenhänge nicht, aber wenn Vater aus der „Kreuzzeitung“ -vorlas, dann klangen auch einzelne Reminiszenzen aus vergangenen Tagen -in die Gegenwart hinüber: einen Rittmeister von Gablentz hatte sie im -Jahre achtzehnhundertfünfunddreißig, oder war’s sechsunddreißig, oder -war’s siebenunddreißig, in Karlsbad kennengelernt, sicher denselben, -der „da oben“ nun als Feldmarschalleutnant kommandierte; und dann der -alte Wrangel: der hatte ihr ja schon, als sie ein blutjunges Komteßchen -war, in die Backe gekniffen -- damals, als er gerade Stabsrittmeister -bei den ostpreußischen Kürassieren geworden war. - -Wenn der Herr von Hackentin am runden Tisch in der großen Stube, auf -dem immer noch keine Petroleumlampe leuchten durfte, aus der ersten -Seite der „Kreuzzeitung“ die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz -vorlas, dann flammten seine Augen auf und zu den beiden Enkeln hinüber: -„Ja, Jungens, die Preußen und die Österreicher! Die Alliierten von -dreizehn! Schade, daß ihr nicht dabei seid! Das heißt -- hm! -- es hat -ja auch so seine zwei Seiten mit dem Krieg. Aber ’n Lump, der nicht -kommt, wenn der König ruft!“ Sobald er jedoch auf die zweite Seite der -Zeitung kam, wurde er verdrießlich. „Der Deubel sollte sie holen, diese -Demokraten! Das heißt: ich will nicht fluchen. Aber da haben sie im -Abgeordnetenhause rundweg die Kriegsanleihe abgelehnt. Natürlich bloß -aus Opposition! Und der große Schulze-Delitzsch erklärt feierlichst: -‚Preußen mißbraucht seine Großmachtstellung.‘ Na, natürlich unser -roter Kreisrichter wird wohl auch in dasselbe Horn blasen.“ Nur er -durfte im Hause noch den Namen des zweiten Sohnes nennen und tat’s -stets mit größter Erbitterung: „roter Kreisrichter“ war noch eine -sanfte Bezeichnung. Und dann bekam, zum Schluß, immer der Hauslehrer -seine Pille: „Na, Herr Doktor, ich hab immer noch nichts von Ihrem -Beitritt zu unserem guten Preußischen Volksverein gehört! Sind wohl -auch heimlicher Nationalvereinler? Ja, und denken auch so: preußischer -Großmachtskitzel. Wie? Das heißt ... natürlich ... haben ja noch kein -Pulver gerochen!“ - -Martha und Helene saßen dazwischen und zupften Scharpie. Kleinen -Hügeln gleich bauten sich vor ihnen die weißen losen Fäden auf, -und wöchentlich einmal nahm die Botenfrau den Packen mit nach -Stellberg, wo in der Apotheke eine Sammelstelle errichtet war. Sobald -Vater aber seine Zeitung zusammengefaltet und das Beiblatt mit den -Familienanzeigen an Mutter abgegeben hatte, damit die „ihren Honig -daraus sauge“, fing er an, Kriegsgeschichten zu erzählen. Dann schoben -die Jungens ihre Schmöker beiseite und lauschten. So schön wie -Großvater erzählte, so schön stand’s doch nicht in den Büchern. - -Manchmal aber, wenn die Posttasche entleert wurde, schob Vater auch -Helene einen Brief zu. Neuerdings immer mit einem gewissen Respekt, -denn die Briefe trugen den Feldpoststempel „von da oben“. - -Bekam Helene solch einen Brief, so tauschte sie mit der Schwägerin -einen Blick des Einverständnisses und ging hinauf in ihr Zimmer, um -den Brief in der Einsamkeit zu lesen. Vater murrte dann manchmal: -„Natürlich wieder vom Harro. Als ob sie die Epistel von dem Jungen -nicht auch hier lesen könnte. Das heißt, Junge darf man eigentlich -nicht mehr sagen, seit er’s Portepee hat ... der Oschitz.“ Gegen -Neujahr war Harro beim vierten Garde-Regiment als Junker eingetreten. - -Wenn Helene vor einem der frischen fröhlichen Feldzugsbriefe saß, aus -dem so viel junger Mut und so viel Freude am Drauflosgehen sprach, -dann dachte sie jedesmal an den ersten Brief zurück, den sie von ihm -erhalten hatte. Ein Brief war’s eigentlich nicht gewesen, sondern nur -ein doppelter Aufschrei: „Das hier für Dich. Es wurde abgegeben und -ich hab’s ergattert, damit’s nicht in unrechte Hände kommt. Schicken -mußt ich’s Dir ja wohl. Ach, liebe Helene, ich bin so traurig. Ich habe -solche Sehnsucht nach Dir!“ - -„Das hier“ war ein eingelegter Brief von Alfred Schwarz. - -Sie hielt das verschlossene Kuvert lange in der bebenden Hand. Dann -ging sie, schwer und langsam, bis zum Ofen und warf den Brief in die -Flammen. - -Nicht lange darauf war Tante Marie aus Rackow heruntergekommen, -unerwartet und unangesagt, zur Kaffeestunde. Hatte unten ein wenig -paradiert in ihrem fußfreien perlgrauen Popelinekleide mit der -braunroten Tunika darüber und dem Pelzbesatz um den Hals: „Denkt euch, -ja, man darf’s endlich wieder zeigen, wenn man ein hübsches Füßchen -hat, und die Krinoline wird kleiner und immer kleiner --“; hatte diese -kleinen Füßchen in den Lackstiefeln und, unerhört, ein Stückchen eines -rotgezwickelten Strumpfes sehen lassen, sowie ihren neuen „Pagenhut“; -hatte lachend erzählt, daß Ernst endlich einen guten Käufer für das -Vorwerk Grunow gefunden hätte, und hatte dann Helene unter den Arm -gefaßt: „Mignonne, Liebes, jetzt komm’ ich auf einen Stipps mit dir -hinauf.“ - -Oben setzte sie sich vor den kleinen Schreibtisch, wippte hin und her, -lächelte ein wenig verlegen, ein wenig verschmitzt, sprang wieder auf, -küßte in der alten Herzlichkeit Lene auf beide Wangen und fragte dann -plötzlich: „Nun, Mignonne, was hast du eigentlich mit unserem Freunde -Schwarz gehabt?“ - -Vom Augenblick an, da der Rackower Schlitten einfuhr, hatte Helene -geahnt, was da kommen würde; sie wußte ja, daß die Rackowschen in -Berlin gewesen waren. - -Nun stand sie doch vor der Tante, wie mit Blut übergossen. Aber auch -innerlich gefaßt genug, um antworten zu können: „Sei nicht böse, Tante -Marie. Ich muß das mit mir allein abmachen.“ - -„Ja, doch! Ich bin ja gar nicht so neugierig, Kind. Nur -- der Arme ist -so unglücklich. Du hast sein Herz gebrochen, du grausame kleine Person.“ - -Da lachte Helene auf: „Sein Herz!“ - -Es klang sehr bitter, und auf Helenes Gesicht lag wohl ein so -schmerzlicher Ernst, daß Marie Hackentin verstummte. - -Erst nach einer Weile sagte sie mitleidig: „~Pauvre enfant!~ Ja -... die Männer. Ich ahne ...“ - -Aber gleich war wieder ein Lächeln in dem kleinen, liebenswürdigen, -häßlichen Gamingesicht. „Ah, ihr jungen Mädchen von heute, wie nehmt -ihr doch alles gleich tragisch. Eine Episode, Mignonne, eine Episode! -Was hätte es denn anders sein können? Heiraten konntet ihr euch doch -nicht. Eine Hackentin und unser guter Freund Schwarz!“ - -„Euer guter Freund, Tante Marie --“ - -„Nun ja. Aber doch nicht mehr.“ - -Helene schwieg. Was sollte sie antworten?! - -Tante Marie hatte sich wieder gesetzt, wippte auf dem Stühlchen, besah -sich durch das Lorgnon die Wände. Und Helene stand vor ihr und sah mit -brennenden Augen zum Fenster hinaus auf das schneebedeckte Scheunendach. - -„Willst du nicht einmal zu uns kommen? Auf ein paar Tage? Dir wird eine -Abwechslung gut tun. In nächster Woche haben wir einige Gäste. Auch der -nette Neuchateller, weißt du: Merivaux, wird dabei sein.“ - -„Ich danke dir sehr. Aber -- jetzt -- noch nicht.“ - -Das Lorgnon sank herab, und Tante Marie fragte, nun wieder ganz -mitleidsvoll: „Tat es denn so sehr weh, Mignonne?“ - -„Es tat wohl weh. Aber ich komme schon darüber hinweg.“ - -„Ja, man kommt wohl schließlich darüber hinweg ...“, sagte Tante Marie, -ganz anders als sie sonst sprach, langsam und schwer. „Wer von uns -hätte nicht ähnliches durchgemacht.“ Und dann war sie gegangen. - -‚... ja ... man kommt wohl darüber hinweg.‘ - -Das dachte Helene jetzt noch, nach Jahresfrist, immer aufs neue. Und -immer aufs neue ergänzte sie: ‚im Frieden des Elternhauses ... Dank -meiner lieben, lieben Martha!‘ - -Man kommt darüber hinweg. Die Wunde schließt sich. Aber die Narbe -bleibt, und von Zeit zu Zeit brechen aus ihr die Schmerzen doch wieder -hervor. Nicht mehr brennend und heiß, aber mit leisem, mahnendem -Zucken. Gestalten steigen dann auf, und Träume kommen. - -Wie hatte doch Martha damals gesagt: „Arbeit, Helene -- Arbeit!“ - -Es war wirklich wie ein Allheilmittel. Keine schwanke Bootsplanke, -an die sich der Ertrinkende in seiner Not anklammert, sondern ein -sicherer Port. Immer wieder fühlte Helene das, wenn die Erinnerung -heraufschleichen wollte mit all ihrer Süße, mit der verborgenen -Sehnsucht, mit dem bitteren Leid. - -Und gottlob, es gab zu tun im Hause, in der Wirtschaft. Dafür sorgte -Martha, die ja selber nie ruhte noch rastete. - -Die Eltern merkten es kaum, wie die Tochter nun mit angriff. Mutter -lebte ihr halbes Traumleben, und Vater hatte höchstens einmal ein -flüchtiges Wort: „Ei, sieh mal, Lenchen! Das heißt, wirklich, das freut -mich!“ Aber an jedem Abend, wenn Helene todmüde lag, empfand sie den -befreienden Segen der Arbeit, der Geist und Körper zur Ruhe zwang und -die Träume scheuchte. Und manchmal dachte sie ganz verwundert: ‚was hab -ich doch früher ein Drohnenleben geführt! Darum erschien mir auch alles -so eng und klein, was mir nun eine Welt für sich geworden ist.‘ - -Aber das eine Allheilmittel, das ihr Martha gegeben, tat es doch -nicht allein. Es gab ein stilles Sichverstehen mit der Schwägerin, -ein wortloses gegenseitiges Mitleidsempfinden, das ihnen beiden wohl -tat und sie immer näher zueinander brachte. Beide trugen sie Bürden. -Oft fragte Helene sich, trägt Martha nicht die schwerere? Und wie -trägt sie ihre Last und ihren Kummer! Und dann dachte sie an den -Bruder, der immer die heiße Liebe zu den Seinen, zu Weib und Kind, -zur Heimatsscholle auf den Lippen trug, der ein Tränchen hatte bei -jedem Wiedersehen und bei jedem Abschiednehmen, um ein anderer zu -sein, sobald eine Wegstrecke von ein paar Stunden zwischen ihm lag und -Rohlbeck. „Wilhelm hat mich bei Ewest noch zum Abschied eingeladen am -Abend, ehe wir nach Hamburg fuhren“, hatte Harro geschrieben. „Die -Champagnerpropfen flogen, es war höchst fidel.“ Die Champagnerpropfen -flogen -- und daheim sparte Martha Pfennig zum Pfennig. Der Mann -vergaß, sobald ihn die Großstadtluft wieder umwehte; die Frau trug ihre -Last und ihre Sehnsucht schweigend und klaglos weiter und sagte sich -selber, was sie Helene gesagt hatte: „Arbeit! Arbeit!“ - -Etwas Wunderbares war es um die Arbeit. Und doch empfand Helene, je -weiter die Zeit ins Land ging, eine klaffende Lücke. - -Manchmal, wenn sie bei irgendeiner hausfraulichen Tätigkeit neben -Martha saß, sprang es jäh in ihr auf: ‚bei aller innigen Liebe, bei -allem Verstehen -- wir sind doch ganz verschieden!‘ Manchmal, in -stillen Stunden, wenn sie allein war, überrann sie, schmerzlich fast, -das Gefühl: ‚Ich trag’s nicht so wie sie. Ich müßte mich wehren! -Wehren!‘ - -Das waren dieselben Stunden, in denen, allmählich, aber stärker und -immer stärker, der andere Schmerz in ihr wach wurde: und nun hast du -auch deine Kunst zu Grabe getragen ... - -In den ersten Wochen nach ihrer Heimkehr war es ihr unmöglich gewesen, -zu singen; wurde sie gebeten, so wich sie aus. Unmöglich: denn jeder -Ton verwundete ihre Seele. - -Dann kamen wohl Tage, an denen sie sich zwang, zwingen konnte, wenn -Vater abends bat, wie einst: „Nun Lene, wie ist’s? Das heißt ... wenn -du dich disponiert fühlst.“ Sie sang dann eins oder das andere ihrer -alten Liedchen. Aber sie war jedesmal mit sich selber unzufrieden, -fühlte einen fremden Klang aus ihrem Gesang heraus, etwas Erzwungenes. -Und bisweilen meinte Vater selber: „Ich weiß nicht -- ich weiß nicht. -Hast du wirklich in Berlin Fortschritte gemacht?“ Einmal nahm sie auch -der alte Heckstein ins Gebet: „Hör’ mal, Jungfer Lene, warum singst du -nie in der Kirche mit? Man ist doch neugierig, und unser guter Flehr --- gut ist er nämlich, obwohl der Rittmeister in ihm den Demokraten -wittert -- unser guter Flehr ist einfach unglücklich.“ Da hatte sie, -ohne ihn anzusehen, erwidert: „Ich kann nicht, Onkel Pastor.“ -- „Ich -kann nicht! Weißt du, Lene, das ist so die bequeme Ausrede von allen -denen, die nicht wollen. Hast du deine Stimme verloren? Nein -- sonst -würdest du’s sagen. Also willst du nicht. Kind, in meiner Art liegt’s -nicht, mich um ungelegte Eier zu kümmern. Gelegte sind besser. Ich -dränge mich auch in niemandes Vertrauen. Aber das kann ich dir sagen: -ein bissel Zwang, den der Mensch sich selber auferlegt, ist etwas sehr -Gutes. Der brave Zschokke, von dem freilich unsere Heutigen nicht viel -wissen wollen, hat mal in seinen Stunden der Andacht gesagt: ‚Der -Mensch vermag unglaublich viel über sich, wenn er ernst will.‘ Das -solltest du dir auch hinter deine allerliebsten Öhrchen schreiben.“ - -‚... wenn er ernst will ...‘ - -Nein, sie wollte nicht. Noch nicht. Sie ging dem Schmerz aus dem Wege, -der jedesmal neu brannte, wenn sie sich zwang. - -Aber allmählich erwachte doch der Wille, erwachte und erstarkte. Der -innere Drang weckte ihn, die große Lücke in ihrem Leben auszufüllen, -die bloße körperliche Arbeit nicht schließen konnte; und dann kam -die stolze Sehnsucht: geh nicht ganz unter in der Alltäglichkeit. -Du brauchst nicht unterzugehen, denn deine Kunst kann dich über sie -erheben. - -In der Schreibmappe, oben auf dem kleinen Tischchen am Fenster, lag -noch der Brief von Frau Harriers-Wippern. - -„Wie bedauere ich, daß Sie den Unterricht aufgeben. Gerade Sie, liebes -Fräulein, die zu so Großem prädestiniert schienen. Wie ist das nur -möglich?“ Und daneben lag der Brouillon der Antwort, zwanzig Male neu -begonnen, immer wieder verworfen: „Zwingende äußerliche Ursachen ... -leider unüberwindliche Hindernisse.“ Mein Gott, mein Gott, wie armselig --- und wie unwahr! - -Wochen und Monate waren vergangen, ehe Wille und Kraft stark genug -waren, das neue Ringen aufzunehmen. Ganz langsam waren sie erstarkt, -aber plötzlich wurden sie zur Tat. Am ersten Pfingstfeiertage war’s -gewesen, daß der alte Flehr verwundert vor seiner Orgel auflauschte: -da war sie ja, die ~vox angelica~, süß und schön und stark, die -sich in seinen geliebten Chor mischte, ihn trug und über ihm sieghaft -emporstieg: - - „Schmückt das Fest mit Maien, - Lasset Blumen streuen, - Zündet Opfer an: - Denn der Geist der Gnaden - Hat sich eingeladen, - Macht ihm die Bahn, - Nehmt ihn ein, so wird sein Schein - Euch mit Licht und Heil erfüllen - Und den Kummer stillen --“ - -„Ich singe wieder, Harro!“ hatte sie damals geschrieben. „Denk Dir -doch, lieber Harro, ich kann wieder singen. Auch das war in mir -erstorben und ist nun, zu Pfingsten, auferstanden. Leicht macht’s mich -und froh, Du wirst das schon verstehen. Sie sind alle, alle zu mir -in der schweren Zeit so rührend gut gewesen. Am rührendsten Martha, -Wilhelms Frau, die Du leider noch nicht kennst. Sie hat mich gestützt, -mich getragen, mir geholfen in meinen Nöten. Aber schließlich kann -jeder Mensch sich ganz nur selber helfen. Siehst Du, Harro, nun weiß -ich endlich, wodurch ich mir helfen kann. Meine Kunst ist’s, die mich -wieder frei machen wird. Es ist freilich anders wie früher. Ich denke -nicht mehr an äußere Erfolge, nicht an den Konzertsaal und den Beifall, -von dem ich einst träumte. Für mich und für die, die mich liebhaben, -will ich singen, meine Gabe pflegen und weiterbilden. Ich bin so froh, -Harro. Ich wollte, Du wärst hier, und ich könnte Dir das zeigen, wie -froh ich bin. Hinausgehen würde ich mit Dir aufs Feld, wir beide -allein, und mit den Lerchen möcht ich dann um die Wette singen.“ - -Am zweiten Pfingstfeiertag, nach dem Schluß des Gottesdienstes, lernte -Helene Herrn von Holfen kennen, den Käufer des Rackower Vorwerks. - -Sie hatte ihn schon in der Kirche bemerkt und sich flüchtig gefragt, -wer der junge fremde Mann drüben auf der anderen Empore wäre; ein -Forsteleve vielleicht, hatte sie gedacht, und sich nicht weiter in -ihrer Aufmerksamkeit stören lassen. - -Nun stand er vor der Kirchentür, stellte sich Vater vor, bat, ihn mit -den Damen bekannt zu machen, und entschuldigte sich zugleich, daß er in -Rohlbeck noch nicht seinen Besuch abgestattet; die Übernahme und die -erste Einrichtung hätten ihn völlig in Anspruch genommen. Er sagte das -alles sehr ruhig, durchaus weltmännisch, bescheiden und doch sicher. - -Der alte Rittmeister, kein Freund besonderer Förmlichkeiten, forderte -ihn freundnachbarlich auf, „mit hinüber zukommen zu einem einfachen -Frühstück und einem Willkommensglase“. Holfen warf einen fragenden -Blick auf die alte Gnädige, und da diese die Aufforderung wiederholte, -nahm er an. - -Seitdem war er ein ziemlich häufiger Gast im Herrenhause. Das Vorwerk -Grunow lag näher an Rohlbeck wie an Rackow, war auch dort eingepfarrt; -Ernst Hackentin hatte daher einen hübschen Vorwand gehabt, die „schwer -zu bewirtschaftende Enklave abzustoßen“. Nun kam Holfen bald mit -dieser, bald mit jener Anfrage und kleinen Bitte. Unverheiratet, hatte -er allerlei Nöte bei seiner Etablierung, die ihm Anlaß gaben, sich -bei dem Rittmeister oder noch mehr bei Martha Rat zu holen. Und sie -alle hatten ihn gern. Mutter fand bald heraus, daß einer von den -pommerschen Holfens eine Baer zur Frau gehabt hätte, deren Mutter -wieder eine Komteß Grucker gewesen, und er hörte dem umständlichen -Nachweis dieser Verwandtschaft „durch sieben Scheffel Erbsen“ äußerst -artig zu. Mit Vater hatte er kleine anregende militärische Diskurse; -er war erst vor anderthalb Jahren aus seinem Regiment, den Pasewalker -Kürassieren, geschieden. Mit Martha gewann er bald besonders viel -Berührungspunkte, denn sein wirtschaftlicher Eifer und eine gewisse -frische naive Art, gerade sie immer aufs neue um Rat anzugehen, machten -ihr Freude. Die Jungens schwärmten für ihn. Es kam ihm gar nicht -darauf an, gelegentlich mit ihnen einen Wettlauf durch den Garten zu -riskieren, und außerdem verstand er allerlei kleine Künste, die ihnen -riesig imponierten, fabrizierte köstliche Flöten und ausgezeichnete -Meisenkästen. - -Gegen Helene war er äußerst zurückhaltend, und sie wieder war -vielleicht die einzige im Herrenhause, die wenig auf ihn achtete. -Höchstens, daß sie manchmal die Schwägerin ein wenig mit ihm neckte. -Merkwürdigerweise hatte die stille Martha Verständnis für einen -harmlosen Neckton und ging nicht ungern auf ihn ein. „Dein Courmacher -kommt!“ hieß es einmal, und: „Gesteh’s nur, Martha, du hast heut wieder -ein zartes Zwiegespräch mit deinem Verehrer gehabt!“ hieß es ein -andermal. Und Martha nickte: „Hatten wir auch -- über die beste Art der -Putenfütterung nämlich. Das ist doch gewiß ein zartes Thema.“ - -„Ist er wirklich so nett?“ - -Dann wurde Martha gleich wieder ein bißchen ernst: „Nett? Ich weiß -nicht. Aber ein ordentlicher, strebsamer, fleißiger Mann ist er.“ - -Das war sicher richtig. Helene hörte es von allen Seiten bestätigen. Es -hieß auch, daß er das Vorwerk nur gekauft hätte, um sich als angehender -Landwirt nicht von vornherein zu stark zu engagieren; er sei recht -wohlhabend. - -Übrigens war er nicht ohne höhere Interessen. Dann und wann kam es doch -vor, daß Helene und er auf kürzere Augenblicke allein waren, und fast -regelmäßig schlug er dann ein Thema an, das sie fesselte. Einmal fand -er sie auf der Veranda über dem kleinen Geibel-Band, den ihr Harro -geschenkt hatte. Da zitierte er: - - „Wir können’s kaum erwarten: - Wann wird die Eiche grün? - Wann wird im Deutschen Garten - Die Kaiserkrone blühn?“ -- -- - -„Sie kennen Geibel?“ - -„Ich kenne und ich liebe ihn.“ - -„Und warum zitierten Sie gerade aus der ‚Ungeduld‘?“ - -„Weil mir da Geibel besonders aus dem Herzen spricht.“ - -Sie saßen sich gegenüber. Helene hatte den Band vor sich, blätterte ein -wenig darin, sah dann auf. - -„Es ist eigentlich ein politisches Lied. Ich hörte Sie aber neulich -doch einmal sagen, Herr von Holfen, daß Sie der Politik gern fern -blieben.“ - -Er lächelte, und sie gestand sich, daß dies Lächeln sein etwas eckiges -Gesicht verschönte. Klug sah er aus. - -„Ist es ein politisches Lied, gnädiges Fräulein? Dann laß ich -diese Politik gelten. Ich mag mich nur nicht Hals über Kopf in das -Parteigetriebe des Tages stürzen, bei dem wohl hüben und drüben -übertrieben und gesündigt wird. Aber den großen Traum der deutschen -Einheit, den Geibel hier aufklingen läßt, den träume ich auch mit; und -ich denke und hoffe, er wird noch Wirklichkeit werden. Wenn wir das -vielleicht auch nicht erleben.“ - -Ein andermal war er am Nachmittag gekommen und hatte, ohne daß sie -davon wußte, mit den Eltern in der großen Stube gesessen, während sie -nebenan mit einer Handarbeit beschäftigt war. - -Sie war gerade an diesem Tage in einer besonders gehobenen Stimmung, -die sie jetzt nicht selten, wie in einer Art von Reaktion, überkam. -Die Arbeit hatte sie sinken lassen, am Fenster hatte sie gestanden, -lange Zeit, und über die grünen Wiesen hinweggeschaut, auf denen die -Augustsonne lag. Dann war sie an den Flügel getreten und, recht aus -ihrer Augenblicksstimmung heraus, sang sie Goethes „Auf dem See“. - - „Und frische Nahrung, neues Blut - Saug ich aus freier Welt. - Wie ist Natur so hold und gut, - Die mich am Busen hält.“ - -Warum war sie gerade auf dieses Lied gekommen? Sie wußte es selber -nicht. Aber sie fühlte, daß es sie emporhob, gleich wie auf Schwingen. -Etwas Erhabenes, Befreiendes lag in den schlicht schönen Strophen -- - - „Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder? - Goldne Träume, kommt ihr wieder? - Weg, du Traum! so gold du bist; - Hier auch Lieb und Leben ist.“ - -Sie sang nicht weiter. In einem stillen Wohlgefühl saß sie noch eine -Weile, die Hände auf den Tasten, ging dann wieder ans Fenster, öffnete -die Flügel weit, atmete die würzige Luft. Und die Schlußstrophe klang -leise in ihr nach: „Weg, o Traum! so gold du bist -- Hier auch Lieb und -Leben ist.“ - -Vom Felde kamen die Erntewagen. Ein paar Schnitter gingen nebenher, -eine Frau, in der einen Hand ein Kind, in der anderen eine kleine Garbe -aufgelesener Halme. Und blau stand der Himmel darüber. - -Nachher erschrak sie ein wenig, als Holfen sie begrüßte: „Ich habe -schon häufiger in der Kirche Ihre schöne Stimme bewundert. Aber ich -hörte Sie noch nie im Hause singen. Darf ich Ihnen danken?“ - -Beinahe feindselig sah sie ihn zuerst an. Was sie gesungen hatte, wie -sie es gesungen hatte, war so ganz ihr Eigenes gewesen. - -Fast schien es, als ob er Ähnliches in ihrem Gesicht lese. Er wurde -ein wenig verlegen, faßte sich dann aber: „Etwas Merkwürdiges ist’s um -Goethes Lyrik. Sie ist selber Musik. Aber wie herrlich hat sich gerade -Schubert den Empfindungen Goethes angepaßt, so daß beides, Ton und -Wort, nun doch ein Ganzes scheinen. Und nun muß ich doch eins sagen: -ich habe das Lied zum letzten Male von Amalie Weiß gehört. Sie werden -wissen, die Wiener Sängerin, die kürzlich den großen Geigenvirtuosen -Joachim geheiratet hat. Aber wenn ich ehrlich sein soll: vielleicht war -Frau Weiß die größere Künstlerin -- mehr Seele lag in Ihrem Gesang.“ - -Es war so selten, daß Helene Hackentin über ihre Kunst sprechen hörte. -Und wenn sie auch die übertriebene Bewunderung ablehnte, sie freute -sich doch ein wenig. - -Einmal -- nicht viel später -- meinte Martha neckend: „Hör’, Lene, du -machst mir aber jetzt meinen getreuen Courmacher abspenstig.“ - -Da blickte sie ganz erstaunt auf, fand sich nicht gleich in den -scherzenden Ton und antwortete beinahe ernst: „Holfen? Wir sprechen ja -fast nie miteinander.“ - -Sie waren beim Wäscheaufhängen auf der Wiese hinter dem Hause, und -Martha kämpfte einen kleinen Kampf mit dem Wind, der ihr ein großes -Tischtuch fortreißen wollte. Sie hatte gerade eine Holzklammer zwischen -den Lippen und konnte nicht eher weitersprechen, als bis die auf -Leinwand und Leine untergebracht war. - -„So -- ihr sprecht fast nie miteinander? Als ob das nötig wäre. Ich bin -jedenfalls brennend eifersüchtig.“ - -„Du Ärmste! Das tut mir aber furchtbar leid.“ - -„Spotte du nur! Nein, dieser infame Wind! Bitte, hilf mal halten, Lene. -Ja ... was ich sagen wollte: warum mag Holfen noch nicht geheiratet -haben?“ - -Helene hatte soeben ihren kleinen Korb wieder mit Klammern gefüllt, und -hielt ihn im linken Arm, während sie mit der rechten Hand Klammer neben -Klammer auf die Leine steckte. - -„Wir hätten uns auch nicht gerade diesen windigen Nachmittag -auszusuchen brauchen. Ja so ... dein Holfen. Ich denke, er hat die -Rechte noch nicht gefunden. Oder vielleicht hat er sie auch schon -gefunden, und sie zieht nächstens in Grunow ein.“ - -„Wenn +du+ das nun sein solltest --“ - -Plötzlich lag der ganze Korbinhalt auf dem Rasen. Ganz erschrocken war -Helene, aber dann lachte sie doch. „Was redest du heute für Unsinn, -Martha. Das ist wirklich ein schlechter Scherz ... Nun hilf wenigstens -auflesen.“ - -Sie knieten beide nieder, um die Klammern aufzusuchen. Und da sagte -Martha leise und ernst: „Wenn es nun aber kein Scherz wäre?“ - -„Ach geh! Holfen denkt ja gar nicht daran.“ - -„Wer weiß?“ - -Nun wurde Helene auch ernst: „Aber das wäre ja schrecklich.“ - -„Warum, Lene? Er ist wirklich ein Ehrenmann und würde seine Frau auf -Händen tragen. Außerdem: Ihr paßt zusammen, finde ich. Ist er dir denn -unsympathisch?“ - -Die Klammern waren im Körbchen gesammelt. Sie standen auf -- aber der -Korb blieb zwischen ihnen im Grünen stehen. - -Einen Augenblick stand Helene stumm. Die schmale Falte erschien, tief -eingegraben, zwischen ihren Augenbrauen. Dann sagte sie hastig: „Ich -bitte dich, Martha, wenn du irgend etwas dazu tun kannst, erspare mir -und ihm das. Er mag ein vortrefflicher Mensch sein, aber ich empfinde -auch nicht das Geringste für ihn.“ - -Die Schwägerin hatte den Korb schon aufgenommen und wieder mit ihrer -Arbeit begonnen: „Du solltest nicht so schnell entscheiden, liebe -Lene“, sprach sie ein wenig schwer. „Weißt du: ich kenne Ehen, in die -die Frau mit heißem, hoffnungsfrohem Herzen trat, und die ihr nachher -Bitternis auf Bitternis brachten. Und ich kenne andere Ehen, für die -der Verstand der Frau allein das entscheidende Wort sprach, und die -sehr, sehr glücklich wurden!“ - -Helene schüttelte den Kopf. - -Was wollte Martha eigentlich? Da war wieder einmal der -Temperamentsunterschied zwischen ihnen, das Trennende bei aller -Übereinstimmung ihres Fühlens. Vielleicht auch ein Etwas, dachte -Helene weiter, das Wilhelms Verhalten wenn nicht entschuldbar, so doch -erklärlicher, begreiflicher erscheinen ließ: ein Gran Nüchternheit. -Das bleibt meist auf dem Untergrund. Aber dann und wann tritt es doch -zutage, so wundervoll sonst alle Wesenseinheiten in der lieben Martha -gemischt sind. Vielleicht hat Natur das gerade gut gemeint. Vielleicht -könnte sie sonst nicht tragen, wie sie trägt. - -Sie vollendeten schweigend ihre Arbeit. Erst als sie durch den Garten -wieder dem Hause zugingen, sagte Helene: „Ich hoffe immer noch, du hast -vorhin gescherzt. Wenn das aber nicht der Fall ist, und du kannst mir’s -ersparen -- ich bitte dich, liebe Martha, tu’s.“ - -„Wie sollte ich das? Holfen hat kein Wort zu mir gesprochen, es waren -nur Vermutungen. Aber ich glaube freilich, nicht unberechtigte. Ich -meinte es gut, Lene, ich wollte dich ein wenig vorbereiten. Und ich -meine auch jetzt noch: überleg dir’s, handle nicht unbedacht.“ - -Helene schüttelte wieder nur den Kopf. - -Aber in ihrer Seele war durch das Zwiegespräch nun doch die alte, kaum -vernarbte Wunde angerührt worden, daß sie neu schmerzte. Wieder kamen -die Erinnerungen, und es kam der Vergleich: in Leid und Weh hatte ihre -Liebe sie gerissen, bis dicht an den Abgrund; aber die Seligkeiten, -die sie ihr gebracht, die waren unvergeßlich, würden ewig unvergeßlich -bleiben. Es waren doch Augenblicke -- gelebt im Paradiese. Und daneben -stand die Prosa: ein Ehrenmann, hatte Martha gesagt, der seine Frau auf -Händen tragen wird. Und wenn der andere -- der andere als ein Schuft -an dir gehandelt hat: gleichviel -- in uns strömte doch die große, die -göttliche Leidenschaft. Und wenn der Ehrenmann dir wirklich die Hände -unter die Füße breiten würde, dein ganzes Leben hindurch: dies Leben -würde dir zur Hölle werden, wenn du die Liebe nicht hättest. - -Nein! Nein! Und tausendmal Nein! - -Sie wurde noch vorsichtiger Herrn von Holfen gegenüber, wich ihm aus, -wo sie nur konnte. - -Aber sie fand, daß er sich stets gleichblieb. Er war immer gleich -respektvoll, sehr artig -- nicht mehr. Martha mußte sich doch wohl -getäuscht haben; vielleicht, dachte Helene bisweilen, neigt sie auch -ein wenig dazu, Ehen stiften zu wollen. - -So schlummerte allmählich ihr Mißtrauen ein. - -Darüber war der Sommer vergangen, der Herbst war gekommen. - -Und in dieser Zeit, wo der Landwirt etwas mehr Muße hat, lud Holfen -die Rohlbecker ein, sich einmal anzuschauen, wie er sich in Grunow -eingerichtet hatte. Zum ersten Male. Bisher hatte er immer lachend -gebeten, ihn zu entschuldigen: es wäre bei ihm noch die reine Wüstenei. - -Es war eine kleine Gesellschaft; die Rackowschen, auch Grucker, -dessen ältester Sohn bei den Pasewalker Kürassieren stand, Artenau, -der Stickereimajor und Bowlenkünstler, mit seiner semmelblonden Frau -und der semmelblonden Tochter. Man kam augenscheinlich, sich über die -Junggesellenhäuslichkeit des Neulings im Kreise ein wenig zu amüsieren, -und war überrascht, wie hübsch sich Holfen „etabliert“ hatte, um mit -Tante Marie zu reden, die das alte Verwalterhaus kaum wiedererkannte -und staunend, mit dem langstieligen Lorgnon vor den Augen, von einem -Zimmer zum andern ging. - -„Aber wirklich, mein lieber Herr von Holfen, Sie haben Wunder -geschaffen. Ganz deliziös. Fehlt nur noch, daß Sie eine liebenswürdige -Hausfrau in das fertige Nestchen setzen.“ - -Nur der Garten hatte noch nicht ganz ihren Beifall. Als man draußen -unter der großen Linde beim Kaffee saß, zeichnete sie mit der Spitze -ihres Sonnenschirms in den Kies einen ganzen Plan, nach dem der Garten -freilich fast zu einem Park wurde. - -„Meine Hochachtung!“ rief Graf Grucker. „Marie, du bist und bleibst -sublim! Verwandle doch gleich das ganze Vorwerkchen in einen Jardin! -Die geborene Depensière bist du!“ - -Tante Marie zog die Achseln hoch: „Was du nicht weißt, mein Lieber! -Aber dein Französisch ist mäßig. Falls du mich wirklich als -Verschwenderin bezeichnen wolltest, hättest du besser Dissipatrice -gesagt. Depensière hat so eine dumme Nebenbedeutung.“ - -„Meine Hochachtung! Welche denn?“ - -Während sie das zum Gaudium des kleinen Kreises auseinandersetzte, daß -nämlich die Speisemeisterin in den französischen Klöstern Depensière -genannt würde, sah ihr Mann sie etwas kummervoll unter seinem Einglas -um die Ecke an. Er dachte wahrscheinlich daran, welche Wege sein -hübsches Vorwerk gewandelt war. Überhaupt, er war still und in sich -gekehrt, Ernst Hackentin. Sogar dem harmlosen Artenau fiel das auf, -so daß er den Vetter einmal leise anstieß: „Was hast du denn nur, -Dickerchen?“ Er bekam nur eine knurrige Antwort: „Ach, laß mich. -Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“ - -Holfen war der liebenswürdigste Wirt. Aber er war wie von einer leisen, -ihm sonst ganz fremden Unruhe erfüllt. Vielleicht gerade, weil er zum -erstenmal Gäste bei sich sah und ihm die Hausfrau fehlte. Martha machte -zwar auf seine Bitte die Honneurs, aber auch sie wußte ja nicht recht -Bescheid. So hastete er ein wenig zu viel umher. - -Nach Tisch setzten sich die Herren zu ihrem unvermeidlichen Whist. -Die Damen blieben im Vorderzimmer. Die alte Gnädige saß, ein -wenig träumend, auf dem Sofa. Tante Marie führte fast allein die -Unterhaltung. Sie amüsierte sich. Die beiden Semmelblonden aus -Stellberg machten immer so furchtbar dumme Gesichter, wenn sie -irgendeine ihrer kleinen Pikanterien erzählte; wie auf Kommando -sperrten Mutter und Tochter die Mäulchen auf und klappten sie wieder -zu. Es war ja aber auch toll. Da sollte eine Duchesse sich ein Kleid -von kristallisierter Gaze haben machen lassen, vier Röcke übereinander, -das oberste mit acht Volants, und zu dem Ganzen hatte Laferriere, der -große Modeschneider, nicht weniger als elfhundert Ellen Zeug gebraucht. -Aber alle Pariser Damen waren freilich nicht so verschwenderisch mit -dem Stoff. Es gab sogar sehr sparsame. Die Gräfin Castiglione -- -„Ihr wißt ja, man sagt, daß sie die Nebenbuhlerin der Kaiserin ist“ --- die Gräfin Castiglione ist im vorigen Jahr auf einem Ball des -Marineministers als Salambo erschienen -- „Ihr kennt doch jedenfalls -den Roman von Flaubert, der von der schönen Karthagerin handelt --“, -als Salambo also und war in einem Kostüm, das nur aus dem wunderbaren -Schmuck bestand, den der Kaiser ihr heimlich geschenkt hat. - -Die Tür zum Hinterzimmer stand halb offen. Dann und dann dröhnte -Gruckers mächtige Stimme: „Himmel, hast du keine Flinte! Meine -Hochachtung, Artenau. Karten hat der Mensch -- Karten!“ Whist sollte -Schweigen heißen. Aber davon hielten die Herren nichts. - -Helene langweilte sich. Vor solchen Geschichtchen, wie Tante Marie sie -heut liebte, hatte sie einen Abscheu. Sie stahl sich leise fort. Sah -auf einen Augenblick ins Herrenzimmer, aber da war ein Zigarrenrauch, -den man mit dem Messer hätte durchschneiden können. So trat sie auf -die kleine Veranda, die nach dem Garten hinaus neu angebaut war. Ein -winziges Ding, gerade vier Personen hätten darauf Platz finden können. -Aber die Aussicht war entzückend. Der Garten fiel ziemlich steil -ab. Unten lag der Grunower See, von dunklen Fichten umkränzt. Der -Mondschein lag darauf, silbrig leuchtete das Wasser. - -Sie lehnte an der Brüstung, schaute hinab und dachte: Unsere Mark ist -doch schön. - -Mit einem Male stand Holfen seitwärts hinter ihr. Hier, wo das -Mondlicht nicht hinkam, im Dachschatten, war es fast ganz dunkel. Sie -fühlte Holfen mehr als sie ihn sah. Und sie erschrak. - -Dann hörte sie seine Stimme: „Ganz allein, gnädiges Fräulein?“ - -„Ich wollte ein wenig Luft schöpfen.“ - -„Ist das nicht hübsch, der Ausblick auf den See? Hier ist mein -Lieblingsplatz. Fast jeden Abend sitz ich hier und träume nach des -Tages Arbeit ein wenig.“ - -Er sprach ruhig. Aber Helene fühlte, in der Ruhe lag etwas -Beherrschtes. Sie wäre gern ausgewichen, in das Zimmer zurückgetreten. -Aber er stand vor der Eingangstür. Und dann -- es war wohl doch nur -Einbildung -- - -„Der Platz ist wirklich sehr hübsch. Ich habe oft bedauert, daß wir in -Rohlbeck so wenig Wasser haben.“ - -„Gefällt Ihnen Grunow auch sonst in seiner neuen Gestalt, gnädiges -Fräulein?“ - -Er war ein wenig nach vorn getreten, und seine Stimme vibrierte nun -trotz aller Beherrschung leise. Jetzt fühlte sie deutlich, daß ihre -erste Befürchtung nicht falsch gewesen war. Und sie dachte nur: wie -ersparst du’s ihm und dir? Aber es war kaum noch möglich. Denn er -wartete ihre Antwort gar nicht ab, sprach gleich weiter: „Man hat mir -heut mehrfach gesagt, ernst der eine, neckend die andere, es wäre fast, -als ob ich dies Haus hier schon für seine zukünftige Herrin vorbereitet -hätte. Niemand hat wohl geahnt, daß dem wirklich so ist, daß ich seit -Monaten täglich, stündlich an diese Herrin gedacht habe.“ - -Nein -- er durfte nicht vollenden! Sie mußte dem lieben Menschen die -Beschämung ersparen. - -So fiel sie schnell ein: „Das freut mich, Herr von Holfen. Wir alle -werden uns sehr freuen, wenn Sie heiraten.“ Aber indem sie sprach, -erschrak sie vor ihren eigenen Worten. Wenn er die nun falsch auffaßte? -Wie man nur so ungeschickt sein konnte! Hastig fuhr sie fort: „Sehen -Sie, jetzt geht der Mond hinter dem Walde unter. Der See liegt im -Dunkeln. Es wird plötzlich recht kühl. Ich will doch lieber --“ - -Da stand er schon dicht neben ihr, beugte sich ganz vor und bat: -„Würden Sie hier als Herrin einziehen mögen -- als meine Herrin? -Fräulein Helene ... ich habe Sie so sehr lieb. Fast vom ersten Sehen an -wußt’ ich es --“ - -Seine Hand fühlte sie neben der ihren tastend auf dem Geländer. Fühlte, -wie sein Auge durch die Dunkelheit sie suchte. - -Sie wich seitwärts aus. Ganz schmal machte sie sich, drückte sich gegen -die Wand. - -„Fräulein Helene ...“ - -Tief schöpfte sie Atem. - -„Herr von Holfen ... bitte ... sprechen Sie nicht weiter ...“ Mühsam, -stockend nur brachte sie es heraus. „Ich darf Sie nicht hören ...“ - -Sie wagte nicht aufzusehen. Dachte nur, jetzt wird er gehen. Und so -leid tat er ihr, so unsagbar leid. - -Aber er ging nicht. Einen Augenblick schwieg er. Dann hörte sie wieder -seine Stimme, bittend, beschwörend: „Weisen Sie mich nicht so ab. Sie -kennen mich ja kaum. Vielleicht war das mein Fehler. Ich verstehe -mich wenig auf das Werben um ein Mädchenherz. Aber Liebe soll ja doch -Gegenliebe wecken. Ich will geduldig sein, will warten, ausharren. Ich -hab Sie ja so lieb, Fräulein Helene --“ Und dann, als keine Antwort -kam, fragte er heiß: „Ist Ihr Herz nicht frei?“ - -Es war für sie wie ein Schlag. Denn mit einem Male wußte sie: nein, -dein Herz ist nicht frei. Du hast es dir selber nur vorgetäuscht. -Du hast vielleicht überwunden, aber nicht vergessen. Mit einem Male -standen die Erinnerungen wieder vor ihr, die seligen Erinnerungen, -und die qualvoll durchwachten Nächte, die lodernden Sehnsuchten, -die sie in die Kissen hineingeweint hatte, Glück und Leid, all das -Himmelhochjauchzende, all das zu Tode Betrübte. - -Nein, ihr Herz war noch nicht frei. Überwunden mochte es haben, -vergessen konnte es nicht. - -Sie kämpfte mit Tränen. Und mit tränenerstickter Stimme bat sie: „Bitte -... lassen Sie mich ...“ - -Da trat er zurück. Es war ja auch eine Antwort. - -Ganz schmal machte sie sich, glitt am Geländer entlang, zur Tür dann, -trat in den Salon. Wie das helle Kerzenlicht den Augen weh tat nach der -Dunkelheit draußen -- - -Tante Marie war noch immer in Paris. Sie erzählte gerade von einer -Soiree bei der Fürstin Pauline Metternich, der österreichischen -Botschafterin, und daß da Hortense Schneider -- „Ihr wißt, die die -‚Schöne Helena‘ kreiert hat“ -- anwesend gewesen wäre, und Madame -Térésa von Alcazar d’Eté hätte ihre famosen Gassenhauer gesungen: -„~Rien n’est sacré pour un sapeur!~“ Die beiden semmelblonden -Artenaus sperrten die Mäulchen auf. Mutter nickte ein wenig in ihrer -Sofaecke und sagte nur einmal aus ihrem Halbtraum heraus: „Ja ... die -Pauline Metternich, das ist eine geborene Sandor ... eine Ungarin.“ -Dann polterte Onkel Grucker herein: „Meine Hochachtung! Der Rittmeister -hat uns heut aber ordentlich belehrt. ’n Daler acht Groschen! I ... und -da ist ja unser Leneken ... Mädel ... ’n Schmatz! Aber ’n ordentlichen, -nich so’n vulgären Onkel-Nichten-Kuß, bei dem man nicht weiß, wie und -warum!“ - -Und dann fuhr man hinaus in die dunkle Nacht. - - * * - * - -In den nächsten Wochen ließ sich Holfen nicht in Rohlbeck sehen. Die -Rackower erzählten, er wäre in Berlin. „Das heißt,“ meinte Vater, „der -Mann kann sich schon mal ’ne Erholung leisten. Was der den Sommer über -auf seiner Klitsche geleistet hat, geht auf keine Kuhhaut.“ Martha sah -bisweilen, wenn von ihm die Rede war, ein wenig vorwurfsvoll zu Helene -hinüber. Aber sie fragte nicht. - -Erst als der Schnee schon lag, sah Helene Holfen wieder. Er kam nun -wieder nach Rohlbeck, nicht so häufig vielleicht wie früher, aber -scheinbar ganz der alte. Immer liebenswürdig, bei allen beliebt; hatte -seine kleinen wirtschaftlichen Anfragen bei Martha, nahm, wenn er -einmal zum Abend blieb, den Jungens eine Partie Mühle nach der andern -ab. Helene und er begegneten sich, als wäre nichts zwischen ihnen -vorgefallen. Und sie war ihm dankbar, daß er ihr das ermöglichte. - -Sie hatte an jener Abendstunde auf der kleinen Veranda doch schwer -gelitten. Nicht nur um Holfens willen, so leid er ihr tat. Sie mußte -von neuem einsargen, was damals lebendig geworden, auferstanden war. - -Wieder waren ihr Arbeit und Kunst getreue Helferinnen. Zumal ihre -Kunst. Harro mußte ihr Noten über Noten senden: Mendelssohn, Schumann, -Schubert. Ein paar Opernpartien studierte sie: aus dem „Waffenschmied“, -aus dem „Feldlager in Schlesien“. Dann wagte sie sich, zögernd, an -die Elsa. Aber da dachte sie sehnsüchtig an ihre Lehrerin zurück, -fühlte das Fehlen der verständnisvollen Anleitung, des ermunternden -Zuspruchs. Richard Wagner stand noch vor ihr wie ein Koloß. Etwas -Erbarmungsloses, fand sie bisweilen, lag in seinen Ansprüchen. Einmal -war sie in ihren Nöten zum alten Flehr geflüchtet. Doch der schüttelte -nur das graue Haupt, ließ die Hand verlegen um die ewigen Stoppeln auf -seinem Kinn gleiten und sagte schmerzlich: „Da kann ich nicht mit, -gnädiges Fräulein.“ Beugte sich, immer die lange Pfeife im Munde, -mit seinen kurzsichtigen Augen tief auf die Noten, versuchte auf -seinem Klimperkasten ein paar Sätze -- ging dann plötzlich zu seinem -geliebten Mozart über, schlug die blauen Augen auf, daß sie ordentlich -leuchteten: „Das ist doch noch Musik!“ - -... man mußte sich schon selber helfen ... - -Jetzt schickte Harro keine Noten mehr. - -Aber dafür seine frohen, übermütigen Briefe von „da oben“ her. Und -Vater beorderte dann und wann Helene ans Klavier, daß sie ihm das -Chemnitzsche Lied sänge: - - „Schleswig-Holstein, meerumschlungen, - Deutscher Sitte hohe Wacht, - Wahre treu, was schwer errungen, - Bis ein schön’rer Morgen tagt! - Schleswig-Holstein, stammverwandt, - Wanke nicht, mein Vaterland!“ - -Manchmal mußte Helene auch aus Harros Briefen vorlesen. Die Garde stand -jetzt schon oben auf jütischem Boden, bei Kolding. Ein wenig neidisch -schrieb der tatendurstige Junker von den Kameraden, denen vor den -Düppeler Schanzen größere Lorbeeren winkten. Aber kleinere Gefechte -gab’s bei ihnen auch, und lustige Geschichtchen wußte er immer zu -erzählen. Gestern hatte „Einer von meinem Regiment“ einen flüchtenden -Dänen angeschossen, ihn dann eingeholt, triumphierend zurückgebracht: -„Das ist +mein Däne+!“ und ihn durchaus selber gesund pflegen -wollen. Vater schmunzelte oder lachte auch hell auf. Als Harro -beschrieb, wie wunderschön drollig jetzt die Posten aussähen: im großen -weißen neugelieferten Schafpelz mit dem Helm dazu auf dem Kopfe, meinte -er: „So sahen unsere Kerle im Winter Anno achtzehnhundertundzwölf auch -aus, oben in Kurland, beim alten Yorck. Das heißt, geliefert waren uns -die Pelze nicht. Die hatten wir -- gestohlen. Aber Helme hatten wir -noch nicht, und unsere alten Hüte waren immer so steifgefroren, daß man -Suppe draus hätte löffeln können.“ - -Dann, Ende März, kam ein förmlicher Jubelruf: „Hurra, nun kommen wir -doch noch vor Düppel. Unsere neuformierten Garde-Regimenter sollen -beweisen, daß sie hinter den alten nicht zurückstehen. Wir wollen’s den -Dannemanns schon zeigen! Und wenn der „Rolf Krake“ angeschwommen kommt, -dann stecken wir den mitsamt seinen dicken Panzerplatten in die Tasche. -Halt mir den Daumen, liebe, liebe Lene! Wenn alles gut geht und ich -kann mich ein bissel auszeichnen, bin ich vielleicht in vier Wochen -Offizier.“ - -Helene mußte lächeln. Hinter Harros Zeilen stand immer noch etwas -Besonderes, etwas Heimliches, nur für sie Bestimmtes. Er schrieb nie -von seiner anbetenden Liebe. Manchmal hatte sie geglaubt, daß er die -mit der Schulmappe und der Jungensmütze abgestreift, daß sie sich ihm -und ihr wirklich in gute Kameradschaft gewandelt hätte. Aber dann kamen -wieder Wendungen, die sie anders deuten mußte. „Wir haben gestern -nacht die dritte Parallele ausgehoben. Ganz dicht vor den Schanzen. -Sternenklar war die Nacht. Da hab ich hinaufgeschaut zu den blitzenden -Sternen, und ich hab immerfort an Dich denken müssen.“ - -Vater war sehr unruhig in diesen Tagen. Nie konnte er die Posttasche -erwarten. Und wenn er aus der „Kreuzzeitung“ das Neueste vom -Kriegsschauplatz vorlas, dann kramte er aus dem kleinen Schatz -seiner kriegsgeschichtlichen Erinnerungen allerlei Ergänzungen, -Erläuterungen hervor. Der Sturm auf die Düppeler Schanzen stand ja -bevor. „Wird viel Blut kosten, das heißt, die Artillerie hat natürlich -mächtig vorgearbeitet. Aber so ein sturmfreies Werk, mit Graben und -Bastionen -- keine Kleinigkeit das!“ Ganz aus dem Häuschen waren die -Jungens. Papier und Bleistift schleppten sie heran, Großvater mußte -ihnen aufzeichnen, wie das eigentlich war: ein sturmfreies Werk und -Parallelen und Laufgräben. Eine ganz wunderliche Zeichnung kam dabei -heraus. Am Sonntag betete Heckstein von der Kanzel für unsere Tapferen -in Schleswig-Holstein. - -Und Helene betete herzinnig mit. Nicht daß sie sich um Harro sorgte. -Wie hätte dem frischen lieben Harro etwas geschehen sollen? Das schien -ihr ganz ausgeschlossen, sie dachte gar nicht daran. Aber die Hände -schloß sie doch und bat um Sieg und flocht auch Harro dabei im stillen -einen Lorbeerkranz. - -Am 18., in der Dämmerstunde, ritt eine Estafette in Rohlbeck ein, ein -Stellberger Postillion. Artenau hatte einmal eine vernünftige Idee -gehabt und an den ungeduldigen alten Rittmeister gedacht, sich’s zwei -blanke Taler kosten lassen. - -Mit zitternden Händen riß Vater die Depesche auf. Sie umdrängten -ihn alle auf der Veranda, sogar Mutter war herausgekommen, als der -Postillion am Tor ins Horn gestoßen hatte. - -„Düppel heut vormittag glorreich erstürmt. Schwere Verluste. General -Raven tödlich verwundet.“ - -Der alte Rittmeister hatte sein Käppchen abgenommen. - -Sie sahen alle zu ihm empor. Er las noch einmal. Und dann setzte er -hinzu, mit bebender Stimme: „Unsere brave Armee! Endlich wieder einmal -ein preußischer General für König und Vaterland geblutet. Der erste -nach fünfzig Jahren. Jungens, nun lauft! Zum Kantor. Läuten soll er -- -läuten!“ - -Eine Stunde später war die Posttasche da. Die „Kreuzzeitung“ wußte -noch nichts. Und auch die vom nächsten Tage brachte nur die erste -Siegesdepesche und einen einzigen Zusatz: siebzig Offiziere tot und -verwundet, gegen tausend Mann. Aber ein kurzer Brief Wilhelms an Martha -war dabei: „Ich komme morgen. Lauter gute Nachrichten. Berlin schwimmt -in Begeisterung und Jubel.“ - -Mit Extrapost kam er, ein paar Stunden früher, als erwartet. Die -Jungens hatten oben von ihrem Fenster aus mit ihren Luchsaugen die -Postchaise schon erspäht, als sie noch bei der Dampfmühle war, und -hatten das ganze Haus alarmiert. Wieder standen alle auf der Veranda. - -Als er aus dem Wagen sprang, rief er: „Martha, Vater -- ich hab die -Konzession. Die Eisenbahn ist durch!“ - -Er stürmte die Stufen hinauf, umhalste einen nach dem andern, sagte, -rief immer wieder: „Ich hab die Konzession. Es ist alles in Ordnung. -Vater, ich hab vierzigtausend Taler dabei verdient. So freut euch doch! -Freut euch doch!“ - -Sie freuten sich ja auch alle. Aber die große Spannung war in so -ganz anderer Weise gelöst, als sie es erwartet hatten. Er mußte es -endlich merken. Er lachte: „Ja, so -- natürlich, ihr habt alle Düppel -im Kopf! Ihr wißt wohl gar nichts Näheres? Großartig! Berlin hättet -ihr vorgestern abend sehen sollen. Wie toll zogen die Massen durch die -Straßen. Alle Häuser waren illuminiert. Da haben die Berliner nun auf -die Soldateska geschimpft und geschimpft, und jetzt sind sie auf einmal -Feuer und Flamme. Der König bekam die Depesche von der Erstürmung der -ersten sechs Schanzen auf dem Tempelhofer Felde, als er gerade die -Franzer besichtigte. Er fuhr gleich nach dem Palais. Da standen schon -Hunderte und Tausende und sangen das Preußenlied. Er soll Tränen in den -Augen gehabt haben.“ - -Wilhelm hatte sehr schnell gesprochen. Nun holte er Atem und fuhr -langsam fort: „Freilich -- schwere Verluste. Daß General von Raven -schwer verwundet ist, wißt ihr wohl schon. Ja, und unsere arme Tante -Oschitz ... Harro ist vor Schanze VI gefallen --“ - -Da schrie Helene auf. - - - - -Neuntes Kapitel - - -Die alten Herrschaften saßen allein auf Rohlbeck. - -Wilhelm hatte gleich erklärt: jetzt müßte es ein Ende haben mit der -ewigen Trennung. Er sehne sich, Weib und Kind bei sich zu haben. Die -Jungens sollten auch aufs Gymnasium. Das letztere war vielleicht für -Martha das Ausschlaggebende. Denn sie schied schmerzenden Herzens von -der Scholle, die ihr so lieb geworden war, als hätte ihre eigene Wiege -darauf gestanden. Und sie fürchtete sich vor Berlin. - -Helene war mit Wilhelms im Herbst übergesiedelt. Zuerst nur, um bei -dem Umzug und bei der Neueinrichtung zu helfen. Dann blieb sie, auf -Vaters ausdrücklichen Wunsch. Sie war so still und ohne rechte Frische -gewesen in all der letzten Zeit; seit der Nachricht von Harros Tode, -hätte man beinahe sagen können. Ein wunderliches Mädel, fand der alte -Rittmeister. Ja, ja doch, es war ja sehr traurig. Aber, du mein Gott, -der Junge hatte doch einen so herrlichen Tod gehabt, für König und -Vaterland. Und ohne Schmerzen, gleich dahin. Daß Lene das so naheging! -Das heißt, sie hatte wirklich immer an dem Harro gehangen, fast wie -eine Schwester. Aber nun das schmale, blasse Gesichtchen. Nun, sie -mußte mal ordentlich heraus. Sollte auch wieder Unterricht nehmen, daß -sie auf andere Gedanken käme. Nicht einen Ton hatte sie gesungen seit -dem letzten Male in der Kirche, wo Heckstein der toten Sieger gedachte. - -Sie wollte nicht nach Berlin. Wollte nicht -- wollte auch die alten -Eltern nicht allein lassen. Da sprach der Rittmeister ein Machtwort. -„Und überhaupt, das heißt, so alt sind wir denn doch noch nicht! Das -bißchen Wirtschaften hier! Für immer und ewig brauchst du ja nicht -fortzubleiben, und wenn erst die Eisenbahn fertig ist, dann ist das ja -nur ein Katzensprung.“ - -Wilhelm hatte vor dem Halleschen Tor gemietet. In einem ganz neuen -Hause, das die spottsüchtigen Berliner „Neu-Amerika“ getauft hatten, -weil es so weit draußen lag und weil es so sehr groß war. Ein -Riesenkasten, aber schön gelegen. Von der Vorderfront sah man über die -Kanalbrücke auf den Belleallianceplatz mit der Rauchschen Viktoria; -die andere Front der Wohnung ging nach der breiten Bellealliancestraße -hinaus, und jenseits lag das große Rothersche Stift inmitten eines -gewaltigen Gartens. So hatte man doch den Blick auf grüne Bäume. Und -die Jungens jubelten: fast an jedem Morgen wurden sie durch lustige -Militärmusik mit Piefkes Düppelmarsch geweckt, und wenn sie dann ans -Fenster stürzten, dann sahen sie unten die langen, bunten Kolonnen, die -durch die Bellealliancestraße dem Kreuzberg zuzogen. - -Martha lebte sich anfangs sehr schwer ein. Die Wohnung war gewiß für -Berliner Verhältnisse recht geräumig, aber sie empfand überall ihre -Enge gegenüber dem Rohlbecker Hause; litt überhaupt unter der Enge der -großen Stadt nach den langen Jahren des Landlebens, fand sich auch -nicht leicht in die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse, hatte -für ihre emsigen Hände zu wenig zu tun. Aber sie war doch glücklich, -mit ihrem Manne vereint zu sein. Und allmählich gewöhnte sie sich -mehr und mehr, hatte ihr kleines Vergnügen an einem Bummel durch die -Leipziger Straße, suchte überall nach den billigsten Quellen und kam -jedesmal stolz vom Wochenmarkt auf dem Belleallianceplatz zurück; -besonders stolz, wenn sie in einem kleinen Preisdisput mit einem der -groben Marktweiber glorreich obgesiegt hatte. Allmählich gewann sie -Berlin fast lieb. - -Auf Helene wirkte dies Berlin ganz anders als vor zwei Jahren. Sie -war gleichgültig geworden gegen die große Stadt. Es interessierte sie -nichts mehr, es reizte sie nichts mehr: nichts zum Staunen, nichts zur -Bewunderung, nichts zum Widerspruch. Und auch die Erinnerungen glitten -nun, wenn sie kamen, an ihr ab wie etwas Fremdgewordenes. Mit Ausnahme -der einen, um die der Tod frischen Lorbeer gewunden hatte. - -Ihr erster Gang hatte der einsamen Insel gegolten. Sie fand die Tante -merkwürdig gefaßt. Ganz schmal und durchsichtig zart war das kleine -Gesicht unter der Trauerhaube, aber aufrecht und ruhig: „Der Herr hatte -ihn mir gegeben, der Herr hat ihn mir genommen,“ sagte sie fast wie -Hiob, „der Name des Herrn sei gelobt.“ Es lag etwas Tiefergreifendes in -ihrer Ergebenheit. In Helene lebte der Schmerz anders; sie hätte ihn -klagend gen Himmel schreien mögen. - -In sein kleines Stübchen führte Tante Marianne sie. Da stand und lag -noch alles, wie er es verlassen. An dem letzten Tage vor dem Ausmarsch -war er noch darin gewesen. - -Tante Marianne setzte sich vor seinen Schreibtisch, ließ die Bücher, -die auf dem Tisch lagen, langsam durch ihre Hände gleiten, rückte an -dem Tintenfaß. Helene hatte sich ein Korbsesselchen herangezogen, -stützte den Kopf in beide Hände und weinte. Sprechen konnte sie nicht. - -Auch die Tante saß lange schweigend, nun mit gefalteten Händen auf der -Schreibmappe. - -Dann sagte sie ganz langsam: „Er hat dich sehr lieb gehabt, Helene. -Mehr vielleicht, als er sollte. Ich hab das auch erst gemerkt, als du -fort warst.“ - -‚Mehr vielleicht, als er sollte.‘ Helene hörte eigentlich nur das. -Konnte man denn einen Menschen mehr liebhaben, als man sollte? - -Aber sie durfte ja nicht mit der Mutter rechten. Und Tante Marianne -würde auch nimmer verstanden haben, wenn sie ihr von dieser reinen -und heißen Jünglingsliebe gesprochen hätte und von dem, was ihr Harro -gewesen und geworden war in der Zeit ihrer Not. Vielleicht meinte Tante -Marianne auch nur ‚Er hat dich sehr liebgehabt -- mehr als mich.‘ - -Nur eins mußte sie sagen. Und es mochte wohl wie ein Auftrotzen -klingen: „Ich hab ihn auch sehr liebgehabt.“ Wie ein Auftrotzen, und -war doch großer Schmerz. - -Tante Marianne sah auf und senkte den Kopf wieder. Vielleicht hatte -sie auch das nicht recht verstanden, daß man jemand liebhaben kann in -reinster Freundschaft. Vielleicht lebte auch in ihren Gedanken ihr -Harro nur noch als Knabe; vielleicht hatte sie nie ganz begriffen, daß -aus dem Knaben ein Jüngling geworden war, mit all der Lust und all dem -Leid des Jünglingsherzens. - -Sie stiegen wieder herunter und saßen im düsteren Wohnzimmer einander -gegenüber. - -Die Tante fragte nach Rohlbeck, nach den Eltern, nach Wilhelms. Helene -gab Antwort. Und beider Gedanken waren doch nur bei ihm. Er stand für -sie drüben an der Tür, er saß für sie in der tiefen Fensternische, er -ging draußen vorüber unter den blühenden Kastanien. - -Plötzlich sagte Tante Marianne, und nun klang doch der ganze Schmerz -des Mutterherzens durch all ihre Ergebung hindurch: „Warum mußte er -Soldat werden! Ich wollte es nicht. Fast auf den Knien hab ich ihn -gebeten --“ - -Und wieder saß Helene wortlos. Was sollte sie sagen? Auch das würde -Tante Marianne nicht verstehen: daß der Tod auf dem Schlachtfelde der -schönste Tod ist und daß mit Harro Hunderte und aber Hunderte, arm und -reich, hoch und gering, in den Tod gegangen waren -- mit Gott, für -König und Vaterland. - -Mit Gott! Den Kopf hätte Tante Marianne geschüttelt: ‚Du sollst nicht -töten!‘ - -Und dabei fühlte sie, wie wieder der fragende, vorwurfsvolle Blick auf -ihr ruhte. Fast als ob er zu ihr spräche: Du bist schuld daran, daß er -so früh eintrat! Daß er ein Mann sein wollte, wo er noch ein Knabe war! - -Es fröstelte sie in dem düsteren Zimmer. - -Schwer stand sie auf. Küßte der Tante die Hand. „Ich muß nun wohl -gehen --“ - -Tante Marianne blieb auf dem steiflehnigen Sofa sitzen, sagte nur müde: -„Grüße Wilhelm und Martha.“ - -Aber dann plötzlich, als Helene schon an der Tür war, kam die Tante -hinter ihr drein, umschlang sie mit beiden Armen, drückte sie an sich -und rief unter Schluchzen: „Er hat dich so liebgehabt. Er hat dich ja -so liebgehabt!“ - -Und da weinten sie beide, Wange an Wange. Weinten um den, der in ihren -Herzen nie sterben würde: um den Knaben, um den Jüngling, um den jungen -Helden, der mit einem Lächeln in den Tod gegangen war. - -Seitdem ging Helene häufig nach der einsamen Insel. Mehr und mehr -lernte sie Tante Marianne verstehen und schätzen. Auch lieben. Aber -diese Liebe rankte sich doch fast nur um die Erinnerung an Harro. Bei -allem Verstehen und aller Verehrung, auch in aller Zuneigung blieb -etwas Fremdes. Und manchmal dachte Helene: ‚Es ist nicht anders wie -in deinem Verhältnis zu Martha. Wir haben uns gefunden, und sind doch -nicht ganz eins geworden.‘ - -Bisweilen, wenn sie von der einsamen Insel kam, ging sie auch an der -kleinen Konditorei in der Bendlerstraße vorüber. Einmal stand sogar -das alte Kuchenfräulein vor der Tür und sah in den lachenden Frühling -hinaus, knixte und machte große Augen. Da grüßte Helene mit einem -leichten Kopfneigen und lächelte, indem sie weiterschritt. Wirklich, -sie konnte lächeln. Wunderte sich selber darüber, wie fern ihr nun -diese Episode lag, und daß sie ihr aus einem großen Erleben zu einer -Episode hatte werden können. Aber sie wußte auch: die emsige Arbeit -und ihre Kunst hatten das erste und vielleicht das Beste an ihr getan, -und doch nicht alles; es mußte die Zeit helfen, sie das Überwinden -zu lehren, und es mußte Harros Tod kommen, um das Überwinden zur Tat -werden zu lassen. Wie denn der eine Schmerz so oft den andern löst. - -Monat auf Monat war verstrichen, und der Sommer stand schon vor -der Tür, da raffte sich Helene endlich auch zu dem Besuch bei Frau -Harriers-Wippern auf. Immer wieder hatte sie ihn hinausgeschoben. Nun -drängten Vaters Briefe; es drängte auch das eigene Gewissen. Denn sie -wußte, Mitte Juni ging die Sängerin meist in die Ferien. - -Das Herz klopfte ihr doch, als sie die teppichbelegten Stufen zur -Wohnung hinaufstieg und die Klingel zog. Sie fühlte sich schuldbewußt -der gütigen Meisterin, schuldbewußt auch ihrer eigenen Kunst gegenüber. -Die Worte klangen in ihr auf, die die Lehrerin nach der ersten Prüfung -gesprochen hatte: von der Heiligkeit der Gabe, die ihr verliehen, und -wie man sie hegen und pflegen müsse. Sie aber kam ja eigentlich auch -jetzt nicht, um sich in ganzer Hingebung wieder der Kunst zu widmen. -Fast gezwungen kam sie, unlustig, wie sie in all diesen Wochen gewesen -war. - -Sie mußte ein wenig warten. Es war alles wie früher. Unter den großen -Blattgewächsen saß sie im Salon, die wohlbekannten Bilder blickten von -den Wänden auf sie herab. Aus dem Zimmer nebenan klangen halblaute -Worte, dann einzelne Töne, eine Halbkadenz, ein paar Anschläge auf dem -Flügel. Wie sie das alles kannte! Frau Harriers sang mit halblauter -Stimme. Glockenhell aber. Nun die Schülerin. Hilf Himmel -- meine arme -Lehrerin! Solch eine Stümperei! Wie gequält, wie mühsam -- schlecht, -einfach schlecht. Was sollte das sein? Heiliger Mozart, wie man sich -so an dir versündigen kann! Wenn das unser alter, guter Kantor hören -müßte -- - -Seit Wochen, seit zwei Monaten hatte Helene nicht gesungen, keine Musik -gehört. Nun, ganz plötzlich, regte es sich wieder in ihr. Waren es -Erinnerungen, war’s die Atmosphäre dieses Hauses, waren es die Töne, -die, gedämpft durch Tür und Vorhang, zu ihr drangen? Das Blut wallte. -Sie sprang auf, hastete ein paar Male durch das Zimmer, blieb wieder -stehen, horchte, lauschte. - -Dann ging die Tür. Ein schmächtiges junges Ding, elegant, im lichten -Sommerkleid mit ungeheuerlichen Pagodeärmeln, huschte vorüber. Aber -gleich hinter ihr trat Frau Harriers-Wippern in den Salon. Blieb an der -Schwelle stehen, schlug die Hände zusammen: „Fräulein von Hackentin!“ --- kam dann auf Helene zu, faßte sie um den Gürtel: „Sind Sie’s, oder -ist’s Ihr Geist?“ -- lachte ihr altes, helles Lachen: „Nein, ich -fühl’s, sie ist es selber, die Ungetreue, Ungetreueste! Die einzige -Ungetreue, der ich je nachtrauerte! Helene Hackentin! Wie ich mich -freue! Wie ich mich freue!“ - -Es stand ihr auf dem schönen Gesicht geschrieben, daß sie sich wirklich -freute. Das war nicht mehr die ernste, gemessene Lehrerin, als die -Helene sie kannte; fast übermütig war sie: „Da muß man sich nun mit -solch einer Demoiselle Stern quälen, die keine Stimme hat, kein Talent, -nicht einmal Gehör, nichts, nichts, als einen reichen Vater, muß sich -quälen und ärgern und läßt eine Helene Hackentin warten! Warum haben -Sie’s mich nicht wissen lassen, daß Sie’s sind -- hinausgeworfen hätt’ -ich das Modepüppchen aus dem Tempel! Aber nun lassen Sie sich mal -ordentlich anschauen --“ - -Dann wurde sie doch ernst, las wohl in Helenens Zügen das Leid. Sie -schob die Hand vertraulich unter ihren Arm: „Kommen Sie fort aus -dieser kalten Pracht. Ich hab hinten, nach den Gärten hinaus, ein -Privatzimmerchen, in dem wir gemütlicher plaudern können.“ - -So saßen sie denn in dem kleinen Raum, in den die grünen Baumwipfel -hineinwinkten und durch dessen weitgeöffnetes Fenster die laue -Sommerluft wehte. Saßen nebeneinander auf der winzigen Couchette wie -zwei gute Freundinnen. Doch das Plaudern wollte nicht recht gelingen. -Luise Harriers mochte nicht fragen, und Helene Hackentin waren die -Lippen geschlossen. Auch in ihr war herzliche Freude über den Empfang. -Aber sie konnte doch nicht sprechen über das, was sie erlebt hatte, -von dem sie zu niemand gesprochen hatte, außer in den Stunden ihrer -größten Herzensangst zu Martha. Nur Harros Tod berührte sie kurz. Und -dann war da noch etwas, was ihr die Lippen schloß. Frau Harriers hatte -gleich anfangs gesagt, leichthin: „Sie waren ja wohl mit Alfred Schwarz -bekannt? Wissen Sie, daß er sich im Winter mit der Theresa Carena -verheiratet hat?“ - -Es schmerzte ja nicht -- - -Schmerzte es wirklich nicht? Ein dumpfes Wehgefühl hob es aus, eine -jähe Leere, als ob das Blut stockte im Kreislauf, auf einen Augenblick -im Herzen stehen blieb, nicht mehr zum Gehirn emporsteigen wollte. Auf -einen Augenblick nur. Dann konnte Helene ruhig entgegnen: „Ich wußte -nichts davon.“ - -„Er war wieder in Petersburg. Wie ich neulich hörte, soll er jetzt in -Paris leben. Er ist ja immer einer von den unsteten Kollegen gewesen, -die nirgendwo festen Fuß fassen können oder wollen.“ - -Helene saß still, mit geneigtem Kopf. Sie mußte doch nachsinnen: ja, -ein Unsteter, der nirgend festen Fuß fassen kann. Auch nicht will. -Therese Carena? Noch nie hatte sie den Namen gehört. Fragen mochte sie -nicht. Es war ja auch gleichgültig. Nur -- nur -- ob er wohl glücklich -war? - -Die Unterhaltung versiegte. - -Bis dann Frau Harriers, frisch zugreifend, fragte: „Aber Sie, Fräulein -von Hackentin? Ich kann doch nicht länger damit hinter dem Berge -halten: was macht die Kunst?“ - -Da raffte sich Helene auf. - -Stockend, ein wenig verlegen begann sie. Mit der kleinen Münze der -Erklärungen, Entschuldigungen, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte. - -„War denn alles still in Ihnen? Ich kann’s nicht glauben. Wem ein Gott -Gaben lieh, wie Ihnen, dem ist Musik ja der Wundertröster in der Not, -die helle Sonne im Glück.“ - -„Sie war mir beides, Sonne und Trost. Dann ist eine Zeit gekommen, in -der nichts mehr in mir klang.“ - -„Das sind Unglücksstunden, armes Kind, über die der Wille hinwegtragen -muß. Wer hätte solche Stunden, Tage, Wochen nicht? Ich kenne sie auch. -Doch dann modle ich mir den Goethevers auf meine Art um. ‚Gebt ihr euch -einmal für Poeten, so kommandiert die Poesie!‘ Das heißt -- ich singe. -Ich singe mich frei. Aber nun lassen Sie einmal hören, was haben Sie -getrieben, was haben Sie studiert, ehe diese bösen Stunden kamen.“ - -Da berichtete denn Helene. Zagend erst, lebhafter dann. Das Wachwerden, -das vorhin im Salon über sie gekommen war, ganz jäh und unerwartet, -kam ihr in den Sinn. Sie erzählte von ihrem vergeblichen Gang ins -Kantorhaus, wie der alte Flehr über die Elsa-Partie den grauen Kopf -geschüttelt hatte. Frau Harriers fand das entzückend: der Kantor, -die lange Pfeife im Munde, auf seinem Spinett sich abmühend über die -Wagnerschen Noten, zu Zerlinens Lied übergehend, die blauen Augen -verzückt gen Himmel gerichtet: „Das ist doch noch Musik!“ - -„Den Braven möcht ich kennen lernen. Aber Ihnen möchte ich helfen, -Fräulein Helene! Doppelt helfen -- Sie verstehen mich schon. Ich bleibe -zum Glück noch ein paar Wochen hier und hab wenig zu tun. Von morgen an -kommen Sie zu mir. Wir studieren die Elsa. Hier meine Hand -- schlagen -Sie ein!“ - -Vielleicht war es zuerst ein wenig Zwang. Blieb noch eine Weile -Selbstzucht. Aber dann wachte die Freude wieder auf in dem starken -Streben, im Ringen und im Gelingen. Denn es war ein Ringen und es war -ein Gelingen an der neuen großen Aufgabe. Langsam nur, aber stetig -ging es bergauf. Eins kam zum andern. Zu den Stunden bei Frau Harriers -kam italienischer Unterricht bei Signora Marchesi, der kleinen, -quirligen Toskanerin, die für die neue Freiheit ihres Vaterlandes -schwärmte und die Namen Vittore Emanuele und Cavour in jeden dritten -Satz einzuflechten suchte; die die Österreicher so wundervoll haßte, -über den Heiligen Vater so köstlich lächelte, die Priester ihrer Kirche -ironisierte, aber jeden Morgen zur Messe nach der Hedwigskirche ging. - -Tötend langsam waren die ersten Wochen in Berlin hingeflossen, nun -flogen die Tage. - -Ein herrlicher Frühsommer war es, fruchtbar und reich. Vater schrieb -immer wieder, wie prächtig die Ernteaussichten, „das heißt, mehr Regen -könnten wir brauchen. Für unseren märkischen Sand ist bis Johanni jeder -Regenschauer ein Säckchen Dukaten wert.“ Wenn solch ein Brief, meist an -sie gerichtet, kam, so faßte Martha immer die Sehnsucht nach Rohlbeck, -nach grüner Wiese, nach duftendem Flieder, nach einem Kirschbaum im -Blütenschnee. Ganz plötzlich sagte sie dann bei Tisch: „Jungens, wann -kommt ihr heut aus der Schule zurück? Um halb fünf. Gut -- wir müssen -ins Freie. Du auch, Lene.“ Und sie packte ein Körbchen mit Butterbroten -und zog mit ihnen hinaus, die Bellealliancestraße hinauf zum Kreuzberg, -und lagerte sich mit ihrer Schar irgendwo in der kleinen Wildnis um das -ragende Denkmal; oder es ging noch weiter hinaus auf der Chaussee, quer -über den riesigen, sonnigen Exerzierplatz bis nach Tempelhof, in den -schattigen Garten von Kreideweiß. Manchmal, selten, hatte auch Wilhelm -ein Gelüste nach etwas Familiensimpelei. Dann schlug er aber eine -etwas höhere Nüance an. Er lud die Seinen -- „Jungens, wascht euch die -Pfoten!“ -- zu Kaffee und Stippe bei Mielenz an der Potsdamer Brücke -ein, wo der elegante Spießer auf schön getürmten Terrassen saß, oder -führte sie gar am Abend nach dem „Albrechtshof“ oder nach „Moritzhof“ -am Tiergarten. Das war ein besonderer Jubeltag für die Söhne. Denn -erstens bekam jeder ein richtiges Seidel bayerisches Bier und eine -Schinkenstulle, und dann konzertierte der alte Generalmusikdirektor -Wiepprecht dort. Am Schluß stieg der jedesmal auf einen Tisch und -dirigierte ein grandioses Schlachtenfurioso mit großem Trommel- -und Paukengetöse. Die Jungens und auch Martha fanden das über alle -Beschreibung schön. Helene freilich hielt sich lachend die Ohren zu. - -Einmal, im Juni, kam Bruder Fritz angereist und logierte bei Wilhelms. -Der „rote Kreisrichter“ war ein wenig bedrückt. Der Zwist mit dem -Vater lag ihm auf dem guten Herzen, er fühlte sich auch mehr und mehr -isoliert in Stellberg, und dann hatte er dienstlich Unannehmlichkeiten. -Der neue Justizminister Graf Lippe zog schärfere Saiten gegen die -fortschrittlich gesinnten Beamten auf. Es gab gleich am ersten -Vormittag eine lange Beratung zwischen den Brüdern, ohne daß viel dabei -herauskam. Denn Wilhelm sprach als ein Mann der Kompromisse emsig -zum Guten, fürchtete auch persönlich Unbequemlichkeiten für seine -geschäftlichen Beziehungen. Fritz aber redete sich schnell wieder in -seine „Überzeugungstreue“ hinein, wollte lieber gemaßregelt sein, als -nachgeben. Schließlich brach in beiden die Hackentinsche Art durch, sie -lagen sich, nach scharfen Worten, versöhnt in den Armen und schwatzten -davon, wie man sich am besten in Berlin amüsieren könnte. - -„Ohne daß es viel kostet --“ meinte der Stellberger, aber Wilhelm -erklärte: „Ach was! Man sieht sich so selten. Ich lade dich zu Hiller -ein. Die Weiber kommen auch mit. Und am Abend gehen wir zu Kroll. -Martha, Lene -- macht euch so schön, als es möglich ist. Ehre wollen -wir mit euch einlegen.“ - -Er konnte zufrieden sein, und er schmunzelte auch, als der kleine -Karl Hiller, der frühere Oberkellner von Ewest, der erst vor kurzem -das eigene Geschäft Unter den Linden eröffnet hatte, ihn zu dem -reservierten Tisch geführt hatte: Martha und Helene sahen vorzüglich -aus. Martha in ihrer schlichten Frauenhaftigkeit, die Schwester -rassig, eigenartig -- „Donnerwetter, Mädel, als ob du alles Lackzeug -frisch gestrichen hättest.“ Rosigster Stimmung war er: er hatte gleich -gemerkt, wie sich in dem trotz des Sommers überfüllten Lokal, das rasch -in Mode gekommen war, alle Augen auf die schönen Frauenerscheinungen -richteten. Auch mit den Toiletten war er zufrieden: etwas übertrieben -einfach, aber sie kamen mit, die beiden. Wirklich, sie kamen mit, fand -er. Besonders Helene in ihrem Batistkleidchen mit der rosa Tunika über -dem Rock. Zum Erstaunen! Das Mädel wußte aus nichts etwas zu machen. -Und dann ihr wundervolles Haar, vorn in leichten Wellen gescheitelt, im -Nacken der neumodische Chignon, der die rostbraune Flut kaum bändigen -konnte. - -Rosigster Stimmung war er. An jedem dritten Tisch im Saal hatte er -Bekannte, grüßte, nickte, winkte, nannte für die Seinen die Namen: -„Da der Prinz von Schwarzburg! ... Graf Dönhoff ... drüben der große -Theateragent Röder mit seiner schönen Tochter Mila ... in der Ecke -sitzt Strousberg ... siehst du ihn, den kleinen Juden ... und da sitzt -der Oberstleutnant Prinz Hohenlohe, Flügeladjutant des Königs ... -Du, Martha, da kannst du auch die göttliche Anna Schramm sehen mit -dem Rittmeister von Brescius ... und am Nebentisch der schmächtige -Zietenhusar, das ist Graf Haeseler ...“ - -Er grüßte, winkte, bestellte seine Lieblingsmarke, Ruinart, spöttelte -mit dem Bruder, der ein wenig steifleinen zwischen Schwester und -Schwägerin saß, aß wie ein Gourmet, schlürfte den Champagner mit -Kennermiene: „Aber die nächste Bouteille, mein lieber Hiller, etwas -kälter.“ - -Helene war zuerst ein wenig befangen. Dann taute auch sie auf, -plauderte drauflos, neckte Martha, die, wie sie behauptete, neuerdings -eine kleine Passion für die Berliner Weiße hätte und die Berliner -Schrippe und frische Blut- und Leberwurst; die überhaupt auf dem besten -Wege wäre, richtig zu verberlinern. Dann saß sie wieder ein Weilchen -stumm, dachte reuig: ‚Was bist du doch für ein Weltkind!‘ trank hastig -ein Spitzglas Champagner, lachte sich über die veränderte Stimmung -fort: ‚Gott, man ist doch nur einmal jung!‘ -- fühlte, wie diese -Atmosphäre von Luxus und Wohlleben ihr wohltat, diese Spiegelwände, -die weichen, roten Teppiche, der glänzend weiße Damast, die -Kristallschalen, das diskrete Plaudern und Lachen, der leise, leichte -Duft von Parfüm, Speisen, Zigarrenrauch. - -Plötzlich rief Wilhelm: „Merivaux ... suchen Sie einen Platz? Kommen -Sie hierher. Wir rücken ein wenig zusammen.“ - -Da erst sah Helene den Gardeschützen, der mitten im Saal stand, mit dem -Oberkellner unterhandelte. Jetzt stutzte er, zögerte einen Augenblick, -trat dann an den Tisch heran. „~Bonjour, mes dames et messieurs!~ -Sehr freundlich, Herr von ’ackentin. Wenn Sie erlauben --“ - -Er sprach noch immer mit leichtem Akzent, kämpfte noch immer ein -wenig mit dem H, mischte noch immer dann und wann einen französischen -Brocken ein. Aber zugelernt hatte er entschieden „in die swere Sprack“ -während der zwei Jahre. Wahrhaftig, länger als zwei Jahre hatte Helene -den Neuchateller nicht gesehen! Und indem sie das mit leisem Staunen -konstatierte, glitt durch ihre Erinnerung doch auch jener Spaziergang, -im Rackower Park, die Begegnung mit Alfred Schwarz, ihr Gesang im Salon -von Tante Marie -- - -Merivaux widmete sich zuerst fast ausschließlich Martha, sprach mit -den Herren, erzählte, daß er im Winter vierundsechzig -- „da wir -ja leider nicht mobil wurden“ -- auf einige Wochen in der Heimat -gewesen wäre: „Schlechte Zeiten für meine Eltern, für unseren ganzen -Adel.“ Die Demokraten obenauf, die Royalisten ganz, ganz unten; und -allmählich werde auch so mancher von den Guten untreu. Im Vaterhause -aber erhebe der alte Herr immer noch sein Glas, gefüllt mit blutrotem -Cortaillard: „~Vive le roi!~“ Und am 22. März hätte auch diesmal -die schwarzweiße Hohenzollernfahne über Schloß Merivaux geflattert. - -Helene hörte gerne zu, wie er so sprach. Ein romantischer Zug klang -daraus, der Widerklang in ihr fand. Dies treue Ausharren auf verlorenem -Posten, dieser trotzige Sinn der alten Royalisten im fernen Lande: das -war wirklich einmal etwas Eigenes in der Alltäglichkeit des Lebens. -Es lag fast greifbar deutlich vor ihr; das altersgraue Schloß mit -dem dräuenden Turm und der Zollernflagge, und tief unten der blaue -Neuchateller See, wie Merivaux ihn einst ihr geschildert, von grünen -Wiesenhalden umkränzt und blütenreichen Hängen, die schneebedeckten -Alpenhäupter im Hintergrunde. - -Einmal mußte sie unwillkürlich zu Merivaux hinübersehen. Und -da begegneten sich ihre Augen. Sie wunderte sich: es war etwas -Träumerisches in seinem Blick -- etwas Fremdes -- und doch wieder etwas -seltsam Vertrautes. - -Dann wandte er sich gleich an seinen Tischnachbar. Das Gespräch ging -weiter. Fritz konnte sich eine etwas unpassende Bemerkung nicht -versagen, daß Neuchatel doch eben nur seinen natürlichen Anschluß an -die anderen Schweizer Kantone gefunden hätte, wurde aber von Merivaux -ziemlich scharf zurückgewiesen. Dann, um weiterer Peinlichkeit zu -entgehen, fragte Wilhelm recht unvermittelt nach dem neuen Modell der -Jägerbüchse, das die Gardeschützen führten. Und Merivaux sang das Lob -der Zündnadel -- „sie schösse töter als tot“. Er war zur Abnahme in -Sömmerda kommandiert gewesen und hatte den alten Dreyse kennen gelernt, -den der König kürzlich geadelt, der aber noch immer wie ein richtiger -Schlossermeister von Werkstatt zu Werkstatt ginge, um allenthalben -nach dem Rechten zu sehen. Wilhelm erzählte dagegen wieder von dem -alten Krupp in Essen und den gezogenen Gußstahlgeschützen und was sich -die Herren von der Bombe davon versprächen. Wozu der rote Landrichter -gähnte. Eigentlich ärgerte sich Helene über Bruder Fritz: der hatte -doch auch einmal des Königs Rock getragen, und nun war ihm das -gleichgültig, was selbst sie und Martha interessierte: wie „da oben“ -bei Lundby die Zündnadel die erste Ernstprobe auf ihre Brauchbarkeit -abgelegt hätte. - -Endlich brach man auf. Merivaux ging mit hinaus zu Kroll. - -Es dämmerte schon leicht, und der Krollsche Garten glänzte in -seiner neuen feenhaften Beleuchtung durch Zehntausende von bunten -Gasflämmchen, die alle Rabatten und Bosketts umsäumten, überall -aus den grünen Büschen herausschimmerten, von hohen Kandelabern -herunterstrahlten. „Etwas Ähnliches gibt es nur noch in Paris, in den -Champs Elysées“, behauptete Wilhelm. „Aber was die Pariser nicht haben, -ist unser Engel.“ Dieser Engel stand vor seinem Orchester, ein kleines -altes Männchen mit kohlschwarzer Perücke, dirigierte ‚mit die Hände -und die Füß’‘ und hatte dabei noch Zeit, jede vorüberwandelnde hübsche -Frauengestalt mit verliebten Blicken zu verfolgen. An hübschen Frauen -aber fehlte es im Krollschen Etablissement nie. Und außer Herrn Engel, -fand Helene, gab es recht viele Herren hier, die unverschämte Augen -machten. - -Man promenierte langsam zwischen den Beeten auf und ab, die so -wunderlich von bunten Blechblumen, mit Gasflämmchen in den Kelchen, -eingefaßt waren. Und da schob sich Merivaux neben Helene. - -Er fragte nach ihrem Gesang, und sie gab ein wenig spitz zurück: „Ich -hätte gar nicht geglaubt, daß Sie dafür Interesse haben ...“ - -„Dann irrten Sie, gnädiges Fräulein“, meinte er. - -Sie behielt noch immer ihren etwas ironischen Ton bei: „Also muß -ich mich bedanken, daß Sie sich so gütig für mein bißchen Kunst -interessieren?“ - -„O nein -- warum bedanken?“ Er blieb ganz ruhig. „Aber ich darf gewiß -sagen, daß ich sehr, sehr oft daran dachte, wie schön Sie in Rackow -sangen. Ich ’ab es nicht vergessen: ‚... auf der Welle blinken -- -tausend schwebende Sterne ...‘ Vielleicht glauben Sie es mir nicht: ich -liebe die Musik überhaupt sehr.“ - -Es klang ihr so naiv, so furchtbar naiv. Sie mußte lächeln, und das sah -gewiß wieder ein wenig überlegen, ein wenig spöttisch aus. - -„Da haben wir’s! Sie lachen mich einfach aus.“ - -„Aber, Herr von Merivaux ...“ - -„Ich nehm es ja gar nicht übel. Wie soll ich? Ich weiß ja doch, Sie -können kaum anders, und, gewiß, es scheint vielleicht eine seltene -Sache, daß sich ein Offizier stark für Kunst, gerade für Musik -interessiert. Aber es kommt doch vor. ~Par exemple~: wir haben -hier in Berlin einen Offizier-Musik-Verein, und ich spiele die zweite -Violine.“ - -Sie machten gerade kehrt, fügten sich von neuem in die Reihen der -Promenierenden ein. Dabei konnte sie ihm unauffällig ins Gesicht sehen. -Ein wenig im Glauben, er habe den Spieß umgedreht und scherze nun -seinerseits. Aber er blickte ganz ernst. Es mußte doch wahr sein, was -er sagte. - -Und er sprach schon weiter: „Sie sind wieder Schülerin von Frau -Harriers-Wippern?“ - -Da mußte sie doch erstaunt zurücksagen: „Woher wissen Sie das?“ - -‚„~Mon Dieu~ ... Berlin ist so klein. Ich verkehre bei Professor -Taubert, und zu den näheren Freunden des ’auses gehört auch Frau -Harriers. Sie sprach bisweilen von Ihnen, gnädiges Fräulein, und ’at -sehr geklagt, daß Sie gegangen sind auf und davon. Damals! Und weil sie -wußte, daß ich die Ehre ’ab, Sie zu kennen, erzählte sie mir neulich, -sehr froh, von Ihrem Wiederkommen.“ - -„Aber davon ahnte ich ja gar nichts.“ - -Er lachte. „Man kann doch nicht alles ahnen.“ - -„Weshalb haben Sie mit mir in Rackow nie von Ihrer Liebe zur Musik -gesprochen?“ Fast vorwurfsvoll, ein wenig schmollend, sagte sie es. - -„Ja -- weshalb nicht? Vielleicht ist mein Interesse erst später recht -erwacht.“ Merivaux ging einige Schritte schweigend weiter. „Vielleicht -sprach ich auch aus Trotz nicht. Ich weiß nicht recht.“ - -„Das verstehe ich nicht.“ - -„Vielleicht ... nun, vielleicht wollte der Dilettant die Konkurrenz mit -dem ... wie sagt man doch -- mit dem Mann von Beruf nicht aufnehmen.“ - -Er hatte das letzte zögernd gesprochen, fast wie widerwillig. Und es -schien ihm sofort leid zu tun. Denn er sah wohl, wie Helene Hackentin -ablehnend den Nacken straffte, daß sie starr geradeaus blickte und -ihren Schritt beschleunigte. - -Sie ärgerte sich. Eigentlich traf’s ja doch den Kern der Sache, war’s -ganz richtig, was Merivaux eben gesagt hatte: der Dilettant tritt immer -vor dem Berufskünstler zurück. - -Nun war er wieder an ihrer Seite. - -„Was studieren Sie jetzt mit Frau Harriers, wenn ich fragen darf?“ - -Noch immer konnte sie sich nicht ganz überwinden. Ganz kurz gab sie -zurück: „Die Partie der Elsa ...“ - -„Eine schöne ... eine sehr schwere Aufgabe. Schwer wie fast alles von -diesem Maestro Wagner. Man muß sich ganz in ihn hineinleben, wenn man -ihn recht verstehen will. Ich ’ab es versucht, aber es will nicht ganz -glücken. Vielleicht muß man ganz ein Deutscher sein dazu?“ - -„Warum das, Herr von Merivaux? Die Musik, die Kunst überhaupt ist doch -wohl international?“ - -„O nein! Nein doch, gnädiges Fräulein. Das sagt man wohl so, das ist -aber nicht wahr. Man empfindet wohl nach, aber man empfindet nicht -ganz. Es gibt Differenzen. Man kann Mozart überall verstehen und kann -Auber überall verstehen. Aber Wagner nicht. Oder doch nicht gleich. -Gerade weil er so ganz deutsch ist.“ - -„Aber Wagner hat doch auch in Paris viele Bewunderer.“ - -„Wenige, glaub ich. Man wollte ihn in Mode bringen, aber es ist nicht -geglückt, trotz der Fürstin Metternich. Sie sollten nur sehen, wie sich -die Karikatur über ihn lustig macht. Gavarni und Cham und Noël. Wie man -spottet ...“ - -„Das ist sehr häßlich.“ - -„~Sans doute.~ Aber der Pariser liebt das so. Und das ’indert -nicht, daß Wagner sich vielleicht doch Bahn machen wird, langsam, -langsam --“ - -Da waren sie wieder am Ende der Promenade angelangt, und Wilhelm -unterbrach ihr Gespräch. Er hatte einen freien Tisch unter einer der -Hallen erspäht und behauptete, einen unendlichen Durst zu haben. - -Man kam sehr spät nach Hause. Weit nach Mitternacht. Aber Helene lag -noch lange, ohne Schlaf finden zu können. Eigentlich klang immer nur -das eine Wort, das Merivaux gesprochen, in ihr nach, das Wort von dem -Dilettanten und dem „Mann des Berufs“ -- dem Künstler, hätte er sagen -sollen. Ja, dem Künstler! Die Gestalt Alfreds stieg wieder auf, aber es -war nur noch ein Schatten. Nur daß sie daran dachte: merkwürdig, daß er -in all den Stunden, die wir zusammen waren, fast nie ernst über seine, -über unsere Kunst gesprochen hat. Immer glitt er darüber hin, berührte -höchstens das Persönliche, soweit es ihn und vielleicht noch mich -anging ... nie gab er mehr ... - -Es war ja auch nichts Tiefgründiges, was sie mit Merivaux gesprochen -hatte. Gewiß nicht. Aber es war ihr so überraschend gekommen, weil sie -den Neuchateller so ganz anders eingeschätzt hatte, lediglich als den -lustigen, flotten Leutnant. Wie man sich doch im Menschen irren kann, -dachte sie. Und dachte auch flüchtig an Holfen. Auch bei ihm hatte sie -Interessen gefunden, die sie nicht erwartete. Aber es war doch wieder -ein Unterschied dabei: Holfen war gewiß ein gescheiter, liebenswürdiger -Mann, aber er hatte kein Temperament. Und bei Merivaux verriet -sich das überall und immer. Merkwürdig, auch in Äußerlichkeiten. Er -war anders als die meisten. Wie eigen er ihr beim Abschied die Hand -gedrückt hatte, so gar nicht konventionell. Sehr frei und frank, und -doch sehr ehrerbietig. - -Am nächsten Morgen dachte sie nicht mehr an ihn. -- - -Eine Woche später begannen für die Jungens die Großen Ferien, und es -ging nach Rohlbeck; nur Wilhelm blieb, mit einem lachenden und einem -weinenden Auge, zurück. - -Und wieder eine Woche später fuhr Helene, einer dringenden Einladung -von Tante Marie folgend, auf einige Tage nach Rackow. - -Als sie, in ziemlich früher Vormittagsstunde, durch das Parktor bog, -sah sie dicht vor ihrem Wagen, fast schon an der Veranda, einen im -ganzen Kreise wohlbekannten und gefürchteten Mann: Herrn Wilke aus -Stellberg. Sie hatte zwar seine persönliche Bekanntschaft noch nicht -gemacht, aber ihn doch schon, auch in Rohlbeck, gesehen, wenn er bei -einem der Kleinbauern oder bei dem Krämer sich als unwillkommenster -aller Gäste einfand. Und sie dachte verwundert: ‚Mann des Gesetzes, wie -kommst du hierher?‘ - -Aber da stand schon Onkel Ernst, vergnügt lachend, neben seinem -diskret grinsenden Höhne auf der Veranda und begrüßte sie beide fast -gleichzeitig: „Tag, Leneken! Herzlich willkommen. Nimm die Sachen vom -gnädigen Fräulein, Höhne. Tante ist im Gartensalon, Kind ... Ja, und da -sind Sie ja mal wieder, lieber Wilke. Freut mich, Sie von Angesicht zu -Angesicht zu sehen. Aber Sie sollen doch nicht mit der Dienstmütze auf -den Hof kommen! Das macht einen schlechten Eindruck, mein Lieber.“ - -Der lange Labammel stand militärisch stramm: „Vorschrift, Herr Baron.“ - -„Ach was, Vorschrift! Na, spazieren Sie nur herauf. Was gibt es denn -Schönes?“ - -„Sechstausend vierhundert Taler, Herrn Baron zu dienen, und einhundert -achtundsechzig Taler fünf Groschen Kosten.“ - -„I, sieh mal einer an. Ja, wissen Sie, Wilke, da gehen Sie nur morgen -mit der Chose zu Ephraim Herz. Der wird’s bezahlen.“ - -„Unmöglich, Herr Baron. Wie der Lateiner sagt: ~Hinc Rhodus, hinc -saltus!~“ - -„Ihr Latein ist schwach, Wilke. So, nun setzen Sie sich erst mal. -Höllisch heiß heut. Was? Erst ’ne kleine Stärkung. Höhne, besorgen -Sie ein Frühstück und eine Flasche Burgunder. Unser Herr Wilke ist -ein Kenner. Bringen Sie aber auch einen guten Korn mit herauf. Na, so -setzen Sie sich doch, Wilke.“ - -Der lange Mann stand noch immer, hatte das rote Schnupftuch -herausgezogen, wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und von -der großen roten Nase, die es mit der berühmten Koralle des Doktor -Tiburtius aufnehmen konnte. Er zögerte sichtlich. „Gnädigster Herr -Baron,“ meinte er, „so geht das nicht. Erst der Dienst. ~Officinum -ante omnia.~ Ja, Herr Baron, das vom vorigen Male -- das passiert -mir nicht wieder. Da können der Herr Baron Gift drauf nehmen.“ - -„Aber wo werd ich denn, Wilke. So, hier setzen Sie sich, alter Freund -und Bogenschütze, und heben Sie erst einen Kleinen. Alles der Reihe -nach.“ - -Helene hatte das wunderliche Gespräch, etwas neugierig, etwas -ängstlich, aus dem halbdunklen kühlen Korridor mit angehört. Dann war -sie zu Tante Marie geflitzt, die in einem hellblauen Batistkleide, das -über und über mit weißen Spitzen besäumt war, im Gartensalon auf der -Chaiselongue lag und in dem neuen Roman von Fanny Lewald blätterte; -hatte Grüße von den Eltern gebracht, war auf ihrem Stübchen, diesmal -der „Bärenhöhle“, gewesen, hatte sich ein wenig eingerichtet. Als -sie wieder herunterkam und auf die Veranda hinauslugte, saß da immer -noch Onkel Ernst, und ihm gegenüber saß Herr Wilke; zwischen ihnen -standen die Reste eines stattlichen Frühstücks und einige dickbäuchige -Flaschen. Onkel Ernsts Vollmond glänzte eitel Wonne, und Wilkes Nase -glänzte in dem alten Unteroffiziersgesicht wie Purpur. - -„Ja, ja, mein lieber alter Wilke, man hat seine Not“, klang Onkel -Ernsts sanfte, einschmeichelnde Stimme. „Aber man muß sich die Laune -nicht verderben lassen. Erst noch ein Schlückchen Burgunder. Das ist -1848er Romané, mein Bester, so was kriegen Sie nicht alle Tage. He?“ - -„Hab ich mein Leblang noch nicht getrunken, Herr Baron. ~Nullum vinum -nisit franciscum.~ Aber man soll des Guten nicht zu viel tun. Der -Dienst, gnädigster Herr Baron --“ Er knöpfte an seinem Rock und zerrte -eine dicke Brieftasche heraus. „Sechstausend vierhundert --“ - -„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst noch ein -Gläschen. Prosit! -- Ach, da bist du ja, Leneken. Komm, setz dich ein -bissel zu uns. Wilke, Sie kennen doch das Rohlbecker gnädige Fräulein?“ - -„Wo werd ich denn nich?“ Herr Wilke erhob sich etwas schwer und -umständlich, schwenkte ein weniges mit dem langen Oberkörper. „Ich war -schon mal beim gnädigen Herrn in Rohlbeck, als das gnädige Fräulein -noch in die Windeln lagen, mit Respektus zu melden.“ - -„Ja, Ihr segensreiches Wirken, mein lieber Wilke, geht durch -Generationen. Wir wissen es. Immer im Dienst voran. Immer die Pflicht -über alles. Der Mensch braucht Stärkung, um für Dienst und Pflicht die -rechte Kraft zu finden. Prost, mein lieber alter Wilke.“ - -„Danke, Herr Baron, danke untertänigst. Ein wunderbares Weinchen, das -der Herr Baron im Kellerchen haben. Ist ja auch berühmt, der Rackower -Keller. Aber nu müssen wir doch wohl --“ - -„Nachher, lieber Wilke. Alles zu seiner Zeit. Erst das Vergnügen und -dann die Pflicht. Ja, alter Wilke, wie lange kennen wir uns eigentlich? -Aber so trinken Sie doch. Das ist ja geradezu beleidigend, Sie so -sitzen zu sehen, so trocken.“ - -„Na, gnädigster Herr Baron, das wird woll sohner Jahre zwanzig her -sein. Vor dem Einzug von der gnädigsten Frau. Damals liefen immer die -Wechsel von Hartwich Stern aus Frankfurt!“ - -„Sieh mal einer an, was Sie für ein Gedächtnis haben. Den wackeren -Geschäftsfreund deckt nun auch schon die kühle Erde. Aber wir beide -wollen auf sein Gedächtnis mal gleich ein stilles Glas trinken.“ - -Helene Hackentin saß an der Querseite des Tisches und wußte nicht -recht, ob sie sich schämen oder ob sie lachen sollte. Doch wohl lieber -lachen. Um etwas Wichtiges konnte es sich ja nicht handeln. Onkel Ernst -lachte ja auch sein ganz leises, fast unhörbares Lachen, bei dem sich -die beiden Mundwinkel so seltsam nach unten zogen. Dann und wann sah -er unter seinem Einglas, das wie angemauert vor dem Auge lag, „um die -Ecke“ und nickte Lene zu. - -Sicher: das Ganze war ein Witz. Sonst wäre Tante Marie ja auch nicht -so ruhig gewesen. Sie hatte vorhin sogar zu Höhne gesagt: „Sorgt nur -dafür, daß der alte Wilke sein ordentliches Maß bekommt.“ - -Und jetzt gab Onkel Ernst dem Höhne ein geheimnisvolles Zeichen. -Der stellte neue Gläser und eine Flasche Champagner auf den Tisch. -Worauf Herr Wilke die Hände spreizte: „~Apage Satanum!~ Nee, Herr -Baron, das geht wirklich nicht. Über allem der Dienst. Sechstausend -vierhundert --“ - -„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst werden wir -mal dieser Pulle nähertreten. Leneken, du trinkst auch ein Schlückchen -mit.“ Der Korken fuhr gegen das Verandadach. „Veuve Cliquot, braver -Wilke. Die edelste aller Witwen soll leben! Na, Witwe? Da haben Sie’s -anders gemacht -- was? Seit wann sind Sie denn Witwer?“ - -„Seit acht Jahren, Herrn Baron zu dienen.“ - -„Also, das nächste stille Glas der teuren Verewigten. Schlimm, was? -- -So als einsamer Witmann.“ - -„Es geht, Herr Baron, es geht. Man muß sich trösten.“ - -„Da haben Sie ganz recht, guter Wilke. Und ein stattlicher Mann wie Sie -findet schon Trost. Darauf müssen Sie mal trinken.“ - -Es wurde allmählich Helene zu bunt. Sie schlich sich fort, ging -hinunter zu den Beeten am See, wo Tante Marie vom Mai bis in den Herbst -hinein Erdbeeren zur Reife zu bringen wußte. Es gab da heut etwas -Besonderes zu sehen. Quer über die Senke hinweg steckten Arbeiter mit -langen Stangen eine schnurgerade Linie ab; drüben am Hang stand eine -kleine Gruppe Männer um ein dreibeiniges Gestell, das ein Etwas, fast -wie ein Fernrohr, trug. „Unse Isenbahn!“ erklärte der alte Gärtner mit -Stolz. - -Unsere Eisenbahn: Wilhelms Eisenbahn! In zwei Jahren mochte sich hier -ein hoher Damm über das Tal spannen, und die Lokomotive schnob pustend -und fauchend darüber hin, hinter ihr drein polterte und ratterte der -Zug, und eine endlose graue Rauchwolke zog sich bis drüben zum Waldsaum -hin. - -„Da wer’n se noch ihre liebe Not mit han“, meinte Marhenke, der -Gärtner. „Des is allens Sumpf, man bloß ’n bißken Sand druf. Wenn sie -hier Boden ruff karrn, schlingt der Sumpf allens runter. Das geiht so -nich, wie se sich dat denken. Dat weeß ich beter.“ - -Helene lächelte. Sie wußte es erst recht besser: der Ingenieur fand -schon Abhilfe. Und wenn der Sumpf wirklich den einen Damm fraß, dann -türmte man den zweiten auf ihn; und wenn der unersättliche Grund -auch den verschlang, legte die Technik den dritten von Hang zu Hang -oder warf eine Eisenbrücke über die Senke. Die Eisenbahn war der -Fortschritt, und der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten. - -Langsam schlenderte sie zwischen den schmalen Beeten des Gemüsegartens -hin. Ihr kam Bruder Fritz, der rote Kreisrichter, in den Sinn. Da -hatte sie ja eben dessen Schlagwort nachgebetet: Der Fortschritt läßt -sich nicht aufhalten. Du lieber Gott, war das nicht am Ende auch nur -ein +Wort+? Solch ein Wort, das nur den Weg in ödes Land wies, -wenn man es verallgemeinerte. Ein an sich gutes Wort, das zur Phrase -geworden war in einem unfruchtbaren Kampf. - -Der Bruder tat ihr leid, und Vater erst recht. Zwischen beiden hatte -das eine Wort Zwietracht gesät. Da half kein Brückenschlagen. Der große -Sumpf, Politik geheißen, verschlang jeden Versuch der Verständigung. -Als Martha, die immer versöhnen wollte, gestern von Fritzens Besuch -in Berlin erzählte, hatte Vater bloß gesagt: „Laßt mich mit dem roten -Kreisrichter zufrieden. Das heißt, die Stunde wird ja wohl noch kommen, -wo er sein Unrecht einsieht.“ - -Die Sonne stand hoch am Himmel. Es mußte fast Mittag sein. Nun hatte -wohl auch endlich der lange Wilke das Feld geräumt. - -Aber als Helene wieder vor der Veranda stand, saß der gestrenge Beamte, -der Schrecken dreier Städtchen und von zehn Dörfern, immer noch auf -seinem Stuhl. Saß freilich ganz in sich zusammengesunken, mit vornüber -geneigtem roten Kopf, aber immer noch die Hand am Glase. - -„Prosit, Wilkechen!“ sagte Onkel Ernst gerade. „Nun noch ein -Schlückchen auf die Konstitution. Ich meine natürlich Ihre -vortreffliche Konstitution!“ - -„Jawoll ... Herr Baron ... die Konstitution ...“ Es war nur noch ein -Lallen. „Sechstausend vierhundert ...“ - -„Legen Sie’s nur dahin, Wilke“, meinte Onkel Ernst. „So, Leneken, nun -könntest du eigentlich mal zum Großknecht laufen, der Ochsenwagen -soll kommen.“ Dabei sah er prüfend unter dem Einglas um die Ecke, -diesmal auf Herrn Exekutor Wilke, und lächelte zufrieden. Der hatte -jetzt die Augen geschlossen und schnarchte wie das Vollgatter einer -Schneidemühle, wenn die Sägen solch recht dicken Knorren im Stamm -anfassen. - -Dann kam der Leiterwagen, mit zwei Ochsen bespannt. Der Amtmann -Schmidhals schritt höchstselbst daneben her und half den Schlafenden -aufladen. Wie ein Toter lag er da. Onkel Ernst legte ihm die Mütze und -das dicke Taschenbuch auf den Bauch und faltete ihm die Hände darüber, -schob ihm auch noch den Kopf recht bequem auf dem Strohbündel zurecht. - -„So --“ meinte er dann. „Christian, du fährst hübsch langsam nach -Stellberg und ladst Wilken vor seinem Hause ab. Und sagst dem ältesten -Jungen, der Vater sollte morgen zu Ephraim Herz gehen, der brächte -alles in Ordnung. Pascholl, Christian!“ - -Und da war plötzlich auch Tante Marie, besah sich von der Veranda aus -durch ihr Lorgnon das Schauspiel und lachte über das ganze kleine -Gamingesicht. „Eigentlich scheußlich“ sagte sie dabei, „~... un -ivrogne! Fi donc!~“ Und lachte wieder. - -Die Ochsen zogen an. Schwer rüttelte der Leiterwagen. Das Vollgatter -rasselte dazwischen. - -Onkel Ernst kam langsam die Treppe hinauf, legte zärtlich seinen -dicken Arm um die dünne Taille seiner Frau, die neben ihm wie ein -winziges, zierliches Püppchen aussah, und meinte: „Können wir nicht -bald essen, Mariechen? Das hat mir Hunger gemacht. Und einen Durst -habe ich -- einen Durst! Komm, Leneken ... wir wollen uns ein kleines -Erdbeerböwlchen brauen ...“ - -Am liebsten wäre Helene Hackentin schon am nächsten Tage nach Rohlbeck -zurückgefahren. Sie konnte einen leisen Ekel nicht überwinden. Das -elegante Rackow übte auch nicht mehr den früheren Reiz auf sie aus. -Jetzt, plötzlich, empfand sie, wie schal und inhaltlos doch das Leben -hier war, wie ganz auf das Äußere gestellt, ein Leben völlig in den Tag -hinein. Und zum erstenmal hatte sie einen Blick hinter die Kulissen -getan: der Glanz hier war auch nur Schein, mühsam genug vielleicht -aufrechterhalten. - -Ganz wunderliche Gedanken kamen ihr, ganz revolutionäre Gedanken. Da -waren die Rackower: jetzt wußte sie, schwer verschuldet waren sie, -hatten ihren Reichtum vergeudet. Da saßen die Eltern in Rohlbeck: -die hatten immer sparsam gelebt und doch so schlecht gewirtschaftet, -daß sie nun arm waren wie die Kirchenmäuse, wenn man’s klipp und klar -heraussagen wollte. Nicht viel anders stand es wohl, mit Ausnahme -vielleicht von Onkel Grucker, der auf seinem schönen Majorat saß, mit -den anderen Verwandten und Nachbaren im Kreise. - -Hatte da Bruder Wilhelm nicht recht, wenn er hinausgegangen war von -der Klitsche in die Großstadt, um sich neue Erwerbsmöglichkeiten zu -erschließen?! Aber freilich: er hatte das Hackentinsche Blut mit -hinübergenommen. Auch er verstand das Zusammenhalten nicht. Das -Geld zerrann ihm unter den Händen. Gerade jetzt wieder. Eigentlich -trieb er’s mit seinem Gewinn aus der Bahnkonzession auch nicht viel -anders, wie es die Eltern getrieben hatten, als ihnen die letzte große -Erbschaft ins Haus gebracht worden war und sie die Geldtönnchen unters -Bett gestellt und aus ihnen geschöpft hatten, bis das letzte Goldstück -fort war. - -Das Hackentinsche Blut! Vielleicht, gewiß war’s nicht nur das -Hackentinsche. Ganz ähnlich, ganz gleich mochte das Blut in den Adern -der anderen Verwandten und Nachbaren rollen. Wer wirtschaftete denn -hier im Kreise wirklich erfolgreich? Die einen verschwendeten, die -andern darbten fast und kamen doch auf keinen grünen Zweig, zehrten -auch nur vom Ererbten und mehrten es nicht. - -Einer machte vielleicht eine Ausnahme: Holfen. Aber der gehörte eben -schon einer neuen Generation an. - -Lag bei dieser neuen Generation wohl die Zukunft? - -Helene mußte an die Jungens denken, an Wilhelms Söhne, Hans und Thedi. -Und dabei wieder an Martha. Vielleicht schlug in ihnen Marthas Blut -durch. Vielleicht erbten sie von ihr die Gabe des Festhaltens, den -gesunden, aufs Praktische gerichteten Sinn. - -Eigentlich waren ihr die Jungens fremd geblieben. Wie einem wohl oft -das Nächste am fremdsten bleibt. Als unartige Bengels, die oft lästig -wurden, hatte sie sie meist empfunden. Nun grübelte sie ihnen nach. -Der Älteste hatte doch viel von der Mutter, einen nachdenklichen Sinn; -ein Bücherwurm war er. Thedi war äußerlich ganz hackentinsch, war auch -Vaters Liebling. Glänzend begabt, hieß es; es flog ihm alles zu, was -der Hans mühsam erobern mußte. Aber er hielt nichts recht fest. Um ihn -konnte man Sorge haben. - -Eine ordentliche Sehnsucht nach den Jungens überkam Helene, fast als -wäre sie seit Wochen von ihnen getrennt. Auch das zog sie wieder nach -Rohlbeck zurück. - -Aber aus Rackow kam man nicht so leicht fort. Onkel Ernst und Tante -Marie waren von einer Güte und Liebenswürdigkeit, der man gar nicht -widerstehen konnte. Mochten sie sonst sein wie sie wollten: sie übten -geradezu einen Zauber aus in ihrer grenzenlosen Gastlichkeit. - -Jetzt war auch das Haus wieder voll. Die kleine, mollig runde Grete -Waldegg wohnte im „Alpenröschen“; Vetter Mollard, der gerade von -Florenz zurückgekommen war, wo er zwei Jahre lang Attaché gespielt -hatte, war in der „Bleikammer“ einquartiert, und Merivaux, der sich -plötzlich angesagt hatte, war gestern abend in den „Pfau“ eingezogen. -In der „Nachtigall“ aber hauste Bernhard Rose, ein mittelloser junger -Student, der nun schon zum zweiten Male ein paar Sommermonate in Rackow -zubringen durfte, um sich ein wenig herauszufüttern. Helene kannte ihn -bereits. Im vorigen Sommer war er mit hohlen, blassen Wangen gekommen -und wesentlich erholt abgereist. Das war auch etwas, was immer wieder -mit Tante Marie versöhnte: ihre Gutherzigkeit war so grenzenlos wie -ihre Gastlichkeit -- beide freilich gaben sich oft nach Laune und -fragten nicht viel nach wie und warum. - -Das junge Volk war sehr fidel, und Onkel Ernst und Tante Marie taten -mit. Immer stand etwas Neues auf dem Tagesprogramm. Einmal fuhr die -ganze Gesellschaft nach dem Walde hinaus, in die Haselberge, auf zwei -mächtigen Leiterwagen, um draußen herumzutollen; ein andermal gab’s -eine festliche Krocketpartie, in der die Sieger mit Rosenkränzen -belohnt wurden; im Dorfwirtshaus wurde ein Preiskegeln veranstaltet, -oder es ging nach Nugow, um den alten Grafen Delkowitz, Edlen von -Kastricz, in seiner grauen Johanniterburg zu überfallen, seine -Segelboote mit Beschlag zu belegen und ein paar Schläge über den großen -Nugower See zu machen. - -An den Abenden wurde oft musiziert. - -Der kleine, blasse Student war ein ganz tüchtiger Klavierspieler, -der sogar vor schwereren Aufgaben nicht zurückzuschrecken brauchte. -Aribert Mollard klimperte schlecht und recht die Gitarre, und die -rundliche, mollige Grete Waldegg sang dazu mit offenbarem Wohlgefallen, -mehr schlecht als recht, irgendwelche Liedchen. Merivaux hatte sein -Instrument mitgebracht. - -Helene war begierig, ihn zu hören. Geradeso begierig, wie sie -überrascht gewesen war, als er ihr davon erzählte, daß er Violine -spiele. - -Nun: er war kein Meister. Sie hörte es sofort heraus. Aber er war auch -kein Stümper, und sein Spiel hatte eine angenehme persönliche Note. Es -war so frisch, so natürlich und so anspruchslos, wie sein ganzes Wesen. -Sie konnte nicht anders: sie mußte ihm nach seinem Vortrag ein paar -freundliche Worte sagen. - -Er legte gerade sein Instrument in den Kasten zurück, sah auf, -lächelte, fast ein wenig trübe: „Der gute Wille ist das beste an meinem -Spiel, glaub ich ...“ und setzte dann rasch hinzu: „Aber ich bin sehr -glücklich, wenn es Ihnen wenigstens nicht mißfiel!“ - -Da wurde Helene gerufen. Fast immer mußte sie ja zum Schluß singen. -Onkel Ernst steckte jedesmal eine komisch-feierliche Miene auf, wenn er -sie dazu aufforderte: er zwang seinen ungeheuerlichen Körper zu einigen -tänzelnden Schritten, machte ihr eine großartige Verbeugung, sprach in -seinem weichsten Tonfall von der Gnade, die die erhabene Künstlerin -seiner niederen Hütte antue --, und stellte ein fürstliches Honorar in -Aussicht. Unter tausend Louisdor tat er es nicht. - -Als sie zum erstenmal im roten Damastsalon an den Flügel getreten war, -kam ein leises Beben über sie. Die Erinnerung wurde wach an jenen -Abend, da sie hier, hier vor Schwarz gesungen hatte. Aber eine kleine -Willensanspannung genügte, und sie war darüber hinweg. Und war froh, -daß es nicht schwerer gewesen. - -Heut sang sie den Schubertschen „Erlkönig“. - -Während sie sang, freute sie sich nur des verständnisvollen Begleiters, -des kleinen Studenten. Aber auch das und alles andere, das Äußerliche, -versank wie immer vor ihrer Seele. - -Sie versetzte, versenkte sich ganz in die Dichtung. In die -Märchenstimmung. Sie fühlte mit dem Vater, der mit seinem Kinde durch -Nacht und Wind reitet; sie empfand die angstvollen Fragen des Kleinen -mit. Sie kämpfte mit dem Reiter gegen das Phantom, sie erlebte mit -ihm die wilde, rasende Flucht und daß sie umsonst blieb gegen die -Naturwelt. Und ihr selbst war’s wunderbar, wie sie nun gelernt hatte, -all das im Gesang auszudrücken. Frage und Antwort von Kind und Vater, -die Lockungen des Erlkönigs, den ganzen Stimmungsgehalt des Liedes. - -Sie dachte, während sie sang, an nichts als an ihre Kunst. Am wenigsten -dachte sie an Merivaux. - -Aber als sie geendet hatte und sich umsah, sah sie zuerst ihn. Der -Zufall wollte, daß er genau an der Stelle stand, wo an jenem Abend -Schwarz gestanden: hinter all den fröhlichen Beifallsspendern, allein, -an der Tür. Er klatschte auch nicht, wie die anderen. Still stand er, -mit leichtgesenktem Kopf. Er kam auch nachher nicht zu ihr, um ihr -irgendeine Liebenswürdigkeit zu sagen, ein Wort der Anerkennung. - -Ein wenig verdroß es sie doch. Sie wußte ja, daß sie gut gesungen -hatte. Gar so schweigsam, gar so zurückhaltend brauchte er auch nicht -zu sein. - -Recht zur Besinnung darüber kam sie nicht. Denn Onkel Ernst schlug, -nachdem „sich der Beifall ausgetost“, wie er meinte, noch einen -Mondscheinspaziergang vor. „Und am Brockenhäuschen soll unsere -~Primadonna assoluta~ ihr fürstliches Douceur erhalten.“ - -Es war herrlich im Park. Der Mond stand hoch am sternhellen Horizont, -die Taxushecken, die Baumgruppen warfen lange Schatten auf die -bekiesten Wege. Auf den heißen Julitag war die abendliche Abkühlung -gefolgt. Ganz im Westen, auf Rohlbeck zu, wetterleuchtete es. - -Das junge Volk tollte um das Rackowsche Ehepaar herum, das Arm in Arm, -im langsamsten Tempo, den leichten Hang zum Brockenhäuschen hinaufging. -Es war ein ewiges leises Kichern, Plaudern, Raunen, Flüstern. - -Oben, unter dem Brockenhäuschen, stand Höhne, ein Tablett in der -Hand, auf dem ein geheimnisvolles Etwas unter der Serviette lag. Auf -dem Tisch neben ihm stand eine Bowle in Eis. Ein paar Windlichter -leuchteten. Und Onkel Ernst hielt eine kleine Rede, an deren Schluß -er das geheimnisvolle Etwas gleich einem Denkmal enthüllte: „Unserer -Primadonna, unserer Rohlbecker Helene!“ - -Es war eine Torte. Eine große Torte mit Marzipanguß, der einen Kranz -von lauter Goldfüchsen darstellte: „Das Süße der Süßesten“, verkündete -Onkel Ernst und füllte die Gläser. „Aber nun gleich anschneiden! -Vorwärts, Höhne! Die ersten beiden Stücke müssen zwei um die Wette -essen: Grete und Aribert! Keinen Widerspruch. Hier, Grete, hier stellst -du dich hin, dort, Mollard, du ... und nun soll Lene zählen: eins, -zwei, drei!“ - -Da standen sie nun wirklich, wie zwei gehorsame Kinder, hatten jedes -ihr Tellerchen in der Hand mit einem Stück Torte darauf, und Helene -zählte: eins -- zwei -- drei -- - -Aber sie hatten kaum zum erstenmal hineingebissen, so gab es ein -ungeheures Spucken, Prusten und Husten. Die mollige Grete ließ den -Teller zur Erde fallen, Mollard schluckte verzweifelt und rollte die -Augen wie ein Erstickender. Onkel Ernst und Tante Marie wollten sich -totlachen. - -Die Torte, dies Meisterwerk von Monsieur Bombourdon, war aus Sägespänen -gebacken. Aus richtigen holzigen, kienigen, märkischen Sägespänen, die -sich wie Harz an die Zähne der unglücklichen Opferlämmer festsetzten, -die wie Leimbrocken an Lippen und Zunge klebten. Bis Höhne jedem als -Erlösungstrank einen Becher Bowle brachte. - -Es war wieder einer jener Momente, in denen Helene nicht recht -mitkonnte. Sie sah und hörte, wie alle lachten und kicherten, bald -Grete und Aribert am meisten. Aber sie stand ein wenig abseits, ein -wenig verlegen. Und plötzlich bemerkte sie, daß auch Merivaux sich -abgesondert hatte. Der Neuchateller schien gleich ihr für diesen -märkischen Junkerscherz kein rechtes Verständnis zu haben. - -Die Bowle war schnell geleert, und wieder unter Plaudern und Lachen -ging es durch die Mondscheinnacht dem Schlosse zu. Höhne hatte die -Gitarre holen müssen, Mollard sang sinnig-minnig: „Guter Mond -- du -goldne Zwiebel --“ und die mollige Grete machte schwärmerische Augen. - -Es war wohl Zufall, daß Helene Hackentin und Merivaux ein wenig -zurückblieben. - -Aber als Helene das fröhliche Kichern und Raunen da vorn hörte, in -das sich manchmal Onkel Ernst mit einer seiner, im leisen Hofton -vorgebrachten drolligen Bemerkungen mischte, überkam auch sie etwas wie -Übermut. Eine jugendliche, unbezwingbare Lust, den Neuchateller ein -wenig aus seiner Verschlossenheit herauszuwerfen. - -„Sie sind heute wirklich gar nicht nett, Herr von Merivaux --“ sagte -sie schmollend. - -Er zuckte zusammen, wie aus einem Traum aufgestört. - -„Wodurch ’ab ich mir die Ungnad zugezogen?“ fragte er dann. - -„Der einzige waren Sie, der mir kein Wort über meinen Gesang gesagt hat -...“ - -Da sah er sie voll an: „Legten Sie Wert darauf, gnädiges Fräulein?“ - -Eine leichte Verlegenheit mußte sie doch überwinden: „Ich würde es -sonst nicht bemerkt haben ...“ Helene wollte die Worte ein wenig kokett -herausbringen, aber es gelang ihr nicht recht. Sie klangen ziemlich -ernst. Und sie fügte schnell hinzu: „Schon deshalb muß ich Wert auf -Ihr Urteil legen, weil Sie der einzige hier sind, der wirkliches -Verständnis für Musik hat.“ - -„Sie vergessen mindestens unseren kleinen Studenten.“ - -„Nein, nein! Herr Rose hat, wie wohl alles, auch sein Klavierspiel nur -durch eisernen Fleiß errungen. Musik aber muß man fühlen.“ - -„Und wenn ich nun gerade deshalb nicht in den lauten Beifall einstimmen -konnte?“ - -Helene erschrak. Sie blieb stehen. „Hab ich denn schlecht gesungen?“ - -Nun blieb auch er stehen. „Nicht doch! ~Au contraire.~ Wie Sie das -nur annehmen können. Gerade weil Sie sangen so schön, so wunderschön, -gerade deshalb konnt’ ich nicht applaudieren wie die anderen. Ich -konnte nicht.“ - -Er hatte sehr schnell gesprochen: wie dann immer, wieder mit seinem -leichten Akzent. Helene freute sich aufrichtig. Hundertmal mehr als -über den ganzen Beifall im Damastsalon. Freute sich, und zugleich wurde -der Übermut wieder in ihr lebendig. Wieder meinte sie schmollend, ein -wenig kokett: „Aber ein freundliches Wort hätten Sie doch für mich -haben können. Sie sind doch sonst nicht verlegen um Worte, Herr von -Merivaux.“ - -Wie sie das gesagt hatte, fühlte sie plötzlich, daß sie beide allein -waren. Die anderen waren weitergegangen, schon hinter den Taxushecken -verschwunden. Ganz leise nur klang noch das Kichern zurück, dann -und wann ein schwacher Ton der Gitarre. Ganz allein standen sie im -Mondenschein, der so hell leuchtete, daß sie jede Bewegung seines -Gesichtes erkennen konnte. Und sie sah, daß es in diesem schönen, -offenen Gesicht arbeitete. - -„Wir müssen gehen,“ brachte sie beklommen hervor. - -Er schüttelte den Kopf. „Bitte -- nein!“ sagte er heiß. „Ich muß Ihnen -erklären, Fräulein ’elene, warum ich nicht sprechen konnte vorhin. -Erklären, was auf mir gelegen hat seit Jahr und Tag. Warum ich Ihnen -ausgewichen bin. Ja, ausgewichen! Bis dann der Zufall mich wieder mit -Ihnen zusammenführte. Neulich! ~Une chance heureuse~ -- wer weiß -es? -- vielleicht das Unglück meines Lebens.“ - -„Herr von Merivaux ... bitte ...“ - -Da stand er vor ihr, die Hände auf der Brust, mit zuckendem Gesicht, -sah sie mit seinen großen, ehrlichen Augen an, fragend, forschend, -flehend: „Ein paar arme Minuten nur schenken Sie mir ...“ - -Und sie konnte nicht nein sagen, er zwang sie. Sein Wille zwang sie. - -„Wie ich da stand heut abend im Salon, und Sie sangen so wunderschön, -da mußt ich denken an einen anderen Abend. Sie ’aben damals gesungen -nicht ’alb so vollendet, aber ich hab schon gespürt die Seele in Ihrem -Gesang. Vielleicht, weil ich Sie liebte. Damals schon. Aber da war der -andere. Und ich fühlte ganz deutlich, daß Ihre Gedanken nur bei ihm -waren. All Ihre Gedanken. Und ich muß Sie fragen. Um die Gnade Gottes: -Sie liebten ihn?“ - -Daß sie hätte fliehen können! Weit weg -- weit weg! Aber da stand er -vor ihr, mit seinem zuckenden Gesicht und den großen ehrlichen Augen, -in denen es feucht schimmerte, hatte die Hände erhoben -- - -Sie neigte nur leise den Kopf. - -Er blickte starr auf sie hin. Fragend, forschend, flehend. Mit -zusammengepreßten Lippen. Auf eines Atemzugs Länge. - -„Und nun? Nun ist das vorbei?“ stieß er hervor. - -„Ja -- ganz vorbei --“ Es war nur ein Hauch. Aber es zwang sie, es -zwang sie: sie mußte aufsehen, mußte ihn ansehen. - -Und wie sie ihn ansah, im hellen Mondlicht in sein Gesicht sah, -da wußte sie mit einem Male: es sind Harros Augen, die dir -entgegenleuchteten, Harros ehrliche, offene Augen, die dir sagen: ‚Ich -liebe dich!‘ - -Es war ein jähes Erstaunen in ihr, daß sie die Ähnlichkeit nie vorher -bemerkt hatte, ein jähes Erschrecken: wie Merivaux wäre Harro -geworden, wenn der Schnitter Tod ihn nicht hinweggerafft hätte -- wie -Harro mußte Merivaux gewesen sein, als er ein Kind, ein Jüngling war. - -Gleich einem Traumbild war’s, das plötzlich vor ihrer Seele emporstieg, -das in ihrem Herzen noch einmal eine Saite aufklingen ließ, die sie für -immer zersprungen wähnte. - -Sie standen und sahen sich in die Augen. - -Die Saite klang und hallte leise, rief wehmütig weiches Empfinden wach. -Schmerzliches Erinnern und sanfte Zärtlichkeit. Ein Neues strömte -auf sie ein, fremd und doch wohlvertraut. Das Glück vielleicht -- -vielleicht -- - -Und da hatte er sie schon in seine Arme geschlossen, fest und innig ans -Herz genommen, küßte sie und küßte sie wieder. - -Sie hatte die Augen geschlossen, wehrte ihm nicht, lag an seiner Brust. - -Seine Lippen fühlte sie, seine Wange an ihrer Wange, sein Atem ging -über ihr Gesicht. Liebesworte hörte sie dicht an ihrem Ohr, zärtlich, -flehend. Und ihr Blut pulste und rauschte. Immer enger umschloß sie -sein Arm, seine Hand glitt sanft über ihren Nacken, über ihr Haar. Ihr -Herz pochte. Pochte lauter und lauter. „Küsse mich!“ bat er. „Küsse -mich!“ - -Und sie küßte ihn. -- - -Plötzlich schraken sie auseinander. - -Laute Stimmen kamen, hastige Schritte, wie im Lauf. - -Höhne mit einer Blendlaterne und einem Blatt Papier in der Hand. -Unmittelbar hinter ihm Onkel Ernst, keuchend: „Helene! Helene!“ - -Hand in Hand standen sie. Hand in Hand gingen sie ein paar Schritte ihm -entgegen. - -Merivaux wollte sprechen, erklären. - -Aber Onkel Ernst warf nur einen flüchtigen Blick auf sie. Nun er dicht -heran war, sahen sie sein erschrockenes Gesicht. - -Er keuchte noch immer. Mühsam nur brachte er es heraus: „Erschrick -nicht, Helene ... wo hast du denn den Brief, Höhne ... Helene, liebes -Kind -- der alte Rittmeister -- dein guter Vater -- ist plötzlich -schwer -- sehr schwer erkrankt --“ - -Nach Onkel Ernsts Hand griff Helene, griff dann nach dem Brief. Höhne -hob die Blendlaterne hoch, leuchtete -- - -Der kleine Bogen flatterte auf den Kies. - -Einmal, ein einziges Mal schluchzte Helene auf und sank in Merivaux’ -Arme. - - - - -Zehntes Kapitel - - -Als Helene nach Rohlbeck kam, war Vater bereits seit zwei Stunden -verschieden. Ohne schweren Todeskampf war der alte Rittmeister -hinübergegangen zu den ewigen Heerscharen. Martha führte die Schwägerin -zu ihm. Er lag wie ein Schlafender auf seinem schmalen Bett. Auf dem -Nachttisch standen zwei Lichter. Das Fenster des Sterbezimmers war -geöffnet, nach altem märkischem Brauch. Die Kerzenflammen flackerten -leicht in der Zugluft, und der wechselnde Reflex gab dem stillen -Greisengesicht dann und wann den Schein des Lebens. - -Helene warf sich am Bett auf die Knie, griff nach Vaters Hand, schrie -auf, drückte den Kopf neben Vaters Haupt in das Kissen, schluchzte -und weinte. Sie wollte nicht glauben, daß Vater tot wäre. Sie konnte -überhaupt keinen Gedanken fassen. Zum erstenmal in ihrem Leben stand -das große ewige Rätsel des Vergehens vor ihr, und ihr war’s, als müßten -ihr Schmerz und ihr Flehen den Vater erwecken können, als müßte Gott -sich erbarmen und ein Wunder tun. - -Nicht fassen und nicht begreifen konnte sie auch dann, als Martha sie -mit sanfter Gewalt emporhob, als der alte Heckstein kam und, selber mit -tränenden Augen, tief ergriffen, ihr milden Trost zuzusprechen suchte. - -Nicht fassen und nicht begreifen konnte ihre leidenschaftliche Seele, -daß es einen Trost geben sollte für solchen Schmerz. Nicht fassen und -nicht begreifen auch, wie ruhig und still die anderen waren. Mutter -sogar. Die saß zwar am Fußende des Bettes, weinte dann und wann leise -vor sich hin, aber sie fand doch Worte. Worte! Fragte, ob Wilhelm -und Fritz benachrichtigt wären, ob das Läuten schon bestellt sei. -Und Martha schaltete und waltete, dachte an alles, wollte Helene gar -nachher drüben an den Kaffeetisch zwingen. Gott im Himmel! Hatten sie -alle denn Vater so wenig lieb gehabt? - -Die Jungens standen scheu, verstört, mit roten Augen. Sie riß sie an -sich -- die mußten doch mit ihr fühlen! Ja, die Tränen saßen ihnen -locker. Aber nachher schlichen sie auf den Zehenspitzen zu ihren -Kaffeetassen. Und drüben lag Vater, Großvater, der sie so sehr geliebt -hatte! - -„Martha! Martha, wie ist es denn nur möglich! Wie ist’s denn nur -gekommen?“ - -„Du mußt ruhiger sein, Lene. Ehre Gottes Willen! Er hat unserem lieben -Vater doch ein so langes Leben und einen so sanften Tod geschenkt!“ - -„Vater war so rüstig! Vater hätte noch zehn, zwanzig Jahre leben -können. Martha, wie ist es gekommen?“ - -Da sagte es Martha. - -Vater war ganz munter gewesen, hatte noch mit beiden Jungens selber die -Posttasche geholt. Dann hatten sie um den runden Tisch gesessen, Vater -bei der Zeitung -- - -Martha stockte ein wenig. Aber es war nur wie ein zögerndes Atemholen. -„Vater hat sich vielleicht über etwas in der Zeitung geärgert, hat auch -geschimpft. Aber dann ist er aufgestanden und ist auf und ab gegangen --- du weißt ja, wie alle Tage. Mutter hatte die Familiennachrichten -vor sich. Ich häkelte. Siehst du -- und da kommt Vater mit einem -Male zu Mamachen, beugt sich ein wenig über sie und sagt: ‚Ich weiß -nicht, Elisabeth, ich weiß nicht, mir ist so komisch, das heißt --‘ -und da fällt er auch schon vornüber. Grad, daß ich ihn noch auffangen -konnte. Wir haben ihn gleich zu Bett gebracht. Der Hans ist zum -Pastor gelaufen. Vater hat noch ein paar undeutliche Worte gesprochen, -lag dann still. Da schrieb ich schnell an dich und hab an Wilhelm -depeschiert und einen reitenden Boten nach Stellberg geschickt zu Fritz -und zum Doktor --“ - -„Ja -- ja -- du hast an alles gedacht!“ - -„Das mußte ich doch, Helene. Wer sollte es denn sonst? Und dann ist -Papa sanft hinübergeschlafen. Ich war zuletzt allein bei ihm und hab -ihm die Lider zugedrückt.“ - -Helene hatte keine Träne mehr. Heiß brannten ihre Augen, aber der -Tränenquell war versiegt. Sie starrte vor sich hin. Ja, sie waren alle -so ruhig, waren alle so überlegt, so gefaßt. Als ob nur gerade ein -Licht ausgelöscht wäre. Als ob nicht eine Lücke gerissen wäre in ihrer -aller Leben, die sich nie, nie wieder füllen konnte. Nie -- nie -- -nie -- - -In den nächsten Tagen, bis zur Beerdigung, ging sie umher wie eine -Träumende. Und nur wie durch einen Schleier sah sie alles, was um sie -her geschah. - -Die Brüder kamen, standen mit gefalteten Händen an Vaters Bahre, hatten -Tränen in den Augen, sprachen leise und gedämpft, saßen beieinander, -küßten Mutter, beredeten allerlei mit Martha und Heckstein und Flehr. -Martha brachte ein Trauerkleid: „Helene, du mußt verständig sein. Man -darf sich auch dem tiefsten Schmerz nicht so leidenschaftlich hingeben.“ - -Onkel Ernst kam und mit ihm Merivaux. Er drückte ihr die Hände, sprach -sanft und lieb, wollte sie küssen. Sie schrak zusammen und entwand sich -ihm. Sah ihn an fast wie einen Fremden, neigte dann den Kopf, ließ es -sich gefallen, daß er ihre Hände hielt -- - -Sie sah einen Wagen vorfahren, sah, wie der schwarze, florbespannte -Sarg heruntergehoben wurde, und lief hinauf in ihr Zimmerchen, lief in -dem hin und her, von einer Wand zur anderen, wohl eine Stunde lang. - -So fand sie Wilhelm. Er fragte, ob sie denn Vater nicht noch einmal -sehen wollte, ehe der Sarg geschlossen würde. - -‚... ehe der Sarg geschlossen wird ...‘, klang es in ihr nach. Schrill -und schneidend. Aber sie nickte, und da nahm sie der Bruder unter den -Arm, stützte sie, sagte auch wie Martha: „Helene, du mußt verständig -sein. Wir trauern doch alle um unseren guten Papa. Aber das Leben -fordert seine Rechte. Man muß darüber hinfortzukommen suchen, und wenn -es noch so schwer ist.“ - -Sie nickte wieder, aber verstanden hatte sie kaum, was Wilhelm sagte. - -Dann, als sie draußen an der Treppe standen, begann er noch einmal, -leise: „Sei gut zu Fritz. Der trägt’s am schwersten.“ - -Verständnislos sah sie ihn an, bewegte die Lippen. Er mochte es für -eine Frage nehmen. - -„Nun -- er muß doch denken, daß Vater sich so aufgeregt hat, weil er -sich bei der Ersatzwahl für den Kreis als fortschrittlicher Kandidat -hat aufstellen lassen. Das hat Vater zuletzt in der Zeitung gelesen. -Sei gut zu dem armen Fritz --“ - -Sie hauchte ein Ja, aber recht verstanden hatte sie das auch nicht. -Vater! Vater! Sie haben ja alle nichts als Worte. - -Und dann stand sie am offenen Sarge. Wie versteint zuerst. Sah auf das -stille Greisengesicht, das ganz klein geworden schien, sah auf die -weißen Locken, sah auf die wachsweißen Hände, zwischen die Martha ein -Kreuzchen und einen kleinen Strauß blauer Vergißmeinnicht gelegt hatte. - -Sah dann langsam im Kreise herum, auf die Ihren, die um den Sarg -standen. Und sie sah zum ersten Male in all den Gesichtern den heiligen -Ernst und den tiefen Schmerz, erkannte zum erstenmal, daß sie alle von -der selben Trauer erfüllt waren, wie sie. - -Ganz sacht ging sie zur Mutter hinüber, legte den Arm um ihre Schulter, -küßte ihre Stirn. Trat an den Sarg -- und da endlich kamen die Tränen. -Sie lösten sich sanft, und sie konnte leise ein stilles Gebet sprechen. - -Auch Heckstein stand am Sarge seines alten Freundes. - -Als sie hinausgingen, lag Diana vor der Tür und winselte. Der Pfarrer -beugte sich und klopfte dem Tier leise auf den Kopf, fast zärtlich: -„Da reden die klugen dummen Menschen von der unverständigen Kreatur“, -meinte er wehmütig und streichelte den Hund. „Kusch, Diana. Er hat dich -auch lieb gehabt.“ - -Dann schob er seine Hand unter Helenes Arm: „Komm, Kind, wir wollen -einmal durch den Garten gehen.“ - -Schweigend gingen sie bis zu den großen Kastanien, unter deren Schatten -er mit dem alten Rittmeister so oft gewandelt war. Da bog er ein, -drückte Helenes Arm: „Kind, sie haben mir erzählt, daß du wie von -Sinnen bist. Das ist nicht recht von dir. Sieh mal, ich will dir nicht -mit billigen Trostworten kommen und auch nicht mit Vorwürfen. Aber -ich hab dich getauft und konfirmiert, da hab ich schon ein Recht, mit -dir ein paar ernste Worte zu sprechen. Die Juden stellten Klageweiber -an und zerrissen ihr Gewand und streuten Asche auf ihre Häupter. Wir -Christen müssen und sollen den Tod anders anschauen. Er darf keinen -Schrecken für uns haben. Uns ist er ja nichts als der Übergang aus der -Weltlichkeit in die Ewigkeit. Und was könnten wir Schöneres wissen von -einem geliebten Toten, denn: ihm ist wohl.“ - -Sie schritt neben ihm, mit tief gesenktem Kopf. - -„Ich kenne dich ja, Helene“, sprach er weiter. „So warst du von klein -auf: immer kochte es bei dir über, in der Freude und im Schmerz. Das -Leben aber fordert ein Maßhalten. Du mußt dich beherrschen, auch grade -jetzt. Denk’ nur daran, Kind, daß dein guter Vater nun nicht mehr ist. -Denk’ mehr daran, wie lieb er dich gehabt hat. Ich kann’s dir sagen: -du warst sein besonderer Liebling. Noch in den letzten Tagen hat er -mit mir so manches über dich gesprochen, in Zärtlichkeit und auch in -Sorgen. Aber die Sorgen hab ich ihm ausgeredet, und dann leuchteten -seine schönen blauen Augen: ‚Mein Spätling!‘ sagte er.“ - -Ihre Hand bebte auf seinem Arm. „Onkel Pastor“, sagte sie ganz leise. -„Ich hab Vater ja so sehr, so sehr liebgehabt. Ich kann gar nicht -sagen, wie sehr. Aber nun quält mich der Vorwurf: ich bin nicht gut -genug gegen ihn gewesen, ich bin nicht dankbar genug gewesen, ich -- -ich hab auch nicht das volle rechte Vertrauen zu ihm gehabt.“ - -„Kind, so mußt du nicht denken. Denk’ nur daran, daß du ihn liebgehabt -hast. Das ist genug und ist alles. Das andere: liebes Kind, es ist wohl -aller Eltern Los, daß ihnen ihre Liebe nie ganz vergolten wird. Ein -Kind +kann+ vielleicht Elternliebe und Elternsorgen nicht ganz -vergelten, denn beide sind zu groß und zu unendlich. Aber danach fragen -Elternherzen gar nicht. Die wollen nur wissen und fühlen, daß die -Kinder sie liebhaben und gut tun in ihrem Sinn.“ - -Wieder sagte sie: „Ich hätte doch mehr Vertrauen zu Vater haben sollen.“ - -„Wenn Kinder groß werden, Helene, so gehen sie ihre eigenen Wege. Das -ist nicht anders in der Welt und so vom lieben Gott gefügt. Es ist -nicht nötig, daß sie dann jedesmal zu den Eltern kommen und fragen: bin -ich auf dem rechten Pfad. Die Hauptsache ist, daß es vor ihrem eigenen -Gewissen der rechte Weg ist.“ - -Schweigend gingen sie ein Stück weiter, wandten sich und schritten -langsam zurück. Da begann Heckstein wieder: „Der Rackower war gestern -bei mir, Helene. Deinetwegen. Du weißt schon, weshalb?“ - -„Ja, Onkel Pastor“, gab sie leise zurück. - -„Es ist jetzt eigentlich nicht die Stunde, um dir Glück zu wünschen, -mein Töchterchen. Aber ich denke, ich kann’s doch. Gerade in Vaters -Sinn, denn er hat sich nichts sehnlicher für dich ersehnt, als einen -guten braven Mann. Daß er’s erlebt hätte! Du hast ihn gewiß sehr lieb, -deinen Neuchateller!“ - -Da blieb Helene stehen. Sie sah zu Boden. Zwischen ihren Brauen grub -sich die kleine schmale Falte ein. - -„Onkel Heckstein --“ sagte sie dann zögernd. „Ich weiß es nicht --“ - -„Aber, liebe Helene!“ - -In diesen letzten zwei Tagen war die Erinnerung an Merivaux, die -Erinnerung an jene flüchtigen Minuten im Rackower Park wohl bisweilen -durch ihren Sinn geglitten. Aber sie hatte das abgewehrt, wie sie sich -ihm selber entzogen hatte. Nicht einmal abgewehrt vielleicht; es war -aufgetaucht und untergegangen in ihrem leidenschaftlichen Schmerz, wie -einzelne Regentropfen in einem Seespiegel verschwinden, ohne Spuren zu -hinterlassen. - -„Aber, Helene!“ wiederholte Heckstein. - -Da richtete sie den Kopf hoch und sah ihn an. Ganz tief eingeschnitten -stand die Falte zwischen den Brauen in dem gequälten, übernächtigten -Gesicht. Aber in ihrer müden Stimme lag doch etwas wie Trotz. - -„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte sie noch einmal. „Laßt mir Zeit.“ -Und sie schluchzte kurz auf. Nur einmal. Dann kämpfte sie es herunter, -griff nach den beiden Händen Hecksteins, drückte sie krampfhaft: „Dank, -Onkel Pastor. Du hast mir doch wohlgetan! Dank!“ - - * - -Das märkische Kirchlein, der kleine Friedhof hatte eine solche -Trauerversammlung noch nicht aufgenommen. Nun erst erwies es sich, -wieviel Liebe der alte Rittmeister, der schlichte Mann, im ganzen -Kreise und darüber hinaus besessen hatte. Heckstein hatte recht, wenn -er in seiner einfachen Rede betonte: er ist heimgegangen zum ewigen -Frieden und hinterläßt auf Erden keinen Feind. - -Von weit her kam der Landadel. Aber es kamen auch die Bauern und -Kossäten aus den nächsten Dörfern mit Weib und Kind. An diesem Tage -ließen sie die Arbeit allenthalben ruhen, um dem Herrn auf Rohlbeck -die letzte Ehre zu erweisen. Und aus den kleinen Städten kam von den -Beamten und den Gewerbetreibenden, wer immer mit den Hackentins in -Verbindung gestanden hatte. - -In der Mitte der Kirche stand, von dem reichen Segen der sommerlichen -Gärten verhüllt, der schwarze Sarg. Obenauf lagen die wenigen Orden. -Die kostbarsten obenan: das Eiserne Kreuz und das russische St. -Georgskreuz, das Hackentin sich bei Kulm Anno dreizehn erkämpft hatte. - -Kurz und kernig sprach der Pfarrer, die eigene Ergriffenheit -niederringend, vom Altar aus. Er zeichnete das Charakterbild des -Verewigten: ein rechter und echter märkischer Edelmann, getreu seinem -König, treu der Scholle, die ihn trug; herzensgut und hilfsbereit, ein -guter Gatte, ein guter Vater, ein guter Patron, seinen Leuten allezeit -ein guter Herr; tapfer im Kriege, bescheiden im Frieden. Gott vor Augen -und im Herzen. „Manche werden vielleicht sagen und sprechen: es war -kein reiches Leben. Die Toren! Gewiß, es war kein Leben, erfüllt mit -äußeren Ehren. Es war kein Leben, emporgetragen durch großes Streben. -Es war kein Leben voll Prunk und Glanz. Klein war der Kreis, in dem -er wirkte, er, den ich durch nun fünfunddreißig Jahre meinen liebsten -Freund nennen durfte. Aber er füllte diesen engen kleinen Kreis durch -die Liebe seines großen, grundgütigen Herzens. Darum trauern wir alle -so tief um ihn, darum will uns die Lücke, die Gottes unerforschlicher -Ratschluß riß, als nimmer ausfüllbar erscheinen. Ich sage euch: es -war ein reiches, gesegnetes Leben, und in reichem Segen bleibt uns -sein Gedächtnis. Unser Herr und Gott, der dem lieben Verewigten dies -Leben schenkte bis in das Greisenalter hinein, ohne daß des Alters -Beschwerden an ihn herantraten, gab ihm auch einen gnädigen schnellen -Tod sonder Schmerzen, und er hat ihn in Gnaden aufgenommen in sein -himmlisches Reich. Amen.“ - -Die Orgel setzte ein. Und über den heut hundertstimmigen Chor hinaus -sang die Tochter dem Vater das Lied von Ernst Moritz Arndt, das er sich -schon vor Jahren von seinem Freunde Heckstein für diesen Tag erbeten -hatte: - - „Geht nun hin und grabt mein Grab, - Denn ich bin des Wanderns müde. - Von der Erde schied ich ab, - Denn mir ruft des Himmels Friede, - Denn mir ruft die süße Ruh’ - Von den Engeln droben zu --“ - -Dann segnete der Pfarrer den Sarg ein. Sechs alte Soldaten, märkische -Bauern, trugen ihn hinaus unter den breitästigen Maulbeerbaum, der -einst auf Befehl Friedrichs des Einzigen gepflanzt worden war, -hinaus zu der langen Reihe der Gräber, die sich um das kleine uralte -Erbbegräbnis scharten. - -Nur wenige Worte konnte Heckstein hier sprechen. Dann brach ihm, der -sich so tapfer gehalten, die Stimme. Langsam sank der Sarg in die Gruft. - -Wie eine schwarze Mauer stand dichtgedrängt die Masse der -Leidtragenden. Ein kurzes Schluchzen, ein verhaltenes Weinen und wieder -tiefe, tiefe, ehrfurchtsvolle Stille. - -Als Erste dann wankte die gebeugte Greisin am Arm des ältesten Sohnes -an das offene Grab, warf drei Hände Heimaterde in die Gruft. Und sie -folgten alle -- alle -- zum letzten Abschiedsgruß. - -Bis dann die Landwehrmänner, einer noch mit dem Kreuz von Eisen, drei -mit dem Düppelkreuz auf den langen schwarzen Bauernröcken, herantraten, -die Jagdflinte in der Hand, und dem Kameraden die drei Ehrensalven über -das Grab schossen. - -Als die letzte Salve verhallt war, sprach Graf Grucker, der neben dem -Pfarrer stand und ihm liebevoll die Hand gereicht hatte: „Mir ist’s, -als hätten wir mit unserem guten Hackentin die alte Zeit begraben. Nun -kommt wohl eine neue herauf. Daß sie nur gut wird -- meine Hochachtung --- die neue Zeit!“ - -Heckstein sah zu ihm empor mit schimmernden Augen: „Das walte Gott!“ - - * - -Helene hatte ihre eigene Schwäche gefürchtet und die Leidenschaft ihres -Schmerzes. Daß sie zusammenbrechen würde oder aufschreien, mitten im -Gotteshause, an der offenen Gruft. Und doch war sie ganz gefaßt, ganz -ruhig gewesen unter der Heiligkeit von Ort und Stunde. Der wehe Schmerz -war zur sanften Trauer gewandelt, und als sie in das kleine Kirchlein -trat, hob sie die Weihe des Augenblicks über alles Irdische empor. Die -Orgel klang, und fest setzte ihre Stimme ein, dem geliebten Vater zur -letzten Ehre. - -Es tat ihr wohl, daß sie alle gekommen waren, unendlich wohl die Liebe -und Verehrung, die ihm galt. Eine stille wehmutsvolle Freude war in -ihr, daß durch die Kirchenfenster die strahlend helle Sonne leuchtete. -Als ob Gott es mit Vater noch heut besonders gut meinte. - -Ganz ruhig, ganz gefaßt war sie in all ihrer Ergriffenheit. - -Einmal nur wollte ihre Kraft schwinden. Als der Sarg langsam in die -Gruft glitt. Vielleicht sah man’s ihr an, vielleicht schwankte sie. In -dem Augenblick suchte eine feste Hand die ihre, und sie war wie eine -gute Stütze. Nur ganz dunkel empfand sie, daß Merivaux neben ihr stand, -mitten unter ihren Nächsten, daß er es war, der ihre Hand ergriffen -wie mit wortlosem Zuspruch. Aber sie ließ sie ihm, trat mit ihm an -die Gruft, und so gaben sie gemeinschaftlich dem Vater den letzten -Erdengruß. - -Während sie langsam, inmitten der Trauerversammlung, über den Dorfanger -schritten, drückte er noch einmal innig ihre Hand, und dankbar empfand -sie, daß er nicht zu ihr sprach. Daß er nicht unter denen blieb, -die von weit her gekommen waren und nun nach ländlichem Brauch mit -hinübergingen in das Elternhaus. - -Weit denen voraus floh sie in ihr kleines Zimmer unter dem Dach -- -- - -Und nun war alles vorüber, das Leben pochte wieder an die Tür mit -seinen alltäglichen Forderungen und seinen Rechten. - -Es gab vielerlei zu ordnen und zu besprechen, wie immer, wenn der -Tod das Haupt einer Familie abberufen hat. Die beiden Brüder saßen -zusammen über Büchern und Papieren, rechneten und rechneten mit heißen -Köpfen. Dann wurden Martha und Helene hinzugezogen. Das Resultat war -bedrückend. Von Jahr zu Jahr waren die Erträge von Rohlbeck geringer -geworden; wenn man die Hypothekenschuld abzog, blieb nur ein kleiner -Überschuß. Der sollte, dafür hatte vor allem Fritz gesorgt, für Helene -gesichert werden. Nicht viel mehr war’s, als einmal eine knappe -Ausstattung. - -Rohlbeck war kein Lehngut. Deshalb hatte Wilhelm dafür gesprochen, den -Besitz zu verkaufen. Aber da war es wieder Fritz, der sich dagegen -ereiferte. Merkwürdigerweise. - -In all den Tagen seit Vaters Tod war der Kreisrichter sehr still und -in sich gekehrt gewesen. Er mochte nicht loskommen können von der -schmerzlichen Empfindung, daß sein politisches Auftreten Vater in -dessen letzten Stunden zum mindesten sehr stark erregt hatte. Zwar -sprach niemand mit ihm, und auch er sprach mit niemand darüber. Aber -in seinem Herzen lebte wohl die starke Empfindung, daß er gegen die -Geschwister doppelt gut sein müßte. - -So verzichtete er sofort auf jedes Erbteil und auch auf die kleine -Zulage, die er bisher von Vater erhalten hatte. Als Wilhelm dann die -Frage des Verkaufs aufs Tapet brachte, erklärte er sich dagegen: „Ich -weiß ja, ihr werdet erstaunt sein. Ich weiß ja, wie ihr über meine -politische Richtung denkt, daß ihr mich bisweilen vielleicht als einen -Renegaten, als ein verlorenes Glied der Familie Hackentin angesehen -habt. Still -- Wilhelm, wir wollen daran nicht weiter rühren. Aber das -sage ich euch: in mir lebt ein starker Familiensinn, und in mir lebt -auch die Treue zur Heimaterde. Mit meiner Zustimmung wird Rohlbeck -nicht verkauft, sondern für euren Ältesten erhalten.“ - -Martha war zu Tränen gerührt. Ganz in ihrem Sinne hatte Fritz -gesprochen. Sie streckte dem Schwager die Hand hin: „Dank, Fritz, -vielen, vielen Dank!“ - -Also nicht verkaufen, aber verpachten: das allein blieb schließlich -übrig. Und Omama sollte mit Wilhelms nach Berlin ziehen. - -Die alte Gnädige saß nun längst wieder auf ihrem Traumplatz am -Fenster der großen Stube. Man merkte ihr vielleicht am wenigsten an, -welches Leid über dies Haus gekommen war. Manchmal schien sie ganz -interesselos, murmelte undeutlich vor sich hin; dann schien es, als ob -sie nur Sinn für Äußerliches hätte: „Also Adolf Grucker war da? Und der -Landrat? Artenaus auch -- so -- haben sie denn auch alle ordentlich -zu essen bekommen, liebe Martha?“ Oder: „Heckstein wird recht alt. -Er hätte wirklich mehr von Papachens Kriegstaten einflechten sollen, -Anno dreizehn und so.“ Oder: „Helene steht die Trauer recht gut. -Hatte Mariechen eigentlich Crêpe de Chine an?“ Manchmal aber rief sie -plötzlich Diana zu sich ans Fenster und sprach mit dem Hunde fast wie -mit einem Menschen. „Ja, Diana, das Herrchen! Ich weiß ja, manchmal war -er hart zu dir. Zu mir auch. Aber geliebt haben wir ihn beide. Nicht -wahr?“ Dann saß Diana dicht am Nähtisch, hatte den klugen Kopf weit -vorgestreckt und winselte leise. - -Sie hatten sich alle davor gefürchtet, Omama das Resultat ihrer -Beratungen mitzuteilen; kam es ihnen doch wie ein Wagnis vor, dies -Verpflanzen der Greisin nach Berlin. Merkwürdigerweise nahm sie alles -ganz gelassen auf. „Tut nur, was notwendig ist. Auf mich nehmt keine -Rücksicht“, sagte sie zuerst. Aber ein paar Stunden später winkte sie -Martha zu sich und begann von Berlin zu sprechen. Von dem Berlin vor -vierzig Jahren freilich: von König Friedrich Wilhelm dem Dritten und -von seiner schönen Schwester Charlotte, der Kaiserin von Rußland. -Ob man mit der Post bis zur Königstraße führe? Ob Jagor noch das -erste Restaurant sei? Damals hätten sie immer im „Roten Adler“ in der -Kurstraße gewohnt. Und ob Spontini noch lebte -- das müßte Helene doch -wissen. Den hätte sie einmal seinen „Nurmahal“ dirigieren sehen ... -Helene mußte wirklich kommen, und Mutter redete von Iffland und von -der Stich und dann von der Henriette Sonntag -- immer fast, als ob sie -gestern die gesehen hätte, und ob Kotzebues „Johanna von Montfaucon“ -noch gegeben würde? Fast, als wäre die Gegenwart ausgelöscht in ihrem -Gedächtnis, und als lebte sie nur noch der Erinnerung an längst -vergangene Tage. - -Wilhelm fühlte sich jetzt ein wenig als Haupt der Familie. - -Als solcher sprach er auch mit der Schwester über Merivaux. - -Zum ersten Male bei der Erörterung über ihr Erbteil. Ganz nebenbei: -„Gottlob, daß dein Bräutigam in einer so guten Assiette ist, Helene.“ -Da war sie hochgefahren, das Blut schoß ihr in das Gesicht, und sie -sagte nur, scharf und knapp: „Das, bitte, laßt jetzt!“ - -Aber ein paar Stunden darauf kam Wilhelm auf ihr Zimmer. Etwas -feierlich, etwas väterlich und ein wenig verlegen: „Ich muß doch -mit dir reden, liebe Helene. Möchte dir vor allem, ganz im stillen, -herzlich gratulieren. Merivaux ist ein Prachtmensch, ich hab ihn immer -sehr gern gehabt. Nun -- und ich kann’s ja wohl sagen -- früher hatten -wir auch so manchmal heimlich gedacht -- ja! -- die Rackower hatten uns -so Andeutungen gemacht. Wir hatten’s dann aufgegeben. Desto besser, daß -es nun doch wahr geworden ist. Es ist ja ein trauriges Zusammentreffen -mit Papas Tod -- zu traurig für euch beide. Aber überlegt muß das doch -nun werden, ob eure Verlobung jetzt offiziell werden soll.“ - -Sie stand am Fenster und sah auf den Wirtschaftshof hinaus und das -Winkelchen Garten, das sich rechts anschloß. Wandte dem Bruder das -Gesicht nicht zu -- wozu sollte er sehen, wie das Blut darin kam und -ging! -- und antwortete nicht. - -Er sprach auch gleich weiter: „Ich weiß selber nicht recht, ob es nicht -taktvoller wäre, wenn ihr damit mindestens ein paar Wochen wartet? Ist -es dir recht, wenn ich mit Merivaux darüber spreche? Er hat sich zu -heut nachmittag bei mir ansagen lassen.“ - -Da schrak sie zusammen und entgegnete fast heftig: „Bitte -- nein! Ich -muß selber mit -- mit ihm sprechen.“ - -Wilhelm lachte leise: „Wie aufgeregt du bist! Natürlich sollst du -selber mit ihm sprechen. Wer sollte dir denn das wehren?“ Und nach -einer Weile: „Du bist doch ein wunderliches Menschenkind, Lene. Läßt -mich hier stehen und reden und siehst mich nicht an. Ich könnte fast -glauben, du hast etwas gegen mich.“ - -Nun endlich wandte sie sich langsam um, immer noch wortlos. Und da trat -er dicht zu ihr, legte seine Hände auf ihre Schultern: „Aber wie siehst -du denn aus, Lene? Sieht so eine glückliche Braut aus!“ - -„Glücklich --“, sagte sie schwer. - -Er verstand es falsch. „Ja, freilich! Armes Kind! Sei nicht böse. Man -vergißt manchmal auf Momente ...“ - -Dann war er gegangen. - -Und Helene begann wieder ihre stumme Wanderung durch das kleine Zimmer, -von einer Wand zur anderen. Immer tiefer grub sich dabei die Falte -zwischen ihre Brauen ein. Immer trüber und schmerzlicher wurde der -Ausdruck ihres Gesichts. Aber auch immer entschlossener. - -Bis sie hinunter ging, um Merivaux zu empfangen. - -Sie bat Martha, es so einzurichten, daß sie ihn gleich allein sprechen -könnte. Die Schwägerin sah ihr erschrocken ins Gesicht. „Aber ... -Helene ...“ Da sagte sie: „Bitte, liebe Martha, quäle mich nicht. Ich -habe schwer genug zu leiden.“ Und der Ton ihrer Worte war wohl so -bestimmt, daß Martha nur leise aufseufzte: „Ich meinte es gut. Geh in -Vaters Zimmer. Ich werde Merivaux zu dir führen.“ - -Wohl eine Viertelstunde mußte sie in dem kleinen Raum warten, den Vater -als sein eigentliches Heiligtum betrachtet hatte. Die Kinder, die Enkel -hatten ihn selten betreten dürfen. In ihrer Stimmung aber empfand -Helene doppelt eindringlich das Persönliche in diesem Zimmer. Die fast -spartanische Einfachheit seiner Ausstattung, die vom Dorftischler -gefertigten birkenen Stühle, das steife Roßhaarsofa, der gewaltige -Schreibtisch, den Vater seiner Größe halber immer die „Kossätenscheune“ -genannt hatte: das alles erinnerte sie an ihn, stimmte sie wehmütig. -An der Wand hingen ein paar Familienbilder. Einmal, als sie noch ein -Kind war, hatte er ihr die erklärt: „Das da war mein Herr Vater, Helene --- das heißt, wir mußten ja damals zu unseren Eltern Sie sagen und -Herr Vater und Frau Mutter. War auch ein gestrenger Herr, gegen uns -Kinder, gegen alle Leute. Ich hab’s noch mitansehen müssen, daß er -einen Knecht peitschen ließ, bis der ganze Rücken blutig war, und uns -hat er auch oft genug mit der Karbatsche gezüchtigt. Ein gestrenger, -ein harter Herr -- das heißt, mit allem Respekt zu sagen. Aber es ist -doch besser, wenn der Mensch ein weiches Herz hat. Man soll seinem -Mitmenschen nichts zuleide tun, wenn man es vermeiden kann. Man soll -auch mal ein Opfer bringen können deshalb. Merke dir das, mein Kind.“ -Und da hing auch die Silhouette der schönen Tante Charlotte, die sie in -der Familie das Bild ohne Gnade hießen -- Tante Charlotte Hackentin, -die um die Wende des Jahrhunderts Hofdame bei der Prinzessin Wilhelm -gewesen war und von der die Sage ging, daß sich ihrethalben der Graf -Hoym erschossen hätte. - -Eine Weile stand Helene vor den Bildern. - -Dann wandte sie sich ab und schüttelte den Kopf. Nein -- es war -töricht, Vergleiche und Folgerungen ziehen zu wollen. Töricht, kindisch -war’s. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich. Das war es, nichts -anderes. - -Und da trat auch schon Merivaux ins Zimmer, kam auf sie zu, faßte ihre -beiden Hände, sah ihr tief in die Augen: „Liebe ’elene, liebe Helene,“ -sagte er, „wie schwer hast du gelitten! Ich hab immerzu -- immerzu nur -an dich gedacht. Liebe Helene --“ - -Er küßte ihre Hände. Er wollte sie an sich ziehen. - -Da bog sie sich weit zurück. - -„Helene“, rief er. Erstaunt, erschrocken. Aber dann kam ein Lächeln auf -sein Gesicht, ein kleines, zärtliches, schmerzliches Lächeln. Er küßte -ihr noch einmal die Hand. „Arme, liebe ’elene“, sagte er wieder. „Oh, -ich weiß, wenn ich meinen alten Papa hätte begraben müssen, ich würde -auch nicht zu trösten gewesen sein ...“ - -Er suchte ihren Blick. Sie wandte das Gesicht zur Seite. - -„... aber wenn dein Papa auf uns herabsieht ... ganz gewiß, Helene ... -er würde uns segnen.“ Und nach einer Weile: „Sieh mich doch nur einmal -an. Ich hab solch eine große Sehnsucht gehabt nach dir ... solch eine -Sehnsucht. Ich hab dich ja so lieb!“ - -Immer noch hielt er ihre beiden Hände. - -Zuerst hatte er Deutsch gesprochen. Nun strömten ihm, unbewußt wohl, -die Laute seiner Muttersprache über die Lippen. „Manchmal denk ich, -wie ich nur hab leben können ohne dich? All die Zeit, diese langen -zwei Jahre! Lange, schwere Jahre, Helene! Und dann, endlich, endlich, -neulich das Glück. Kaum getraut hab ich mich noch zu hoffen. Aber da -war es mit einem Male, ein Geschenk des Himmels, dein Geschenk, Helene. -Das Glück, das Glück, -- deine Liebe!“ - -Und mit einem Male sprach er wieder Deutsch. „Sag’ einmal, einmal nur: -ich hab dich lieb, Gaston ... Gaston ... hörst du ... Gaston, ich hab -dich lieb ...“ - -Was hatte sie ihm nicht alles sagen wollen?! Wie hatte sie sich das -alles überlegt! Ruhig, verständig: ‚Es war ein Rausch, Herr von -Merivaux, der Rausch eines Augenblicks. So sehr ich mich schäme, ich -muß es Ihnen gestehen. Um Ihretwillen; ich bin es Ihnen schuldig. Ich -habe eine aufrichtige Zuneigung zu Ihnen, aber nicht mehr. Das langt -nicht für das Leben. Wenn Sie mir zürnen, muß ich es tragen als die -Schuldige. Nur verachten Sie mich nicht.‘ Das alles hatte sie ihm sagen -wollen, und noch viel mehr. Ruhig, verständig, gewissenhaft. Ganz -scharf hatte sie es sich überlegt und erwogen. - -Und nun brachte sie kein Wort über die Lippen. - -Seine zartfühlende Art lähmte sie. Die innige Liebe, die aus seinen -Worten, aus seinem Wesen sprach, lähmte sie. Ihr Wille schmolz dahin. -Und sie dachte nur das eine: ‚Mein Gott, wie soll das werden?‘ Dachte -in tiefster Herzensangst: ‚Du kannst ja nicht nein sagen! Du hast ja -nicht die Kraft, ihm diesen Schmerz zuzufügen.‘ - -Dann hörte sie wieder: „Ansehen sollst du mich, liebe Helene. Nur -einmal ansehen!“ - -‚... Du hast nicht die Kraft, du hast wohl auch nicht das Recht! Was -kommt es denn auf dich an? Denke nicht an dich, denke an ihn! An seine -große Liebe!‘ - -„Sag’ einmal: Gaston, ich ’ab dich lieb ...“ - -Es klang so rührend, es klang so gut! Und sie war doch nun einmal die -Schuldige, die Schuldige geworden vor fünf Tagen, oben im Rackower -Park, im Mondenschein. Damals hätte sie sich wehren müssen, fliehen, -flüchten. Nun war es zu spät. Nein sagen, jetzt: es wäre eine -Unbarmherzigkeit gewesen und ein Unrecht. Er hätte sie verachten müssen --- oder es hätte ihn in die Verzweiflung gestürzt. Aus Mitleid mit ihm -schon durfte sie nicht nein sagen ... - -„Einmal nur: Gaston, ich ’ab dich lieb ...“ - -Ganz langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu. - -Und stammelnd, wie ein Kind, sprach sie: „Ich, ich hab dich lieb ...“ - -„Sag’: Gaston!“ - -„... Gaston ...“ - -Da nahm er sie in die Arme und küßte ihr die Tränen aus den Augen. - -Acht Wochen später gingen die Verlobungsanzeigen ins Land. - -Wilhelms waren nun längst wieder in Berlin, Omama und Helene mit ihnen. - -Man hatte sich etwas stark einschachteln müssen in der Wohnung. Helene -mußte mit der Mutter ein Zimmer teilen; der Flügel war in Wilhelms -Arbeitszimmer untergebracht worden. Eng war es, aber Martha wußte für -alles Rat. Sie freute sich der Omama wie eines lieben Vermächtnisses, -betreute und verhätschelte sie und wurde nur, dann und wann, ein -wenig ungnädig, wenn sie die Jungens gar zu sehr verzog, ihnen zur -unrechten Stunde eines ihrer unzähligen Hausmittelchen eindoktern -wollte, oder wenn Omama sich an ihrer Nähmaschine zu tun machte. Denn -diese Nähmaschine, die ihr Wilhelm kürzlich geschenkt hatte, war ihr -etwas wie ein Heiligtum. Sie kostete freilich auch fast genau hundert -Taler, und alle bekannten Damen kamen, um das neue Wunder anzustaunen, -das die Singer-Kompanie gerade erst in Preußen einzuführen begonnen -hatte. Omama konnte wohl ein Viertelstündchen dem Spiel des blanken -Schiffchens zusehen; dann aber ging sie meist, kopfschüttelnd, zu -ihrem Sorgenstuhl an das andere Fenster und schaute auf den Platz vor -der Halleschen Brücke hinaus; wenn dort zwei Omnibusse hielten, drei -Torwagen ihres Wegs zogen und ein halbes Dutzend Menschlein hasteten, -dann sagte sie: „Liebes Kind, welch eine Cohue! Welch eine Cohue!“ Und -sie schüttelte dabei die ewig kohlschwarzen, an jedem Morgen mit dem -Tolleisen gebrannten Locken, die zu zwei und zwei rechts und links an -ihren Schläfen wie Perpendikel hin und her schwangen. - - * * - * - -Einige Tage nach der Ankunft in Berlin war der alte Herr von Merivaux -gekommen, um die Braut seines Sohnes zu begrüßen. Ein stattlicher, -vornehmer Herr, mit einem rosigen Gesicht, langem, weißem Schnurrbart -und weißem Henriquatre; im Knopfloch seines schwarzen Gehrocks trug er -ostentativ das Bändchen des Roten Adlerordens. - -Er war herzlich zu Helene, ein wenig zurückhaltend Wilhelms gegenüber. -Helene hatte die Empfindung, als ob er bisweilen seine Augen etwas -erstaunt, etwas enttäuscht über die einfache Einrichtung schweifen -ließe, und sie straffte sofort den Nacken: sollte ich ihm vielleicht -nicht gut genug sein, hat er eine reiche Schwiegertochter erwartet? -Aber sie mußte bald erkennen, daß sie sich getäuscht hatte. Der alte -Herr entwickelte eine herzgewinnende natürliche Liebenswürdigkeit. -Er sagte ihr die reizendsten Artigkeiten, erklärte, daß er sehr -erfreut wäre, eine preußische Aristokratin, eine Tochter aus so alter -märkischer Familie, zur Schwiegertochter zu erhalten -- fügte lächelnd -hinzu: „Daß mein neues Töchterchen +so+ schön ist, konnte ich -freilich trotz Gastons Enthusiasmus nicht ahnen.“ Und dann kam die -Frage, die sie gefürchtet hatte. Wieder mit einem leichten Lächeln: -„Junge Leute haben es immer eilig, und sie haben recht. Man kann nicht -früh genug ganz glücklich werden. So darf ich gewiß fragen, ob Sie -schon den Termin der Hochzeit festgesetzt haben?“ - -Sie schöpfte tief Atem. „Keinesfalls -- vor Ablauf des Trauerjahres“, -sprach sie dann rasch und entschieden. Im gleichen Augenblick sah -sie, wie Gaston errötete, daß Wilhelm, der der französisch geführten -Unterhaltung nur mühsam folgen konnte, wie abwehrend die Hand hob. - -Aber da verbeugte der alte Herr sich schon gegen sie: „Pardon ... -ich muß wirklich sehr um Verzeihung bitten. Ihr Entschluß ehrt Ihre -Gesinnung, liebe Tochter. Eine gute Tochter wird stets auch eine gute -Frau. Sie haben durchaus recht. Gaston wird sich bescheiden müssen, so -schwer das seiner Liebe gewiß ist.“ - -Gaston mußte sich bescheiden -- - -Er mußte sich überhaupt bescheiden: Helene war eine sehr spröde, eine -herbe Braut. Sie war zu verständig, seiner Zärtlichkeit zu wehren, aber -sie erwiderte sie nicht. Ein Dulden war’s, nie ein Geben. Und dann und -wann kamen Stunden, in denen sie sich ihm ganz zu entziehen suchte, wo -ihre Herbheit zur Härte wurde, ihre Kühle zur eisigen Kälte. - -Einmal sagte ihr Martha: „Nimm mir’s nicht übel, Lene, aber ich muß -dir die Leviten lesen. Du bist eine merkwürdige Braut! Hast du denn -Fischblut in den Adern? Oder ist es ein kokettes Spiel, das du mit -Gaston treibst? Ich an seiner Stelle ... ich ließe mir das einfach -nicht gefallen.“ - -Merivaux hatte den Abend bei Wilhelm zugebracht. Als er aufbrach, -geleitete Helene ihn gerade bis an die Zimmertür. Er stand wartend, -ihre Hand in der seinen, mit einem bittenden Lächeln: „Nun ... du -kommst doch noch einen Moment mit hinaus, ’elene?“ Da hatte sie den -Kopf geschüttelt: „Geh nur! Gute Nacht!“ - -Jetzt saß sie in dem alten Ohrenwangenstuhl, der von Rohlbeck aus -mitgewandert war, den Kopf ganz in die eine Ecke gedrückt, und Martha -stand vor ihr, im sonst so ruhigen Gesicht den ehrlichen Zorn. - -„Nein, ich ließe es mir wahrhaftig nicht gefallen! Ein so lieber Mensch -ist Gaston. Immer gleich artig, immer aufmerksam. Und immer aufs neue -sieht man, wie er dich liebt. Und du -- wenn ich’s nicht besser wüßte, -möchte ich sagen: ein Eisblock bist du. Wenn er nur mal ordentlich -aufbrausen wollte! Dir deinen Kopf zurechtsetzen! Ich gönnte es dir!“ - -Ganz fest drückte Helene den Kopf gegen das harte Polster. Die Augen -hatte sie geschlossen. - -„Manchmal möchte man wahrhaftig glauben, du hättest Gaston nicht lieb!“ - -Die beiden Hände preßte Helene auf die Armlehne. Die schmale Falte -zwischen ihren Brauen grub sich tief ein. - -Und dann stand sie plötzlich auf, legte ihre Hände auf Marthas -Schultern: „Quäle mich nicht! Ich bin so müde!“ sagte sie. „Schlaf -wohl -- wenn du kannst!“ und ging hinaus. Ging in ihr Zimmer, das -sie mit Omama teilen mußte. Die lag schon im Bett, konnte aber nie -einschlafen, ehe die Tochter kam, und redete dann immer noch allerlei. -Halb waren’s Monologe, halb war’s an Helene gerichtet. - -„Dein Gaston ... ja ... dein Gaston! Anno dreißig oder einunddreißig -war ich in Karlsbad. Da lernte ich einen jungen Grafen Meerwedt -kennen. Auch so chevaleresk wie dein lieber Gaston. Da haben wir -einmal eine Partie in den Wald gemacht. Der Herr von Auerswald hatte -die entrepreniert ...“ Dann kam ein halblautes Lachen ... „und da war -eine junge Komteß Adelau, und mit einem Male war der Meerwedt und sie -verschwunden, und dann fanden wir sie, gerade als er sie embrassierte -... Ja, die Jugend!“ - -Nun hatte sie schon Mutter gute Nacht gesagt und das Licht gelöscht. -Da fing Omama noch einmal an, kicherte ein wenig und sagte: „Hörst du -noch, Lenchen? Ich wollt nur sagen: vor dem guten Papa durft ich ja nie -davon reden. Der war ja immer so komisch, wenn ich von Körner erzählte. -Ja, wie war das doch nur? Ich find’s wohl nicht mehr recht zusammen. -Wie war das doch nur?“ - -Ein Weilchen schwieg Omama. „Richtig, Lene, jetzt hab ich’s. Hörst -du? Es ist so hübsch, was der Theodor sagt: Drum leb’, wer das Küssen -und Lieben erdacht ... ja ... wer das Küssen erdacht ... Ich war auch -einmal jung ... Küßt du ihn gern, deinen lieben Gaston?“ - -Ein leises Kichern wieder, ein halblautes: „Ja ... die Jugend ...“ Bald -kamen die tiefen, ruhigen Atemzüge. Omama schlief. Gewiß lag auf ihrem -guten Antlitz zwischen all den Runzeln und Fältchen ein Lächeln der -Erinnerung. - -Aber Helene fand und fand keinen Schlaf, bis der Morgen graute. Auf ihr -lastete die Gegenwart, und sie fürchtete sich vor der Zukunft. - -Wie sie alles jetzt hinausschob, hinauszögerte, als erwartete sie, daß -irgendein kommender Tag ihr eine Befreiung bringen könnte, so hatte sie -auch die nötigsten Besuche hinausgeschoben. Schließlich sah sie selber -ein, es mußte der Pflicht genügt werden. - -Es waren der Besuche ja auch nicht viel zu erledigen. Von den Kameraden -Merivaux’ waren nur wenige verheiratet. - -Aber auch Tante Marianne Oschitz stand auf der kleinen Liste. Es -herbstete schon stark, als das Brautpaar vor der einsamen Insel -vorfuhr; und als Helene am Arm Merivaux’ durch den Vorgarten schritt, -dachte sie unwillkürlich: ‚nun sind es drei Jahre, seit du hier -einzogst. Erst drei Jahre -- schon drei Jahre! Die dir mehr Erleben -gebracht haben, mehr als alle anderen. Und kein Glück ...‘ - -Sie dachte noch daran, als sie vor Tante Marianne stand. Es mochte wohl -nicht so glücküberströmend klingen, wie das gleiche Wort aus anderem -Mädchenmunde: „Mein Bräutigam, liebe Tante.“ - -Die kleine alte Frau machte einen hinfälligen Eindruck. Sie hatte sich -bei dem Eintritt der beiden mühsam erhoben, kam ihnen auf dem Stock mit -schwerer Elfenbeinkrücke gestützt entgegen, sagte freundlich mit ihrer -leisen, sanften Stimme: „Ich freue mich herzlich. Der Segen Gottes möge -mit eurem Bunde sein --“, und dann stutzte sie plötzlich. - -Es war nur auf einen Moment, sie nötigte gleich zum Sitzen. -Immerhin war es so auffallend, daß es Helene nicht entging. Sie sah -auf Merivaux, wie eine Erklärung suchend. Aber der stand gerade -aufgerichtet, nach seiner Gewohnheit Tante Marianne mit seinen großen, -blauen Augen hell ansehend. Immer sah er allen Leuten so ins Gesicht, -so offen und zuversichtlich. - -Tante Marianne war heut sehr weich und gütig, zeigte ein lebhafteres -Interesse, als sonst ihre Art war, erkundigte sich nach Merivaux’ -Heimat, nach seinen Plänen für die Zukunft; schien sich zu freuen, als -er frisch und fröhlich antwortete: „Ich ’ab nur einen Plan für die -Zukunft, meine Frau recht glücklich zu machen.“ Sie lächelte, nickte -und hatte gleich eines ihrer alten Sprüchlein: „Wer glücklich ist, kann -immer glücklich machen! ... Sie haben so zuversichtlich glückliche -Augen, lieber Herr von Merivaux.“ - -„Ich ... glückliche Augen, gnädige Frau?“ - -„Jawohl, glückliche Augen. Sorge nur, Helene, daß ihnen jeder trübe -Schatten erspart bleibt.“ - -Sie sprachen noch dies und das. Dann war es Zeit, aufzubrechen. Aber -als sie sich schon empfohlen hatten, hielt Tante Marianne Helene noch -einmal zurück. Ihre Stimme bebte ein wenig, und in ihrem kleinen, -blassen Gesicht lag ein Zug des Ergriffenseins. „Ist dir das auch schon -aufgefallen,“ flüsterte sie hastig, „daß dein lieber Gaston die Augen -von meinem Harro hat? Ganz Harros Augen.“ Und sie hob sich plötzlich -auf den Zehenspitzen und küßte die Nichte zärtlich: „Lang mögen sie dir -leuchten ... lang ...“ - -Draußen, im Vorgarten, fragte Merivaux: „Was hatte deine Frau Tante dir -noch anzuvertrauen?“ - -Sie schüttelte den Kopf. „Nichts Besonderes, Gaston --“ und ging mit -gesenktem Kopf neben ihm weiter bis zum Wagen. ‚Ja, Harros Augen‘, -dachte sie. ‚Seine Augen, Harros Augen ... die haben es mir damals -angetan, im Rackower Park ... --‘ - -Eine verhaltene Bitterkeit, fast etwas wie ein Vorwurf, lag in dem -Gedanken. Sie fühlte es selber, empfand es als ein Unrecht. Fühlte sich -ihm gegenüber ja so oft im Unrecht. Als sie im Wagen saßen, war es ihr, -als müßte sie etwas gutmachen ihm gegenüber. Sie zwang sich, auf seine -lebhafte Unterhaltung einzugehen, mit ihm zu plaudern. Und sie fand -plötzlich, daß das gar nicht so schwer war. Er erzählte so anregend, er -hatte so viele Interessen. - -Einmal sagte sie, ein wenig nachdenklich: „Ich finde eigentlich, -Gaston, daß du dich in den letzten Jahren recht verändert hast.“ - -„~Mon Dieu~ ...“ gab er halb im Scherz, halb wirklich erschrocken -zurück ... „Zu meinem Nachteil?“ - -„Nein, Gaston. Als ich dich kennen lernte, konnte ich in dir nicht mehr -sehen als einen flotten, jungen Offizier.“ - -„Und nun?“ - -„Jetzt bin ich bisweilen erstaunt, wieviel du weißt. Daß dich Literatur -und Kunst so stark interessieren.“ - -Er scherzte wieder: „Also gewiß ... du hast mich damals unterschätzt.“ -Dann wurde er ernst: „Es liegen drei Jahre dazwischen, Helene. Drei -Jahre bedeuten viel im Menschenleben. Oder richtiger, sie können -viel bedeuten. Mir haben sie jedenfalls manch innere Wandlung -gebracht. Aber ich könnte dir zurückgeben, was du mir sagst. Als ich -dich kennen lernte, warst du auch nur ein wunderschönes charmantes -Mädchen, dem eine gütige Fee die herrliche Stimme geschenkt hatte -- -eine Zufallsgabe schließlich. In den drei Jahren bist du eine andere -geworden --“ - -Da hielt der Wagen. Sie mußten aussteigen, um bei Frau von Gélieu die -Karten abzugeben und zu erfahren, daß die gnädige Frau ausgegangen wäre. - -Als sie dann wieder im Wagen saßen, war Helene es, die den abgerissenen -Faden der Unterhaltung neu aufnahm. - -„Du sagtest, ich wäre eine andere geworden. Ich wünschte dir, ich wäre -das junge Mädchen geblieben, das ich damals war.“ - -„Helene!“ rief er. - -„Du würdest glücklicher sein.“ - -Es war ein Zwang in ihr, ihn anzusehen, als sie das sagte. Aber sie sah -in so leuchtende Augen, daß sie den Blick senken mußte. - -„Ich kann nur noch glücklicher werden!“ sagte er dann heiß. Schwieg -einen Moment, schöpfte tief Atem und fuhr fort, nun sehr ernst. „Es -ist wirklich nicht anders, liebe Helene: ich kann nur noch glücklicher -werden. Ich weiß, daß wir es beide werden. Da du davon angefangen hast, -will ich es dir gestehen: ich leide gewiß oft unter deinem harten -Wesen. Wie könnte es anders sein! Aber sieh: mein Vater ist ein sehr -kluger Mann. Als wir drei neulich zum letztenmal beisammen waren, ging -ich mit ihm den weiten Weg bis zu seinem Hotel. Wir sprachen natürlich -von dir -- nur von dir. Er ist sehr empfänglich für Frauenschönheit. -So war er bezaubert von deiner Erscheinung. Dann schwieg er eine ganze -Weile und sagte endlich: ‚Weißt du auch, Gaston, daß du dir deine Braut -erst erobern mußt? Ihre Seele ist noch nicht bei dir.‘ Die Hand hab ich -ihm gegeben: ‚Ich weiß es, Papa. Aber ich werde um sie werben, nimmer -müde, bis sie ganz mein ist. Denn ich habe sie lieb über alles in der -Welt.‘“ - -Sie saß wieder mit gesenktem Kopf, sprach kein Wort. - -Mit einem Male hörte sie neben sich sein frisches, fröhliches Lachen, -das so seltsam klang nach seinen ernsten Worten und doch in diesem -Augenblick so wohltuend und befreiend war. - -Er deutete zum Fenster hinaus: „Hier wohnte einst mein Landsmann -Merveilleux. Kennst du seine Geschichte mit dem Droschkenkutscher? -Also wir Schützen sind doch nun mal lebenslustige Leutchen. Zwei von -uns, Merveilleux und Pfuel, waren es ganz besonders. Abend für Abend -tollten sie in Berlin herum, und oft graute der Morgen, ehe sie daran -dachten, in unser Quartier, hier weit draußen, an der Köpenicker -Landstraße, zurückzukehren. So waren sie der Schrecken der biederen -Droschkenkutscher geworden. Die fürchteten die Fahrt nach der Kaserne -wie das höllische Feuer. Geht eines Abends Pfuel allein aus. Es wird -wieder peinlich spät oder früh, ist außerdem ein schreckliches Wetter --- ~gressillement~, wie wir’s nennen. Mein Pfuel will also -fahren, erwischt auch eine ~voiture~. Kaum aber sieht ihn der -Droschkenkutscher -- sie kannten ihn alle -- so haut er auf sein Pferd -ein und ruft nur noch: ‚Adieu, Pfuel, ... grüßen Sie Murmeljahn!‘ Fort -war er. Und jetzt sind wir bei unserer Kommandeuse --“ - -Seine ernsten Worte -- sein frohes Lachen tönten in ihr nach. Sie -fühlte sich frischer und freier. ‚Man muß ihn gern haben‘, dachte -sie. ‚Ich müßte ihn liebhaben.‘ Und sie dachte weiter: ‚Vielleicht -- -vielleicht werde ich ihn liebhaben.‘ - -In dieser Stimmung ging sie auch endlich zu Frau Harriers-Wippern. -Nicht zuletzt auch auf seinen Wunsch. Er hatte schon so oft gebeten, -daß sie den Unterricht wieder aufnehmen sollte. - -Die Lehrerin kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. „Ich hab -ja schon gratuliert, aber ich möchte meinen Glückwunsch gern noch -einmal mündlich und recht innig wiederholen. Ich habe mich so sehr -gefreut, liebes Fräulein Helene! Nicht zuletzt, weil unser Merivaux der -Glückliche ist.“ - -‚Unser Merivaux‘ ... es klang Helene Hackentin ganz eigen. - -Sie saßen wieder beieinander in dem kleinen Gartenzimmer der Sängerin, -und Helene hörte, doch mit einiger Verwunderung, wie beliebt und -geschätzt ihr Bräutigam in den engeren musikalischen Kreisen war. -„Es ist merkwürdig, wie viele Offiziere gerade in Berlin wirklich -verständnisvolle Musikfreunde sind. Aber unser Merivaux steht da in -erster Reihe. Ich meine natürlich nicht als ausübender Künstler -- -darauf kommt es ja auch gar nicht an. Aber er hat die rechte Liebe, -hat Verständnis, hat Urteil ... und hat seine besondere, so unendlich -liebenswürdige Gabe, das alles zum Ausdruck zu bringen.“ Frau Harriers -hielt immer noch Helenes Hand und drückte sie herzlich: „Mein erster -Gedanke, als ich die Anzeige las, war ein Gedanke der Freude: sie -beide passen so trefflich zueinander. Eine kleine Spur Selbstsucht war -auch dabei, daß ich’s nur gestehe: so geht Helenens Kunst doch nicht -verloren!“ - -Helene war wortkarg, war in tiefem Sinnen. Sie hatte in den letzten -drei Monaten so wenig an ihren Gesang gedacht. Manchmal, wenn Merivaux -bat, wenn er sie zum Flügel führen wollte, hatte sie abgewehrt -- wie -sie immer abwehrte. Ein-, zweimal hatte er seine Geige mitgebracht: sie -hatte auch ihn nicht gebeten, zu musizieren. Nun fühlte sie auch hier -ein Unrecht. Und empfand seinen Zartsinn, der nie ungeduldig wurde, nie -drängte, nie einen Vorwurf hatte, als besondere Güte. - -„Ich hoffe, Fräulein Helene, Sie bringen mir ihn bald. Vielleicht -musizieren wir dann einmal zusammen. Wie aber steht’s mit uns beiden? -Sie nehmen doch die Stunden wieder auf?“ Frau Harriers schrak ein wenig -zusammen, sie bemerkte wohl erst jetzt, daß die Braut ganz in Schwarz -gekleidet war. „Ja so, Sie armes Kind! Aber ich meine, Musik, gute -edle Musik eint sich auch mit der tiefsten Trauer. Sie trägt uns ja -himmelan, über alles Irdische hinweg.“ - -„Die ‚Elsa‘ möchte ich jetzt ruhen lassen ...“ sagte Helene gepreßt. -„Ich kann nicht ...“ - -„Das verstehe ich. Lassen Sie mich nur sorgen. Wir halten unsere alte -Zeiteinteilung fest -- nicht wahr? Und grüßen Sie mir Ihren lieben -Gardeschützen, der so gut in Ihr Herz zu treffen wußte.“ - -Daß er nur besser in das Herz getroffen hätte ... - -Daß dies herbe spröde Herz sich gar nicht regen wollte ... - -Überall, wo Helene hinkam, hörte sie Merivaux rühmen, hörte sie sein -Lob. In den verschiedensten Schattierungen. Wilhelms liebten ihn -schon jetzt wie einen Bruder; er hatte Tante Mariannens so schwer -zu erringendes Wohlgefallen gewonnen; die Frauen der verheirateten -Kameraden hatten sie ein wenig geneckt, daß sie den charmantesten aller -Junggesellen im Bataillon in Amors Fesseln geschlagen; der Kommandeur -hatte Wilhelm gegenüber Merivaux einen der begabtesten Offiziere -genannt und einen unübertrefflichen Kameraden. - -Manchmal hatte sie gedacht, sich zum schwachen Troste: ja doch ... er -ist ein liebenswürdiger Charmeur! Nun hörte und erkannte sie selber -alle Tage mehr, daß das doch nur die Außenseite seines Wesens war. Daß -die glänzende Hülle auch einen schönen edlen Kern barg. Daß er gut, -vornehm denkend, daran hatte sie nie gezweifelt. Jetzt aber wußte sie, -daß er auch ein grundgescheiter, ein vielseitig gebildeter Mann war. -Und vor allem sah und fühlte sie immer tiefer, wie innig und heiß er -sie liebte. - -Immer wieder sagte sie sich: man muß ihn gern haben ... ich müßte ihn -liebhaben ... - -Nur: ihr Herz wußte nichts von ihm. - -Es kamen Augenblicke, Stunden, in denen es in ihr schrie: wenn er -dich doch einmal recht schlecht behandeln wollte! Wenn er dich doch -einmal fühlen lassen wollte, wie kalt und schlecht du gegen ihn bist! -Vielleicht verlangt die Hackentinsche Brut die Peitsche, anstatt des -Zuckerbrots! - -Aber er blieb immer der Geduldige, Nachsichtige, Rücksichtvolle; -dankbar für die geringste Freundlichkeit, für das kleinste -Entgegenkommen, für ein gutes Wort, für ein Lächeln. - -Dabei fühlte sie hinter all der Geduld und Nachsicht sein heißes Blut, -sein starkes Temperament, sein Begehren, fühlte, wie er sich zwang und -wie er litt. Sie fühlte es, sie sah es. Es war ihr eine eigene Qual, -wenn er manchmal, auf kurze Momente, die Lider sinken ließ, verstummte. -Nur um sie gleich wieder mit hellen, guten Augen anzusehen, wie ein -Bittender. Wie einer, der da weiß: ich werde um sie werben, nimmer -müde, bis sie mein ist. - -Und dann empörte sie wieder diese Zuversicht, dies Vertrauen und -Selbstvertrauen. Empörte sie gleich einem Zwang: als ob er ihren Willen -beugen, sie knechten wollte in alle Zukunft hinein. Scharf wurde sie -dann und bitter. Bis sie sich doch wieder sagte, es ist ja nur seine -große, große Liebe, die auf Gegenliebe hofft und wartet. - -Wenn er litt, ohne zu klagen, so litt sie nicht minder, und auch sie -hatte niemand, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Ganz genau wußte -sie: es würde sie niemand verstehen. - -Es gab Tage, in denen eine wehrlose, wohltuende Müdigkeit über ihr lag. -Dann war sie sanft, nachgiebig auch zu ihm; duldete seine Zärtlichkeit, -hatte sogar eine leise Freude, einen stillen Genuß manchmal an einem -guten Gespräch mit ihm; hörte ihn spielen, ging vielleicht selbst an -den Flügel, sang irgendein schwermütiges Lied. Aber gerade der Moment -war meist der Gipfelpunkt. Wenn sie ihn dann hinter sich stehend wußte, -seinen Atem fühlte, seine Hand sah, wie sie sich nach dem Notenblatt -ausstreckte, um es zu wenden, kam der Rückschlag. Sie brach jäh ab, -sprang auf -- und es kamen Augenblicke, in denen es ihr eine boshafte -Freude war, ihm wehe zu tun. Eine Freude, die sie tiefste Qualen und -schmerzhafteste Scham kostete. - -Das waren die Augenblicke, in denen sie darauf wartete: jetzt muß -er doch gehen, um nie wiederzukommen. Und doch erschauerte: wenn er -aber nie wiederkäme? Das waren dieselben Augenblicke, in denen sie -vom wehsten Mitleid erfüllt war für ihn und in denen sie sich selber -ganz als Schuldige fühlte. Frau Harriers war wenig zufrieden mit ihrer -Schülerin in diesem Winter. - -Wilhelm kümmerte sich fast gar nicht um das Brautpaar; Martha sah -schließlich doch nur die Oberfläche, dachte höchstens, sagte es -vielleicht: „Du bist eine recht unausstehliche Braut.“ Mutter führte -ihr Traumleben weiter, verschmolz sich Gegenwart und Vergangenheit, -verwechselte Merivaux gelegentlich mit einem ihrer Söhne und legte -neuerdings Rouge auf. Wohl Berlin zu Ehren. Wobei es vorkam, daß nur -die eine Wange rosig leuchtete, die andere vergaß sie. - -Ganz verlassen und vereinsamt fühlte sich Helene oft. Grenzenlos unnütz -dabei. Den Haushalt in der Stadtwohnung hielt Martha allein wie am -Schnürchen. So war sie zur Untätigkeit verurteilt, spürte auch so wenig -Neigung, sich wirtschaftlich zu betätigen. Und selbst ihre Kunst dünkte -sie oft ein Zwang. - -Nur mit den Jungens beschäftigte sie sich mehr als früher. - -Den äußeren Anlaß gab, daß Hans ein paar Male mit einem französischen -~exercice~ hilfesuchend zu ihr kam: „Hilf, Tante Helene. Du hast -ja einen Bräutigam, der solch halber Gallier ist.“ Da sie in der Tat -fertig Französisch sprach und schrieb, konnte sie helfen. Und sie half -so gern -- es war ihr eine wahre Wohltat, irgend jemand helfen zu -können. Bald kam auch Thede mit dem einen oder dem anderen Anliegen. -Richtiger: wenn der Ältere bat, forderte der Jüngere. Aber er tat’s -mit einer so drollig unverschämten Miene, daß man ihm nicht böse sein -konnte. - -Manchmal war es ihr, als lernte sie die beiden Neffen erst jetzt recht -kennen. Und auch dann hatte sie wieder ihre stille Freude. Hans war -nun fast sechzehn Jahre, ein langaufgeschossener, ein wenig ungelenker -Jüngling, der seine junge Sekundanerwürde mit einigem Selbstbewußtsein -trug; ein Bücherwurm und Grundtoffel, fleißig und hübsch besinnlich. -Thede war viel lebhafter, renommierte gern einmal ein wenig, lernte -spielend, was der Ältere sich mühsamer erobern mußte. Bisweilen malte -Helene sich im stillen den Lebenslauf der beiden aus, horchte sie -wohl auch daraufhin aus. Hans wollte Architekt werden oder Techniker, -Eisenbahningenieur, Maschinenkonstrukteur; Thede schwärmte für den -bunten Rock, den ja alle Hackentins getragen hatten. Aber er hatte auch -seine besonderen Gedanken dabei: die junge preußische Flotte reizte -ihn, Kapitän Jachmann von der „Arcona“, der den Dänen bei Jasmund so -wacker die Zähne gezeigt, war sein Held und Vorbild. - -Das war sicher: die Jungens gingen einmal andere Wege, als die -Hackentins bisher, Generation auf Generation, gegangen waren. In ihnen -war noch genug von dem feurigen guten Blut des alten Geschlechts, aber -das Blut der Mutter hatte sich eingemischt, drang kräftig durch; mehr -noch bei dem Älteren, aber doch auch bei Thede. Sie fanden sich gewiß -einmal gut mit dem Leben ab und in ihm zurecht. Wurden vielleicht -endlich einmal wieder Mehrer, nicht Verzehrer. - -Helene dachte oft: die Hackentins können es brauchen! Gerade in diesem -Winter kam ihr das recht klar zum Bewußtsein. - -Daß es in Rackow kriselte, hatte sie schon im Sommer erkannt. Einmal -erzählte Wilhelm, Ernst sei nur mit vieler List an der Schuldhaft -vorbeigekommen. Nun erfuhr man, daß die Gläubiger das Sequester -eingeleitet hatten. Dann kam Onkel Ernst nach Berlin. Aber wenn Helene -gemeint hätte, daß er niedergeschlagen sein müsse, so hatte sie sich -getäuscht. „Ja, ja, meine liebe Martha,“ meinte er mit seinem leisen -behaglichen Lachen, „wir wären also glücklich pleite. Klingt sehr -häßlich, nicht wahr? Ist aber gar nicht so schlimm. Ein paar Jahre, und -wir sind wieder obenauf. Außerdem aber -- wozu hat man seine hübschen -kleinen Konnexionen -- außerdem hab ich für die Karenzzeit ein Pöstchen -als Kurdirektor in Ems erobert. Man kann auch so leben, meine Lieben.“ -Dabei sah er unter seinem Einglas um die Ecke auf Tante Marie hin. -Deren kleines Gamingesichtchen war freilich ein wenig spitzer geworden, -aber sie trug den Nacken noch steifer als sonst. „~Enfin~, ich -freue mich auf Ems. In der Saison haben wir da die Creme der ganzen -europäischen Gesellschaft. Lauer hat gesagt, Majestät müßten im Sommer -unbedingt hin. Mignonne, ich lade dich ein, wir wollen ein bissel Staat -mit dir machen. Aber dann bist du wohl schon ein glückliches kleines -Frauchen, und Merivaux wird sich nicht von dir trennen wollen.“ - -Als sie gegangen waren, lachte Wilhelm hinter ihnen her: „Ernst ist wie -eine Katze, er fällt schließlich immer wieder auf die Füße. Vielleicht -haben wir Hackentins alle etwas von der glücklichen Eigenschaft. -Manchmal denk ich, unser Leichtsinn ist wie ein Schwimmgürtel, der -in der Gefahr die besten Dienste tut ... Martha, ich bitt’ dich, -mach’ nicht solch mechantes Gesicht. Und du, Lene ... na, du siehst -ja jetzt oft aus wie eine betrübte Lohgerberswitwe, der alle Felle -fortgeschwommen sind ... komisches Mädel ... nur daß dir auch das gut -steht!“ - -Ja, es mußte ihr wohl gut stehen, daß ihr Gesicht so viel schmaler, daß -sein Ausdruck so viel ernster geworden war. - -Sie war nicht eitel, aber sie war doch ein junges Mädchen und ging -dem Spiegel nicht aus dem Wege. Und wenn er es ihr nicht gesagt hätte, -würden es ihr die Männeraugen verraten haben, die ihr überall folgten, -bis zur Peinlichkeit. - -Einmal sagte sie zu Merivaux: „Ich hab heute nacht geträumt, daß ich -die Pocken bekommen hätte. Furchtbar häßlich war ich geworden, und als -du kamst, hast du dich mit Abscheu von mir gewendet.“ - -„Aber, Helene, wie kann man nur solch törichtes Zeug träumen?“ - -„Es ist gar nicht so töricht. Im Gegenteil, es beschäftigt mich -sehr. Nimm einmal an, der Traum wäre Wahrheit, ich wäre plötzlich -sehr häßlich geworden. Dann würde deine Liebe zu mir sehr schnell -zerstieben. Das ist mir ganz sicher. Gib’s nur ehrlich zu -- ich nehme -es dir nicht übel.“ - -Sie sah ihm scharf in die Augen, wartete ungeduldig. Denn das wußte -sie, er sprach immer die Wahrheit. - -Da wurde er ernst. „Es tut mir weh, daß du so klein von mir denkst.“ - -„Ich denke gar nicht klein von dir. Es wäre ja nur natürlich, wenn du -mich dann nicht mehr liebtest.“ - -„Nein: es wäre sehr unnatürlich, Helene. Um der Wahrheit die Ehre zu -geben: vielleicht würde ich mich in Helene Hackentin nicht verliebt -haben, wenn sie nicht so wunderschön wäre. Aber verliebt sein und -lieben ist doch zweierlei. Jetzt liebe ich dich! Und wahrhaftig: ich -liebe doch nicht nur deine Schönheit, ich liebe dich um all deiner -Eigenschaften willen. Ich lieb deine Stimme, ich lieb dein Herz und -deine Seele, ich lieb dich, wenn du sonnig dreinschaust, und ich lieb -dich, wenn die Schatten über deinen schönen Augen liegen. Glaub’ es mir -nur: und wenn du heut häßlich würdest wie die Nacht, ich würde dich -lieben, lieben -- lieben!“ - -Er hatte seinen Arm um sie gelegt, er zog sie sanft an sich, enger -dann, immer fester. Ihren Kopf bog er sacht zu sich, bis ihr Widerstand -nachgab: „Ich liebe dich! Deine Seele liebe ich!“ Und er küßte sie auf -die geschlossenen Lider, er küßte die geschlossenen Lippen. -- -- - -Das waren wieder Augenblicke, in denen es in ihr Herz einzog, wie -träumendes Glücksempfinden: „Ich werde ihn lieben ... ich liebe ihn -schon ... vielleicht ... vielleicht lieb ich ihn wirklich ...“ - -Dann folgten Stunden, Tage, in denen sie ruhiger wurde, glauben lernte, -sich zurecht fand, sich zwang und besiegte. Um das Weihnachtsfest spann -sich solche Zeit freieren, froheren Aufatmens für sie. Ein wohliges -Gefühl des Zusammengehörens überkam sie, eigentlich zum ersten Male. -Sie gingen miteinander durch die menschenüberfüllten Straßen, ihre -kleinen Einkäufe zu besorgen. Mit den frohlockenden Jungens zogen -sie im rieselnden Schnee auf den Weihnachtsmarkt, der rund um das -alte Zollernschloß an der Spree aufgebaut war, traktierten sie bei -Josty an der Stechbahn, dem großen Süßigkeitsmann, mit Schokolade und -Pfannkuchen; Helene erzählte von Onkel Grucker und Tante Hufnagel, und -Gaston erzählte, wie er in Berlin erst den Christbaum kennen gelernt -und deutsches Weihnachten. Gemeinsam mit Martha schmückten sie die -Tanne. Dann kam der heilige Abend selber mit seinem heimeligen Zauber, -mit Fichtennadelduft und Kerzenweihrauch. So liebevoll hatte Gaston an -sie und an alle gedacht, so herzlich freute er sich über ihre kleinen -Gaben. Von einem zum andern ging er, küßte der Omama die Hand, ließ -sich von ihr streicheln, wie ein Kind; stand dann mit der Braut unter -dem leuchtenden Christbaum, sah sie mit seinen blauen zärtlichen Augen -an, fragte leise, bittend: „Hast du mich lieb?“ Da drückte sie ihm die -Hand und sagte hochaufatmend: „Ich hab dich lieb, Gaston.“ Sagte es, -wie befreit, und war gewiß, daß sie die Wahrheit sprach. - -Durch die ganze frohe Festzeit hielt die schöne Stimmung an. Am -Silvesterabend hatte Wilhelm nach den polnischen Karpfen einen Punsch -gebraut. Rechte Fröhlichkeit wollte freilich nicht aufkommen; eine -leise Wehmut lag auf dem kleinen Kreise, die Erinnerung an Vater, der -am letzten Abend des Jahres immer seine kleinen Scherze getrieben -hatte mit Schiffchenschwimmen und Bleigießen und groß gewesen war im -Ausdeuten mit seinem „das heißt“. Unwillkürlich knüpfte sich manch -anderer Rückblick auf das schwindende Jahr an. Wilhelm stöhnte ein -wenig: es war geschäftlich ein schlechtes Jahr gewesen; der Zwist -zwischen Regierung und Abgeordnetenhaus wollte nicht enden, und -haarscharf nur war Preußen am Zerwürfnis mit seinem Bundesgenossen -von Schleswig-Holstein her, mit Österreich, vorübergekommen. „Wie -Blei lastet die Politik auf jeder Unternehmungslust“, meinte er. „Wer -mag denn sein Geld riskieren, wenn vielleicht schon die nächsten -Monate Krieg bringen können. Krieg mit Österreich -- es ist gar nicht -auszudenken. Wenn Vater das erlebt hätte, der immer auf Österreich -geschworen hat!“ - -„Wir Soldaten -- wir sehnen natürlich solch frischen fröhlichen Krieg -herbei“, warf Gaston dazwischen. - -Da schrak Helene zusammen: „Sag’ das nicht!“ bat sie leise. „Sag’ das -nicht!“ - -„Ich wär ein schlechter Soldat, wollt’ ich’s nicht sagen. Als -Offizier Seiner Majestät ... nun ja, und es regt sich wohl auch das -Landsknechtsblut meiner Ahnen. Damit mußt du dich schon abfinden, -Helene.“ - -„Krieg -- es ist etwas Schreckliches um den Krieg.“ - -Omama saß am anderen Ende des Tisches, hatte ein kleines Nickerchen -gemacht, aber die letzten Worte doch verstanden: „Kind,“ sagte sie, „es -kann auch etwas Heiliges sein. Anno achtzehnhundertdreizehn ... ja ... -und da haben die armen Frauen, die nichts anderes hatten, ihre goldenen -Trauringe gegen eiserne vertauscht ...“ - -„Leicht würde unser allergnädigster Herr gewiß den Mobilmachungsbefehl -nicht unterschreiben“, meinte Wilhelm. „Krieg gegen Österreich -- und -mit Österreich vielleicht ganz Deutschland gegen uns ... es bleibt ein -Wagnis. Ich hoffe immer noch, Bismarck findet einen anderen Ausweg, -obwohl oft behauptet wird, er triebe uns dem Kriege zu.“ - -„... ja ... und Fräulein von Schmettau ließ sich ihr schönes Haar -abschneiden ... hat’s an den Coiffeur verkauft und das Geld fürs -Vaterland hingegeben ...“ - -„Daß der Herr von Bismarck den Krieg will, glaube ich nicht. Aber er -weiß wohl, daß der Krieg oft eine Notwendigkeit ist, um aus verrotteten -Zuständen herauszukommen, und er kennt keine Furcht. Solche Politik -treibt er sicher nicht, wie die, die uns arme treue Neuchateller elend -im Stich ließ.“ - -„... ja ... und da hielt ich das kleine Bändchen von Körner in der Hand -... ‚Leyer und Schwert‘ stand darauf ...“ - -Ganz still saß Helene. - -Sie dachte eigentlich nicht an Gaston, daß der mit hinausziehen -müßte ins Feld. Es war nur eine unklare, unheimliche Angst in ihr. -Harro tauchte vor ihr auf, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte: die -Primanermütze keck auf dem lockigen Blondhaar. Und Tante Marianne in -den schwarzen Trauerkleidern, mit dem blassen Gesicht, das kleiner und -immer kleiner zu werden schien. Wie unzählige trauerten gleich ihr, und -wie kurz war der Feldzug gegen Dänemark gewesen, wie gewaltig mußte ein -Krieg gegen das mächtige Österreich werden. Wie gewaltig, wie blutig. - -Plötzlich brausten von der Straße her die lauten Neujahrsrufe. Die -Glocken klangen. - -„Auf ein glückliches neues Jahr!“ rief Wilhelm. Merivaux stand vor -seiner Braut, sah ihr in die Augen. „Ein glückliches neues Jahr, -’elene,“ sagte auch er, und sie wußte, wie er das meinte und verstand. -Beide Hände streckte sie ihm hin: „Viel Glück wünsch ich dir, Gaston -- -all das reiche Glück, das du verdienst!“ - -Da kamen auch schon die Jungens hereingesprungen, halb angezogen nur, -trotz des Verbots. Thede brüllte sein „Prosit Neujahr!“, Hans ging -reihherum, seinen Glückwunsch zu sagen. Ganz zuletzt kam er zu Helene -und Merivaux, machte ein etwas verlegenes Gesicht und einen etwas -linkischen Kratzfuß und begann: - - „Das alte Jahr ist nun verschwunden, - In dem ihr beide euch gefunden. - +Du+ kamst aus stolzem Bergesland, - +Du+ stammtest aus dem märkischen Sand: - Es gibt der Berg und Talesgrund - Ganz sicher einen guten Bund!“ - -„Hallo!“ rief Wilhelm lachend. „Das sind ja Verse -- es reimt sich -wenigstens.“ - -Hans wurde rot wie ein Puter, aber er fuhr tapfer fort: - - „So lang ihr lebt, wird dieses Jahr - Euch immer scheinen wunderbar. - Und seid ihr alt wie Omama, - Sagt sicher ihr: wie schön war’s da! - Doch wünschen wir, die hier vereint, - Daß euch die Sonn’ noch heller scheint, - Daß ihr seid wieder übers Jahr - Ein glückumstrahltes Ehepaar!“ - -„Der Junge, der Junge!“ Wilhelm hatte sich in einen Sessel fallen -lassen und klatschte in die Hände: „Was sagst du dazu, Martha? Na, -Mamachen, das hat er sicher von dir!“ - -Gaston hatte Hans rechts und links einen festen Kuß auf die roten -Wangen gedrückt. Er war gerührt und wiederholte immer aufs neue: -„Scharmant -- scharmant! Nicht wahr, Helene? Scharmant: ‚Daß ihr seid -übers Jahr -- ein glückumstrahltes Ehepaar.‘“ - -„Ja, Gaston“, sagte Helene leise. Und nahm Hansens Kopf zwischen ihre -beiden Hände: „Du guter Junge ... ich danke dir ...“ - -Omama hatte, während Hans sein Poem deklamierte, aufgemerkt, und, die -Lippen bewegend, still mitskandiert; einmal den Kopf geschüttelt, dann -so lebhaft zustimmend genickt, daß die schwarzen Schläfenlocken weit -vornüberfielen. Nun wollte sie aufstehen. Martha sprang hinzu, stützte -sie. So ging sie langsam um den Tisch herum, legte dem Enkel ihre Hand -auf den Scheitel, machte vor dem Brautpaar einen kleinen graziösen -Knix, und es schien, als wollte auch sie irgendein eigenes Verslein -sprechen. Aber sie fand wohl die Worte nicht, murmelte ein Weniges, was -niemand recht verstehen konnte, und sagte dann endlich: „Ja ... ja ... -ihr Kinder ... übers Jahr ... ein glückumstrahltes Ehepaar ...“ -- -- - -Am Neujahrstag war Helene in der Garnisonkirche gewesen, auf Merivaux’ -besonderen Wunsch, denn sonst ging sie meist mit Martha zu Büchsel in -die Matthäikirche. Aber Gaston wollte, daß sie einmal Strauß predigen -hören sollte -- und Gaston selber war heut in die Garnisonkirche -kommandiert. Sie hatten sich freilich nur flüchtig begrüßen können. -Aber er hatte ihr doch nach dem Gottesdienst vor der Tür die Hand -geküßt, und sie hatte ihm dann noch nachgeschaut, während er seine -Gardeschützen die Alte Friedrichstraße heraufführte, zurück zur Kaserne. - -So herrlich hatte Strauß gesprochen. Über die Unruhe der Zeit und den -Frieden im eigenen Herzen. Der alte König hatte in der Loge gesessen, -mitten unter seinen Kriegern, ehrwürdig und sichtlich ergriffen. - -An die Predigt dachte Helene und an den königlichen Greis, während -sie langsam über die Spreebrücke schritt, am Museum vorbei, durch den -Lustgarten. An die Unruhe der Zeit und den inneren Frieden, den Frieden -des Herzens. Auch ihre Zeit war voll Unruhe gewesen, aber nun zog -allmählich der Friede in ihr Herz. „Wir müssen um ihn kämpfen, auf daß -er uns gegeben werde!“ hatte der Prediger gesagt. Auch sie hatte um ihn -gerungen, nach ihren Kräften, und nun fühlte sie ihn in ihrer Brust. -Nicht freilich als ein berauschendes Glück. Aber der Friede nach dem -Kampf war wohl nimmer solch ein ganzes, volles Glück, denn das Weh der -Kämpfe mußte noch lange, lange nachklingen. Und doch ein Glück! Eine -wohlige Ruhe, ein friedvoller Ausblick aus der Gegenwart in die Zukunft --- das war es! - -Über die Schloßbrücke ging Helene, am Kronprinzenpalais und dem -Opernhaus vorüber; blieb ein paar Augenblicke am Denkmal des Großen -Friedrich stehen, sah zu dem Eckfenster des Palais empor, an dem sich, -wie sie gehört hatte, der König häufig zeigte, wenn die Wache aufzog. -Aber es war wohl noch zu früh. Langsam ging sie weiter, die Linden -entlang. - -Gerade wollte sie die Charlottenstraße überschreiten, da erschrak sie -heftig. Es war wie ein Schlag. Das Herzblut stand ihr still ... - -Drüben, vom Gendarmenmarkt her, kam ein Paar. - -Eine elegante, nein -- eine aufgeputzte Dame, sehr groß, sehr robust, -mit flatternden Hutbändern um das volle Gesicht, das gewiß einst schön -gewesen war -- - -Und neben ihr -- neben ihr -- Alfred Schwarz -- - -Fliehen wollte Helene, fliehen. Aber ihr Fuß stand wie gebannt. - -Mühsam trat sie endlich ein paar Schritte zurück, trat in einen -Hauseingang. Er sollte sie nicht sehen, durfte sie nicht erkennen. - -Doch dann fühlte sie: er erkannte sie nimmer. - -Alles sah sie, nichts entging ihr, während sie tief in den Hauseingang -gedrückt stand und das ungleiche Paar drüben vorüberging, so nah, daß -sie die laute Stimme der Frau hören konnte. Nicht die einzelnen Worte, -aber den unfreundlichen, schneidenden Ton. - -Alles sah sie. Er war noch immer sehr elegant angezogen, aber die -Kleider schlotterten um seine Glieder. Die Frau -- seine Frau sprach -auf ihn ein. Da kam ein spöttisches Lächeln in seine Züge. Dann schlich -er weiter. Sein Stock stieß schwer auf die Steine. Jetzt bogen sie in -die Linden ein -- -- -- - -Helene stand noch immer in der Flurnische und rührte sich nicht. Sie -starrte auf die Stelle, wo er soeben drüben Halt gemacht hatte, um Atem -zu schöpfen, wo er spöttisch gelächelt hatte, wie jemand lächelt, der da -denkt: was verschlägt’s?! Der Vorhang fällt, die Komödie ist aus -- -- - -Das Herz krampfte sich ihr zusammen. - -Das also war die Frau, um derentwillen er sie betrogen hatte und -gedemütigt! Kaum zweihundert Schritte von hier, damals, als sie in der -Winternacht vor seinen Fenstern stand, als hinter den blauen Vorhängen -die Lichter aufflammten und die Silhouetten sich scharf abzeichneten: -er und sie -- - -Wie die Erinnerungen kamen! Da hatte man geglaubt, sie seien eingesargt -für immer. Und nun stiegen sie empor, lebten ein neues Leben, bohrten -sich ins Herz. - -Die Erinnerungen kamen und der Zorn und die Scham. Und dann über alles -hinweg das große, große Mitleid. - -Es war nicht mehr Liebe. Aber es war doch das Mitleid, das aus der -Liebe geboren war. Die war tot, war tot -- und lebte doch weiter -in diesem alles durchdringenden Mitleid. Sie lebte weiter in den -Erinnerungen, die längst eingesargt waren, und die doch wieder -auferstanden, wühlten und schmerzten. Die immer wieder auferstehen -würden, über die nichts hinwegtrug -- nichts -- - -Und alles andere war Betrug und Selbstbetrug. Betrug war und Einbildung -der erkämpfte Frieden. Betrug war, daß dies Herz je, jemals einen -anderen lieben könnte. Betrug war jeder Kuß, den diese Lippen gaben, -Betrug jedes Wort der Zärtlichkeit, Betrug jede Hoffnung auf ein -zukünftiges Glück. -- -- - -Zu Hause waren sie im Festtagskleide und in Festtagsstimmung. „Schade -nur, schade, daß der gute Gaston heut nicht kommen konnte, daß er -Kasernendienst hatte. Gerade heute, armes Bräutchen ...“ meinte -Wilhelm. „Bissel elend sieht die Helene aus. Hat wohl ein kleines -Silvesterkäterchen.“ - -Sie scherzten und lachten. Sie konnten scherzen und lachen und das neue -Jahr in Gedanken und Wünschen mit Rosengirlanden umwinden -- -- -- - -Dann saß Helene in der Enge ihres Zimmers und schrieb, während Omama -dicht neben ihr auf dem Kanapee träumte, Bogen auf Bogen an Gaston; -zerriß Bogen auf Bogen, kämpfte ihre Tränen und ihr Schluchzen -herunter, daß Omama nichts merke, setzte wieder an, fand nicht Anfang -und nicht Ende. - -Was sollte sie schreiben?! - -Bis sie dann endlich, in angstvoller Verzweiflung, ein paar Worte fand: - -„Ich flehe Dich an, Gaston, gib mich frei. Wenn Du mich lieb hast, -und ich weiß, Du hast mich sehr lieb, so gib mich frei. Ich bin sehr -schlecht. Ich habe Dich betrogen und belogen. Ich kann nicht vergessen, -und von Dir weiß mein Herz nichts. Sei Du barmherzig zu mir, wie Du -immer gütig warst: gib mich frei. Deine unglückliche Helene.“ - -Sie überlas gar nicht, was sie geschrieben hatte, kuvertierte, schrieb -die Adresse, huschte die Treppe hinunter zum nächsten Briefkasten, warf -den Brief ein. Und wäre fast zusammengebrochen, als der kleine Deckel -mit leisem Rascheln zuschlug -- hinter dem Briefe, der ihr Schicksal -barg. - -In fliegender Hast, wie gepeitscht, war sie auf die Straße geeilt. -Schwer und langsam stieg sie die Treppe hinauf. Und suchte sich einen -stillen Winkel, um sich auszuweinen. Zu weinen um den einen und um den -anderen. -- -- - -In all ihrer Verzweiflung stand ihr eins klar vor der Seele: daß -Gaston sie nicht ohne Kampf aufgeben würde. Sie wußte, er kam gewiß. -Sie wartete darauf mit angstvollem Herzen, suchte ihre armen schwachen -Waffen der Abwehr zu schmieden. Rechnete sich aus: in aller Frühe -hat er deinen Brief; der Dienst wird ihn noch ein paar Stunden -festhalten, aber dann -- dann kommt er -- und er wird vor dir stehen -und Rechenschaft fordern. - -Er kam. Noch früher, als sie erwartet, schon gegen zehn Uhr. - -Sie hörte die Flurschelle, hörte seine Stimme. Er sprach mit Martha: -„Wo ist Helene?“ -- „Guten Morgen, lieber Gaston. Entschuldige meine -Toilette. Helene? Drinnen bei Omama --“ Dann kamen seine festen Tritte -durch das Wohnzimmer, dann ging die Tür -- - -Helene saß neben ihrer Mutter am Fenster, zum erstenmal wohl im Leben -wie bei Omama Schutz suchend. Saß mit dem Rücken gegen die Tür, wagte -nicht aufzustehen, nicht aufzusehen. - -Er kam gerade auf beide los, küßte Omama die Hand, sagte: „Ich muß -Helene allein sprechen. Du erlaubst wohl.“ Nahm Helene an der Hand, -zwang sie mit sanftem Druck. Willenlos folgte sie. In das Nebenzimmer -führte er sie, bis zum Sofa. Und als sie dann saß, faßte er wieder ihre -Hand und sagte: „Meine liebe arme Helene!“ - -Sie bebte, und die Tränen kamen ihr, als sie seine warme Stimme hörte, -den zärtlichen Druck seiner Hände fühlte. - -„Wollen wir deinen Brief nicht als ungeschrieben betrachten?“ fragte -er. „Du hast das in der Erregung geschrieben, unter irgendeinem fremden -Einfluß. Es ist am besten, Helene, wir vergessen es beide.“ - -Sie schüttelte nur langsam den Kopf. - -„Liebe Helene, du bist sehr sensibel, läßt dich von Stimmungen -beeinflussen. So war es sicher auch gestern. Ich glaube nicht, daß du -mit Überlegung geschrieben hast. Vielleicht weißt du heut gar nicht -mehr, was du schriebst. Sag’ mir, daß es dir leid tut. Ein Wort von -dir, und es ist alles wieder gut.“ - -Er sprach ganz ruhig. Aber sie fühlte aus dem Unterton seiner Stimme, -wie traurig er war. - -Wieder konnte sie nur den Kopf schütteln. Doch dann machte sie -plötzlich ihre Hand frei, hob sie vor die Brust und bat mit einer -letzten starken Willensanspannung: „Ich bitte dich ... laß mich frei!“ - -Es war ein Schweigen zwischen ihnen. - -„Wenn ich dich nicht so heiß liebte, Helene,“ sagte er dann, „würde -ich nun gehen. Wenn ich dich nicht so sehr liebte, wäre ich gar nicht -gekommen. So aber ... Du mußt mich hören. Gerade in der letzten Zeit -fühlte ich deutlich, daß alles anders, besser zwischen uns wurde. Ich -war so beglückt darüber. Und nun ... nun dein jäher Entschluß.“ - -Er wartete. Aber sie schwieg, hatte immer noch beide Hände vor die -Brust gedrückt, sah starr zu Boden. - -„Helene, das weißt du: du hast in mir den treusten Freund.“ - -Sie nickte ein paar Male, schluchzte leise auf. - -„Würde es dein armes wundes Herz nicht erleichtern, wenn du dem -treuen Freunde Vertrauen schenktest? Vielleicht kann er dich trösten, -vielleicht könnte er dir raten und helfen.“ - -Da sah sie auf und ihn an. Wie durch einen Flor von Tränen sah sie sein -trauriges Gesicht und seine gütigen Augen. - -Er nahm wieder ihre eiskalten Hände in die seinen. - -„Sprich dich aus, Helene“, bat er. „Du wirst Verständnis bei mir -finden. Denn das, was du schreibst: ich mag es gar nicht wiederholen -- -das ist ja alles nur Traum und Selbstquälerei. Sprich nur, Helene, sag’ -mir alles ...“ - -Da begann sie. - -Aber sie stockte gleich wieder. Hub wieder an --, sagte ganz leise: -„Ich kann nicht, Gaston ...“ - -„Versuche es nur. Nicht um meinetwillen ... denk’ nur immer daran: hier -sitzt dein bester Freund, der dir gern beistehen möchte in deiner Not.“ - -So sagte sie ihm alles. Ihr jubelndes Glück und ihr tiefstes Leid und -wie sie sich langsam aufgerichtet hätte und gestern, gestern noch froh -und glücklich gewesen wäre, bis sie ihm begegnet war. Ihm! Wie da alles -wieder in ihr aufgelebt wäre, plötzlich, in tausend Schmerzen -- - -In kleinen Bruchstücken nur kam es über ihre Lippen. Sie mußte sich oft -zwingen. Sie weinte leise. Fand wieder ein paar Worte, mühsam, hastete -dann in ihrer Rede wie im Fieber. Ihre Hände zitterten in den seinen, -krampften sich zusammen, streckten sich wieder -- - -Und endlich schloß sie: „Ich bin sehr schlecht gewesen zu dir. Ich hab -dich belogen und betrogen, damals im Park ... und immer ... immer. Ich -kann ja nicht vergessen ... es ist ja gar nicht aus in mir ... es wird -ewig leben ... und nun geh, lieber Gaston, geh ... vergiß du mich ... -wenn du kannst, verachte mich nicht ...“ - -Sie konnte nicht weiter. Tief sank der Kopf auf die Brust. Schluchzen -erstickte die letzten Worte und ward zum stillen Weinen. - -Aber in diesem Weinen keimte allmählich ein Verwundern in ihr auf: -warum hält er immer noch meine Hände? Und warum tut mir das so wohl ... - -Dazwischen hörte sie seine Stimme: „Weine dich nur aus, Helene“, und -nach einer Weile: „Kannst du mich jetzt hören?“ - -„Ich danke dir viel, vielmal für dein Vertrauen, Helene“, begann -er dann. „Nichts ist, als daß deine Nerven dir einen bösen Streich -gespielt haben. Still, Helene, höre nur weiter. Niemand von uns -vergißt wohl je ganz eine große Freude, ein großes Leid. Das mag tief -untertauchen im Gedächtnis, aber plötzlich ist es wieder auf der -Oberfläche. Vergessen können wir alle nicht, wir können nur überwinden. -Darauf kommt es an. Du aber hast ja längst überwunden.“ - -Sie schüttelte wieder schwer den Kopf. - -„Du hast es, glaub’ es mir. Die Erschütterung riß nur den Schmerz -wieder auf. Laß einige Tage dahingehen, und auch das ist überwunden. -Seh ich aus wie einer, der sich betrogen und belogen fühlt. Sieh doch: -ich lächele schon wieder.“ - -Sie sah immer noch wie durch einen Schleier von Tränen. Aber sie sah, -daß er wirklich lächelte, ihr wie ermutigend zulächelte aus seinen -guten Augen. Und lächelnd fuhr er fort: - -„Ja, Helene, sieh mich nur an! Mit deinen lieben, zagen, zweifelnden -Augen. Es wird nicht in Trümmer gehen, ich halte es, mein Glück! Ich -lasse dich nicht, Helene! Ich halte dich, ich zwinge dich. Man zwingt -nicht nur mit Gewalt: Liebe und Geduld, Geduld und Liebe sind meine -Waffen. Und ich werde siegen!“ - - - - -Elftes Kapitel - - -Martha und Merivaux saßen im Wohnzimmer sich gegenüber. - -Es war Ende März, und draußen meldete sich der erste Frühling. Zag -noch, wie verschämt, aber ausnahmsweise kalendermäßig. Auch die -Truppen hatten bereits Frühling gemacht, zogen fleißig auf den -Kreuzberg, früher als sonst; es lag ja außer dem milden Frühlingswehen -auch allerlei Unruhe in der Luft. Österreich, hieß es, mobilisierte -insgeheim. Man erzählte wieder einmal von scharfen diplomatischen Noten -über die Regelung der Verhältnisse in Schleswig-Holstein, über die -Erbansprüche des Augustenburgers, denen Bismarck im Interesse Preußens -widerstrebte; man erzählte, wie hinter diesen Noten das Verlangen nach -einer neuen Ordnung des deutschen Bundes stehe. - -Darüber sprachen auch Martha und Gaston. - -Er war von einer Truppenübung gekommen, hatte am Halleschen Tor sein -Pferd dem Burschen übergeben und war heraufgesprungen, um Helene guten -Morgen zu sagen. Aber sie war ausgegangen. Martha meinte, sie müsse -bald heimkehren. Da bat er um ein Butterbrot. - -Und so saßen sie sich gegenüber; er frühstückte und erzählte allerlei, -was die Zeitungen in den letzten Tagen gebracht und was er sonst -erfahren hatte. Er sprach sehr lebhaft und war sehr entrüstet über die -laue Stimmung in Berlin. - -Martha hörte lächelnd zu, bis er plötzlich schwieg und, nun auch -lächelnd, meinte: „Ich glaube, beste aller Schwägerinnen, du lachst -ganz veritabel über deinen untertänigsten Diener.“ - -„Das nun gerade nicht, Gaston. Eigentlich freu ich mich nur über dich. -Aber, weißt du, merkwürdig kommt’s mir schon vor, wie du dich verändert -hast.“ - -„Ich? Wieso denn?“ - -„Ja, so leicht ist das nicht zu sagen. Einmal rein äußerlich. Wenn ich -so denke, wie du radebrechtest, fast radebrechtest, als ich dich kennen -lernte, und wie gut du jetzt unsre swere Sprak’ sprichst -- das ist -doch schon erstaunlich. Sogar über das H kommst du ganz glatt hinweg.“ - -„Das macht die Übung, Martha. Gerade des H! Denk’ doch nur, wenn man -alle Augenblicke Helene sagen möchte, wenn man sogar Helene laut denkt, -alle Tage, alle Stunden, alle Minuten --“ - -„Sei so gut und laß wenigstens die Sekunden aus. Obwohl ich dir das -auch zutrauen würde. Die Sprache ist doch nur ein Äußerliches. Du hast -dich aber in den letzten Jahren auch zum Preußen umgedacht.“ - -„Umgedacht -- das ist ein neues Wort, das ich mir merken werde. -- Ich -bin doch Offizier Seiner Majestät des Königs von Preußen.“ - -Sie schob ihm den Teller mit den Brötchen näher und schenkte ihm sein -Glas wieder voll. - -„Das warst du früher auch. Aber du warst es, sozusagen, als -Neuchateller. Jetzt aber merke ich, daß du ganz Preuße geworden bist. -Fast möchte ich sagen: Märker. Wie du vorhin auf die Demokraten -geschimpft hast, mußte ich an meinen guten seligen Schwiegerpapa -denken. Viel besser konnte das der alte Rittmeister auch nicht.“ - -Martha hatte bisweilen im Gesicht einen Ausdruck von Schelmerei, der -ihr allerliebst stand. So auch jetzt. Gaston machte ihr eine kleine -Verbeugung: „Ich muß dich öfter zum Lächeln bringen,“ meinte er, „du -hast dann zwei Grübchen in der Wange, die ganz reizend sind. Pardon -für die Abschweifung. Ja ... du hast recht,“ fuhr er fort, „als ich -eintrat, war mir Preußen eigentlich völlig Nebensache. Aber es ist wohl -so: wenn man mit Leib und Seele Soldat ist, schließt man sich eben an -das große Ganze immer enger an. Und dies Preußen hat überhaupt eine -merkwürdige Assimilationskraft. Eure Mark noch besonders. Erst hab ich -riesengroße Sehnsucht nach meinen Bergen gehabt und euren Sand fast -gehaßt. Nun lieb ich ihn.“ - -„Es blüht freilich ein gewisses schönes Röslein auf diesem Sande -- ein -schönes Röslein, wenn es auch Dornen hat.“ - -„Laß nur die Dornen, ~ma belle-sœur~ -- Die sind gar nicht so bös -mehr ... Aber es scheint, da kommt Helene --“ - -Er war, als die Flurglocke klang, sofort aufgesprungen und ging seiner -Braut entgegen. Die Tür blieb offen. Martha konnte von ihrem Platz -aus gerade sehen, wie sie sich begrüßten. Sie lächelte wieder, aber -diesmal fehlte die Schelmerei in ihrem Gesicht. Sie wunderte sich nur, -sie ärgerte sich ein wenig, und sie dachte daran, wie sie einst ihrem -Wilhelm bei jedem Wiedersehen, und wenn es nach einer Trennung von -wenigen Stunden gewesen, an den Hals geflogen war. - -Diese beiden da blieben ewig und immer zeremoniös. Gaston küßte -Helene die Hand, sie hielt ihm, wenn es hoch kam, die Wange hin; dann -schüttelten sie sich die Hände wie zwei gute Freunde; er nahm ihr den -Mantel ab, und sie sprachen miteinander wieder wie gute Kameraden. Sie -hörte es: „Du hier, Gaston!“ -- „Ja, Helene, auf einen Sprung, gerade -vom Kreuzberg. Verzeih den Dienstanzug.“ -- „Aber ich bitt dich.“ -- -„Wo warst du denn, wenn ich fragen darf?“ -- „Bei Frau Harriers.“ -- -„Das freut mich --“ - -Früher, vor zwei, drei Monaten noch, war zwischen den beiden dort -häufig etwas wie ein Kampfzustand gewesen, ein heimliches Ringen, das -auch dem Unbeteiligten nicht verborgen bleiben konnte. Jetzt schienen -sie sich in einem schönen Gleichmaß gefunden zu haben. Schön? War -dies Gleichmaß wirklich schön? Ja ... wenn man nicht beiden doch -immer angemerkt hätte, daß es nur auf ein Beherrschen herauskam. Wenn -man nicht das starke Temperament gekannt hätte, das in den beiden -steckte. Auch in der Lene. Gerade in der Lene! Man brauchte ja nur -zurückzudenken -- - -Sie kamen herein. Helene nickte der Schwägerin zu. „Kann ich von -Gastons Frühstück mit profitieren?“ - -„Du wirst dem hungrigen Kriegsmann doch nicht seine paar kümmerlichen -Brötchen fortessen. Wart’, ich hol’ dir was.“ - -Hinaus war sie. Aber hinter der Tür blieb sie stehen. ‚Die Welt wird -nicht umstürzen, wenn ich einmal lausche. Ob sie sich jetzt wenigstens -einen ordentlichen Kuß gaben?‘ - -Sie horchte vergeblich. Die da drinnen sprachen wie zwei gute Freunde. -Von Musik natürlich wieder. Musik ist ja eine schöne Sache -- ohne -Zweifel. Aber ein Brautpaar hat doch eigentlich etwas Besseres zu tun. -„Wir haben die Elsa wieder aufgenommen ...“ „Ich hätte mir den Schritt -vom belcanto zu Wagner doch nicht so schwer gedacht ...“ „Alles kommt -darauf an, den Charakter herauszuarbeiten, der Persönlichkeit gerecht -zu werden.“ ‚Du mein Gott, werdet euch doch selber gerecht, ihr beiden -lieben Narren. Wenn ihr wüßtet, wie kurz selbst eine lange Brautzeit -ist und daß sie so nie wiederkehrt. Ihr Narren -- ihr Narren!‘ - -Ärgerlich gab sie den Lauscherposten auf, ging in die Küche, machte -eigenhändig eine Schrippe zurecht, benutzte die Gelegenheit, ihrer -Minna nach bewährtem Rohlbecker Rezept gründlich den Kopf zu waschen, -weil gestern abend ein baumlanger Grenadier vor der Küchentür gestanden -hatte -- „anständige Mädchen sind nicht so verliebt wie du dumme -Trine!“ -- und ging ins Wohnzimmer zurück. - -Da saßen die beiden immer noch in ansehnlicher Distanz und sprachen -immer noch kluge Worte. Diesmal hatten sie die Literatur beim Wickel. -Natürlich -- Lene schmökerte ja neuerdings in jeder freien Stunde, -anstatt mal in der Küche nach dem Rechten zu sehen, was für eine -angehende Hausfrau jedenfalls wichtiger wäre. Und wovon schnackten sie? -Von dem neuen Roman, von dem jetzt alle Welt redete, der „Ägyptischen -Königstochter“. Hilf, Himmel ... wann spielte die Geschichte? Im -sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt? Wenn es noch der herrliche -Roman gewesen wäre, der jetzt gerade in der „Gartenlaube“ erschien: -„Goldelse“ hieß er ja wohl. Aber das alte Ägypten! - -Da saßen sie und redeten Bücher, und die Schrippe rührte Helene auch -nicht an. Redeten und redeten -- und machten sich selber nur was -vor. Man brauchte sie ja nur anzusehen: Gaston sprach ganz ruhig, -in seinem allerschönsten Deutsch, aber in seinen Augen lohte das -verhaltene Feuer. Die Marlitt, oder wie die Verfasserin des Romans in -der „Gartenlaube“ hieß, hätte leidenschaftliche Augen nicht besser -beschreiben können, als man sie hier sah. Und Lene saß da, sprach -ebenso ruhig, sah aber gar nicht auf. Nun, man kannte ja ihre Augen. In -denen lag jetzt immer ein eigner feuchter Schimmer. Man kannte sie -- -aber klug wurde man aus ihnen nicht und aus Helene überhaupt nicht. Nur -daß das Gesicht immer blasser und immer schmaler wurde, das sah man, -aber dabei wurde das Mädel auch immer hübscher. Zum Verwundern war’s. - -Endlich schien sich Gaston an Marthas Anwesenheit zu erinnern. - -„Wo ist Wilhelm eigentlich, liebe Martha?“ - -„In Warschau. Es schwebt da ein Projekt wegen der Verlängerung der Bahn -über die russische Grenze hinaus.“ - -„Der gute Wilhelm muß viel auf der Eisenbahn liegen.“ - -„Ja -- leider --“ - -Dann sprachen die beiden schon wieder miteinander. „Wir müssen -nächstens in die Ausstellung am Kantianplatz, Helene. Es ist ein -wunderschöner Richter dort.“ - -‚Wofür die sich auch alles interessierten? Musik -- Literatur -- -Malerei -- und waren Braut und Bräutigam und saßen da wie die Ölgötzen. - -Mochten sie! Was hatte Gaston gesagt? Der gute Wilhelm! Ja ... leicht -hatte er’s ja nicht. Aber man hatte es auch nicht leicht, so viel -allein mit den großen Jungens, die Vaters Hand noch so sehr bedurften. -So viel allein! Beinahe so viel allein, wie früher in Rohlbeck. Aber es -ging wohl nicht anders. Zuerst war der Verdienst an der Bahnkonzession -wie unerschöpflich erschienen. Du mein Gott! Nachher war er zum -größten Teil vorgegessenes Brot gewesen. Als Tante Marianne bezahlt war -und die vielen Wechsel eingelöst waren, da blieb nicht arg viel. Sparen -konnte Wilhelm ja nicht -- leider --‘ - -‚Leider --‘ - -Und da ging die Tür, und Omama kam herein, auf ihren Stock gestützt. -Die schwarzen Locken pendelten rechts und links von den Schläfen, und -sie hatte wieder nur auf einer Wange Rouge aufgelegt. Aber sie lachte -vergnügt: „Ich muß doch einmal nach unserem lieben Brautpärchen sehen -... Was das Lenchen heut wieder für verliebte Augen macht ...“ -- -- - -Gaston hätte wohl vor Glück gejauchzt, wenn aus Helenes Augen ihm -einmal die Liebe entgegengeleuchtet haben würde. Aber sie blieb -gemessen und kühl. Sie wehrte sich nicht mehr, sie trotzte nicht mehr, -sie weinte nicht mehr. Sie schien ganz ruhig geworden nach dem einen -letzten großen Sturm um die Jahreswende. - -Er wartete. - -Es gab wohl Stunden, in denen er verzweifeln wollte, in denen er -meinte: es geht so nicht weiter, du trägst es nicht mehr! Du pochst -gegen einen Stein, der nie Funken sprühen wird. - -Aber er zwang sich immer wieder. - -Sie waren wirklich gute Freunde geworden. Martha sah ganz recht. - -Manchmal dachte Helene: es ist ja nicht anders als früher, wir waren -ja immer gute Kameraden. Manchmal dachte sie: wir werden immer gute -Freunde bleiben, ohne Streit und Zwist; was könnte ich mir Besseres -wünschen; wie viele Ehen mögen selbst dieser Freundschaft entbehren. -Aber oft, oft, in einsamen Stunden schrie es auch in ihr: soll es nun -immer, immer so weitergehen! Und wenn du’s erträgst, kann er es denn -ertragen, soll er darben ein ganzes langes Leben hindurch! Denn sie -fühlte, daß hinter seinem beherrschten Wesen die Leidenschaft wachte, -daß er wartete von Tag zu Tag. Und je vertrauter sie miteinander -wurden, desto mehr litt sie um ihn, und konnte ihm doch nicht helfen. - -‚Gib mich frei!‘ hatte sie ihn noch einmal gebeten. Er hatte nur -den Kopf geschüttelt. In seinem Gesicht aber stand dabei ein fast -fanatischer Ausdruck, wie sie ihn einst auf alten Märtyrerbildern -gesehen hatte: ein Ausdruck des Leidens und des Glücks im Leiden. -Dann war das Gesicht weich geworden. ‚Niemals!‘ hatte er gesagt. ‚Du -kannst mir verbieten, dich zu sehen. Dich zu lieben kannst du mir nicht -verbieten.‘ - -Oft dachte sie an seine Worte: ‚Wir alle können nicht vergessen, aber -wir können überwinden. Und du hast längst überwunden.‘ - -Sie hatte nicht daran geglaubt, damals, als die Begegnung mit Schwarz -ihr das Herz zerrissen. Nun wußte sie, daß er doch recht gehabt. - -Wenige Tage später sprach Frau Harriers-Wippern plötzlich von Schwarz. -Achselzuckend, mitleidig: „Sie kannten ihn ja. Er war immer ein Bruder -Leichtsinn, der seine Gaben verschleuderte wie sein Geld. Jetzt war -er hier, ohne Engagement. Zu mir ist er nicht gekommen, er schämte -sich wohl. Aber ich hörte, daß es ihm schlecht geht, und daß er sehr -unglücklich mit seiner Frau lebt. Röder hat ihnen beiden schließlich -ein Engagement nach Odessa besorgt, aber mit einer Gage, die wohl -gerade nur das Leben fristet.“ Sie seufzte leise. „Einer von vielen. -Wer in unserem Beruf nicht Charakter hat und starken Willen, der leidet -leicht Schiffbruch.“ - -Sie hatte es geahnt, und das Mitleid preßte ihre Seele, als sie es -nun hörte. Die heiße Erregung jedoch, welche die Begegnung in ihr jäh -wachgerufen, zitterte nicht mehr in ihr. Es war so, wie Gaston gesagt: -überwunden hatte sie. Nur das Mitleid blieb. Und vielleicht nur ein -dumpfes Weh: Die Leidenschaft für ihn hat all deine Kraft zur Liebe so -ausgeschöpft, daß dein Herz arm geworden ist und arm bleiben wird für -immer. - -Gaston sprach zu ihr nie von dem Termin der Hochzeit. - -Aber sie hörte, daß er mit den Geschwistern davon gesprochen, daß er -den Frühherbst in Aussicht genommen hatte. Dann und wann kam auch die -praktische Martha mit einer Anfrage wegen der Aussteuer. Sie hatte -schon Leinen eingekauft und die Näherin im Hause, als könnte es gar -nicht anders sein. Als ganz selbstverständlich, als Pflicht nahm sie es -an, daß sie für Mutter eintrat. - -Zuerst war Helene zusammengezuckt, als Martha von all dem sprach. Aber -dann hatte sie lächeln können. „Du ordnest das gewiß am besten -- ich -danke dir.“ Und sie wunderte sich selber: ihr graute nicht vor der -Entscheidung, ganz ruhig nahm sie sie hin. Wieder mit dem Empfinden: -wie wenigen Mädchen mag die Erfüllung der höchsten Wünsche vergönnt -sein, wie unendlich viele müssen sich bescheiden. Du hast es immer noch -gut: Du hast Gaston sehr gern, du schätzt ihn, ihr seid eins in so -vielem, so vielem. Unglücklich mit ihm kannst du nie werden. Nur ob du -ihn glücklich machen wirst ...? - -Sie war ruhig und gefaßt. - -„Meine liebe Hackentin“, sagte einmal Frau Harriers etwas unzufrieden. -„Sie sind ein wunderliches Menschenkind. Ich habe bei meinen -Schülerinnen doch schon so manches erlebt, aber solche Wandlungen noch -nie wie bei Ihnen.“ - -Helene wurde rot. Sie hatte immer noch diesen jähen Farbenwechsel, ja -er war wohl noch auffallender, seit ihr Gesicht blaß und durchsichtig -geworden war. „Was hab ich denn verbrochen?“ fragte sie etwas kleinlaut. - -„Gar nichts. Sie schreiten in der Technik unaufhaltsam fort, ich werde -Ihnen bald nichts mehr zu geben wissen. Aber die Technik ist doch nicht -alles. Du lieber Gott! Das Organ gab Ihnen die gütige Natur, und wer -die Stimme hat, kann schließlich bei dem nötigen Fleiß all das dazu -lernen, was die Kunst zu lehren vermag. An Fleiß fehlt’s bei Ihnen auch -nicht. Aber ich habe mit Ihnen Zeiten von so schwankender Stimmung -durchgemacht, daß ich manchmal vor Rätseln stehe. Wie oft hab ich -zügeln müssen, wenn das Temperament mit Ihnen durchgehen wollte --“ - -Sie standen vor dem Flügel. Die Stunde war beendet, im Vorzimmer -wartete wohl schon eine andere Schülerin, oder der Herr Baumeister, der -Gatte der Sängerin, wartete gar mit dem Mittagessen. Frau Harriers war -ein wenig ungeduldig. Sie schloß den Flügel. - -„Ja ... und soll ich Ihnen sagen, wie jetzt Ihre Stimme klingt? -Apathisch klingt sie. Nach Resignation klingt sie! Alles schön, rund, -tadellos, ein wahrer Genuß, diese Atemökonomie! Aber manchmal singen -Sie ... wie drück’ ich’s nur aus? ... nun, wie aus Pflichtgefühl, aus -einem müden Pflichtgefühl heraus. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie ein -glückliches Bräutchen sind und einen der besten Männer bekommen, würde -ich mir allerlei Gedanken machen. So -- nun ist’s heraus, und nun -machen Sie, daß Sie fort kommen. Merivaux steht doch schon drüben und -wartet auf Sie.“ - -... aus Pflichtgefühl ... - -So also sang sie? Handelte sie auch so? Nur aus Pflichtgefühl? Und -würde sie, nur aus Pflichtgefühl, Gaston eine gute Gattin werden? Alles -nur aus armseligem Pflichtgefühl! Als ob sie sich treiben ließ auf -einem der großen Bettelsuppenströme des Lebens! - -Der Gedanke empörte sie. Denn sie hatte Gaston doch gern! Sehr gern -sogar! - -Ihr war es, als müßte sie sich selber aufrütteln. Sich herausreißen aus -dem Sich-gehen-lassen, aus dem stumpfen Gleichmaß. Kämpfen gegen sich -selber. - -Unten, drüben auf dem Trottoir, ging wirklich Gaston auf und ab. - -Ein paar Augenblicke blieb sie im Hausflur stehen, sah zu ihm hinüber. -Die schmale Falte zwischen ihren Brauen grub sich tief ein. - -Dann schritt sie schnell über die Straße, nickte, lächelte, hing sich -in seinen Arm. - -„Guten Morgen, lieber Gaston. Ich freue mich, daß du kommen konntest. -Hast du Zeit? Können wir einen kleinen Bummel durch den Tiergarten -machen?“ - -Er bejahte eifrig, sichtlich erfreut. Und sie gingen die Querallee -hinauf, bogen zum Goldfischteich ein. - -In den ersten Maitagen war es. Der Tiergarten stand im duftigen jungen -Grün. Die Lenzsonne lag warm auf Weg und Steg. In den dichten Büschen -zwitscherten die Amseln. Die Welt war schön geworden, fast über Nacht, -denn plötzlich war der Frühling in die Mark gekommen. - -Um diese Stunde war der Tiergarten wenig belebt. Am Rande der Wege ein -paar Kinderwagen, aus denen rosige Babygesichter zur Sonne lachten; -einige Spreewälderinnen in ihren bunten Röcken, dann und wann eine -Matrone, die einsam Luft schöpfen ging, ein pensionierter alter Herr, -der seinen Gesundheitsmarsch machte. Es verlor sich in der Weite. - -Sie plauderten dies und das, wie gute Freunde plaudern, bunt -durcheinander: von Marthas Wirtschaftlichkeit, von Wilhelms nie -rastenden Plänen, von der Omama; von der Charlotte Wolter, der -großen jungen Tragödin, von der Erhardt, der schönen Künstlerin des -Schauspielhauses, und von der Lucca, die jüngst als Julia unerhört -gefeiert worden war; und daß der Krollsche Garten nächstens wieder -eröffnet werden würde, in noch feenhafterer Beleuchtung als je zuvor. - -Es war wie immer zwischen ihnen. Und doch anders. Er empfand es, -wie lebhafter heute Helene war, angeregter, daß ihr Ton wärmer war. -Manchmal fühlte er den leichten Druck ihrer Hand auf seinem Arm. -Federnden Schrittes ging sie an seiner Seite, und einmal sagte sie: -„Ist das schön heut! Ich möchte stundenlang so gehen. Womöglich ganz -allein mit dir durch einen weiten, weiten Wald.“ - -Er sah sie an, und auf ihrem Gesicht war ein Lächeln. - -Sie nickte ihm zu, ganz leise nur. „Der Frühling --“ - -Da sagte er schnell: „Und bald kommt der Sommer, und dann -- dann -reisen wir beide nach meiner Heimat.“ - -Nebeneinander standen sie am Teich. Lustig huschten die goldschuppigen -Fische, die grünen Wipfel spiegelten sich im Wasser. Weit und breit war -kein Mensch außer ihnen. - -Immer noch sah er ihr in das liebe schöne Gesicht, in dem langsam ein -feines Rot emporstieg. Seine Hand hatte er um ihren Gürtel gelegt. „Ich -freue mich ja so darauf, dir meine Heimat zu zeigen, unseren herrlichen -See, unsere Berge. Anfang August, denk ich, reisen wir -- gleich nach -unserer Hochzeit.“ - -Ein leichtes Beben ging durch ihre Glieder. Aber sie nickte wieder. - -„Es ist dir recht so?“ - -„Ja, Gaston.“ - -Dann gingen sie langsam weiter und um das Wasser herum. Mit dem -leichten Plaudern war’s freilich vorbei. Er hatte ihre Hand wieder in -seinen Arm gezogen, sprach von seinem alten Vater, sprach dann davon, -daß er nun eine Wohnung mieten wollte. „Ich hab immer noch gezögert, -denn man hat mir angedeutet, daß ich Adjutant bei der Inspektion -werden soll. Dann brauchten wir nicht so weit hinaus zu ziehen, in die -häßlichste Gegend Berlins. Ich möchte dich so gern in ein recht, recht -hübsches Heim führen, Helene.“ - -Plötzlich blieb sie wieder stehen, sah zu Boden, sah dann auf: „Du bist -ein rechter Wagehals?“ - -„Wieso denn?“ - -„Daß du es mit mir wirklich versuchen willst. So unliebenswürdig wie -ich bin, so apathisch oft ...“ - -Er lachte. „Ach geh doch! Was sind denn das für Dummheiten. Laß nur den -Sommer kommen. Laß uns nur erst auf meiner lieben kleinen Terrasse am -See sitzen, wir beide ganz allein. Oder im Boot auf der blauen Flut. -Oder in die Berge fahren, höher, immer höher! Wenn ich dich nur erst -ganz für mich habe! Ich will dir schon die Falte da aus der Stirn -küssen -- die da!“ - -Und mit einem Male hatte er sie umfaßt, die Hutkrempe weit -zurückgebogen und küßte sie wirklich gerade zwischen die Brauen. Ganz -wenig nur wehrte sie sich, gar nicht fast. Da küßte er sie auch auf -die Lippen, und heut hielt sie still. „Der Frühling --“, sagte er und -lachte ihr in die Augen. - -Wieder gingen sie weiter, den schmalen Fußweg zur Rousseauinsel. - -„Also Anfang August!“ meinte er froh. „Dann müssen wir in den ersten -Septembertagen zurück sein. Das Manöver schenkt der König von Preußen -auch den glücklichsten Leuten nicht. Alles freilich nur, wenn es nicht -Krieg gibt.“ - -„Krieg ... was ihr alle immer von Krieg redet. Wilhelm hat auch weiter -nichts im Sinn.“ - -„Bedenklich genug sieht’s aus, Helene. Gestern hieß es bei uns schon, -die Reserven sollten eingezogen werden. Nachher war’s nur ein Gerücht.“ - -„Krieg mit Österreich --“ - -„Vielleicht nicht nur das. In der „Kreuzzeitung“ stand, daß Sachsen und -Hannover auch schon rüsten.“ - -„Sind wir Preußen denn so böse, daß man uns durchaus an den Kragen -will?“ - -„Du Kind! Aber ich bin nicht viel besser als du, höchstens daß ich -weiß: die Preußinnen können reizend sein! Ist mir auch wichtiger als -die ganze Politik. Und nun laß gut sein. Ich bin so froh heut, so froh --- --“ - -Als Helene daheim die Treppe hinaufstieg, tönte es in ihr, wie ferner, -ferner Glockenklang: Du hast heut einen lieben Menschen sehr, sehr -glücklich gemacht! Und sie war froh darüber. - -Sie war so froh, daß sie oben Martha umarmte, dann zur alten Mutter -lief, die am geöffneten Fenster in den Frühling hinausträumte, sie -leise umfaßte: „Ich muß es dir doch sagen, Mama, Anfang August ist -unsere Hochzeit.“ - -Omama sah auf, schüttelte verwundert den Kopf, nickte dann: „So ... -so! Ja! Ja! Anfang August. Wir haben auch im August geheiratet. Ja -... warte einmal, Lenchen ... und Grucker auch. Damals ... also den -lieben Gaston ... ich weiß ja ... ich weiß alles. Aber so blaß darfst -du zur Hochzeit nicht aussehen, Lenchen ... und wir trugen damals -den Brautschleier hinten fest in die Coiffüre gesteckt und ~par -devant~ ein ganz schmales Myrtenkränzchen ...“ Sie kicherte leise -und sang mit ihrer matten Stimme vor sich hin: „Wir winden dir den -Jungfernkranz -- mit veilchenblauer Seide! Ja, ja, mein Lenchen ... wir -winden dir den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide ...“ - -Da kamen die Jungens hereingestürmt, erregt, mit roten Gesichtern. Sie -schrien durcheinander, wollten sich nicht zu Worte kommen lassen. „Wißt -ihr’s schon? Wie wir aus der Schule kamen, wurden die Extrablätter -ausgerufen. Auf Bismarck ist geschossen worden! Unter den Linden. Er -soll tot sein. Nein, schwer verwundet. Den Mörder haben sie gleich -aufgeknüpft. Nein, Bismarck hat ihm selber noch die Pistole aus der -Hand geschlagen --“ - -Es ging wirr durcheinander. Und dann war plötzlich Wilhelm da, auch -er mit rotem Kopf. Er wußte alles ganz genau, hatte gerade bei Hiller -gefrühstückt, nicht weit vom Schauplatz des Attentats. Nein, gottlob, -Bismarck war nicht einmal verwundet, trotzdem der Mörder -- Blind -sollte er heißen und ein fanatischer Demokrat sein -- aus nächster -Nähe fünf Schüsse auf ihn abgefeuert hatte. Auf dem Wege zum König war -Bismarck gewesen, zum Vortrag bei Seiner Majestät. - -Wilhelm lief kreuz und quer durch die Stube, fast wie Vater es getan -hatte, wenn er sehr erregt war. „Was für Zeiten, Martha, was für -Zeiten! Heut morgen erst die Nachrichten aus Österreich und Italien. -Überall Rüstungen, Mobilmachung. Dann die Börse -- reine Kriegspanik. -Was für Zeiten! Man mag es gar nicht ausdenken: wir dicht vor einem -Kriege mit Österreich. Stellt euch das nur vor: mit Österreich, unserem -Bundesgenossen seit achtzehnhundertdreizehn! Womöglich noch Krieg mit -Sachsen, Hannover, Bayern, mit all den anderen deutschen Staaten! -Wir allein! Dabei den Hader im Innern. Die Demokraten auf Bismarck -spinnefeind -- weg mit Bismarck, heißt’s hier, diesem Ministerium -keinen Groschen! heißt’s da. Und unsere guten Konservativen -- nun, -weiß Gott, zum Verwundern ist’s nicht, daß sie den Bruch mit der -österreichischen Freundschaft bitter beklagen. Wenn wir wirklich Krieg -bekommen, ist’s ein schrecklicher Bruderkrieg. Wenn das Vater erlebt -hätte! Unser armes Preußen!“ - -Nun stand er in der Mitte des Zimmers: „Jungens, glotzt mich nicht so -dumm an. Wenn ihr älter seid, werdet ihr’s begreifen, was das heißt, -Deutsche gegen Deutsche! Das Herz könnte sich einem im Leibe umdrehen. -Und dabei geht’s um die Existenz, einfach um Sein oder Nichtsein. -Wenn wir geschlagen werden -- und wer kann im voraus wissen, wie die -Würfel fallen -- wenn wir geschlagen werden, hat Preußen aufgehört, -eine Großmacht zu sein. Sie wollen uns ja längst den Großmachtkitzel -austreiben. Lieber Gott, wie mag unserem König zumute sein vor der -Entscheidung!“ - -Helene war noch immer bei der Mutter am geöffneten Fenster, durch das -die milde Frühlingsluft hereinströmte. - -Sie verstand das alles nur halb, was der Bruder in seiner Erregung -heraussprudelte. Verstand es so wenig, wie sie früher Vaters politische -Erörterungen verstanden hatte. Nur das eine verstand sie: Krieg -- -Deutsche gegen Deutsche! Und sie schauerte leise zusammen. Krieg -- da -zog dann auch Gaston hinaus -- - -„Aber Wilhelm, du sprichst ja, als ob das schon so gewiß wäre -- das -mit dem Krieg“, sagte Martha zag dazwischen. - -„Sicher? Wer weiß das. Man hofft ja immer noch auf Frieden. Hofft? -Heut war der Prinz Hohenlohe bei Hiller. Der hat Verwandte in der -österreichischen Armee -- die brennen alle auf unsere Demütigung. -Freunde haben wir nirgendwo. Was heißt da hoffen? Zu Kreuze kriechen -wir Preußen nicht. Wenn’s nicht anders sein kann, muß eben das Schwert -entscheiden!“ - -Mit einem Male hob Omama wieder an: „Ja ... ja. Das Schwert ...“ Und -sie sang leise vor sich hin: „Nun laßt das Liebchen singen -- daß -helle Funken springen -- Der Hochzeitsmorgen graut --“ - -Da fielen die Jungens ein, wie auf Kommando: „Der Hochzeitsmorgen graut --- Hurra, du Eisenbraut!“ - -Wenn in den nächsten Tagen Wilhelm nach Haus kam, war’s jedesmal mit -umwölkter Stirn. Immer wieder stöhnte er: „Die Zeiten! Die Zeiten!“ -Immer neue Nachrichten brachte er mit: Der König hatte nach langem -Zögern die Mobilmachung von vier Armeekorps befohlen; Napoleon mischte -sich in den Streit ein, bot seine Vermittlung an -- natürlich um im -Trüben zu fischen. Dann wußte er von Friedenspetitionen zu erzählen, -die aus einzelnen Provinzen an Seine Majestät abgegangen wären, von -schmachvollen Äußerungen einzelner demokratischer Führer: ‚Lieber -die Kroaten in Berlin, als Bismarck noch länger am Staatsruder!‘ -Dann wieder von patriotischen Regungen, wie wacker sich die zunächst -bedrohten Schlesier hielten: ‚Wir wollen keinen schlechten Frieden!‘ -hieß es gerade in ihrer Adresse. Aber immer waren seine letzten Worte: -„Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“ - -Merivaux konnte nicht so viel kommen wie bisher. Der Dienst nahm ihn -stark in Anspruch. Aber jedesmal, wenn er kam, war’s, als ob ein paar -Sonnenstrahlen ins Haus glitten. Die Jungens, in denen eine gewaltige -romantische Kriegslust erwacht war, jubelten ihm entgegen, Omama -wachte, sobald er ins Zimmer trat, aus ihrem Traumleben auf, mit Martha -und Wilhelm tauschte er Neuigkeiten. Und immer war er selber froh, -heiter, zuversichtlich. Es lag etwas eigen Beruhigendes in seiner -männlichen Frische, das auch auf Helene wirkte. Solange er bei ihr war, -blieb sie ruhig. Sobald er gegangen, klang immer wieder in ihr auf: der -Krieg -- der Krieg! Einst hatte sie nur an Harros Tod gedacht, wenn -vom Kriege die Rede war: nun bebte sie in Sorge um den lieben Freund, -dessen Ring sie am Finger trug. - -„Unruhige Zeiten! Schlechte Zeiten!“ Heut der Schimmer einer -Friedenshoffnung. Morgen die sichere Erwartung: der Krieg ist -unvermeidlich. Auf den Straßen die eingezogenen Rekruten und -Landwehrleute in langen Zügen. An jedem Morgen endlose Kolonnen, -die mit schmetternder Musik die Bellealliancestraße hinaufzogen zum -Kreuzberg. Dann regelmäßig der König, der hinausfuhr, seine Garden noch -einmal zu besichtigen. - -Es war doch merkwürdig, es fiel auch Helene auf, wenn sie vom -Eckfenster aus den schlichten Wagen des greisen Kriegsherrn schon -von weitem sah: von Tag zu Tag fast steigerte sich der Jubel, der -ihn umrauschte. Manchmal ging ihr durch den Sinn, wie sie ihn zuerst -gesehen hatte, am Brandenburger Tor, vor nun drei Jahren, daß ihn -damals nur wenige grüßten. Und heut standen die Bürgersteige voll -wartender Menschen, vom Belleallianceplatz her hob es an und pflanzte -sich fort, das dröhnende Hurra! Es war, als ob die Preußenherzen -erwachten. Wenn das Vater erlebt hätte! - -Dann war eines Tages Fritz da, der rote Kreisrichter. Ganz plötzlich -und unerwartet, in aller Morgenfrühe, als unten gerade die Alexandriner -mit klingendem Spiel vorüberzogen. - -„Wilhelm, ich trag’s nicht länger. Ich habe aus lauterer Überzeugung -gehandelt. Ich kann auch jetzt noch nicht mit Bismarck gehen, ich -verurteile seine Stellung gegen den Augustenburger. Aber ich fühl’s, -daß nun der innere Zwist schweigen muß. Wenn Preußen in Gefahr ist, -müssen wir alle einig sein. Daß du’s nur weißt: ich bin gestern auf dem -Generalkommando gewesen und hab mich zum Diensteintritt gemeldet.“ - -Wenn das Vater erlebt hätte! Wenn das Vater erlebt hätte! - -Unruhige Zeiten! Das Abgeordnetenhaus, das jede Kriegsanleihe -verweigert hätte, aufgelöst; Darlehnskassenscheine mußten ausgegeben -werden, um die nötigsten Millionen zu schaffen, und konnten oft nur -schwer untergebracht werden. Heut hieß es: die Österreicher rücken -unter Benedeck in Schlesien ein. Morgen verlautete, Preußen hätte mit -Italien einen Bündnisvertrag geschlossen, und in Venetien seien schon -die ersten Kanonenschüsse gefallen. Noch nie seit fünfzig Jahren war -der Kurs der preußischen Staatspapiere so tief gesunken wie in diesen -Tagen. - -Nun hatte auch Wilhelm die Uniform wieder angezogen, führte eine -Ersatzkompagnie beim Franz-Regiment und war nicht wenig stolz -im Schmuck der Waffen, war wieder ganz Soldat. Jetzt sprach er -plötzlich nicht mehr von den „Schlechten Zeiten!“ Er sprach nur -noch von +seiner+ Kompagnie, von +seinen+ Offizieren, von -+seinem+ Feldwebel. Und wenn er in den Dienst ging, bürstete -Martha an ihm herum und sah ihm verliebt nach. - -Eines Morgens hatte Helene eine kleine Besorgung am Belleallianceplatz -gemacht. Als sie zurückkam, stand auf der Halleschen Brücke ein -baumlanger Bauer, zog seine graue Kappe und greinte über das ganze -braune Gesicht. - -„Metschke! Metschke, wie kommen Sie denn hierher?“ - -„Jo, gnä’ Frölen, mei Willem steht doch bei de Franzer. Un ik wollt -ihm doch noch mal sehn tun, e’ er ’n Krieg muß. Von wegen, deß ich ihm -sag: tu du deine Schuldigkeit, mein Sohn, daß werr keene Schande an der -ha’n. Na, gnä’ Frölen, er hätt’s jo och so getan, der Willem.“ - -„Das glaub ich, Metschke. Wollen Sie nicht mit heraufkommen? Da drüben -an der Ecke wohnen wir.“ - -„Nee, gnä’ Frölen, ich wart hier, bis der oll König ’rückkommt. ’s isch -man jutt, daß der oll klug König die Suldaten nich abgeschafft hätt. -Un denn muß ick widder zur Kaserne. Morjen rücken se aus, die Franzer. -Aberscht scheen Gruß soll ick vertellen vom Herrn Kantohr und von -Herrn Pastohr. Min Jott, sein dis Zeiten! Aberscht passen Se uff, gnä’ -Frölen, wie wer se vertobacken wer’n, wir Preußen! Wenn dat der gnä’je -Herr Rittmeister erlebt hätt!“ - -Die blauen Märkeraugen glänzten, wie der Metschke das sagte. - -Oben saß Gaston schon am Fenster und wartete. - -Sie sah’s ihm gleich an, heut war auch er erregt. - -„Helene, morgen rücken wir aus. Erschrick nicht: zunächst nur in -Kantonnements bei Kottbus.“ - -Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. „Morgen --“ sagte sie tonlos. -Aber er nahm ihre beiden Hände: „Ich habe mit dir zu sprechen. Eine -große, große Bitte hab ich.“ Sie sah ihn an, sah ihm in die Augen, und -wußte nur ein: ‚um was er auch bitten mag, ich werde nicht nein sagen‘. - -„Immer wieder ist mir in diesen unruhigen Tagen durch die Seele -gegangen, wie du nun allein zurückbleibst. Ich denke nicht an den Tod. -Gott bewahr’ mich. Aber niemand kann wissen, was der Krieg bringt. -Helene, der Gedanke quält mich, daß ich nicht für dich sorgen kann -- -auf alle Fälle. Ich würde keinen Moment Ruhe haben -- draußen. Und -dann ... ich habe Sehnsucht, dich mein zu wissen. Ich bitte dich: laß -übermorgen unseren Hochzeitstag sein.“ - -Sie bebte. Immer größer waren ihre Augen geworden. Das Herzblut -stockte, dann pulste es aufwärts, daß ihr die Sinne schwinden wollten. - -Sie fühlte den Druck seiner Hände, und sie sah die fiebrige Erregung in -seinem Gesicht, die heiße, sehnsuchtsvolle Erwartung. - -So sagte sie: „Ja ... Gaston ... ja!“ - -Dann kam ihr jäh, irgendwoher aus dem Untergrund der Seele, der Gedanke -eines Ausweichens noch in letzter Minute. „Gaston, der Konsens ... so -schnell kannst du den Konsens des Königs doch nicht erhalten.“ Indem -sie es aussprach, überflutete sie die Scham: ‚Wünscht du denn wirklich -eine Verzögerung? Kannst du ihm das antun?‘ - -Er aber fand den Einwand nur begreiflich: „Für solche Zeiten gelten -Ausnahmebestimmungen. Laß das nur meine Sorge sein.“ Sein Gesicht -strahlte vor Freude und Dankbarkeit. „In drei Tagen, Helene! In drei -Tagen! Ich kann’s noch gar nicht fassen. In drei Tagen bist du mein!“ -Etwas wie toller Übermut packte ihn. Er legte den Arm um Helene, er -wirbelte mit ihr, eh sie sich’s versah, im Walzertakt durch das Zimmer: -„In drei Tagen, Helene, in drei Tagen --“ - -Es war wohl gut, daß die drängenden Vorbereitungen Helene so wenig -Zeit zur Besinnung ließen. Daß in die Unruhe der Zeit sich die Unruhe -im Hause mischte. Martha schlug die Hände über dem Kopf zusammen: -„Wie soll denn das gemacht werden? Wo willst du denn ein Brautkleid -herbekommen? Wie denkt sich Merivaux das alles!“ Und dann war sie es -doch, die für alles Rat schaffte, zu allem Rat wußte. Die freilich -auch Helene in einen großen Trubel des Überlegens, der Besorgungen mit -hineinriß. - -Es war gut so. Die Stunden gingen im Fluge. Helene kam kaum zu klarem -Überlegen. Am späten Abend, abgehetzt, todmüde, dachte sie nur: es muß -wohl eine Fügung sein. Und es war dann wie erlösender Friede in ihr. - -In der Nacht zum Mittwoch, ihrem Hochzeitstage, aber fuhr sie aus -dem Schlafe auf. Der Junimorgen dämmerte schon durch die Fenster. -Sie konnte sich in den ersten Augenblicken gar nicht zurechtfinden. -Das Herz pochte jäh, sie richtete sich empor, eine rätselhafte Angst -schüttelte sie. Ja so ... da schlief Mutter und atmete ruhig ... und -das dort war die Tür zum Nebenzimmer ... und da lag ausgebreitet -ihr Brautstaat. Geträumt mußte sie haben, irgend etwas Furchtbares, -Unfaßbares. Was war es nur gewesen? Gaston hatte vor ihr gestanden, mit -einem Gesicht wie von Stein, und hatte sie an den Schultern gepackt: -„Du liebst mich ja nicht! Du liebst mich ja nicht!“ - -Jetzt sah sie das Traumbild wieder deutlich vor sich, sah sein -schmerzverzerrtes Gesicht, hörte seinen gellenden Ruf. Wußte, es war -nur ein Traum gewesen, und durchlebte ihn noch einmal wie Wirklichkeit. -Frostschauer überrann sie und dann glühende Hitze, eine beklemmende -Angst, als ob sie aufspringen müßte, drüben an Mutters Bett hinknien, -flehen: ‚Hilf mir doch! Hilf mir doch! Ich kann nicht mit einer Lüge -vor den Altar treten!‘ - -Aber ihr konnte ja niemand helfen. Mutter nicht. Und wenn sie sich vor -Wilhelm und Martha hinwerfen wollte, sie würden nur den Kopf schütteln -und sie nicht verstehen. - -Gaston -- -- - -Wenn sie jetzt noch seine Füße umklammerte: ‚Ich kann nicht! Erbarme -dich meiner!‘ - -Aber Gaston war bei seiner Truppe, kam erst morgen, eine Stunde vor der -Trauung, aus dem Kantonnement zurück. Kam glückstrahlend, mit seiner -hoffenden Liebe, mit jubelnder Seele, in seiner glaubensstarken festen -Zuversicht -- kam, um sie zum Altar zu führen, und dann hinauszugehen -in den Krieg -- -- -- - -Nein! Nein! Und wenn sie es heute beschloß und stünde morgen vor ihm -... sie würde es nicht über die Lippen bringen. - -Fröstelnd hüllte sie sich in ihre Decke und starrte durch das Fenster -auf den grauen Morgen. - -Noch einmal zogen in dieser schweren Stunde die inneren Erlebnisse der -letzten Jahre durch ihre Seele. Wie ein Phantom tauchte Alfred auf, -tauchte empor und verschwand. Harro kam mit seinen jungen leuchtenden -Augen. Sie sah sich noch einmal im Park von Rackow beim Mondenlicht, -fühlte noch einmal den ersten Kuß von Gastons heißen Lippen: Da hatte -die Lüge angefangen! Die Lüge! Lieber Gott im Himmel ... war es denn -eine Lüge gewesen, eine Lüge, die so harte Strafe verdiente! Und wie -hatte sie gekämpft und war doch nicht freigekommen! Aus Schwäche .... -ja, aus feiger Schwäche. Und aus Mitleid ... ja, aus Mitleid. Aus dem -Empfinden heraus, ihm nicht den einen großen Schmerz antun zu wollen. -Und dann, weil sie ihn gern hatte ... weil ein unnennbares Gefühl sie -immer wieder zu ihm zog ... - -Aber aus all dem Schwankenden, Unklaren ließ sich doch keine Brücke -bauen. - -Und nun gab es keine Flucht mehr und kein Entrinnen -- - -... als den Tod ... - -Ihr Tod -- was hätte er ihm genützt! Ihr Tod hätte ihm den größten -Schmerz des Lebens zugefügt, und nie würde er ihn überwinden können. - -Aufrecht saß Helene, mit pochenden Pulsen, die Augen starr auf das -Fenster gerichtet. Langsam aus der Dämmerung erhob sich der Tag. Ihr -Hochzeitstag. - -Der Tod! Nein -- dagegen schrie doch auch ihre blühende Jugend, ihr -gesundes Blut empörte sich. Wenn du eine Schuld auf dich geladen hast, -so trage sie bis zum Ende! - -Und sie sah ihn wieder im Geiste vor sich, wie sie ihn morgen sehen -würde. Mit den glücklichen Augen, aus denen die Liebe lachte. Sie hörte -seine Stimme, die so männlich und so zärtlich klang: ‚Meine Helene! -Meine Helene!‘ - -Es war eine Fügung. Alles ist Fügung, muß als Fügung genommen werden. - -Das Herz wurde ruhiger. Eine stille Ergebung kam über sie. Leise sprach -sie vor sich hin: ‚Ich hab ihn gern ... ich möchte ihn recht liebhaben. -Ich will immer gut zu ihm sein. Immer gut und dankbar für seine große -Liebe ...‘ - -Sie sah geradeaus zum Fenster, hinter dem es nun hell geworden war. Ein -einzelner Sonnenstrahl kam. Schmal nur, aber goldig leuchtend glitt er -ins Zimmer, bis zu ihr hin, wie der erste Gruß des jungen Tages. Ihres -Hochzeitstages. - -Nur ein kleiner Kreis war bei der Feier zugegen. Gastons Vater war -durch die Sperrung der süddeutschen Bahnen am Kommen verhindert. Er -war nur bis Basel gelangt und konnte nur von dort aus telegraphisch -seine Glück- und Segenswünsche senden. Aber daß ein anderer sich unter -den wenigen Gästen befand, rührte Helene tief. Der alte Heckstein war -von Frankfurt aus mit der Extrapost gekommen. Sie sah ihn erst, als -sie am Arm ihres Mannes aus der Kirche schritt. Unter Tränen lächelte -er ihr zu: „Leneken, ich mußte dir doch für unser ganzes Rohlbeck die -Glückwünsche bringen. Gottes Segen sei mit dir und mit deinem Mann.“ - -Eine stille blasse Braut war sie. Doch laut und fest hatte ihr Ja durch -das Gotteshaus geklungen. - -Als sie aus der Kirche traten, sah Gaston sie glücklich an: „Meine -Helene! Wie danke ich dir.“ - -Und als der kleine Kreis dann bei dem einfachen Festmahl saß, das -Martha gerüstet hatte, sagte Tante Oschitz leise zu Wilhelm: „Daß -Helene schön ist, hab ich immer gewußt. Daß sie so schön aussehen -könnte wie heut mit dem Myrtenkranz -- das hätt’ ich doch nicht -geglaubt. Wenn mein armer lieber Harro sie so gesehen hätte.“ - -Ruhig und rührend sanft erschien Helene. - -Nur als Gaston ihr ein leises Zeichen gab, zuckte sie ein wenig -zusammen. Aber sie erhob sich sofort. - -Gaston hatte das mit Wilhelms besprochen: „Ich muß heut abend in das -Kantonnement zurück. Laßt sie mir ein paar kurze Stunden und macht kein -Aufhebens, wenn wir aufbrechen.“ - -So nahmen sich alle zusammen. Selbst die Jungens. Die lauschten -freilich gerade auf den lebhaften Disput, der sich zwischen Tante -Marianne und dem Onkel Pastor angeknüpft hatte über die Gottlosigkeit -des Krieges. Onkel Pastor war doch ein streitbarer Mann. - -Martha ging mit dem jungen Paar hinaus, half Helene beim Umkleiden. -Und dann kam Omama noch auf einen Augenblick auf den Flur, küßte die -Tochter, tätschelte mit ihrer welken Hand Gastons Wange: „Seid gut -miteinander ... und kommt recht gesund von der Hochzeitsreise zurück, -ihr Kinder.“ Sie hatte längst vergessen, daß Merivaux in den Krieg -ging, hatte es wohl nie recht begriffen. -- - -Es war spät am Abend, als Helene heimkam. - -Bis vor die Tür hatte sie Gaston gebracht. Im Hausflur umarmte er sie -noch einmal, küßte sie leidenschaftlich. „Meine geliebte Frau!“ Ein -paar Augenblicke ruhte sie weinend an seiner Brust. „Gott schütze dich, -Gaston!“ - -Dann riß er sich los. - -Langsam stieg sie die Treppe hinauf; schloß die Tür auf. - -Martha, die an alles dachte, alles überlegte, hatte auch das so -gewollt: es sollte niemand auf die junge Frau warten. Sie hatte es -auch eingerichtet, daß Helene nun ihr Zimmer für sich bewohnte. - -Auf dem Flur brannte die Lampe. Sie nahm sie, ging in ihr Zimmer, -stellte sie beiseite. - -Da lag noch ihr Brautkleid und all der bräutliche Schmuck. - -Lange stand sie davor, in tiefem Sinnen, mit gefalteten Händen. Es war -ihr alles wie ein Traum. - -Sie nahm den Myrtenkranz, ließ ihn langsam, zärtlich durch die Finger -gleiten. Leise sprach sie ihren Hochzeitsspruch vor sich hin: „... und -hättet der Liebe nicht.“ -- „Gott schütze dich, Gaston.“ - -Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen! - -Der Conte war in Berlin, Graf Grucker. Kam auch zu Wilhelms oder -eigentlich zu der jungen Frau, die immer sein Liebling gewesen war. In -Johanniteruniform, gestiefelt und gespornt, feldzugsgemäß, aber mit -einem Riesenstrauß in der Rechten und einer massigen silbernen Bowle -unter dem linken Arm. „Meine Hochachtung, Leneken. Da, nimm mal erst. -Und nu’n Schmatz. Hast du brav gemacht. Na, wer war nur der Prophete? -Wer hat dir gesagt: Leneken, der Neuchateller! Besinn dich man: -zwischen der Schnapstheke und Madame Hufnagel. Da ... die Blumen vor’s -Herz un den Kübel für’n Hausstand. Der Artenau, der Stickereimajor, die -Dusche, kann euch die Rezepte dazu geben.“ - -Schwer ließ er sich in den nächsten Stuhl fallen. „Sind das Zeiten! -Was, Wilhelm? Da ist der Manteuffel in Holstein eingerückt, und der -Gablentz hat mit seinen Österreichern das Feld geräumt. Na, schön ... -aber weißt du’s Neueste? Österreich hat gestern die Bundesexekution -gegen Preußen beantragt. Scheußliche Geschichte! Wenn man so denkt, der -janze deutsche Bund gegen Preußen! Bruderkrieg! Bruderkrieg!“ - -Weit streckte er die Riesenstiefel von sich: „Und, Wilhelm, unsre -Alliance mit den italienischen Revolutionären von Mazzinis Gnaden ... -brrr ... ’s geht einem doch höllisch ~contre cœur~. Da hat man nu -fünfzig Jahre und so die Fahne hochgehalten gegen den Umsturz ... ja -... und nu soll man sich mit ’n Male umkrempeln. Immer hat man’s mit -Österreich gehalten, auch wenn se uns mal schlecht behandelt haben -- -das haben se manchmal -- und nu heißt’s: linksum kehrt! Wenn das der -alte Rittmeister erlebt hätte!“ - -Mit einem Male stand er wieder auf den Beinen, straff, zog den -Uniformrock herunter. „Der König hat’s befohlen. Wird wohl nicht anders -gegangen sein. Und gut ist’s schon, daß die Schwadronneure ’mal ’s Maul -halten müssen. Ich sage euch, draußen in der Mark gilt wieder der alte -Preußenruf: Mit Gott, für König und Vaterland! Na, Leneken, Mädel ... -pardon! ... junge Frau, was machst du denn für’n ernstes Gesicht?“ - -„Ach -- Onkel Grucker --“ - -„Paperlapapp! Warst doch immer ’n tapferes Frauenzimmerchen. Jede -Kugel, die trifft ja nicht. Un was so’n richtiges märkisches Mädel ist, -das beißt die Zähne zusammen, wenn der Herzallerliebste in’n Krieg muß. -Pflicht -- einfach Pflicht! Ich muß ja auch auf’n Kriegsschauplatz. Na -wart ’mal, wenn ich deinem Mann begegne, werd’ ich ’n grüßen. Weißt -du, was ich ’m sage: ~Monsieur de Merivaux.~ Sie sein ein janz -verfluchtigter Schwerenöter. Aber Sie haben einen janz exzellenten -Geschmack! Hol mich dieser und jener -- meine Hochachtung!“ -- -- - -Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen! - -‚Was geht mich die Politik an? Was geht mich die Zeitung an?‘ hatte -Helene sonst gedacht. Nun harrte und wartete sie, mit den Jungens, -die ganz rabiat geworden waren, um die Wette auf die alte verhuzelte -Zeitungsfrau, kämpfte mit Hans und Thede jedesmal einen kleinen Kampf -um das erste Blatt. - -Die Preußen in Hannover. Die Preußen in Dresden. Der alte deutsche -Bund nach Preußens Erklärung aufgelöst. Und dann der herrliche Aufruf -des Königs „An mein Volk“ -- ganz wie Vater so oft von Anno dreizehn -erzählt hatte -- mit den verheißungsvollen Schlußworten: „Verleiht -uns Gott den Sieg, dann werden wir auch stark genug sein, das lose -Band, welches die deutschen Lande mehr dem Namen als der Tat nach -zusammenhielt, in anderer Gestalt fester und heilvoller zu erneuern!“ - -Spärlich kamen die Nachrichten von Gaston. Er hatte es vorausgesagt: -„Ich werde so oft schreiben, wie ich kann. Aber sorge dich nicht, wenn -einmal die Briefe ausbleiben.“ - -Spärlich kamen die Briefe, und sie waren kurz. Aber immer wieder stand -es in ihnen: „Meine geliebte Frau!“ - -Als sie das zum ersten Male las, war ihr das Blut jäh in die Wangen -gestiegen. Und jedesmal, wenn wieder ein Brief kam, flüchtete sie in -irgendeine stille Ecke der Wohnung, daß niemand sie beobachten konnte. -Und jedesmal sann und sann sie, lange, über dem Brief -- und über sich -selber. - -Zum Altar war sie geschritten mit mühsam errungener Selbstbeherrschung; -aufrecht gehalten durch den Gedanken an seine große, geduldige, -nachsichtige Liebe, und doch mit quälendem Vorwurf im Herzen. - -Nun war das alles ganz anders -- - -Der Sturmesrausch, den sie einst erträumt, der freilich war nicht -gekommen. Nicht das Gefühl höchster Seligkeit, nicht die Wonne und Glut -der Leidenschaft. Aber eine sanfte dankbare Zärtlichkeit füllte ihr -Herz. - -Hans und Thede hatten eine große Karte des Kriegsschauplatzes -mitgebracht. Da verfolgten sie zu dritt nach den Zeitungsnachrichten -und auch nach Gastons Briefen die Stellung der Truppen, so gut es eben -ging, und nicht zuletzt suchten die Jungens nach jedem Quartier der -Gardeschützen. - -Sein letzter Brief kam aus Haindorf, dicht an der böhmischen Grenze: -„Heut ritt der Kronprinz an uns vorüber. Die Schützen jubelten ihm -zu. Übermorgen geht’s, hoffen wir, nach Österreich hinein. Sorge -Dich nicht, meine geliebte Frau. Gott wird mich schützen. ~Vive le -roi!~“ - -Mit der Morgenpost war der Brief gekommen. Gegen Mittag stürzte -Wilhelm die Treppe hinauf. Er hatte die Wache aufziehen lassen, war in -Paradeuniform. Kaum im Zimmer, riß er die Schärpe herunter: „Martha, -wir haben eine große Schlacht verloren!“ Die hellen Tränen liefen ihm -über die Wangen. „Man weiß noch nichts Näheres. Aber es ist Tatsache. -Eine große Schlacht! Die arme Armee! Der arme König!“ - -Er war in völliger Verzweiflung, aufgelöst, fast besinnungslos. Rannte -im Zimmer auf und ab. „Eine große Schlacht verloren! Wie wird das nun -werden! Wenn das Vater erlebt hätte.“ Vergeblich suchte Martha ihn zu -beruhigen. „Gut, daß die Jungens noch nicht größer sind. Daß sie noch -nicht ganz verstehen können, was wir verspielt haben.“ - -Auf Helene achteten sie nicht. - -Sie stand an der Wand, mußte sich fest anlehnen, hatte die Hände vor -die Brust gepreßt, und alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. - -Sie dachte nicht an die verlorene Schlacht, sie hörte nicht mehr, was -der Bruder in seiner maßlosen Erregung sagte. Nur an Gaston dachte sie. -Und plötzlich kam aus Angst und Sorge die Sehnsucht über sie. - -Sie sah ihn vor sich in Not und Gefahr. Sie meinte ihn stürzen zu -sehen, von Blut überströmt -- die Feinde brachen über ihn herein, er -lag unter Rossehufen -- - -Da schrie sie jäh auf: „Gaston!“ -- -- - -Es war ein böser Abend, der Abend des 28. Juni. Wilhelm ging noch -einmal in die Stadt, um Nachrichten einzuholen. Aber niemand wußte -etwas Bestimmtes. Nur unklare Gerüchte schwirrten. Vergeblich umlagerte -die Masse die Zeitungsredaktionen. Im Kriegsministerium zuckte man -die Achseln. Ein höherer Offizier, den Wilhelm traf, lachte ihn aus: -„Unsinn! Wir haben die besten Nachrichten. Der Kronprinz hat die -böhmischen Pässe schon überschritten.“ Ein anderer sprach von einem -unentschiedenen Gefecht gegen die hannöversche Armee, die sich nach -dem Süden durchschlagen wollte. - -Als er endlich heimkam, war Helene ruhiger geworden. Aber ihre Augen -schienen von seinen Lippen ablesen zu wollen, was er für Nachricht -brächte. Er hatte sich nun schon selber bezwungen, ärgerte sich über -sein hitziges Temperament, das ihn immer alles pechschwarz oder -rosenrot sehen ließ, versuchte zu scherzen. Aber da bat sie, mit -erhobenen Händen: „Bitte -- bitte -- nein!“ - - * * - * - -Am nächsten Vormittag lachte die Siegessonne über Berlin. Die Glocken -läuteten. Die Jungens kamen glückstrahlend heim: die Schule war -geschlossen worden auf die Siegeskunde von allen Seiten: von Nachod -und Soor und Alt-Rognitz und Königinhof. Genug des Triumphes, um die -übertriebenen Gerüchte von gestern, die die Schläge von Trautenau und -Langensalza zu schweren Niederlagen gestempelt, vergessen zu machen. - -Die Siegessonne lachte über Berlin. - -Helene stand am Fenster und sah, wie auf allen Häusern die -schwarzweißen Fahnen aufstiegen. Drüben am Rotherschen Stift vor -der Anschlagsäule drängte sich das Volk um die Depeschen. An der -Brücke stand ein langer Tisch, ein paar Bürger dahinter, mit großen -schwarzweißen Kokarden an den Zylinderhüten und Sammelbüchsen in den -Händen: „Für unsere tapferen Krieger.“ - -Die Siegessonne leuchtete über Berlin. Wie Jauchzen und Jubeln klang es -von fern her. Und dann und wann, wenn wieder ein Packen Extrablätter -unter die Masse vor der Litfaßsäule flog, brach dort ein brausendes -Hurrarufen aus. - -Die Siegessonne lachte über ganz Preußen. Auch über die -Hunderttausende, die sich um Vater, Mann oder Kind härmten. - -An Vater dachte Helene, an den alten Rittmeister, und was der ihr wohl -gesagt hätte: ‚... das heißt, mein Lenchen, in solchen Stunden kann -die Frau erst zeigen, was sie wert ist. Fünf Brüder gingen wir Anno -dreizehn ins Feld, zwei kamen wir nur zurück. Aber meine Mutter hat -nicht gejammert und geflennt. Wenn sie von den Brüdern sprach, hat sie -immer nur gesagt: Sie starben für König und Vaterland den Heldentod.‘ --- -- - -Unruhige Zeiten! Glückliche Zeiten! - -Wieder klangen die Glocken. Die hannöversche Armee war zur Kapitulation -gezwungen, und während der König auf den Kriegsschauplatz eilte, brach -Prinz Friedrich Karl den heldenmütigen Widerstand der Österreicher und -Sachsen bei Gitschin. - -Wieder jubelte Berlin. Und wieder harrten und härmten sich -Hunderttausende um Väter, Gatten, Brüder, Söhne. - -Eine kurze Zeile nur hatte Helene erhalten, mit Bleistift beim -Biwakfeuer geschrieben: „Bin gesund und denke Dein in Liebe und -Sehnsucht. Gaston.“ In unaussprechlichem Dankgefühl schlossen sich ihre -Hände um das kleine Blatt. -- -- -- - -„Der Gouverneur soll Viktoria schießen.“ - -Die Schlacht bei Königgrätz war geschlagen. Das tapfere österreichische -Heer im vollen Rückzug. - -Und fast zugleich trafen die ersten Verlustlisten ein. Vereinzelte -Zeitungsnachrichten zuerst, vereinzelte Anzeigen der Regimenter, -und dann, dann die große Liste, Truppenteil an Truppenteil, Name an -Name gereiht. Lang, endlos lang war sie und trug die Trauer über das -jubelnde Land. - -Auf den Bahnhöfen kamen die ersten Verwundeten an. In die hellen -Sommerkleider auf den Straßen mischte sich das Schwarz. Neben die -siegesfrohen Gesichter traten die tränendurchfurchten. - -Wieder wie achtzehnhundertvierundsechzig ging Martha an den -Leinenschrank, saß und zupfte Scharpie, Fädchen auf Fädchen. Und -Helene saß dabei, die Linnenstreifen in der untätigen Hand, zwang -sich, geduldig zu scheinen und ruhig, und bebte doch in harrender -Erregung. Dann brachten die Jungens Zeitungsblätter, und sie durchflog -Spalte um Spalte mit fiebrigen Augen. Wilhelm kam von vergeblichen -Erkundigungsgängen heim, war selber beunruhigt; auch um Fritz, der -bei den Fünfunddreißigern mitgekämpft hatte. Schlecht und ungeschickt -verbarg er die eigene Sorge. - -Es konnte ja nur ein gutes Anzeichen sein, daß keine Nachricht da war. -Ja, doch! Ja, doch! Es konnte -- - -Man muß Geduld haben. Es geht Zehntausenden nicht anders als uns. Ja, -doch! Ja, doch! Aber sie härmen sich auch wie wir -- - -„Du mußt bedenken, liebe Helene, wie schlecht die Verbindungen in -solchen Tagen sind.“ -- „Ja, doch -- ja, doch --“ - -Dann schellte es draußen im Flur. Der Briefträger -- - -Und wieder, wieder brachte er keine Nachricht. Drucksachen, Umschläge -mit gleichgültigen Geschäftsadressen -- keinen Feldpostbrief! - -Der dritte, der vierte Tag, nachdem die Geschütze mit donnerndem Salut -den großen Sieg gekündet -- und keine Nachricht! - -‚Ich will eine tapfere Soldatenfrau sein!‘ rief Helene sich immer -wieder zu. Aber dann versagte plötzlich die Kraft, der Kopf sank -vornüber, sie schluchzte auf. - -Martha legte den Leinwandstreifen zur Seite, beugte sich zärtlich -über sie, strich sanft über das rostbraune Haar: „Mein Schwesterchen! -Morgen! Morgen gewiß! Nur Gottvertrauen und Mut! ... Siehst du, wie -lieb du deinen Gaston hast!“ - -Mit todtraurigen Augen schaute Helene auf: „Vielleicht liegt er hilflos -irgendwo ... in einer elenden Hütte ... und ich kann nicht bei ihm sein -... kann ihm nichts sein! Die erbarmungslose Untätigkeit! Martha, ich -ertrag’s nicht!“ - -Und Martha nahm ihre Hände, sprach ihr gut zu, fühlte, wie vergeblich -Worte waren, und dachte doch immer: ‚wie lieb sie ihn nun hat ... wie -lieb sie ihn nun hat ...‘ - -Am Abend saß Omama an ihrem Traumfenster, sah auf den mondüberströmten -Rotherschen Garten hinaus und sprach sich mit ihrer zittrigen Stimme -ein Lied von Anno dreizehn vor, wie sie nun eins nach dem andern in -diesen Tagen in ihr aufstiegen: „... wie glühen dann die Herzen -- so -froh und stark und weich! Wer fällt, der kann’s verschmerzen -- Der hat -das Himmelreich!“ - -Plötzlich kniete Helene neben ihr, umklammerte ihre Knie, bat: „Hör -auf, Mutter, hör’ auf!“ - -Die Greisin schüttelte verwundert den Kopf. „Aber Kind ... es ist doch -ein sehr schönes, gutes Gedicht ... ‚Der hat das Himmelreich!‘“ - -„Ach, Mutter --“ und Helene warf den Kopf in Omamas Schoß. „Ich kann’s -nicht hören!“ - -Endlos die bangen Nächte. - -Helene lag und rang die Hände: „Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn -mir!“ Übersann, wieder und wieder, jede Stunde des Zusammenseins mit -ihm: wie gut, wie geduldig er immer gewesen, wie er nimmer ermüdend um -ihre Liebe geworben. Sie sah seine traurigen Augen, sah seine Augen im -Glück, fühlte seine Lippen auf ihrem Munde. - -„Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn mir!“ - -An jene Nacht vor der Hochzeit dachte sie zurück, an ihre Kämpfe, an -ihre Verzweiflung. Und nun stand das alles vor ihr, als ob sie schlecht -gewesen wäre. Undankbar gegen ihn und ungerecht! Gefallsüchtig heut -- -kalt und herzlos morgen! Gespielt hatte sie mit ihm! Nicht Vertrauen -mit Vertrauen vergolten! - -„Allmächtiger Gott, erbarm dich, laß ihn mir! Daß ich gut machen kann!“ --- -- -- - -Wieder kam der Tag. - -Da stürmte plötzlich Hans herauf, jubelte, schwenkte einen Brief in der -Hand: „Tante Helene! Tante Helene!“ - -Das Herz wollte ihr stillstehen. Ein einziger Laut rang sich von ihren -Lippen. - -Und sie riß den Brief an sich, barg ihn zwischen den Händen, küßte ihn -unter heißen Glückstränen. - -Der große Junge stand daneben, wischte sich die Augen, wartete eine -lange Weile, wehrte sich gegen die eigene Rührung, ließ dann die Tränen -kullern, wie sie wollten, räusperte sich. Bis er endlich doch bat: „So -lies doch, Tante Helene.“ - -Da sah sie ihn an mit feuchten Augen, schlang den Arm um ihn, küßte ihn -zärtlich -- - -... und dann las sie. - -Wie ein Kind fast, zusammengekauert, saß sie auf dem Sessel, hielt den -einen Briefbogen zwischen den Händen, die noch immer bebten, hatte den -zweiten auf dem Schoß. Las mit fliegender Hast und überlas dann jede -Seite gleich noch einmal. Das Blut kam und ging in dem schönen Gesicht. - -Einmal gleich im Anfang sagte sie, hochaufatmend, aber ohne aufzusehen, -sehr eilig: „Gesund, Hans --“ Las wieder ein paar der eng mit Bleistift -beschriebenen Seiten weiter, blätterte zurück: „Am 3. abends -- Herr -Gott, wie langsam der Brief ging!“ Sah auf einen kurzen Moment auf, -nickte Hans mit glückstrahlenden Augen zu, nahm den zweiten Bogen auf. - -„Das muß ich dir aber doch vorlesen, Hans --“ - -„... wir wollten -- so gegen vier Uhr -- die jenseits Leipa eroberte -Batterie verlassen, da kam der König mit seiner Suite angeritten, -Bismarck und Moltke waren auch dabei. Alles brach in lauten Jubel aus, -unsere Schützen waren gar nicht mehr zu halten. Wir stürzten auf den -König los, wer zunächst war, faßte seine Hand und küßte sie. Stell -Dir das vor, ~ma chérie~, noch mitten im Kanonendonner, unter -Hurrarufen, das gar nicht enden wollte. Seine Majestät sahen sehr ernst -aus, aber so mild, so gütig. Und denk’ Dir, plötzlich erkannte er mich. -Er winkte mir zu und grüßte: „~Bonjour~, Merivaux.“ Da hab ich in -den Kanonendonner hinein, recht aus voller Brust, gejubelt: „~Vive -le roi! Vive le roi!~“ Wie ich’s als Kind von meinem Vater gelernt -hatte. Da lächelte der König ...“ - -Weiter las sie, blätterte zurück, las wieder. - -Las dann noch einmal halblaut: „Jetzt liegen wir im ~bivouac~. Ich -schreib dies schon in der Dämmerung. Gerade klang die Retraite über -das Schlachtfeld und der Choral ‚Nun danket alle Gott‘. Wir alle haben -mitgesungen.“ - -Und dann verstummte sie. Das brauchte der Junge doch nicht zu hören, -all die Zärtlichkeit, die Liebesworte der letzten Zeilen, all die -Sehnsucht, die ihr entgegenklang -- -- -- - -Aber sie sprang auf, lief durch die ganze Wohnung. Nun sollten es alle -wissen. Von einem lief sie zum andern, küßte Omama, umhalste Martha. -Immer wie ein jubelndes Kind und immer mit Glückstränen in den Wimpern. - -Am Nachmittag ließ sich Frau Harriers-Wippern melden. - -Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf Helene zu: „Ich brauch’ ja nicht -zu fragen! Das Glück steht Ihnen auf dem Gesicht geschrieben, Frau von -Merivaux. Aber gratulieren will ich -- recht von Herzen! Sie haben -sicher die besten Nachrichten.“ Und sie küßte Helene auf beide Wangen. - -Dann wurde sie rot: „Übrigens muß ich gestehen, ich komme eigentlich -nicht nur, um zu gratulieren. Ich komme mit einer Bitte ... Was Sie -immer für sonderbare Augen machen können, Frau von Merivaux! Ganz -andere Augen als andere Menschen. Ja, also, um mit der Tür ins Haus zu -fallen: Sie sollen mit mir in einem Konzert singen.“ - -Helene erschrak. Aber Frau Harriers ließ sie gar nicht zu Worte kommen: -„In einem Konzert zum Besten unserer Tapfern, unserer Verwundeten! Da -können Sie doch gar nicht nein sagen! ... Aber da stehen in Ihren Augen -schon wieder alle möglichen Fragen -- immer kann man’s in Ihren Augen -lesen, was Sie denken. Warum ich gerade zu Ihnen komme? Erstens weil -ich so ziemlich die einzige Sängerin von einigem Renommee bin, die -in Berlin geblieben ist, die sogenannten ersten Kräfte also mangeln. -Hauptsächlich aber -- werden Sie nur ganz nach Belieben rot! -- weil -ich Sie wenigstens einmal herausbringen möchte. Also aus reiner elender -Lehrerinneneitelkeit.“ Sie lachte fröhlich. „Nun?“ - -„Es ist ... es kommt so plötzlich ...“ - -„Das Gute kommt meist plötzlich. Übrigens hab ich alles vorbedacht. -Wir haben acht Tage Zeit. Ihre Hand, liebe Helene, was zögern Sie? -Nicht wahr, Sie wollen?“ - -Da sagte Helene rasch: „Ja, ich will!“ - -Nachher gereute es sie ein wenig. Hatte sie nicht zu schnell zugesagt? -Ob es Gaston auch recht sein würde? Es war ja für die Verwundeten! Ob -sie’s auch gut machen würde? - -Aber all die Bedenken gingen unter in dem großen Glücksempfinden, das -sie heut erfüllte. - -Das Konzert -- nun dachte sie kaum noch an das Konzert und an ihre -Zusage. Sie saß und schrieb einen langen Brief an Gaston. Ganz anders, -als sie bisher an ihn geschrieben. Ohne die Worte zu überlegen, ohne zu -wägen. Nur wissen sollte er, wie selig sie war, wissen, wie sie sich -nach ihm sehnte, wissen -- wissen, daß sie ihn liebte! - -Selbst trug sie den Brief zur Post. ‚Nein! Ich trag ihn lieber zum -Anhalter Bahnhof -- dann kommt er schneller in Gastons Hände.‘ Und -sie ging zum ersten Male seit Tagen durch die Straßen, die noch im -Siegesschmuck lagen. Immer hatte sie ja zu Haus gesessen -- gewartet -- -gewartet -- - -Alles sah sie erst jetzt. Die Fahnen und die Girlanden. An der -altersgrauen Stadtmauer ging sie entlang und mußte lachen. Da hatten -die Berliner Rangen winzig kleine Löcher durch die zermürbten Steine -gestoßen, und darum stand: „Hier zieht Benedeck in Berlin ein!!!“ Stand -in Kreideschrift im Halbkreis herum mit drei Ausrufungszeichen dahinter. - -Plötzlich fiel ihr ein: ‚Tante Oschitz! Jetzt gehst du noch zu Tante -Marianne. Die muß doch Nachricht haben.‘ Aller Welt hätte sie zujubeln -mögen, wie glücklich sie war. - -Und sie ging weiter, über den Potsdamer Platz, durch die -Bellevuestraße, am Tiergartensaum entlang. Dachte: da drüben am -Goldfischteich hat Gaston zum erstenmal von unserem Hochzeitstag -gesprochen. Lachte in sich hinein, wie hilflos sie damals gewesen. -Lief wie ein Kind durch den Vorgarten der Stillen Insel, fiel Tante -Marianne um den Hals: „Ich hab einen Brief. Mein Gaston ist gesund!“ -War glücklich, daß die Greisin sich mit ihr freute. Weinte wie Kinder -weinen, als Tante Marianne sie vor das große Bild Harros führte, das -sie von Professor Richter hatte malen lassen. „Ach, Harro -- unser -guter lieber Harro!“ Und hatte, als sie die Stille Insel verlassen, -doch nur wieder das eine Glücksgefühl im Herzen und nur den einen -Gedanken an Gaston. - - * * - * - -Das Konzert fand in der Singakademie statt. Frau Harriers-Wippern hatte -nachträglich noch zwei, trotz der Ferien zufällig in Berlin anwesende -Mitglieder des Königlichen Opernhauses gewonnen, den Bassisten Salomon -und Fräulein Horina. Für Helene waren drei Nummern reserviert. - -Ein wenig befangen war Helene doch. - -Als am Morgen die Jungens jubelten: „Tante Helene steht an den -Litfaßsäulen! Tante Helene steht in der ‚Kreuzzeitung‘!“ war sie rot -wie ein Schulmädchen geworden. Und als sie mit Martha zur Singakademie -fuhr, hatte sie eine unheimliche Empfindung im Kehlkopf: ‚Du wirst ja -keinen Ton herausbringen können.‘ Auch der Zuspruch von Frau Harriers -half nicht viel. Einmal lugte sie in den überfüllten Zuschauerraum: sie -sah nur eine Masse Menschen die wie ins Dunkle getaucht schien. - -Schon klang die Ouvertüre zu „Struensee“ auf. - -Im Konversationszimmer stand der Baumeister Harriers neben Helene, -hatte eine halbe Flasche Champagner in der Hand und sagte gutmütig -lächelnd: „Ich kenn’ das von meiner Frau. Die hat heut noch manchmal -Lampenfieber. Dann hilft nur ein Glas Champagner.“ Sie wehrte wortlos -ab -- und dann stürzte sie doch ein Glas herunter. - -Draußen sang gerade Fräulein Horina ... - -Dann hieß es: „Die vierte Nummer! Frau von Merivaux -- bitte!“ - -Helene stand auf dem Podium. Im hellen Licht. - -Sie mußte überraschend schön wirken in ihrem Brautkleid, zu dem sie -ein paar mattblaue Schleifen genommen hatte und einen Kranz von weißen -Rosen in das rostbraune Haar. Vielleicht hatte es sich herumgesprochen, -daß die neue Erscheinung, die Schülerin der gefeierten Frau Harriers, -die jungvermählte Gattin eines Offiziers sei, der im Felde stand. -Vielleicht war’s auch nur Neugier. Es ging ein leises Rauschen durch -den Zuschauerraum. - -Einen Moment stand sie noch in Verwirrung. Verneigte sich tief. - -Nun klangen die ersten Akkorde -- - -Da war ihre Befangenheit plötzlich verschwunden, mit einem Male. Sie -setzte ein. - -Das Uhlandsche Lied sang sie, nach der Komposition von Franz Schubert: - - „Die linden Lüfte sind erwacht, - Sie säuseln und weben Tag und Nacht --“ - -Es war merkwürdig, sie staunte selbst. Noch nie vielleicht war sie so -gut disponiert gewesen wie im diesen Augenblicken. Sie fühlte, wie -sie ihr Organ meisterte, wie es sich ihrem Willen fügte gleich einem -gehorsamen Instrument. Fühlte, wie sie von Atemzug zu Atemzug freier -wurde, wie ihre Stimme sich immer weiter entfaltete -- - - „Es blüht das tiefste, tiefste Tal, - Nun armes Herz vergiß der Qual, - Nun muß sich alles, alles wenden.“ - -Rauschender Beifall tönte herauf, als sie geendet. Und plötzlich, -während sie sich verneigte, kam wieder die große Verwirrung über sie. -Keine Angst, aber etwas Beschämung. - -Noch immer wollte der Beifall nicht aufhören. Noch einmal mußte sie -sich verneigen. - -Aber als sie sich nun wieder aufrichtete und sich zurückziehen wollte, -unterschied sie zum ersten Male in der vordersten Reihe ein paar -bekannte Gesichter. Omama neben Wilhelm -- Martha -- - -Aber wer war denn das? Zwischen Mutter und der Schwägerin? - -Kantor Flehr saß da mit den gefalteten Händen im Schoß, die blauen -Augen leuchteten aus dem lederfarbenen Gesicht wie in Entzückung zu ihr -hinüber -- - -Das war sicher Marthas Werk! Keine größere Freude hätte sie ihr an -diesem Abend bereiten können! Und sie neigte sich zum drittenmal und -nickte ihm zu, nur ihm unter all den Hunderten. - -„Das haben Sie brav gemacht, Helene“, meinte dann Frau Harriers. „Brav -ist eigentlich zu wenig. Es soll auch nur den Zoll für Ihre Tapferkeit -ausdrücken. Wenn ich so an mein erstes Debüt zurückdenke -- wie eine -Heldin haben Sie sich benommen! Aber sagen Sie, wer ist denn der alte -wunderliche Mann neben Ihrer Frau Schwägerin, der Sie angestaunt hat -wie ein Wunder --“ - -„Mein erster Lehrer --“ - -„Der alte Kantor, von dem Sie mir so oft erzählt haben? Den muß ich -kennen lernen. Den bringen Sie mir morgen, und ich will ihm ganz allein -alles aus seinem geliebten Mozart vorsingen, was er nur hören mag.“ - -Es war eine seltsam frohe Stimmung über Helene gekommen, seit sie den -Alten gesehen und erkannt hatte. Wie ein lieber Grußbringer aus der -märkischen Heimat erschien er ihr. Sie dachte zurück an ihre ersten -Versuche bei ihm, dachte dankbar zurück an die entscheidende Stunde, in -der er, der Schüchterne, so tapfer vor Vater um ihre Kunst gestritten -hatte. - -Und dann flogen ihre Gedanken wieder weit weg, nach dem -Kriegsschauplatz, zu Gaston. Daß der heut hier fehlte! Wenn er unten -gesessen hätte, sie gehört und den Beifall! Sie gehört und gesehen in -dem weißen Kleide, das sie nun zum zweiten Male trug, mit so ganz, ganz -anderen Empfindungen im Herzen, als damals -- als damals -- - -„Frau von Merivaux!“ - -Sie sang das Lied der Prascovia aus Meyerbeers „Feldlager“. Wieder -tönte der Beifall. Und ein großes Blumenarrangement stand plötzlich vor -ihr auf dem Podium, ein mächtiger Korb mit Rosen, den die Kameraden -von der Ersatzkompagnie der Gardeschützen geschickt hatten. Nun sah -sie auch die wohlbekannten Uniformen unter den Zuschauern, und wieder -dachte sie an den fernen Geliebten. - -Noch einmal mußte sie auf das Podium. - -Frau Harriers hatte darauf bestanden, daß sie das Mignonlied singen -sollte. Sie hatte sich ein wenig gesträubt. - -Jetzt, während sie das Lied sang, kam ihr die beseligende Empfindung: -‚Du singst es ja für Gaston‘ -- - - „Dahin! Dahin! - Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehen. - Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? - Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg ...“ - -Ihr war’s, als zöge sie mit ihm in sein Heimatland. Und ihre Stimme -gewann, ihr ganz unbewußt, noch einen besonderen Klang, einen -schwermutsvollen süßen Zauber. - -Sie mußte das Lied wiederholen -- - - „Kennst du des Land, wo die Zitronen blühn, - Im dunklen Laub die Goldorangen glühn, - Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, - Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? - Kennst du es wohl! - Dahin! Dahin! - Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehen!“ - -Dann stand draußen, während im Saal die Eroica-Sinfonie aufklang, die -kleine Künstlerschar und umringte Helene. Frau Harriers schloß sie in -die Arme: „Ich habe eben Taubert gesprochen. Er ist ganz hingerissen. -Liebe Helene -- vergessen Sie die Kunst nicht in Ihrem Glück.“ - -Fast dasselbe aber sagte nachher in seiner schüchternen, schlichten und -doch ein wenig überschwenglichen Art der alte Kantor. Er faßte beide -Hände Helenens, hielt sie andächtig in den seinen: „Daß ich das erlebe! -Liebe, liebe gnädige Frau ... Wenn Sie so recht glücklich sind, dann -denken Sie immer daran, daß Ihre Kunst das schönste Glück erhöhen und -krönen kann ...“ - - * * - * - -Eine Woche noch, und es tauchten Gerüchte auf, daß im Hauptquartier des -Königs, in Nikolsburg, über den Frieden verhandelt würde. - -Gerade an dem Tage, an dem Helene die erste Zeitungsnotiz darüber las, -schrieb Gaston aus Holleschin: „Auf dem Marsch gegen Wien.“ Es war die -Antwort auf Helenes Brief. Er rechnete noch fest auf die Fortsetzung -des Feldzuges, aber er schrieb kaum von Gefahren und Strapazen: immer -wieder nur schrieb er von der Seligkeit, die Helenes Brief in ihm -erweckt: „Das ist mein schönster Siegespreis!“ - -Friede! - -Helene hatte bis zur letzten Minute nicht fest an ihn zu glauben -gewagt. Sie hatte ihn erhofft, jede Nachricht mit zitternder Spannung -verfolgt und doch immer wieder gezagt. Nun jauchzte ihr Herz. - -Manchmal in diesen Tagen kam sie sich als recht schlechte Patriotin -vor -- - -Bruder Fritz war bei Königgrätz leicht verwundet und als Rekonvaleszent -zurückgekehrt, mußte noch liegen, hatte sich bei Wilhelms einquartiert, -um seine völlige Herstellung abzuwarten. Denn dem groben Doktor -Tiburtius in Stellberg traute er keine besonderen chirurgischen Künste -zu. - -Die Brüder saßen viel zusammen. Wilhelm war ein wenig stolz auf den -verwundeten Bruder, klagte, daß er selbst beim Ersatz geblieben war, -tat sich etwas darauf zugute, Fritz bei sich zu pflegen und zu hegen; -ihm das Beste vorzusetzen, was der Keller hergab, und für seine -Unterhaltung zu sorgen. Bis zur Stunde, wo Wilhelm aus dem Dienst kam, -las Fritz sämtliche Berliner Zeitungen und war dann vollgesogen wie -ein Schwamm. Sein sonnengebräuntes Gesicht lachte, wenn er Wilhelm und -möglichst die ganze Familie an seinem Schmerzenslager versammelt sah. - -Da hörte denn auch Helene, was Großes geschehen, welch Größeres in -Aussicht stand für Preußen, für das deutsche Vaterland. - -Fritz war noch immer der Mann der Politik. Aber der ‚rote Kreisrichter‘ -war er nicht mehr. „Wir haben uns geirrt. Die besten von uns gestehen -es offen ein. Wir haben vor allem Bismarck unrecht getan -- und dem -König. Wir haben uns geirrt -- im ehrlichen Glauben. Aber nun heißt’s -für uns, auch ehrlich die dargebotene Hand zu ergreifen. Der Konflikt -muß begraben sein. Gottlob!“ - -Und er sprach weiter vom neuen Norddeutschen Bunde, und wie der nur -die Vorstufe sei zu einem einigen Deutschland. Er sprach wehmütig -vom Ausscheiden Österreichs aus dem Kreise der deutschen Staaten und -von Bismarcks politischer Weisheit, die dem Donaustaat allzu schwere -Opfer erspare; wohl in der Hoffnung, daß es dereinst auch mit ihm zu -einer Versöhnung kommen möge. „Denn wir sind und bleiben deutsche -Brüder!“ Und er sprach stolz von Preußens Machtzuwachs, daß nun -die beiden Hälften der Monarchie verbunden seien, das Preußen mit -Schleswig-Holstein den besten deutschen Kriegshafen gewonnen habe. - -Helene hörte das alles: Sie freute sich auch darüber. Zumal, wenn es -immer wieder hieß: „Wenn doch unser guter Vater das erlebt hätte!“ - -Aber sie schämte sich auch. Nein, eine gute Patriotin war sie nicht! -Ihr Herz war so voll von dem einen, daß sich für alles andere nur wenig -Raum fand. Beim besten Willen: der Norddeutsche Bund und die deutsche -Einheit, die ließen sie im letzten Grunde gleichgültig. Sie hörte das -alles, und sie dachte doch nur an Gaston. - -Dann legte wohl Martha den Arm um den Nacken der jungen Frau und küßte -sie wortlos auf die Stirn. Oder die alte Omama kam auf ihren Krückstock -gestützt vom Fensterplatz herüber, schüttelte den Kopf, daß die -schwarzen Schläfenlocken pendelten, und meinte: „Unsre Lene war eben -immer ein kurioses Menschenkind ... ja ... aber ihr müßt wissen ... -~C’est l’amour! C’est l’amour!~ Ja, der Flehr ... übrigens etwas -deplaciert kam ich mir doch neben ihm vor, neulich im Konzert ... ja, -der Kantor hat auch gesagt: gelernt hätt’ die Lene wohl unglaublich -viel, aber das allein tät’s doch nicht.“ Ganz leise kicherte sie noch -einmal vor sich hin: „~C’est l’amour! C’est l’amour.~“ Und Helene -wurde rot wie ein junges Mädchen. -- -- -- - -Wilhelm schmiedete schon neue Geschäftspläne. Er wollte mit einem -Konsortium die Waffen der früheren hannöverschen und hessischen Truppen -kaufen. „Ich stehe in Unterhandlung mit chilenischen und argentinischen -Emissären -- für Südamerika sind die alten Flinten noch wunderbar -schön.“ Dabei rechnete er auf Heller und Pfennig heraus, daß er den -Seinen ein riesiges Vermögen bei dem Geschäft gewinnen müsse. „Sobald -ich entlassen bin, geh ich nach London, um abzuschließen!“ - -‚Arme Martha! Er ist und bleibt der unverbesserliche Phantast und -Optimist.‘ Aber wenn Helene ihm in sein schönes, immer heiteres Gesicht -sah, sein liebenswürdiges Lachen hörte, sagte sie sich wieder: ‚Bös -kann man ihm doch nicht sein. Auch Martha nicht, wenn sie auch manchmal -nicht leicht trägt. Im Grunde: die beiden passen trefflich zueinander.‘ - -Dann träumte sie weiter: ‚Wie werden wir beide wohl miteinander sein?‘ -Und sie preßte die Hände aneinander, als ob sie etwas recht, recht fest -halten wollte. - -Oft dachte sie zurück an ihr innerstes Erleben. Nichts hätte sie missen -mögen. Sie wußte nun: Durch Schmerz und Leid führte mein Weg zum Glück! -Und sie wußte auch: ein Schößling, der schnell aufschießt, hält der -Zeit selten stand; der langsam wachsende Baum aber wird stark und -kräftig. So war ihre Liebe -- -- -- - -Berlin rüstete sich zum Empfang der Sieger. - -Die Einzugsstraße Unter den Linden schmückten als schönste Zier die -zweihundertneun eroberten Geschütze, von Viktorien unterbrochen, die -auf goldenen Schildern die Namen der Schlachten und Gefechte trugen. -Viktorien leiteten zur Schloßbrücke. Auf dem Lustgarten erhob sich der -Altar mit der riesenhaften Borussia dahinter, umgeben von den Statuen -der Hohenzollernherrscher. Flatternde Fahnen, Girlanden, Blumenschmuck -allerorten -- - -Wilhelm hatte einige Fensterplätze im Zeughaus erhalten. - -Hier stand Helene und sah über die wogenden Massen hinüber, auf die -breite freie Straße, die die Sieger vom Brandenburger Tor her kommen -mußten. - -Von fernher klang der Jubel der Hunderttausende, kam näher, schwoll, -wie Sturmesbrausen. - -Der Zug nahte. Vorn die Generale, Bismarck und Moltke. - -Der König dann, mit ihm der Kronprinz, Prinz Friedrich Karl, die -Heerführer. - -Drüben am Palais nahm der König Aufstellung, um seine Tapferen an sich -vorüberziehen zu lassen. - -Hochaufgerichtet saß der Kriegsherr im Sattel. - -Und wie Helene ihn so sah, umbraust von Jubel, der sich immer und immer -erneute, der nicht enden wollte und nicht enden konnte, da tauchte noch -einmal ein seltsames Erinnerungsbild vor ihrer Seele auf. - -Vor vier Jahren hatte sie ihn zum ersten Male gesehen, den greisen -König, im Wagen, am Brandenburger Tor. Fast die einzige war sie -damals gewesen, die sich vor ihm zum Gruß beugte. Als ob er die Liebe -seines Volkes verloren hätte. Ernst hatte sein gütiges Auge über alle -hinweggesehen, ernst und milde. Ja, auch er hatte sich die Liebe -erobern müssen, in schwerem Ringen! Aber nun hielt er dort drüben, -bei seinem großen Ahn, Friedrich dem Einzigen, und ein dankbares Volk -jubelte ihm zu. Nun hatte er dieses Volkes Liebe für alle Zeiten -- - -Das Herz pochte, und in ihr war der große Jubel: Heil, König dir! - -Mit einem Male, plötzlich, war sie wieder ganz die Tochter des alten -Rittmeisters, die echte Märkerin, die leidenschaftliche Patriotin: -‚Heil, König dir!‘ - -Unten zogen die eroberten Fahnen durch die Ruhmesstraße. - -Dann folgten, im endlos langen Zuge, die siegreichen Truppen. Die -Musikchöre spielten. Immer aufs neue setzte der Jubel ein. Im -Feldanzug kamen die Regimenter, mit Blumen bekränzt die Gewehre, -die zerschossenen Helme. Im festen Tritt marschierten sie an dem -Kriegsherrn vorüber -- - -Und nun spähte Helene mit Falkenblick. Schon von weitem sah sie die -schwarzen Käppis der Schützen. Sah dann vor seinem Zuge ihn, Gaston. -Sah ihn vor dem Könige salutierend den Degen senken, sah, wie sein -Blick sich wandte, suchend, forschend, bis er sie fand. Und da erst -dachte sie daran, daß neben ihr ein alter Herr stand, mit dem Roten -Adlerorden im Aufschlag des schwarzen Rockes, ein alter Herr, der von -weither gekommen war, den Sohn an diesem Tage zu grüßen und dem König -sein „~Vive le roi!~“ zuzujubeln. Sie faßte seine Hand und sagte: -„Vater -- sieh -- Gaston --“ - -Unten zogen die Truppen weiter. Regiment auf Regiment, Schwadron auf -Schwadron, Batterie auf Batterie. Zogen über die Schloßbrücke zum -Altar, der zu Füßen der Borussia errichtet war. - -„Ein anderer wird morgen die Kompagnie zur Kaserne führen“, hatte -Gaston gestern geschrieben. Aus dem letzten Quartier. - -So wußte Helene, daß er kommen und sie finden würde. - -Sie trat zurück vom Fenster, aus der Enge der Zuschauer, in den Saal. -Niemand achtete auf sie. Unten zogen noch immer die Regimenter vorüber. -Triumphmusik klang herauf und der brausende Jubel der Menge. - -Sie wartete -- - -Und ihr Herz wurde weit. In ihr tönte der Text ihres Brautspruches -wieder, und es war wie ein glückseliger Sphärenklang ... „Und hättet -der Liebe nicht ...“ - -Am Eingang des Saales stand er, seine Augen suchten sie. - -Da ging sie ihm entgegen -- -- -- - - - ———————————————— - -*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUF MÄRKISCHER ERDE *** - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the -United States without permission and without paying copyright -royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part -of this license, apply to copying and distributing Project -Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm -concept and trademark. 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Hart was the originator of the Project -Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be -freely shared with anyone. For forty years, he produced and -distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of -volunteer support. - -Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed -editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in -the U.S. unless a copyright notice is included. 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms -of the Project Gutenberg License included with this eBook or online -at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. 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Typographische -Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute -nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original -unverändert. Fremdsprachliche und regional gefärbte Ausdrucksweisen -wurden unverändert übernommen.</p> - -<p class="p0">Die Buchversion wurde in Frakturschrift gesetzt; -Antiquaschrift wird hier <span class="antiqua">kursiv</span> -dargestellt. <span class="nohtml">Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten -Schriftart können die im Original <em class="gesperrt">gesperrt</em> -gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl -serifenlos als auch gesperrt erscheinen.</span></p> - -</div> - -<div class="titelei"> - -<p class="s2 center padtop3 break-before">Auf märkischer Erde</p> - -<p class="s3 center padtop1 mtop3 break-before"><i><span class="antiqua">HANNS -VON ZOBELTITZ</span></i></p> - -<hr class="r65" /> - -<h1> Auf märkischer Erde</h1> - -<p class="s3 center">Roman</p> - -<div class="figcenter illowe4" id="signet"> - <img class="w100 padtop5" src="images/signet.png" alt="Verlagssignet" /> -</div> - -<hr class="full" /> - -<p class="s3 center"><span class="antiqua">NEUFELD & HENIUS / VERLAG -/ BERLIN</span></p> - -<p class="center padtop5 break-before"><em class="gesperrt">Alle Rechte -vorbehalten</em></p> - -<p class="center"><span class="antiqua">Copyright 1910 by Egon Fleischel -& Co., Berlin</span></p> - -<p class="s5 center padtop5">Gedruckt bei A. Heine, G. m. b. H., -Gräfenhainichen</p> - -</div> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Erstes_Kapitel">Erstes Kapitel</h2> - -</div> - -<p class="p0"><span class="dc">D</span>ie Rackowschen waren soeben fortgefahren. Im großen Zimmer räumte -Helene mit dem Stubenmädchen den Kaffeetisch ab. Ihr feines Näschen -schnoberte, wie’s der Vater nannte, dem leisen, süßen Duft von Waffeln -und Pariser Parfüm nach, der noch im Raum lag. Immer hinterließ Tante -Marie diesen Veilchengeruch mit dem Moschusakzent, und immer rief er in -Helenens erregbarer Phantasie unklare Vorstellungen wach von unerhörtem -Luxus, von rauschenden Seidenkleidern, kostbaren indischen Schals, -koketten Kapotthütchen, von funkelnden Brillanten und Perlenreihen, -die sich um tiefentblößte weiße Nacken schmeichelten. Ganz merkwürdig: -immer war dann auch das Bild der schönen Kaiserin Eugenie da, von der -die Rackowschen vorhin wieder erzählt hatten. Tante Marie von ihrer -Anmut und Eleganz, von den Kleidern, die sie auf der Brunnenpromenade -in Ems getragen, und wie groß der Umfang ihrer Krinoline gewesen wäre; -Onkel Ernst mit zugespitzten dicken Lippen von ihrer Schönheit, ihrem -üppigen rotblonden Haar, ihrem blendenden Teint. Und daß und wie der -General Fleury immer um sie gewesen wäre. Da hatten die Herren gelacht, -aber Tante Marie und Martha hatten verstohlene Blicke gewechselt.</p> - -<p>Die Tassen klirrten leise unter ihren Händen. Sie fühlte, wie ihr das -Blut in die Wangen stieg.</p> - -<p>Der Rittmeister schritt schweigend auf dem hausgewirkten Läufer -entlang, der in der Diagonale des großen Zimmers<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> lag, von der -Korridortür bis zur Tür der Vorratskammer. Straff aufrecht ging er, -die Hände auf dem Rücken, den Kopf mit dem weißen, ein wenig gelockten -Haar etwas vorgebeugt, seine gewohnten zwölf Schrittchen hin, zwölf -Schrittchen zurück. Jedesmal, wenn er kehrt machte, sah er zärtlich -zu seinem Spätling hinüber. Aber seine Gedanken waren nicht um Helene -beschäftigt. Auch sie gingen nach Paris. Immer, wenn der Name Paris -fiel, dachte er an seine große Zeit zurück, an die Tage, an denen er -sich das Kreuz von Eisen gewonnen hatte, an seinen geliebten Marschall -Vorwärts und an den anderen Napoleon, den er heut noch haßte wie Anno -13. Ebenso haßte, wie er den Neffen verachtete, ihn und das ganze -Getriebe um ihn her. Ein ehrlicher und kritikloser Haß war’s, und eine -ehrliche und kritiklose Verachtung, ganz im altpreußischen Zuschnitt.</p> - -<p>An dem letzten der drei Fenster saß Mutter. Mutter — Omama genannt, -seit die Kinder von Bruder Wilhelm im Hause waren und heranwuchsen. -Selbst Helene vergaß sich manchmal und sagte Omama zu ihrer Mutter. Vor -dem birkenen Nähtisch saß sie und träumte mit ihren großen blauen Augen -ins Freie, in die grünen Fliederbüsche des Gartens hinaus. Die Hände im -Schoß und die Lippen in leiser, stummer Bewegung. Vielleicht skandierte -sie wieder einmal. Schrieb’s wohl auch am Abend heimlich auf und -legte es heimlich in das Glaskästchen mit den blauen Bändern, wo ihr -Allerheiligstes und Allerheimlichstes war, ihr Reliquienschrein. Der -alte Rittmeister nannte ihn spottend den Körnersarg. Denn ganz unten -lagen ein paar vertrocknete Veilchen, die der Sänger einst der Omama -verehrt hatte. Lang, lang war’s her, und aus der jungen Komteß Grucker -war ein verhutzeltes altes Frauchen geworden, aus der gefeierten -Schönheit, der reichen Erbin eine kleine, greise märkische Edelfrau. -Aber sie konnten’s beide nicht vergessen: Omama nicht die eine -Begegnung, die eine Stunde unter der Eiche im Park, und der Rittmeister -nicht seine rasende Eifersucht. Trotzdem die schleichende Zeit sonst so -vieles ertötet und begraben hatte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p> - -<p>Es war totenstill im großen Zimmer. Nur das Ticken der Kuckucksuhr -klang, und bisweilen schnappte Diana, die am Ofen lag, nach einer -verspäteten Fliege. Dann blitzte der alte Herr aus seinen scharfen -Augen mißbilligend hinüber und machte halblaut: Kusch. Gleich legte der -Köter gehorsam den feinen Kopf zwischen die Pfoten. Einen höllischen -Respekt hatten die Hunde. Der Rittmeister dressierte sie selber; noch -nach der alten Methode, mit Peitsche und Korallenhalsband.</p> - -<p>Der Kaffeetisch war längst abgeräumt. Das Mädchen hatte das Damasttuch -mit hinausgenommen, Helene breitete die braune Plüschdecke über den -Tisch. Wie immer verdroß sie dabei der große runde Fleck, auf dem am -Abend die Lampe stand. Sie strich von rechts drüber hin und von links. -Es half nichts. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. -Abgeschabt und ärmlich. Altmodisch und ärmlich. Wo sie auch hinsah, -alles im Zimmer abgeschabt, altmodisch und ärmlich. Die Tapete mit den -kleinen Vierecken und den bunten Sträußchen in jedem Quadrat voller -Flecken; der Sofateppich mit dem Rosenmuster dünn; die Zimmerdecke -grau verblakt; das eckige, steiflehnige Kanapee eingesessen. Und sie -dachte wieder an das elegante Rackow und an die elegante Tante Marie, -die so häßlich war wie die Nacht und doch alle Welt bezauberte, dachte -darüber hinaus wieder an Paris und an die Toiletten der Imperatrice, -an funkelnde Diamanten und an Perlenketten, die sich um tiefentblößte -weiße Nacken schmeichelten. Und an die Große Oper dachte sie, von der -die Rackower erzählt hatten. An die erste Aufführung des „Tannhäuser“, -der die im vorigen Jahr in Paris beigewohnt hatten, dachte sie, und was -das für eine kuriose Musik gewesen sein sollte, von einem Deutschen -namens Wagner, einem Revolutionsmann von 48 — und dann dachte sie an -die Desirée Artôt und an die kleine Pauline Lucca, die in Berlin seit -dem vorigen Jahr alle Herzen entflammte. Bruder Wilhelm konnte ja nicht -genug Wesens von ihr machen.</p> - -<p>Helene war an den Ofen getreten. Fast wie im Trotz<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> lehnte sie sich -fest an ihn und fühlte dabei, daß ihre Hände fiebrig heiß auf den -kalten Kacheln lagen.</p> - -<p>Immer noch machte Vater seinen eintönigen Marsch in der Diagonale. -Immer noch träumte Mutter zum Fenster hinaus. Immer noch — immer noch. -Die Luft war so drückend, und es schien, als senkte sich die graue -Zimmerdecke langsam immer tiefer.</p> - -<p>„Ich geh’ hinaus auf die Veranda“, sagte sie plötzlich scharf in die -Stille hinein. Und wunderte sich, daß sie’s überhaupt sagte.</p> - -<p>Der alte Rittmeister unterbrach seinen Marsch nicht, nickte nur, -lächelte ihr zu. Mutter sah flüchtig auf. „Nimm mein Tuch um, Lenchen. -Es wird schon kalt gegen Abend.“</p> - -<p>„Mich friert nicht. Ich geh’ zur Post mit den Jungens. Oder ich geh’ zu -Pastors.“</p> - -<p>Eigentlich hätte sie sagen mögen: ich geh’ in die weite Welt hinaus. -Und wußte doch, daß ihre Welt drüben an der neuen Chaussee, an der -schnurgeraden Pappelreihe ihr Ende hatte. Aber vielleicht sah, faßte -sie dort wirklich die Post, die von Frankfurt kam ... und hinter -Frankfurt lag Berlin ... zwei Stunden nur mit der Eisenbahn, und der -wundervolle köstliche Dampfwagen raste von Berlin weiter hinaus in die -Weite, in diese köstliche, wundervolle Weite ..</p> - -<p>Aber dann, als die schwere eichene Haustür hinter ihr ins Schloß -gefallen war, blieb sie doch auf der Veranda stehen.</p> - -<p>Denn da saß Martha, hatte eine gewaltige irdene Schüssel im Schoß und -schnipselte Bohnen. Fleißig wie immer. Grad daß sie über das bessere -Kleid, das sie den Rackowern zu Ehren in der Eile angetan, die große -Küchenschürze gebunden hatte.</p> - -<p>Als Helene sie so sah, wurde wieder etwas wie Trotz in ihr wach, eine -Auflehnung gegen das Bild der Alltäglichkeit. Sie fragte hastig: „Warum -quälst du dich selber, Martha? Laß das doch Mamsell machen.“ Und sie -wurde rot dabei, denn sie liebte die junge Schwägerin in ihrem heißen -Herzen, hegte eine unwillige Bewunderung für sie.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p> - -<p>Martha Hackentin sah nur einen Augenblick auf. „Ich kann doch nicht -müßig sein. Mamsell hat in der Leuteküche zu tun.“ Da lief Helene -zurück an den Schrank im Flur, holte sich ein Küchenmesser, zog sich -einen Stuhl heran und griff in die irdene Schüssel. Es ging ihr gut von -der Hand, wenn sie irgendeine Arbeit begann, aber sie hatte keinerlei -Neigung zur wirtschaftlichen Betätigung und erlahmte schnell.</p> - -<p>Auch jetzt lehnte sie sich bald zurück und sah der Schwägerin zu. Sah -auf den glatten dunklen Scheitel und die weiße, etwas niedrige Stirn, -die tief über das Gefäß gesenkt war. Sah auf die Hände, die, so gut sie -gehalten waren, die stark tätige Hausfrau verrieten.</p> - -<p>„Sehnst du dich nie nach der Stadt?“ fragte sie plötzlich.</p> - -<p>„Wie sollte ich, Helene? Ich bin ja gern in Rohlbeck. Ich bin doch -hier zu Hause.“ Martha hatte auf einen Moment die klaren grauen Augen -gehoben, hatte ein wenig mit dem Kopf geschüttelt: Helene tat oft gar -zu merkwürdige Fragen.</p> - -<p>„Nun ... du bist doch aus der Stadt. Du bist doch kein Landkind.“</p> - -<p>„Aber ich hab’ hier meine Heimat gefunden. Meine liebe zweite Heimat.“ -Sie schwieg einen Augenblick. „Ich hab’ meine Kinder hier und meine -Arbeit.“</p> - -<p>„Ja. Freilich! Arbeit hast du, von früh bis spät. Die erste im Hause -auf und die letzte in den Federn. Man müßte sich eigentlich schämen vor -dir. Man müßte —“</p> - -<p>„Du Närrin! Mir ist’s noch nie zu viel geworden.“</p> - -<p>Eine Weile war’s stille zwischen ihnen. Auch Helene hatte wieder in die -Schüssel gegriffen, aber sie zog die Bohnen nur spielend durch ihre -feingliedrigen langen Hände. Es war wieder, wie es oft war. Sie hätte -der Schwägerin nicht weh tun wollen — um alles in der Welt nicht. Aber -sie einmal ein wenig aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, an -ihrem ewig gleichen, schönen Maßhalten zu rütteln: das reizte sie wie -eine verbotene Frucht.</p> - -<p>„Wilhelm bleibt diesmal fürchterlich lange in Berlin.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span></p> - -<p>„Er muß wohl.“</p> - -<p>„Wenn ich an deiner Stelle wär’, Martha — ich stürbe vor Sehnsucht.“</p> - -<p>„Es stirbt sich nicht so leicht, du Kind.“</p> - -<p>Noch immer klang die Stimme gleich gelassen. Aber die Hände ruhten doch -auf eines Atemzugs Länge am Rande der Schlüssel, und die weiße, schmale -Stirn hatte sich noch ein wenig tiefer geneigt.</p> - -<p>„Du sagst das so: Wilhelm muß! Meine brüderliche Liebe hat an unserer -Öde hier nie besonderen Gout gefunden.“</p> - -<p>Diesmal sah Martha voll auf. Eine leichte Röte stieg in ihr weiches -Gesicht, flutete über den klaren Teint, der vielleicht das Schönste an -ihr war, und ebbte gleich wieder ab.</p> - -<p>„Das war nicht hübsch von dir, Helene“, sagte sie dann bestimmt. „Du -weißt es doch: die kleine Klitsche kann nicht zwei Familien ernähren, -und Wilhelm war nicht so ... nicht so vorsichtig, sich eine reiche Frau -zu nehmen. Da muß er eben Geld verdienen ... und hat’s gewiß dabei oft -schwer genug.“</p> - -<p>„Das elende Geld!“ rief Helene. „Das herrliche, das wunderherrliche -Geld. Ach Martha ... einmal so recht in Friedrichsdore wühlen können! -Scheffelweise möcht’ ich’s haben. So reich sein wie die Rackower, ein -großes, glänzendes Haus machen, reisen, die Welt sehen ...“</p> - -<p>„Und glaubst du, daß das glücklich macht?“</p> - -<p>„Ja! Ja! Mich gewiß. So wie ich nun mal bin. Sieh mich nur strafend an, -nenn’ mich nur schlecht! Ich kann mich nicht ändern. Ihr alle könnt -mich nicht ändern!“ Heiß hatte sie’s herausgestoßen, mit halblauter, -mühsam verhaltener Stimme. Den rostbraunen Haarschopf warf sie zurück, -strich sich mit beiden Händen über die Schläfen. Und dann kam gleich -der Rückschlag. Die Hände sanken in den Schoß. „Aber wir sind ja hier -alle arm wie die Kirchenmäuse. Die ganze Sippe: die Golziner, die -Steckschen, die Buckschen. Grad nur die Rackower machen eine<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> Ausnahme, -weil die Tante Marquise die Millionen hat. Sonst ... es ist ein Jammer -um den elenden märkischen Sand!“</p> - -<p>Martha war aufgestanden. Sie setzte die große Schüssel auf den eichenen -Tisch. Nun siegte der Unwille doch über ihre Gelassenheit. „Du bist -ein rechtes Kind, Helene“, sagte sie ziemlich scharf. „Schäm’ dich, -unsere liebe Scholle zu schelten. Die ist treu, wenn sie auch karg -sein mag. Und wir müssen Treue um Treue vergelten. Geh hinüber auf den -Kirchhof, schau’ dir die alten Gräber an. Da liegen deine Vorfahren, -Reihe um Reihe, seit dreihundert Jahren. Seit dreihundert Jahren hat -das gegolten: Treue um Treue. Daß dir das die Städterin sagen muß, dir, -Helene! Schäme dich!“</p> - -<p>Eine Sekunde stand Helene noch im Trotz. Dann flog sie der Schwägerin -jäh um den Hals und küßte sie rechts und links auf die Wangen. „Du -Gute! Du Liebe! Du Allerbeste ...“</p> - -<p>Da trat gerade der alte Herr aus der Haustür, und als er seinen -Spätling und die Schwiegertochter in der engen Umarmung sah, lachte er -froh: „So hab’ ich euch gern. Das heißt“ — er legte den gekrümmten -rechten Zeigefinger um den Nasenrücken — „das heißt ... die -Überschwenglichkeit stammt natürlich von der Helene. Hat sie von der -guten Mama. Die war auch so ... gleich aus dem Häuschen ... das heißt, -damals, als wir noch jung waren. Lieber Gott ... ja ... und ist das -heut nicht ein schöner Septemberabend?“</p> - -<p>Das letzte sagte er schon, sich umwendend, auf der Mitte der -tief ausgetretenen Treppenstufen, die von der Veranda in den -Garten hinabführten. Und ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er -weiter hinunter, den breiten sandigen Fahrweg entlang, der, von -sonnverbrannten kümmerlichen Rasenbeeten umsäumt, am Tore in den -Dorfanger mündete.</p> - -<p>Es war die Stunde, zu der er sich seit Jahrzehnten, Sommer und Winter, -dort am Torweg mit dem Pastor <span class="antiqua">loci</span><span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> traf. Das Wetter mußte schon -sehr schlecht sein, wenn der alte Rittmeister und Pastor Heckstein ihr -Rendezvous in die große Stube des Schlosses, wie das herrschaftliche -Haus trotz aller Einfachheit von alters her genannt wurde, oder in -das verräucherte Studierzimmer des Pfarrhauses verlegten. Wetterfeste -Greise, die sie waren. Dem Rittmeister verschlug’s nichts, mit seinen -fast siebzig Jahren bei strengster Kälte ein paar Kesseltreiben -mitzumachen, und Heckstein, der nur wenige Jahre jünger war, fuhr im -Winter regelmäßig im offenen Wägelchen ohne Pelz nach seinen beiden -Filialdörfern, Dommelt und Rackow, stand im dünnen Talar in der -ungeheizten Kirche auf der Kanzel und lachte nachher vor der Kirchtür -seinen anderen Freund und Patron Ernst Hackentin aus, wenn der -schimpfend die gewaltige Kugel seines Korpus in kostbaren Zobelpelz aus -dem gutsherrlichen Gestühl herausrollte.</p> - -<p>Auch heut kam er pünktlich des Wegs vom Pfarrhause her, der kleine -hagere Mann im schwarzen Düffelrock mit dem schwarzen breitkrämpigen -weichen Filzhut über dem scharfkantigen bartlosen Gesicht, aus dessen -brauner Lederhaut die großen Augen hell und gutmütig, aber auch eigen -lustig und listig herausleuchteten. Er stapfte mit gemächlichen -Schritten, hob hier seinen dicken Knotenstock drollig drohend gegen den -halbwüchsigen Christian Metzger, der in der letzten Konfirmandenstunde -gedöst haben mochte und nun schleunigst Reißaus nahm; blieb dort -stehen, um einer Gänseherde, die in wohlgeordneter Marschordnung -über den Anger zog, wohlgefällig nachzuschauen, und fragte die -Frau Kantorin, die am Zaun stand, wie ihre berühmten Gravensteiner -heuer zu geraten versprächen. Da gerade die hübsche Anna Flehr, die -Kantorstochter, am selbigen Zaun Maulaffen feilhielt, so kniff er ihr -im Vorübergehen fest in die runde, rosige Backe. Für ein hübsches -Menschenkind hatte er das gleiche Verständnis wie für einen guten -Apfel, wobei ihm aber ein frisches Mädel lieber war als ein Bube und -ein duftender Gravensteiner lieber als eine schrumpliche Reinette.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p> - -<p>Vor ihm her trottelte Waldmann, rastete, machte einen Bogen, lief -wieder ein Stückchen voraus, kam zurück, schlenkerte mit dem langen -Behang — kurz, benahm sich höchst willkürlich. Ganz im Gegensatz zur -Diana, die haarscharf hinter dem linken Fuß ihres gestrengen Herrn -blieb, mit der feinen Nase dicht an dessen grauem Beinkleid. Und die -grundsätzlich nie von dem pastoralen Dackel Notiz nahm.</p> - -<p>Schon von weitem grüßten sich die beiden alten Herren. Der Rittmeister -hob militärisch zwei Finger an sein Käppchen; der Pastor berührte -flüchtig die Hutkrempe.</p> - -<p>„N’Abend, Hackentin. Wie geht’s? Wie steht’s?“</p> - -<p>„N’Abend, Pastor. Alles gut zu Wege bei dir?“</p> - -<p>Sie nannten sich seit achtunddreißig Jahren du; seit Heckstein den -Wilhelm getauft hatte. Mit dem stand er nun auch schon zwölf Jahre -auf du und du, seit dem Tauftage seines Ältesten. Und dem hatte -Heckstein neulich mit einem freundschaftlichen Jagdhieb eröffnet: „Na, -Junker Hans, wenn ich deinen Erstgeborenen taufe, machen wir beide -Brüderschaft. Sput’ dich nur ’n bissel, daß ich nicht zu lange warten -brauch’.“</p> - -<p>Ein paar Augenblicke blieben die alten Freunde zwischen den Pfosten -des Torwegs stehen, zwei vierkantig behauenen, schwarzgeteerten -Eichenstämmen, jeder mit einer Vollkugel gekrönt, die gelegentlich auf -der Feldmark gefunden worden waren; Kantor Flehr, der ein Bücherwurm -war, hatte damals eine gelehrte Untersuchung angestellt, nach der sie -russischer Providenz sein sollten und aus den Julitagen 1759 stammten, -in denen General Wedel sich vor Soltykow über die Oder zurückziehen -mußte.</p> - -<p>Der Pastor sah auf die frische Radspur. „Die Rackower waren hier. Wie -waren sie denn, Hackentin?“</p> - -<p>„Ernst ist noch ’n bissel dicker geworden, denk’ ich. Das heißt -— wenn’s möglich ist. Mariechen war herablassend wie immer, ganz -Marquise, hatte ein Monstrum von Krinoline an, ein Kleid mit verrückt -vielen Volants und dazu einen neuen Sonnenschirm, blaue Seide mit -Spitzen, der wohl wieder die Weiber auf zehn Meilen im Umkreis<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> -verdreht machen wird. Das heißt — sie nannte das Ding natürlich nicht -Schirm, sondern <span class="antiqua">ombrelle</span>. Auf der Rechnung nimmt sich das -übrigens tout-egal aus, und bezahlt wird die doch sobald nicht.“</p> - -<p>Sie zwinkerten sich, verständnisvoll lächelnd, mit den Augen zu -und bogen in die Allee von hochstämmigen Kastanien ein, die sich -längs des Gartenzauns hinzog. Langsam, behaglich schritten sie -nebeneinander her; Diana immer mit der Nasenspitze am linken Bein des -Rittmeisters, Waldmann bald voraus, bald zurück, bald stehen bleibend -und die schlanke Engländerin mit klugen Augen, halb neidisch, halb -mißachtungsvoll anschauend.</p> - -<p>„Ja, und Ernst hat eine neue Delikatesse erfunden. <span class="antiqua">Crêpes à la -Suzette</span>, glaub’ ich, nennt er das Deubelszeug. Das heißt — es sind -Eierkuchen mit irgend ’ner Soße aus Likören, wenn ich recht verstanden -hab’. Du kannst dir ja das Rezept von ihm geben lassen. Die Pastorin -wird sich schon darauf verstehen.“</p> - -<p>„Nee, Hackentin. Ich bleibe bei Speckeierkuchen. Wenn’s dazu langt, -will ich schon froh sein. Denn was so unsere Bauern sind — du kennst -sie ja — wenn die uns die Eier abliefern, wundert sich meine Guste -immer, daß Hühner überhaupt so kleine Eier legen können. Was hat Ernst -denn sonst noch erzählt?“</p> - -<p>Der alte Rittmeister schnellte mit dem Fuß ein Steinchen zur Seite. -„Sie sind auf der Durchreise von Ems ein paar Tage in Berlin gewesen, -haben auch Wilhelm gesprochen, der wieder mal große Rosinen im Kopf -haben soll. Das heißt — von wegen der Eisenbahnkonzession — du -weißt ja. Die Rosinen kenne ich nachgerade, aber den Kuchen, in dem -sie gebacken werden sollen, den werd’ ich wohl nicht erleben. Na, ich -will mich nicht ärgern. Was Ernst sonst erzählte? Politik, Politik und -nochmal Politik. Unser herrlicher Landtag — daß ihn der Deibel hole — -treibt sein Spielchen weiter, Hohenlohe macht Bücklinge, und Majestät -können zusehen, ob schließlich ’n paar Kröten von der Kammer bewilligt -werden. Das heißt — wahrscheinlich<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> nicht mal das. Schlechte Zeiten, -Heckstein ... hundsmiserable Zeiten. Ein altes Preußenherz möcht’ sich -am liebsten umdrehen bei dem Skandal.“</p> - -<p>Oft zitierte der Pastor nicht Bibelworte. Die sparte er sich für -den Sonntag auf. Aber manchmal glitt ihm doch eins über die Lippen. -„Hoffnung läßt nicht zuschanden werden“, meinte er.</p> - -<p>„Jawohl, Heckstein, ich weiß. Steht Römer fünf. Aber im Hiob steht -auch: der Menschen Hoffnung ist verloren. Siehst du ... so steht’s -um meine Hoffnung. Das heißt — um die Armee geht’s, und wenn unser -Allergnädigster Herr nur wollte! Bloß dem Wrangel ’nen Wink geben, und -der fegte wie Anno achtundvierzig den ganzen liberalen Schwindel zum -Tempel raus. Gegen Demokraten helfen nur Soldaten. So aber frißt das -Geschwür weiter ... bis in unsere eigenen Familien hinein!“</p> - -<p>Das war ein Punkt, auf den der Pastor das Gespräch nur ungern -lossteuern sah. Denn das ging auf Fritz Hackentin, des Rittmeisters -Zweiten, der erst Leutnant bei den Franzern gewesen war, dann zur -Themis geschworen hatte und nun als Kreisrichter in Stellberg saß. Ein -guter Junge, aber ein unruhiger Kopf. Etwas unruhiges Blut hatten die -Rohlbecker Hackentine ja alle. Das kam von den Gruckers herüber, in -denen nun mal der romantische Zug lag. Wenn man so daran dachte: als -die alte Gnädige jung gewesen war, als sie noch vierelang fuhr und -selber kutschierte —</p> - -<p>Aber auf den Fritz durfte Hackentin nicht zu sprechen kommen. Das wurde -sonst ungemütlich, und dazu war der Abend zu schön.</p> - -<p>Zum Glück waren sie gerade unter der letzten Kastanie angelangt. Drüben -stand der Kantor in seiner Haustür, der lange Labammel, dürr wie die -endlose Pfeife, aus der er qualmte. Kaum, daß er sie aus den Zähnen -zog, um seinen Gruß anzubringen.</p> - -<p>„Na, Flehr, was macht der Bakel?“ rief Hackentin über die beiden Zäune -hinüber.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span></p> - -<p>„Danke, Herr Rittmeister. Wie das Sprichwort sagt: Wer den Stock -fürchtet, kann nur mit dem Stock regiert werden. Man braucht ihn eben.“</p> - -<p>„Ja, Kantor, vielleicht waren’s bessere Zeiten, als man ihn mehr -brauchte. Das heißt — nicht bloß in der Schulstube.“</p> - -<p>„Ich weiß nicht, Herr Rittmeister, ob das bessere Zeiten waren.“</p> - -<p>„Vielleicht erfahren Sie’s noch.“ Hackentin wandte sich. Halblaut, -etwas unwirsch meinte er zu seinem alten Freunde: „Der ist auch schon -angesteckt, liest mit dem Grunowschen Müller zusammen die ‚Tribüne‘. Du -solltest ihm mal feste den Daumen aufs Auge drücken, Heckstein —“</p> - -<p>„Er ist nicht der Schlechteste. Seine Bengels hält er stramm in -Ordnung, mit und ohne Rohrstöckchen, je nachdem. Sie lernen bei ihm -gerade richtig: nicht zu viel und nicht zu wenig. Und solchen Chor in -der Kirche, wie er ihn zurechtgebracht hat, wirst du im ganzen Kreise -vergeblich suchen. Von der Musika versteht er was. ‚Meine Hochachtung‘, -würde dein Schwager Grucker sagen. Na, und was die politische Gesinnung -anbetrifft, ... du kennst ja meine Ansicht: das kommt und geht. Wenn -wir ein paar Jährchen weiter sind mit Gottes Hilfe, lachen wir beide -wohl über die Aufregung von heute. Denn, weißt du, im Grunde ist alles, -was brandenburgisch ist, doch loyal bis auf die Knochen.“</p> - -<p>Der Alte grollte: „Das haben wir achtundvierzig gesehn ...“</p> - -<p>„Ach was! Was war denn da außer Berlin los? Berlin aber ist gar -nicht brandenburgisch, wenn’s auch zufällig mitten in unserer lieben -Sandstreubüchse liegt. Berlin ist Berlin. Da muß immer gestänkert -werden. Aber sonst? Der Flehr da ist typisch. Mal gelegentlich ’n -bissel das Maul vollnehmen, mal recht klug schnacken, mal sich recht -gebildet fühlen und mal recht schön liberal wählen, wenn’s hoch kommt. -Mehr aber nicht.“</p> - -<p>„Ist gerade genug. Order muß pariert werden.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span></p> - -<p>„Wird auch ... Da kommt ja die Lene. He, Leneken, wohin denn so eilig?“</p> - -<p>Mit ihren schnellen Schritten kam sie vom Schlosse her. Einen Hut -hatte sie nicht aufgesetzt; in der leisen Dämmerung, die schon -anhob, spielten ihre Haarwellen ins Goldig-Rote. Ein Tuch hatte sie -umgenommen; fest lag das dünne Gewebe um die Schultern, umspannte knapp -die jugendliche Büste und war hinten in der Taille zusammengeknotet.</p> - -<p>„Ich will der Post auflauern, Onkel Pastor.“</p> - -<p>„Denkst wohl, der Schwager Postillion bringt dir’n Schatz mit, Lene?“</p> - -<p>„Der könnte mir grad’ fehlen, Onkel Pastor. Willst du — Waldmann, du -Frechdachs! Sieh dir mal Diana an, wie die artig ist.“</p> - -<p>„Im Pfarrhaus gibt’s frischen Pflaumenkuchen, Leneken.“</p> - -<p>„Ich hasch’ mir beim Zurückkommen ein Stück.“</p> - -<p>Sie nickte dem Vater zu, sie winkte von weitem zum Kantor hinüber und -huschte weiter, durch das Tor, den Anger entlang.</p> - -<p>Die beiden Alten sahen ihr wohlgefällig nach. Es war immer, als -schwebte sie über dem Boden. Ganz eigen zierlich setzte sie unter -dem weitbauschigen Rock, der grad nur die modische Krinolinenform -andeutete, die Füßchen. Schuster Freyer in Logow war sonst kein Held in -seinem Fach, aber für das gnädige Fräulein auf Rohlbeck tat er immer -sein Bestes.</p> - -<p>„Ein Mordsmädel, deine Lene!“ meinte der Pastor schmunzelnd.</p> - -<p>Der Rittmeister nickte. „Ein gutes Kind. Das heißt — es ist noch -junger Most. Das gärt und gärt und will manchmal überschäumen. Man muß -die Lene ein bißchen straff im Zügel halten.“</p> - -<p>Heckstein lächelte verstohlen. Er wußte am besten, daß die Kinder im -Schloß nie recht im Zügel gehalten worden waren. Nicht gleichmäßig -wenigstens. Mal hatten die Zügel am Boden geschleift, mal waren sie -wieder gewaltsam angezogen worden; und wenn Hackentin am rechten<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> -Zügelende zog, zerrte die alte Gnädige vielleicht gerade am linken. -Aber das tat am Ende nicht viel. Es war ein guter Kern in den Kindern.</p> - -<p>Wie er das überdachte, während sie langsam wieder unter dem grünen -Dach der Kastanien hinschlenderten, fiel ihm ein, daß die Gelegenheit -vielleicht günstig wäre, für den Kantor noch ein gutes Wort einzulegen.</p> - -<p>„Sieh mal, Hackentin,“ begann er aufs neue, „da hast du eben auf den -Flehr geschimpft. Hast aber ganz vergessen, was der Mann sich für eine -Mühe mit der Lene gegeben hat und noch gibt. Ich meine von wegen ihres -Gesanges.“</p> - -<p>„Wird ihm doch auch bezahlt.“</p> - -<p>„Na hör’ mal: die paar Dittchen für die Stunde! Du kannst froh sein, -daß wir solch einen musikalischen Kantor hier haben, der dafür sorgt, -daß Lenes schöne Stimme nicht verkommt. Aber neulich hat er mir selber -gestanden, daß er am Rande seiner Kunst ist.“</p> - -<p>„Jawohl — jawohl — ich weiß schon. Das heißt — daß Lene in die Stadt -müsse, einen anderen, besseren Lehrer bekommen. Die Litanei hat er mir -auch schon vorgebetet. Unsinn, Pastor. Dazu langt’s nicht mehr. Und ich -will auch nicht. Will nicht, daß der Lene alle möglichen Fladusen in -den Kopf gesetzt werden. Damit darfst du mir nicht kommen ...“</p> - -<p>Der Rittmeister rückte sein Käppchen plötzlich ganz weit nach rückwärts -auf die weißen lockigen Nackenhaare, wandte sich kurz um, und da Diana -der Kehrtwendung nicht schnell genug folgte, vielmehr mit fragendem -Blick aufsah, kriegte sie einen sanften Hieb —</p> - -<p>„Und im übrigen ist der Kantor doch ein Demokrat.“</p> - -<p>Helene war indessen den Dorfanger entlang gegangen, hatte ein paar -Worte mit der Frau Kantorin gewechselt, die immer aussah wie ein -scheues, in der Gefangenschaft gehaltenes Reh, wenn jemand vom -Schloß sie ansprach, und die um so scheuer und demütiger wurde, je -freundlicher die<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> Worte waren, die man an sie richtete. Dann hatte -Lene bei Meister Winkel, dem lobesamen Schneider des Dorfes und dessen -Krämer, eine Bestellung der Schwägerin ausgerichtet, die sich auf -ein Paar Hosen ihres Neffen Hans bezog, und dann war sie am Kirchhof -ein paar Augenblicke stehengeblieben. Da lag, seitlich der kleinen -Backsteinkirche, die noch immer des richtigen Geläuts entbehrte, -weil weder Patron noch Gemeinde die Mittel aufbrachten, das alte -Erbbegräbnis. Es mochte noch in besseren Zeiten gebaut sein, vor -hundert oder hundertfünfzig Jahren vielleicht: die eisenbeschlagene Tür -war sogar von ein paar Säulen eingerahmt, wirklichen Sandsteinsäulen, -mit einem Giebelchen darüber, in dem das Hackentinsche Wappen mit den -drei Hecken als Sandsteinrelief eingelassen war. Aber der Zahn der -Zeit hatte den Bau angefressen. Die Säulen waren zermürbt, das Wappen -war kaum noch erkennbar, das Ziegeldach schadhaft — gut, daß der -dicht wuchernde Efeu das Schlimmste zudeckte. Das Erbbegräbnis hatte -auch schon lange nicht mehr zugereicht; links und rechts daneben lagen -Hackentinsche Gräber. Schlichte Gräber, die sich wenig von denen der -wohlhabenden Bauern unterschieden. Höchstens, daß sie ein wenig mehr -gepflegt waren, und auch das nur, weil die junge Gnädige eine besondere -Vorliebe für den Kirchhof hatte.</p> - -<p>Ein paar Minuten stand Helene am Zaun. Ihr lagen Marthas Worte im Sinn -von der Treue um Treue. Die hatten sie vorhin gepackt und klangen noch -in ihr nach. Aber wie sie so auf die Gräber sah, über denen sich zwei -große Maulbeerbäume mit weitgespannten Ästen breiteten, die noch auf -des großen Friedrichs Befehl gepflanzt worden waren, fing sie plötzlich -an zu frösteln.</p> - -<p>Neulich in Rackow hatte sie in einem Bande Gedichte geblättert. -Eigentlich nur, weil Tante Marie so viel Wesens von dem großen -Franzosen Victor Hugo machte. Jetzt fiel ihr mit einem Male ein Satz -daraus ein: „<span class="antiqua">Gloire, jeunesse, orgueil, biens que la tombe -emporte ...</span>“</p> - -<p>Ruhm und Jugend und Stolz —</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span></p> - -<p>Nein! Nein! Für sie hatten die Gräber nichts Erhebendes! Sie konnte -sich nur vor ihnen fürchten. Wie Moderluft wehte es aus ihnen. Ein -Schauer überrann sie. Und sie zog das dünne Tuch fester um die -Schultern und eilte rasch weiter, am Krug vorüber und an der Schmiede, -der neuen Chaussee zu, die dicht am Dorfausgang die schmale Wintze -überbrückte.</p> - -<p>Da stand schon der Doktor Hemming mit den beiden Junkern. Oder vielmehr -er stand, seitlich der Brücke, an eine dicke Weide gelehnt und himmelte -über das Stoppelfeld zum Horizont hinüber. Die Jungens aber saßen -auf der Steinbrüstung der Brücke; der langaufgeschossene Hans schien -es seinem Hauslehrer nachmachen zu wollen, er starrte träumend mit -gesenktem Kopf auf das rinnende Wasser, während Thede — Theodor — -irgendeine Bohnenstange aufgegabelt hatte, die dreimal so lang war wie -der Knirps, und mit ihr ebenso kräftig wie zwecklos in den zerwühlten -Uferrändern umherstakte. Vielleicht dachte er in seiner wallenden -Phantasie, auf diese bequeme Art ein paar der berühmten Wintze-Krebse -zu fangen und Mutter in die Küche liefern zu können.</p> - -<p>Alle drei achteten nicht auf die Nahende. Und Helene war das ganz -recht. Denn der Hauslehrer mit seinen wasserblauen Schmachtaugen -langweilte sie immer; außerdem konnte sie ihn nicht leiden, weil er -immer ja sagte, auch wenn ihm der Widerspruch auf der sommersprossigen -Stirn geschrieben stand. Und die Jungens — die Jungens waren eben -dumme Gören mit hundert unnützen Fragen, dazu mit unfehlbar schmutzigen -Pfoten, die überall hinklatschten, wo sie nichts zu suchen hatten.</p> - -<p>Aber das war es nicht allein. Die Equipage, die vor dem Kruge hielt und -augenscheinlich auch auf die Post wartete, beschäftigte ihre Gedanken. -Sie hatte die Rackower Schimmel sofort erkannt und den dicken Jochen, -den zweiten Herrschaftskutscher. Es war überhaupt zweite Garnitur, -Wagen, Pferde und Kutscher. Wen ließen die Rackower nur abholen? Sie -hatten ja nichts davon erzählt, daß sie<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> einen Gast erwarteten. Aber -sie hatten freilich fast immer Gäste im Haus. Ob es jemand von den -Leibern aus Frankfurt a. O. war? Einer von den jagdlustigen Herren -vom Leibregiment, der noch ein paar Rebhühner knallen wollte? Oder -ein Ulan aus Züllichau? Oder kam nur Onkel Artenau aus Stellberg, um -der Marquise seine neueste Pracht- und Prunkstickerei vorzuführen? -Pfui Spinne ... solch ein Mann, der sich Königlich Preußischer Major -schimpfen ließ, und den halben Tag am Stickrahmen saß wie eine alte -Jungfer.</p> - -<p>Mit einem Male hatte Junker Thede doch die Tante erspäht. Er schmiß -die Bohnenstange ins Wasser, daß es hoch aufspritzte, schwang seine -kurzen Beinchen mit einem Wuppdich über die Brüstung, stieß ein -Indianergeheul aus, kam im Galopp angejagt und — richtig — da wollten -auch schon seine Pfoten mit den Farbenklexen von Tinte, Flußmoder und -Tuschkastenresten an ihren Rock aus geblümter Indienne. „Tante Lene, -Tante Lene, weißt du schon das Allerneueste?“</p> - -<p>„Finger weg, Thede! Himmel, wie der Junge wieder aussieht!?“ Und da -gerade Doktor Hemming sich umschaute, den Strohhut, den er immer bis -in den November hinein trug, lüftete und anstatt auf den harmlosen -Horizont zu ihr himmelte, mochte der auch gleich sein Teil abbekommen. -„Nein, wie Sie den Bengel mit solchen Händen herumlaufen lassen -können?! Unsere Ferkelchen sind ja reinlicher als er.“ Und dann kam -doch die Neugier ihrer jungen Jahre: „Das Allerneueste? Na, das wird -wieder mal was Feines sein?“</p> - -<p>„Ein Russe kommt nach Rackow. Ein wirklicher, leibhaftiger Russe.“</p> - -<p>„Woher hast du denn dein großes Wissen, Thede?“</p> - -<p>„Na ... von dem Rackower Jochen ... natürlich.“</p> - -<p>Inzwischen hatte auch der Hans sich von der Brückenmauer herabbequemt. -Im Vollgefühl seiner höheren Weisheit höhnte er: „Ja — und Thede -stellt sich den Russen mit<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> einer Bärenfellmütze und einem <em class="gesperrt">so</em> -langen Bart vor. So wie er in der Fibel abgemalt ist.“</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Der Russe lebt in Eis und Schnee,</div> - <div class="verse indent0">Säuft vielen Schnaps und noch mehr Tee,“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>gab der Hauslehrer einen Fibelvers eigener Erfindung zum besten -und wartete, ob sein Witzchen nicht ein Lächeln auf dem schönen -Mädchengesicht heraufzaubern würde.</p> - -<p>Aber er wartete vergeblich. „Ach Unsinn —“ meinte Helene nur und -schlenderte langsam über die Brücke auf die Chaussee. Ach Unsinn — -sagte sie, und doch beschäftigte sie der Russe gewaltig. Ein Russe, ein -leibhaftiger Moskowiter! Wo den die Rackower nur aufgegabelt hatten? -Und warum die heut nachmittag nichts von ihm erzählt hatten? Gewiß, -weil er wieder einmal eine Überraschung für den ganzen Kreis sein -sollte. Sicher irgendein Großfürst oder einer der millionenschweren -Bojaren. Oder mindestens ein Diplomat. Aber dann hätten sie doch nicht -die zweite Garnitur, Pferde, Wagen und Jochen, zum Abholen geschickt ...</p> - -<p>Da kam sie aber wirklich, die Post.</p> - -<p>Auf dem Stellberger Berge, wo sich die Chaussee in den Wald verlor, -wirbelte eine kleine Staubwolke auf, wälzte sich näher und näher den -Hang hinunter. Bald wurden dahinter, in kleinen Abständen, noch zwei -Wölkchen sichtbar — die Beichaisen. Der Verkehr von Frankfurt a. O. -nach Posen mußte lebhaft sein, jetzt im Frühherbst.</p> - -<p>Nun unterschied man schon Wagen und Pferde. Und als die Hauptpost -draußen an der Schneidemühle vorüberrollte, setzte der Postillion sein -Horn an die Lippen. Es klang deutlich, getragen und langsam, herüber:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt’ ich auf mein Grab,</div> - <div class="verse indent0">Da kam ein stolzer Reiter und brach sie ab ...“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Der Hauslehrer stand wieder neben Helene. Er fühlte das -unwiderstehliche Bedürfnis, geistreich und sinnig zu sein: „Wie lange -noch, und wir hören den guten Schwager zum letzten Male. Wenn der Herr -Baron erst die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen bauen wird, verödet -die Chaussee,<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> und dann heißt es auch für Rohlbeck, was der Dichter -Scherenberg klagt:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Mit Totenschnelle geht es fort,</div> - <div class="verse indent0">Kein Schwager knallt hinein,</div> - <div class="verse indent0">Kein Wegesgruß, kein schelmisch Wort,</div> - <div class="verse indent0">Kein Posthorn weckt den müden Ort</div> - <div class="verse indent0">Und klingt zum Träumen ein.</div> - <div class="verse indent0">O Eisenbahn, was bist du kommen,</div> - <div class="verse indent0">Hast unser Posthorn uns genommen!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Ich denke, Sie wollen ein Mann des Fortschritts sein, Herr Doktor?“ -warf Helene schnippisch ein.</p> - -<p>„Am rechten Ort, gnädiges Fräulein. Immer am rechten Ort. Aber die -Poesie darf darüber nicht verkümmern. Hören Sie doch nur: ‚Ach -Reitersmann, ach Reitersmann, laß doch die Lilien stehn. Sie soll ja -mein fein’s Liebchen noch einmal sehn ...‘ Ist das nicht schön? ... -‚Dann begraben mich die Leute ums Morgen ... rot ...‘“</p> - -<p>„Schade nur, Herr Doktor, daß der Postillion so schauderhaft falsch -bläst —“ meinte sie spitz und ärgerte sich, daß sie es sagte. Denn -eigentlich hatte der Postillion gar nicht falsch geblasen, und sie -selber lauschte solchem Volkslied über alle Welt gern. Und sie -dachte daran, wie sie bisweilen in dem stillen Abendfrieden ins Feld -hinausgewandert war, ganz allein, sich auf einen Grenzstein gesetzt -hatte, den Kopf in beide Hände vergraben, um dem Klang des Posthorns zu -lauschen, der ihr immer wie ein Gruß aus weiter, weiter Welt erschien.</p> - -<p>Doch da hielt schon die Hauptpost dicht an der Brücke.</p> - -<p>Die beiden Junker stürmten mit Geheul voran; teils, um die lederne -Posttasche aufzufangen, die der Schwager im kunstvollen Bogen vom -hohen Bock herabschleuderte; teils, um den erwarteten „Moskowiter“ mit -eigenen Augen zu schauen.</p> - -<p>Recht enttäuscht waren sie. Denn der Herr, der ausstieg, hatte gar -nichts Besonderes an sich. In ihren Augen zumal.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p> - -<p>Es war ein schlanker, junger Mann in grauem Reiseanzug, der lange -Rock eng in der Taille, die Pantalons sehr weit. Das brünette Gesicht -bildhübsch, etwas scharf und ganz glatt rasiert. Auf dem braunen Haar -trug er einen gewaltigen Kalabreser, und um seinen hohen Kragen war -kunstvoll eine bunte Krawatte geschlungen, in der ein großer Brillant -funkelte.</p> - -<p>Als er ausgestiegen war und die kleine Gruppe — Helene, Doktor Hemming -und die beiden Junker — sah, stutzte er und zog den Hut. Aber Helene -fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß, ärgerte sich wieder und -machte kehrt. So mochte der Fremde merken, daß die junge Dame ihn -nicht erwartete. Und da kam auch schon Jochen, meldete sich, wies auf -seinen Wagen und half den Koffer aus dem hinteren Verschlag der Post -herausheben. Es mußte sehr schnell gehen, denn der Kutscher der ersten -Beichaise drängte und drohte weiterzufahren.</p> - -<p>„Habt ihr die Posttasche?“ fragte Hemming. „Nun denn — marsch! -Großvater wartet.“ Und er ging den Jungens, die um ihr Leben gern sich -den Koffer des Fremden noch näher angesehen hätten, voraus, um Helene -einzuholen. Aber sie hatte sich beeilt, und er wollte nicht auffällig -hasten. So kam er erst dicht vor dem herrschaftlichen Tor wieder an -ihre Seite, und im gleichen Augenblick überholte sie auch die Rackower -Equipage. Der „Russe“ saß weit zurückgelehnt, in etwas theatralischer -Pose, die Beine vorgestreckt, im Fond und lüftete noch einmal mit einer -gewissen Grandezza seinen Heckerhut.</p> - -<p>Der Doktor grüßte zurück, während Helene den Nacken straffte. Sie sagte -sogar: „Warum grüßen Sie denn?“</p> - -<p>„Aber ... der Herr ist doch Gast der Rackower Herrschaften. Ich kann -doch nicht unhöflich sein.“</p> - -<p>„Ich weiß nicht, wie der Mann dazu kommt, mich zu grüßen. Er ist mir -doch nicht vorgestellt.“</p> - -<p>Sie fühlte selbst, daß sie ungerecht und unlogisch war. Man nahm es -sonst auf dem Lande nicht so genau. Es war aber etwas wie das Gefühl -in ihr: du mußt dich<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> wehren! Ohne daß sie recht wußte, weshalb und -wogegen. Sie war jäh aus dem Gleichgewicht geworfen. Am liebsten hätte -sie sich mit Herrn Hemming gezankt, nur um eine Ablenkung zu finden. -Sie spitzte schon das Mäulchen, um ihm irgendeine Sottise zu sagen. -Doch dann besann sie sich: es lohnte nicht. Es blieb immer einseitig, -das Streiten mit diesem weichen Menschen, diesem Ja- und Amensager, -dieser Qualle, die auswich, sobald man fest zugriff.</p> - -<p>So faßte sie lieber die Jungens, die herangekommen waren, an den -Achseln, Hans rechts, Thede links, und jagte mit ihnen den Weg entlang, -daß die Posttasche am langen Lederriemen sich wie eine Sturmfahne um -ihre Köpfe schwang. Jagte die Verandatreppe hinauf, durch den dunklen -Flur in die große Stube, warf die Tasche auf den Tisch: „Da habt ihr -sie —“</p> - -<p>Mutter saß noch immer an ihrem Traumfenster, schrak aber auf: „Kind, -Helene, wie kann man so laut sein. So laut und so wild.“ Vater stand am -Ofen, kramte in der Tasche nach dem Brillenfutteral: „Steck’ die Lampe -an, Lene.“</p> - -<p>Wie alle Abend, wenn die Dämmerung heranschlich. Und wie alle Abend -stand nun schon die große, hohe Moderateurlampe mitten auf dem -Tisch, auf dem runden, abgeschabten Fleck der braunen Plüschdecke. -Wie alle Abend pumpte Helene das Öl auf, horchte auf das leise -„Gluck-Gluck-Gluck“, nahm Glocke und Zylinder ab, strich mit ihren -hastenden Händen ein Vierteldutzend Schwefelhölzer vergeblich auf dem -scharfgeritzten Deckel des Porzellanbehälters an, bis endlich eins -zündete.</p> - -<p>Mit einem Male war plötzlich in ihr alle Aufregung erloschen. -Gluck-Gluck-Gluck machte das Öl in der Lampe, und ihr klang’s wie: alle -Abend — alle Abend — alle Abend ...</p> - -<p>Nun leuchtete die Lampe auf, warf ihren milden Lichtkreis gerade über -den runden Tisch, indes das übrige Zimmer in der Dämmerung blieb. Vater -holte vom<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> Schreibtisch den kleinen Schlüssel, schloß die Posttasche -auf, wie alle Abend. Und wie alle Abend sammelte sich um den Tisch für -das große Ereignis das ganze Haus. Mutter kam von ihrem Traumplatz, -Martha kam; der Hauslehrer war plötzlich da, und die Jungens boxten und -knufften sich schweigend am Ofen. Wie alle Abend. Vater faßte tief in -die Tasche hinein, legte den kleinen Pack Briefe und Zeitungen sorgsam -vor sich hin, setzte umständlich die Brille auf und begann zu sortieren.</p> - -<p>„Da, Herr Doktor —“ Das war auch derselbe Ton und dieselbe Bewegung -an jedem Abend, ein widerwilliger Ton und ein verächtliches Schnippsen -der Finger, die dem Hauslehrer seine Zeitung hinüberschnellten. Die -Volkszeitung! Jeden Abend aufs neue empörte sich der alte Herr darüber, -daß in seinem Hause dies verfl— Demokratenblatt gehalten werden durfte.</p> - -<p>„Da, liebe Martha ... von Wilhelm ...“</p> - -<p>Ein paar Briefe, die schon äußerlich einen geschäftlichen Charakter -zeigten, den blauen Firmenstempel etwa von Moses Conitzer in Stellberg, -schob er zur Seite. Dann endlich setzte er sich und faltete fast -feierlich die Kreuzzeitung auseinander. Und regelmäßig sagte dabei -Mutter aus ihrem hochlehnigen Ohrenstuhl heraus: „Hackentin, mir die -Familiennachrichten.“</p> - -<p>Eigentlich gab er nur sehr ungern ein Stück Zeitung ab, ehe er sie -selber, langsam und gewissenhaft, von Anfang bis zu Ende studiert -hatte. Wenn sie keine Beilage brachte, knurrte er wohl auch ein -langgezogenes ‚Neee ... nachher ...‘ oder er lachte: ‚Erfährst schon -noch früh genug, wer wieder mal in die Mariage geraten ist oder wer’n -Kind gekriegt hat.‘ Heut gab es eine Beilage: „Da ... Elisabeth ...“</p> - -<p>Und dann wurde es still im Bannkreis der Lampe, an der Runde des großen -Tisches.</p> - -<p>Der Rittmeister und Hemming entfalteten ihre Zeitungen; Martha las, -Zeile für Zeile, den Brief ihres Mannes; die alte Gnädige vertiefte -sich in die Familiennachrichten; die<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> beiden Jungens wußten, daß sie -das Maul und die streitbaren Hände stille zu halten hatten, holten ihre -Lieblingsschmöker, Hans einen Band der Beckerschen Weltgeschichte, -Thede sein „Gumal und Lina“, und steckten die Nasen hinein.</p> - -<p>Ganz stille war’s, bis auf das Knistern des Papiers.</p> - -<p>Der Stuhl zwischen Martha und Mutter blieb leer — Helenens Stuhl. Sie -stickte sonst um diese Stunde oder häkelte Frivolitäten. Heut mochte -sie’s nicht. Auf leisen Sohlen schlich sie ins dunkle Nebenzimmer, -setzte sich an den geöffneten Flügel und träumte vor sich hin.</p> - -<p>Manchmal glitt ihre Linke über die Klaviatur, ohne daß sie eine Taste -niederdrückte ... manchmal zitterte wohl auch ein ganz leiser Klang aus -den Saiten, ein Hauch nur.</p> - -<p>Von links her kam dann und wann ein gedämpftes Tellerklirren. Auguste -deckte im Saal den Abendtisch. Und mitten in ihre Träumerei hinein -dachte Helene: ‚Was es wohl geben wird? Speckbratkartoffeln natürlich -und saure Milch ...‘</p> - -<p>Langsam kroch drüben über den Wiesen der Mond hinauf. Jetzt legte sich -ein Streif blauweißes Licht über das Fensterbrett, nun zog er schon bis -zum Flügelende hin.</p> - -<p>Einmal sagte Mutter: „Da zeigt Graf Schulenburg von den Alexandern -seine Verlobung an ... mit der Witwe seines Bruders ... Meta, geborene -Freiin von Eckardstein. Er lag mal ein Manöver hier. Eckardstein ... -Eckardstein? Das ist ganz junger Adel ... nicht wahr, Karl?“</p> - -<p>„Natürlich, Elisabeth ... das heißt, vom Alten Fritz her, glaub ich, -oder so ... Aber nun laßt mich zufrieden mit Hinz und Kunz. Da soll man -noch Sinn dafür haben ... schlechte Zeiten ... Schandzeiten ...“</p> - -<p>‚Was er wohl antworten wird?‘ dachte Helene. ‚Ja bei den Zeiten. Was, -Herr Doktor, bewegte Zeiten ... sagen ... selbstverständlich. Die -Qualle hat grad noch den Mut, sich ihre liberale Zeitung zu halten. -Weiter langt’s nicht.‘</p> - -<p>Richtig ...</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span></p> - -<p>„Jawohl, Herr Rittmeister, bewegte Zeiten.“</p> - -<p>„<em class="gesperrt">Schand</em>zeiten, sag’ ich Ihnen, Doktor. Da haben wir’s: in der -Schlußsitzung des Abgeordnetenhauses der Militäretat abgelehnt — das -heißt, grad noch zehn Abgeordnete haben dafür gestimmt!“</p> - -<p>Helene interessierte die Politik gar nicht. Langweilte sie geradezu. -Knapp, daß sie wußte, wie nun schon zwei Jahre oder darüber der Streit -um die Armee zwischen Landtag und König sich hinzog, daß sich der -Konflikt immer schärfer und schärfer zuspitzte. Merkwürdig, wie sich -die Männer über solche Dinge ereifern konnten. Vater nun gar. Manchmal -bebte seine gute alte Stimme förmlich vor Erregung, wenn er von den -verfl— Demokraten sprach, die alles besser wissen wollten.</p> - -<p>„So ... so ... das sind doch noch brave Leute. Vorgestern war eine -Deputation aus dem Kreise Bromberg beim König auf Schloß Babelsberg, -um Majestät ihre Ergebenheit und die Stimmung des Kreises zugunsten -der Militär-Reorganisation auszusprechen. Der Treskow auf Grocholin -... übrigens ein Treskow ohne c ... hm ..., der Pfarrer Ehrlich auf -Groß-Murzyno, der Lehrer Stieff aus Raczkowerdorf ... Also auch mal ’n -Lehrer ... merkwürdig ...“</p> - -<p>Das war wieder eine Spitze. Aber die Qualle regte sich nicht.</p> - -<p>Es wurde wieder ganz stille.</p> - -<p>Plötzlich fragte Vater: „Na, Doktor, was meint denn Ihr Blättchen? Das -heißt — eigentlich gelüstet es mich nicht nach der Weisheit.“</p> - -<p>„Es ist wohl noch alles unentschieden, Herr Rittmeister.“ Wie das Gluck -... Gluck in der Lampe kam es heraus. „Das Ministerium wird wohl gehen -müssen.“</p> - -<p>„So ... meinen Sie? Auf das Ministerium kommt’s übrigens spottwenig an. -Das heißt: in Preußen muß der König regieren. Punktum.“</p> - -<p>Wieder las Vater. Die Zeitung knisterte und knisterte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span></p> - -<p>Einmal sprach Martha mit ihrer sanften Stimme: „Wilhelm kommt am -Sonntag.“ Es klang so viel Glück aus dem Wort und frohe Erwartung. Aber -es achtete niemand darauf, nur gerade daß die Jungens aufschauten. In -deren Augen war ja doch die Neugier: was bringt Papa uns mit?</p> - -<p>Mit einem Male schlug Vater mit der flachen Hand auf das Papier. -Und seine Stimme bebte wieder. „Da haben wir’s. Hört mal. Hier, -ganz versteckt, steht es: ‚Der bisherige Gesandte am französischen -Hofe, Herr von Bismarck-Schönhausen, ist gestern abend von des -Königs Majestät zum Staatsminister und interimistischen Vorsitzenden -des Staatsministeriums ernannt worden.‘ Das heißt also: Da haben -wir den Mann des königlichen Vertrauens. Bismarck-Schönhausen ... -Bismarck-Schönhausen ... war der nicht Gesandter in Petersburg, -Elisabeth?“</p> - -<p>„Ja, ich glaube ... warte einmal ... er hat eine Puttkamer zur Frau ... -ich entsinne mich ... von den pommerschen Puttkamers ... Viertlum oder -so hieß das Gut.“</p> - -<p>„So ... so! Was du nicht immer alles weißt.“</p> - -<p>Vater war ganz aufgeregt. Als sich Helene umwandte, sah sie, daß er -aufgestanden war und schneller als sonst seinen Lieblingsgang auf dem -Läufer in der Diagonale des Zimmers machte. Alle Augenblicke erschien -seine Silhouette vor dem hellen Türrahmen. Die Zeitung flatterte in -seiner Hand, und er sprach in abgerissenen Worten, halb für sich, -halb für die anderen: „Bismarck ... Bismarck-Schönhausen. Das muß der -Bismarck sein, der Anno achtundvierzig den Demokraten ordentlich die -Wahrheit gezeigt hat. Das heißt: im Vereinigten Landtag ... damals. So -... und ’n Puttkamer aus Viertlum. Hm ... das heißt: eigentlich mag ich -diese Herrschaften da nicht, die Blankenburgs und Theddens, die mit -dem lieben Gott immer ’n Privatabkommen haben wollen, fast wie Tante -Marianne ... ja ... aber wackere, feste Leute sind’s schon, loyal bis -in die Knochen, als ob’s Märker wären, die<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> Pommern. Ja ... und was -sagen Sie nun eigentlich dazu, Doktor?“</p> - -<p>Ganz leise stand Helene auf. Das mußte sie sehen, was die Qualle für -ein Gesicht machen würde.</p> - -<p>Aber sie kam nicht auf ihre Rechnung. Der Hauslehrer schien aus allen -Wolken gefallen. Er sah aus seiner Zeitung hoch, mit himmelnden Augen:</p> - -<p>„Verzeihung, Herr Rittmeister, ich habe hier gerade eine Rezension -gelesen ... über ein paar neue Stücke im Wallnertheater. ‚Verplefft‘ -von Herrn von Moser ... es soll sehr amüsant gewesen sein.“</p> - -<p>„Herr von Moser?“ sagte Mama sofort dazwischen. „Das ist auch ein -früherer Offizier. Bei den Gardeschützen stand er, den Neuchatellern. -Wer jetzt nicht alles schreibt?“</p> - -<p>Vater sah erst den Doktor, dann Mutter an, schüttelte den Kopf und -lachte. Lachte, daß die Stube dröhnte.</p> - -<p>„Na, wenn’s wahr ist und Sie haben gar nicht zugehört, Herr Doktor ... -dann ist’s schon ’ne kuriose Geschichte. Wozu halten Sie sich denn -justement das Blatt? Das heißt: wenn Sie so wenig Interesse für die -Politik haben? Kreuzdonnerwetter ...“</p> - -<p>Da ging zum Glück die Tür zum Saal. Auguste kam herein, gluckste: „Es -ist angerichtet.“ Ein Duft nach gebratenem Speck umwehte sie. Natürlich -... es gab wieder Speckbratkartoffeln und saure Milch ... wie an jedem -Abend. Saure Milch mit Torf, dachte Helene und sah schon im Geiste -die Schüssel vor sich, mit dem geriebenen Schwarzbrot, das sie „Torf“ -nannten, schüttelte sich und hatte den Herrn von Bismarck-Schönhausen -vergessen samt der ganzen Politik.</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Zweites_Kapitel">Zweites Kapitel</h2> - -</div> - -<p>In Stellberg war Herbstmarkt.</p> - -<p>Es war eigentlich nicht viel los. Nur die Pferdejuden hatten zu -tun. Mancher Bauer schlug jetzt billig einen<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> Gaul los, den er zur -Winterbestellung nicht mehr zu brauchen meinte und nicht bis zum -Frühjahr durchfuttern wollte. Vor dem „König von Preußen“ trottelte -alle Augenblick eine Schindmähre, am Halfter geführt, in mehr oder -minder widerwilligem Trab vorbei, und Moritz Cohn aus Ziebingen, -Hartwig Kantorowicz aus Meseritz, Ephraim Hentschel aus Zielenzig -standen in ihren langen, dunklen Kaftanen, den hohen, glänzend -gewichsten Stiefeln, unter der Mütze die Löckchen über die Schläfen -fallend, dabei und machten die Gäule herunter. Bis dann der eine oder -der andere doch den Bauer in die Schankstube winkte.</p> - -<p>Auf dem Marktplatz waren in zwei Reihen die Buden aufgeschlagen, Zelt- -und Bretterwerk. Kleinkram lag darin, Schnittwaren, Hausgerät, allerlei -Tand. Von den Stangen wehten die bunten Taschentücher, die der Bauer -liebt, mit schönen Bildern darauf: das Königspaar, die Krönung, auch -noch die Völkerschlacht bei Leipzig. Dicke wollene, blaue und rote -Unterröcke baumelten daneben und weiße Schürzen. In der einen Bude -gab’s Peitschen aller Art und Regenschirme, in der nächsten lockten die -neuesten Bilderbogen von Gustav Kühn aus Neu-Ruppin. Die schönste Bude -aber hatte Tante Hufnagel, die dicke Konditorsfrau. Sie hatte auch den -meisten Zulauf. Mit ihren zwei Mamsellen stand sie hinter dem langen -Tisch, und sie lächelten alle drei so süß, wie ihre Ware war: Berge von -Streuselkuchen und Brezeln, Düten mit Bonbons, vor allem jedoch Stöße -von Pfefferkuchen; die „Mehlweißchen“ von Tante Hufnagel waren berühmt -bis über Frankfurt hinaus, und auf den Lebkuchenkerzen hatte keine -Konkurrenz so schöne Verslein wie sie.</p> - -<p>Das große, immer umlagerte Konditorzelt stand gerade gegenüber der -Apotheke „Zum Mohren“.</p> - -<p>Auch in der Apotheke gab’s heute mächtig viel Arbeit. Die Gelegenheit -des Marktes mußte benutzt werden, allerlei Bedarf an Medizin für Mensch -und Vieh einzukaufen. Außerdem war der humpelnde Provisor ein halber -oder drei Viertel Doktor, nur daß er seine Verordnungen ohne<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> Rezept -und umsonst lieferte, sogar mit einem derben Witzlein dazu. Auch gab es -in der Apotheke manche schöne Dinge, die nicht zur Heilkunst gehörten, -aber in hohem Ansehen standen: allerlei Wohlriechendes, Lederzucker, -buntschillernde süße Magenmorsaille mit merkwürdig viel Gewürzen, -und vor allem einen Apothekerschnaps, bitter wie Galle, scharf wie -Schwefelsäure und wärmend wie ein gutgeheizter Kachelofen — einen -herrlichen Apothekerschnaps, der „Doktor“ hieß, aber ein Dutzend -Doktoren wert war und doch nur einen Silbergroschen kostete.</p> - -<p>Der Provisor Dingeldey hatte an solchen großen Tagen alle Hände voll -zu tun. Denn sein Chef, Herr Herr, war durch andere Obliegenheiten -vollauf in Anspruch genommen. Höchstens, daß er mal ein eiliges Rezept -zusammenbrauen half, was selten genug vorkam, denn an Markttagen -verschrieb Doktor Tiburtius wenig oder gar nichts. Da saß der auch an -dem großen braunen Tisch im Nebenzimmer der Offizin und trank seinen -gezehrten Oberungar, den er für das bekömmlichste Getränk der Welt -erklärte. Er trank ihn — und nicht zu knapp. Wie eine ungeheure -Koralle stand ihm die Nase im Gesicht, und zweimal im Jahr hatte er -das Zipperlein. Das merkten jedesmal seine Patienten im ganzen Kreise -am eignen Leibe: denn in diesen schlimmen Perioden verordnete er fast -ausschließlich Rizinusöl, abwechselnd mit Kurella. Über Land fahren, -zu seinen Kranken, konnte er freilich nicht, wenn er die Füße in den -dicksten Strümpfen immer am Ofen halten mußte. So beschränkte er -sich darauf, die Mägen auszufegen, wie er es nannte. Und gerade in -diesen Zeiten, hieß es, machte er die glänzendsten Kuren. Wenn er dann -wieder gesund war, half er mit Grobheit nach. Er konnte furchtbar grob -sein, der Doktor Tiburtius. Bei den Bauern hielt er’s für geradezu -unentbehrlich; auf den Gutshöfen war er nur wenig höflicher.</p> - -<p>Herr Apotheker Herr persönlich widmete sich an den Markttagen fast -ausschließlich den Gästen im Nebenzimmer der Offizin. Er wäre sehr -entrüstet gewesen, wenn ihm jemand<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> gesagt hätte, er unterhielte da -eine Weinstube. Empört wäre er gewesen, wenn jemand geäußert hätte, -er bediente seine Gäste. Die Tatsache stand trotzdem fest, daß man im -braunen Zimmer Getränke erhielt, die nicht aus der lateinischen Küche -stammten. Man mußte freilich zu den Honoratioren zählen, man durfte -auch nicht bezahlen. Aber die Eingeweihten wußten, daß jede Flasche -unweigerlich einen Taler kostete, nur der Champagner — Grüneberger -Landkarte war’s von Foerster & Grempler und trug auf der Etikette einen -Plan der gesegneten Gemarkung — nur die Pulle Champagner kostete -zwei Taler. Den Obolus legte man beim Abschied schweigend auf den -Tabakskasten am Fenster; vergaß es einmal ein Gast, so kam’s auf die -Jahresrechnung der Apotheke. Im übrigen wurde Herr Herr durchaus als -Herr behandelt. Er saß mitten unter seinen Gästen, wenn er nicht gerade -unterwegs war nach dem Keller, und wenn er besonders gut aufgelegt -war, so pfiff er ihnen etwas vor. In der ganzen Provinz Brandenburg -einschließlich Berlin pfiff anerkanntermaßen niemand so künstlerisch -schön als Herr Herr.</p> - -<p>Es war noch früh am Tage, gegen elf Uhr, und die Tafelrunde noch klein. -Obenan saß der Doktor Tiburtius vor seinem Oberungar. Neben ihm links -der Kreisrichter, Fritz von Hackentin und der Herr des Hauses bei -einer Flasche Pontac; ihnen gegenüber Major a. D. von Artenau, ein -Hüne von Gestalt mit einem riesigen Schnauzbart und buschigen grauen -Brauen über den vom ewigen Sticken entzündeten Augen. Er hatte noch -um kein Getränk gebeten, wartete vielmehr auf einen Partner für eine -„Landkarte“ oder noch lieber für ein kleines Böwlchen; denn abgesehen -von seiner grandiosen Stickkunst war er auch der anerkannte Meister im -Bowlenbrauen.</p> - -<p>Das Gespräch ging langsam. Der Doktor schimpfte auf den Schäfer Knorr -in Lobitten, der wieder einmal gegen Gesetz und Kleiderordnung einem -alten Weibe das ausgefallene Schultergelenk eingerenkt hätte, und -auf die Themis mit den verbundenen Augen, die die allerdummsten und<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> -allertollsten Kurpfuschereien dulde, wobei der Kreisrichter einen -bitterbösen Seitenblick abbekam.</p> - -<p>Fritz Hackentin hörte sich das lächelnd an. Er hielt die schlanke -rechte Hand um sein Glas gelegt, drehte es langsam hin und her, hatte -sein gewöhnliches ironisches Zwinkern um die klugen grauen Augen und -empfand ein kleines Vergnügen darüber, wie der Doktor sich mehr und -mehr in die Wut hineinsteigerte. Und erst als der schließlich mit -einem „Himmelkreuzdonnerwetter, wozu hat unsereiner denn eigentlich -studiert!“ schloß, fragte er trocken: „Ja, hat Meister Knorr denn das -Gelenk wirklich wieder in Ordnung gebracht?“</p> - -<p>„Was geht denn in drei Deibels Namen mich das an? Ob die olle Gillerten -ein Krüppel bleibt oder nicht! Verdient hätte sie’s schon. Was, Herr -Herr, hab’ ich recht?“</p> - -<p>„Hat der Schäfer Geld für die Kur genommen?“</p> - -<p>„Den Geier wird er getan haben. Dazu sind die Kanaille viel zu schlau. -Das wird gelegentlich auf andere Weise abgemacht. Heimlich und -heimtückisch.“</p> - -<p>„Ja, lieber Doktor, wenn der Mann sich nicht hat bezahlen lassen, dann -kann die Justiz auch nichts machen.“</p> - -<p>„Das ist eben der Skandal. Aber ich faß den Knorr schon noch. Der Kerl -muß sitzen! Der Kerl muß ...“</p> - -<p>Weiter kam er nicht. Denn Artenau hatte den Hals gereckt, rief -dazwischen: „Da kommt der Conte aus Sodelzig ...“ und sie sahen alle -auf.</p> - -<p>Das Gespann des Grafen Grucker war auch sehenswert. Vor dem Wagen zwei -edle Pferde, wie immer naß und mit Schaumflocken übersät, denn der alte -Graf fuhr wie ein Toller; das Geschirr arg desolat, hier und dort mit -Stricken und Bindfaden geflickt; der Wagen selber aber, die im ganzen -Kreise berühmte „Wurst“, bestand aus nicht viel mehr als aus einem -langen gepolsterten Brett, das über die Achsen gelegt war. Im Reitsitz -saß der Graf darauf, und ganz hinten hockte in einer Art Korb der -Kutscher.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span></p> - -<p>Man hörte schon von der Straße aus die dröhnende Stimme: „Meine -Hochachtung! Daß du mir die Schinder ordentlich abreibst!“</p> - -<p>Dann klang’s aus der Offizin: „Meine Hochachtung! Na, Herr Provisor, -erst mal’n Doktor. Aberst gut vermengeliert. So, danke —“</p> - -<p>Dann flog die Tür auf, und der untersetzte starke Mann krachte ins -Zimmer: „Meine Hochachtung! Da wär’n wer ja. ’n Tag allinsgesamt. -Artenau, ich seh’s dir an deiner schönen Nasenspitze an, du hast -auf mich gewartet. Also mansch uns man ’n Röhrenwasser. Puh —“ und -er setzte sich auf einen Stuhl, daß es krachte, reichte jedem über -den Tisch die Rechte hin und drückte die verschiedenen Hände, bis -die Besitzer „au“ sagten. Mit der Linken aber krabbelte er aus der -Joppentasche ein halbes Dutzend Zigarren heraus, lang, dick und schwarz -wie die Nacht, legte sie vor sich auf den Tisch, zündete sich die erste -an und meinte, „Kindersch, ich muß euch ’ne Geschichte erzählen.“</p> - -<p>„Nämlich, wie ich zum Frühjahrsmarkt hier nach Stellberg fahre, sagt -die Gräfin: ‚Otto,‘ sagt sie, ‚du mußt so gut sein und die Mamsell -mitnehmen.‘ ‚Wozu denn?‘ frag ich. ‚Sie muß Geschirr für die Leutküche -kaufen.‘ Also Mamsell wird auf die Wurst gepackt, hinten auf ’n -Kutschersitz, und der Karl muß hinter mir reiten. Man soll ja nun mal -den Weibern nichts abschlagen. Alles geht auch ganz gut, bloß daß der -Artenau da ’ne recht längliche Bowle gebraut hatte und wir längelicht -hier sitzen blieben. Um dreie läßt die Mamsell gehorsamst fragen, ob -der Herr Graf nicht bald abführe, und um viere läßt sie wieder fragen. -Da kann doch der geduldigste Mensch ein Wüterich werden. Aber ich bin -ganz stille, und Abend gegen neune fahren wir wirklich los. Wie der -Hausknecht vom ‚König von Preußen‘ am Wagen leuchtet, seh ich die -Mamsell mit ’nem großen Korbe auf dem jungfräulichen Schoß und mit -großen, dicken Tränen auf den Backen. Pimperlings rennen die runter. -Ich kann alles, aber heulen kann ich<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> nicht sehen. Warum heult das -Frauenzimmer: bloß weil sie ’n paar Stündeken hat warten müssen. Als -ob ich im Leben nicht schon manchmal viel länger hätt warten müssen, -wenn <span class="antiqua">par exemple</span> zum Beispiel die Gräfin nicht mit der Toilette -fertig wurde. Na also, ich denke: das Heulen mußt du der Mamsell -abgewöhnen. Fahr also drauflos, gleich furioso über das Pflaster, und -das Frauenzimmer schreit, als ob es am Spieße steckt. Dann das Stück -Chaussee und dann ... na, ihr kennt ja den Waldweg über Ebersvorwerk, -schön ist er nicht. Und die Mamsell schreit und schreit. Laß sie man -schreien, denk ich, sie sitzt ja dahinten wie in Abrahams Schoß. Sie -wird schon stille werden. Wird sie auch, so etwa von Doberow an. Mal -dreh ich mich um. ‚Mamsellken‘, ruf ich. Keine Antwort. ‚Karl, ist -denn Mamsell noch da?‘ ‚Jawohl, Herr Jraf.‘ Na also. Ich fahr also -wieder zu, nicht schlecht, die Füchse hatten lange gestanden. Da sind -wir denn endlich. Ich steig ab, die Mamsell steigt ab. Nicht ’ne Träne -mehr, aber ’n Gesicht, wie siebzehn Tage Regenwetter. Kein Ton. Aber -wie ich frag: ‚Na, Mamsellken?‘ da reißt sie ’s Tuch vom Korb und weist -so mit der Hand darauf hin, als wie wenn sie sagen möchte: Da hast du -die Bescherung! ’s waren nämlich man bloß noch Scherben drin, blaue, -braune, graue und weiße, keiner größer wie ’n Dalerstück. Und wie ich -lache: ‚Mamsellken, lassen Sie das man nich die Frau Gräfin sehen, daß -Sie so schlecht verpackt haben‘, da schmeißt sie mir den ganzen Zauber -vor die Beine: ‚Un zu Johanni zieh ick, Herr Jraf!‘“</p> - -<p>Er lachte, daß die Wände dröhnten, und alle lachten mit, so ansteckend -war dies tiefe Lachen aus voller Brust. Man mußte immer mit ihm lachen, -wenn auch seine Geschichten selten eine richtige Pointe hatten. Er -lachte selber, bis er nicht mehr konnte. Dann zog er ein rotseidenes -Taschentuch, so groß, daß man damit den halben Tisch hätte zudecken -können, und wischte sich die Augen aus. „Na, Artenau, du alter -Stickereimajor, biste fertig? Laß mal schmecken. Heut wird aber nich so -lange gepichelt. Ich<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> wollte eigentlich nur den Rittmeister sprechen. -Kommt Vater nicht, Fritze?“</p> - -<p>„Ich denk doch, Onkel Grucker. Wilhelm ist in Rohlbeck und wollte mit -Papa kommen.“</p> - -<p>„So, der Wilhelm. Na, der wird uns wohl die Eisenbahn in der Tasche -mitbringen. Ich pfeife übrigens auf die Eisenbahn, mir ist meine -Wurscht lieber.“</p> - -<p>„Ich pfeife auch auf die Eisenbahn“, warf Doktor Tiburtius dazwischen. -„Stellberg kriegt ja doch keinen Bahnhof, und dann sitzen wir ganz in -der Bredouille. Das bißchen Verkehr, was wir hier haben, geht auch -noch in die Wicken. Die Chaussee ja: die war gut. Aber die Eisenbahn? -Das ist man dummes Zeug. Ist gar kein Bedarf dazu da. Zwischen Berlin -und Hamburg, oder zwischen Berlin und Leipzig und so, das laß ich mir -gefallen. Aber bei uns? Na, Ihrem Bruder Wilhelm mag sie schon helfen, -Herr von Hackentin, uns hilft sie sicher nichts — die Eisenbahn!“</p> - -<p>Der Kreisrichter hatte wieder sein überlegenes ironisches Lächeln. -„Gegen einen Kulturfortschritt soll man sich nie sträuben.“</p> - -<p>„Laß uns bloß mit deiner Kultur und dem Fortschritt zufrieden, -mein Junge“, rief der Graf. „Wir haben schon genug Kultur, und den -sogenannten Fortschritt hab ich noch von achtundvierzig her im Magen. -Aber ich will mich nicht ärgern. Und da hätten wir ja übrigens den -Rackower ... meine Hochachtung, wen bringt denn der mit?“</p> - -<p>Vor der Tür hielt der Rackower Viererzug. Rappen, in glänzender -Kondition mit Silbergeschirren; ein elegantes Coupé dahinter.</p> - -<p>„Meine Hochachtung, Dicker!“ schrie Grucker dem Eintretenden entgegen.</p> - -<p>„<span class="antiqua">Bonjour, messieurs!</span>“ Ernst Hackentin machte eine seriöse -Handbewegung „Erlauben Sie ... gestattet, daß ich unseren lieben Gast -vorstelle, Herr Alfred Schwarz, Kaiserlich Russischer Hofopernsänger.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span></p> - -<p>Man rückte zusammen. Unwillkürlich schob man sich immer zusammen, -sobald der Rackower an einem Tisch erschien; auch dann, wenn mehr als -genügend Raum vorhanden war. Er war wirklich übermenschlich dick, der -kleine Mann. Eine Fettkugel war er mit ganz kurzen Beinchen und ganz -kurzen Armen; der Kopf darüber glich einer zweiten Kugel; glattrasiert, -bartlos, mit einer ungeheuerlichen Glatze, die nur im Nacken ein -schmaler, graumelierter Haarkranz abschloß; im faltenlosen Gesicht lag -stets ein Zug ungemessenster Sorglosigkeit, schrankenlosen Behagens, -und dazu blitzten und blinkerten die kleinen Augen wohlwollend und -listig zugleich.</p> - -<p>Schwer ließ er sich nieder. In gemessenem Abstand von der Tischkante, -die ja nicht, wie an der Rackower Tafel, den im ganzen Kreis bekannten -ovalen Ausschnitt trug.</p> - -<p>„Hier, mein lieber Schwarz, hier, bitte ...“ Er nannte die Namen. -„Mein verehrter Herr Herr, dürfen wir uns bei Ihnen zu einer Flasche -Pontac invitieren? Vielleicht ein wenig temperiert, wenn es Ihnen keine -besondere Mühe macht. Wie geht es der verehrten Gräfin, lieber Grucker? -Ah ... gut ... freut mich riesig. Danke, Marie ist auch gut zu Wege. -Famöses Herbstwetter, nicht wahr? Ich bin sehr froh, daß es unser -lieber Gast so gut trifft.“</p> - -<p>Der Rackower sprach mit ganz sanftem Tonfall, deutlich akzentuiert, -aber leise. Immer, auch bei Nichtigkeiten, als wenn ihm ungeheuer daran -läge, zu überzeugen. Grucker nannte seine Art zu reden manchmal den -Hofpredigerton. Er sprach auch gern und langatmig, mit ausgesuchter -Höflichkeit, in jeder Einzelwendung. Dazwischen mußte seine silberne -Schnupftabakdose, mit dem Namenszug in farbigen Steinen auf dem Deckel, -die Runde machen, wenn es irgend anging.</p> - -<p>Sonst fesselte seine Redegabe meist auch die Widerstrebenden. Er hatte -ja immer den Sack voll Neuigkeiten, schon aus den Pariser Zeitungen, -die er sich hielt. Aber heut konzentrierte sich das Interesse doch mehr -auf seinen Gast als auf ihn. Ein russischer Hofopernsänger? Etwas<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> -noch nicht Dagewesenes im Kreise. Erstens schon an sich: ein Sänger. -Zweitens: ein Opernsänger. Drittens: ein russischer! Warum den die -Rackower eingeladen hatten? Doppelt merkwürdig, weil Marie Hackentin -sonst ja immer die Exklusive markierte. Denn auch ein Hofopernsänger -blieb doch immerhin ein Komödiant.</p> - -<p>Herr Alfred Schwarz saß zwischen den Herren wie ein Mann, der gewohnt -ist, das allgemeine Interesse zu erregen. Schweigsam zuerst, aber -mit dem Ausdruck artigsten Zuhörens in dem jugendlichen schönen -Gesicht. Dann allmählich auftauend, weltgewandt in das allgemeine -Gespräch eingreifend, jede Frage mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit -beantwortend. Er saß in sehr legerer Haltung, die schlanken Beine -übereinander geschlagen, so daß auf dem einen Fuß das Streifchen eines -seidenen Strumpfes sichtbar wurde, und drehte sich aus dem Etui, das -auf seinem Schoß lag, eine Zigarette nach der anderen.</p> - -<p>Grucker, der leidenschaftliche Kettenraucher, schnoperte eine ganze -Weile nach dem starken süßen Duft, bis er fragte: „Schmeckt denn das -Deubelszeug eigentlich?“</p> - -<p>„Wollen Sie nicht einmal selbst versuchen, Herr Graf?“ Die flinken, -schlanken Hände hatten sofort eine Papyros gedreht. „Bitte, wollen Sie -hier anfeuchten ...“</p> - -<p>„Lecken soll ich?“ Alle lachten, denn Grucker machte die Sache mit -seiner dicken, schweren Zunge möglichst ungeschickt. Die erste -Zigarette zerkrümelte, mit der zweiten ging es besser, und dann -schmunzelte der Konte: „Weiß Gott, nicht übel, so zwischen durch. Ein -famöser Tabak das muß ihm der Neid lassen.“</p> - -<p>„Die Großfürstin Maria Constantinowna hatte die Gnade, mir ein paar -Pfund zu senden.“</p> - -<p>„Sie waren lange in Petersburg?“ fragte Fritz Hackentin über den Tisch -herüber.</p> - -<p>„Vier Saisons. Ich kam ein Jahr nach der Beendigung des Krimkrieges an -die Newa.“</p> - -<p>„Schlimme Tage für Rußland —“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span></p> - -<p>„Bah! Man merkte davon in Petersburg wenig. Der Russe trägt nicht -schwer. Das Land mochte erschöpft sein, aber es war doch durch die -Lieferungen sehr viel Geld verdient worden, und der Rubel rollte. Wir -hatten fast immer das Haus zum Brechen voll.“</p> - -<p>Artenau war längst fasziniert von dem auffallend schönen Brillanten, -den der Sänger in der Krawatte trug. Schließlich zwang er sich nicht -länger, beugte sich weit vor und meinte mit seiner stockenden Stimme: -„Sie haben da einen wunderschönen Solitär ...“</p> - -<p>„Seine Majestät der Zar ließen mir die Nadel nach einer Vorstellung -des „Fra Diavolo“ überreichen. Übrigens —“ er lachte gleichmütig — -„nachträglich hab ich erfahren, daß Seine Majestät mir einen weit -kostbareren Stein bestimmt hatten. Aber das geht in Rußland nun einmal -so: auf dem Wege von Seiner Majestät bis zu mir wurde der Brillant -immer kleiner.“</p> - -<p>„Schweinebande!“ rief Doktor Tiburtius dazwischen. „An den Galgen -sollte die Gesellschaft.“</p> - -<p>„Es ist in der Welt nicht anders. Die kleinen Diebe hängt man, die -großen läßt man laufen.“</p> - -<p>„Oho! Oho, Herr Schwarz! Bei uns ist’s doch anders. In Preußen gibt’s -noch Richter. Bei uns gilt gleiches Recht für jedermann, und wenn -wir auf etwas stolz sein dürfen, dann ist’s die Ehrlichkeit unserer -gesamten Beamtenschaft.“</p> - -<p>Der Sänger verbeugte sich verbindlich: „Ich bin ja selber preußischer -Untertan, wenn auch aus einem entlegenen Winkel des Königreichs.“</p> - -<p>„Nämlich, wenn man fragen darf?“</p> - -<p>„Ich bin dicht an der französischen Grenze geboren, in einem kleinen -Ort nahe Saarbrücken.“</p> - -<p>Plötzlich fuhr Graf Grucker in die Höhe: „Die Rohlbecker! Und die Lene -ist auch mit. Donnerwetter, da muß ich doch ...“ Er stülpte seine Kappe -auf und hastete zur Tür hinaus.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p> - -<p>Draußen half Wilhelm Hackentin seinem Vater aus dem Wagen.</p> - -<p>Vater und Sohn waren sehr verschieden. Wilhelm überragte den -Rittmeister fast um Haupteslänge, und sein Gesicht zeigte nicht die -Hackentinschen Züge, sondern die Gruckerschen, mit dem ausgeprägten -Kinn, der kühn geschwungenen Nase. Er hieß nicht umsonst der „schöne“ -Wilhelm. Und man sah ihm an, er hielt auf sein Äußeres. Während der -Vater einen grauen, ausgedienten Flausrock trug, war er sehr elegant -und sehr geschmackvoll gekleidet, in einem langen hellen Redingote, -unter dem weite, gestreifte Beinkleider mit breiten, schwarzen Galons -hervorsahen; und während der Rittmeister Handschuhe grundsätzlich -verschmähte, außer beim Kirchgang, deckten seine auffallend kleinen -Hände weiche gelbe Lederhandschuhe; der alte Herr trug eine Jagdkappe, -abgetragen wie sein Überrock, der Sohn eine seidene schwarze Reisemütze -von fast kokettem Schnitt.</p> - -<p>„Meine Hochachtung!“ rief der Graf schon auf der obersten Stufe zur -Apothekentür, und dann hatte er den Rittmeister umhalst und küßte -ihn schallend erst auf die rechte, dann auf die linke Backe. „Tag, -Schwager. Tag, Wilhelm!“ Auch der bekam seine Küsse, und dann hob -Grucker die Nichte mit seinen mächtigen Armen aus dem Wagen, schwenkte -sie einmal im Kreis, daß die Röcke flogen, setzte sie nieder, und -gleich hatte auch sie ihr Teil: diesmal aber traf’s nicht die Wangen, -sondern die Lippen. Lene hielt übrigens ganz stille. Hätte sich ja auch -nicht rühren können, so fest hielt der Onkel. Wollte sich auch nicht -rühren: denn Onkel Grucker war eben Onkel Grucker. Und ihr Pate dazu.</p> - -<p>Er schnalzte mit der Zunge und lachte: „Meine Hochachtung! Geht man -hinein und sorgt, daß mir der Artenau das Röhrenwasser nicht aussauft. -Ich muß mit der Lene erst ... na, Puttchen, he? — was müssen wir denn?“</p> - -<p>Sie hatte bei ihm schon eingehakt: „... zu Tante Hufnagel gehen ...“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span></p> - -<p>„Na natürlich. Und wenn’s ’n Daler kost’.“</p> - -<p>Das war immer so. Wenn der Graf auf den Jahrmärkten einer seiner -Nichten habhaft wurde — und manchmal waren’s auch nur Wahlnichten, -aber jung und hübsch mußten sie sein —, dann zog er mit ihnen zu -Tante Hufnagel. Und gewöhnlich hatten sie dabei einen Kometenschweif -hinter sich: die liebe Jugend des Städtchens. Denn die wußte, daß es -dem Sodelziger Herrn, so sparsam der sonst war, auf ein paar Hände voll -Pfeffernüsse nicht ankam. Manchmal auch nicht auf eine Handvoll blanker -Dreier. Gerad wie dem alten Wrangel in Berlin.</p> - -<p>„Na, Puttchen, was macht das Herz?“ scherzte er, während sie über die -Straße gingen.</p> - -<p>„Onkel Grucker, ich hab keins.“</p> - -<p>„Meine Hochachtung! ’n Mädel ohne Herz. So was läßt der liebe Gott ja -gar nicht zu. Na hör mal, Deern, ... und ich dachte doch, der hübsche -Gardeschütze, der dich immer mit so großen Gucklöchern ansah, bei uns, -bei dem Manöverdiner ... der Neuchateller ... wie hieß das Luderchen -doch ...“</p> - -<p>„Merivaux, Onkel Grucker. Das ist aber auch das Einzige, was ich von -ihm weiß.“</p> - -<p>„Merivaux — so! Der Deixel soll die französischen Namen behalten. Sind -aber brave Kerle, die Neuchateller. Haben sich als gute Royalisten -gezeigt, als die da unten Revolution machten. Anno sechsundfünfzig und -so. Ja — Tag, Tante Hufnagel. Meine Hochachtung!“</p> - -<p>Madame Hufnagel knixte ganz tief, die beiden Mamsellen knixten noch -tiefer, und alle drei lächelten so süß, wie ihre Waren waren.</p> - -<p>„Na, nu greif mal zu, Puttchen.“</p> - -<p>Helene Hackentin zierte sich nicht. Wie hätte man sich denn auch -vor der Bude von Tante Hufnagel zieren können. Sie stopfte ein paar -Pralinees ins Kröpfchen und steckte sich die Taschen voll. Rechts ein -Paket Schokoladenpfefferkuchen und links den kleinen Karton mit einem -Königsberger Marzipanherz. „Siehst du, Onkel Grucker, nu hab<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> ich ’n -Herz!“ Famos übrigens, daß die Pelerine links und rechts ordentliche -Taschen hatte.</p> - -<p>Brrr — brrr schmiß der Graf eine Handvoll Pfeffernüsse über die -blonden, braunen, schwarzen Köpfe hin. Es summte in der Luft wie ein -Schrotschuß Und die liebe Jugend jagte hinterher, stolperte, schubste -sich, balgte sich, lag auf den Pflastersteinen und jauchzte. Grucker -aber hatte gerad noch einen Blondkopf an den langen Zöpfen erwischt. -„Bist du nicht eine kleine Tiburtia? Die Nas’ kenn’ ich doch! Sperr’s -Maul auf und mach die Augen zu. So ... da ...“ Unbarmherzig schob er -einen wahren Riesenkloß Mehlweißchen in den aufgerissenen Schlund und -wollte sich totlachen, wie das Unglückswurm zwischen Lachen und Greinen -biß und schluckte.</p> - -<p>„So, Tante Hufnagel ... Schluß. Was kost’t der Kitt? ’n Daler zwanzig -... hier! Bist fertig, Puttchen? Na, denn woll’n wir mal. ’n Abend ... -’n Abend ...“</p> - -<p>Und wieder knixte Madame Hufnagel ganz tief, beide Mamsellen knixten -noch tiefer, alle drei lächelten so süß wie Marzipan. Helene hakte -wieder ein, aber dann besann sie sich und meinte, ein wenig zögernd: -„Nun muß ich zu Tante Artenau ...“</p> - -<p>„Meine Hochachtung! Nee aber — was willst du denn da? Etwa zusehen, -wie die semmelblonde Julie das Kunststück fertig bringt, ein Hühnerei -in der Achselhöhle auszubrüten? Pfui Spinne. Komm du man mit zu uns -ordentlichen Leuten.“</p> - -<p>Es stand ihr auf dem Gesicht geschrieben: ihr war das auch lieber. Aber -sie zögerte noch immer, griff in die linke Manteltasche — gut doch, -daß der Mantel so schöne Taschen hatte! — krabbelte sich ein Stückchen -Pfefferkuchen heraus und steckte es zwischen die Zähne. Gerad noch so -viel Platz blieb, daß sie fragen konnte: „Wer ist denn drin, Onkel -Grucker?“</p> - -<p>„Wer wird denn drin sein, Mademoiselle Neugier? Artenau und Tiburtius -und Fritze, dein Bruder Demokrat ... na, und Ernst mit seinem -Moskowiter Sänger.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p> - -<p>Es war gut, daß sie nicht über den Straßendamm konnten. Gerad kam -nämlich von der Kirche her ein Haufen Menschen mit einer „Moritat“ in -der Mitte, und der Mann mit der Schauleinewand pflanzte sich just vor -der Apotheke auf. So etwas mußte Grucker sich immer in der Nähe ansehen -und anhören, blieb also stehen, sagte lachend: „Meine Hochachtung ... -wunderschön!“ und merkte gar nicht, wie Helene aus eigenem Antrieb -den Schritt hemmte und daß sie trotzig den Nacken steifte. Bis der -Leierkasten sein Lied abgespielt und der Mann das Epos von dem -siebenfachen Mord vorgetragen hatte —</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Und so hat in einer Nacht</div> - <div class="verse indent0">Er sieben Christen umgebracht“ —</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Währenddessen konnte Helene sich besinnen. Sie knabberte dabei langsam -ihren Pfefferkuchen auf. Da wären wir ja beinah’ recht albern gewesen, -dachte sie. Warum denn nicht? Was geht mich dieser ... dieser Russe -an. Nun gerade! Und als Grucker sein Dittchen auf den Sammelteller -geworfen hatte und sich wieder in Bewegung setzte, fragte sie: „Also -der Rackower Gast? Was ist denn das für ein Menschenkind?“</p> - -<p>„Biste neugierig, Puttchen?“</p> - -<p>„Bewahre. Ich frag nur so ...“</p> - -<p>„Na also, wenn du nur so fragst: er trägt seidne Strümpfe und ’ne -Krawattennadel, die ihm der Kaiser aller Reußen geschenkt haben soll. -Sonst ’n ganz manierliches Kerlchen, scheint’s. Schmokt auch ’n ganz -wundervollen Toback. Meine Hochachtung — wirklich! Weiter weiß meines -Vaters Sohn nichts von ihm.“</p> - -<p>Da waren sie auch schon in der Offizin.</p> - -<p>Aber nun zögerte Helene doch wieder. Es war sehr laut im Nebenzimmer. -Auch der Graf horchte auf. „Die scheinen ja ’n bissel scharf aneinander -geraten. Hör’ mal, Lene ...“</p> - -<p>„Ich möchte doch lieber ...“</p> - -<p>„Na, du wirst dich doch nicht fürchten! Was sich zankt, liebt sich, -Leneken.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span></p> - -<p>Er stieß die Türe auf, stapfte mit seinem lauten „Meine Hochachtung!“ -über die Schwelle, stieß aber direkt auf seinen Neffen Fritz Hackentin, -der — mit dem Hut in der Hand — hinauswollte, rot im Gesicht und vor -Erregung zitternd. Der Bruder stand daneben, suchte ihm den Hut zu -entwinden.</p> - -<p>„Hallo, mein Junge!“ rief Grucker. „Hier wird nicht desertiert.“ Er -faßte ihn mit beiden Händen um den Leib, hob ihn hoch, wie man ein Kind -hochhebt, drehte ihn um und schob ihn, ohne loszulassen, wieder zum -Tisch hin. „Komm, Lene, Mädel, streichle mal ’n bißken. Kreuzdonnerstag -und Freitag, man wird doch hier in Ruh’ sein Glas Wein trinken können!“</p> - -<p>„Laß mich, Onkel Grucker ... laß mich!“</p> - -<p>Aber die eisernen Fäuste hielten fest. „Nee, Fritz. So kommst du nicht -los. Erst ’n Versöhnungsschluck. Habt wieder mal hohe Politik getrieben -— he? Verflucht und zugenäht! Na, was gab’s denn?“</p> - -<p>Drüben saß der alte Rittmeister. Er war so blaß im Gesicht, wie der -Sohn rot war, und die Hand, die er am Glas hielt, zitterte auch. Aber -er zwang sich. „Wenn du’s wissen willst, Schwager. Das heißt, daß mein -Sohn Fritz uns gerad erzählt hat, daß er Mitglied vom Nationalverein -ist. Und da hab ich ihm meine Meinung gesagt. Das heißt, über die ganze -Schreierei und über den vielgeliebten Schützenherzog in Gotha dazu. Und -das kann er nicht vertragen.“</p> - -<p>„Deshalb ist es besser, ich gehe!“ stieß der Kreisrichter hervor. -„Meine Überzeugung lasse ich nicht antasten, auch von dir nicht, Papa.“</p> - -<p>Der Graf hatte ein Lachen, das oft geradezu erlösend wirken konnte. -So lachte er jetzt. Und es paßte in dies Lachen hinein, was er -zwischendurch in einzelnen Brocken vorbrachte: „Brat mir einer -’n Storch ... kriegen sich Vater und Sohn wegen Herzog Ernst von -Sachsen-Koburg-Gotha, Durchlaucht und so, an den Kragen ... aber -den Storch recht knusperig, bitte! Kinderkens, seid gut ...<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> lieber -Artenau, du oller Stickereimajor, nu aber schnell ’ne neue Mischung ... -was Besänftigendes. Heut wird nicht mehr Politik gemacht ... hier setzt -du dich, Fritze ... so ... na, und da hab ich euch die Lene mitgebracht -... Lene ... Puttchen ... komm her. Es frißt dich keiner ...“</p> - -<p>Sie war an der Tür stehengeblieben.</p> - -<p>Daß sich Vater und Bruder stritten, war ihr nichts Neues. Das ging -nun schon seit Jahren, man hatte sich nachgerade daran gewöhnt: Vater -und Fritz vertrugen sich schließlich immer wieder, und Onkel Grucker -brachte das gewiß heute schnell zuwege. Er verstand das Leimen.</p> - -<p>Aber diesmal war’s ihr peinlich. Weil der Fremde dabei war. Der Russe, -gegen den sie vom ersten Sehen an etwas wie instinktive Abneigung -empfunden hatte.</p> - -<p>Das Zimmer war mit Tabaksrauch gefüllt. Mehr noch als Onkel Pastors -Arbeitsstube am Sonnabend. Mit dem Messer hätte man den Qualm -durchschneiden können, und die Augen taten einem weh; kaum, daß man die -Herren am Tisch unterscheiden konnte: den Doktor, der bei Lene noch von -früher her immer einen Lebertrangeschmack auf der Zunge hervorrief, den -lustigen Herrn Herr, Artenau, Onkel Ernst ...</p> - -<p>Ja ... und da stand der Russe am Fenster.</p> - -<p>Fast wie sie an der Tür. Vielleicht hatte er auch den gleichen Gedanken -wie sie: ich wollte, ich wäre nicht hier. Zu verwundern wär’s nicht.</p> - -<p>Das Gespräch am Tisch ging noch ein paar Augenblicke weiter. Schon -gemäßigter. Sie hörte nur einzelne Worte ... „Das deutsche Vaterland -...“ sagte Fritz. „Nee, unser altes Preußen ...“ sagte Vater, und Onkel -Grucker: „Nu laßt’s mal endlich ...“</p> - -<p>Da war auch schon der Rackower aufgestanden, dem jeder politische -Streit unbequem war, hatte das Monokel ins Auge geklemmt und ihr -zugenickt, war zu seinem Gast ans Fenster getreten. Und der wandte ihr -im nächsten Moment das Gesicht zu, verbeugte sich.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span></p> - -<p>Zu dumm, zu kindisch, daß man immer noch rot wurde wie ein Backfisch ...</p> - -<p>„Na, Leneken, wo steckst du denn?“ rief der Graf schon zum drittenmal. -„So komm doch! ’s ist wieder Friede im Lande.“</p> - -<p>Langsam ging sie an den Tisch, nickte, reichte die Hand. Und nun walzte -sich Onkel Ernst heran, stellte ihr den Russen vor. Jäh überflutete -sie wieder die alberne Röte. Aber sie überwand sie diesmal schnell; -vielleicht, weil es ihr so komisch vorkam, daß er Schwarz hieß, einfach -Schwarz, während sie irgendeinen Namen auf off oder itsch erwartet -hatte.</p> - -<p>Der Friede schien wirklich geschlossen, die Gläser wurden neu gefüllt, -Grucker hatte schon wieder eine seiner langen dicken Zigarren in Brand. -Dann hieß es plötzlich, wie zur Besiegelung des Friedens: „Lieber Herr -Herr, pfeifen Sie uns eins“, und der Apotheker ließ sich nicht lange -bitten. Er spitzte die Lippen und pfiff. Erst von Schumann: „Wohlauf, -noch getrunken, den funkelnden Wein ...“ und dann sein Glanzstück aus -„Fra Diavolo“.</p> - -<p>Eigentlich liebte Helene dies Kunstpfeifen wenig. Es hatte für ihr -empfindliches Ohr immer ein wenig Schrilles. Aber das mußte sie -zugeben: Herr Herr machte seine Sache gut, und es war <em class="gesperrt">doch</em> -Musik. Stets, wenn ein Lied erklang, wurde ihre Seele wach.</p> - -<p>Und dann war sie mit einem Male, sie wußte selbst nicht, wie es -eigentlich gekommen war, in einem Gespräch mit dem Russen. Sie nannte -ihn im stillen immer den Russen, wenn er auch Schwarz hieß.</p> - -<p>Er hatte an die Produktion des Apothekers angeknüpft, aber sie waren -im Nu darüber hinaus. Von der Musik im allgemeinen sprach er, von den -neuesten Opern dann, von Spontini, von Donizetti, von Lortzing und vor -allem von Meyerbeer. Eigen erfreut schien er, daß sie gut Bescheid -wußte. Einmal sagte er: „Ich hätte nie geahnt, daß man hier, in der -Landeinsamkeit, Musik so liebt.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p> - -<p>„Gerade, wenn man so einsam lebt, meine ich, muß man sie doppelt -lieben.“</p> - -<p>„Sie ist die große Herzenströsterin.“ Er sprach es mit Emphase, aber -das entging ihr.</p> - -<p>„Ich finde, daß sie immer neue Sehnsucht weckt“, erwiderte sie.</p> - -<p>Als ob er sie nicht ganz verstanden hätte, so schaute er sie an. -Er wiegte den schönen Kopf: „Gewiß, sie weckt Sehnsuchten, aber -nur, um sie wieder zu stillen.“ Und dann: „Sie üben selber Musik, -gnädiges Fräulein? Aber was frage ich — wer sich so stark für Musik -interessiert, muß auch versuchen, dem inneren Drang zum Leben zu -verhelfen.“</p> - -<p>„Ich singe ... ein wenig.“ Erst als sie es gesagt hatte, fiel ihr ein, -daß Onkel Grucker vorhin von Herrn Schwarz als dem „Moskowiter Sänger“ -gesprochen hatte. Es war aber nur eine ganz unklare Vorstellung in ihr, -was der Onkel eigentlich damit gemeint hatte, und sie war nun doch -neugierig: „Sie singen auch — nicht wahr?“ fragte sie, und es mochte -wohl sehr naiv klingen. Denn er lachte ganz leise, verneigte sich ein -wenig: „Es ist ja mein Beruf, gnädiges Fräulein. Ich bin Opernsänger.“</p> - -<p>Das war ihr eine kleine Enttäuschung. Er hatte so weltmännisch -geplaudert; für einen Diplomaten würde sie ihn gehalten haben, -vielleicht auch für einen Offizier in Zivil. Opernsänger ... Komödiant -... das hätte sie nicht gedacht. Aber es interessierte sie gewaltig, -und aus dem Untergrund ihres Bewußtseins stiegen zugleich Erinnerungen -an eigene heiße, tolle Träume empor, in denen sie sich selber gefeiert -gesehen hatte, wie die Jenny Lind gefeiert worden, wie jetzt die Lucca -in Berlin. So daß sie sich der ersten Empfindung schämte und lebhaft, -doppelt liebenswürdig meinte: „Jetzt verstehe ich erst. Nicht wahr, -Herr Schwarz, Sie waren in Petersburg engagiert und daher“ ... nun -überkam sie wieder eine leichte Verlegenheit ... „daher hieß es auch, -daß Sie Russe<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> wären? Wo haben Sie eigentlich meine Verwandten kennen -gelernt?“</p> - -<p>„In Ems, gnädiges Fräulein. Wir gebrauchten zur gleichen Zeit die -Kur. Das russische Klima hatte bei mir eine kleine Halsaffektion -hervorgerufen. Man muß vorsichtig sein in meinem Beruf.“</p> - -<p>Sie hatten ganz ungestört miteinander sprechen können, denn die übrige -Tafelrunde war völlig durch Herrn Herr in Anspruch genommen. Der mochte -wohl von dem Wunsch beseelt sein, ein politisches Gespräch nicht neu -aufkommen zu lassen. Hatte erzählt, daß er von Frankfurt eine von den -neuen merkwürdigen Lampen mitgebracht hätte, die mit Petroleum gespeist -würden, einem Öl, das in Amerika aus der Erde fließe. Der und jener -hatte davon schon gehört, der Rackower und Wilhelm Hackentin hatten -die Lampen auch in Berlin gesehen. Doktor Tiburtius wollte wissen, daß -man Erdöl schon im Altertum zur Beleuchtung gebraucht hätte; Ben Akiba -habe nun einmal recht: es gebe nichts Neues unter der Sonne. Im übrigen -wäre das ein gefährliches Zeug, stinke wie die Pest und explodiere wie -Schießpulver. Als der Apotheker schließlich das Lämplein holte und -umständlich anzündete, rückten die Herren wirklich vorsichtig ihre -Stühle rückwärts, am weitesten Artenau.</p> - -<p>„Meine Hochachtung“, rief Grucker und klatschte sich auf die -Oberschenkel.</p> - -<p>Da blickte Helene auf und sah durch die dichten schweren Tabakswolken -die helle, gelbliche Flamme über dem gläsernen Bassin. Und mit einem -Male kam es ihr vor, als wäre sie emporgeflogen, weit hinauf, und nun -wieder jäh auf die Erde zurückgeworfen. Die Lampe im großen Zimmer zu -Rohlbeck stand plötzlich vor ihr, sie hörte das Gluck-Gluck, und sie -sah den häßlichen Fleck, den das schwere Gestell in die alte, braune -Plüschdecke gedrückt hatte.</p> - -<p>Sie mochte nicht weiter sprechen, und nur wie von fernher hörte sie, -was die andern sagten. Bruder Wilhelm natürlich schon von Plänen und -Spekulationen, die man in Berlin an das Erdöl knüpfe. Du lieber Gott, -das war auch<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> solch Phantast, der gute Wilhelm. Immer wollte er in -den Himmel fliegen, und immer setzte ihn das Schicksal hart auf den -Rohlbecker Sand zurück. Dann sprach ja wohl Fritz davon, daß das -Petroleum, wenn die Zeitungen recht berichteten, sehr billig werden -würde, daß es das Licht der Armen werden könnte; die Quellen in -Nordamerika sollten schier unerschöpflich sein. Und da mischte sich -Vater ein. Was für ein Unsinn, meinte der. Billig — bei den hohen -Transportkosten übers Weltmeer. Die armen Leute übrigens — die armen -Leute! Erstens gibt’s, gottlob, auf dem Lande keine wirklich armen -Leute, das heißt, die Rohlbecker Herrschaft ausgenommen. Und zweitens -sollten die armen Leute nur ihre Talglichter weiter ziehen, das heißt, -der Kienspan sei auch nicht zu verachten. Und drittens käme die ganze -Geschichte doch nur auf eine Konkurrenz für den Landwirt heraus, das -heißt, dem guten Rüböl sollte der Garaus gemacht werden. Viertens und -letztens aber: in sein Haus käme die neumodsche Sache nicht hinein, das -heißt, er hätte nicht Lust, in die Luft gesprengt zu werden. Einmal, -in der Schlacht von Leipzig, wär’s schon nahe daran gewesen, und daran -hätte er noch genug. Worauf Artenau dringend bat: „Lieber Herr Herr, -bitte, nehmen Sie das Ding fort. Aber erst auslöschen, erst auslöschen -...“ und alle lachten.</p> - -<p>Nein, alle lachten nicht. Ihr selber war die Kehle wie zugeschnürt, -und Herr Schwarz hatte nur ein Lächeln. Ein kleines, feines Lächeln, -das etwa sagen mochte: Liebe Leute, was seid ihr für wunderliche -Menschenkinder, und wie eng muß euch der Horizont gezogen sein.</p> - -<p>Der gelbe Lichtschein über dem gläsernen Behälter war erloschen, der -Tabaksschwaden strich wieder über den Tisch. Die Lampe aber wanderte -den Tisch entlang. Jeder tastete und fühlte an dem neuen Lichtspender -herum, und jeder gab seinen Senf dazu.</p> - -<p>Ganz still saß Helene. Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken, und -die Hände hatte sie im Schoß verschränkt; fest preßten sich die Finger -ineinander.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span></p> - -<p>„Ich muß Sie singen hören, gnädiges Fräulein“, hörte sie neben sich.</p> - -<p>Da kam der alte Trotz über sie. Sie zog die Achsel hoch. „Wozu? Es -lohnt nicht!“ gab sie kurz, fast bitter zurück.</p> - -<p>„Das können Sie selber nicht wissen. Und ... Sie haben einen Timbre in -der Stimme, der meine Erwartung hochspannt.“</p> - -<p>Sie sah ihn an. War das eben eine Phrase gewesen? Aber er hielt stand. -„Glauben Sie’s mir nur, gnädiges Fräulein.“ Er beugte sich ein wenig -vor und sprach leise weiter, in seinem weichen, einschmeichelnden -Tonfall: „Es muß doch wohl so etwas geben wie Vorbedeutungen? Als -ich vor drei Tagen durch den märkischen Sand rollte, in der Enge der -Postchaise, ehrlich gestanden, mit ein wenig gemischten Gefühlen: warum -hast du eigentlich die Einladung angenommen? Du hättest doch lieber in -Berlin bleiben oder du hättest nach Paris gehen sollen — sehen Sie, -da überkam mich plötzlich die Empfindung: du wirst hier etwas erleben. -Eine ganz sichere Empfindung. Es ist mir früher schon ähnlich ergangen, -und ich habe mich nie getäuscht. Als ich dann ausstieg, da fiel mein -erster Blick auf eine junge Dame. Darf ich es aussprechen, auf eine -sehr schöne junge Dame. Und ich wußte sofort: dein Erlebnis beginnt. -Ich wußte, daß ich Sie wiedersehen würde.“</p> - -<p>Er schwieg.</p> - -<p>Ihr war das Blut ins Gesicht gewallt. Aber sie straffte den Nacken. -Was fiel dem Herrn ein? Wie konnte er so zu ihr sprechen? Ihre Finger -schoben sich noch fester ineinander. Starr sah sie geradeaus, mit einem -hochmütigen Blick.</p> - -<p>„Hätte ich das nicht sagen dürfen?“ hörte sie wieder die weiche -Flüsterstimme. „Dann müssen Sie mir verzeihen. Ich bin ein Fremder -hier und vielleicht nicht gewöhnt, die Worte auf die Goldwage zu -legen. Wir Künstler dünken uns ja allzu leicht freier als der -Alltäglichkeitsmensch ...<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> Sind Sie zornig auf mich? Ich will mich -bessern ... und dennoch, ich muß es Ihnen sagen: Ihr Unwille macht Sie -nur noch reizvoller.“</p> - -<p>Sie war empört. Sie antwortete nicht, sie bewegte sich nicht. Sie war -empört, und doch lauschte sie: wird er nicht weiter sprechen? Und doch -baute sie sich schon eine goldene Brücke: bin ich nicht am Ende ein -rechtes Kind? Da draußen in der weiten, weiten Welt mag man noch ganz -andere Worte wagen und sagen, und niemand nimmt Anstoß daran.</p> - -<p>„Ich muß Sie singen hören!“ wiederholte er. „Ich muß!“</p> - -<p>Er wartete. Bis er sich dann plötzlich zu dem Rackower umwandte. „Herr -von Hackentin, wissen Sie, daß Sie eigentlich recht grausam gegen Ihren -Gast waren?“</p> - -<p>„Eheu!“ machte der Dicke. Er war zwar anscheinend während der letzten -Minuten aufmerksam dem Gespräch der Herren gefolgt, in dem die Geister -wieder aufeinander zu platzen schienen: einem Gespräch über den neuen -Ministerpräsidenten Herrn von Bismarck-Schönhausen — aber er hatte -dabei kein Auge von dem jungen Mädchen gewandt. Konnte er doch, wie -Grucker immer behauptete, unter seinem Monokel „um die Ecke gucken“.</p> - -<p>„Eheu!“ sagte er noch einmal. „Wie meinen Sie das, mein lieber Schwarz? -Ich bin desolat“ — und sah dabei sehr vergnügt darein.</p> - -<p>„Sie haben mir noch nicht dazu verholfen, das gnädige Fräulein singen -zu hören.“</p> - -<p>Der Rackower schlug sich vor die Stirn. „Beim Zeus! Nein — bei Apoll -und allen Musen! Ich bin ganz desolat. Aber wissen Sie, mein lieber -Schwarz, ein vorsichtiger Gastfreund spielt nicht all seine Atouts -gleich aus. Wir hatten unsere liebe Helene natürlich auf dem Programm.“ -Er sah wieder einmal um die Ecke nach der Nichte hin und nickte: -„Nun, schöne Helene? Du wirst Tante Marie und uns doch die Freude -machen, recht bald einmal zu uns zu kommen? Oder willst du, daß wir -dich feierlich invitieren: <span class="antiqua">Madame la Baronne et Monsieur le Baron -Ernest</span> usw.?<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> Ist doch sonst nicht zwischen Rohlbeck und Rackow -Sitte gewesen.“</p> - -<p>Er hatte es langsam, in seinem zierlichen, leisen Hofton gesagt, und so -gewann Helene etwas Zeit. Eine Galgenfrist, schien ihr. Zuerst hatte -ihr ein kräftiges, trotziges Landmädel-Nein auf der Zunge gelegen. Dann -hatte sie sagen wollen: ‚Ich komme schon, aber erst, wenn dieser Herr -abgereist ist.‘ Nein, das ging ja nicht. Also: ‚Ich komme schon, aber -ich singe nicht.‘ Nun sprach sie: „Ja, danke, Onkel Ernst ... gern!“ -Wurde wieder einmal rot dabei und dachte: ‚Wartet nur! Stockheiser werd -ich sein. Heiser, wie eure Primadonnen sein sollen, wenn sie nicht -singen wollen.‘ Und wußte dabei doch: ‚Du wirst singen ...‘</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Drittes_Kapitel">Drittes Kapitel</h2> - -</div> - -<p>Im Kreise Stellberg gab es kaum ein wirkliches Schloß. Helene Hackentin -hatte nicht unrecht: sie waren ja alle arm wie die Kirchenmäuse, -die Golziner, die Steckschen, die Brunowschen; gerade daß sie sich -durchschlugen auf dem kargen Boden. Grucker hätte vielleicht bauen -können, sprach wohl auch seit Jahrzehnten davon, war aber zu bequem -und war ein zu guter Wirt. Fleißig und sparsam, wie sie fast alle, nur -nicht so der Not gehorchend, mehr der Gewohnheit nach. Ein wirkliches -Schloß gab es freilich, aber das war mehr Burg als Schloß: der riesige -Kasten in Nugow, in dem der alte böhmische Graf wie ein halber -Einsiedler hauste, Graf Delkowitz, Edler von Kastricz. Das war aber -ein Fremder im Kreise, und die Ansässigen kamen selten in die uralte -Johanniterburg, deren gewaltiger Turm wie ein Wahrzeichen vergangener -Zeiten ins Land ragte.</p> - -<p>Auch das Rackower Herrenhaus war kein Schloß. Immerhin war’s ein -stattlicher Bau, langgestreckt, einstöckig, mit ein paar in das hohe -Dach eingefügten Mansarden und einem neueren rückwärtigen Flügel, den -Ernst<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> Hackentin angebaut hatte, als er die hannöversche Erbtochter -heimführte. Die Freiin von Lastrop sollte ja entsetzt gewesen sein, -als sie mit ihren Eltern zum ersten Male nach Rackow gekommen war, um -sich ihren zukünftigen Wohnsitz anzuschauen. Der Anbau war geradezu -Bedingung gewesen; aber mit dem Ausbau waren Ernst Hackentin und Frau -Marie, die Marquise, wie sie im Kreise mit gutmütigem Spott genannt -wurde, eigentlich bis auf den heutigen Tag nicht fertig geworden.</p> - -<p>Daß sie nicht niedergerissen und ganz neu gebaut, hatte oft -Verwunderung erregt. Einmal, als der alte Lastrop das Zeitliche -gesegnet, war’s auch nahe daran gewesen. Der berühmte Landesbaurat -Schinkel war in seinem letzten Lebensjahr in Rackow zu Gaste, und -Ernst Hackentin sagte bisweilen: „Ja, wenn unser großer Schinkel nicht -darüber hinweggestorben wäre.“ Aber die Mittel hatten doch wohl nicht -gereicht. Sie saßen ja in einer brillanten Assiette, die Rackower, hieß -es; aber sie führten einen riesigen Train, reisten viel, gingen im -Winter zu Hofe. Manchmal lachte man im Kreise: Isaak Böhm aus Frankfurt -oder gar der kleine Jakob Friedländer aus Zielenzig sollten plötzlich -neben anderen illustren Gästen in Rackow gesehen worden sein. Nun — -augenblickliche Verlegenheiten kann schließlich jeder haben. Man weiß -das ja. Es ging auch niemand etwas an, zumal die Rackower kinderlos -waren. Und dann: ein so liebenswürdiges Haus, so liebenswürdige Wirte -wie sie gab es auf zwanzig Meilen in der Runde nicht. Wennschon die -„Marquise“ bisweilen sehr herablassend sein konnte. War da jüngst -der Amtsrat Weese auf Neu-Bukerow nobilitiert worden, ein Mann, mit -dem der ganze Adel des Kreises seit Menschengedenken als mit einem -Standesgenossen verkehrt hatte. Was tut die Marquise, als sie zum -ersten Male wieder mit ihm zusammenkommt? Sie reicht ihm die Hand zum -Kuß: „Ich freue mich unsäglich, Herr von Weese, Sie nun endlich ganz -als einen der Unseren begrüßen zu können.“ Du lieber Himmel, der alte -Mann hatte nachher selber herzlich darüber gelacht.<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> Böse sein konnte -man der Marquise ja nicht. Sie war so herzensgut. Und Stil hatte sie -doch auch in ihrer Art.</p> - -<p>Gastfrei war das Rackower Haus wie kein anderes im ganzen Kreise, und -auch die Art der Gastfreundschaft hatte Stil. Hannöverschen Stil — -englischen Stil.</p> - -<p>Ein paar junge Mädchen, ein paar junge Herren waren meist zu Gaste -in Rackow; Hausherr und Hausfrau liebten die Jugend. Die Mädchen -logierten im Anbau, die Herren oben in den Mansarden, wo jedes der -kleinen Zimmer seinen originellen Namen hatte: da gab es ein „Pompeji“, -so genannt nach der roten Tapete, ein „Handtuch“, weil das Zimmer -sehr schmal und lang war, eine „Bärenhöhle“, weil hier jahrelang ein -Leutnant von Baer während seines Sommerurlaubs gehaust hatte, und eine -„Bleikammer“, sintemalen dieses Zimmer der lieben Sonne besonders -ausgesetzt war. Unten im Anbau waren die Namen poetischer: es gab den -„Pfau“, die „Nachtigall“ und das „Alpenröschen“; es gab sogar eine -„Sehnsuchtskammer“, als das letzte Zimmer der Reihe.</p> - -<p>In der Sehnsuchtskammer wohnte diesmal Helene Hackentin.</p> - -<p>Am Tage nach dem Markt war Tante Marie nach Rohlbeck gekommen. -Unangemeldet, auf ihrem Selbstkutschierer mit den Ponys. Hatte sich die -liebe <span class="antiqua">petite-nièce</span> auf acht Tage ausgebeten: „Du kommst gleich -mit mir, <span class="antiqua">mignonne</span>. Pack’ deine Siebensachen. Vergiß auch ein -helles Fähnchen nicht. Vielleicht macht es sich, daß wir ein Tänzchen -riskieren.“</p> - -<p>Der alte Rittmeister hatte ein wenig geflucht. Mama barmte: „Du bist -recht grausam, Marie, uns das Kind zu entführen. Denkst gar nicht an -uns Alte!“ Aber die Marquise lachte: „Es ist nur um das Gewöhnen, -liebe Elisabeth. Ihr sollt euch dran gewöhnen, daß Helene euch früher -oder später, besser früher als später, ganz entführt wird. Seid keine -Egoisten. Ihr habt ja Martha, Wilhelm ist jetzt auch da — und dann -eure Enkel. Gönnt anderen auch etwas.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span></p> - -<p>„Das heißt —“ begann der Rittmeister brummig. Aber er kam nicht -weiter. Bei der Rackowerin kam man nie weiter, wenn sie sich -vorgenommen hatte, zu persuadieren. Zudem: es war ein Axiom, daß die -jungen Mädchen sich in Rackow bewegen lernten, sich abschliffen, -gleichsam einen Blick in die große Welt taten. Dem widerstrebten Eltern -nur in den seltensten Fällen.</p> - -<p>Die aber, die es zunächst anging, stand am unschlüssigsten. Immer -war sie leidenschaftlich gern in Rackow gewesen. Nun stand sie und -stand, steif und unbeholfen, und drehte an dem Schürzenzipfel wie ein -Backfisch.</p> - -<p>„Vielen Dank, liebe Tante ... aber ...“</p> - -<p>Die Marquise lachte wieder. Ihr goldiges Lachen, das das häßliche -Gamingesicht so seltsam verschönen konnte: „Aber ... aber! Aber ich -habe nichts anzuziehen. Nicht wahr? Mignonne, du hast deine Jugend, -hast deine blanken Augen. Mein Herz, was willst du noch mehr! <span class="antiqua">En -avant</span> ... <span class="antiqua">en avant</span> ... in einer Viertelstunde muß dein -Köfferchen gepackt sein.“</p> - -<p>Noch einen Moment stand Helene. Dann flog sie plötzlich aus der Tür und -die Treppe hinauf.</p> - -<p>Frau Marie hatte sich in den großen Lehnstuhl mit den mächtigen -Ohrenwangen gesetzt. Das zierliche Figürchen verschwand fast in dem -Ungeheuer, die Krinoline mußte sie gewaltsam zusammendrücken, und dabei -bauschte sie sich erst recht unförmlich auf. Es sah eigentlich komisch -aus. Aber die kleine Persönlichkeit beherrschte doch das ganze Zimmer. -Sie hielt auch hier Cercle und hatte für jeden eine liebenswürdige -Bemerkung. Der Rittmeister bekam eine Anerkennung, wie artig seine -Hunde seien; der alten Gnädigen sagte sie ein heiteres Wort, wie -Mignonne hübscher würde von Tag zu Tag und daß sie ganz die Augen der -Mama hätte. Martha, die ihr eine Limonade brachte, erhielt ein Lob -für die vortreffliche Mischung, die Mamsell in Rackow nie erzielte, -und Wilhelm mußte über die Fortschritte des Bahnprojekts berichten. -Dabei wurde er immer Feuer und Flamme. Sein schönes Gesicht<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> leuchtete -auf, er zwirbelte den koketten Spitzbart mit den wohlgepflegten weißen -Fingern — und immer hatte er die bestimmteste Zusage von Exzellenz -Itzenplitz, die Konzession schon „in der Tasche“ ... gerade daß noch -einige kleine Schwierigkeiten zu überwinden waren. Er stöhnte freilich -auch immer: „Mein liebes Rohlbeck! Weib und Kind muß ich allein -lassen ... aber was soll man tun?“ Ein klein bissel malitiös konnte -die Marquise manchmal doch sein: „Nun, Wilhelm, Berlin ist auch ganz -pläsierlich“, meinte sie und kicherte. Doch da sie Martha, die sie -besonders gern hatte, nicht weh tun wollte, fügte sie gleich hinzu: -„Leicht hast du’s allerdings nicht in Berlin, ich weiß das, Wilhelm. Es -ist ja jetzt ein großes Wettrennen um die Bahnkonzessionen. Graf Redern -erzählte uns davon. Aber es wird doch auch enorm verdient. Wie heißt -doch der Mann, der die erste Geige spielt? Richtig: Stroußberg ... ein -Jude ... natürlich. Der soll ja bei der Bahn oben in Preußen ein großes -Vermögen machen. Wilhelm, Wilhelm ... ich seh dich schon als Millionär! -Nun: <span class="antiqua">à tous seigneurs, tous honneurs</span>!“</p> - -<p>Dann kam Helene herunter. Hinauf war sie gestürmt, ganz langsam schlich -sie nun ins Zimmer, und es klang eigen kleinlaut, als sie sagte: „Ich -bin fertig, Tante Marie.“</p> - -<p>Etwas Unsicheres, Sprunghaftes lag auch jetzt noch in ihrem Wesen. Sie -war in den beiden Tagen, die sie in Rackow war, ihrer selbst nicht froh -geworden.</p> - -<p>Und es war doch so schön hier. Der Oktober meinte es diesmal besonders -gut. Wenn der Amtmann Schmidthals, der seit einem Menschenalter Rackow -ziemlich oder ganz selbständig verwaltete, — Graf Grucker legte, -sobald auf die Verwaltung seitens des alten „Mistikers“ die Rede -kam, den Akzent immer auf die erste Silbe — wenn Schmidthals bei -der Veranda vorüberkam und die graue Kappe von dem grauen Haar zog, -schmunzelte er jedesmal: „So ahnen Herbst haben wir noch nie gehabbt.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span></p> - -<p>Die Rackower waren Spätaufsteher. Onkel Ernst erhob sich erst gegen -zehn Uhr aus seinem Riesenbett, und Tante Marie wurde überhaupt erst -gegen Mittag sichtbar. Bis zur Mittagsstunde blieben die Gäste sich -selber überlassen. Doch auch sie kamen in Rackow bald ins selige -Faulenzen hinein. Helene aber war von Hause aus an frühes Aufstehen -gewöhnt, denn der alte Rittmeister verlangte ihre Gegenwart bei seiner -Morgensuppe, die unweigerlich aus Brotschnittchen mit heißem Wasser -aufgebrüht bestand.</p> - -<p>So war sie auch hier schon gegen sieben Uhr am Frühstückstisch auf der -Veranda.</p> - -<p>Gestern hatte sie den Herrlichkeiten dieses Rackower Frühstückstisches -ganz allein gegenübergesessen: der großen silbernen Kaffeemaschine, dem -silbernen Brotröster, den vielen kalten Platten. Allein mit Höhne, dem -Leibdiener Onkel Ernsts, der geräuschlos seines Amtes waltete, immer -mit einer diskreten Gönnermiene, wie man sie armen Verwandten gegenüber -hat.</p> - -<p>Heut erschien, zu ihrer Überraschung, fast gleichzeitig mit ihr der -Neuchateller: Leutnant de Merivaux von den Gardeschützen. In hohen -Stiefeln, mit der Jagdjoppe; das frische Gesicht zartrosig, trotz -des eben überstandenen Manövers, den kleinen Schnurrbart lustig -aufgedreht. Lustig war das ganze Kerlchen. Kerlchen — pardon! — -nein: der schlanke junge Herr. Aber lustig war er doch, mit seinen -leuchtenden blauen Augen und dem gegen alle militärische Vorschrift -kurz geschorenen schwarzen Haar, mit seinen raschen Bewegungen und dem -leisen Radebrechen in der Sprache, von dem man nie recht wußte, war es -echt, war es ein wenig gemacht.</p> - -<p>„<span class="antiqua">Bonjour</span>, gnädiges Fräulein!“ rief er gleich und streckte ihr -beide Hände entgegen. „Ein so schöner Morgen, ein wonniger Morgen. -Wie kann man nur so lange liegen in den Federn, wenn die Sonne so -wunderschön scheint und Fräulein von ’ackentin auf der Veranda sitzt. -Oh, was sind das hier für faule Menschen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span></p> - -<p>Dann saß er auch schon. „Mein lieber ’öhne, eine Tasse Mokka. Aber -recht stark. So ... und recht viel Milch. Danke: Milch, keine Sahne. -Mein gnädiges Fräulein, und Sie schmieren mir ein Brot. Ah ... hier -bekommt man doch richtiges weißes Brot ... Semmel ... nicht immer -<span class="antiqua">pain bis</span>. Ich kann nicht vertragen dies schwarze Brot. Ich hab -so ein gar sehr schwachen Magen ... ein Magen wie ein schwächliches -Kind.“ Wobei er sich eine Scheibe Schinken auf den Teller legte, die -für zwei starke Männer ausgereicht hätte. „<span class="antiqua">Grand merci</span>, gnädiges -Fräulein. <span class="antiqua">Je vous en fais mes remerciments!</span> Sie sind sehr gütig. -Noch ein Ei, <span class="antiqua">mon chèr</span> ’öhne ... bitte sehr ...“</p> - -<p>Man konnte ihm nicht böse sein. Eigentlich wäre sie lieber allein -geblieben wie gestern, diese einzig ruhige Stunde in dem geräuschvollen -Rackower Leben. Aber mit den Wölfen mußte man nun einmal heulen.</p> - -<p>Er trank seinen Kaffee in ganz kleinen Schlückchen, zerpflückte sein -geliebtes <span class="antiqua">pain blanc</span>, ließ seine blauen Augen leuchten, erzählte -von Berlin und von seiner Kaserne, ganz draußen, weit draußen, fast -bei Treptow, wo „sich die Fuchs sagen gut’ Nacht“. Und dann fragte -er plötzlich: „Warum ’aben Sie gestern nicht wollen singen, gnädiges -Fräulein! Wo wir doch alle so sehr gebeten ’aben.“</p> - -<p>„Ich war nicht disponiert, Herr von Merivaux.“</p> - -<p>„Ah! Das haben Sie gestern auch gesagt. Aber es ist doch nicht wahr ...“</p> - -<p>„Bitte sehr, Herr von Merivaux!“</p> - -<p>„Pardon, gnädiges Fräulein. Aber wenn eine Sängerin nicht disponiert -ist, hört man es an ihrer Sprache. Sie sind doch nicht heiser. Werden -Sie heut singen?“</p> - -<p>„Ich weiß es nicht. Ich glaube kaum.“</p> - -<p>„Ich ’abe nicht vergessen, wie Sie ’aben gesungen auf Soldelzig, bei -Comte Grucker.“</p> - -<p>„Verstehen Sie denn etwas von Gesang?“</p> - -<p>„<span class="antiqua">Si peu que rien!</span> Leider. Aber ich lieb’ die Musik über alles, -und besonders hab’ ich Sie hören gern singen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span></p> - -<p>Helene mußte lachen. Es kam zu komisch heraus, wie er das sagte. Und -dabei machte er so eigne Augen. Fast verliebte Augen. Gut, daß man -wußte, man brauchte ihn nicht seriös zu nehmen.</p> - -<p>„Etwa so gern, wie Sie nach einem guten Diner eine Zigarre rauchen. -Nicht wahr, Herr von Merivaux.“</p> - -<p>„Ja! Ganz gewiß. Ungefähr so. Ah, eine gute Zigarre. <span class="antiqua">Mon cher</span> -’öhne ... Sie wissen gewiß, wo der Herr Baron hat stehen seine guten -Zigarren. Sie sehen ganz aus, als ob Sie auch rauchten gern eine gute -Zigarre.“ Er gab dem Diener einen kleinen freundschaftlichen Klaps. -„Also wie eine sehr, sehr gute Zigarre, gnädiges Fräulein. <span class="antiqua">Mais, mon -dieu</span>, ... Sie dürfen das nicht übelnehmen.“</p> - -<p>„Ich denke gar nicht daran. Ich fühle mich sogar sehr geehrt!“</p> - -<p>Höhne hatte inzwischen wirklich eine Kiste Importen gebracht. Merivaux -zündete sich umständlich eine Zigarre an, und tat liebevoll den ersten -Zug. „Bei einer guten Zigarre kommen immer gute Gedanken. Bei Ihrem -Gesang, gnädiges Fräulein, denk ich, kann man auch nur ’aben gute -Gedanken. Als Sie in Sodelzig haben gesungen das Lied von der Baronin -Rothschild — ‚<span class="antiqua">si vous n’avez rien à me dire</span>‘ — hab ich immerzu -denken müssen an meine liebe Heimat, an unsere schönen Berge, an den -blauen See ... ja ... und an meine gute <span class="antiqua">maman</span> ...“</p> - -<p>Er war aufgestanden. Er blies schnell hintereinander ein paar -kunstvolle Ringe und lachte: der erste Ring hatte sich zur Decke -erhoben, war langsam gesunken und lag nun, für einen Augenblick, gleich -einem Kränzlein just um Helenens weißes Morgenhäubchen.</p> - -<p>Merivaux lachte, sah auf sie herab, und sie wurde böse: „Was lachen Sie -eigentlich, Herr von Merivaux! Über mich?“</p> - -<p>Da sagte er: „Schade ... nämlich, er ist jetzt fort. Ja so, -gnädiges Fräulein, Sie wissen ja nichts davon. Ich hatte Ihnen -eine <span class="antiqua">auréole</span> aufgesetzt ... aus Tabaksrauch<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> ... und ist -ein Sonnenstrahl dazu gekommen. Wenn Sie wüßten, wie scharmant das -ausgesehen ’at!“</p> - -<p>Unwillkürlich faßte sie nach dem Haar.</p> - -<p>Aber er schüttelte den Kopf. „Nein, nun ist das fort: <span class="antiqua">auréole</span> -und Sonnenstrahl. Aber ... scharmant sieht das immer noch aus ... das ...“</p> - -<p>Ein wenig verwirrt war sie doch, ein wenig verlegen. „Was Sie immer für -törichtes Zeug reden, Herr von Merivaux!“</p> - -<p>„Ich? Aber nein doch ... Sind Sie fertig mit dem Dejeuner, gnädiges -Fräulein? Wollen wir ein wenig in den Garten?“</p> - -<p>Sie war schon aufgestanden und nickte.</p> - -<p>Langsam schritten sie die kleine Treppe hinunter.</p> - -<p>Frau Marie war eine Gartenkünstlerin. Sie hatte eine Wüstenei -vorgefunden und ein kleines Paradies geschaffen. Vor dem Hause lag -ein großes Rosenparterre; gutgehaltene, kurzgeschorene, manneshohe -Taxushecken schlossen es seitlich ab; breite Einschnitte, die gewölbten -grünen Toren glichen, führten von hier in den eigentlichen Park, der -sich weit hinzog und allmählich in Wiesen und Waldpartien überging. -Nicht so ausgedehnt war das Ganze, wie der Park von Muskau, den der -Graf Pückler angelegt hatte, aber einzelne Teile konnten an Schönheit -doch mit dem Meisterwerk des alten Semilasso wetteifern.</p> - -<p>Man war stolz im ganzen Kreise auf den Park von Rackow, und auch Helene -war es. Sie führte Merivaux von einem Ausblick zum andern; an dem -Borkenhäuschen vorüber, in dem im Hochsommer meist der Kaffee genommen -wurde, zum schilfumstandenen Teich; von dort zur Höhe, von der man die -schönste Aussicht auf das Dorf Rackow hatte und darüber hinweg zu dem -Hügelzuge, an dem Rohlbeck lag.</p> - -<p>„Da, sehen Sie, Herr von Merivaux. Da bin ich zu Hause ...“</p> - -<p>Indem sie das sagte, fühlte sie: es war wirklich schön. Der -Herbstzauber ruhte auf dem Landschaftsbilde; die<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Sonne malte ihre -farbigen Reflexe; das Dörfchen unten mit dem hohen altersgrauen -Kirchturm war wie eingebettet in Grün, Rot und Gold; weite Felder -dann, und dahinter der Höhenzug mit den festgeschlossenen geradlinigen -dunklen Kieferforsten.</p> - -<p>Aufmerksam schaute der junge Offizier in die Weite. Eine Weile schwieg -er. Aber dann begann er von seiner Heimat zu sprechen, von dem ewig -blauen See, von ragenden Felsen, von schneegekrönten Häuptern. Er -sprach von den Weinhängen, auf denen jetzt die feurigen Trauben -reiften, von der üppigen Vegetation am Gestade des Neuchateller -Sees mit den Wäldern von echten Kastanien, von den Magnolien und -Mandelbäumen im Garten von Schloß Merivaux.</p> - -<p>Er konnte also auch ernst sprechen. Sieh einmal an. Ernst und schön. -Sie mußte das zugeben. Aber es reizte sie. Sie, die sich immer in -die Weite sehnte, lehnte sich plötzlich dagegen auf, daß man ihr die -Schönheit der Fremde rühmte, wo sie die Schönheit der eigenen Heimat -gelobt wissen wollte.</p> - -<p>„Warum sagen Sie mir das alles?“ fragte sie scharf dazwischen.</p> - -<p>„Weil ich wohl möchte, daß Sie es kennen lernten, gnädiges Fräulein.“</p> - -<p>„So finden Sie es schöner ... schöner als bei uns?“</p> - -<p>Er lächelte überlegen. „Das hier ist wie eine Oase. Aber sonst, <span class="antiqua">mon -dieu</span> ... nicht so böse Augen machen, bitte ... sonst ist die Mark -Brandenbourg ein armes Land.“</p> - -<p>„Warum sind Sie denn aber hergekommen?“</p> - -<p>„Oh ... warum? Wie können Sie fragen? Weil wir sind Royalisten. Man hat -uns geknechtet daheim, die Demagogen haben gesiegt. Aber wir ’alten -treu zu unserem Fürsten, zu unserem König. Wir wollen ihm weiterdienen. -<span class="antiqua">Vive le roi!</span>“</p> - -<p>Sie waren weitergegangen, den breiten Weg zurück. Jetzt blieb Merivaux -plötzlich stehen. Er griff mit einer<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> seiner heftigen Bewegungen in die -Fliederbüsche, knickte ein paar Zweiglein. „Mein Vater haben sie in -<span class="antiqua">prison</span> geworfen, die Revolutionäre, als der Aufstand kam. Dann -hat uns Preußen im Stich gelassen ... Politik ... Politik ... was weiß -ich. Aber wir bleiben treu ... treu bis zum Tod. Verstehen Sie das, -gnädiges Fräulein?“</p> - -<p>Helene nickte. Sie fühlte: das war jetzt nicht mehr der kleine lustige -Leutnant, der zu ihr sprach. Es war ein Mann, der einer Überzeugung -diente. Es stieg heiß in ihr auf. Sie begriff vielleicht nicht ganz. -Aber sie empfand: ein Mann, der seine schöne Heimat verläßt, die er -über alles liebt, um in der Fremde dem Herrscher mit Blut und Leben zu -dienen, dem die Vasallentreue gebührte! Alles um der Treue willen!</p> - -<p>Wieder gingen sie ein Stück weiter, schweigend nun.</p> - -<p>Da kam ihnen bei der Wegbiegung Herr Schwarz entgegen. Im langen -braunen Rock, auf dem Kopf ein winziges Hütchen, in der Hand einen -leichten Stock mit goldener Krücke, um den hohen Hemdkragen ein -seidenes Cachenez.</p> - -<p>Helene sah ihn — und mit einem Male fühlte sie, jäh erschreckend, wie -plötzlich all die Sympathie für den jungen, frischen Menschen neben -ihr verblich, wie sich all ihre Gedanken widerstrebend dem Sänger -zuwandten. Dabei trotzte es in ihr auf: ich will nichts von ihm wissen, -ich will nicht — will nicht! Und sie straffte sich, setzte ihre -hochmütigste Miene auf.</p> - -<p>Herr Schwarz ignorierte beides: die kühle Gleichgültigkeit in dem -schönen Mädchengesicht und Abwehr und Verdruß in den Zügen des jungen -Offiziers. Der hatte sich schnell eine Gerte aus dem Busch gebrochen -und schwippte damit durch die Luft, schlug sich an die Stiefelschäfte.</p> - -<p>Vollständig fast ignorierte Herr Schwarz den Neuchateller; gerade -nur die notwendigste Höflichkeit lag in seinem Gruß. Er wandte sich -ausschließlich an Helene.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p> - -<p>„Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen? Aber was frage ich! Ich -bin ja nicht mit Blindheit geschlagen.“</p> - -<p>„Fragen Sie doch lieber. Oder soll ich Ihnen sagen: Fräulein von -Hackentin ’at mir gerad eben gesagt, daß sie ist stock’eiser. -Stock’eiser, Monsieur Schwarz —“</p> - -<p>Der Sänger lachte. „Dann wird das gnädige Fräulein einen Scherz gemacht -haben. Als ich vor einer Stunde etwa mein Fenster öffnete, hörte ich -ein paar halblaute Töne, eine Kadenz nur ... unter mir mußte man auch -das Fenster aufgetan haben — nun, kurz und gut, ich wußte sofort, daß -diese Stimme nur die von Fräulein von Hackentin sein konnte. Ich wußte, -heut ist das gnädige Fräulein nicht mehr indisponiert, heut wird sie -singen.“</p> - -<p>„Sie wird nicht singen —“ sagte Helene und setzte den Kopf noch -gerader auf den Nacken.</p> - -<p>Er nahm seinen Stock zwischen beide Hände vor die Brust, daß die -goldene Krücke unter das Kinn zu liegen kam, lächelte wieder, überlegen -und fast ein wenig ironisch: „Sie wird doch singen, wenn der Kollege -sehr bittet.“</p> - -<p>„Der Kollege? Welcher Kollege, Herr Schwarz?“</p> - -<p>„Nur meine Wenigkeit, gnädiges Fräulein. Sie müssen das Wort schon mit -in den Kauf nehmen: wir huldigen ja derselben Kunst, der göttlichen -...“ Plötzlich brach er ab. „Ist das nicht übrigens ein wonniger -Oktobermorgen? So warm wie im Hochsommer.“</p> - -<p>Merivaux machte eine Bewegung mit dem Zeigefinger um den Hals: „Aber -Sie ’aben gepummelt das Cachenez um die Kehle.“</p> - -<p>„Vorsicht ist zu allen guten Dingen nutze, Herr Leutnant. Diese ‚Kehle‘ -hier aber ist ein gut Ding. Nicht für mich nur, sondern für die Welt, -in der man den <span class="antiqua">bel canto</span> zu schätzen weiß.“</p> - -<p>Sie waren weitergegangen und standen vor dem kleinen chinesischen -Pavillon, der die Fernsicht nach der anderen Seite bot: nicht auf -Rohlbeck, sondern nach Stellberg hin. Fast das gleiche Bild, nur daß -das Dorf im Vordergrunde fehlte. Und da sagte Schwarz: „Wie schön doch -diese Mark<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> Brandenburg ist. Ich hätte es nie für möglich gehalten. Man -hatte mir so viel erzählt von ihrem öden Sande, daß ich in eine Wüste -zu kommen fürchtete. Aber nun kann ich mich gar nicht satt sehen an -diesen weiten Blicken auf die geraden schlichten Linien der Landschaft. -Ich kenne doch ein großes Stück Welt, kenne romantischere, äußerlich -reizvollere Gegenden. So gepackt aber hat’s mich selten wie hier. Wie -das alles zusammenstimmt: Landschaft und Menschen. Alles so offen, so -einfach, ohne Kompliziertheit, immer zum Herzen sprechend. Sprechend? -Nein, klingend, tönend. Man muß es lieben, beides, Land und Leute.“</p> - -<p>Helene schwieg, trotzdem er zu ihr sprach. Nur zu ihr. Sie wollte nicht -antworten. Aber hindern konnte sie doch nicht, daß sich die Worte -wieder in ihre Seele schmeichelten, die Worte und der Klang dieser -Stimme.</p> - -<p>„Ist doch ein armselig Land!“ sagte Merivaux dazwischen. Wie aus Trotz -heraus.</p> - -<p>„Wie Sie das nur behaupten können! Es gibt gewiß reichere Erdenflecken. -Länder, in denen wirklich Milch und Honig fließt, Gegenden, die auch -auf das äußere Auge stärker wirken. Die Mark spricht, für mich, zur -Seele. Und nun die Menschen! Merkwürdige Menschen. Schlendere ich -gestern abend durch das Dorf. Ganz allein. An einem Zaun steht ein -alter Bauer, ich fang ein Gespräch mit ihm an. Wortkarg gibt er Rede -und Antwort. Und dann hat er — ich sprach vom Wetter — fast genau -Hamlets Wort: es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...“</p> - -<p>Merivaux schlug sich wieder mit seiner Gerte auf den Stiefelschaft, daß -es klatschte: „Da ’aben Sie dazu gedichtert, Monsieur Schwarz. Einfach -hineingedichtert. Der Bauer ist Bauer, und Bauer bleibt Bauer.“</p> - -<p>Der Sänger zog die Achseln hoch und sah zu Helene hinüber, als -erwartete er einen Einwurf, eine Parteinahme für sich. Aber die blieb -aus. Ihre Gedanken waren eine andere Straße gezogen. In ihr klangen nur -seine Worte über das Landschaftsbild. Zuerst hatte sie sich darüber<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> -gefreut, gerade weil sie im Gegensatz zu Merivaux’ Urteil standen. Nun -schienen sie ihr doch ein wenig phrasenhaft, ein wenig gekünstelt. Was -hatte der Neuchateller eben gesagt? Hineingedichtert ...</p> - -<p>Da sagte Schwarz, und sie horchte wieder auf seine weiche, -einschmeichelnde Stimme: „Wir wollen nicht streiten. Der Morgen ist -wirklich zu schön dazu. Kommen wir nicht auf diesem Wege zur Fasanerie, -gnädiges Fräulein?“</p> - -<p>Sie nickte, und sie gingen weiter.</p> - -<p>Erst zu dreien, dann blieb Merivaux ein paar Schritte zurück. Einmal -sah sie sich nach ihm um; flüchtig, eigentlich nur aus Höflichkeit, -als Verwandte des Hauses, dessen Gast auch er war. Aber er stand an -den Büschen, hatte die Zweige auseinandergebogen, spähte vielleicht -nach einem Vogelnest. Das mochte ihn mehr interessieren als alles, was -der Russe — immer noch nannte sie ihn in Gedanken so — erzählte. Der -hatte schnell wieder den Übergang gefunden vom märkischen Bauer zur -großen Welt. Aus der Enge in die Weite, schien es ihr. Er sprach von -Petersburg, von Paris, von Wien, vom geselligen Leben, vom Theater. Es -war ihr so fremd, es war ihr so neu — fast alles, was er sagte. Man -mochte wollen oder nicht: man mußte lauschen. Auch dem, was er über -sich einfließen ließ: von dem unwiderstehlichen Drang, der ihn, den -Sohn eines Bergwerkdirektors, zur Kunst getrieben hätte; wie er schon -auf dem Gymnasium durch seine Stimme Aufsehen erregt, welche Kämpfe er -zu durchringen gehabt, wie dann das Glück über ihn gekommen wäre. Und -nun sei er auf der Höhe —</p> - -<p>„Auf der Höhe ... ja ... und doch nimmer befriedigt ...“</p> - -<p>Es klang so weich, es klang so schmerzlich: nimmer befriedigt.</p> - -<p>Ein Geständnis war es. Es schlug eine Saite in ihrer eigenen Seele an. -Sie <em class="gesperrt">mußte</em> fragen: „Nimmer befriedigt? Sie? Und warum?“ Ganz -zögernd nur, scheu kam das letzte Wort.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p> - -<p>„Ja ... warum? Wer kann das eigentlich sagen? Da ist der heiße Wunsch, -immer Reiferes, immer Vollkommneres zu leisten, das große Streben, das -den Künstler bis zum letzten Atemzuge nicht verlassen darf. Und daneben -steht die unendliche Leere.“</p> - -<p>Es zwang sie, ihn anzusehen. Fast schien es, als glänzten seine Augen -feucht.</p> - -<p>Sie schüttelte zaghaft den Kopf. „Die Leere?“</p> - -<p>„So ist es, mein gnädiges Fräulein. Nicht anders. Streben und -Beifallslohn ... wunderbar schön sind sie, bezaubernd, berauschend. -Aber der Rausch verfliegt, der Zauber erlischt. Es bleibt nur der -graue Alltag, in den keine Sonne hineinleuchtet. Manchmal glaubt man -freilich, einen freundlichen Sonnenstrahl festhalten zu können ... aber ...“</p> - -<p>Er brach ab.</p> - -<p>Schweigend gingen sie noch ein paar Schritte weiter, blieben dann -stehen. Helene war’s, als stockte ihr der Atem.</p> - -<p>Da fragte er: „Werden Sie heut singen?“</p> - -<p>Sie neigte den Kopf, ohne ein Wort. Aber es war doch eine Bejahung.</p> - -<p>Und dann war mit einem Male Merivaux neben ihnen und noch ein anderer, -den er unterwegs aufgelesen haben mußte.</p> - -<p>Merivaux hatte wieder ein fröhliches Lachen, das ihr geradezu weh tat -in diesem Augenblick. „Also, Monsieur Schwarz, also hier ’ab ich einen -ganz Sachverständigen. Also, Monsieur Smithals, also was ’alten Sie von -die märkischen Bauer?“</p> - -<p>Worauf der stämmige Alte auch lachte: „Unse Pauern? Verfluchtigte -Sakarmenter sind’s, Herr Leutnant.“</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p>Helene war unter den Fröhlichen sehr still gewesen.</p> - -<p>Man war bei Tisch immer fröhlich in Rackow. Die Tafelrunde hatte -hier ihre besondere Weihe. Onkel Ernst<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> war ein Schlemmer. Er nannte -sich einen Gourmet, aber er war beides: Gourmet und Gourmand; er aß -möglichst erlesen und aß — wie ein Scheunendrescher. Wenn er am -eigenen Tisch vor seinem berühmten ovalen Ausschnitt präsidierte, in -den sein Bäuchelchen gerade hineinpaßte, glänzte sein Gesicht vor -Behagen und Wonne: „Nun, Mariechen, was gibt’s denn heut?“ fragte -er noch vor der Suppe, obwohl er das Menü schon vorher mit Monsieur -Bombourdan, dem Chef, eingehend erwogen hatte. Und Tante Marie, die -selber aß wie ein Piepmatz, aber noch eine weit feinere Zunge hatte als -der Rackower, lächelte gnädig: „Du wirst schon zufrieden sein.“ Dann -sah Onkel Ernst regelmäßig unter seinem Monokel „um die Ecke“, musterte -der Reihe nach seine Gäste und freute sich, wenn er auch bei ihnen -einiges Verständnis erhoffen konnte.</p> - -<p>Heut mochte das angehen. Die Rohlbecker waren heraufgekommen. Die -Rohlbecker Damen — mit denen war zwar in bezug auf kulinarische -Genüsse nicht viel anzufangen; der alte Rittmeister würdigte eigentlich -nur eine Delikatesse, im Juni den Matjeshering, von dem er sich -regelmäßig einmal im Jahr ein kleines Tönnchen aus Hamburg kommen ließ. -Aber Wilhelm Hackentin hatte sich in Berlin neuerdings zu einem kleinen -Schlecker ausgebildet, der eine Holsteiner Auster von einer Native mit -geschlossenen Augen zu unterscheiden wußte. Der lustige Merivaux kannte -sich auch aus; französisches Blut! Neulich hatte der davon gesprochen, -daß man Hammelkoteletten eigentlich nur in einer Pfanne braten sollte, -die mit einer Zwiebel ganz, ganz leicht ausgestrichen wäre — „grad -nur ein ’auch“. Nicht übel. Und Alfred Schwarz war geradezu ein Mann -nach Onkel Ernsts Herzen. Das Bürschlein hatte schon in Ems eine Zunge -bewiesen, die der Nachbarschaft seiner berühmten Stimmbänder nichts -nachgab. Eine Bordeauxzunge, die Lage und Jahrgang geradezu erstaunlich -zu beurteilen wußte, im Handumdrehen, und die auch beim Champagner -nicht versagte. Petersburger Schule, so lächerlich das war. Das Volk -soff Wuttki,<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> Wuttki und nochmals Wuttki, aber dafür aßen und tranken -die oberen Zehntausend desto besser.</p> - -<p>Man war wie immer sehr fröhlich am Rackower Tisch.</p> - -<p>Nicht laut indessen. Selbst die heitersten Scherzworte flogen in -gedämpftem Ton herüber und hinüber. Gerade, daß die kleine, mollig -runde Grete Waldegg, die Tochter vom Stockschen Oberstleutnant, -manchmal aufkicherte, wenn ihr Tischherr, der rote Fritze Hackentin, -ein bissel mit ihr zu schäkern versuchte.</p> - -<p>Helene war unter den Fröhlichen sehr still.</p> - -<p>Merivaux hatte sie geführt und gab sich umsonst redlichste Mühe, ein -Lächeln auf dem heut so eigen ernsten Gesicht heraufzulocken. Auf ihrer -anderen Seite saß ihr Bruder Wilhelm. Der wußte, so gesprächig er -war, auch nichts mit ihr anzufangen. Sie saß mit gesenkten Augen und -berührte die Speisen kaum. Nur ein Glas roten Champagners, Spezialität -des Rackower Kellers, Marke Ruinart & Cie. in Reims — trank sie hastig -leer.</p> - -<p>Ihr gegenüber hatte, zwischen Martha Hackentin und Tante Marie, der -Russe seinen Platz.</p> - -<p>Manchmal, auf den Bruchteil einer Sekunde, sah Helene zu ihm hinüber. -Wie unter einem Zwang. So lebhaft er sich unterhielt: jedesmal trafen -sich doch ihre Blicke. Und immer senkte Helene, erschrocken, die Augen -wieder auf ihren Teller.</p> - -<p>Der Kaffee wurde im Damast-Salon genommen. Nicht um den großen -runden Tisch, wie in Rohlbeck und in den anderen Gutshäusern, wo der -Nachmittagskaffee mit „Stippe“ eine besondere Rolle spielte. Frau -Marie wußte in ihrem roten Salon die Gäste unaufdringlich in einzelne -Gruppen zu gliedern, Altersklassen und Interessensphären geschickt -zusammenzuschieben.</p> - -<p>Auch ihr Salon hatte Stil. An den damastbespannten Wänden ein paar -gute Bilder, ein Aquarell von Hildebrand mit aller Farbenpracht der -Tropen, ein treffliches Porträt von Franz Krüger, das Onkel Ernst noch -in seiner Jugend<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> Maienblüte, als schlanken Jüngling, darstellte, -ein großer Stich nach Guido Reni. Zwischen den Möbeln, wo es irgend -anging, Blattpflanzen und blühende Blumen, die der Gärtner täglich -erneuern mußte, und neben dem Kamin eine ziemlich große Voliere, -hinter deren vergoldeten Stäben ein Dutzend winzig kleiner Tropenvögel -das kurze Leben verträumte. Das kurze Leben: denn diese bunten -Kinder einer südlicheren Sonne starben dahin wie die Fliegen, trotz -der liebevollsten Pflege, und der Berliner Händler mußte alle paar -Wochen Nachschub senden. War Tante Marie aber besonders in Stimmung, -so öffnete sie die Tür der Voliere, lockte die Tierchen heraus, bis -sie frei im Salon umherflatterten. Es gab dann immer lautes Jubeln, -viel „Ahs“ und „Ohs“. Nur dem alten Rittmeister war die „Unzucht“ -ein Greuel. Er huldigte Frau Marie mit einem Respekt, in dem sich -chevalereskes Wesen und derbes Landjunkertum eigen mischten. Aber -ihre Behandlung der Tropenfremdlinge nannte er, dem sonst jede -Humanitätsduselei weltenfern lag, Tierquälerei.</p> - -<p>Unter dem Stich nach Guido Reni stand der wunderschöne Bechsteinflügel -in gläsernen Untersätzen auf dem dunkelroten Teppich.</p> - -<p>Helene und die mollig runde Grete Waldegg waren von der Hausfrau an dem -Tischchen beschäftigt worden, auf dem die silberne Kaffeemaschine mit -all ihrem Zubehör prunkte. Das war in Rackow immer das Amt der jungen -Mädchen: sie hatten den Mokka zu bereiten, Herrn Höhne zu assistieren, -den älteren Damen persönlich das Meißener Schälchen mit einem artigen -Knicks zu überreichen. Tante Marie sah dem gern zu, durch die scharfen -Gläser ihrer langstieligen Lorgnette, und manchmal gab’s nachher eine -kleine Instruktionsstunde: „Cherie, so faßt man aber eine Tasse nicht -an“ ... „Mignonne, vor einer Greisin könntest du dich wirklich ein -wenig tiefer beugen“ ... „Mein liebes Kind, man macht bei solcher -Gelegenheit kein <span class="antiqua">air moussade</span> ... lächeln mußt du, liebenswürdig -lächeln ...“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p> - -<p>Ihr eigenes kleines spitzes Gamingesicht hatte ja meist auch solch ein -liebenswürdiges, komplisantes Lächeln. Auch jetzt, wo sie — nachdem -der Kaffee genommen war — einen Blick der Aufforderung zu Herrn -Schwarz hinübersandte. Der stand an der Tür zur Bibliothek, der einzige -Gast in Frack und weißer Battistbinde, mit ein paar Orden im Knopfloch, -das Täßchen noch in der Hand. Ziemlich vereinsamt. Aber er zeigte es -nicht, daß er sich vereinsamt fühlte. Seine Blicke waren all die Zeit -im Zimmer umhergewandert, um schließlich immer wieder auf Helenens -rostbraunem Haar, das in hundert winzigen Löckchen sich gegen den -glatten Scheitel sträubte, haften zu bleiben.</p> - -<p>Er verstand den Blick der Hausherrin sofort. Vielleicht hatte er darauf -gewartet. Ganz leicht verbeugte er sich, setzte die Schale beiseite, -ging auf den Flügel zu, öffnete die Klaviatur. Höhne eilte diensteifrig -herbei, schob den Stuhl zurecht.</p> - -<p>Helene hatte sich mit Molly und Bruder Fritz ins Schmollwinkelchen -neben der Voliere geflüchtet. Ganz tief zurückgelehnt saß sie, hatte -die Hände im Schoß verschränkt. Und um ihre roten Lippen spielte ein -etwas spöttischer Zug. Sie fand, daß der Russe keine gute Figur machte. -Es war immer wie eine Pose; sein Stehen an der Tür, sein gleitendes -Schreiten, die Art, wie er jetzt am Flügel Platz nahm, einen Moment -nachzusinnen schien. Eine kleine Schadenfreude war in ihr und doch auch -eine große Erwartung.</p> - -<p>Doch nun klangen die ersten Töne auf. Schwarz schlug ein paar Akkorde -an, dann setzte er ein.</p> - -<p>Er sang die große Arie aus „Zar und Zimmermann“: „Einst spielt ich mit -Zepter und Krone und Stern ...“</p> - -<p>Es wurde still im Raum.</p> - -<p>Der spöttelnde Zug erlosch in Helenens Gesicht. Es spannte sich. Sie -richtete sich auf, und dann beugte sich ihr schlanker Körper mehr und -mehr nach vorn. Und die Hände hoben sich aus dem Schoß, preßten sich -gegen die Brust, eng verschlungen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span></p> - -<p>Großer Gott ... war das denn möglich? Gab es das? Solch eine Stimme! -Solchen Wohlklang, solche Kraft ... und solche Kunst! Eine Himmelsgabe, -köstlich und wunderbar, gemeistert in edelster Schule! Ein Vortrag, der -aus tiefstem Empfinden kommen mußte, der zu dem Herzen sprach, daß es -jubeln mußte. Nein, nicht jubeln: stumm lauschen, stumm genießen, in -Demut genießen!</p> - -<p>Gleich Perlen auf Goldschnur gereiht, so war es, Ton auf Ton. Klar, -rein ... erhaben ... groß ... herrlich!</p> - -<p>Sie dachte nur: der erste wahrhafte Künstler, den du hörst. Welch eine -Gnade ...</p> - -<p>Der letzte Ton verklang.</p> - -<p>Der Beifall brach los.</p> - -<p>Sie hörte ihn kaum. Sie sah nicht, wie Vater klatschte, wie selbst die -stille Martha die Hände rührte. Sah nicht, wie Ernst Hackentin sein -Bäuchlein trommelte; nicht, wie der Garde-Schütze, der neben Wilhelm -hinter dem Stuhl der Mutter stand, die Hände hob, um sie dann gleich -sinken zu lassen. Sah auch nicht, wie Tante Marie quer durch den Saal -schwebte, trippelnd, raschelnd und lächelnd, am Flügel stehenblieb, dem -Sänger zuflüsterte.</p> - -<p>Tief in Träumen befangen saß Helene. In Träumen, die vor ihr die -Pforten einer neuen Welt weit auftaten ...</p> - -<p>Dann horchte sie doch auf, erschreckt zuerst.</p> - -<p>Von neuem hob es an. Sie fühlte sogleich, daß eine andere Hand den -Flügel meisterte. Als sie den Blick hob, sah sie, daß Tante Marie vor -dem Instrument saß, daß der Russe neben ihr stand.</p> - -<p>„Letzte Rose“ sang er.</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Letzte Rose ... o wie einsam magst du hier verblühen ...</div> - <div class="verse indent0">Deine andern freundlichen schönen Schwestern sind ja längst, ja längst dahin ...“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Es war anders als vorhin. Vielleicht war es noch schöner. Seine Stimme -klang gleich kräftig, aber weicher, einschmeichelnder. Wie ein ewiges -Locken war es, ein süßes, verführerisches Bitten, Flehen, Werben ...</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p> - -<p>Wieder saß sie weit vornübergebeugt, die Hände gegen die hochatmende -Brust gepreßt. Und nun die Augen auf ihn gerichtet. Sie sah nur -sein Profil, die scharf geschnittenen Linien des schönen Gesichts. -Gleich einer Silhouette hob sich das ab von dem Hintergrund der roten -Damasttapete, hell beleuchtet von den vielen Kerzen des Kronleuchters. -Die kleine Gestalt von Tante Marie war nur wie ein helles Fleckchen vor -dem Flügel. Über ihr Köpfchen blickte er hinweg auf die Notenblätter. -Zwei — dreimal griff seine Hand nach vorn, um sie zu wenden.</p> - -<p>Dann plötzlich, ganz zuletzt, wandte er den Kopf. Sein Blick streifte -durch den Raum, wie suchend, blieb auf Helene haften. Ein Lächeln kam -zu ihr hinüber: war’s recht so? Ein siegesgewisses Lächeln: nicht wahr -... es ist schön gewesen!</p> - -<p>Noch eine glänzende Perlenkette von Tönen, sieghaft wie jenes Lächeln, -mühelos quellend wie im Triumph des großen Könnens. Und er schwieg.</p> - -<p>Wieder der starke Beifall. Ganz leicht neigte er den Kopf zum Dank. -Vater, Wilhelm waren schon neben ihm, schüttelten ihm die Hand, Onkel -Ernst hob sich aus seinem Sorgenstuhl, rollte sich zum Flügel. Tante -Marie hatte den Drehsessel umgewendet, lachte zu ihm in die Höhe.</p> - -<p>Aber plötzlich löste er sich aus der Plaudergruppe. Mit raschen -Schritten ging er quer durch das Zimmer, blieb vor Helene stehen und -bat, ehe sie noch recht zur Besinnung kommen konnte: „Jetzt werden Sie -singen, gnädiges Fräulein!“ Bat — und es war doch fast wie ein Befehl. -Sie schrak heftig zusammen, aber sie stand auf. Schüttelte den Kopf, -hob die Hände zur Abwehr. So stark war sie erschrocken, daß sie nicht -sprechen konnte. Nicht einmal das eine: ‚Jetzt — nimmermehr.‘</p> - -<p>„Darf ich Sie zum Flügel führen?“ hörte sie seine Stimme. Und zugleich -neben sich ein leises, etwas spöttisches Kichern der molligen -rundlichen Molly. Es klang ihr auch wie: ‚Jetzt singen ... wie sollte -die Lene das riskieren.‘ Aber es peitschte ihren Trotz auf. Sie legte<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> -mit einem plötzlichen Entschluß ihre Hand in seinen Arm, ging ein paar -Schritte, blieb dann doch wieder stehen: „Ich kann jetzt nicht singen -... nach Ihnen!“</p> - -<p>„Gnädiges Fräulein ...“</p> - -<p>Sie standen mitten im Zimmer, gerade unter dem Kronleuchter, und nun -nicht mehr allein. Tante Marie war herangetreten: „Aber, Mignonne!“ -Vater kam und erklärte im Rittmeisterton: „Ziere dich nicht. Das ist -ridicül. Das heißt: Sing, so gut du kannst. Mehr verlangt keiner.“</p> - -<p>‚Ich kann nicht —‘ wollte sie noch einmal sagen. Aber sie fühlte sich -von Schwarz unwiderstehlich weitergezogen, mit einem ganz sachten -Druck seines Armes, stand schon am Flügel und wußte gar nicht, wie sie -dorthin gekommen war.</p> - -<p>„Was werden Sie uns singen?“ fragte Schwarz. Und zum dritten Male -wollte sie entgegnen: ‚Gar nicht singen will ich‘ und hatte doch schon -die Hand nach dem Notenschränkchen neben dem Instrument ausgestreckt. -Er griff gleichzeitig zu. Die Blätter raschelten. Auf einen Augenblick -berührte ihre heiße Stirn fast seine Wange. Wieder schrak sie zusammen, -richtete sich hastig auf, schüttelte den Kopf. Wortlos ...</p> - -<p>‚Warum quälen sie mich!‘ schrie es in ihr. ‚Warum quälen sie mich? Ich -kann ja doch gar nichts. Kann ja nicht singen ... hier nicht ... heut -nicht ...‘</p> - -<p>„Mendelssohn liegt Ihnen gewiß, gnädiges Fräulein?“</p> - -<p>Er hatte ein Blatt herausgesucht, wies es ihr hin. Und in heller -Verzweiflung neigte sie den Kopf.</p> - -<p>„Soll ich akkompagnieren?“</p> - -<p>Endlich fand sie die Sprache wieder: „Nein — nein! Ich begleite mich -immer selber ...“ Der Gedanke, hinter ihm zu stehen, ihm folgen zu -müssen, war ihr unerträglich.</p> - -<p>Dann war plötzlich Bruder Wilhelm neben ihr. Sie mochte ihm leid tun. -Er schob ihr den Stuhl zurecht, raunte ihr ein paar liebe Worte zu —</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p> - -<p>Und nun saß sie, hatte die Hände auf den Tasten, sah auf das Notenblatt -und meinte, keinen Finger rühren, keinen Ton herausbringen zu können. -Die Stimme stickte ihr ja im Halse, die Kehle war so trocken, war wie -zugeschnürt. Weinen hätte sie mögen.</p> - -<p>Aber mit einem Male, ganz jäh, war das alles anders.</p> - -<p>Mit einem Male kam es wie eine große Befreiung über sie. Unerklärlich, -wie das geschah. Ganz plötzlich hatte sie das Empfinden: ‚Du mußt -singen! Du kannst es! Du wirst es gut machen, wirst ihm beweisen, daß -du keine elende Stümperin bist. Daß auch dir Gott die Gabe verlieh ...‘</p> - -<p>Noch sah sie wie durch einen Tränenschleier die Noten. Aber gleich -darauf ward es helle vor ihr. Das leise, unsichere Beben der Finger, -das sie vorhin gespürt, verschwand. Sie fühlte, wie die Stimme frei -wurde ... ganz frei —</p> - -<p>Und so sang sie —</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Wie ist Natur so hold, so gut!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Das Goethesche Lied hatte er für sie gewählt.</p> - -<p>Während sie sang, wurde sie froh. Das war ja fast immer so; aber heut -doch anders wie sonst; eine wahre Lust, hinauszujubeln, erwachte in ihr.</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Auf der Welle blinken</div> - <div class="verse indent0">Tausend schwebende Sterne,</div> - <div class="verse indent0">Weiche Nebel trinken</div> - <div class="verse indent0">Rings die türmende Ferne ...“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Es war wie ein Rausch. Ein holder, beseligender, traumhafter Rausch. -Sie fühlte wohl, daß es ihr glückte, daß sie gut sang, besser als je. -Aber sie gab, was sie gab, doch völlig unbewußt. Die Töne quollen in -ihr empor, ohne daß sie suchte.</p> - -<p>Und dann war alles aus. Mit dem letzten Ton entschwanden ihr Wille und -Kraft, die Begeisterung erlosch, die Spannung der Seele ließ nach. Müd -und matt wie<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> ein Vögelchen, das aus Wolkenhöhen zu Boden geschmettert -wurde, hockte sie vor dem Instrument, die Hände waren von den Tasten -gesunken und lagen im Schoß. Sie hörte nur undeutlich den Beifall, -dachte nur: ‚ach ... es war ja doch nichts, du kannst ja gar nichts; -und wenn sie klatschen ... was verstehen sie!‘ Ein Schluchzen stieg auf -in ihr. Sie biß die Zähne aufeinander, preßte die Lippen zusammen; tief -herab glitt ihr Kopf, und die Stirn schmerzte.</p> - -<p>Mehr sollte sie singen. Die Stimmen schwirrten durcheinander. Man -bat, machte Vorschläge: eines der Taubertschen Kinderlieder, das -Rothschild-Liedchen: <span class="antiqua">Si vous n’avez rien à me dire</span> ...</p> - -<p>Nein! Nein! Nein!</p> - -<p>Dann stand sie jäh auf. Mit dem plötzlichen Entschluß: ‚jetzt willst du -das letzte wissen ... sein Urteil ... und wenn es dein Todesurteil wäre -...‘</p> - -<p>Sie wandte sich kurz um.</p> - -<p>Und da sah sie ihn. Er stand nicht in der Gruppe der Verwandten am -Instrument. Er war zurückgetreten, lehnte wie vorhin, ehe er gesungen, -an der Tür zur Bibliothek.</p> - -<p>Sie sah ihn und sah, daß seine Augen zu ihr herüberleuchteten. Und -nun kam er, faßte ihre beiden Hände, unbekümmert um alle, die um sie -waren, und sprach: „Sie werden eine große Sängerin werden! Eine von den -ganz großen, vor denen sich Könige und Fürsten neigen. Ich preise mich -glücklich, daß ich als Erster Ihnen das sagen darf.“</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Viertes_Kapitel">Viertes Kapitel</h2> - -</div> - -<p>Kantor Flehr schob mit gesenktem Haupt langsam über die Dorfaue. Man -konnte es ihm ansehen, daß er Sorgen hatte, die ganze Hucke voll, und -zwar, trotzdem Kartoffelferien waren und die liebe Jugend ihm daher den -Schädel nicht heiß machte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span></p> - -<p>Sorgen hatte Kantor Flehr zwar eigentlich immer. Ein -Dorfschulmeisterlein im Königreich Preußen und keine Sorgen: das gab’s -ja einfach nicht. Gerade daß man vor dem Verhungern geschützt war — -bei der Herde Kinder, die sich so nach und nach einfand. Recht machen -konnte man es auch niemand: dem Herrn Patron nicht; dem Herrn Pastor -nicht, obwohl beide noch nicht die schlimmsten waren, im Gegenteil. Den -Bauern und Kätnern, dem lumpigsten Tagelöhner erst recht nicht. Und -deren Ehegesponsten nun schon gar nicht. Denn im Grunde genommen: den -Weibsen wär’s am liebsten gewesen, wenn sie ihre Rangen gar nicht in -die Schule zu schicken brauchten, oder wenn er den Nürnberger Trichter -besäße, um Bub und Mädel in einem einzigen Viertelstündchen- alles -einzutrichtern, was sie fürs Leben gebrauchten. Damit besagte Rangen -den besagten Eltern in Feld und Wirtschaft helfen könnten, von früh bis -spät. Von der Bildung hielt das Volk verflucht wenig. Aber man selber -hatte doch nun mal sein Pflichtgefühl und seine Ideale. Hatte man, und -konnte, durfte man nicht preisgeben. Wenn schon das ganze Dasein immer -wieder die elendsten Kompromisse verlangte.</p> - -<p>Sorgen also hatte Kantor Flehr eigentlich immer, und sie hatten -ihm wohl auch die tausend Runzeln und Fältchen in das alte Gesicht -gegraben. Aber an diese alltäglichen Sorgen gewöhnte man sich -allgemach, wie man sich daran gewöhnt hatte, daß Quetschkartoffeln -mit einem Brocken Speck gar kein so übles Essen waren, oder daran, -daß man immer wieder einen Pflock zurückstecken mußte, was die eigene -geistige Fortbildung anbetraf, oder daran, daß Goethe und Schiller nur -an Sonntagsnachmittagen vom kleinen Bücherbord heruntergenommen werden -konnten; auch daran, daß das alte Klavier von Jahr zu Jahr dünner im -Ton wurde.</p> - -<p>Es mußte schon einiges Besondere zusammenkommen, wenn Kantor Flehr -den Kopf so tief auf der Brust trug<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> wie heute, den schmalen, langen -Oberkörper so vornübergeneigt hielt.</p> - -<p>So war es aber auch. Der Tag verdiente drei Kreuze im Kalender.</p> - -<p>Erst hatte man vom alten Heckstein wieder einmal eine kleine -Vorlesung entgegennehmen müssen über den Geist der „Regulative -—“. Selbstverständlich, das wußte man ja, kam die Salbaderei dem -guten Heckstein selber nicht recht aus dem Herzen; war ein viel zu -aufgeklärter Mann dazu, um vom Geist dieser Regulative überhaupt -aus Überzeugung sprechen zu können, dieser Einschnürungs- und -Verdummungsparagraphen. Aber ein Keil drückte da eben den andern. Und -das war schließlich dem Pastor doch wohl aus dem Herzen gekommen, -daß er sagte: „Überhaupt, Herr Kantor, Sie sind mir zu liberal!“ Ja -... hm ... was sollte man darauf erwidern, wenn der Alte so seinen -gichtgekrümmten Zeigefinger hob? Zu liberal! Du mein Gottchen! Man -hatte doch eben seine Ideale. Und wer die nicht, innerlich mindestens, -hochzuhalten wußte in dieser Zeit, wo die Reaktion wieder mal umging, -als ob sie die letzten paar Säulchen untergraben wollte, auf die sich -noch die Freiheit des Staatsbürgers stützen konnte ... ja, wer sich -seine bißchen Ideale nicht zu wahren wußte, der ging eben moralisch vor -die Hunde. Nicht mehr Staatsbürger, sondern Staatsknecht war man dann ...</p> - -<p>Nun ja ... und eine Stunde darauf war der Schulze gekommen, Christian -Lehmpuhl. Hatte wieder mal solch ein Schreiben vom Herrn Landrat, -Hochwohlgeboren. Wenn man nur die Handschrift des hochmögenden -allmächtigen Kreissekretärs sah, konnte einem die Galle überlaufen; es -roch ordentlich nach Bureaukratie daraus. „Es wird darauf aufmerksam -gemacht ...“ fing es immer an. „Wonach zu richten“ oder „Es wird mit -Bestimmtheit erwartet ...“ schloß es. Diesmal auch. Und dazwischen -gab’s Donner und Blitz gegen die „auf Untergrabung der Königlichen -Autorität abzielenden Bestrebungen“; gegen die<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> „schlechten, -staatsfeindlichen Zeitungen“, die den „Geist der Auflehnung zu -verbreiten suchen“; gab’s eine Lobrede auf das Kreisblatt. Das -Kreisblatt! Das Käseblatt! Da stand nun Christian Lehmpuhl und wußte -sich nicht Rat. Was sollte man ihm raten? Gegen den Herrn Landrat?! -Der Wind und Wetter machen oder die Sonne scheinen lassen konnte über -Gerechte und Ungerechte. Zumal, wo man doch genau wußte, daß die Bauern -weder eine vernünftige Zeitung <em class="gesperrt">noch</em> das Kreisblatt lasen. Was -lasen die denn überhaupt! Na ja ... schließlich war’s denn wieder auf -aller Weisheit Schluß herausgekommen: „Da wer’ ik woll die Krakulle -rumschicken müssen“, hatte der Schulze beschlossen. Schön ... schön: -also morgen ging das berühmte gebogene Holzstück von Haus zu Haus, und -daran flatterte das Schreiben des Landrats wie ein Fähnchen. Aber der -Bauer wandte es ja doch nur rechts und drehte es links; es las keiner, -oder wenn es einer las, verstand er’s nicht. Und das war noch das -Beste ...</p> - -<p>Ja ... und dann war der Herr Doktor Hemming aus dem Schloß -herübergekommen. Der Mann wußte ja eminent viel, alles was wahr -ist; ein tüchtiger Pädagoge sollte er auch sein, und die Junker -lernten mächtig, hieß es. Aber ein unausstehlicher Mensch blieb er -mit seinem hochmütig-herablassenden: „Herr Kollege“. Immer klang -das wie schneidende Ironie. Und immer hatte er gleich die Politik -beim Wickel. Immer in seiner herausfordernden Art. „Es rührt sich -endlich, Herr Kollege. Es rührt sich. Haben Sie das neueste Flugblatt -des Deutschen Nationalvereins gelesen? Großzügig — famos! Und unser -Landtag! Da ist doch noch mal Wille und Kraft. Waldeck und Twesten -und die anderen. Alle — ganze Männer! Nicht wahr? Wenn die Regierung -ihre Sache auf die Spitze treiben will, sie soll’s nur wagen. Dieser -Ansturm des Militarismus wird am festen Willen des Volkes zerschellen, -ist eigentlich schon zerschellt, und auch diese neue Größe, dieser -Herr von Bismarck, wird daran nichts ändern. Sagen Sie selber, Herr -Kollege, soll unsere<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> Nation verbluten unter der Last der Armee? Dieses -unproduktiven Heeres, das kein Volksheer mehr ist, sondern nur noch ein -dynastisches Werkzeug? Wer könnte das leugnen? Glauben Sie mir nur, -Herr Kollege, die Überzeugung wächst in immer weitere Kreise hinein, -daß es auf diesem Wege nicht mehr weitergehen kann. Selbst in die -Kreise des Junkertums. Fragen Sie mal bei Herrn Fritz von Hackentin an, -wie der über die gegenwärtige Situation denkt.“</p> - -<p>Eine Viertelstunde war das so weitergegangen. Eigentlich ganz -interessant. Man sprach ja gern mal mit einem gebildeten Mann über -politische Dinge, wo man so ganz vereinsamt lebte. Wenn nur nicht -dieser entsetzliche Hochmut in dem Doktor Hemming gesessen hätte. -Sprach man denn überhaupt mit ihm? Er sprach ja allein.</p> - -<p>Ja, und dann kam’s zum Schluß: „Übrigens läßt der Rittmeister Ihnen -sagen, Herr Kollege, daß er mit Ihnen zu reden hätte. Sie möchten doch -gegen Mittag mal im Schloß vorsprechen.“</p> - -<p>Na ja ... und das war vielleicht das Ärgerlichste. Das dickste Ende kam -nach. Denn der alte Rittmeister war zwar ein lieber, prächtiger Mann, -aber gut Kirschenessen war unter Umständen mit ihm nicht. Im Grunde war -und blieb er doch immer der Junker, der keine Überzeugung neben der -eigenen dulden konnte. Der König von Rohlbeck! Du mein Gottchen! Ein -armseliges Königreich. Nur daß man doch darin leben mußte, daß man es -unmöglich mit dem alten Herrn verderben durfte. Mit ihm nicht, mit der -Herrschaft überhaupt nicht. Es gab da doch zu viel Fäden, die man nicht -zerreißen konnte.</p> - -<p>Was der Herr Rittmeister nur wollte? Natürlich betraf’s auch wieder die -Politik. Man hörte das ja ordentlich im voraus: „Das heißt, Kantor, ich -muß sagen ...“</p> - -<p>Ja, Kantor Flehr hatte heute seine dreifach gesiebten Sorgen. Das graue -Haupt sank immer tiefer auf die schmale Brust herab, je näher er den -beiden schwarzen<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> Stämmen mit den Kanonenkugeln darauf kam, die den -Eingang zum Schloßgarten flankierten.</p> - -<p>Aber dicht vor dem dräuenden Tor hatte er noch eine Begegnung. Von der -anderen Seite kam der Großbauer Metschke, Adolf Metschke, und hielt ihn -fest. War sonst eigentlich ein ordentlicher Mann, der Metschke, hatte -außerdem eine prächtige Stimme, die manchmal den ganzen Kirchenchor -zusammenhielt. Aber wen er einmal festhielt, der kam nicht so leicht -los.</p> - -<p>„Gut, dat ik Ihnen treffe, Herr Kantohr. Ik wollt zundersch mit Ihnen -reden. Is das denn die Wahrheit, daß se de Soldaten abschaffn wolln?“</p> - -<p>„Aber Metschke —“</p> - -<p>„Jestern ist Sie da nämlich ’n Schlosser aus Ziebinge im Krug gewesen. -Der hat’s vertellt. Vor janz jewiß. Nu muß Se mein Willem zur Stellung. -Sähen Se, Herr Kantohr, da mächt ik doch jerne wissen, ob’s wirklich -seine Richtigkeit haben tut?“</p> - -<p>Flehr schüttelte den Kopf. „Metschke, woher soll ich das wissen. Man -spricht ja so allerlei. Aber abschaffen ... ganz abschaffen ... daran -ist nicht zu denken. Mein ich.“</p> - -<p>„Se müßten’s doch eberscht wissen, Herr Kantohr. ’s soll doch schon in -die Blätter stehn.“</p> - -<p>„Da wird viel geschrieben, lieber Metschke.“</p> - -<p>Adolf Metschke ließ endlich den Westenknopf frei, aber er stellte -sich dafür in Positur gerade vor den Eingang. Kraute mit dem linken -Zeigefinger hinter dem Ohr in seinem flachsblonden Schopf, spuckte -aus und meinte: „Dat kann woll stimmen. ’s wär ja och janz scheen, -aber ik kann Se nich dran glauben, Herr Kantohr. Ick bin Se selwst -Suldat ’wesen. Franzer, Se wissen schon. Na, un so was muß woll sin. -Min Willem soll och zu de Franzer, wenn’s so bliewt. Un ’s wird woll -so bliewn. Nämlich wie sollt das der Keenig denn machen, wenn die -Franzosen kommen und er keine Suldaten nich hat?“</p> - -<p>Im allgemeinen beschränkte der brave Flehr sein Bildungsbemühen -pflichtgemäß auf die Jugend; bei den<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> Alten war, das hatte die -Erfahrung ihn gelehrt, doch Hopfen und Malz verloren. Aber manchmal -wandelte ihn doch das Bedürfnis an, auch ihnen gegenüber aufklärend zu -wirken.</p> - -<p>„Ich sagte Ihnen ja schon, Metschke, an die Abschaffung der Armee denkt -niemand im Ernst. Aber es wird wohl von Freunden des Volks erwogen, ob -man nicht mit weniger Soldaten auskommen kann oder ob man die Soldaten -nicht nur ganz kurze Zeit bei der Fahne behalten braucht.“</p> - -<p>Metschke kraute sich weiter hinter dem Ohr. Er sann nach. „’s wäre -woll janz scheen so“, meinte er. „Wenn der Willem nich so lang aus de -Wirtschaft müßte.“ Pause. „Aber, Herr Kantohr, des jeeht och nich mit -sohne kurze Zeit. Des ist man bloß Jerede. Ik bin doch selwst beis -Kommiß jewesen, Franzer, Herr Kantohr. Un so aus ’m Pauern, was noch -jrün und naß hinter de Ohren is, ’n orndlichen Suldaten machen, das is -nich so haste nicht, kannste nich. Da is der langsame Schritt und da is -’s Jewehr un ’s Schieße un die Instruxon un so ...“</p> - -<p>Es schien, der brave Metschke hatte starke Lust, seine militärischen -Erinnerungen noch lang auszuspinnen. Doch der Kantor wurde ungeduldig. -Er zog die große silberne Zwiebel aus der Tasche. „Lieber Metschke, ich -muß zum Herrn Rittmeister ...“</p> - -<p>„So ... zum ollen gnä’gen Herrn. Den sullt’ man mal fragen. Der weiß -Bescheid. De hat die Franzosen aus’m Lande mit rausgeschmissen, un ’s -Eiserne Kreuz hätt’ er ...“ Damit gab er endlich den Eingang frei. -„Scheen Dank ock, Herr Kantohr ... ick meen, et jeeht nich ...“</p> - -<p>Langsam ging Flehr weiter, den geraden breiten Weg entlang, der zur -Verandatreppe führte. Zuerst mit einem Lächeln im runzligen Gesicht und -mit einem Kopfschütteln über diesen Bauern, über die Bauern überhaupt: -die wurden innerlich doch nicht frei, die klebten, klebten wie an ihrer -Scholle so an allem, was alt hergebracht war.<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> Und wer weiß: wenn der -Schlosser aus Ziebingen etwa wieder im Krug seine neuen Weisheiten zum -besten gab, ob ihm dann nicht Adolf Metschke als alter Franzer das Fell -tüchtig vollgerbte. Womit vielleicht nicht mal ein Unglück geschah. -Denn man mochte noch so liberal denken, ... hm ... daß solche Schwätzer -zu wühlen versuchten ... hm ... das konnte man doch nicht billigen.</p> - -<p>Allmählich erstarb das Lächeln zwischen den Runzeln und Falten, aus -denen das zweimal wöchentlich angesetzte Rasiermesser die grauen -Stoppeln nie ordentlich herausbekam.</p> - -<p>Was eigentlich der alte Rittmeister nur wollte?</p> - -<p>Es war so gar nicht seine Art, jemand zu sich zu bescheiden. Hochmütig -war er wahrhaftig nicht. Er ging in die ärmste Hütte, und im -Kantorhause hatte er oft genug, fast freundnachbarlich, vorgesprochen.</p> - -<p>Was er nur wollte?</p> - -<p>Und da saß ja auch schon die alte Gnädige an ihrem Fenster, mit -ihrem verschleierten Blick, und nickte auf seinen Gruß ganz eigen -— schon von weitem. Die alte Gnädige! Ja ... als man nach Rohlbeck -gekommen war, da war sie noch jung gewesen und schön und lustig. War -vierelang gefahren, mit dem Diener auf dem Bock. Die Zeiten hatten -sich geändert; besser waren sie nicht geworden, auch nicht für die -Herrschaft. Eigentlich zum Gotterbarmen. Wirklich verschwendet hatten -die Hackentins nie, aber das schöne Vermögen zerrann ihnen doch unter -den Händen. Wirtschaften konnten sie nicht. Freilich — ein Armer -klopfte auch heut noch nicht vergebens im Schloß an. Und wenn man’s -recht überlegte: auch im Kantorhause hatten sie oft genug geholfen ...</p> - -<p>Was nur der alte Rittmeister wollte?</p> - -<p>„Herein!“</p> - -<p>Das kam ganz in Rittmeisterton aus der großen Stube.</p> - -<p>„Na, da wären wir ja also, Herr Kantor ...“</p> - -<p>Dem Rittmeister stak immer noch das „Er“ zwischen den Lippen. -Natürlich, er wußte, das ging nicht mehr in der<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> neuen Zeit, Anno 1862. -Selbst zum kleinsten Kossäten mußte man „Sie“ sagen. Aber das „Sie“ -wollte bisweilen nicht recht über die Lippen, und dann kamen allerlei -wunderliche Umschreibungen heraus.</p> - -<p>„Also, da wären wir ja, Herr Kantor“, wiederholte er. „Guten Tag auch. -Das heißt, ob es ein guter Tag ist heut, wer will das wissen?“</p> - -<p>Er stand in der Mitte der Stube. Am Fenster saß die alte Gnädige, -am Ofen saß Wilhelm Hackentin, und beide nickten dem Kantor zu. Der -dienerte, wobei seine endlos lange Gestalt fast zu einem rechten Winkel -zusammenknickte, und dann rieb er sich, verlegen wartend, die knochigen -Hände.</p> - -<p>„Wir wollen uns lieber setzen, Herr Kantor,“ begann der Rittmeister -wieder, blieb aber stehen, um nach einem Weilchen fortzufahren: „Aber -warum setzt man sich denn nicht? Da ... bitte ...“</p> - -<p>Herr Flehr setzte sich wirklich; aber nur auf die Kante des nächsten -Stuhls, und er dachte noch immer: ‚was der Rittmeister nur will?‘</p> - -<p>„Also ... nämlich ... das heißt, wir müssen ein ernstes Wort -miteinander reden, Herr Kantor.“ Damit begann der alte Herr seine -gewohnte Wanderung auf der Diagonale des Zimmers. Es wurde ihm -leichter, während des Gehens zu sprechen. Auch jetzt. Freilich in -wohlkonstruierten Sätzen kam die Rede nicht heraus:</p> - -<p>„Also ... nämlich ... das heißt, gestern in Rackow. Da war ein -Sachverständiger, das heißt, man sagt es. Ein kaiserlich russischer -Hofopernsänger. Das heißt, manchmal denk ich, er ist ein Luftikus. Da -hat das gnädige Fräulein gesungen, Helene. Und der Monsieur Schwarz -oder Weiß — Namen kann ich nie behalten —, der hat ein großes -Wesen davon gemacht. Mag ja auch sein ... das heißt, ich habe selber -gefunden, Lene sang sehr schön. Aber was versteh ich davon?! Also der -Mann hat allerlei Fladusen vorgebracht: eine unvergleichlich schöne -Stimme, eine Wunderstimme und so, wie sie nur alle hundert Jahre -vorkommt.<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> Und daß es ’ne Sünde und ’ne Schande wär, wenn solch eine -Stimme nicht an die Öffentlichkeit käme. Öffentlichkeit — schrecklich! -Ja ... und sie haben alle auf mich eingeredet, das heißt, der Sänger -voran und dann die Rackower und da der Wilhelm auch, Helene müßte nach -Berlin. Das heißt ... nämlich ... da liegt der Haken! Ihre Kunst in -Ehren, mein lieber Kantor, aber mit der Schule, oder wie man’s nennt, -da hapert es noch. So das Tippelchen auf ’m i. Also nach Berlin, zu -irgendeiner ganz großen Lehrerin. In Berlin gibt’s natürlich so was. -Was gibt’s denn am Ende in Berlin nicht? Nämlich aber: das kostet ein -riesiges Geld. Die Berliner nehmen’s von den Lebendigen und den Toten. -Und da ... das heißt, da möcht ich erst mal den Kantor Flehr fragen, -auf Ehre und Gewissen, ob er nach seinen Kenntnissen meint ... das -heißt, ob er wirklich und wahrhaftig glaubt, daß es mit der Stimme von -dem gnädigen Fräulein so etwas ganz Besonderes auf sich hat?“</p> - -<p>Der alte Rittmeister hatte sich heiß geredet. Ganz fließend hatte er -schließlich gesprochen, während er dreimal die Diagonale des Zimmers -durchmaß. Jetzt erst sah er auf und zu dem Kantor hinüber. Und da stand -er still und staunte.</p> - -<p>Es war wohl auch ein wunderliches Bild.</p> - -<p>Ruckweise, langsam hatte sich die lange Gestalt gestreckt und gehoben. -Das Kinn zuerst, der Nacken dann; der immer gebeugte Rücken war gerade -geworden, und nun stand der ganze Mann aufrecht da, ganz aufrecht, -hatte die hageren Hände vor der Brust gefaltet, und aus seinen grauen -Augen leuchtete es.</p> - -<p>Nichts sagte er als: „Lieber Gott, ich danke dir, daß ich das noch -erlebe!“ Sagte es so rührend, daß die alte Gnädige am Fenster leise -aufschluchzen mußte.</p> - -<p>Auch den Rittmeister mußte es wohl packen. Aber er knurrte nur ein paar -ganz unverständliche Töne, und um seiner Bewegung Herr zu werden, fuhr -er den Kantor an: „Das heißt, wir spielen doch hier nicht Komödie.<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> Man -kann doch nie auf eine klare Frage eine deutliche Antwort bekommen — -hol’ mich der Deubel!“</p> - -<p>Sonst hätte solch ein Ton Herrn Flehr gleich aus der Kontenance -gebracht. Diesmal nicht. Mit erhobener Stirn gab er zurück: „Ja, -Herr Rittmeister, die sollen Sie haben. Ich bin nur ein einfacher -Dorfschulmeister, aber von Gesang versteh ich einiges mehr als die -meisten meiner Kollegen. Das muß wohl angeboren sein. Darum kann ich -auch, wie der Herr Rittmeister es verlangen, auf Ehre und Gewissen -erklären: solch eine Stimme, wie die von dem gnädigen Fräulein, mag’s -wirklich nur alle hundert Jahre einmal geben. Das hab’ ich dem Herrn -Pastor schon vor Jahr und Tag gesagt und hab ihn gebeten —“</p> - -<p>„Ich weiß, ich weiß“, wehrte der alte Rittmeister ab, und dann begann -er seine Wanderung von neuem, schweigend, mit immer schnelleren -Schritten.</p> - -<p>„— und es ist wohl Pflicht, solch eine Gottesgabe zu schulen —“ wagte -der Kantor noch einzuwerfen.</p> - -<p>„Pflicht! Pflicht!“ kam’s von dem Teppich herüber. „Ich weiß allein, -was Pflicht ist. Das braucht man mir nicht zu sagen. Das heißt, ob’s -für die Lene ein Glück ist, darauf kommt es an. Dem Mädel den Kopf -verkeilen, ihr Rosinen in den Sinn setzen ... ja, und wenn Gott den -Schaden besieht, wer hat etwas davon? Öffentlich auftreten — da müßt -ich doch vorher in der Grube liegen! Soll eine Hackentin vielleicht als -Komödiantin auf der Bühne stehen?!“</p> - -<p>Die müde Stimme der alten Gnädigen klang dazwischen: „Solch wirklich -ganz große Sängerin ist doch eine Ausnahme, Hackentin. Denk’ an die -Sonntag, die eine Gräfin Rossi wurde ...“</p> - -<p>„Komödiantin bleibt Komödiantin.“</p> - -<p>„Aber Papa, es hat ja noch niemand ernstlich vom Theater -gesprochen“, meinte Wilhelm. „Neben der Opernsängerin steht doch die -Konzertsängerin.“</p> - -<p>„Die muß auch vor die Öffentlichkeit. Das heißt, die singt auch jedem -Laffen für ’n preußischen Taler was vor!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span></p> - -<p>Da sprach Kantor Flehr noch einmal. Er war schon wieder in sich -zusammengesunken, aber nun richtete er sich auf, rang ein wenig mit -sich, straffte wie den äußeren auch den inneren Menschen:</p> - -<p>„Mit Verlaub, Herr Rittmeister“, begann er, und aus seiner sonst so -gedrückten Stimme klang ein fester, warmer Ton. „Kommt es denn so -auf das Äußere an, darauf, ob das gnädige Fräulein später einmal, so -oder so, fremde Menschen entzücken, begeistern soll? Das ist gewiß -auch etwas Herrliches, aber die Hauptsache, meine ich, ist es doch -nicht. Die Hauptsache, mein’ ich, ist, daß das gnädige Fräulein -<em class="gesperrt">für sich</em> lernt. Wenn der liebe Gott einem Menschen solch eine -Wundergabe verleiht, begnadet er ihn dadurch vor Millionen, aber er -legt ihm auch Pflichten dafür auf. Das wollt ich vorhin schon sagen: -die Pflicht, in der Kunst das Höchste anzustreben. Und weil das der -Einzelne nicht immer allein kann, müssen alle, die ihn liebhaben, dabei -mithelfen. Das hilft nun mal nichts, Herr Rittmeister — mit Verlaub zu -sagen. Denn wenn es nicht geschieht, verkümmert die Gottesgabe ... und -dann verkümmert damit der ganze Mensch! Er hätte so groß werden können, -aber er wird arm und klein. Unglücklich wird er, Herr Rittmeister ... -und wenn ihm sonst das Leben mit allen Gütern dieser Welt überschüttet -... er wird arm und klein und unglücklich ...“</p> - -<p>Der Rittmeister war stehengeblieben. Er sah mit hellem Staunen zu -seinem Kantor hinüber: daß der so sprechen konnte. Die alte Gnädige -hatte sich erhoben, kam auf ihren Mann zu, bat leise: „Papachen ...“</p> - -<p>Das Ticken der Kuckucksuhr hörte man, so still war es.</p> - -<p>Bis dann Hackentin plötzlich sagte: „Die Lene hat einen guten Anwalt an -unserem Flehr ... hol’ mich dieser und jener.“ Er zauste einmal rechts -und einmal links an seinem weißen Schnurrbart. „Das heißt, Herr Kantor, -ich bin noch nicht beim Ja und Amen. Aber unglücklich ... unglücklich -soll uns die Lene nicht werden ...“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span></p> - -<p>Und so kam Helene Hackentin nach Berlin. Zuerst nur, damit Frau -Harriers-Wippern, die Herr Schwarz als die erste der Berliner -Gesangslehrerinnen namhaft gemacht hatte, ihre Stimme prüfe. Zu mehr -wollte sich der alte Rittmeister nicht verstehen.</p> - -<p>Wilhelm mußte sowieso wieder nach der Hauptstadt; er sollte die -Schwester unter seine Obhut nehmen.</p> - -<p>Es war die erste größere Reise für Helene; über Frankfurt a. O. war -sie noch nie hinausgekommen. Und diese Reise, samt allem, was mit ihr -zusammenhing, war für sie ein so großes Ereignis, daß dadurch manch -inneres Erleben der letzten Tage in den Hintergrund geschoben wurde. -Wohl zitterte es in ihr nach: im Wachen und im Träumen. Sie schrak -bisweilen mitten in ihren kleinen Reisevorbereitungen zusammen, hörte -plötzlich wieder die weiche, klingende Stimme, hörte die leise ihr -zugeflüsterten Worte: „Ich hab heute ja nur für <em class="gesperrt">Sie</em> gesungen!“ -Aber das erlosch immer wieder. Sie lächelte wohl auch darüber: es -war ja nicht mehr als eine artige Courmacherei, wie sie gewiß in der -großen Welt da draußen üblich war und nicht viel bedeutete. Für sie -sicher nicht viel bedeutete. Denn sie hatte ja nun ihre Kunst. Die -große, himmlische Kunst. Die mußte ihr alles sein. Nur die herzliche -Dankbarkeit gegen Schwarz blieb lebendig: er hatte den Bann gebrochen, -er hatte den Weg geöffnet und gebahnt; ohne ihn wäre sie wohl ewig in -der Enge geblieben. Und als er ihr in Rackow zum Abschied die Hand -gereicht, sie noch einmal mit glänzenden Augen angesehen, da hatte sie -standgehalten, den Druck seiner Hand ehrlich erwidert, hatte für sein -„Auf Wiedersehen!“ ein herzliches „Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen so -sehr!“ gehabt.</p> - -<p>Ihr junges Herz strömte überhaupt über vor Dankbarkeit. Wie gut und -lieb nun alle zu ihr waren. Wieviel Opfer für sie gebracht wurden!</p> - -<p>Die Tränen flossen beim Abschied. Aber die Augen blickten schon wieder -hell über die Herbstlandschaft, ehe die Post noch die Stellberger -Fichten erreicht hatte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span></p> - -<p>Sie saßen allein in der Beichaise, Wilhelm und sie. Dem Bruder schien -es ähnlich zu gehen wie ihr. Auch er, der immer ein wenig leicht am -Wasser baute, hatte beim Abschied Frau und Kinder mit feuchten Augen -umarmt; als die Post über die Grenze von Rohlbeck rollte, beugte er -sich weit hinaus, sah noch einmal zurück: „Mein liebes altes Rohlbeck!“ -Dann saß er eine ganze Weile betrübt und bekümmert in seiner Ecke. -Aber kurz vor Stellberg hatte er sich schon wieder aufgerichtet: „Nun, -Kleinchen! So in Gedanken? Wart’ nur, was du für Augen machen wirst!“ -Er hatte fröhlich gelacht dabei und fing an, von Berlin zu erzählen.</p> - -<p>Merkwürdig schnell vergingen dabei die fünf Stunden Postfahrt. Es gab -ja schon jetzt genug zu hören und zu sehen: bald kutschierte auf der -Chaussee ein Bekannter vorüber und mußte mit Hallo begrüßt werden; -bald hielt man zum Pferdewechsel auf einer Poststation, stieg aus, -wanderte ein paar Schritte auf und ab, sie immer zärtlich bei dem -Bruder eingehakt, trank in Stellberg Kaffee, aß in Reppen Mittagbrot. -Spaßhaft, wie Bruder Wilhelm überall bekannt war. Auf jeder Station -kamen Leute zu ihm: „Nun, Herr Baron, wieder einmal nach Berlin?“ — -„Wie gehen die Geschäfte?“ — „Geht’s voran mit unserer Eisenbahn?“ -Und er schüttelte die Hände, gab Auskunft, lachte, lud den zu einem -Schnäpschen und jenen zu einem Schoppen Bordeaux ein.</p> - -<p>Dann war mit einem Male die Oderbrücke da. Mächtig rauschte der Strom, -und drüben breitete sich im Herbstsonnenlicht das Städtebild, Mauer an -Mauer, Dach an Dach, turmüberragt.</p> - -<p>Frankfurt kannte Helene. Ein paar Male schon war sie hier gewesen, -mit Vater oder Martha, um Einkäufe zu besorgen. Ihr war’s <em class="gesperrt">die</em> -Großstadt. Das Auerbachsche Kleiderstoffgeschäft erschien ihr mit -seinen mächtigen Schaufenstern als ein Riesenhaus, und die Rasenacksche -Konditorei hatte schon in ihren Kindheitsträumen neben Tante Hufnagel -eine Rolle gespielt.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span></p> - -<p>„Kleinchen,“ meinte der Bruder, „wir haben über zwei Stunden Zeit bis -zur Abfahrt des Zuges, und ich habe Geschäfte zu erledigen. Du kennst -dich ja hier aus in dem Nest.“ Nest sagte er. „Kannst mich in ’ner -Stunde in der Weinstube von Lienau abholen.“</p> - -<p>Ihr war’s ganz recht so. Auch körperlich eine Wohltat, sich die Füße -zu vertreten nach der langen Fahrt. Und so frank und frei durch die -Straße zu bummeln, hier stehenzubleiben und dort, in ein Schaufenster -hineinzugucken, dies zu bewundern und das anzustaunen. Wirklich: -sie kam sogar bei Rasenack nicht vorbei. Eine Tasse Schokolade mit -Schlagsahne wenigstens konnte sie sich leisten. Sie war ja so reich: -von allen Seiten hatte man ihr noch etwas in das kleine Portemonnaie -hineingesteckt, immer der eine, ohne daß der andere etwas davon wissen -sollte; und am letzten Tage war gar Tante Marie in Rohlbeck gewesen, -hatte sie zur Seite genommen und ihr etwas Raschelndes in die Hand -gedrückt. „Da, Mignonne!“ Ein Zehntalerschein war’s, als sie ihn -nachher besah. Zehn Taler — ein Vermögen!</p> - -<p>Knapp zur rechten Zeit kam man auf den Bahnhof. Der Breslauer Zug -stand schon bereit, und Wilhelm Hackentin konnte gerade noch seine -Schwester und sich in ein ziemlich überfülltes Coupé bringen. Helene -war atemlos vom schnellen Gehen, aber auch von der Aufregung, zum -ersten Male mit der Eisenbahn zu fahren. Sie hatte ein wenig die klare -Besinnung verloren, der Bruder mußte sie dirigieren und schieben. -Es läutete schon, als sie endlich saß — und da sah sie noch, wie -Merivaux, der Gardeschütze, auf dem Perron entlanghastete. Im ersten -Augenblicksempfinden wollte sie ihm zurufen: „Hier ist noch ein Platz!“ -Wollte winken — doch dann ließ sie die Hand gleich sinken und lehnte -sich schweratmend zurück. Sie dachte: ‚Der ist böse auf dich. Schade. -Nicht ein gutes Wort hatte er in Rackow mehr für dich. Weshalb nur? Du -hast ihm doch nichts getan.‘</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span></p> - -<p>Da pfiff die Lokomotive, zog an, keuchend. Eine dichte Rauch- und -Dampfwolke fauchte an dem Fenster vorüber, ein starker Stoß kam, ein -rasselnder Ruck und noch einer. Helene griff erschrocken nach der Hand -des Bruders: war ein Unglück geschehen? Doch der lächelte, hatte schon -sein Zigarrenetui aus der Tasche gezogen. Und dann begann ein Gleiten, -gleichmäßig, wie in immer neu atemholendem Rhythmus; draußen flogen die -letzten Häuser vorüber, und die ersten Bäume tauchten auf, verschwanden -wieder; da war noch ein Fabrikschornstein in der Ferne, kam näher, -näher, jetzt stand er fast vor dem Fenster — nun lag er schon weit -zurück; eine Schar Krähen flatterte auf und zerstob; auf der Straße -drüben trabte ein Pferd wie im Versuch des Wettlaufs, wurde im Nu -überholt, wurde kleiner und immer kleiner, war nur noch ein schwarzer -Punkt und nun nicht mehr zu sehen.</p> - -<p>Weit vornübergebeugt saß Helene und spähte auf die ewig wechselnden -Bilder, auf ihr Kommen und Gehen, ihr Auf- und Untertauchen, lauschte -dem Klingen der Räder auf den Schienenstößen, fuhr zusammen, wenn der -Pfiff der Lokomotive auftönte, wie ein greller Hilfeschrei, freute -sich, sobald wieder eins der kleinen Bahnwärterhäuschen kam mit dem -stramm stehenden Mann davor, der sein Fähnchen wie zum Salut in der -Hand hielt, schrak auf, als gleich rasenden Gespensterwagen, donnernd -und polternd, ein Zug auf dem Nebengeleise vorüberbrauste.</p> - -<p>Ganz langsam nur beruhigten sich ihre Nerven, und es kam ein -wundervolles Empfinden über sie wie in einem Traum: so also ging es aus -der Enge in die Weite, in die große herrliche Welt da draußen. Eine -Zaubergewalt trug sie hinaus, hinein in das Leben. Dort vorn fauchte, -schnob der feurige Riese in ihrem Dienst, spannte seine Kräfte, daß sie -gleich Hunderten von starken Rossen dahin jagten, nimmermüde, — der -gewaltige Feuerriese, der sie hinaustrug, hinauf, weiter und weiter, -höher und immer höher, hinaus in die Welt, hinauf zum Ruhm ...</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span></p> - -<p>Ein paar Male sah sie zu Bruder Wilhelm hinüber. Der saß in seiner -Ecke, die Zigarre zwischen den Lippen, hatte sein Notizbuch -vorgenommen; er mochte wohl wieder seine Geschäfte im Kopf haben. -Da durfte sie nicht stören. Flüchtig glitt ihr Blick über die -Mitreisenden. Wie gleichgültig die alle gegen das große Wunder waren! -Der dicke Mann dort schlief; eine Dame drüben kramte gerade aus ihrer -Reisetasche ein paar Butterbrote heraus, eine andere, jüngere, las in -einem abgegriffenen Bande, schien schon bei den letzten Seiten zu sein, -hatte einen zweiten Band bereits auf dem Schoß. Mit ihren scharfen -Augen konnte Helene den Titel lesen. „Gutzkow, Der Zauberer von Rom“ -stand darauf. Und dann saß neben ihr ein junger Mann, der auf einer -großen Karte, die er auf den Knien ausgebreitet hielt, herumstudierte; -deutlich konnte sie erkennen, daß sein Zeigefinger schwarzen, starken -Linien folgte: Berlin-Köln-Paris. Also nach Paris reiste er. Wundersam, -wie diese Eisenbahn die Länder aneinanderzurücken schien. Und wie -schnell das ging. Helene fiel ein, daß Mutter gelegentlich erzählt -hatte, wie sie mit ihren Eltern im eigenen Wagen nach Karlsbad gefahren -sei; damals, als Goethe dort zur Kur war. Vier Tage hatte die Reise -gewährt. Jetzt brauchte man vielleicht einen Tag ...</p> - -<p>Plötzlich wurde ein unwiderstehliches Mitteilungsgefühl in ihr -lebendig. Sie legte ihre Hand auf des Bruders Arm. „Wir fliegen ja —“ -sagte sie fast beklommen.</p> - -<p>Wilhelm ließ sein Notizbuch sinken und lachte: „Fliegen, Lene? Mit -dem elenden Bummelzug? Ach nein. Soweit sind wir in unserem guten -Preußen noch nicht. Aber in England —“ und er fing an, ihr vom -englischen Eisenbahnwesen zu erzählen, von dem großen Jagdzug, der -seit Jahresfrist dort Süd und Nord, London und Edinburg verband. Er -erzählte von den Schnellzügen zwischen Paris und Marseille, sprach -von Nordamerika. Überall schien er Bescheid zu wissen, und seine -blauen Augen leuchteten dabei. „Ja, mein Kleinchen, wir leben in einer -großen Zeit. Wir stehen aber erst im Anfang der Entwicklung.<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> Wir -sind vielleicht nur die Pioniere, die das Feld vorbereiten, die Saat -aussäen, die unsere Kinder und Kindeskinder ernten sollen ...“</p> - -<p>Er sprach lange und sprach gut. Alles verstand sie freilich nicht. Aber -ihr Respekt vor dem Bruder wuchs. Nur daß sie dabei über ein leises -Verwundern nicht hinauskam: zu Hause, in Rohlbeck, hatte Wilhelm oft -fast etwas Gedrücktes. Es war, als fiele das mehr und mehr ab von ihm, -je weiter er sich von der Heimat entfernte. Als atmete er freier, als -wüchsen ihm die Gedanken. Aber schien sich nicht auch vor ihr die Welt -zu weiten?</p> - -<p>Die Dämmerung sank herab. Der Abend kam.</p> - -<p>Als der Zug sich Berlin näherte, war es dunkel. Aus der Dunkelheit -leuchteten, wie in einem neuen Wunder, blinkende Lichter auf. -Vereinzelt erst, mehr und mehr dann; ganze Reihen schließlich. -Als hätte die große Stadt sich Helene Hackentin zu Ehren in ein -Lichtermeer getaucht. Überall flammte und glühte es. Aus den -Fenstern, die vorüberhuschten, von den Straßenfronten herauf, und -bunt und farbig, weiß, rot, grün aus den Weichenlaternen der rechts -und links endlos wachsenden Schienengeleise. Bis der Zug in den -Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof einrollte.</p> - -<p>Beängstigend dies Leben und Treiben, und doch wieder so wundervoll, -so eigen berauschend. Die Scharen von Reisenden, die der Zug entlud, -die hastend und drängend dem Ausgang zustrebten; die Gepäckträger, die -sich durch die Menge schoben, die Karren mit Koffern und Ballen; ein -Rufen, Schreien, Schwatzen, Fragen, Auskunftgeben, Willkommenheißen, -Abschiednehmen ohne Ende. Dann auf einen Augenblick noch einen Gruß von -Merivaux, im Vorüberschieben nur. Ein flüchtiges Wort zwischen Wilhelm -und ihm: „Sind Sie mit demselben Zuge gekommen?“ — „Schade ... wir -hätten zusammen fahren können.“ Schade — auch Helene dachte wieder -flüchtig: ‚Schade —‘</p> - -<p>„Schnell, Kleinchen — sonst bekommen wir keine Droschke!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span></p> - -<p>Und nun die Fahrt durch Berlin. Nahm denn das gar kein Ende? „Sind wir -noch nicht bald da, Wilhelm?“</p> - -<p>„Geduld, Lene. In Berlin muß man Geduld lernen.“</p> - -<p>Immer neue Straßen, breite und enge, immer neue Häusermassen. Immer -mächtiger und höher, immer heller beleuchtet, immer reicher die -Schaufenster, immer stärker der Verkehr.</p> - -<p>„Das ist der Dönhofsplatz, Lene. Sieh mal, das ist das Abgeordnetenhaus -— da zerbrechen sich die angeblich Weisesten die Köpfe um das Wohl und -Wehe des Landes. So — und nun kommt unsere gute ‚Stadt London‘.“</p> - -<p>Der Oberkellner, ein pikfeiner Herr im Frack und weißer Weste, stand am -Eingang und dienerte: „Die Zimmer sind bereit, Herr Baron. Nr. 34 für -das gnädigste Fräulein.“ Die teppichbelegte Treppe ging’s hinauf, eins, -zwei Stockwerke hoch, daß einem der Atem fast versagte. „Hier, Lene -— vorläufig nimm vorlieb“, sagte Bruder Wilhelm. „Dein Koffer kommt -sofort. Mach’ dich recht schnell ein bissel zurecht, wir essen nachher -unten.“</p> - -<p>Groß war das Zimmer Nr. 34 nicht, und schön war es auch nicht mit -seiner schäbigen Hoteleleganz, dem schmalen Bett, dem kleinen -Waschtisch und der Plüschgarnitur, an der die Quasten abgerissen waren. -Aber Helene sah das alles nicht. Sie hatte nur einen Wunsch; ein paar -Minuten ganz still und ruhig zu sitzen, dort auf dem Bettrand sich ein -wenig sammeln zu dürfen, recht zum Bewußtsein zu kommen: du bist nun -also wirklich in Berlin. Es war ja alles wie ein Traum.</p> - -<p>Lange freilich ließ ihr Wilhelm nicht Zeit. Nach knapp einer -Viertelstunde schon pochte er: „Bist du fertig?“ Gerade daß sie noch -den Reisestaub abschütteln konnte, das Haar ein wenig glattstreichen. -Als sie heraustrat auf den schmalen Korridor, der ihr endlos erschien, -wie eine ganze Straße, musterte der Bruder sie. „Na, es mag angehen -für heut abend“, sagte er ein wenig von oben herab, aber mit seinem -sonnigsten Lächeln.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span></p> - -<p>Dann saßen sie unten im Speisesaal, im strahlenden Licht der großen -Gaskronen. Es war ja doch wohl Gaslicht, von dem sie schon so viel -gehört hatte? Dies seltsam helle, eigen flackernde Licht, das von der -Decke herableuchtete und aus vielarmigen Leuchtern an den weißen Wänden.</p> - -<p>Wilhelm bestellte eine Flasche Champagner und suchte ihr in der -riesengroßen Speisekarte ein paar Gerichte aus. Aber sie konnte kaum -essen. Es war zu überwältigend — das alles. Der große Saal, in Licht -getaucht, die vielen Menschen an den Tischen, das Schwatzen und Lachen -der Gäste, die hin und her gleitenden Kellner.</p> - -<p>„Prosit, Kleinchen. Was machst du denn für Augen? Fast, als ob du ins -Paradies schautest. Ach Kind, gewöhn’ dir das ab. Es ist nicht gut, -wenn man sich verwundert zeigt, und mit dem Wasser wird schließlich -auch in Berlin gekocht. Da ... trink nur ...“</p> - -<p>Und sie trank. Wie Feuer strömte es durch die Adern, stark und süß.</p> - -<p>„Ach ... Wilhelm ... lieber Wilhelm ...“</p> - -<p>„Ja doch, du kleines Provinzschäfchen. Es ist schon anders wie in -Rohlbeck. Was? Aber ob’s immer besser ist? Na, darüber wollen wir uns -heut den Kopf nicht zerbrechen. Freuen wir uns der Stunde.“ Er nahm -von der Fruchtschale ein paar Rosinen, warf sie in ihren Spitzkelch. -„Siehst du, wie das perlt und perlt, wie der Schaum gleich wieder -aufsteigt. So ist Berlin. Hier perlt das Leben immer aufs neue hoch, -schäumt und schäumt. Trink aus, Lene, trink aus, ehe der Schaum -verfliegt.“</p> - -<p>Es war wohl spät, als sie die Treppen wieder hinaufstiegen, eins, zwei -hohe, steile Treppen. „Wir wohnen dem Himmel nahe, Lene“, scherzte der -Bruder. „Schlaf wohl und träume etwas Schönes. Man sagt ja: was man in -der ersten Nacht in einem fremden Hause träumt, geht unweigerlich in -Erfüllung.“</p> - -<p>Die Augen wollten ihr zufallen vor Ermüdung. Aber der Schlaf wollte -nicht kommen. Lange, lange nicht. Von<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> der Straße herauf drang es wie -ein unaufhörliches Tosen. Wagenrollen auf hartem Pflaster, Hunderte von -Menschenstimmen, ebbend jetzt, wieder anschwellend dann.</p> - -<p>Aus all dem Hasten dort unten stieg ihr ein Bild der großen Stadt -empor, unklar und verworren, wie ein Kind es sich in Gedanken formt -und aufbaut. Ein Labyrinth war’s schließlich mit tausend Wegen, die -von himmelhohen Wänden eng umschlossen wurden, und sie lief und -lief in ihnen umher, ohne ihr Ziel zu finden, immer schneller und -immer hastender, stieß mit den Händen überall auf die kalten, öden, -eisenharten Steinmauern, wußte nicht ein noch aus ...</p> - -<p>Da kam einer, hatte eine hohe Pelzmütze auf, an der ein glitzernder -Edelstein funkelte, nahm sie an der Hand, wollte sie führen. „Wir -finden schon den Ausweg, Helene Hackentin“, sagte er mit seiner -einschmeichelnden Stimme. „Ganz gewiß, wir finden ihn.“ Aber sie -hasteten beide weiter und weiter, und immer wieder trafen sie aufs neue -himmelhohe, kalte, öde Steinwände, aus denen es keinen Ausweg gab.</p> - -<p>Dann war sie, mit einem Male, in der kleinen Kirche von Rohlbeck. -Die Orgel klang dünn, wie immer. Der alte Heckstein verließ eben die -Kanzel; sie saß im Herrschaftsgestühl, links die Mama und rechts der -Vater; auch Martha war da, mit ihrem lieben, glatten, ruhigen Gesicht, -das ein wenig traurig aussah. Wilhelm war ja wieder in Berlin. „Das -heißt,“ sagte Vater, „Heckstein hat heut schön gepredigt.“ „Nein, -Papachen,“ gab Mama zurück, „er hat wieder einmal einen alten Bock -geschlachtet.“ „Wenn schon,“ meinte der Vater darauf, „die Hauptsache -ist, daß wir unser Kind wiederhaben.“ Und da setzte Kantor Flehr mit -dem Schlußgesang ein.</p> - -<p>‚Natürlich, du träumst das alles —‘ sagte sich Helene dabei. ‚Träumst -es und bist doch eigentlich ganz wach. Hörst ja den Lärm von der Straße -und das Laufen auf der Treppe und das Zuschlagen der Türen. Merkwürdig -ist das. Aber es ist so schön, dies Träumen. Gerade das<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> letzte, das -von Rohlbeck. Und eigentlich hast du heut, den ganzen Tag, noch nicht -einmal an Rohlbeck gedacht. An unser liebes altes Rohlbeck — und an -Vater und Mutter ...‘</p> - -<p>Da faltete sie die Hände. Sie wollte wohl eines ihrer alten -Kindergebete vor sich hersagen. Aber sie kam nicht dazu. Mit einem -müden, frohen Lächeln schlief sie ein.</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Fuenftes_Kapitel">Fünftes Kapitel</h2> - -</div> - -<p>Am nächsten Morgen brachte Wilhelm ein kleines Billett mit an den -Frühstückstisch, hielt es der Schwester hin, daß sie gerade nur die -Handschrift auf der Adreßseite sehen konnte, und fragte scherzend: -„Rate! Von wem?“</p> - -<p>Helene hatte prächtig geschlafen und war in rosigster Laune. „Vom -Kaiser von Rußland!“ gab sie lachend zurück.</p> - -<p>„Nicht ganz, aber beinahe. Von einem gewissen kaiserlich russischen -Hofopernsänger wenigstens.“</p> - -<p>Er wartete wohl, daß sie heftig zugreifen würde. Doch er irrte. Ihre -Hand hob sich zwar, sank aber gleich wieder zurück, und sie machte -sich eifrig an ihrem Milchbrot zu tun. Daß ihre Hand dabei ein wenig -zitterte, bemerkte er nicht, fragte nur wieder: „Bist du denn gar nicht -neugierig?“</p> - -<p>„Du wirst mir ja schon sagen, was Herr Schwarz dir geschrieben hat.“</p> - -<p>„Sehr richtig bemerkt, Lene. Also laß mal dein Brötchen ruhen ... -ist übrigens famos, das Berliner Gebäck, nicht wahr? Anders als die -Wassersemmeln, die die Semmelmuhme von Lagow im Tragkorb bringt?“</p> - -<p>„Sehr fein ist’s. Also ...“</p> - -<p>„Ja, also. Herr Schwarz scheint wirklich einer der liebenswürdigsten -Tenore des neunzehnten Jahrhunderts. Er schreibt mir: ‚Sehr -verehrter Herr von Hackentin! Gestern hatte ich Gelegenheit, Madame -Harriers-Wippern zu sprechen. Sie ist erfreut über die Mitteilungen, -die ich<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> ihr machen konnte, und gern bereit, das gnädige Fräulein -zu prüfen. Da ich nach unserer Verabredung annehme, daß Sie gestern -angekommen sind, habe ich Sie gleich für heut mittag 12½ Uhr -angesagt. Meine gehorsamsten Empfehlungen an Fräulein Schwester und die -Bitte, daß das gnädige Fräulein sich nicht wegen des Probesingens Sorge -macht. Das könnte nur schaden und ist auch total unnötig: ich weiß, was -ich gesagt habe, und übernehme jede Garantie. Hochachtungsvollst‘ und -so weiter und so weiter ...“</p> - -<p>Wilhelm faltete den Brief wieder zusammen: „Hoffentlich bist du gut -disponiert, Helene ...“</p> - -<p>Er bekam nicht gleich Antwort. Aber diesmal konnte Helene ihre Erregung -nicht verbergen. Das Blut strömte ihr ins Gesicht, kam und ging. Das -Messerchen, das sie noch in der Hand hielt, klirrte gegen den Teller.</p> - -<p>„Aber Helene!“ Er schüttelte den Kopf. „Bist doch sonst solch tapferes -Mädel. Du wirst doch singen?“</p> - -<p>Sie fand noch immer kein Wort. Es wirbelte in ihrem Kopf. Sie wollte -lachen und sagen: ‚Natürlich werd ich singen. Gut werd ich singen. Was -denkst du denn eigentlich?!‘, aber ihr war es, als könnte sie nicht -einen Ton herausbringen.</p> - -<p>Dann streckte sie endlich, immer noch schweigend, die Hand hin. Er gab -ihr den Brief. Sie überlas einmal, zweimal die etwas flüchtigen Zeilen. -Mechanisch zuerst, wie um Zeit zu gewinnen. Dann aufmerksamer, Wort -für Wort. Dabei wurde sie ruhiger. Sie rückte gleichsam von der Probe -auf ihr Können ab. Aber zugleich kam eine andere Überlegung: ‚Daß Herr -Schwarz so großes Interesse an dir nimmt!‘ Es hatte etwas Peinliches -für sie, es hatte zugleich etwas Wohltuendes. Es verdroß sie, setzte -sie in Verlegenheit — und doch freute sie sich darüber. Und daß es sie -freute, verdroß sie wieder. Dabei fühlte sie aufs neue das seltsame -Prickeln in ihren Adern, das sie neulich abends in Rackow empfunden -hatte, als er sich über sie beugte und ihr leise zuflüsterte mit seiner -weichen,<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> einschmeichelnden Stimme: „Sie wissen doch, daß ich nur für -Sie gesungen habe!“ Sie dachte: ‚Heut also wirst du ihn wiedersehn‘, -und indem sie das dachte, sah sie im Geiste schon sein schmales feines -Gesicht vor sich und seine Augen auf sich gerichtet.</p> - -<p>Wilhelm wurde ungeduldig. So raffte sie sich auf, mit einem jähen -Entschluß: „Ich möchte aber nicht, daß Herr Schwarz bei Frau -Harriers-Wippern ist, wenn ich singen soll —“</p> - -<p>„Ja ... gib mir doch noch mal den Brief. Er schreibt ja gar nichts -davon ...“</p> - -<p>„Er ... er wird doch dabei sein ...“</p> - -<p>„Und wenn er’s ist, stört dich das?“</p> - -<p>„Ja ... es stört mich.“</p> - -<p>Der Bruder drehte den Brief in den Händen herum. „Nimm es mir nicht -übel, Helene, das ist ein bissel kindisch“, sagte er ärgerlich. „Ist -eigentlich auch undankbar. Ich kann dem Mann doch nicht schreiben: -‚meine Schwester wünscht Ihre Gegenwart nicht‘. Übrigens weiß ich nicht -einmal seine Adresse.“</p> - -<p>„Doch! Die steht ja auf dem Bogen. Hotel de Rome.“</p> - -<p>„So. Richtig. Der Herr Hofopernsänger wohnt etwas vornehmer als wir. Ja -... aber was soll ich ihm denn schreiben?“</p> - -<p>Sie zog die Stirn kraus, bis eine kleine schmale Trotzfalte zwischen -den Brauen stand. „Schreib, was du willst. Ich ... wir dankten ihm ... -er möchte sich aber nicht bemühen. Lieber Gott, solch ein kluger Mann, -wie du bist, wird doch eine passende Ausrede finden. Ich bitte dich -recht sehr, Wilhelm, schreibe gleich ... schicke einen Boten!“</p> - -<p>Wilhelm Hackentin schüttelte den Kopf. „Es ist mir wirklich höchst -fatal, Lene.“</p> - -<p>„Ich bitte dich! Tu es mir zuliebe. Ich ... ich würde sonst nicht -singen können. Glaub’ es mir.“</p> - -<p>Er trank seinen Kaffee aus, ging dann hinüber nach dem Schreibtisch, -der am Fenster stand. „Meinetwegen ...“ sagte er im Fortgehen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span></p> - -<p>Sie sah, wie er sich drüben den Stuhl zurechtrückte, sich setzte, zur -Feder griff.</p> - -<p>Ganz still saß sie, immer die Augen auf ihn gerichtet, immer noch mit -der kleinen schmalen Trotzfalte zwischen den Augenbrauen. Sah auf den -Bruder und sah doch über ihn hinweg.</p> - -<p>Wilhelm schrieb hastig, setzte einmal ab, fuhr fort, überlas, was er -geschrieben hatte. Nun stand er auf, kam zurück. „Hier, Helene ...“</p> - -<p>Da griff sie nach dem Bogen in seiner Hand und sagte jäh: „Ich hab es -mir überlegt. Wir wollen den Brief nicht abschicken.“</p> - -<p>Er lachte laut auf. „Na, da hätten wir’s ja. Also eine Kaprice! Weiter -nichts als Laune. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. -Das, scheint mir, trifft bei dir auch zu. Nun laß mich aber wenigstens -in Ruhe eine zweite Tasse Kaffee trinken.“</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p>Frau Harriers-Wippern wohnte in der Viktoriastraße.</p> - -<p>Wilhelm hatte eine Droschke nehmen wollen, aber Helene bat, daß sie zu -Fuß gehen dürfte. Ihr war es, als müßte und könnte sie sich einen Druck -von der Seele fortlaufen, wie sie wohl in Rohlbeck weit hinaus, über -die Felder nach dem Forst gelaufen war, wenn die Unruhe sie geschüttelt -hatte.</p> - -<p>So gingen sie. Manchmal sah Wilhelm die Schwester heimlich von -der Seite an. Er wurde nicht recht klug aus ihr. Ihr Gesicht -zeigte eigentlich keine besondere Spannung. Aber ihre Gangart war -eigen hastig. Manchmal lief sie fast, um dann wieder plötzlich -stehenzubleiben, mit irgendeiner Ausrede, mit einem Blick in ein -Schaufenster. Aber er sah wohl, daß dieser Blick nur flüchtig über -die Auslagen hinglitt, viel flüchtiger, als er’s von dem Provinzmädel -erwartet hätte. Ihre Gedanken mußten ganz wo anders sein.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p> - -<p>Einmal fragte er: „Hast wohl doch ein bissel Herzklopfen, Lene?“</p> - -<p>Da schüttelte sie den Kopf.</p> - -<p>Sie gingen durch die Leipziger Straße. Dann und wann machte er sie auf -ein Gebäude, auf eine Sehenswürdigkeit aufmerksam. „Da hast du das -Kriegsministerium.“ „Das ist das Denkmal vom Grafen Brandenburg ... -weißt du, dem Sohn König Wilhelms des Zweiten und seiner morganatischen -Gattin, der Gräfin Dönhoff“ — „Das sind die alten Torgebäude und -dahinter steht die Stadtmauer, die um das ganze innere Berlin geht.“</p> - -<p>Sie nickte dann, aber er fühlte, sie hörte kaum, was er sagte.</p> - -<p>Am Tor mußten sie eine Weile warten. Auf der Verbindungsbahn kam durch -die Hirschelstraße ein langer Güterzug angekrochen; die Maschine -läutete, ein Beamter mit einer roten Fahne ging vor ihr her, um die -Passanten abzuhalten. Er erklärte ihr das wieder: wie diese Bahn die -einzelnen Bahnhöfe für den Güterverkehr miteinander in Verbindung -setze, so daß also ein Frachtstück, das etwa von Stettin käme und nach -Breslau bestimmt wäre, nicht umgeladen zu werden brauchte. „So?“ sagte -sie und weiter nichts.</p> - -<p>„Dort drüben — der Potsdamer Bahnhof war der erste in Berlin. Die Bahn -nach Potsdam war nämlich überhaupt die erste in Preußen, ist schon -vor mehr als zwanzig Jahren gebaut worden. Du, Lene, da passierte -eine komische Affäre. Der alte Nagler, der damals an der Spitze der -Post stand, wollte nämlich von der Eisenbahn nichts wissen. Und um zu -beweisen, daß sie ganz unnötig wäre, ließ er säuberlich konstatieren, -daß der ganze Verkehr zwischen Potsdam und Berlin täglich mit drei -Voitüren bewältigt würde. Wozu also eine Eisenbahn? Übrigens sind die -Herren mit den langen Zöpfen heut noch nicht ausgestorben.“</p> - -<p>„So“, sagte sie wieder und weiter nichts.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span></p> - -<p>Inzwischen war der Güterzug vorübergepoltert, die Menschenmasse, -die sich aufgestaut hatte, wälzte sich über den Platz und zog die -Geschwister mit. Durch die stille Bellevuestraße gingen sie. „Das ist -der Tiergarten,“ meinte Wilhelm und zeigte auf die entlaubten Bäume. -„Fünf Minuten weiter wohnt Tante Oschitz, der wir heut nachmittag -unsere Visite machen werden.“</p> - -<p>„So“, sagte sie zum dritten Male. Und da gab er es auf.</p> - -<p>Und nun waren sie in der Viktoriastraße. Wilhelm suchte die Hausnummern -ab. „Hier ist’s.“</p> - -<p>Da sah er, zum ersten Male, daß aus dem Gesicht der Schwester jeder -Blutstropfen gewichen war. Eigen glänzend standen die großen blauen -Augen in dem weißen Antlitz. Nur die Lippen waren rot, rot wie -Korallen. Und die Unterlippe hatte Helene ein klein wenig zwischen die -Zähne gezogen.</p> - -<p>„Du hast ja doch Angst —“</p> - -<p>„Bewahre. Was denkst du dir denn.“</p> - -<p>Sie gingen die teppichbelegte Treppe hinauf, schellten. Ein Diener -öffnete. Wilhelm reichte ihm seine Karte. Er verschwand, kam gleich -zurück: „Die gnädige Frau läßt bitten.“</p> - -<p>Helene sah ihn nicht sofort, aber sie fühlte: <em class="gesperrt">er</em> ist hier.</p> - -<p>Sie sah zuerst nur die hohe schlanke Frau, die mit liebenswürdigem -Lächeln auf sie zukam. Und sie sah auch, daß Frau Harriers-Wippern -ein wenig stutzte, als sie dicht vor ihr stand, wie in einer leichten -Überraschung. „Fräulein von Hackentin, ich freue mich, daß Sie sich mir -anvertrauen wollen“, sagte sie. „Kollege Schwarz hat mir viel von Ihnen -erzählt.“ Das Lächeln in dem jugendlichen Gesicht vertiefte sich ein -wenig. „Aber er hat nicht übertrieben, wie ich soeben bemerke.“</p> - -<p>Da trat er auch schon hinter den großen Blattgewächsen, die den -einen Teil des Salons abgrenzten, hervor: „Sie sind sehr indiskret, -gnädige Frau“, scherzte er. „Ich gestehe aber, daß ich ein schlechter -Schilderer war.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p> - -<p>Einen Augenblick hielt er Helenens Hand in der seinen. Auf einen -Moment kreuzten sich ihre Augen. Ihre Hand war eiskalt, aber ihr Blick -hielt dem seinen stand. Vielleicht sogar mit einem etwas feindseligen -Ausdruck. Schwarz senkte das Auge zuerst, fast wie in leichter -Verlegenheit. Er wandte sich schnell zu Wilhelm Hackentin, ihn zu -begrüßen. Und da sagte Frau Harriers-Wippern auch schon, auf die Tür -des Nebenzimmers deutend: „Jetzt, bitte, lassen die Herren uns allein.“</p> - -<p>Die Probe verlief ganz anders, als Helene erwartet hatte.</p> - -<p>Es war, als hätte die große Sängerin und Sangesmeisterin ihr die -mühsam errungene Ruhe von den Augen abgelesen. Sie ließ ihr Zeit, bat -zunächst, abzulegen, begann zu plaudern. Vom Alltäglichen, von der -kleinen Reise, von den ersten Eindrücken in Berlin. Anfangs sprach -sie fast allein. Dann, allmählich, brachte sie Helene zum Sprechen, -lauschte, fragte nach dem bisherigen Unterricht. „Ein alter Kantor vom -Lande. Sieh da! Das sind noch nicht die schlechtesten, und ich freue -mich immer aufs neue, welche Liebe zur Musik in diesen Leuten steckt, -von der leidigsten Schulmeisterei nicht zu töten.“ Fragte weiter, was -Helene gesungen habe. Sprach dazwischen wieder von eigenem Erleben.</p> - -<p>Langsam wich die Starrheit aus dem Gesicht des jungen Mädchens, das -Blut strömte in die Wangen zurück. Der <em class="gesperrt">eine</em> Gedanke, der -den ganzen Morgen auf ihr gelastet, wurde von dem Zwang, zuhören, -antworten, Auskunft geben zu müssen, verdrängt; von dem Interesse an -der schönen liebenswürdigen Dame, von der Verwunderung: „Wird sie dich -denn noch nicht zum Singen auffordern?“ Ihr Denken konzentrierte sich -wieder mehr und mehr auf das Kommende. Es war auch dabei ein leises -Sorgegefühl: ‚Wie wirst du bestehen?‘ Aber es lag nichts Drückendes, -nichts Beengendes darin.</p> - -<p>Soeben hatte die Sängerin noch von ihrer Jugend geplaudert, daß sie im -Kloster erzogen worden sei. Nun<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> stand sie plötzlich am Flügel, schlug -ein paar Akkorde an: „Bitte, Fräulein von Hackentin, eine Skala ...“</p> - -<p>Es war so überraschend, daß Helene gar nicht recht zur Besinnung kam. -Aber indem sie sang, schmolz auch der letzte Rest des Angstempfindens. -„Brav!“ hörte sie nur. „Und nun noch einmal. Ordentlich heraus aus dem -Kehlchen ...“</p> - -<p>„So. Und nun singen Sie mir mal etwas ganz Einfaches. Ganz ohne -Begleitung. Vielleicht irgendein Volksliedchen. Ganz wie Ihnen der -Schnabel gewachsen ist, mit Verlaub zu sagen. Soll ich helfen? Wie -wär’s mit ‚Ein getreues Herze wissen, hat des höchsten Schatzes Preis -...‘ Das kennen Sie doch — nicht wahr? Also nun los ...“</p> - -<p>So sang sie.</p> - -<p>Frau Wippern nickte ihr zu, als die erste Strophe verklungen war. Sang -dann die zweite, recht, als ob sie selber die größte Freude daran -hätte, ließ Helene die dritte singen: saß am Flügel nieder, blätterte -in einem Notenheft. „Wie ist’s? Nehmen wir etwas aus unseres guten Papa -Webers „Freischütz“: ‚Kommt ein schlanker Bursch gegangen ...‘“</p> - -<p>„Brav! Brav!“ hieß es dann wieder. „Nun noch einmal ein paar -Tonleitern. Geben Sie her, was Sie haben. Denken Sie, Sie stünden auf -Bergeshöhe, ganz allein, und schmetterten die Töne in die freie weite -Luft, mit den Lerchen um die Wette.“</p> - -<p>Und nun stand Frau Wippern wieder neben Helene. „Öffnen Sie, bitte, -einmal den Mund, Sie kleine Lerche. Recht weit, bitte, daß ich -ordentlich hineinsehen kann. Ohne Sorge: ich bin ja kein Dentist, und -Ihre Beißerchen können sich außerdem sehen lassen. So ... nun mal -tief Atem holen ... langsam ausstoßen. Sehr schön.“ Sie klopfte ihr -zärtlich auf die Wange. „Sie sind ein mutiges Menschenkind! Seine -helle Freude hat man daran.“ Sie lachte. „Wenn Sie wüßten, mit welchen -Angstmeierkindern<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> ich manchmal zu tun habe!“ Dann wurde sie wieder -ernst. „Aber nun lassen Sie sich sagen, was ich nach solch einer kurzen -Probe sagen kann, sagen darf. Das Material ist einfach wundervoll, und -Gott und Ihrem alten Kantor sei’s gedankt, den ich dafür im Geiste -umarmen möchte: es ist unverbildet. Gesund ist’s, kerngesund! Eine -Wonne für jeden Lehrer. Was daraus zu machen ist? Ich könnte wohl -sagen: Großes ... das Größte! Aber, liebes Fräulein von Hackentin, -prophezeien ist ein mißlich Ding. Das hat mir seinerzeit meine -unvergeßliche Lehrerin, meine teure Franziska Cornes, auch vorgehalten, -als ich so vor ihr stand, wie Sie heut vor mir. Eine Menschenstimme -ist kein mechanisches Instrument. Sie ist hundert Zufälligkeiten, ist -den mannigfachsten Anfechtungen unterworfen. Und der Lehrer allein -tut’s auch nicht. Der Schüler muß die rechte Liebe haben, unermüdliche -Geduld, einen nimmermüden Fleiß. Er darf nie vergessen, welch kostbares -Gut ihm verliehen wurde, muß dies Gut pflegen und hegen wie ein -Heiligtum —“</p> - -<p>Sie schwieg und sah Helene in das schöne Gesicht, aus dem die Erregung -der Stunde leuchtete.</p> - -<p>„Nun, Fräulein von Hackentin, wie ist’s? Wollen wir’s daraufhin wagen?“</p> - -<p>Da schlug Helene in die dargebotene Hand ein und beugte sich zugleich -im unwillkürlichen Impuls, diese Hand zu küssen. Aber Frau Wippern -zog sie schnell fort: „Da haben wir’s.“ Sie lachte schon wieder ihr -berühmtes silberhelles Lachen. „Als ob ich eine alte Dame wäre mit -meinen sechsundzwanzig Jahren. Bloß, weil ich Lehrerin bin und so -ernste Worte sprechen kann. Nicht wahr? Und jetzt können wir ja auch -die Herren der Schöpfung erlösen.“</p> - -<p>Wilhelm war stark befangen, aber Schwarz kam gleich auf die Damen zu: -„Nun, hab ich zuviel gesagt? Ich sehe es Ihnen beiden ja an: es war -vortrefflich. Meinen Glückwunsch der Lehrerin und der Schülerin!“ —</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span></p> - -<p>Dann gingen sie zu dritt die Viktoriastraße hinauf, durch die -Lennéstraße dem Brandenburger Tor zu. Helene in der Mitte, Schwarz ihr -zur Rechten, der Bruder links.</p> - -<p>In Helenens Seele zitterte das Erleben nach. Sie war über die Prüfung -hinweggekommen, sie wußte selbst nicht wie. Nun klang es in ihr gleich -Musik. Seltsam weich war sie gestimmt. Wie in einem leisen leichten -wonnigen Rausch schritt sie dahin. Die Erde schien unter ihr zu federn. -Aller Welt hätte sie ein Liebes tun mögen. Da war der Bruder, der -gute Wilhelm! Ja ... und der andere, der war doch ein guter Kamerad. -Wie dumm sie heut morgen gewesen war. Und so unfreundlich. Allerlei -törichte Gedanken hatte sie in sich herumgewälzt.</p> - -<p>„Du, Lene, dort drüben wohnt Strousberg.“</p> - -<p>Am Morgen hatte sie über Wilhelms Worte hinweggehört, jetzt merkte sie -auf. Vielleicht nur, um ihm eine kleine Freude damit zu erweisen.</p> - -<p>„Strousberg — wer ist das?“</p> - -<p>„Aber besinn dich doch. Ich hab ja so viel von ihm erzählt. Bethel -Henry Strousberg, gestern noch ein unbekannter Journalist, heut -ein Faiseur, der seine geschickten Finger in allen möglichen -Eisenbahnunternehmungen hat. Er wird noch viel von sich reden machen. -Denk’ an mich.“</p> - -<p>„Werd ich! Werd ich!“</p> - -<p>Und sie gingen weiter am Saume des Tiergartens entlang, durch die -Schulgartenstraße, die altersgraue Stadtmauer zur Rechten. Schwarz -hatte nur wenige Worte gesprochen seit seinen letzten im Musikzimmer. -Und nun wunderte sie sich darüber, und sie wartete auf das, was -er sagen würde. Er mußte, mußte ihr doch noch etwas sagen! Es war -unmöglich, daß sie so weitergingen und sich dann trennten und ... und -wer weiß, wann einmal wiedersahen ... niemals vielleicht ...</p> - -<p>Oder wartete er darauf, daß sie ihm danken würde? Vielleicht hätte -sie’s gemußt. Aber da war etwas in ihr,<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> das ihr die Zunge band. Das -Danken mochte Wilhelm besorgen.</p> - -<p>Der hatte noch eine Weile von Strousberg weiter gesprochen, dem großen -Finanzgenie, der scheinbar aus Papier Gold zu machen verstand. Doch nun -fragte er, an der Schwester vorbei: „Wir wurden vorhin unterbrochen, -Herr Schwarz. Was also haben Sie für den Winter vor?“</p> - -<p>„Ja, so, Herr von Hackentin — es schweben noch verschiedene -Engagementsanträge. Eigentlich sollte ich wieder an die Newa. Aber das -Klima bekommt mir auf die Dauer nicht. Dann hieß es Wien. Ließe ich mir -schon eher gefallen. Die goldige Kaiserstadt an der Donau, wo der Spieß -mit dem Backhändl dran sich allezeit dreht. Eine wirkliche Musikstadt -zugleich. Freilich, am liebsten möchte ich mich für eine Saison gar -nicht binden. Nur gastieren — mit einem <span class="antiqua">pied-à-terre</span> hier. -Berlin hat es mir nun einmal angetan — neuerdings —“</p> - -<p>Wie er das letzte sagte, fühlte sie, daß sein Auge das ihre suchte. -Und mit einem Male überkam sie wieder die Angst, die sie heute früh -geschüttelt hatte. Glühend heiß und eiseskalt. Es war nicht mehr der -gute Kamerad, der da neben ihr herschritt, dem man dankbar sein mußte: -Es war das Schicksal.</p> - -<p>Starr sah sie geradeaus.</p> - -<p>„Wien ... ja ... eine herrliche Stadt“, hörte sie Wilhelm neben sich. -„Ein bissel Phäakenstadt. Aber das reiche wunderbare Hinterland, -Ungarn, der ganze Orient — da ist noch eine Zukunft. Da ist viel Geld -zu verdienen. Und Sie würden doch lieber hierbleiben? Ist kein Platz -für Sie an unserer Oper?“</p> - -<p>„Kaum, höchstens als Gast. Hier schwört man zu dem schönen Woworski —“ -er zog ein wenig die Achseln hoch — „dann soll ja auch Albert Niemann -herkommen. Und schließlich: Exzellenz von Hülsen ist mir persönlich -nicht allzu sympathisch. Er sieht mir sein Theaterreich zu sehr wie -eine Kompagnie Soldaten an. Aber ich bleibe doch<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> wohl in Berlin. Ich -kann mich, ich will mich jetzt hier nicht loslösen ...“</p> - -<p>Wieder fühlte sie seinen Blick. Und wieder sah sie starr geradeaus.</p> - -<p>Da rief Wilhelm: „Lene, das Brandenburger Tor! Siehst du die Quadriga? -Weißt du: Vater erzählt so gern davon, wie sie Napoleon geraubt hat und -wie wir sie uns wiedergeholt haben! Anno achtzehnhundertvierzehn. Du -... hör’ mal ... du hast Glück heute ...“</p> - -<p>Von jenseits des Tores klang Trommelwirbel, von dem Wachthause her. Und -dann rollte aus der mittelsten Toröffnung ein schlichter, zweispänniger -offener Wagen. Ein Greis saß darin, mit weißem Bart, ausrasiert am -Kinn. Gerade aufgerichtet saß er in seiner schmucklosen Uniform, dem -geschlossenen Paletot, der hohen Mütze.</p> - -<p>„Der König —“</p> - -<p>Ganz dicht fuhr der Wagen an ihnen vorüber. Helene verneigte sich tief. -Es durchschauerte sie: gar nicht tief genug konnte sie sich neigen vor -des Königs Majestät. So war es ihr von klein auf gesagt und gelehrt -worden.</p> - -<p>Ein paar Leute standen rechts, standen links. Nur wenige grüßten.</p> - -<p>Und dabei hatte der königliche Greis so huldreich an den Mützenschirm -gefaßt; fast war es, als ob sein gutes klares Auge auf einen Moment auf -der kleinen Gruppe geweilt hätte, als ob über das ernste Antlitz der -Schein eines gütigen Lächelns geglitten wäre.</p> - -<p>„Warum grüßen denn die Leute nicht, Wilhelm?“ Jetzt endlich fand Helene -die Sprache wieder, und in ihr klang ein Ton der Empörung. „Muß man den -König denn nicht grüßen?“</p> - -<p>„Du Kind! Ja, man müßte. Aber man muß nicht. Dem Prinz-Regenten haben -sie noch zugejubelt. Jetzt ist das anders. Seit ein paar Monaten -besonders. Die Regierung ist unbeliebt, und der Berliner hält sich für -verpflichtet,<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> das auch dem König zu markieren. Manchmal denk ich: gut, -daß Vater still in Rohlbeck sitzt. Der würde seinen Zorn nicht bändigen -können.“</p> - -<p>Sie waren durch das Tor geschritten. Die Wache war unter Gewehr. Es -mußte soeben abgelöst worden sein. Die Gardeschützen waren aufgezogen. -Über die grünen Röcke und die goldenen Knöpfe blitzte die Sonne. Und da -— am Flügel seiner Mannschaft stand Merivaux, den Degen noch in der -Hand.</p> - -<p>„<span class="antiqua">Bon jour, monsieur de Merivaux</span>“ rief Wilhelm über das Gitter.</p> - -<p>Der junge Offizier blickte überrascht auf, senkte den Degen zum Gruß. -„Weggetreten“, kommandierte er mit heller Stimme. Die Büchsen klirrten -gegen die Gewehrständer, es gab auf einen Moment ein Rasseln und -Rauschen. Dann, so schien es, wollte der Neuchateller an das Gitter -treten. Aber als ob er sich im letzten Augenblick besönne, grüßte er -nur noch einmal und wandte sich nach der Säulenhalle, wo der Kamerad, -den er abgelöst hatte, wartend stand.</p> - -<p>„<span class="antiqua">Monsieur de Merivaux</span> makte ja ein serr brummiges Gesicht.“ -Es klang etwas spöttisch, wie Schwarz das sagte. Es klang etwas -komödienhaft mit der übertriebenen Nachahmung des Akzents. Und es sah -spöttisch und herausfordernd zugleich aus, wie er dabei mit seinem -dünnen Stöckchen gegen die Beinkleider klopfte.</p> - -<p>Drüben stand eine einsame Droschke.</p> - -<p>„Können wir nicht nach Hause fahren“, bat Helene plötzlich. „Ich bin so -müde, Wilhelm.“</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p>Nun war Helene Hackentin bei der Tante Oschitz untergebracht. „Auf ein -paar Wochen,“ hatte Vater geschrieben, „das heißt, wenn wir’s so lange -ohne dich aushalten.“ „Ich behalte dich auch ein paar Monate,“ hatte -Tante Marianne gesagt, „das heißt, wenn du keine Späne machst.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span></p> - -<p>Frau von Oschitz bewohnte dasselbe kleine Haus in der Tiergartenstraße, -das der verstorbene Geheime Rat vor einem Vierteljahrhundert gekauft -hatte. Rechts nach der Bendlerstraße zu war vor wenigen Jahren ein -dreistöckiges Miethaus entstanden, links eine große Villa aufgeführt -worden. Dazwischen stand das graue Häuslein, das noch aus der -kurfürstlichen Zeit stammte und einst ein Lustschlößchen gewesen sein -sollte; ein tiefer Vorgarten schied es von der Straße; dahinter dehnte -sich ein noch größerer, wenig gepflegter Garten bis zum Landwehrgraben. -„Meine Insel“ nannte Tante Oschitz ihren Besitz manchmal, und er -war wirklich wie ein abgeschiedenes Stückchen Erde. Wenn Helene in -der ungeheuerlich tiefen Fensternische stand, in der ein ganzer -Schreibtisch Platz gefunden hatte, und in den Garten hinaussah, konnte -sie denken, daß sie in Rohlbeck wäre. Der Lärm der Stadt drang nicht -bis hierher, die weite, von hohen Bäumen umrahmte Rasenfläche glich -einer Wiese, und sogar eine Stallung fehlte nicht. Die Pferde freilich -hatte Tante Marianne bald nach dem Tode ihres Mannes abgeschafft. „Das -Geld, das sie fressen, kann ich besser verwenden.“</p> - -<p>Die kleine, zarte Dame sollte einst eine Schönheit gewesen sein. -Heut sah man wenig davon. Das Gesicht war mit Fältchen übersät, vor -der Zeit gealtert. So hieß sie in der Familie die <em class="gesperrt">alte</em> Tante -Oschitz und war doch noch gar nicht so sehr alt. Helene wußte das: -Mutter, die immer gern den Jahren anderer nachrechnete, hatte oft -genug davon erzählt: Marianne Hackentin war Hofdame bei der Prinzessin -der Niederlande gewesen, hatte ungezählte Körbe ausgeteilt und erst -mit dreißig und einigen Jahren, als sie „längst aus dem Schneider -heraus war“, wie Mama das ausdrückte, den Geheimrat erhört — „Matthäi -am letzten“. Der einzige Sohn aber, Harro, war siebzehn. Also hatte -Tante Marianne etwa die Fünfzig erreicht. Helene kam sie vor wie eine -Greisin. Und die kleine, schwächliche Frau wußte sich, bei aller<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> -Güte, auch den Respekt einer Greisin zu wahren. Selbst dann, wenn man -manchmal gern über sie gelacht hätte.</p> - -<p>Einst, erzählte man in der Familie, sollte Tante Oschitz sehr -lebenslustig gewesen sein. Mit ihrer Verheiratung war eine Veränderung -ihres Wesens eingetreten, über die sogar der Rackower, ihr -Jugendfreund, noch heute den Kopf schüttelte; seit sie Witwe war, lebte -sie fast ganz weltabgeschieden. Nur ihrem Harro und ihren guten Werken; -allenfalls noch ihrer Porzellansammlung, obwohl sie jeden Groschen, den -sie dafür ausgab, eigentlich als Sünde betrachtete. Sie war sehr fromm. -Die Landeskirche genügte ihr nicht, und sie hatte sich einem kleinen -Kreise ähnlich gerichteter Seelen angeschlossen, die der Pastor Müller -um sich versammelte. Ein Geistlicher, der auch aus der Landeskirche -ausgeschieden war. „Tränen-Müller“ hieß er unter den Ketzern Berlins, -denn in seinen Konventikeln sollten die Tränlein fließen wie Bächlein -auf den Wiesen.</p> - -<p>Als Tante Oschitz zum letzten Male in Rohlbeck gewesen war, hatte sie -ein gewaltiges Ringen mit dem alten Heckstein gehabt. Seitdem streckte -der, sobald die Rede auf sie kam, immer abwehrend beide Hände aus: -„Hackentin, verschone mich bloß mit der Oschitzen. Die ist mir über.“ -Und dazu lachte der „dreimal gesottene Rationalist“, — so hatte sie -ihn genannt, bis er nicht mehr konnte.</p> - -<p>Übrigens mußte Helene dem „Tränen-Müller“ eigentlich dankbar sein. -Das Zünglein, ob Tante Marianne sie auf längere Zeit aufnehmen wollte -oder nicht, hatte anfangs ein wenig geschwankt, aber er hatte für sie -entschieden. Der schöne Mann liebte die „Schönheit der Kreatur“, wie -er es ausdrückte. Als der sich an einem der ersten Abende einfand, -hatte Helene das Zimmer verlassen wollen, um nicht zu stören. Da war -er auf sie zugekommen, hatte seine weißen, weichen Hände sanft auf -ihre Schultern gelegt, sie auf den Stuhl niedergedrückt und mit seiner -unendlich milden Stimme gesagt: „So bleiben Sie doch, liebes Kind. Ich -sehe Sie so gern an.“ Und außerdem liebte<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> er die Musik, sogar die -weltliche. Von ihm zuerst hörte sie vom trefflichen Grell, dem Direktor -der Singakademie, und vom Sternschen Gesangverein.</p> - -<p>Es war sehr still auf der einsamen Insel. Tante Marianne liebte die -tiefste Ruhe um sich her. Die Dienstboten schlichen auf Filzsohlen und -flüsterten nur. Sogar Harro war auf diese Stille hin erzogen, er sprach -im Hause immer vorsichtig und gedämpft. Und doch sprühte dem blonden -Gymnasiasten das helle Leben, ja der Übermut aus den blauen, glänzenden -Augen. Manchmal, wenn er mit Helene im hinteren Garten spazieren ging, -rief er plötzlich laut: „Laß uns laufen! Um die Wette laufen! Bis -uns der Atem ausgeht!“ Das taten sie dann. Sie rasten an den hohen -Taxushecken entlang bis zum Landwehrgraben und wieder zurück, bis sie -wirklich nicht mehr konnten und stehenbleiben mußten, mit roten Wangen -und jagenden Pulsen. „Ah, war das schön! War das schön!“</p> - -<p>‚Ein Prachtjunge, der Harro! Man muß ihn gern haben!‘ dachte Helene -dann. ‚Wer weiß, ob ich’s ohne ihn so gut aushielte auf der einsamen -Insel?‘</p> - -<p>Denn Tante Oschitz hatte auch ihre „Mucken“. Sie tyrannisierte auf ihre -milde Art das ganze Haus und alles, was darin war.</p> - -<p>„Nimm dich in acht vor Tante Marianne!“ hatte Wilhelm bei der -Übersiedlung gesagt. „Es hat manchem nicht gut getan, mit ihr Kirschen -essen zu wollen.“</p> - -<p>Dabei standen sich eigentlich gerade der Bruder und Tante Oschitz -merkwürdig gut. Manchmal saß Wilhelm wohl eine Stunde und länger bei -ihr allein. Manchmal hörte sie fast andächtig zu, wenn er von seinen -Projekten sprach. Manchmal freilich strich sie ihm auch eine bittere -Wahrheit fingerdick aufs Brot. Gleich in den ersten Tagen einmal. Da -hatte er ihr im Auftrag von Vater von der Pension gesprochen, die der -für Helene bezahlen wollte.</p> - -<p>„Nein, mein lieber Wilhelm, Geld nehme ich nicht. Der Rittmeister -hat’s nicht dazu, wird schon seine Mühe haben, das sündhaft schwere -Geld für den Unterricht aufzubringen.<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> In Rohlbeck konnte man ja nie -rechnen, hat immer nur depensiert. So ist’s denn da immer weiter bergab -gegangen.“ Sie sagte es, die Hände im Schoß gekreuzt, mit sanfter -Stimme, die aber einen eigen bestimmten Klang hatte.</p> - -<p>„Sparsam genug haben Vater und Mutter, weiß Gott, gelebt.“</p> - -<p>„Laß doch den lieben Gott aus dem Spiel. Ja, sparsam haben sie gelebt, -aber wirtschaften konnten sie nicht. Damit sind sie bei aufgepritschten -Brotsuppen und Braunbier auf den Hund gekommen. Ich hab’s doch noch -erlebt, als deine Mutter ihr letztes Väterliches ausgezahlt bekam. -Dreißigtausend Taler waren es, und in zwei Goldtönnchen ist’s in -Rohlbeck angekommen. Was haben sie damit gemacht? Die Tönnchen unter -ihre Betten gestellt, und wenn jemand Geld brauchte, dann langte -er hinein. Wenn ich’s nicht beschwören könnte, würde ich’s selber -nicht glauben. Nicht zinstragend angelegt, nichts — nichts! Einfach -aufgebraucht, bei Wassersuppen und Braunbier. Und dabei ist Heinersdorf -verkauft worden, und Grunow mußte verkauft werden. Es ist eigentlich -gar nicht auszudenken. Sünde ist’s — Sünde!“</p> - -<p>„Die alte Zeit, Tante Marianne. Mir wär’s auch lieber; die Eltern -hätten besser gewirtschaftet und ich brauchte mich hier nicht zu -schinden.“</p> - -<p>„Wie häßlich gesagt — schinden? Geldverdienen ist ehrliche Arbeit. So -jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen, steht in der -Heiligen Schrift. Ich laß es dir übrigens, du bist ein emsiger Mann, in -deiner Art. Aber daneben steckt das Rohlbecker Blut in dir. Dem kann -nicht genug gesteuert werden.“ —</p> - -<p>Still und friedfertig floß das Leben dahin auf der einsamen Insel.</p> - -<p>Aber die Stille und der Friede des Hauses, denen sich Helene äußerlich -anzupassen hatte, füllten ihr Herz nicht. Ihr Herz war unruhig und -voller Unrast.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p> - -<p>In ihren Nöten war die Kunst ihr einziger Halt. Doch je weiter die Zeit -ging, desto mehr fühlte sie, auch die Kunst war nur ein zerbrechlicher -Stecken für sie. Der stärkste Fleiß half da nicht. Er mochte die -Stunden töten. Daneben aber blieben andere Stunden, in denen ihre Kunst -nur ihre Seele immer stärker aufpeitschte.</p> - -<p>Wohl war Frau Harriers-Wippern zufrieden. Fast immer gleich zufrieden. -Helene sah es ihr mehr an, als daß sie es aussprach, denn sie war -ziemlich karg mit Anerkennung und Lob und verlangte viel, was Helene -zuerst ganz wunderlich vorkam: endlose Atemübungen, sorgsame Studien -vor dem Spiegel, predigte immer wieder: „Langsam — langsam! Geduld, -Fräulein von Hackentin!“ Bisweilen aber nannte sie sie doch ihre -liebste Schülerin, bisweilen sprach sie doch von erstaunlich schnellen -Fortschritten. Aber dann und wann, und nur immer häufiger, schüttelte -sie auch den Kopf: „Sie dürfen sich nicht überanstrengen, liebes Kind.“</p> - -<p>„Es strengt mich nicht an. Nie! Nie!“</p> - -<p>„Sie wissen das selbst nicht. Mir kann das nicht entgehen. Ihr -Temperament reißt Sie zu sehr fort. Es ist etwas Herrliches, gerade -für unsere Kunst, um ein starkes Temperament. Nur müssen wir es straff -im Zügel zu halten wissen. Bei Ihnen steigert’s sich manchmal bis zur -Leidenschaftlichkeit.“</p> - -<p>Und Helene wußte: ja — bis zur Leidenschaft!</p> - -<p>Das war ihr Schicksal. Er war ihr Schicksal.</p> - -<p>Sie hatte sich dagegen gesträubt mit aller Kraft ihres Willens. Mit all -ihrem Stolz. Es war stärker als sie.</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p>Alfred Schwarz war wirklich in Berlin geblieben. War wenigstens meist -in Berlin. Ende Oktober gastierte er in der Friedrich-Wilhelmstadt; -unmittelbar nach Theodor Wachtel und mit gleich großem Erfolge.</p> - -<p>Sie hatte ihn bis dahin nur wenige Male gesehen. Einmal traf -sie ihn zufällig — war es zufällig? — im<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> Vorzimmer von Frau -Harriers-Wippern. Einmal begegnete sie ihm auf dem Wege zu ihrer -Lehrerin. Sie sprachen nur knappe Worte miteinander. Er erkundigte -sich nach ihren Fortschritten, wie sie sich eingelebt hätte. Sie gab -so kurz als möglich Auskunft, nur so viel, als die kargste Höflichkeit -forderte. Kaum so viel: denn die Abwehr lohte in ihrer Seele.</p> - -<p>Aber sie mußte an ihn denken, Tag und Nacht. Im Zorn auf ihn und auf -sich selber. In schmerzvoller Sehnsucht dann. Immer sah sie ihn vor -sich, immer hörte sie seine Stimme. Mitten im Traum schrak sie auf: -sie waren wieder in Rackow gewesen, er hatte wieder die „Letzte Rose“ -gesungen, er hatte wieder gesagt: nur für Sie — nur für dich! Sie -schrak auf und biß vor Scham in ihr Kissen und weinte —</p> - -<p>Und nun gastierte er — Frau Harriers-Wippern hatte es beiläufig -erzählt — in der Friedrich-Wilhelmstadt.</p> - -<p>Ein paar Male war sie in der Königlichen Oper gewesen. Auf Billetts -ihrer Lehrerin. Das gehörte ja zu ihrer Ausbildung. Ein paar -Male auch in Konzerten. Einmal hatte sie Tante Oschitz in eine -Beethovensche Symphonie begleitet, ein andermal durfte Harro mit ihr -in ein Stockhausensches Konzert. Der gute Junge! Fast hätte er laut -aufgejubelt, und wie er den ritterlichen Kavalier spielte!</p> - -<p>Aber die Friedrich-Wilhelmstadt: Tante Marianne hätte nur die Achseln -gezuckt. Und sie durfte doch auch nicht fragen, nicht bitten. Sie -wollte ja auch gar nicht ... Nein! Nein! Nein!</p> - -<p>Da kam Wilhelm: „Lene, hier! Herr Schwarz hat mir zwei Billetts -geschickt ...“</p> - -<p>Nein! Nein! — Ja! Ja!</p> - -<p>Tante Oschitz machte eine bedenkliche Miene, aber Wilhelm streichelte -sie mit klugen Worten.</p> - -<p>Er sang den Postillion.</p> - -<p>Und es war fast eine Enttäuschung. Er sang wundervoll, er spielte -hinreißend. Das Haus jubelte ihm zu, wie es<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> kaum Wachtel zugejubelt -hatte. Und dennoch war es eine Enttäuschung: sie mochte ihn nicht als -Postillion. Es tat ihr weh, ihn mit der Peitsche knallen zu hören. Es -war ihr wie eine Erniedrigung. Sie schalt mit sich selber — und sie -war doch auch froh darüber; erleichtert fast.</p> - -<p>Zwei Tage darauf fuhren am Nachmittag die Rackower vor.</p> - -<p>Frau Marie und Frau Marianne liebten sich nicht und waren daher -doppelt artig gegeneinander. Immer erkundigten sie sich nach ihren -beiderseitigen Interessen, für die sie doch kein Interesse hatten. -Tante Marie nach der Mission in Indien, Tante Oschitz nach den -Winterplänen der Rackower. Immer mit kleinen Malicen zwischen allen -Artigkeiten. Onkel Ernst gab Harro einen derben Klaps: „Nun, mein -Junge, wann hast du denn endlich die gräßlichen Schulbänke hinter dir?“ -und tätschelte Helene beide Wangen: „Viele Grüße aus Rohlbeck. Sind -alle gut zu Wege, bißchen fatigue siehst du aus, Leneken ...“ Dabei sah -er schmunzelnd unter seinem Monokel um die Ecke auf die beiden Damen, -die sich drüben am Kaffeetisch so eifrig und stimmungsvoll unterhielten.</p> - -<p>Und dann hieß es: „Heut abend entführen wir dir natürlich die Lene. -Aber, liebste Kusine, das ist doch selbstverständlich. Mach’ bloß kein -so böses Gesicht. Wir liefern dir unsere Lene auch pflichtschuldigst -persönlich ab. Um den Hausschlüssel müssen wir freilich bitten.“</p> - -<p>Den Hausschlüssel bekam Helene nicht. Aber Urlaub bekam sie — „es wird -auf dich gewartet werden.“</p> - -<p>Vom Theater kein Wort. Und doch wußte Helene: heut abend singt er in -Flotows „Martha“. Heut abend höre ich wieder die „Letzte Rose“ ...</p> - -<p>Ganz still saß sie nachher im Wagen. Wußte nicht, ob sie sich freuen -oder fürchten sollte. Würde es wieder eine Enttäuschung sein? -Vielleicht konnte sie es überhaupt nicht vertragen, ihn auf der Bühne -zu sehen, im Komödiantengewand, geschminkt und aufgeputzt. Vielleicht -konnte sie den lärmenden Beifall nicht ertragen, der ihm zujauchzte.<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> -So schön wie in Rackow sang er auch gewiß nicht ... damals, als er nur -für sie gesungen hatte ...</p> - -<p>Dabei mußte sie Rede und Antwort stehen. Über ihren Unterricht, über -Tante Marianne. Ja, und dann sprach Tante Marie wieder von Rohlbeck. -Rohlbeck ... Rohlbeck ... was war das eigentlich? Wo lag das? Es war ja -fast wie ausgelöscht in ihrer Erinnerung. Selten nur hatte sie in all -der letzten Zeit an die Eltern gedacht, an Martha ... gerade nur die -Pflichtbriefe hatte sie geschrieben. Sie verlangten ja auch nicht viel -Nachricht daheim, das Porto war teuer. Ja ... und nun pochte das auch -wieder an ...</p> - -<p>„Der Rittmeister und Fritz haben sich gründlich brouilliert. Kein -Wunder: Fritz ist dem liberalen Wahlverein beigetreten. Ein Hackentin. -Eigentlich wirklich ein Skandal. Die Politik ...“</p> - -<p>Ach, was ging sie die Politik an. Heut abend hörte sie die „Letzte -Rose“ ...</p> - -<p>Sie saßen in der Fremdenloge. Vorn Tante Marie und Helene, dahinter -Onkel Ernst. Und kaum hatte er die Bühne betreten, so wußte sie, daß er -sie bemerkt hatte — wußte: heut singt er wieder nur für dich. Nur für -dich. Mag das ganze Haus ihm zujubeln und toben: er singt nur für dich! -Nur für dich!</p> - -<p>Es versank alles vor ihr. All der Firlefanz dort oben zwischen den -gemalten Kulissen. Sie sah auch nicht darauf hin, sah auch kaum ihn. -Nur hören — lauschen — lauschen —</p> - -<p>Heut zum ersten Male schmolz auch ihre Abwehr, schmolz ihr Stolz. -Nichts war in ihr als ein läutendes reines Glücksklingen.</p> - -<p>Bis der Vorhang zum letzten Male fiel.</p> - -<p>„Na, kleine Enthusiastin! War’s schön?“ meinte Onkel Ernst, während der -Logenschließer ihm in den Pelz half. „Mariechen, wir fahren gleich nach -dem Hotel. Schwarz kann in einer Viertelstunde auch dort sein.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span></p> - -<p>Zuerst verstand sie nicht. Dann bäumte es sich in ihrem Herzen auf. -Ihn wiedersehen! Heute noch ... nach diesen Stunden! Fast wie eine -Unmöglichkeit erschien es ihr. Als ein Traum, als unfaßbares Glück, -und doch bebte und zitterte sie vor der Minute, in der seine Augen den -ihren begegnen, seine Hand die ihre fassen würde.</p> - -<p>„Wer kommt denn noch, Ernst?“</p> - -<p>Onkel Ernst nannte ein paar Namen, gleichgültige Namen. Offiziere -wahrscheinlich, Diplomaten. „Merivaux hat abgeschrieben. Die -Gardeschützen haben eine große Übung im Terrain.“</p> - -<p>Merivaux! Richtig ... der Neuchateller. Ja — so! Mein Gott, wie -gleichgültig das alles war.</p> - -<p>Und dann, schon im Wagen, mußte sie es doch sagen: „Tante Oschitz wird -ungehalten sein. Ich möchte lieber nach Hause.“ Sprach’s, wußte, daß es -Lüge war und doch auch Wahrheit.</p> - -<p>Es war zu dunkel, als daß die Rackower die Blutwelle hätten sehen -können, die ihre Wangen überflutete. Das Rollen des Wagens übertönte -den angstvoll zitternden Ton ihrer Stimme. Onkel Ernst sagte nur: „Ach -du Schäfchen ...“</p> - -<p>Ein paar Minuten darauf stand sie im Salon des Hotel de Rome. Es wurden -ihr ein paar Herren vorgestellt, sie hörte die Namen nicht. Man sagte -ihr einige Artigkeiten, sie fand nur ein Lächeln. Das Herz klopfte ihr -bis in den Hals hinauf.</p> - -<p>Dann war er mit einem Male da. In der Tür stand er, im Frack mit weißer -Binde, sah sich um, suchte sie ... ja ... suchte sie ...</p> - -<p>Sie las auf seinem Gesicht noch die Erregung der Bühne. Dann ein ganz -leichtes, fast unmerkliches Kopfneigen zu ihr hinüber, ein frohes -Lächeln: ‚Da bist du ja ... ich bin so glücklich, daß du hier bist ...‘ -und er trat zu Tante Marie, küßte ihr die Hand.</p> - -<p>Tante Marie hielt Cercle. Sie saß am Kamin, als einzige Dame; die -Herren standen um sie herum, plauderten,<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> Deutsch und Französisch. Nun -winkte sie mit dem Fächer: „Helene ...“</p> - -<p>Wie schwer ihr die wenigen Schritte wurden. Als ob sie Blei an den -Sohlen trüge; und sie hätte doch fliegen mögen.</p> - -<p>„Mignonne, Herr Schwarz wollte dich begrüßen.“</p> - -<p>Wortlos stand sie, knickste, unbewußt, was sie tat, fühlte seine Hand, -empfand seinen Blick, wagte die Augen nicht zu erheben. Ihn nicht -anzusehen. Denn sie fühlte: siehst du ihn an, jetzt an, so weiß er, daß -du sein willenloses Geschöpf bist, für immer und ewig.</p> - -<p>Da öffneten sich auch schon die Flügeltüren. Der Oberkellner kam -majestätisch auf Tante Marie zu: „<span class="antiqua">Madame, est servi.</span>“ Ein -fremder Herr verbeugte sich: „Gnädiges Fräulein, ich habe die Ehre ...“ -Sie legte ihre Hand in seinen Arm. Einmal dachte sie, wie im Fluge: -‚Ein Glück, daß er dich nicht führt.‘ Dann: ‚Wärst du doch weit von -hier, bei Tante Oschitz und Harro, oder in Rohlbeck ...‘ Dann wieder: -‚Wirst du ihn nachher noch sprechen?‘ ...</p> - -<p>Erst als sie saßen, als Graf Werther ein paar Worte zu ihr gesprochen -hatte, bemerkte sie, daß Alfred Schwarz ihr zur Rechten saß. Wieder -schrak sie zusammen, wieder wagte sie nicht, aufzusehen, nicht, ihn -anzusehen. Und sehnte sich doch mit aller Leidenschaft ihrer Seele nach -einem Blick aus seinen Augen, nach einem Wort von seinen Lippen.</p> - -<p>Dann fiel ihr mit einem Male ein, daß Vater wohl manchmal gesagt hatte: -„Bist doch mein tapferes Mädel!“ Sie klammerte sich an das Wort. ‚Nein: -nicht feige sein! Ankämpfen, ankämpfen! Um Gottes willen, was sollen -denn diese fremden Menschen denken?‘</p> - -<p>Es war ihr immer noch, als säße sie in einem großen Schleier. Nur -undeutlich sah sie drüben die weiße Feder auf dem Turban, den Tante -Marie trug, und den blitzenden Crachat auf der Brust des Herrn neben -ihr. Nur undeutlich hörte sie, was man sprach. Aber nun zwang sie -sich.<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> ‚Bist doch mein tapferes Mädel!’ Nun kämpfte sie gegen sich an. -Und langsam, ganz langsam sank der Schleier nieder. Der Wille kam ihr -zurück. Sie nahm ein paar Bissen, sie trank hastig ein Glas Champagner. -Sie konnte jetzt antworten. „Ja, ich bin noch nicht lange in Berlin.“ -— „Jawohl, es gefällt mir ausgezeichnet.“ ... „Bei meiner Tante -Oschitz.“ — „Ganz richtig, mein verstorbener Onkel war Vortragender -Rat im Kultusministerium.“</p> - -<p>Und dann hörte sie plötzlich auch seine Stimme neben sich. Leise -flüsterte er: „Habe ich gut gesungen heut abend? Ich sang auch heut nur -für ... nur für ein wunderschönes junges Mädchen, das rechts in der -Fremdenloge saß. Ein wunderschönes Mädchen mit rostbraunem Haar, mit -blauen, leuchtenden Augen ...“</p> - -<p>Die ganze Tischrunde, meinte sie, müßte es gehört haben. Aber das -schwirrte und schwirrte durcheinander.</p> - -<p>„Darf ich denn diese wunderschönen blauen Augen jetzt nicht -wiedersehen?“</p> - -<p>Es zwang sie. Er zwang sie. Sie mußte sich ihm zuwenden. Dabei raffte -sie noch einmal all ihren Willen, all ihre Kraft zusammen, rang um ein -Lächeln, suchte nach einem abwehrenden leichten Scherz zur Antwort. -Aber als sie ihn ansah, brachen Wille und Kraft zusammen.</p> - -<p>Vielleicht fühlte er es. Vielleicht stieg das Mitleid in ihm empor. Er -sprach lauter, so daß es die Nächsten hören mußten: „Es war ein recht -gutes Ensemble. Fanden Sie nicht auch, gnädiges Fräulein? Das Orchester -ist sogar vortrefflich. Man darf ja nicht die Ansprüche stellen, die -einer großen Oper gegenüber berechtigt sind. Aber immerhin, es ist mehr -als Mittelmaß. Dazu dies dankbare Publikum!“</p> - -<p>Sie verstand seine Absicht, war ihm dankbar. Aber sie brachte nur mit -Mühe ein „Es war sehr schön —“ über die Lippen. Ein Hauch war es nur, -wohl ihm allein verständlich, und er mochte es deuten — in seinem -Sinne. Er strahlte sie an. Und als ob sie nun seiner Stimmung Flügel -verliehen hätte, riß er das Tischgespräch an sich.<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> In sprühender -Laune erzählte er vom russischen Hofe, gab kleine Theateranekdoten, -Kulissenscherze zum besten; sprach dann wieder ernster: von Richard -Wagner, den er in Zürich kennen gelernt hatte, von dem greisen -Meyerbeer, dem er in Paris nähergetreten war, von Rubinstein, in -dessen Petersburger Heim er Gast gewesen. Er sprach vortrefflich, -pointenreich. Daß er — immer er im Mittelpunkt aller Wendungen -stand, was verschlug’s? Vielleicht gab gerade das Persönliche seiner -Unterhaltungsgabe besonderen Reiz.</p> - -<p>Helene lauschte und lauschte. Manchmal senkte es sich wieder über sie -gleich einem dichten Schleier, so daß sie nicht mehr die Worte, nur -noch den Klang seiner Stimme wie im wohligen Traume hörte; dann kamen -Momente, in denen sie mit einem heimlichen Jubel dachte: eigentlich -spricht er nur zu dir, nur für dich allein. Und ein — zwei Male -fühlte sie, wie, während er sprach, seine Hand unter der Tafel die -ihre suchte. Dann schrak sie zusammen, rückte ab von ihm und konnte -doch nicht wehren, daß er ihren Arm streifte, ganz leise, zärtlich, -verstohlen.</p> - -<p>Tante Marie hob die Tafel auf.</p> - -<p>Im Salon nebenan wurde der Kaffee genommen. Und hier gewann Helene -endlich die Selbstbeherrschung zurück. Sie stand, getrennt von ihm, in -einem Kreise der jüngeren Herren, fand sich in dem leichten Plauderton -zurecht. Es gab einige Anknüpfungspunkte. Der eine der Herren hatte -in Sodelzig bei Onkel Grucker in Quartier gelegen, der andere kannte -Fritz — „den sonderbaren Schwärmer, der ja unter die Demokraten -gegangen sein soll“ — von der Universität her. Wilhelm kannten fast -alle. „Warum ist Ihr Herr Bruder heut nicht hier?“ Graf Werther lachte: -„Wilhelm Hackentin sitzt bei Ewest mit ein paar englischen Herren -zusammen, die nach ungezählten Pfunden aussehen. Ich war vorhin auf -einen Stipps drin und sah ihn zwischen wallenden grauen Bärten, ganz -ehrwürdig vor lauter Wohlhabenheit.“</p> - -<p>Plötzlich war Schwarz wieder neben ihr, und wie er vorhin das Gespräch -der ganzen Tafel beherrscht hatte, so<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> wußte er sie jetzt aus der -Unterhaltung der anderen herauszureißen, sie für sich selber zu -isolieren. Was er zuerst sagte, das durften, konnten sie alle noch -hören. Nach ihren Studien fragte er. Ob sie sich zufrieden fühle bei -der Kollegin Wippern? Wartete die Antwort nicht ab, sondern ergänzte -selber: „Unsere treffliche Harriers-Wippern ist ja Ihres Lobes voll. -Meine Lieblingsschülerin, sagt sie immer wieder. Aber eigentlich müßten -Sie zur Viardot nach Baden-Baden. Das wäre die rechte Lehrerin für Sie.“</p> - -<p>Dann, als sie für ein paar Augenblicke allein standen, flüsterte er -hastig: „Entsetzlich — diese Geselligkeit. Dieser Zwang! Nicht zwei -Worte kann man unbeobachtet mit jemand sprechen, dem man so viel zu -sagen hätte, so unendlich viel ...“</p> - -<p>Sie sah scheu, erschrocken, fast verständnislos zu ihm auf, senkte -gleich wieder den Blick. Ihr war’s ja, als hätten sie den ganzen Abend -über miteinander gesprochen, zueinander, nur zueinander und füreinander.</p> - -<p>„... so unendlich viel zu sagen!“ wiederholte er heiß. „Es muß anders -werden. Ah, jetzt nur einmal einen Spaziergang durch den Rackower Park, -allein, ohne diese zudringlichen, neugierigen, fremden Gesichter. -Allein ... wir beide ... wie schön müßte das sein!</p> - -<p>... So sprechen Sie doch! Nur ein paar Worte, ich beschwöre Sie. Morgen -— nicht wahr? — Morgen gegen ein Uhr gehen Sie zur Wippern ...“</p> - -<p>Sie konnte ja nicht sprechen. Ihre Stimme war erstickt. Vor Angst, vor -Scham, vor fassungsloser Scheu. Aber der Stolz war von ihr abgefallen, -verweht, dahin. Sie neigte willenlos den Kopf.</p> - -<p>„Ein Uhr ... Dank ...“ hörte sie noch. Und da kam Onkel Ernst -angekugelt, quer durch den Salon: „Leneken, jetzt mußt du aber leider -fort. Sonst kriegen wir’s mit Tante Oschitz zu tun, und ich bin kein -Ritter Georg — das Drachentöten war nie meine Force.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span></p> - -<p>Er nahm sie an der Hand, schielte unter seinem Einglas um die Ecke -auf Graf Werther hin und auf Schwarz, die plötzlich in ein angeregtes -Gespräch verwickelt schienen, führte Helene zur Tante. Sie knixte, -küßte die Hand, bekam einen kleinen zärtlichen Klaps mit dem Fächer, -grüßte noch flüchtig nach rechts und links, mußte von Onkel Ernst -einen dicken Schmatz auf die Stirn in den Kauf nehmen: „Fameus hast du -ausgesehen, Lene. Trotz deines simplen Fähnchens. Tante Marie müßte -eigentlich mal mit dir zu Bonwitt fahren .... Nacht, Kind. Grüße den -Drachen.“</p> - -<p>Draußen stand Höhne mit dem diskret vertraulichen Domestikengesicht, -das er armen Verwandten gegenüber immer hatte, geleitete sie, mit zwei -Schritt Distanz, die Treppe hinunter zum Hotelwagen: „Untertänigst gute -Nacht, gnädiges Fräulein.“</p> - -<p>Und dann huschte sie durch den Vorgarten, der im ersten Schnee lag, -unter den bereiften Bäumen hin, in fliegender Eile. Schon von weitem -sah sie, daß die Lampe im Zimmer von Tante Marianne noch leuchtete. Ein -schmaler Lichtkegel fiel aus dem Fenster im Erdgeschoß quer über den -weißen Rasen.</p> - -<p>Gleich, auf das erste leise Pochen, war Tante Marianne an der Tür. In -ihr dickes Umschlagetuch ganz eingehüllt; das kleine, schmale Gesicht -hob sich aus dem Schwarz wie ein Nonnenantlitz.</p> - -<p>Es sah so ernst und so streng aus, daß Helene zusammenbebte, als ob sie -sich einer Schuld bewußt wäre. Aber Tante Marianne hatte kein tadelndes -Wort. Sie nickte nur, und es klang höchstens ein wenig spöttisch: „War -es sehr schön, Helene? Nun ja, natürlich. Die Rackowschen sind ja die -berühmten Amüseurs. Da steht das Licht. Gute Nacht, mein Kind.“</p> - -<p>Nun war sie oben in ihrem Zimmerchen.</p> - -<p>Als sie den Leuchter auf den Nachttisch stellte, fiel ihr erster Blick -auf ein kleines, altes Buch, das bisher nie dort<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> gelegen hatte. Ein -Lesezeichen lag darin, in Kreuzesform geschnitten. Und als sie das Buch -aufschlug, las sie:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Wer die Welt erkieset,</div> - <div class="verse indent0">daß er Gott verlieset,</div> - <div class="verse indent0">Wenn es geht ans Scheyden,</div> - <div class="verse indent0">Verlieret er alle Beyden.“</div> - </div> -</div> -</div> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Sechstes_Kapitel">Sechstes Kapitel</h2> - -</div> - -<p>‚... Wer die Welt erkieset ...‘</p> - -<p>An jenem Abend, als Helene den Spruch des alten Tauler zum ersten Male -las, hatte er sie schwer getroffen.</p> - -<p>Nun lächelte sie darüber. Sie hatte ja gar nicht ‚die Welt erkieset‘. -Nur einen einzigen, einen geliebten Mann hatte sie sich zu einem -stillen, heimlichen Glück gewonnen. Sie hatte ja gar nicht Gott -verlassen: der liebe Gott dort oben über den Wolken hatte ihr ja in -seiner unergründlichen Güte diesen einzigen, den über alles geliebten -Mann geschenkt!</p> - -<p>Ihr Herz war so voll. Ihr Glück war so groß. Und daß es so heimlich und -verschwiegen, das war zu allem Herrlichen noch eine besondere Gnade. An -jedem Abend lag sie mit gefalteten Händen und träumte offenen Auges ein -Dankesgebet. Nun wußte sie es: er hatte sie geliebt vom ersten Sehen -an; er würde sie lieben bis zu seines Herzens letztem Schlag. Und sie -— sie! Ach, was kam es auf sie an?! Wenn sie auf dem Altar, den sie -sich errichtet, zu Asche verglühte, was verschlug’s!</p> - -<p>Nein, nicht zu Asche verglühen. Immer aufs neue erglühen, leben und -lieben! Jeden Augenblick festhalten, Hand in Hand mit dem Geliebten -bitten, beten: verweile doch ... du bist so schön! Und über den -Augenblick hinaus Pläne schmieden, Hand in Hand mit dem Geliebten. Aug’ -in Aug’ mit ihm goldene Pläne, Zukunftsschlösser bauen, Stein auf Stein -zu wunderbaren Wölbungen zusammentragen<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> und zu festen Fundamenten. -Die Zukunft — die Zukunft gehörte ja ihnen und ihrem Glück! Aber auch -geduldig warten und ausharren wollte sie, sich biegen und beugen und -arbeiten, studieren. Alles, alles, wie er es wünschte und wollte ...</p> - -<p>Sie sahen sich täglich.</p> - -<p>Die Liebe machte sie beide erfinderisch. Manchmal mußte sie über ihn -lächeln: wie unerschöpflich sein Register an Auskunftsmitteln war. -Manchmal scherzte sie, sprach zu ihm Goethes Wort aus der „Iphigenie“: -„Mir schien List und Klugheit nicht den Mann zu schänden —“. Manchmal -erschrak sie vor seinen Anschlägen und stimmte doch jubelnd bei. Heut -mußte der gute Wilhelm herhalten, den Elefanten spielen; morgen sahen -sie sich in einem Konzert, in der Oper; dann begegneten sie sich bei -der Harriers-Wippern; ein großer Spaziergang durch die verwachsenen, -verschneiten Wege des Tiergartens, vom Goldfischteich bis zu Kroll, -von Kroll bis zum Hofjäger, kreuz und quer, einte sie heut; morgen -mußte sie Besorgungen in der Stadt vorschützen, und er führte sie durch -die vergessenen kleinen Straßen Alt-Berlins, wo sie sicher waren, -keinem Bekannten zu begegnen. Oder sie trafen sich im Alten Museum, in -irgendeinem Teil, wo es für sie nichts zu sehen gab: bei den Ägyptern -oder vor den Münzkästen. Da standen sie dann vor irgendeiner Mumie oder -den Diadochenmünzen, drückten sich die Hände, flüsterten, raunten, -scherzten — und blickten sich in die Augen. Und wenn der Aufseher -gerade vorüberging, machten sie ernste, wichtige Gesichter und wiesen -mit ausgestrecktem Zeigefinger: „Außerordentlich interessant ... -Erstaunlich, diese Alten!“</p> - -<p>Wovon sie sprachen, worüber sie raunten und flüsterten? Über ihre -Liebe, über ihr Glück. Wie das gekommen, wie das war, wie das bleiben -sollte — in alle Ewigkeit. Nur über ihre Liebe, nur über ihr Glück. -Oder doch fast nur. Denn er sprach auch bisweilen von seiner Tätigkeit, -von seinen Erfolgen; auch wohl von den kleinen unberechenbaren -Verdrießlichkeiten und Enttäuschungen, die keinem<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> Schaffenden erspart -bleiben. Aber sie brauchte ihn dann nur hell anzusehen, seine Hand zu -drücken, und die Schatten verflogen. Selten, sehr selten sprach er von -ihrer Kunst. Das tat manchmal ein wenig weh. Aber es genügte ja, daß er -wußte, sie schritt fort. Und wie schritt sie fort! Sagte das nicht auch -Frau Harriers-Wippern: „Vor ein paar Wochen zeigten Sie nur das starke -Temperament, jetzt fühle ich die Seele in Ihrer Stimme.“ Das tat die -Liebe — auch das tat die Liebe!</p> - -<p>Ein paar Male mußte Alfred verreisen. Auf vier, fünf Tage, einmal -auf eine ganze Woche. Nach Dresden, nach Köln, nach Hannover zu -Gastspielen. Das waren trostlose Tage. Dann legte sich jedesmal die -Stille der einsamen Insel mit Zentnerschwere auf Helene. Nicht als -Frieden empfand sie die Ruhe, nur als Öde. Ihrem ganzen Leben fehlte -der Inhalt; selbst die Kunst war keine Trösterin. Tante Mariannes -leise, dünne Stimme tat ihr fast körperlich weh. Nichts interessierte -sie. Was kümmerte es sie, wenn Tante Oschitz aus der „Kreuzzeitung“ -vorlas, daß Preußen an der Halsstarrigkeit der liberalen Abgeordneten -zugrunde gehen würde, daß der König, Bismarck und Roon auch gegen diese -verstockten Demokraten die Heeresreorganisation durchsetzen müßten; daß -die Russen sich mit den Polen in den Haaren lägen? Was kümmerte es sie, -wenn der Tränen-Müller im dämmrigen Salon schöne Worte über die Weihe -der kommenden Weihnacht sprach, während ein halbes Dutzend alter Damen, -um ihn gruppiert, Missionsstrümpfe strickte.</p> - -<p>Ja, wenn Harro noch der alte gewesen wäre, der junge, liebe, frische -Kamerad. Aber um Harros Unbefangenheit war es geschehen. Anfangs hatte -sie sich amüsiert, wie er ihr Ritterdienste leistete, daß er ein wenig -verliebt in sie war, wie er das äußerte, mit verstohlenen Blicken, -mit halben Worten. Nun war das anders. Er konnte sie schweigend eine -Viertelstunde lang anstarren, fest zusammengepreßt die Lippen und -düster die Augen. Manchmal war es zum Fürchten. Manchmal dachte sie: -Er ahnt etwas von deinem<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> heimlichen Glück, er ist eifersüchtig, er -quält sich und will dich quälen. Dann war’s wieder, als wollte er -gutmachen. Sie fand plötzlich auf ihrem Zimmer ein paar Rosen. Rosen -zur Winterszeit! Daß der Junge nur nicht sein ganzes Taschengeld für -sie verpulverte. Oder er faßte plötzlich nach ihrer Hand und bat: „Du -übst wohl viel, aber uns singst du gar nichts mehr vor. Tu’s wieder, -liebe Helene.“ Sie mußte den Kopf schütteln. Was sie jetzt hätte singen -können, wie sie’s hätte singen mögen, das paßte nicht für die einsame -Insel, auch nicht für Harro —</p> - -<p>Schreckliche Tage, diese Tage, an denen Alfred fern war. Aber auch -die Sehnsucht hatte ihre Süßigkeit. Und dann flogen ja die heimlichen -Briefe herüber und hinüber, <span class="antiqua">Poste restante</span>-Briefe, die sie von -der Hauptpost in der Spandauer Straße abholen mußte, jedesmal mit -erneutem Herzklopfen. Ein kümmerlicher Ersatz freilich, solch ein -Brief. Auch faßte Alfred sich immer so kurz. Kein Wunder zwar bei -dieser aufreibenden Tätigkeit auf den Gastspielreisen, bei den langen -Fahrten, den Proben, den vielen Verpflichtungen. Aber das Schreiben lag -ihm wohl überhaupt nicht. Er berichtete nur, und Herz und Augen suchten -in seinen Zeilen oft vergeblich nach den heißen Liebesworten.</p> - -<p>Was tat’s! Was verschlug’s?! Ein paar Tage, und er war wieder da! Sie -sah ihn wieder, sie flüsterten und raunten, sie lachten und jubelten -und waren glücklich.</p> - -<p>Dann setzte der Winter, der so lange gezögert hatte, mit voller Macht -ein und erwies sich als ein arger Störenfried.</p> - -<p>Den richtigen deutschen Winter, wie er nun mit einem Male da war, -fürchtete Alfred. Über das bißchen Schnee und ein, zwei Grad Kälte -war er fortgekommen; als aber die Eisblumen an den Fenstern blühten, -fühlte er im Geist schon den Katarrh, begann zu schelten, daß man an -der Spree gegen Witterungsungunst schlechter geschützt sei als an der -Newa, und ging trotz Pelzkragen und Schal nur ungern über die Straße. -Mit den heimlichen<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> Wanderungen durch den Tiergarten oder durch das -Gassengewirr vom Molkenmarkt zum Alexanderplatz war es vorbei. Das -Landkind, das mit Vater bei achtzehn Grad Kälte im offenen Schlitten -zu fahren gewohnt war, wollte das nicht recht begreifen. Aber da der -geliebte Mann so empfindlich war, half’s ja nichts: sie mußte sich -fügen.</p> - -<p>Sie ratschlagten.</p> - -<p>„Ich mache einfach bei deiner Tante Besuch“, meinte er. „Ich habe schon -manchen Drachen gezähmt, um mit dem Rackower zu sprechen.“</p> - -<p>„Tante Marianne ist kein Drachen. Aber —“</p> - -<p>„Aber —“, fragte er heftig zurück. „Sollte ich ihr etwa deiner Meinung -nach nicht vornehm genug sein?“</p> - -<p>Es kränkte sie ein wenig. Ihr ‚Aber‘ konnte sie doch nicht recht -begründen. „Ich hab’s nur so in den Fingerspitzen, Fred ... es tut -nicht gut.“</p> - -<p>„In den Fingerspitzen? Zeig’ doch mal her.“ Er lachte und küßte -jeden einzelnen Finger einzeln auf die rosige Spitze. „In diesen -allerliebsten Dingerchen hier können ja nur die allerschönsten Ideen -hausen. Wenn in den Fingerspitzen überhaupt Ideen wohnen können.“</p> - -<p>Er machte seinen Besuch, wurde sogar angenommen; brachte zur Einführung -eine Empfehlung der Rackowschen Herrschaften, sprach sehr zierlich über -die reizende Lage der einsamen Insel, bewunderte das alte Berliner -Porzellan in der Mahagoniservante, spielte, ganz beiläufig, darauf an, -daß er eigentlich die wundervolle Stimme von Fräulein von Hackentin -entdeckt hätte — und wurde, ehe er es sich noch versah, in Gnaden -entlassen. Oder richtiger: nur entlassen.</p> - -<p>Helene war nicht anwesend gewesen. Als ihr aber Tante Oschitz von dem -Besuch erzählte, setzte sie hinzu: „Dieser Herr Schwarz oder wie er -heißt, paßt zu den Rackowschen. Er ist auch ein Fant!“</p> - -<p>Das Blut jagte über Helenens Wangen. Gut, daß es zwischen den tiefen -Mauern immer so dämmerig war. „Ein Fant! Tante Marianne, wie kann man -so hart<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> urteilen nach einmaligem Sehen!“ stieß sie heiß hervor. Empört -war sie. Das war noch das mindeste, was sie der Tante sagen mußte.</p> - -<p>Die alte Dame schwieg eine Weile. „Vielleicht hast du recht, Kind,“ -meinte sie dann. „Wir sollen nicht allzu schnell urteilen. Ich erkenne -auch an, daß dieser Herr dein Bestes gewollt hat. So magst du ihm wohl -dankbar sein dürfen. Aber ungerecht war ich, glaube ich mindestens, -doch nicht. Ich habe in den Gesichtern der Menschen lesen gelernt: in -diesem hübschen glatten Gesicht sehe ich nichts als Oberflächlichkeit.“</p> - -<p>„Daß du ihn einmal singen hörtest, Tante!“</p> - -<p>„Ich bin wohl nicht musikalisch genug, um das würdigen zu können, -Helene. Aber gesetzt, er sänge wie Orpheus, so würde mich das nicht -beeinflussen. Kunst ist ein Kräutlein nicht für alle Leutlein, sagt -ein altes Sprichwort. Bei seiner Kunst müßte ich immer an das Theater -denken, und ich liebe diese Welt des Scheins und des Trugs nicht. Du -weißt es.“</p> - -<p>Sie sprach das alles mit ihrer ruhigen, leisen, sanften Stimme. Daß -diese Stimme doch so wehe tun konnte!</p> - -<p>„Herr Pastor Müller geht aber auch ins Theater.“</p> - -<p>„Das mag wohl sein, und er wird wissen, wie er es mit sich und Gott -abmacht. Du mußt mich nicht falsch verstehen, Helene: ich richte nicht. -Ich spreche nur ein subjektives Empfinden aus. Und nun ist’s wohl genug -von diesem Herrn Schwarz —“</p> - -<p>„Deine Frau Tante ist <em class="gesperrt">doch</em> ein Drachen,“ sagte Alfred, als sie -sich am Tage darauf trafen. „Sie hat mich kaum eines Wortes gewürdigt. -Ja und Nein war ihre Rede, und es fehlte nur das Amen. Das wird wohl -gefolgt sein, mit drei Kreuzen, als sich die Tür hinter mir geschlossen -hatte.“</p> - -<p>Es klang sehr verletzt, und sie fand nicht den Mut, ihm ein Wort -zugunsten von Tante Oschitz zu sagen.</p> - -<p>„Helene, Schönste, Liebste — könntest du nicht einmal zu mir kommen? -Du kennst meine kleine Wohnung ja<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> gar nicht, weißt nicht, wie ich -hause. Ich denke es mir so reizend, dir eine Tasse Tee zu bereiten, bei -mir, echt russisch, auf einem riesigen Samowar.“</p> - -<p>Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf.</p> - -<p>„Sei nicht so klein, Helene ...“</p> - -<p>Wieder schüttelte sie den Kopf.</p> - -<p>Er kannte das schon: sie gab eigentlich immer nach, aber bisweilen grub -sich zwischen ihre Brauen ein Fältchen des Eigenwillens ein, dabei -spannte sich ihr Nacken, sie schloß die Augen, als wollte sie ihn nicht -ansehen — dann war jedes Wort vergeblich.</p> - -<p>„Liebste Närrin! Ich hab übrigens noch einen anderen Vorschlag. Eine -Entdeckung hab ich neulich gemacht —“</p> - -<p>Seitdem trafen sie sich meist in einer winzig kleinen Konditorei in der -Bendlerstraße. Nur ein Katzensprung war’s von der einsamen Insel, und -doch waren sie hier sicher vor jeder Entdeckung. Denn die Konditorei -war jetzt, im Winter, nur während der Mittagsstunden einigermaßen -besucht, von den Eisläufern, die sich hier bei einem Glase Punsch ein -wenig aufwärmen wollten.</p> - -<p>Einen schmalen Verkaufsraum gab’s dort und dahinter ein einziges -Zimmerchen mit vier Tischchen. Ein verschossener brauner Plüschvorhang -trennte beide Räume. Vorn saß hinter dem Ladentisch ein verrunzeltes -Fräuleinchen, immer tief über einen Leihbibliotheksband gebeugt. -„Versteinert, wie ihre Kuchen,“ meinte Alfred. Im Gastzimmer waren sie -stets allein. Es kam wohl vor, daß die dünne Türklingel ging und Helene -aufschrecken ließ. Aber es war dann immer nur irgendein Dienstbote, der -etwas holte: ein Dutzend Pfannkuchen, ein paar Spritzkuchen, ein paar -Windbeutel.</p> - -<p>Manchmal gab’s Anlaß zu einem Scherz. „Hörst du, Helene, Baisers! -Baisers! Komm — komm, kleine süße Konditorin ...“</p> - -<p>Zuerst hatten sie sich gegenüber gesessen an einem runden Tische mit -fleckiger Marmorplatte. Aber es gab da an<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> der Wand ein uraltes Sofa. -Zu dem hatte er sie in einer Dämmerungsstunde geführt.</p> - -<p>Ach, diese glückseligen Dämmerungsstunden, in denen sie sich am ehesten -fortstehlen konnte. Tante las dann, und Harro saß über seinen dreimal -gesegneten Schulaufgaben.</p> - -<p>Fräulein Minna — sie wußten schon, daß das Kuchenfräulein Minna hieß -— kam jedesmal hereingetrippelt, wollte auf einen Stuhl steigen, um -die eine Gasflamme anzuzünden.</p> - -<p>„Aber Fräulein Minna, Sie Verschwenderin! Es ist ja noch ganz -hell!“ rief Fred empört. Und sie trippelte wieder fort, mit einem -verständnisvollen Lächeln, trippelte zu ihrem Leihbibliotheksbande, in -dem gewiß immer unendlich viel Liebe vorkam.</p> - -<p>Der ganze Raum war erfüllt von einem süßen Duft. Zuerst hatte der -Helene angewidert. Nun wußte sie nichts mehr davon. So wenig wie -davon, ob das Stückchen Kuchen, das sie pflichtschuldigst zerkrümelte, -altbacken war oder nicht.</p> - -<p>O diese Dämmerungsstunden im Schutze des alten, lieben braunen -Plüschvorhangs, auf dem tiefeingesessenen Sofa, wo sie zuerst allein -gesessen hatte — und nun mit ihm saß. Eng aneinandergeschmiegt, -plaudernd, raunend, flüsternd, Hand in Hand, wo sie träumten, sich -Zukunftsschlösser bauten ...</p> - -<p>Eifrig bauten sie jetzt Zukunftsschlösser. Er wußte, daß sie ein -armes Mädchen war, arm wie eine märkische Kirchenmaus. Nichts brachte -sie ihm als ihre Liebe, ihre große Liebe. Aber dafür hatten ja beide -ihre Kunst. Ein Jahr noch, und sie möchte hinaustreten können auf die -Bretter, die die Welt bedeuten. Ihre neue Welt! Ihr stand es nun fest, -auch sie ging zur Bühne. Der Widerstand der Eltern würde schon zu -besiegen sein. Daran zweifelten beide nicht. Zweifel? Es gab für sie -überhaupt keine Zweifel: hell, sonnig lag die Zukunft vor ihnen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span></p> - -<p>Ein Jahr noch! Was war ein Jahr?! Wo jeder Tag, von einem Sehen zum -andern, für Helene verrauschte wie ein Augenblick.</p> - -<p>In der kleinen Konditorei feierten sie auch ihr Weihnachten miteinander.</p> - -<p>Helene hatte nach Rohlbeck kommen sollen. Aber als Wilhelm sich wenige -Tage vor dem Fest einfand, um alles zu verabreden, hatte sie ein -Tuch um den Hals und klagte. Nein, bei dieser eisigen Kälte durfte -sie ihre Stimme der Gefahr nicht aussetzen. Es ging wirklich nicht, -Wilhelm sah das selber ein, auch Tante Oschitz riet ab. Schade ... -die Eltern werden’s schmerzlich empfinden. Jawohl ... aber auch sie -werden’s einsehen. Und Geld hätte es auch gekostet ... alles kostete -so viel Geld, und Vater hatte erst vor kurzem geschrieben, mit den -Kartoffelpreisen sei’s jammervoll, „das heißt, liebe Lene, du brauchst -dir darüber keine Kopfschmerzen zu machen“.</p> - -<p>Als Bruder Wilhelm gegangen war, huschte Helene treppauf in ihr -Zimmer, lachte wie ein Schulmädchen, das die französische Stunde -geschwänzt hat, und kramte ganz unten aus dem Kommodenkasten die kleine -Perlenstickerei heraus, an der sie so glückselig heimlich arbeitete, -bei jeder Perle einen Wunsch für ihn hineinflechtend, ein ‚Sei -glücklich! Behalt mich lieb!‘</p> - -<p>Tante Marianne hatte eine große Weihnachten. Sie bescherte vielen armen -Kindern, meist aus dem Osten Berlins, wo dem Pastor Müller jüngst von -seiner Gemeinde ein eignes Kapellchen gebaut worden war.</p> - -<p>Aber sie hatte auch Helene nicht vergessen. Unmittelbar neben Harros -Aufbau stand ihr Gabentisch. Da lagen die Briefe und kleinen Geschenke -aus Rohlbeck und von der Tante ein Pelzmuff und ein Buch mit Goldtitel -und Goldschnitt: „Amaranth“ war’s, von Oskar von Redwitz. Daneben lag -noch ein kleines Bändchen: „Neue Gedichte“ von Emanuel Geibel. Sie -blätterte mit ungeduldiger Hand darin. Auf der ersten Seite stand in -Harros steifer Handschrift: „Seiner lieben Kusine“ ... Als sie flüchtig -aufsah ihm<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> einen Dank zuzuwinken, sah sie, daß er seinen Aufbau noch -gar nicht beachtet hatte, daß seine Augen nicht von ihr ließen —</p> - -<p>Der gute dumme Junge! Wenn er wüßte, wenn er wüßte ...! Aber es tat ihr -doch leid, daß sie so gar nicht an ihn gedacht hatte. An wen hatte sie -denn überhaupt gedacht in all den letzten Wochen, als nur an den einen, -den einen!</p> - -<p>Tante Marianne stand inmitten der Kinder, die scheu und verlegen ihre -wollenen Jacken und Strümpfe, ihre Pfefferkuchen, Äpfel und Nüsse -beschauten. Für jedes hatte Tante Marianne ein gütiges Wort.</p> - -<p>Jetzt war es an der Zeit —</p> - -<p>Helene huschte hinüber, zu dem großen Weihnachtsbaum, dankte, küßte die -Hand: „Ich gehe nur auf ein paar Minuten zu Frau Harriers-Wippern.“</p> - -<p>‚Wie ich schon lügen kann,‘ fand sie selber und freute sich darüber. -Lachen hätte sie mögen.</p> - -<p>Tante Marianne war vollauf beschäftigt. „Nimm aber den Pelzkragen, -Kind!“ sagte sie nur zerstreut und hatte schon wieder einen kleinen -Blondkopf beim Wickel, band ihm zur Probe ein paar feste wollene -Ohrenklappen über das Flachshaar.</p> - -<p>Jetzt war es an der Zeit. Jede Minute war kostbar, jede Minute ein -Weihnachtsgeschenk. Im Nu hatte sie den Mantel um, den Kapotthut auf, -eilte die Treppe hinunter.</p> - -<p>Da stand Harro im Flur. Gerade vor der Haustür, breitbeinig, mit seinem -finstersten Gesicht.</p> - -<p>„Du willst fort, Helene? Heut? Jetzt? Am Heiligen Abend?“</p> - -<p>„Nur zu Frau Harriers-Wippern.“</p> - -<p>Das Lügen war nicht so leicht wie vorhin. Der Junge hatte ein paar -Augen, die dreinschauten, als wollten sie einen durchbohren.</p> - -<p>„Sie hat mich zur Bescherung gebeten. Ich komme gleich zurück, lieber -Harro.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span></p> - -<p>„Ich bringe dich —“ Er griff schon nach dem Kleiderrahmen an der Wand.</p> - -<p>„Nein, das gebe ich nicht zu. Du darfst jetzt nicht von Tante fort.“</p> - -<p>„Wir kommen ja gleich zurück.“ Fast höhnisch klang’s, wie er das -„gleich“ betonte.</p> - -<p>„Unter keinen Umständen, Harro. Laß nur, ich bitt’ dich!“</p> - -<p>Der Boden brannte ihr unter den Füßen. Wie nur den dummen, lieben, -eifersüchtigen Jungen beruhigen, beseitigen?</p> - -<p>„Ich danke dir auch vielmals für das schöne Buch, Harro. Geibels -Gedichte hatt’ ich mir schon lange gewünscht. Wie gut du das getroffen -hast.“</p> - -<p>Er stand noch immer.</p> - -<p>Da kam ihr ein toller Einfall.</p> - -<p>Sie packte plötzlich den Kopf des Jungen mit beiden Händen und -küßte ihn: „Dank, Harro!“ und noch einmal „Dank! Dank!“ Küßte ihn -auf die zuckenden Lippen. Derb und herzlich. Und dann ließ sie ihn -stehen, rannte zur Tür, rannte durch den Vorgarten, jagte die stille, -menschenleere Straße entlang. Immer vor sich hin lachend. Ein Küßchen -in Ehren ... da hatte sie einen Glücklichen gemacht, recht zum schönen -Weihnachtsfeste. Ein Küßchen in Ehren ... weiß Gott in Ehren, denn -solch Kuß zwischen Vetter und Kusine war ja nicht viel anders als -zwischen Geschwistern ... aber was der Junge für Augen gemacht hatte!</p> - -<p>Das Lachen noch auf den Lippen, die Wangen vom schnellen Lauf in der -kalten Luft gerötet, so kam sie in die Konditorei, nickte dem alten -Fräulein zu, hob den Plüschvorhang — und wäre fast in ein lautes -Jubeln ausgebrochen. Denn da stand Fred, hatte eine richtige kleine -Weihnachtspyramide vor und zündete die gelben Wachslichterchen an. -Gerade nur zwei Spannen hoch war das Gestellchen, streckte seine acht -gradlinigen grünen Arme<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> steif von sich, vier größere unten, vier -kleinere oben; auf der Spitze aber turnte ein goldenes Engelchen.</p> - -<p>Sie flog auf den Geliebten zu, sie flog ihm an den Hals:</p> - -<p>„Ach du ... du ... das hast du für mich ...?“</p> - -<p>„Selbst auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Schloß gekauft und -höchsteigenhändig hertransportiert. Gibt’s etwas Lieberes, -Scheußlicheres als solch eine Berliner Pyramide?“</p> - -<p>Und dann saßen sie nebeneinander auf dem Sofa, und erst mußte er die -Augen zumachen, „aber fest, ganz fest“, und sie baute ihm unter der -Pyramide den kleinen Tabaksbeutel auf, in dessen Perlenstickerei sie -so unzählige gute Wünsche hineingearbeitet hatte. Und darauf hielt -er ihr mit der Linken die Augen zu und kramte aus der Tasche heraus. -Eine Brosche war’s mit gelben geschliffenen Topasen, zierlich in -Goldfiligran gefaßt, ein rotes Juchtentäschchen für Visitenkarten, -ein Fläschchen <span class="antiqua">Violet de Parme</span>. Und nun ging’s ans Sehen und -Bewundern und Bedanken. Mit den kleinen Punschgläsern, die Fräulein -Minna hereingebracht, stießen sie an; ein Schüsselchen mit süßem -geriebenem Mohn stand daneben, dem Berliner Weihnachtsessen; davon -steckte Helene ihm einen Löffel voll in den Mund und wollte sich -totlachen, als er sich entsetzt schüttelte.</p> - -<p>Mit einem Male klang ein Klavier, dünn und fein, aber ganz deutlich. Es -mußte wohl oben, über der Konditorei, beschert werden: „Stille Nacht -... heilige Nacht ...“</p> - -<p>Und da begann Helene mitzusingen. Ganz leise zuerst. Dann stimmte er -ein, und nun sangen sie beide, laut und voll und jubelnd.</p> - -<p>Sie merkten es gar nicht: der Plüschvorhang hob sich verstohlen, -zwischen den braunen Falten schob sich das alte verrunzelte Gesicht von -Fräulein Minna hindurch. Ganz still stand sie, andachtsvoll lauschend, -mit verklärter Miene.</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Stille Nacht, heilige Nacht,</div> - <div class="verse indent0">Alles schläft, einsam wacht</div> - <div class="verse indent0">Nur das traute, hochheilige Paar.</div> - <div class="verse indent0">Holder Knabe im lockigen Haar —</div> - <div class="verse indent0">Schlaf in himmlischer Ruh —“</div> - </div> -</div> -</div> -<p><span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span></p> -<p>Der Gesang verhallte. Sie sahen sich an mit leuchtenden Augen und -wußten beide, daß sie noch nie, nie so schön gesungen hatten, nie -schöner singen würden, als eben.</p> - -<p>Langsam glitten die Falten des braunen Vorhangs wieder zusammen.</p> - -<p>„War das schön! War das schön!“ hauchte Helene. Und er küßte ihr die -Tränen aus den Augen.</p> - -<p>Eine ganze Weile saßen sie still. Die winzigen gelben Wachslichterchen -brannten herunter. Weihnachtsduft zog durch den Raum. Nun erlosch das -letzte Licht —</p> - -<p>Da stand Helene auf. „Ich muß fort“, sprach sie leise und gepreßt. Es -wurde ihr so schwer, so schwer.</p> - -<p>„Bleib doch noch!“ bat er. „Bleib doch —“</p> - -<p>Aber sie schüttelte den Kopf, faßte noch einmal seine beiden Hände: -„Dank ... Dank für diese Stunde!“ Noch einmal umarmte sie ihn.</p> - -<p>Draußen an dem Kuchentisch mit den vielen Glasglocken und Flaschen -stand Fräulein Minna. Sie knixte tief, als Helene vorüberkam: „Wie -wunderschön haben die Herrschaften gesungen. Unser Domchor kann’s nicht -schöner.“</p> - -<p>Sie hörte es nicht. Es war wie ein großer Rückschlag auf all die Freude -und Seligkeit in ihr, eine herzbeklemmende Angst: Harros Augen standen -vor ihrer Seele. Diese hellen Knabenaugen, die sie wie entgeistert -angeschaut hatten.</p> - -<p>Und auf dem kurzen Weg nach Hause überschlich sie noch ein anderes -Gefühl, zum erstenmal: die Scheu vor der Lüge. Bisher hatte die -Heimlichkeit täglich neuen Reiz für sie gehabt, plötzlich, jäh, -erschrak sie vor ihr. Weshalb jetzt, plötzlich — sie wußte es nicht. -Vielleicht taten auch das die hellen Knabenaugen.</p> - -<p>Die Straße entlang hastete sie, aber als sie in den Vorgarten kam, -wurden ihre Schritte langsamer und langsamer. Noch nie war ihr der Mut -gesunken, jetzt lähmte eine dumpfe Zaghaftigkeit ihr die Glieder. Und -trotzdem<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> wiederholte sie sich immer wieder: ‚es war doch so schön ... -es war doch so schön‘ — und hätte weinen mögen.</p> - -<p>Der große Tannenbaum war schon erloschen. Tante Oschitz saß ermüdet -in einem Lehnstuhl am Ofen, fragte nur flüchtig: „War’s schön?“ Ganz -seltsam klang das Helene. Sie nickte stumm. Dann sah sie verstohlen -auf Harro. Der saß an seinem Gabentisch, den Kopf ganz tief über ein -Buch gebeugt. Leseratte, die er war. Es wurde Helene leichter ums Herz. -Vielleicht — vielleicht hatte sie sich doch getäuscht. Er machte -einen so kindlichen Eindruck, wie er dasaß, die Hände an den Schläfen, -die Finger in das dichte blonde Haar gewühlt, versunken in sein -Geschenkbuch. Nicht einmal aufgeblickt hatte er bei ihrem Kommen.</p> - -<p>Dann meldete auch schon der alte Diener, daß angerichtet wäre. Tante -Marianne stand auf: „Kommt Kinder!“ Wie Harro nun den Kopf hob, da -sah Helene die flammende Röte auf seiner Stirn, auf seinen Wangen und -empfand, daß er ihren Blicken auswich. Und als er dann am zierlich -gedeckten kleinen Tisch das Gebet sprechen sollte, wie alle Tage, da -kamen die gewohnten Worte eigen zerstückt von seinen Lippen. Er sprach -wie ein Träumender. So daß die Mutter sagte: „Aber Harro! Was hast du -denn? Es ist ja wirklich, als ob du unseren Herrn Jesu über deinem -neuen Band Grube vergessen könntest. Schäme dich!“</p> - -<p>Er schrak zusammen. Aber es war wie ein Trotz in ihm. Kein Wort der -Entschuldigung sprach er, setzte sich, steckte sich mit seinen raschen -knabenhaften Bewegungen die Serviette zurecht; immer ohne aufzusehen. -Und die Bierkarpfen, von denen er gestern im voraus geschwärmt, rührte -er kaum an.</p> - -<p>Recht schweigsam verlief das kleine Mahl. Eigentlich sprach nur Tante: -von dem Jubel der Kinder vorhin, von der Freude des Schenkens, von -der Weihe dieses Abends. Nur mit halber Aufmerksamkeit folgte Helene. -Ihre Gedanken wanderten. Aber einmal schrak sie auf, wie aus einem -Traum. Tante Marianne erzählte, daß man im Palais, als sie noch Hofdame -gewesen, neben den Tannenbäumen<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> stets auch eine der alten Berliner -Weihnachtspyramiden gehabt hätte ... „Du hast sicher solch ein Ding -noch nie gesehen, Helene, solch eine Pyramide mit den steifen, gerade -abstehenden Armen ...“</p> - -<p>Bald nach Tisch brachte der Diener die Leuchter hinein, stellte sie auf -den Tisch an der Tür, die Porzellankästchen mit den Schwefelhölzern -daneben und auf jeden Leuchter die Lichtputzschere. Wie an jedem -Abend. „Der gnädigen Herrschaft wünsche ich gute Nacht“, sagte er -leise, wie immer. Das war wie an jedem Abend das Zeichen zum Aufbruch. -Tante Marianne glitt, langsam und geräuschlos, zu dem Tisch an der -Tür hinüber, zündete umständlich die drei Kerzenstümpfe an. „Gute -Nacht, Kinder.“ Dann küßte sie den Sohn, legte auf einen Augenblick -ihre Rechte in die Helenes, die sich tief über die kühle Matronenhand -neigte. Und wie an jedem Abend stiegen die beiden gemeinsam die Treppe -hinauf.</p> - -<p>Das war sonst oft, fast immer unter halblautem Lachen und Scherzen -geschehen, und manchmal hatten sie, zumal in der ersten Zeit, noch ein -paar Minuten auf der großen Truhe oben im Flur gesessen und geplaudert.</p> - -<p>Heut ging Harro stumm neben Helene her. So stumm — das Herz wurde ihr -schwer und schwerer. ‚Wenn ich nur erst in meinem Zimmer wäre,‘ dachte -sie beklommen.</p> - -<p>Nun war sie oben.</p> - -<p>„Gute Nacht, Harro“, sagte sie rasch. „Schlaf wohl!“ und reichte ihm -die Hand hin.</p> - -<p>Da griff er, mit einem Ruck des Armes, zu, sah sie zum erstenmal heute -abend an. Mit einem eigenen Blick, nicht mehr versteint, sondern -forschend, vorwurfsvoll. Das Helle, Kindliche schien in den blauen -Augen erloschen, ein dunkles, wissendes Leuchten war darin. Seine -Hand bebte, wie sie so die ihre umfaßte. Um seine Lippen zuckte es. -Plötzlich, ehe sie es hindern konnte, hatte er ihr die Hand geküßt. Sie -fühlte eine schwere Träne auf dem Gelenk. Und dann lief er auch schon, -wortlos, den Flur hinunter, seinem Zimmer zu.</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Siebentes_Kapitel">Siebentes Kapitel</h2> - -</div> - -<p>Zwischen Weihnacht und Neujahr war Alfred verreist. Er gastierte in -Frankfurt am Main, und seine Abwesenheit dehnte sich bis Anfang Januar -aus, länger, als er Helene gesagt hatte. Es war eine öde, trübe Zeit -für sie, zumal auch Frau Harriers-Wippern Ferien hielt. Die Stunden -schlichen dahin und die Tage, und Helene kam in ein Grübeln hinein, das -ihrem Wesen sonst ganz fremd war. Wie auf Wolken war sie gewandelt in -all den letzten Wochen, wie in einem Rausch. Nun dünkte sie alles um -sie her so nüchtern, so leer, ihr Dasein so schal, als wäre ihm jeder -Inhalt genommen.</p> - -<p>Auch die einsame Insel drückte auf sie, die noch vertiefte Stille -dieser Woche, die Tante Marianne so ganz als weihnachtlich empfand. An -den Festtagen fuhr unweigerlich am frühen Vormittag die Mietkutsche -vor. Tante Oschitz hätte jeden Zwang zum Besuch des Gottesdienstes -verworfen, denn er entsprach so gar nicht ihren Anschauungen; aber -sie sah es als selbstverständlich an, daß Helene und Harro sich ihr -anschlossen. Eine Qual schon allein diese endlose Fahrt, den Vetter -auf dem Rücksitz gegenüber! Das Kapellchen, dem die festliche Weihe -fehlte; die Predigt, deren steten, sanften Druck auf die Tränendrüsen -Helene instinktiv empfand; noch einmal die lange, lange Fahrt, während -derer Tante mit Harro ein immer vergebliches Examen über das, was -der Tränen-Müller soeben verkündet, anstellte. Trotz auf der einen, -Verstimmung auf der andern Seite. Verstimmung, die eigentlich den -ganzen Tag über anhielt, um sich erst gegen Abend in eine schmerzliche -Mutterzärtlichkeit aufzulösen.</p> - -<p>Es war ja gut, daß Harro der Verstimmung wie der Zärtlichkeit auswich -— und anderem. Er war tagsüber fast nie zu Hause, hatte tausend -Ausreden. Oft genug fehlte er sogar bei den Mahlzeiten; bisweilen kam -er erst spät in der Nacht zurück, heimlich, auf verbotenem Wege, mit -falschen Schlüsseln. Vielleicht steckte er auch mit den<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> Dienstboten -im Bunde. Jedenfalls hörte Helene in ihren unruhigen Nächten oft noch -nach Mitternacht seinen leisen Schritt auf dem Korridor. Und es gab ihr -jedesmal einen Stich ins Herz: auch daran war sie schuld. Ganz genau -wußte sie das.</p> - -<p>Einmal, nachmittags, war Tante Marianne zu ihrem Bankier gefahren. -Helene saß unten im Salon. Es dämmerte schon leicht, so daß sie ihr -Buch aus der Hand legen mußte. Ein paar Male ging sie im Zimmer auf -und nieder, setzte sich vor das Instrument, schlug ein paar Akkorde -an. Wie eine halbe Ewigkeit erschienen ihr die Tage, in denen sie -nicht geübt hatte. Sie dachte nach: wann hast du überhaupt zum letzten -Male gesungen? Und da schoß ihr durch den Sinn: ‚Am heiligen Abend! Am -heiligen Abend — mit ihm!‘ In jener Stunde, in der sie eigentlich zum -letzten Male sich ganz, ganz glücklich gefühlt hatte —</p> - -<p>So deutlich ... so zum Greifen deutlich stand plötzlich wieder sein -Bild vor ihrer Seele.</p> - -<p>Ob auch er wohl jetzt ihrer gedachte?</p> - -<p>Tiefer sanken die Schatten herab. Fast dunkel war es im Zimmer.</p> - -<p>Ganz leise und sacht fing sie an, gerade so, wie sie beide neulich — -neulich angefangen hatten.</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Nur wer die Sehnsucht kennt,</div> - <div class="verse indent0">Weiß, was ich leide!</div> - <div class="verse indent0">Allein und abgetrennt</div> - <div class="verse indent0">Von aller Freude —“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Sie wußte nicht, wie das Goethelied ihr ins Gedächtnis gekommen war. -Nur das fühlte sie, daß es so ganz ihrer Stimmung entsprach. Und ihre -Stimme hob sich, schwoll und schwoll —</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Ach, der mich liebt und kennt,</div> - <div class="verse indent0">Ist in der Weite —“</div> - </div> -</div> -</div> -<p><span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span></p> -<p>Einmal war es, als ginge eine Tür. Aber sie überhörte es. All ihre -Seele war bei dem Gesang. Wie auf Flügeln trug es sie himmelan, als ob -ihre Kunst das Herz läutere. Dies zuckende Herz —</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Nur wer die Sehnsucht kennt,</div> - <div class="verse indent0">Weiß, was ich leide!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Ein paar Atemzüge lang saß sie ganz still, die Hände noch auf den -Tasten, mit geschlossenen Augen. Ihr war so wohl und war so weh —</p> - -<p>Da hörte sie deutlich nebenan, im Arbeitszimmer des Herrn von Oschitz, -ein verhaltenes Schluchzen. Ein einziger kurzer Ton nur war’s. Fast nie -betrat jemand dies düstere, kleine Gemach des Verstorbenen. Und noch -einmal klang’s auf, so daß sie zusammenschauerte. Ein Wehlaut, wie mit -Trotz unterdrückt.</p> - -<p>Fast im gleichen Moment aber sprach jemand nebenan. Des alten Dieners -Stimme: „Die Lampe, junger Herr — Sie woll’n sich wohl die Augen ganz -verderben.“ Und dann schlug wieder eine Tür heftig zu.</p> - -<p>‚Armer Harro! Lieber armer Junge! Auch dir muß ich weh tun, du dummer -lieber Junge —‘</p> - -<p>Während des ganzen Abends, die halbe Nacht über wurde sie den Gedanken -an ihn nicht los.</p> - -<p>Diese unruhigen Nächte!</p> - -<p>Da kamen die Gedanken, wanderten, erloschen und stiegen aufs neue -empor. Und die Sehnsucht kam, krallte sich ein, wurde zum zehrenden -Schmerz; wollte sich aufrichten, sich emporranken am Glückserinnern, -wurde herabgezerrt vom zagenden Zweifel. Wie zerborsten, zertrümmert -sah Helene bisweilen den stolzen, schönen Bau der Zukunft vor sich, -den sie so froh, so siegesgewiß aufgerichtet hatten. Hindernisse -auf Hindernisse, an die sie nie gedacht, türmten sich auf dem Wege, -sperrten jede Aussicht.</p> - -<p>Er schrieb so selten, so furchtbar selten für ihre Sehnsucht. Seine -Briefe waren so kurz und karg. Gierig suchte sie zwischen den Zeilen, -was nicht in ihnen stand.<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> Immer nur von <em class="gesperrt">seinen</em> Erfolgen, -Triumphen schrieb er, von <em class="gesperrt">seiner</em> Arbeit. Manchmal, wenn sie -solch ein Billett mutlos in den Schoß sinken ließ, kam ihr ein -häßlicher Gedanke: er <em class="gesperrt">spricht</em> eigentlich auch immer nur von -sich. Aber sie schüttelte solch Empfinden ab wie einen Schmutztropfen. -Sie schämte sich.</p> - -<p>Vor Jahren hatte sie in Rohlbeck einmal Goethes „Wahrheit und Dichtung“ -gelesen. Jetzt ging sie an Harros Bücherschrank, suchte sich den Band -heraus, ließ Frankfurts Straßen und Gassen wieder vor sich aufsteigen, -ging wie im Traum mit dem Geliebten zum alten Römer und in das Haus -am Großen Hirschgraben. Von dem schönen Gretchen las sie, von Goethes -Sekundanerliebe, und dachte an Harro. Dachte dann jäh auch: ‚die -schönen Frankfurterinnen!‘ Es war wie der Blitz einer Eifersucht. Er -traf und schmerzte. Aber gleich bat sie Alfred die Sünde ab — und -dann lachte sie leise vor sich hin. Wie man so töricht werden kann vor -Sehnsucht.</p> - -<p>Das Lachen erstarb, die Sehnsucht blieb.</p> - -<p>Tante Oschitz kümmerte sich nicht groß um Helene. Das hatte sie nach -einigen Anläufen aufgegeben. In ihr lag es nicht, um Seelen zu kämpfen. -Sie selber hatte sich durchringen müssen. Das mochten andere auch tun, -und es gelang jedem, so Gott es wollte.</p> - -<p>Helene war ihr auch wesensfremd. Sie hatte sie gern, aber nicht mehr; -es gab keine engeren Verbindungsglieder zwischen beiden, als die -Verwandtschaft schlug. Und wenn sie doch einmal, selten, eine Brücke -suchte, so schreckte ihre Herbheit Helene ab, vielleicht gerade weil -diese herbe Art sich meist so eigen mit sanften Worten gab.</p> - -<p>Trotz allem konnte Tante Marianne die Veränderung in Helenens Wesen -nicht entgehen.</p> - -<p>„Du siehst schlecht aus, Kind“, sagte sie eines Tages. „Ich glaube, du -kommst zu wenig an die Luft.“</p> - -<p>„Ich bin ganz wohl.“</p> - -<p>Sie saßen sich in der tiefen Fensternische, unten im Salon, gegenüber; -Tante Marianne mit einer ihrer Handarbeiten<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span> beschäftigt, die Harro -früher bisweilen respektlos genug mit Penelopes Geweben verglichen -hatte; Helene über ihrem Buch.</p> - -<p>„Man täuscht sich in der Jugend leicht über das eigene Befinden. -Wirklich: dein Aussehen straft deine Versicherung Lügen.“</p> - -<p>„Ich bin ganz wohl“, wiederholte Helene hartnäckig.</p> - -<p>Tante Oschitz sah schärfer zu und schüttelte den Kopf. „Ich will Harro -sagen, daß ihr morgen einen tüchtigen Spaziergang macht.“</p> - -<p>„Bitte — nein, Tante —“</p> - -<p>Es kam so heftig heraus, daß die alte Dame stutzig wurde. „Habt ihr -euch entzweit, du und Harro?“ fragte sie erstaunt. „Ihr wart doch so -gute Freunde.“</p> - -<p>„O ja ... o nein! Nur ... ich meine ... Harro hat so vieles andere vor -jetzt. Er braucht auf mich keine Rücksichten zu nehmen.“</p> - -<p>„Viel zu viel hat der Schlingel vor. Ich bin auch nicht blind.“ Tante -Marianne lächelte — für ihren Jungen hatte sie im letzten Grunde ihres -Herzens immer Entschuldigungen bereit. „Aber es bleibt dabei. Morgen -treibe ich euch beide aus dem Hause.“</p> - -<p>Es blieb wirklich dabei. Und es wurde ein qualvoller Spaziergang durch -den verschneiten Tiergarten. Sie rasten im schnellsten Tempo ihren -Gesundheitsmarsch ab. Immer dachte Helene: ‚das sind dieselben Wege, -dieselben Wege, die er und ich gingen.‘ Immer dachte sie dazwischen: -‚der arme Junge, der arme Junge!‘</p> - -<p>Die Querallee waren sie gegangen, zum Großen Stern, bogen nun wieder -in das Weggewirr ein, das zur Rousseau-Insel zurückführte. Ohne ein -Wort zu sprechen. Manchmal sah Helene scheu auf ihren Begleiter. Er -hatte die Hände tief in die Manteltaschen gesteckt, zur Faust geballt; -der schöngeformte Kopf war auf die Brust gesenkt; auf der Stirn -unter der Pelzmütze lagen dichte Falten; die Lippen hatte er fest -aufeinandergepreßt.</p> - -<p>Plötzlich, mitten in der Einsamkeit, blieb er stehen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span></p> - -<p>„Helene —“ sagte er jäh, und dann stockte er wieder. Ganz tief, ganz -alt hatte seine Stimme geklungen.</p> - -<p>Ein Beben überlief sie, eine unbestimmte Angst. Unwillkürlich war auch -sie stehengeblieben und wäre doch am liebsten geflohen.</p> - -<p>Mit einem Male riß er die Fäuste aus den Taschen, die Tränen stiegen -ihm in die Augen. Er faßte nach ihren Händen. Und nun hatte seine -Stimme wieder den rührenden Ton der Jugend: „Liebe Helene, kann ich dir -nicht helfen?“</p> - -<p>Sie empfand alles, was in seinem Herzen vorging. Durchlebte es mit ihm -in einem Augenblick: seine ehrliche Jungenliebe, — sein Sehnen — der -reine, schöne Wunsch, sich selber für sie zu opfern! Wußte, daß auch er -sich einen Altar aufgebaut hatte, auf dem er sein eigenes Herz für sie -in Rauch und Asche verbrennen wollte! Fühlte den heiligen Ernst, der in -ihm glühte!</p> - -<p>Die Angst glitt ab von ihr. Aber weinen hätte sie mögen. Ans Herz hätte -sie ihn nehmen mögen wie einen Bruder. Nein — mehr war er, als ihr je -ein Bruder gewesen war, je sein würde!</p> - -<p>Lügen konnte sie nicht in diesen Augenblicken. Nicht lügen ... schrie -es in ihr. Nicht einmal leugnen!</p> - -<p>Aber sie konnte auch nicht anders, als den Kopf schütteln. Ernst und -schwer und nun auch mit tränenden Augen.</p> - -<p>„Ich hab dich gestern singen hören“, sprach er weiter. Ganz langsam -kamen die Worte ihm von den Lippen. „Du sangst so wunderbar schön ... -das Beethovensche Lied ... das Harfnerlied. So wunderbar schön, aber es -war, als bräche dir das Herz darüber entzwei.“</p> - -<p>Sie neigte den Kopf. „Unsagbar wohl hat es mir doch getan“, sagte sie. -Es waren ihre ersten Worte. Und wie sie sich selber sprechen hörte, -kam ihr allmählich das Bewußtsein ihrer Überlegenheit wieder. Der -Überlegenheit, die ihr bei fast gleichen Jahren ihr Geschlecht gab und -ihr Erleben. Gerade nun empfand sie das: wie jung der liebe<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> Harro da -neben ihr war, und auch das andere: wie sie selber in diesen letzten -Monaten gereift war.</p> - -<p>Ihre Überlegenheit kam zurück, und damit ihre Sicherheit. Aber der -innige Wunsch blieb, dies junge Herz zu schonen, ihm gut zu tun, wie -sie nur konnte.</p> - -<p>Sie drückte ihm die Hände. „Ich danke dir, lieber Harro. Ich weiß, wie -gut du es meinst. Ich will dir immer eine treue Freundin bleiben.“</p> - -<p>Er zuckte zusammen. „Helfen möchte ich dir!“</p> - -<p>„Wir Menschen können einander wohl nur selten helfen.“</p> - -<p>„Du sagst, du wolltest meine Freundin sein. Dann mußt du auch Vertrauen -zu mir haben, Helene!“</p> - -<p>Da war schon wieder der Trotz in seiner Stimme, der rechte -Jungenstrotz. Und das tat ihr wohl.</p> - -<p>Sie antwortete nicht gleich, sie begann auszuschreiten.</p> - -<p>„Es gibt Dinge, Harro, die man auch dem besten, liebsten Freunde nicht -mitteilen darf. Stimmungen gibt es und Kämpfe, die man nur selber -durchringen und überwinden kann.“</p> - -<p>Er nickte, rasch hintereinander, ein paar Male, als ob er gleich -empfinde. Doch dann trotzte er wieder auf. „Das ist nicht die richtige -Freundschaft!“</p> - -<p>„Wir wollen’s der Zeit überlassen, Harro.“</p> - -<p>Sie gingen schneller, und er merkte wohl, daß sie ihm auswich. Jetzt -schwieg auch er. Biß wieder die Zähne aufeinander, stopfte beide Hände, -zur Faust geballt, trotzend in die Manteltaschen, ließ den Kopf tief -hängen, und unter der Pelzkappe zog sich das krause Faltengewirr über -die Stirn. Einmal kam etwas wie ein bitterer Lachton zwischen den -geschlossenen Lippen hervor.</p> - -<p>‚Nun ist er doch wieder ganz der törichte Junge‘, dachte sie. ‚Gottlob! -Töricht und dabei so lieb, so lieb!‘</p> - -<p>Und da waren sie auch schon dicht an der Tiergartenstraße. Durch die -Bäume schimmerte grau die einsame Insel mit dem roten Ziegeldach -darüber.</p> - -<p>‚Ein gutes Wort mußt du ihm doch noch sagen ...‘</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span></p> - -<p>Die Hand streckte sie ihm hin. „Schlag ein, Harro! Also auf gute -Freundschaft!“</p> - -<p>Er sah auf. Ganz dicht standen seine Brauen aneinander. Er zögerte, -rang mit sich. Die Fäuste kämpften in den Manteltaschen: sollen wir -oder sollen wir nicht? Die Oberzähne nagten an der Lippe.</p> - -<p>Plötzlich stieß er heraus: „Ja — du —!“ Machte kurz kehrte und rannte -in den Tiergarten zurück. — —</p> - -<p>Nun aber, nun war Alfred endlich in Berlin. Sie sah ihn wieder, hörte -seine Stimme, hielt seine Hand in der ihren, saß neben ihm in der -lieben, kleinen Konditorei auf dem alten Sofa und bat ihm im geheimen -all ihr Zagen und Sorgen, all ihren Kleinmut ab. Nicht im geheimen nur. -Ganz offen, ganz ehrlich: „Ich war so töricht, Fred ... ich habe mich -so geängstigt ... so hoffnungslos war ich. Ach, Fred, du darfst mich -nicht so lange allein lassen. Ich ertrage das nicht. Die Sehnsucht ist -zu groß.“</p> - -<p>„Ja, die Sehnsucht! Glaubst du denn, Helene, ich hätte nicht unter -der Sehnsucht gelitten?“ Er legte den Arm um sie, zog sie an sich. -„Aber ich weiß wohl, wir Männer kommen leichter darüber hinweg als -ihr Frauen. Schon durch den Beruf. Was war das wieder für eine -abscheuliche, anstrengende Sache, dieses ganze Gastspiel! Schon allein -die Fahrt bei dieser Kälte. Man ist in Deutschland doch noch um ein -Jahrzehnt zurück oder länger. Gerade daß immer alle fünf Stationen -eine Fußflasche mit heißem Wasser ins Coupé geschoben wird, während -es selbst in Rußland schon ordentlich geheizte Wagen gibt. Ridikül -ist’s. Und der ungemütliche Aufenthalt im Frankfurter Hotel, und diese -jammervollen Theaterverhältnisse in der lobesamen Freien Reichsstadt!“</p> - -<p>„Warst du am Großen Hirschgraben?“</p> - -<p>„Wo?“</p> - -<p>„Am Großen Hirschgraben ... wo der junge Goethe gewohnt hat.“</p> - -<p>Er lachte. „Ach, du liebe, liebe Närrin. Was ist mir der junge Goethe! -Hat der am Großen Hirschgraben gewohnt?<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span> Ich weiß nicht einmal, wo der -liegt. Aber den Tannhäuser hab ich gesungen: das war wenigstens ein -Erfolg, der wohltun konnte.“ Und er erzählte von der Aufführung — lang -und breit —</p> - -<p>Sie wußte selbst nicht, warum es ihr weh tat, daß er vom jungen Goethe -nichts wußte, nichts wissen wollte. Es war ja auch ungerecht, daß -sie’s mit einer leisen Bitterkeit empfand, sie gestand es sich ein. -Und ungerechter noch, daß sie nicht mit der gewohnten Aufmerksamkeit -zuhören konnte. Aber sie mußte sich geradezu anstrengen, ihm zu folgen.</p> - -<p>Nicht einmal fragte er: wie ist es dir denn ergangen in diesen langen, -langen Tagen? Freilich, ein Mann hatte eben seinen Beruf, und es war -wohl in der Ordnung, daß er ganz in ihm aufging. Aber weh tat es doch. -Nun — auch sie würde ja einmal ihren Beruf haben. —</p> - -<p>Und wonnig, beseligend war es doch schon, ihn wieder zu haben. Seine -Nähe zu fühlen, seine Hand zu halten. Was wollte sie denn mehr: er -liebte sie — er liebte sie! Er sah ihr in die Augen, tief, tief, er -suchte ihre Lippen —</p> - -<p>Was wollte sie mehr? Was wollte sie mehr! Nichts — nichts — nichts!</p> - -<p>Dann zog er ihr kleines Weihnachtsgeschenk heraus: „Das ist mein treuer -Begleiter gewesen“, sagte er.</p> - -<p>Nun hatte sie ihm längst die Kunst abgelernt, zwischen spitzen Fingern -eine Zigarette zu drehen. Er lachte jedesmal, wenn sie ihm die -hinhielt, daß er sie anfeuchte. „Nein, daß mußt du tun — schmeckt -besser so!“ Und sie lachte wieder, ließ die Zunge vorsichtig über den -Papierrand gehen. „Jetzt rauche auch du ein paar Züge!“ Das konnte sie -nicht, das lernte sie nicht. Versuchte es, ihm zuliebe, und erstickte -fast. „Kleine Deutsche — du!“ spöttelte er. „Da waren meine russischen -Freundinnen erfahrener.“ Sie zog ein Gesichtchen. „Aber Lene! <span class="antiqua">Tempi -passati!</span> Du bist doch nicht eifersüchtig?“ — „Rasend eifersüchtig -könnte ich sein.“ — „Ach geh! Das ist ja immer eine Dummheit.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span></p> - -<p>Ein paar Augenblicke sah sie wortlos vor sich hin. Dann schlang sie jäh -die Arme um seinen Hals und küßte, küßte ihn.</p> - -<p>Fast täglich sahen sie sich nun. Aber meist nur wie im Fluge, auf -karge Minuten. Seine Zeit war sehr knapp, er studierte ein paar neue -Rollen, hatte mancherlei gesellige Verpflichtungen. Auch ging er nicht -mehr so gern wie ehedem in die kleine Konditorei; er behauptete, das -gute Kuchenfräulein fiele ihm auf die Nerven und der süße Dunst in -dem winzigen Lokal wäre schier unerträglich jetzt im Winter, wo nie -gelüftet würde.</p> - -<p>„Warum kommst du nicht endlich einmal zu mir? Ich habe dich so oft -gebeten. Nachgerade — weißt du, Helene — empfinde ich es fast wie -einen Mangel an Vertrauen.“</p> - -<p>Ein paar Male sagte er das. Aber sie antwortete nie. Immer straffte -sich dann ihr Nacken, und sie bog den Kopf zurück mit dem ablehnenden, -abwehrenden, eigensinnigen Ausdruck, den er schon kannte.</p> - -<p>Einmal hatten sie sich im Vorzimmer von Frau Harriers-Wippern -verabredet. Er mußte ein wenig warten, die Unterrichtsstunde schien -sich auszudehnen. Als Helene herauskam, sah er, daß sie geweint hatte. -„Nun?“ fragte er. „Was hast du denn?“</p> - -<p>Erst wollte sie nicht recht mit der Sprache heraus. Endlich gestand -sie, daß Frau Harriers mit ihr nicht mehr so zufrieden wäre wie früher, -ihr leise Vorwürfe gemacht hätte: sie sei nicht aufmerksam genug, übe -auch wohl nicht mehr so fleißig wie ehedem. Es schien Helene sehr -nahegegangen zu sein.</p> - -<p>„Ach — bah!“ machte er. „Jeder Lehrer muß gelegentlich tadeln. Aber -wenn sie schon recht hat: warum hat denn dein Eifer nachgelassen?“</p> - -<p>Sie sah ihn an: mußte er sich denn nicht selber sagen, woran das lag? -Daß sie nur an ihn, nur an ihn denken konnte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p> - -<p>Eine Antwort wartete er nicht ab. „Übrigens, Helene, hab ich dir längst -gesagt, daß die gute Harriers nicht mehr die rechte Lehrerin für -dich ist.“ Er wurde eifriger. „Ich will dir einen Vorschlag machen: -entschließe dich kurz und schnell und fahre zur Viardot!“</p> - -<p>„Aber du weißt doch, daß das nicht geht.“</p> - -<p>„Nicht geht? Warum denn nicht? Um des elenden Mammons willen? Ich hab -genug verdient in den letzten Jahren. Ein Wort von dir, und wir sitzen -morgen früh in der Bahn — wir beide, ganz allein, Helene —“</p> - -<p>Sie waren aus dem Hause getreten, gingen langsam die Viktoriastraße -hinunter, dem Tiergarten zu.</p> - -<p>„Sei nicht so klein, Helene! Du bist doch Künstlerin. Du willst eines -Künstlers Frau werden. Wir haben das Recht, freier, größer zu denken -als andere Menschen. Wirf endlich einmal dein Philistertum hinter dich. -Helene, Geliebte — wir beide, allein —“</p> - -<p>Wieder straffte sich ihr Nacken. Aber dann ließ sie den Kopf sinken. -Glühend heiß stieg es in ihr empor.</p> - -<p>Sein leises Raunen klang so einschmeichelnd in ihr Ohr. „Wenn du mich -wirklich lieb hast, Helene, wirst du ja sagen. Liebe muß Vertrauen -haben, Liebe soll doch auch Opfer bringen können. Opfer? Ich will ja -gar kein Opfer. Laß dir sagen, Helene: wir fahren nicht gleich nach -Baden-Baden. Wir fahren erst nach Helgoland. Nach dem freien Stück -englischen Bodens. In drei Tagen sind wir Mann und Frau. Helene, -Geliebte, so kann es nicht weitergehen.“</p> - -<p>Ihre Hände krampften sich in der kleinen Muff zusammen. ‚Mann und -Frau!‘ dachte sie. ‚Großer guter Gott, wäre denn das möglich?‘ Ein -unsagbares Glücksempfinden war in ihr und eine herzbeklemmende Angst. -‚Lieber Gott, hab Erbarmen —‘</p> - -<p>Da sah sie drüben, auf der anderen Seite der Straße, Harro gehen. Er -kam aus der Schule, hatte die schwarze Mappe mit seinen Büchern unter -dem Arm, ging hart an den Vorgärten entlang und spähte mit finsterer -Miene zu<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> ihnen herüber. Sie sah es deutlich: seinen trotzigen Mund und -das Faltengewirr auf der Stirn.</p> - -<p>Mit einem Male rief sie laut: „Harro! Harro!“</p> - -<p>Es war der Entschluß eines Augenblicks. Ein Entschluß, der über sie -gekommen war, sie wußte selbst nicht wie. Ein Hilfeschrei vor sich -selber vielleicht. Stehen blieb sie, als ob plötzlich Bleilasten an -ihren Füßen hingen. Und kaum hatte sie gerufen, so brach es wie ein -herzzerreißender Jammer über sie herein: ‚Du hast ja Alfred tödlich -beleidigt. Das wird er dir nie verzeihen.‘</p> - -<p>Der Vetter kam mit hastigen Schritten quer über die Straße.</p> - -<p>Aber nun sah sie nicht mehr hin, nun sah sie nur Alfred. Sah erst -das Schürzen seiner Lippen, dann das Auffunkeln in seinen Augen. -Niederknien hätte sie mögen vor ihm: ‚Vergib mir, vergib! Bis ans Ende -der Welt gehe ich mit dir ... allein mit dir ...‘</p> - -<p>Plötzlich dachte sie: ‚jetzt schlägt er dich, schlägt dich nieder. Und -auch das wäre Seligkeit ...‘</p> - -<p>Und dann sah sie plötzlich, wie er sein Gesicht zwang. Ganz ruhig, ein -wenig spöttisch sagte er: „Das ist ja wohl Ihr Herr Vetter, gnädiges -Fräulein? Guten Tag, Herr von Oschitz.“</p> - -<p>Weiter gingen sie, nun zu dritt. Nein, sie ging nicht, sie schleppte -sich vorwärts. Ketten hingen ihr an den Gliedern, Ketten umschnürten -ihre Seele. Kaum zu atmen vermochte sie.</p> - -<p>Harro sprach kein Wort. Er hatte flüchtig seine Pelzkappe berührt, dann -wieder beide Hände in die Manteltaschen gesteckt, ganz tief und zu -Fäusten geballt. Rechts schritt er neben Helene her, den Kopf im Nacken.</p> - -<p>Aber Alfred sprach. Völlig beherrscht, angeregt sogar, heiter, etwas -überlegen. Daß es doch ein glücklicher Zufall gewesen wäre, wie man -sich bei der Harriers getroffen; vom Winterwetter und der Eisbahn; von -seiner Schulbankzeit und wie erleichtert er aufgeatmet hätte, als er -den Ranzen hinter sich geworfen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span></p> - -<p>Bis zur einsamen Insel ging er mit. „Hat mich sehr gefreut, Herr von -Oschitz. Bitte, legen Sie mich der Frau Mama zu Füßen. — Addio, -gnädiges Fräulein ...“ Und dann noch, ganz flüchtig scheinbar, nur ihr -verständlich: „Ja so ... wir wurden vorher unterbrochen ... vielleicht -überlegen Sie sich doch meinen Vorschlag. Die Viardot ist nun einmal -die erste Lehrerin Europas. <span class="antiqua">Au revoir!</span>“</p> - -<p>Die eiserne Gartentür flog lautschallend ins Schloß, von Harro -geschleudert.</p> - -<p>Nun noch der kleine Weg durch den Vorgarten.</p> - -<p>Da tat Harro endlich den Mund auf, fragte: „Warum hast du mich gerufen?“</p> - -<p>Sie hatte die Frage erwartet und erschrak doch vor ihr. Hatte sich die -Antwort zurechtgelegt und brachte sie doch nur mühsam heraus: „Ich ... -sah dich dort ... drüben ...“</p> - -<p>„So? So! Es war also nur eine Begrüßung, quer über die Straße. Es klang -auch ganz so ... so wie eine Begrüßung.“</p> - -<p>Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie war so matt, so zerschlagen, -so widerstandslos.</p> - -<p>„Quäl’ mich nicht, Harro!“ bat sie.</p> - -<p>Er war stehengeblieben, sah zu Boden, sah dann wieder sie an. Der Trotz -wich aus seinem Gesicht, aber die Bitterkeit blieb in seiner Stimme: -„Nein, ich will dich nicht quälen. Ich hab dich zu lieb dazu. Ich seh -ja auch, dich ... dich quält anderes genug.“</p> - -<p>„Es wird schon wieder besser werden. Es ist nur, weißt du — du hast -doch gewiß auch oft Verdruß in den Stunden.“</p> - -<p>Sie war eine so schlechte Lügnerin, schämte sich so, daß sie gerade vor -Harro lügen mußte. Das Blut schoß ihr ins Gesicht.</p> - -<p>„In den Stunden also —“</p> - -<p>„Quäl’ mich nicht, Harro!“</p> - -<p>Da ging er weiter. Die Haustür glitt ins Schloß, ganz sanft drückte -Harro sie zu. Schweigend schritten sie nebeneinander die breiten -Eichenstufen hinan. Erst vor ihrer<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> Tür, oben im halbdunklen Korridor, -blieb er noch einmal stehen. Tief schöpfte er Atem, es war, als ringe -er mit sich. Dann sprach er dringend, heiß: „Du hast neulich nichts von -mir wissen wollen, Helene. Aber ich muß es dir doch noch einmal sagen, -wie gern ich dir helfen möchte. Wenn ... wenn er nur deiner wert ist ...“</p> - -<p>Ganz leise hatte er das letzte geflüstert in seiner verhaltenen dunklen -Jungensstimme. Verschämt fast und doch so innig. Sie hörte es mit -geschlossenen Augen, gegen die Wand gelehnt.</p> - -<p>Als sie die Augen öffnete, war Harro fort. Und sie ging in ihr Zimmer -und weinte sich aus.</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p>Am Nachmittag kam Bruder Wilhelm. Helene wurde heruntergerufen, ließ -aber um Entschuldigung bitten: sie hätte schreckliche Kopfschmerzen. -Die Wahrheit war’s und doch nicht die ganze Wahrheit, sondern eine -Ausrede. Nur niemand sehen, niemand hören wollte sie.</p> - -<p>Da kam aber Wilhelm selbst heraufgepoltert, sah in das dunkle Zimmer, -holte vom Korridor die Lampe: „Aber Lene, was machst du? Tante Marianne -klagte auch, du sähst miserabel aus. Laß doch mal zusehen. Wo fehlt’s -denn?“</p> - -<p>Die Augen taten ihr weh in dem plötzlichen grellen Licht. Sie hielt die -Hand vor, auch deshalb: wozu brauchte er die Tränenspuren zu sehen! -Ein Lächeln zwang sie heraus, indem sie ihm die Hand gab: „Kopfweh, -Wilhelm, weiter nichts. Morgen ist alles wieder gut.“</p> - -<p>Der große Optimist war leicht beruhigt, schob die Lampe beiseite, -setzte sich: „Na ja, so leicht sind wir Hackentiner nicht -unterzukriegen. Ja ... und ich möcht dir doch noch Prost Neujahr sagen. -Eine ganze Hucke Grüße und Wünsche bring ich dir aus unserm lieben -alten Rohlbeck mit.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span></p> - -<p>„Ach ... Rohlbeck ... ja, unser altes liebes Rohlbeck ...“ Wie sie das -sagte, hatte sie eine ganz unbestimmte Empfindung: dies Rohlbeck mußte -weit, weit abliegen. Unermeßlich weit.</p> - -<p>Wilhelm machte sich’s behaglich und begann zu erzählen. Natürlich -zuerst von Martha und seinen Schlingels; mit dem üblichen kleinen -Seufzer: ja, wer es so gut hätte und immer bei ihnen sein könnte. Von -Vater und Mutter dann und von ganz Rohlbeck, mit dem alten Heckstein -an der Spitze, der am ersten Feiertag prächtig gepredigt, aber am -zweiten dafür wieder mal einen uralten Bock abgeschlachtet hätte — -„na, freilich hatten wir am Abend bis Glock eins Whist gedroschen.“ Vom -Weihnachtsfest erzählte Wilhelm: wie sie alle in der großen Stube um -den Christbaum gestanden hätten. Vater hätte gemeint: „Sehr schön, sehr -schön, das heißt, schöner wär’s, wenn die Lene hier wäre“, und Mutter -hatte etwas wie Tränen in der Stimme gehabt. Mutter wurde recht alt.</p> - -<p>Anfangs hörte Helene nur mit halbem Ohr zu. Aber allmählich, mehr und -mehr, gewannen die lieben Gestalten, von denen Wilhelm sprach, doch -Leben vor ihrer Seele. Gerade, weil die so matt und flügellahm war. Ihr -war’s, als wehte der Duft der großen Kiefer, um die sie alle gestanden, -noch heut zu ihr; der großen Kiefer, die Vater in jedem Jahr mit dem -Großknecht selber im Walde aussuchen ging. Etwas wie leises, leises -Heimweh überkam sie; jetzt, plötzlich, nachdem sie so lange fast gar -nicht an die Heimat gedacht hatte.</p> - -<p>Ganz anders klang es wie vorhin, als sie nun noch einmal sagte: „Ja ... -ja, unser liebes altes Rohlbeck!“</p> - -<p>Sie schwiegen ein Weilchen. Dann fragte er, wie sie über das Fest -fortgekommen wäre. „Pläsierlich wird’s ja nicht gewesen sein, taxier -ich. So mit Tante Oschitz ... ich kenn das. Du hättest doch lieber -mitkommen sollen, Lene. Na, übrigens, Vater wird ja jedenfalls zum 3. -Februar herkommen.“</p> - -<p>„Vater — herkommen?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p> - -<p>„Ihr lebt aber hier, scheint’s, wirklich auf der berühmten einsamen -Insel. Lest ihr denn keine Zeitungen? Zum großen Veteranenfest! -Kinder, seid ihr komisch. Zur Enthüllung des Denkmals des -hochseligen Königs sollen doch möglichst all die alten Krieger von -Achtzehnhundertdreizehn, aus den Freiheitskriegen, nach Berlin kommen. -Hast du denn nicht einmal vom König gelesen, wie er das Programm -abgeändert hat? Da hatten die Hofschranzen fein säuberlich geschrieben: -‚Alle Krüppel werden dem Veteranenzuge in Wagen aus dem königlichen -Marstall folgen.‘ Dick streicht’s unser allergnädigster Herr aus und -schreibt eigenhändig dafür hin: ‚Diejenigen, welche infolge ihrer bei -der Landesverteidigung erhaltenen ehrenvollen Wunden gelähmt sind ...‘ -und so weiter. Fein, nicht wahr? Und schön! Ja, also, ich denk’, Vater -wird bestimmt kommen.“</p> - -<p>Helene schwieg. In ihr arbeitete es: Vater würde kommen, und Vaters -Jägeraugen waren scharf. Er las gewiß in ihrem Gesicht, was sie -erlebt. Und wenn er dann fragte! War’s doch überhaupt wie ein Wunder, -daß bisher alle blind gewesen waren — bis auf das eine Paar heller -Jungensaugen! Wenn Vater kam und sie ansah und fragte — — —</p> - -<p>„Gerade redselig bist du nicht, Lene.“</p> - -<p>„Wilhelm, mein armer Kopf.“</p> - -<p>„Ja so ...“ und er erzählte weiter. Von den Rackowern, die diesmal -den Winter daheim bleiben wollten. Sie müßten sparen, hatte der dicke -Ernst gesagt. „Na, Lene, die Rackowschen und sparen! Schaden könnt’s -ja nicht, denn man munkelt, Ernst sitze bei Ephraim Hirsch feste in -der Kreide. Aber die und sparen. Tante Marie hat zu Weihnachten einen -Kaschmirschal geschenkt bekommen, der seine tausend Taler unter Brüdern -kostet.“ Übrigens hätten sie sehr nach Helene gefragt.</p> - -<p>„Wann bist du denn zurückgekommen?“ Sie sagte es eigentlich nur, um -etwas zu sagen.</p> - -<p>„Gestern nachmittag. Ich wär schon gestern zu dir gekommen, aber meine -englischen Freunde hatten mich auf<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> acht Uhr zu Ewest eingeladen. Da -traf ich übrigens auch den Russen, wie du ihn ja wohl immer nanntest, -Herrn Schwarz. In einer höchst fidelen Gesellschaft.“</p> - -<p>Ganz weit lehnte sie sich zurück und deckte die Hand noch fester über -die Augen.</p> - -<p>„Theatervölkchen, weißt du. Wir haben noch ein paar Flaschen Cliquot -zusammen getrunken. Meinen Engländern machte das einen Heidenspaß. Der -eine, Mister Forster, hätte am liebsten angebändelt. Es war da eine -bildschöne Person darunter, aus Frankfurt, die gefiel dem edlen Briten -über die Maßen — doch die war in festen Händen. Aber was red’ ich da -... das ist ja nichts für Mädchenohren.“</p> - -<p>Er schämte sich ein wenig und lachte verlegen. Sah nicht, wie die -Schwester ganz hintenübersank, wie sie sich dann wieder aufrichtete, -starr und steif. Hörte nicht, wie ihre Brust sich hob, ihr Atem -schneller ging und immer schneller.</p> - -<p>Er sah und hörte nichts. Er sprach schon wieder von Rohlbeck. Es ging -so doch nicht mehr lange mit dem ewigen Hin- und Herkutschieren. Wenn -endlich die Konzession für die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen -hinaus wäre — und er hätte sie sicher in der Tasche, und das gäbe -einen ordentlichen Batzen Geld —, dann müßten sie ganz nach Berlin -ziehen. Schon der Jungens wegen, damit die in eine ordentliche Schule -kämen.</p> - -<p>„Na, Lene, und nun Gott befohlen. Soll ich die Lampe mit herausnehmen? -Bist wohl lieber im Dunkeln? Ja, solche verdeubelten Kopfschmerzen. -Kenn’ ich, hab ich auch manchmal; wenn auch von anderer Art. Adieu, -Lene, gib mir die Hand. Donnerwetter, was hast du für eiskalte Hände. -Soll ich dir ’n Doktor schicken? Gute Besserung liebe Lene —“</p> - -<p>Nun war er endlich gegangen.</p> - -<p>Helene hatte ihr Taschentuch herausgezerrt und biß auf das Leinen. -Sonst hätte sie aufschreien müssen. Aufschreien, daß es durch das ganze -Haus gellte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span></p> - -<p>Ihm nachschreien: das ist gelogen! Wie kannst du es wagen, vor meinen -Ohren Alfred so zu verleumden! Weißt du denn nicht, daß er mich liebt? -Mich — nur mich!</p> - -<p>Gelogen! Gelogen! Gelogen!</p> - -<p>Immer wieder sprach sie es in Gedanken vor sich hin. Es tat ihr -körperlich weh, es war, als ob das Wort jedesmal einer spitzen Nadel -gleich ihr ins Gehirn stoße. Aber sie wiederholte, wiederholte: gelogen -— gelogen — gelogen —</p> - -<p>Eine Stunde wohl saß sie so, ohne sich zu rühren. Ohne einen einzigen -anderen Gedanken fassen zu können. Nur, daß ihr wohl ein Wort durch -den Sinn schoß, das er neulich gesprochen hatte, lachend: „Du bist -doch nicht eifersüchtig?“ Aber es war nur wie eine unklare Erinnerung. -Eifersüchtig?! Wie sollte sie eifersüchtig sein? Es war doch alles -gelogen — gelogen — gelogen —</p> - -<p>Einmal steckte Tante Oschitz den Kopf durch die Türspalt: „Immer noch -Kopfschmerzen? Armes Kind! Mach dir doch einen ordentlichen Umschlag -von Eau de Cologne.“</p> - -<p>„Ja, liebe Tante.“</p> - -<p>„Ich muß zu Madame Sandern. Willst du das Abendbrot auf dein Zimmer?“</p> - -<p>„Wie du befiehlst, liebe Tante.“</p> - -<p>O Gott, daß auch diese sanfte Stimme schmerzen konnte.</p> - -<p>„Soll dir das Mädchen die Lampe bringen?“</p> - -<p>„Bitte nein, liebe Tante.“</p> - -<p>„Recht gute Besserung, Kind. Ich stelle dir unten das Akonit hin. Zehn -Tropfen, hörst du.“</p> - -<p>„Ja, liebe Tante.“</p> - -<p>Langsam schloß sich die Tür wieder. Tante Marianne hatte so -geräuschlose Sohlen. Aber heut hörte Helene jeden, jeden ihrer Schritte -auf der Treppe, bis zur letzten Stufe, und jeder dieser sanften -schleifenden Tritte schmerzte.</p> - -<p>Wieder saß sie im tiefen Dunkel. Saß regungslos. Und dachte immer -wieder: gelogen — gelogen — gelogen —</p> - -<p>Und dachte nun doch zurück an den heutigen Vormittag.<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> Gerade weil -sie ja wußte, was der Bruder da leichthin geredet hatte, war gelogen. -Selbstverständlich gelogen. Alfred, der ihr heute — heute — ins Ohr -geflüstert hatte: „Mann und Frau“ ... „wir allein, ganz allein“: Alfred -sollte gestern abend ...</p> - -<p>... sollte überhaupt! Ach, diese schlechten, schlechten Menschen!</p> - -<p>Lachen müßte man — wenn man nur könnte —</p> - -<p>Aber sie selber: sie selber war auch schlecht gewesen. Denn schlecht -war es, daß sie kein volles Vertrauen zu ihm fassen konnte. Wie kam -das überhaupt? Wenn man jemand liebt, muß man volles Vertrauen haben. -Unbedingtes, grenzenloses Vertrauen. Muß Opfer bringen können. Ja, -hätte sie denn nicht für ihn sterben mögen ... sterben mit tausend -Freuden!</p> - -<p>Sie aber ... sie hatte nach Harro gerufen. Wie um Hilfe. Nach dem -dummen Jungen, der seines Weges kam, schlendernd, mit der Mappe -unter dem Arm. Die Fäuste in den Manteltaschen. In den Augen dieses -argwöhnische Überwachen. Was fiel dem Jungen ein!</p> - -<p>Mit Verachtung hätte Alfred sie strafen müssen. Aber er war der -Großmütigere gewesen, der Überlegene, der Verzeihende.</p> - -<p>Und immer — immer war sie klein gewesen, klein und kleinlich ...</p> - -<p>Und nun gar eifersüchtig. Nein, nein! Das nicht! Es war ja alles -erlogen — erlogen — erlogen —</p> - -<p>Wieder saß sie eine Weile ganz still, regungslos.</p> - -<p>Dann sprang sie plötzlich jäh auf. Sie tastete im Dunkeln nach ihrem -Schrank, riß ihren Mantel heraus und den Pelzhut. Alles im Dunkeln, -ohne zu wählen; warf den Mantel um. Mit hastenden, unsicheren Händen. -Der Hut wollte und wollte nicht sitzen. Ihr Haar hatte sich wohl -gelockert. Sie griff hinein, preßte es gewaltsam unter die Hutform, -schürzte die Bänder unter dem Kinn.</p> - -<p>Aber als sie die Türklinke in der Hand hatte, wandte sie sich noch -einmal um. Nun brauchte sie doch Licht. Strich<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> das Schwefelholz an, -entzündete die Kerze, kniete vor der Kommode nieder. Da lag, ganz unten -versteckt, die Brosche mit den Topasen. Die mußte sie doch anstecken — -heute.</p> - -<p>Das ging nur vor dem Spiegel. ‚Mein Gott, wie siehst du aus!‘ dachte -sie erschrocken. Auf einen Augenblick kam ihr die Besinnung zurück. -Soweit wenigstens, daß sie sich das Haar glatt strich. ‚Nein, häßlich -darf er dich nicht finden.‘ So weit wenigstens, daß sie die Knöpfe des -Mantels richtig schloß, den Hut gerade rückte.</p> - -<p>Die Topasen schimmerten und glänzten, wie sie so bei dem matten Schein -der Kerze die Brosche vor sich hin hielt. Ein leises Lächeln huschte -über ihr Gesicht. Darüber wird er sich gewiß freuen, daß du die -angesteckt hast. Heute —</p> - -<p>Nun war sie fertig, war ruhig. Wirklich, glaubte sie, ‚ich bin nun ganz -ruhig‘. Es war ja nur der Entschluß, der so schwer war.</p> - -<p>Sie löschte die Kerze. Sie huschte die Treppe herunter und über den -Flur. Leise, vorsichtig, öffnete sie die Haustür. An Harros scharfe -Ohren dachte sie dabei. Leise, vorsichtig drückte sie die Tür wieder -zu. Es war doch ein Glücksfall, daß Tante Oschitz gerade heut abend aus -war. Bei der alten Madame Sandern. Da saßen sie jetzt und strickten -Missionsstrümpfe. Komisch eigentlich: um die Neger da hinten, da unten -in Afrika sorgte sich Tante Oschitz.</p> - -<p>Draußen war es schneidend kalt. Aber die Kälte tat Helene wohl. Sie -atmete tief auf. Der Kopfschmerz war verschwunden. Wie fortgezaubert. -Durch die Kälte vielleicht, durch den Entschluß vielleicht. Durch einen -großen, guten Entschluß! Der das Herz so leicht macht und so froh.</p> - -<p>Schnellen Schrittes ging sie die Tiergartenstraße entlang, dann durch -die Lennéstraße. Es war sehr leer auf den Straßen bei der starken -Kälte. Im Rauhreif standen links die Bäume des Tiergartens, winkten -rechts die des Radziwillparks über die alte Stadtmauer. Sogar auf dem -Pariser Platz war es still. Der Posten an der Brandenburger<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> Torwache -lief in schwerem Mantel hinter dem Gitter herum, um sich warm zu -halten. ‚Das ist der Weg, den wir am ersten Tage in Berlin gegangen -sind‘, dachte Helene. ‚Und nun gehe ich zu ihm — zu ihm!‘</p> - -<p>Das kurze Stück Unter den Linden, die Wilhelmstraße. ‚Ja, zu ihm! -Was er wohl für Augen machen wird? ‚Du, Helene?!‘ Ans Herz wird er -mich nehmen, und ich will ihm abbitten, alle meine Zweifel, all meine -häßlichen kleinen, kleinlichen Gedanken.‘</p> - -<p>Jetzt kam die lange Behrenstraße. Ganz am Ende wohnte er, fast -gegenüber dem Opernhause. Oft genug war sie ja vorübergegangen, hatte -zu seinen Fenstern emporgesehen mit pochendem, sehnsüchtigem Herzen.</p> - -<p>Plötzlich kam ihr der Gedanke: wenn er nun nicht zu Hause ist? Aber das -war ja unmöglich. Er <em class="gesperrt">mußte</em> zu Hause sein, heute: das wollte das -Schicksal.</p> - -<p>Sie war sehr schnell gegangen, zuletzt fast gelaufen.</p> - -<p>Nun, plötzlich, als sie auf der anderen Straßenseite die erleuchteten -Fenster des Ewestschen Restaurants sah, stockte ihr der Atem. Dort -also hatte er gesessen, in lustiger Gesellschaft, gestern abend — -in solcher Gesellschaft. Was hatte Wilhelm erzählt? Doch das war ja -gelogen — gelogen — gelogen —</p> - -<p>Sie wiederholte es sich immer wieder, immer eindringlicher. Aber das -würgende Gefühl in der Brust wurde sie nicht los, die atembeklemmende -Enge. Mühsam nur kam sie vorwärts, und jetzt erst fühlte sie die -schneidende Kälte, den scharfen Wind, der die Straße entlang jagte, ihr -gerade ins Gesicht. Sie schauerte zusammen. An der Rückfront des Palais -mußte sie einen Augenblick stehen bleiben. Und da schoß ihr plötzlich -der Gedanke durch den Sinn: ‚Hier wohnt der alte König, und Vater kommt -als sein Gast. Vater!‘</p> - -<p>‚Vater —‘</p> - -<p>‚Was Vater wohl dazu sagen würde, wenn er dich hier fände, auf diesem -Wege?!‘</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span></p> - -<p>Sooft hatte er ihr den Nacken gesteift, hatte sie den Kopf zurückwerfen -lassen, der Hackentinsche Stolz. Halb unbewußt beides: Familienstolz -und Mädchenstolz. Heut hatte sie das beides weit hinter sich geworfen. -Aber nun war’s doch, als hörte sie Vaters Stimme: „Mädel, wo hast du -deinen Stolz?“</p> - -<p>Sie biß die Zähne aufeinander, stand noch einen Moment mit -geschlossenen Augen. ‚Mein Stolz? Ja, mein Stolz! Was ist mein Stolz -gegen meine Liebe!‘ Und weiter ging sie, an den kümmerlichen Büschen -des Opernplatzes entlang, jetzt schon seine Fenster suchend.</p> - -<p>Die Fenster waren dunkel. Er war nicht daheim.</p> - -<p>Aber er mußte ja zu Hause sein. Er hatte gewiß auch ein Zimmer nach dem -Hofe hinaus.</p> - -<p>Wieder stand sie ein paar Minuten, nach den Fenstern dort drüben -hinüberspähend, als ob im nächsten Augenblick hinter den Rouleaus ein -Lichtschein aufflammen müßte.</p> - -<p>Dann wollte sie über die Straße. Sie mußte ja doch über die Straße. In -dies Haus drüben, die zwei Treppen hinauf. Sie <em class="gesperrt">mußte</em> ja doch ...</p> - -<p>Aber es war wie eine Lähmung in ihr. Die Füße wollten sie nicht -hinübertragen. Der Mädchenstolz, der Hackentinsche Stolz war mit einem -Male wieder da: Helene Hackentin geht in später Abendstunde zu ihrem -Geliebten!</p> - -<p>Als ob ihr das jemand ins Ohr raunte. Wie häßlich das war, wie gemein -das klang!</p> - -<p>Dabei wiederholte sie schwer, langsam die Worte. Triumphierend wollte -sie es sich selber zurufen: ‚Ja doch! Ja doch! Gerade das: zu ihrem -Geliebten!‘ Aber es ging nicht, der häßliche Klang blieb und blieb.</p> - -<p>Einmal sah sie sich wirr um. War es denn überhaupt schon so spät? Sie -hatte keine Uhr befragt. Die Straße, der Platz waren menschenleer; -doch die Häuser waren noch nicht geschlossen; das Opernhaus war noch -erleuchtet. Aber das tat ja alles gar nichts, bedeutete ja gar nichts. -Und wenn es zur Mitternachtsstunde gewesen wäre —</p> - -<p>Ganz menschenleer war die Straße.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span></p> - -<p>Plötzlich hörte sie Stimmen. Und sie sah drüben, dicht an den Häusern -entlang, ein Paar gehen. Einen Mann und eine Frau, Arm in Arm —</p> - -<p>... Alfred ...</p> - -<p>Starr aufgerichtet stand sie, starr, wie versteint. Ihre Augen spähten -durch die Dunkelheit. Nun traten die beiden in den kümmerlichen -Lichtkreis der nächsten Laterne. Nun klangen noch einmal ihre Stimmen -herüber, ein Scherzwort, ein kurzes Auflachen. Jetzt waren sie drüben -am Hause, stiegen die paar Stufen zur Tür hinauf. Die Tür knarrte, ging -auf, schloß sich wieder hinter den beiden.</p> - -<p>Starr aufgerichtet stand Helene, starr, wie versteint. Den Kopf weit -vorgestreckt, die Augen auf die Tür gerichtet, hinter der die beiden -verschwunden waren: Alfred ... und die Frau! Jetzt hatten sie wohl die -zweite Treppe erreicht, jetzt standen sie vor seiner Wohnung, jetzt zog -er den Schlüssel aus der Tasche.</p> - -<p>Mit einem Male flammte es hinter den Rouleaus auf. In einem dämmrigen -Schein, wie wenn jemand ein Schwefelholz entzündet. Ein leuchtender -Punkt zuerst, dann das ganze Fenster füllend, daß ein breiter -Lichtstreif durch die blaue Stoffgardine auf die Straße hinaus fiel. -Und hinter dem blauen Vorhang silhouettenhaft, scharf umrissen, zwei -Gestalten —</p> - -<p>Noch immer stand Helene starr aufgerichtet, wie zu Stein erstarrt, mit -weit vorgestrecktem Kopf, die schmerzenden Augen nach drüben gerichtet, -die Hände gegen die keuchende Brust gepreßt. Noch immer konnte sie das -Unfaßbare nicht begreifen. Aber es bohrte sich ihr wie mit tausend -spitzen Nadeln ins Hirn, es schnürte ihr den Atem ein, es legte sich -mit Zentnerlasten auf sie: das Unfaßbare, das Unbegreifbare, das -Fürchterliche ... die Erkenntnis!</p> - -<p>Dann kam endlich ein einzelner Ton des Jammers aus ihrer Brust, ein -einziger Wehlaut nur. Die Starrheit wich. Sie schlug die Hände vor das -Gesicht. Und dann rannte sie quer durch die kümmerlichen Büsche des -öden Platzes,<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> als ob sie dem Entsetzen entfliehen wollte, das noch mit -ihr ging und das sie nie, nie verlassen konnte.</p> - -<p>Sie jagte über den Platz, als ob sie gehetzt würde, als ob der Schimpf -und die Schande hinter ihr drein wären.</p> - -<p>Mit einem Male aber waren ihre Kräfte am Ende. Auf die ungeheure -seelische Anspannung folgte jäh der Rückschlag. Sie taumelte, raffte -sich noch einmal auf. Stand, sah sich wirr um, tat noch ein paar -mühsame Schritte vorwärts —</p> - -<p>Da fühlte sie eine sanfte, starke Hand an ihrem Arm. Hörte eine Stimme: -„Liebe Helene ... ich bin’s ... ich, Harro! Komm ... erlaube, daß ich -dich stütze ... liebe Helene ...“</p> - -<p>Klar bewußt wurde ihr all das nicht. Aber in ihrer ohnmächtigen -Hilflosigkeit empfand sie die hilfreiche Hand, empfand sie den -zärtlichen, mitleidsvollen Ton der Stimme. Sie lehnte sich auf den Arm, -ließ sich willenlos halten und stützen. Wie von fern her hörte sie -wieder: „Nicht durch die vielen Menschen, Helene, nicht wahr? Die Oper -ist eben aus. Drüben bekommen wir gewiß einen Wagen.“</p> - -<p>Er führte sie, langsam, sorglich, wie man eine Kranke führt. Hob sie in -die Droschke, setzte sich still neben sie, fragte nicht, hielt nur ihre -Hand mit einem weichen, gleichmäßigen Druck.</p> - -<p>Ganz zusammengesunken saß sie in ihrer Ecke. Manchmal ging ein Schauern -über sie hin, sie zuckte zusammen wie in einem schrecklichen Traum, -schluchzte weh auf. Manchmal faßte ihre freie Hand nach dem Halse, als -suchte sie etwas, das sie einengte, ihr den Odem abschnürte.</p> - -<p>Die Droschke trottete und trottete über das Pflaster. Es tat so weh, so -weh ...</p> - -<p>Einmal fuhr Helene auf, rief wie erwachend, fast feindselig: „Wohin -bringst du mich!“</p> - -<p>Da war wieder die liebe, zärtliche, mitleidsvolle Stimme: „Ängstige -dich nicht, Helene ... nach Hause ...“ Ganz seltsam klang die Stimme, -so ruhig, so zuversichtlich. War<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> das wirklich Harros Stimme, war das -Harros Hand, die die ihre hielt? Merkwürdig ... Harros Hand ... und tat -so wohl ...</p> - -<p>Wieder kauerte sie sich zusammen, ganz tief in ihre Ecke. Schreckte von -neuem auf: „Wo kommst du denn her?“</p> - -<p>„So laß doch, Helene. Ich kam ganz zufällig über den Opernplatz.“</p> - -<p>Ob er wohl log? Gewiß log er. Das fühlte sie. Aber weiter konnte sie -nicht denken. Nur daß er gut zu ihr war, wußte sie.</p> - -<p>Weiter und weiter rasselte der Wagen, immer im gleichmäßigen langsamen -Trotteltrab. Jeden Hufschlag empfand sie. Es klang fast wie: ‚Wie soll -das nun werden? Wie ... soll ... das ... nun ... werden?‘ Aber auch dem -konnte sie nicht nachdenken. Es war alles so verworren, so unklar. Nur -ein großer, großer Schmerz war da.</p> - -<p>Endlich hielt der Wagen.</p> - -<p>„Mama ist nicht zu Hause. Johann auch nicht, nur Luise“, hörte sie -wieder. „Ich bring dich hinauf. So ... komm ... gib mir deine Hand.“</p> - -<p>Das war also doch Harro. Wie verständig der Harro war! Der Junge!</p> - -<p>Und dann lag sie auf dem Sofa oben in ihrem Zimmer. Die Lampe brannte, -aber Harro hatte den Schirm vorgezogen, das Licht blendete nicht. Es -war schön warm; draußen war es doch eisig kalt gewesen. Und die alte -Luise war da, brachte heißen Tee, zog ihr die Stiefel aus, rieb ihr die -Füße. Und als sie gegangen, kam Harro noch einmal herein, setzte sich -zu ihr, streichelte ihr die Hand.</p> - -<p>Was war denn das?</p> - -<p>Der große Junge hatte ja dicke Tränen in den Wimpern.</p> - -<p>Sie sah ihn an, richtete sich mühsam hoch, sah ihn wieder an, mit -erwachenden Augen. Sank zurück, schlug die Hände vor das Gesicht und -schluchzte — schluchzte bitterlich.</p> - -<p>Mit einem Male stand nun alles wieder vor ihrer Seele — durchlebte sie -all ihr Unglück noch einmal, rang mit<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> der Verzweiflung, bäumte sich -auf, brach völlig zusammen. Nun hörte sie nicht mehr, was Harro ihr -zusprach, fühlte nicht mehr den leisen, mitleidsvollen Druck seiner -Hand. Fühlte nur eins: es ist aus und zu Ende ... dein Glück liegt in -Trümmern und Scherben ...</p> - -<p>Eine endlose, endlose Nacht.</p> - -<p>Tante Marianne war gekommen, aufs heftigste erschrocken. „Wir hatten -noch einen Spaziergang gemacht, Helene und ich“, hatte Harro erklärt. -„Da ist sie plötzlich ohnmächtig geworden. Sie war ja schon in den -letzten Tagen nicht wohl. Erinnere dich nur, Mama.“</p> - -<p>Der Arzt wurde gerufen, Tante brachte Helene zu Bett. Willenlos ließ -sie alles mit sich geschehen, sprach nicht, lag mit geschlossenen -Augen. Der Medizinalrat machte ein bedenkliches Gesicht — „Ein -Nervenfieber im Anzug“ — verschrieb ein Rezept, wollte am nächsten -Morgen wiederkommen.</p> - -<p>Nicht von Helenens Bett wich die Tante. Ein paar Male kam Harro auf den -Fußspitzen, öffnete eine Türspalte, schlich wieder zurück. Die Medizin -wurde gebracht. „Du mußt einnehmen, liebes Kind!“ Gehorsam richtete -sich Helene auf. „Du bist so gut zu mir, liebe Tante —“ sank wieder -zurück, lag mit geschlossenen Augen, endlose, endlose Stunden. Manchmal -dachte Tante Marianne: es scheint doch, sie schläft. Aber dann sah -sie wieder, wie die Hände auf der Bettdecke leise hin und her gingen, -immer, als suchten sie nach etwas Verlorenem. Wie bei einer Fiebernden, -und doch war der Puls ganz regelmäßig und die Stirn eher kühl als heiß.</p> - -<p>Als der Morgen dämmerte, wurden die Hände ruhiger. Manchmal bewegte -Helene die Lippen, als wollte sie etwas sagen oder als spräche sie -mit sich selber. Tante Marianne sah das alles, sah auch, wie sich -zwischen den Brauen ein paar Fältchen eingruben. Wie bei Harro, dachte -sie; es muß doch etwas wie eine Familienähnlichkeit sein. Es schien -nun wirklich, als schliefe Helene fest.<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> Auch ihre Lippen waren jetzt -ruhig, seltsam zusammengepreßt nur, ganz schmal und blutlos.</p> - -<p>Durch die tiefen Fensternischen brach das Tageslicht. Ein erster -schmaler Sonnenstrahl legte sich quer über die Bettdecke. Tante -Marianne wollte aufstehen, den Vorhang zuziehen. Da schlug Helene die -Augen auf. Sie haschte nach der Hand der Tante und sagte matt, aber -ganz klar: „Daß ich dir soviel Mühe mache, Tante.“ Sie zog die Hand an -ihre Lippen. „Ich werde euch allen das nie danken können. Ich bin wohl -überhaupt eine recht undankbare Kreatur.“</p> - -<p>Tante Marianne war sehr glücklich. Wer so sprach, konnte nicht -ernstlich krank sein! In aufwallender Herzlichkeit beugte sie sich über -die Nichte, küßte sie: „Du liebes böses Kind! Wir haben uns wirklich -geängstigt. Was für Geschichten machst du nur!“</p> - -<p>In Helenes Augen lag immer noch etwas Starres. „Ja ... was für -Geschichten ...“ sagte sie langsam. Und dann gleich: „Aber ängstigen -braucht ihr euch nicht. Es muß wie ein plötzlicher Anfall gewesen sein. -Jetzt bin ich ganz wohl. Und du hast die ganze Nacht hier gewacht. Ich -schäme mich, Tante ...“</p> - -<p>„Aber, Helene! Und ganz wohl: das glaube nur nicht. Da müssen wir erst -den Doktor hören.“</p> - -<p>Helene saß aufrecht in ihrem Bett. Sie fühlte, daß ihr Haar sich gelöst -hatte, griff nach der einen schweren Flechte, die ihr wie ein Goldband -über der Brust hing. Ein flüchtiges Rot ging über ihre Wangen, während -sie die hochsteckte. „Ganz wohl? Ganz gesund hätte ich sagen sollen“, -sprach sie wieder in ihrem schweren fremden Tonfall.</p> - -<p>„Aber Kind, das ist doch dasselbe —“</p> - -<p>Sie antwortete nicht, ließ sich zurückfallen, schloß die Augen, sah -wieder auf. Etwas unsicher und zaghaft. Griff von neuem nach der Hand -der Tante, sagte langsam, als ob ihr doch jedes Wort schwer fiel: -„Liebe Tante ...<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> ich habe eine sehr große Bitte ... ich möchte so -schnell als möglich nach Hause ... nach Rohlbeck ...“</p> - -<p>Dabei blieb sie. Immer wiederholte sie es. Der Tante, dem Arzt, auch -Wilhelm gegenüber, der gerufen worden war.</p> - -<p>Sie schien auch wirklich ganz gesund. Der Medizinalrat machte zwar -einige Einwendungen, sprach dann von einem Nervenchock, gab jedoch zu, -daß sie durchaus reisefähig wäre. So gab man ihrem Wunsche schließlich -nach. Tante Marianne war vielleicht ein wenig pikiert über die Hast, -mit der Helene ihre kleinen Vorbereitungen traf; sie schüttelte den -Kopf, konnte sich in den plötzlichen Entschluß nicht hineindenken; die -offenbare Veränderung im Wesen der Nichte verwirrte, versöhnte sie aber -auch einigermaßen. Eine fremde, stille Schweigsamkeit war in Helene, -eine fast wortlose, aber innige Dankbarkeit sprach aus ihr.</p> - -<p>Wilhelm wollte die Schwester am nächsten Tage wenigstens bis Frankfurt -bringen. Am Abend kam er noch einmal, um sich als unabkömmlich zu -entschuldigen. Nun sollte Harro für ihn einspringen. Ob er wohl die -Klasse auf einen Tag ohne Schaden versäumen könnte? Er wurde rot, dann -erklärte er sein „Selbstverständlich“. Tante Marianne ging hinauf, um -Helene Mitteilung zu machen. Sie kniete vor ihrem Köfferchen, sah auf -wie erschrocken, sagte dann hastig: „Aber ich kann doch wahrhaftig -allein reisen!“ Als die Tante ihr zusprach: „zu unserer Beruhigung, -Kind! Wenigstens, daß wir wissen, du bist gut in der Post untergekommen -—“ senkte sie den Kopf. Es war also abgemacht.</p> - -<p>In ganz früher Morgenstunde mußte sie aus dem Hause, denn -der Zug ging schon um acht Uhr, und man gebrauchte bis zum -Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof fast eine Stunde.</p> - -<p>So elend und übernächtigt sah sie aus, als sie herunterkam, daß -die Tante erschrak. Aber Helene schien ganz ruhig. Sie sagte jedem -einzelnen Dienstboten Lebewohl; dann umarmte sie die Tante, dankte ihr -noch einmal.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span></p> - -<p>„Liebes Kind, du kommst ja bald wieder. Nimm’s nicht so feierlich.“</p> - -<p>„Wenn ich wirklich wiederkomme —“</p> - -<p>„Aber, Helene!“</p> - -<p>Sie stand einen Moment mit hängendem Kopf, wie tief in Gedanken -versunken, griff dann nach der Hand der Tante, zog sie an die Lippen. -Es war wie eine Abbitte. Und sie sagte auch wirklich nach einer kleinen -Pause: „Verzeih mir, Tante Marianne. Ich hätte wohl manchmal anders -sein können. Behalt mich ein wenig lieb ...“</p> - -<p>Schweigsam saßen die beiden Reisenden nebeneinander.</p> - -<p>Bisweilen sah Harro verstohlen auf Helene, bisweilen wollte er -irgendeine kleine Unterhaltung anfangen. Immer wieder verstummte er. -Aber er umgab sie mit schonendster Sorglichkeit.</p> - -<p>Einmal, kurz vor Frankfurt, sprach Helene wie aus einer langen -Gedankenkette heraus: „Ich muß dich noch um etwas bitten —“</p> - -<p>„Gewiß, Helene! Sag’s nur!“</p> - -<p>„Bitte, geh zu Frau Harriers-Wippern und entschuldige mich. Sag’, daß -ich plötzlich hätte abreisen müssen. Ich würde ihr von Rohlbeck aus -schreiben.“</p> - -<p>„Ich gehe gleich morgen.“ Und dann sagte er fast dasselbe wie seine -Mutter: „Helene, du kommst doch bald wieder!“</p> - -<p>Da sah sie ihn an, eigentlich zum erstenmal heute, und sie schüttelte -langsam den Kopf.</p> - -<p>„Helene —“</p> - -<p>Es war, als suchte er nach Worten. Über das junge Gesicht strömte -wieder das Rot. Er mußte erst eine Scheu überwinden.</p> - -<p>„Helene ... du hast doch deine Kunst!“ kam es dann plötzlich heraus. Es -klang fast wie vorwurfsvoll und tröstend zugleich.</p> - -<p>Sie hatte die Hände im Schoß geschlossen. Sie drückten sich noch fester -ineinander. Ihr Blick wich wieder seinem Auge aus. Und dann sagte sie, -auch wie in einer inneren<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> Scheu, ganz leise: „Harro ... mir ist’s, als -sei auch die zerbrochen ...“</p> - -<p>Erst als sie schon am Wagen stand, in dem schmalen Posthof, unmittelbar -vor dem Einsteigen, sprach sie noch einmal zu ihm. Ganz kurz nur: „Du -bist gestern sehr gut zu mir gewesen, Harro. Ich danke dir vielmals. -Und wenn du kannst, Harro ... denke nicht schlecht von mir.“</p> - -<p>Er schluckte ein paar Male, als ob er mit Tränen kämpfte. Dabei -hatte er die Hände wieder in den Manteltaschen, zu Fäusten geballt. -Ruckweise nur erwiderte er: „Schlecht von dir! Ach ... Helene ... nie -... niemals. Ich ... du weißt es ... ich hab dich ja so lieb. Manchmal -denk ich, du müßtest eigentlich meine Schwester sein ... manchmal ...“ -Plötzlich riß er die Hände aus den Taschen und griff nach ihrer Hand. -Das Blut kam und ging in seinem Gesicht. „Nimm’s dir doch nicht so zu -Herzen, Helene! Das ist ja alles dummes Zeug ... das ...“</p> - -<p>Der Postillion blies. Der Kondukteur drängte. Über Harro schien etwas -wie innere Wut zu kommen, er mußte sich irgendwie Luft machen. Mit -einem Ellbogenstoß schob er einen dicken Wollhändler zur Seite, schrie -ihn an: „Was machen Sie sich hier mausig. Sehen Sie nicht, daß die -Dame einsteigen will!“ — Dann hob er Helene in den Wagen, deckte ihr -die Reisedecke über die Knie, drückte noch einmal ihre Hände. „Adieu, -Helene ... auf Wiedersehen ...“ Da war seine Stimme schon wieder -knabenhaft weich geworden. „Bleib gesund ...“</p> - -<p>Und dann stand er, die Mütze in der Hand, neben dem hohen Wagen. Der -Wind spielte mit seinem blonden Haar. „Adieu ... liebe, liebe Helene ...“</p> - -<p>Trotz allem: Helene fühlte sich erleichtert, als sie allein war unter -fremden Menschen.</p> - -<p>In den endlosen Stunden der Nacht, während sie gelegen hatte, wach mit -geschlossenen Augen, mit der Verzweiflung ringend, war, langsam und -allmählich, ein neues Gefühl in ihr erwacht. Während der ganzen Fahrt -heute war es gewachsen und gewachsen. Nun sie allein war<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> unter den -fremden Passagieren, sann und sann sie ihm nach. Es war ein Empfinden, -das ihr unsagbare Schmerzen brachte und an das sie sich doch klammerte -wie der Ertrinkende an die schmalste Bootsplanke. Es war der Vorwurf: -wo hattest du deinen Stolz?!</p> - -<p>Gestern abend — deutlich stand der Moment vor ihrer Seele — gestern -abend, am Palais, war einer Warnung gleich in letzter Minute der -Weckruf in ihr erklungen: was Vater wohl sagen würde? ‚Mädel, wo hast -du deinen Stolz?‘</p> - -<p>Gestern abend hatte die Leidenschaft sie darüber hinweggepeitscht. Nun -klang er immer wieder auf, der Vorwurf: wo hattest du deinen Stolz?</p> - -<p>Es war ja freilich nur wie eine schmale Bootsplanke —</p> - -<p>Wie sie so saß und sann und grübelte, rann es ihr immer wieder siedend -heiß durch die Adern. ‚Und wenn er heut käme und umfaßte dich und du -hörtest seine Stimme: wo bliebe dein Stolz? Wie Schnee in der Sonne -wäre er.‘ Aber wenn sie so dachte, dann bäumte sich jetzt ihr ganzes -Inneres dagegen auf. Die Scham überflutete sie: ‚Nein! Nein! Und wenn -er käme! Eine andere war ich gestern — eine andere bin ich heute! Ein -Leben liegt zwischen gestern und heut.‘</p> - -<p>Auch das fragte sie sich immer wieder: warum fliehst du vor ihm?</p> - -<p>Plötzlich in der Nacht, aus der Verzweiflung geboren, war ihr der -Entschluß gekommen, und sie hatte nach ihm gegriffen: auch wie der -Ertrinkende nach der schmalen Bootsplanke. Nun war ihr Stolz wach -geworden und schrie ihr zu: warum fliehst du vor ihm! Aber da war auch -die Scheu vor dem Kampf und die übergroße Müdigkeit. Da war die Furcht -vor den forschenden Blicken — auch vor Harros wissenden Augen. Da war -die Sehnsucht nach Ruhe, nach der Enge und Stille des Landes, nach dem -Frieden des Elternhauses.</p> - -<p>In ewig gleichem Trabe zog die Post ihres Weges, zwischen den ewig -gleichen Pappelreihen entlang, durch<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> die ewig gleichen Schneeflächen, -die sich rechts und links breiteten, schier endlos.</p> - -<p>Gleichgültig saßen die drei anderen Fahrgäste in ihren Ecken. Fremde -Leute — gottlob. Dann und wann blies der Postillion ein kurzes Lied, -immer, wenn der Wagen durch ein Dorf ratterte. Ein paar Stimmen dann -am Wege, ein Hundegekläff, ein Peitschenknall — und wieder die weite, -weite Schneeebene.</p> - -<p>Als sie hinausgefahren war aus der Heimat, hatten die Wiesen noch im -Grün gestanden. Nun war es Winter geworden. Winter —</p> - -<p>Die Gegend wurde bekannter; hier ging der Weg nach Sodelzig ab; dann -klangen die Hufschläge scharf auf dem berühmten Pflaster von Stellberg. -An der Apotheke fuhr die Post vorbei — hinter jenem Fenster dort hatte -sie ihn zum ersten Male gesprochen.</p> - -<p>Die drei Hügel kamen, die Mutter Hoffnung, Liebe, Glaube getauft hatte: -vom ersten aus sollte man hoffend die Kirchturmspitze von Rohlbeck -suchen; beim zweiten sich in der Liebe beglückt fühlen, die in der -Heimat wartete; das dritte brachte die nahe Gewißheit des Wiedersehens. -Glaube war für Mutter Gewißheit.</p> - -<p>Aber je näher die Heimat kam, desto banger wurde Helene.</p> - -<p>Warum war sie aus Berlin geflohen? Trug sie die Unruhe nicht in sich, -mit sich, in den Frieden der Heimat hinein? Mußte sie nicht auch -hier fragenden, forschenden Augen begegnen? Würde man nicht auch im -Elternhause um Auskunft drängen?</p> - -<p>Sie sah das nun alles ganz, ganz anders vor sich, als in der -vergangenen Nacht, wo die schmerzliche Sehnsucht nach der Heimat sie -ergriffen hatte. Sie hörte das Fragen, sie fühlte das Forschen der -Ihren und wußte, daß keine Antwort sie befriedigen würde. Wem konnte, -sollte sie sagen: ich bin geflohen — vor ihm!</p> - -<p>Eine: eine war vielleicht im Elternhause, die sie ganz verstehen -konnte. Vielleicht?</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span></p> - -<p>Nun schimmerte schon der rote, hohe Schornstein der Dampfmühle über das -Schneefeld. Und wie sie das sah, da fiel ihr noch ein rein Äußerliches -auf die Seele. Sie sah im Geiste auch das ganz deutlich: die Jungen an -der Chaussee, die Posttasche abzuholen, den Hauslehrer dabei —</p> - -<p>Mit einem plötzlichen Entschluß sprang sie auf und pochte vorn an die -kleine Wagenscheibe. Der Kondukteur sah sich um, öffnete, fragte. Sie -wolle hier aussteigen. Jawohl — hier! Und das Gepäck? Das Gepäck -sollte in Rohlbeck abgegeben werden, bei denen, die die Posttasche für -das Dominium holten.</p> - -<p>Die Chaise hielt. Der dicke Wollhändler wachte auf und machte brummend -Platz, so wenig, als zum Aussteigen gerade unumgänglich nötig war. Der -Kondukteur war abgestiegen, stand am Schlag: „Es ist aber tiefer -Schnee —“</p> - -<p>Aus ihrem kleinen Portemonnaie holte Helene das letzte -Zehngroschenstück für ihn hervor.</p> - -<p>Und dann bog sie in den Feldweg ein, der von der Dampfmühle nach dem -Gutshof führte.</p> - -<p>Es war wirklich tiefer Schnee und kein Fußweg ausgetreten. Anfangs -hastete Helene, dann wurde ihr das Ausschreiten schwer und immer -schwerer. Sie fühlte, daß ihr der Schweiß ausbrach vor körperlicher -Anstrengung, und dabei schüttelte sie der Frost.</p> - -<p>Schwerer und schwerer wurde der Weg — und schwerer und schwerer wurde -ihr das Herz.</p> - -<p>Welch ein Wiedersehen!</p> - -<p>Nun war sie am Kreuzweg, dicht hinter dem Garten. Wie ein -phantastischer Gedankenblitz fuhr ihr durch den Sinn: vor diesem -Kreuzweg hatte sie sich als Kind immer gefürchtet; die alte Beate, -die Kindermuhme, erzählte so gruselige Geschichten vom Kreuzweg zur -Nachtzeit.</p> - -<p>Und jetzt kannte sie den anderen Kreuzweg; den Kreuzweg des Lebens, der -in die Nacht führte ...</p> - -<p>Das Dach des Elternhauses leuchtete über die kahlen Baumgipfel.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span></p> - -<p>Da flog Helene, die letzten Kräfte anspannend, durch den Garten. Zum -Seiteneingang hin, zu den Wirtschaftsräumen im Souterrain. Auch die -Bettler pochten hier an — auch die Bettler.</p> - -<p>Hochaufatmend stand sie unten im kalten, halbdunklen Flur. Die Tür zur -Leuteküche war nicht ganz geschlossen, ein dichter, heißer Brodem kroch -aus ihr hervor.</p> - -<p>Hochaufatmend stand sie, vom schnellen Lauf erschöpft. Die Hände preßte -sie gegen die Brust: ‚Lieber Gott, gib mir eine gnädige Aufnahme —‘</p> - -<p>Mit einem Male ging ganz hinten im Flur die Tür zur Milchkammer.</p> - -<p>Helene stürzte vorwärts, umklammerte die Schwägerin, legte den Kopf an -ihre Brust, bat nur immer wieder: „Martha ... Martha ... hilf mir!“</p> - -<p>Und Martha half in ihrer stillen, schlichten, resoluten Weise. Ohne -viel Worte, ohne Fragen und Drängen, ohne forschende Augen.</p> - -<p>„Wie sich das gut trifft“, sagte sie. „Dein Zimmer ist geheizt. Wir -erwarteten nämlich Margaret Zieldorf. Komme nur —“ Und wie eine, die -alles errät, fügte sie hinzu: „Den Eltern bring ich’s nachher bei, -damit sie nicht erschrecken.“ Fragte auch gleich nach dem Gepäck, rief -eine Magd. „Gut, daß die Jungens Arbeitsstunde haben.“ An alles dachte -sie.</p> - -<p>Oben brachte sie Helene zu Bett. „Nun ruh dich nur. Ich besorg dir -gleich etwas Warmes. Still! Erst ruhen und eine warme Tasse Brühe.“ Zog -die Decke fest um Helene, beugte sich herab, küßte sie auf beide Wangen.</p> - -<p>Mit weit offenen Augen lag Helene. Nun erst fühlte sie die Abspannung -nach der Fahrt, nach dem Gang durch den Schnee und die kalte Starrheit -aller Glieder. Manchmal schüttelte der Körper zusammen vor Frost. -Aber langsam, allmählich kam doch die wohlige Wärme. Der große, -braune Kachelofen sprühte, ab und an gab’s ein heimliches Knastern in -den Buchenscheiten. Dann kam Martha zurück, setzte sich aufs Bett: -„Natürlich hatte die Köchin keine<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> Brühe, aber ich hab dir schnell ein -Warmbier gemacht. Hier — so — und nun trinkst du. Still! Nicht reden. -Morgen ist auch noch ein Tag.“</p> - -<p>„... die Eltern ...“</p> - -<p>„Ja doch, laß mich nur sorgen. Vorläufig bist du mal krank. Nein ... -ich will gar nichts wissen. Trink noch einmal. Übrigens, Vater liegt -auch zu Bett.“</p> - -<p>„Vater?“</p> - -<p>„Du brauchst nicht zu erschrecken, er ist kerngesund. Aber er sollte -doch nach Berlin reisen, zum Jubiläum der Befreiungsveteranen, und das -paßt ihm nicht.“</p> - -<p>Martha lachte ganz leise, streichelte Helenes Hand und erzählte weiter, -wie man einem Kind erzählt, um es auf andere Gedanken zu bringen. -„Nämlich, wie Papa die große Einladungskarte bekommt, stutzt er und -sagt bloß: ‚Das heißt‘ ... wird ganz rot, steckt die Einladung ein -und geht aus dem Zimmer. Den ganzen Tag gestern haben wir ihn kaum zu -Gesicht bekommen, und gegen Abend wurde er ‚krank‘ — ‚das heißt‘, -meinte er ‚nach Berlin kann ich nun nicht‘. Wir hatten wirklich etwas -Sorge. Aber dann kam der Pastor, und da erfuhren wir’s: unser guter -Papa ist nämlich gar nicht Rittmeister. Premierleutnant ist er, und -die Einladung war an den Premierleutnant von Hackentin gerichtet, wie -das wohl in den Listen steht. Die Leute haben ihn nur zum Rittmeister -ernannt, und allmählich hat er’s selber geglaubt. Nun nimmt er’s -gewaltig krumm, liegt im Bett, schimpft mit Diana und sagt, wenn einer -von uns hereinkommt, immer wieder: ‚Das heißt, nach Berlin kriegt ihr -mich nicht. Ich bin krank.‘ Aber das Essen schmeckt ihm, Gott sei Dank.“</p> - -<p>„Der arme Papa —“</p> - -<p>„Laß nur gut sein. Es ist doch mehr komisch als tragisch. Aber nun will -ich mal nach meinen Rangen sehen.“</p> - -<p>Sie war schon bis an die Tür, da rief Helene sie zurück. Mit leiser, -ängstlicher Stimme. Wie ein Flehen klang’s.<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> Und als sie noch einmal an -das Bett trat, richtete Helene sich auf und klammerte sich fest an ihr: -„Geh nicht fort ... ich muß mein Herz erleichtern ... ich muß dir alles -erzählen ...“</p> - -<p>Und so sagte sie’s.</p> - -<p>Martha saß bei ihr, hatte ihre beiden Hände genommen, unterbrach nicht, -fragte nicht. Und als Helene zu Ende kam, hastend bald, bald stockend, -unter heißen Tränen, da küßte sie ihr die von den Wangen. Hielt die -Bebende sanft umschlungen und sagte leise: „Es ist kein Menschenherz, -dem nicht Kampf beschieden wurde. Auch du wirst darüber hinfortkommen, -liebe Lene. Es ist gut, daß du nun heimgekehrt bist.“</p> - -<p>„Ich war so leichtgläubig! Ich war so leichtsinnig!“</p> - -<p>„Du hast an ihn geglaubt, denn du hast ihn geliebt. Schilt dich nicht, -Helene. Deine Liebe entsühnt dich ... Und nun gebe dir der liebe Gott -Ruhe für dein armes Herz. Hier im Elternhause!“</p> - -<p>Als Helene am nächsten Morgen erwachte, staunte sie: wie hatte sie nur -so fest und gut schlafen können!</p> - -<p>Wie eine Fremde sah sie sich im Zimmer um. Das war also das enge -Zimmerchen, aus dem sie hinausgeflüchtet war, vor drei Monaten erst, in -das sie nun wieder zurückflüchtete.</p> - -<p>Der große Kachelofen bullerte bereits; ganz leise mußte die Trine in -der Frühe geheizt haben. Durch die blaugestärkten steifen Gardinen -brach die Morgensonne. Drüben stand der schmale, hohe Kleiderschrank -aus Birkenholz, hüben der kleine Waschtisch mit gehäkelten Spitzen -und am Fenster ihr winziger, birkener Mädchenschreibtisch mit den -geschweiften Füßen. Alles wie ehedem. Gerade, als ob das Zimmerchen nur -auf sie gewartet hätte.</p> - -<p>Dann glitt ihr Blick die Wand entlang. Und da fiel er drüben auf eine -eingerahmte Perlenstickerei. Richtig — das war ja die Arbeit der -verstorbenen Tante Melanie. Merkwürdig, in all den Jahren, in denen -sie das Zimmer als ihr kleines, eigenstes Heiligtum betrachtet, hatte -sie<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> diese kunstvolle Perlenstickerei eigentlich gar nicht beachtet. -Sie wußte nicht einmal mehr, wie der Spruch lautete, der da in bunten -Perlen auf weißem Seidengrund stand. Nie hatte sie ihn bewußt gelesen.</p> - -<p>Nun las sie:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Im Lieben wohnt Betrüben</div> - <div class="verse indent0">Und kann nie anders seyn.“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Und sie wandte sich ab. Die Tränen stiegen ihr in die Augen. —</p> - -<p>Es war Sonntag.</p> - -<p>Die Kirchenglocke läutete zum ersten Male, als Helene die Treppe -hinunterstieg.</p> - -<p>Unten am Frühstückstisch saßen nur Martha und Mutter. Gerade mußten sie -miteinander gesprochen haben: von ihr. „Lene,“ sagte Mutter und hatte -ein Tränchen, „da haben wir dich also wieder. Komm, laß schauen, wie du -aussiehst.“ Küßte sie und fuhr fort: „Schmalbäckig bist du geworden, -aber ich seh schon, es ist nichts Ernstes. Wir wollen dich schon wieder -herausfuttern.“</p> - -<p>Dann ging Helene zu Vater hinüber. Der lag wirklich auch heut im Bett, -hatte einen Teller mit Reinetten vor sich, schälte sich gerade einen -Apfel. „Lene, Kind, ei, sieh mal! Martha hat mir schon erzählt. Ja — -das heißt, eigentlich siehst du gar nicht so elend aus. Ganz gewiß hat -die Oschitzen nicht gut für dich gesorgt. Ruhig, Diana ... willst du -wohl die Lene in Frieden lassen. Ja, das heißt, ich bin selber krank. -Wollte ja auch nach eurem großmächtigen Berlin, ja, das heißt, wollte, -aber da hat mir der Hexenschuß ’nen Strich in die Rechnung gemacht.“</p> - -<p>Merkwürdig, merkwürdig: die Welt stürzte gar nicht ein darüber, daß -Helene Hackentin ins Elternhaus zurückgeflüchtet war. Merkwürdig, -merkwürdig: sie lasen ihr nicht vom Gesicht ab, was sie erlebt und -erlitten hatte und immer noch litt.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span></p> - -<p>Die Jungens umtollten sie wie früher; der Hauslehrer machte seine -verliebten Rollaugen wie früher. Und als es zum zweiten Male läutete, -stand Mutter auf der Veranda in ihrem schwarzen Kirchenkleide, mit der -schwarzen Seidenhaube auf dem Kopf, das goldgeränderte Gesangbuch in -der Hand: „Jetzt müssen wir gehen, Lene. Ich bin nur neugierig, was der -Heckstein wieder mal für einen alten Bock schlachten wird.“</p> - -<p>Zwischen Mutter und Martha saß sie dann im Herrschaftsgestühl.</p> - -<p>Oben vor der Orgel stand der alte Flehr.</p> - -<p>Der hatte das gnädige Fräulein gleich gesehen, und während er die -Register zog, dachte er bewegt: ‚Wie sie nun wohl singen wird, unser -Fräulein Helene, nun sie auf der hohen Schule war. Das wird wie eine -<span class="antiqua">vox angelica</span> klingen.‘</p> - -<p>Aber als die erste Strophe aufklang, lauschte und lauschte er -vergebens: die große, helle Stimme fehlte im Chor. Und als er sich -verstohlen umwandte, sah er, wie Helene starr vor sich hinblickte — -mit festverschlossenen Lippen.</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Achtes_Kapitel">Achtes Kapitel</h2> - -</div> - -<p>Wieder lag der Schnee über der Rohlbecker Flur, und die Buchenscheite -knatterten in den Kachelöfen. Der alte Rittmeister — das war -er geblieben, wenn er auch in den Listen der Veteranen nur als -Premierleutnant figurierte — der Rittmeister war trotz der schlechten -Ernte des letzten Jahres in gehobener Stimmung. Donnerten doch -endlich einmal wieder die preußischen Kanonen: gerade vor acht Tagen -hatten die Preußen und Österreicher die Dänen aus Schleswig-Holstein -herausgeworfen, so daß die nur noch in Düppel und auf Alsen saßen. -Man denke: Preußen und Österreicher! Fast wie Anno 1813/14 war das, -und wenn der Rittmeister auch manchmal<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> über die Strategie der -Bundesgenossen von damals bedenklich den Kopf geschüttelt hatte, auf -die österreichische Tapferkeit ließ er nichts kommen. Sogar die alte -Gnädige nahm Interesse an den Vorgängen „da oben“. Recht genau verstand -sie die Zusammenhänge nicht, aber wenn Vater aus der „Kreuzzeitung“ -vorlas, dann klangen auch einzelne Reminiszenzen aus vergangenen Tagen -in die Gegenwart hinüber: einen Rittmeister von Gablentz hatte sie im -Jahre achtzehnhundertfünfunddreißig, oder war’s sechsunddreißig, oder -war’s siebenunddreißig, in Karlsbad kennengelernt, sicher denselben, -der „da oben“ nun als Feldmarschalleutnant kommandierte; und dann der -alte Wrangel: der hatte ihr ja schon, als sie ein blutjunges Komteßchen -war, in die Backe gekniffen — damals, als er gerade Stabsrittmeister -bei den ostpreußischen Kürassieren geworden war.</p> - -<p>Wenn der Herr von Hackentin am runden Tisch in der großen Stube, auf -dem immer noch keine Petroleumlampe leuchten durfte, aus der ersten -Seite der „Kreuzzeitung“ die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz -vorlas, dann flammten seine Augen auf und zu den beiden Enkeln hinüber: -„Ja, Jungens, die Preußen und die Österreicher! Die Alliierten von -dreizehn! Schade, daß ihr nicht dabei seid! Das heißt — hm! — es hat -ja auch so seine zwei Seiten mit dem Krieg. Aber ’n Lump, der nicht -kommt, wenn der König ruft!“ Sobald er jedoch auf die zweite Seite der -Zeitung kam, wurde er verdrießlich. „Der Deubel sollte sie holen, diese -Demokraten! Das heißt: ich will nicht fluchen. Aber da haben sie im -Abgeordnetenhause rundweg die Kriegsanleihe abgelehnt. Natürlich bloß -aus Opposition! Und der große Schulze-Delitzsch erklärt feierlichst: -‚Preußen mißbraucht seine Großmachtstellung.‘ Na, natürlich unser -roter Kreisrichter wird wohl auch in dasselbe Horn blasen.“ Nur er -durfte im Hause noch den Namen des zweiten Sohnes nennen und tat’s -stets mit größter Erbitterung: „roter Kreisrichter“ war noch eine -sanfte Bezeichnung. Und dann<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> bekam, zum Schluß, immer der Hauslehrer -seine Pille: „Na, Herr Doktor, ich hab immer noch nichts von Ihrem -Beitritt zu unserem guten Preußischen Volksverein gehört! Sind wohl -auch heimlicher Nationalvereinler? Ja, und denken auch so: preußischer -Großmachtskitzel. Wie? Das heißt ... natürlich ... haben ja noch kein -Pulver gerochen!“</p> - -<p>Martha und Helene saßen dazwischen und zupften Scharpie. Kleinen -Hügeln gleich bauten sich vor ihnen die weißen losen Fäden auf, -und wöchentlich einmal nahm die Botenfrau den Packen mit nach -Stellberg, wo in der Apotheke eine Sammelstelle errichtet war. Sobald -Vater aber seine Zeitung zusammengefaltet und das Beiblatt mit den -Familienanzeigen an Mutter abgegeben hatte, damit die „ihren Honig -daraus sauge“, fing er an, Kriegsgeschichten zu erzählen. Dann schoben -die Jungens ihre Schmöker beiseite und lauschten. So schön wie -Großvater erzählte, so schön stand’s doch nicht in den Büchern.</p> - -<p>Manchmal aber, wenn die Posttasche entleert wurde, schob Vater auch -Helene einen Brief zu. Neuerdings immer mit einem gewissen Respekt, -denn die Briefe trugen den Feldpoststempel „von da oben“.</p> - -<p>Bekam Helene solch einen Brief, so tauschte sie mit der Schwägerin -einen Blick des Einverständnisses und ging hinauf in ihr Zimmer, um -den Brief in der Einsamkeit zu lesen. Vater murrte dann manchmal: -„Natürlich wieder vom Harro. Als ob sie die Epistel von dem Jungen -nicht auch hier lesen könnte. Das heißt, Junge darf man eigentlich -nicht mehr sagen, seit er’s Portepee hat ... der Oschitz.“ Gegen -Neujahr war Harro beim vierten Garde-Regiment als Junker eingetreten.</p> - -<p>Wenn Helene vor einem der frischen fröhlichen Feldzugsbriefe saß, aus -dem so viel junger Mut und so viel Freude am Drauflosgehen sprach, -dann dachte sie jedesmal an den ersten Brief zurück, den sie von ihm -erhalten hatte. Ein Brief war’s eigentlich nicht gewesen, sondern nur -ein doppelter Aufschrei: „Das hier für Dich. Es wurde abgegeben<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> und -ich hab’s ergattert, damit’s nicht in unrechte Hände kommt. Schicken -mußt ich’s Dir ja wohl. Ach, liebe Helene, ich bin so traurig. Ich habe -solche Sehnsucht nach Dir!“</p> - -<p>„Das hier“ war ein eingelegter Brief von Alfred Schwarz.</p> - -<p>Sie hielt das verschlossene Kuvert lange in der bebenden Hand. Dann -ging sie, schwer und langsam, bis zum Ofen und warf den Brief in die -Flammen.</p> - -<p>Nicht lange darauf war Tante Marie aus Rackow heruntergekommen, -unerwartet und unangesagt, zur Kaffeestunde. Hatte unten ein wenig -paradiert in ihrem fußfreien perlgrauen Popelinekleide mit der -braunroten Tunika darüber und dem Pelzbesatz um den Hals: „Denkt euch, -ja, man darf’s endlich wieder zeigen, wenn man ein hübsches Füßchen -hat, und die Krinoline wird kleiner und immer kleiner —“; hatte diese -kleinen Füßchen in den Lackstiefeln und, unerhört, ein Stückchen eines -rotgezwickelten Strumpfes sehen lassen, sowie ihren neuen „Pagenhut“; -hatte lachend erzählt, daß Ernst endlich einen guten Käufer für das -Vorwerk Grunow gefunden hätte, und hatte dann Helene unter den Arm -gefaßt: „Mignonne, Liebes, jetzt komm’ ich auf einen Stipps mit dir -hinauf.“</p> - -<p>Oben setzte sie sich vor den kleinen Schreibtisch, wippte hin und her, -lächelte ein wenig verlegen, ein wenig verschmitzt, sprang wieder auf, -küßte in der alten Herzlichkeit Lene auf beide Wangen und fragte dann -plötzlich: „Nun, Mignonne, was hast du eigentlich mit unserem Freunde -Schwarz gehabt?“</p> - -<p>Vom Augenblick an, da der Rackower Schlitten einfuhr, hatte Helene -geahnt, was da kommen würde; sie wußte ja, daß die Rackowschen in -Berlin gewesen waren.</p> - -<p>Nun stand sie doch vor der Tante, wie mit Blut übergossen. Aber auch -innerlich gefaßt genug, um antworten zu können: „Sei nicht böse, Tante -Marie. Ich muß das mit mir allein abmachen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span></p> - -<p>„Ja, doch! Ich bin ja gar nicht so neugierig, Kind. Nur — der Arme ist -so unglücklich. Du hast sein Herz gebrochen, du grausame kleine Person.“</p> - -<p>Da lachte Helene auf: „Sein Herz!“</p> - -<p>Es klang sehr bitter, und auf Helenes Gesicht lag wohl ein so -schmerzlicher Ernst, daß Marie Hackentin verstummte.</p> - -<p>Erst nach einer Weile sagte sie mitleidig: „<span class="antiqua">Pauvre enfant!</span> Ja -... die Männer. Ich ahne ...“</p> - -<p>Aber gleich war wieder ein Lächeln in dem kleinen, liebenswürdigen, -häßlichen Gamingesicht. „Ah, ihr jungen Mädchen von heute, wie nehmt -ihr doch alles gleich tragisch. Eine Episode, Mignonne, eine Episode! -Was hätte es denn anders sein können? Heiraten konntet ihr euch doch -nicht. Eine Hackentin und unser guter Freund Schwarz!“</p> - -<p>„Euer guter Freund, Tante Marie —“</p> - -<p>„Nun ja. Aber doch nicht mehr.“</p> - -<p>Helene schwieg. Was sollte sie antworten?!</p> - -<p>Tante Marie hatte sich wieder gesetzt, wippte auf dem Stühlchen, besah -sich durch das Lorgnon die Wände. Und Helene stand vor ihr und sah mit -brennenden Augen zum Fenster hinaus auf das schneebedeckte Scheunendach.</p> - -<p>„Willst du nicht einmal zu uns kommen? Auf ein paar Tage? Dir wird eine -Abwechslung gut tun. In nächster Woche haben wir einige Gäste. Auch der -nette Neuchateller, weißt du: Merivaux, wird dabei sein.“</p> - -<p>„Ich danke dir sehr. Aber — jetzt — noch nicht.“</p> - -<p>Das Lorgnon sank herab, und Tante Marie fragte, nun wieder ganz -mitleidsvoll: „Tat es denn so sehr weh, Mignonne?“</p> - -<p>„Es tat wohl weh. Aber ich komme schon darüber hinweg.“</p> - -<p>„Ja, man kommt wohl schließlich darüber hinweg ...“, sagte Tante Marie, -ganz anders als sie sonst sprach, langsam und schwer. „Wer von uns -hätte nicht ähnliches durchgemacht.“ Und dann war sie gegangen.</p> - -<p>‚... ja ... man kommt wohl darüber hinweg.‘</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span></p> - -<p>Das dachte Helene jetzt noch, nach Jahresfrist, immer aufs neue. Und -immer aufs neue ergänzte sie: ‚im Frieden des Elternhauses ... Dank -meiner lieben, lieben Martha!‘</p> - -<p>Man kommt darüber hinweg. Die Wunde schließt sich. Aber die Narbe -bleibt, und von Zeit zu Zeit brechen aus ihr die Schmerzen doch wieder -hervor. Nicht mehr brennend und heiß, aber mit leisem, mahnendem -Zucken. Gestalten steigen dann auf, und Träume kommen.</p> - -<p>Wie hatte doch Martha damals gesagt: „Arbeit, Helene — Arbeit!“</p> - -<p>Es war wirklich wie ein Allheilmittel. Keine schwanke Bootsplanke, -an die sich der Ertrinkende in seiner Not anklammert, sondern ein -sicherer Port. Immer wieder fühlte Helene das, wenn die Erinnerung -heraufschleichen wollte mit all ihrer Süße, mit der verborgenen -Sehnsucht, mit dem bitteren Leid.</p> - -<p>Und gottlob, es gab zu tun im Hause, in der Wirtschaft. Dafür sorgte -Martha, die ja selber nie ruhte noch rastete.</p> - -<p>Die Eltern merkten es kaum, wie die Tochter nun mit angriff. Mutter -lebte ihr halbes Traumleben, und Vater hatte höchstens einmal ein -flüchtiges Wort: „Ei, sieh mal, Lenchen! Das heißt, wirklich, das freut -mich!“ Aber an jedem Abend, wenn Helene todmüde lag, empfand sie den -befreienden Segen der Arbeit, der Geist und Körper zur Ruhe zwang und -die Träume scheuchte. Und manchmal dachte sie ganz verwundert: ‚was hab -ich doch früher ein Drohnenleben geführt! Darum erschien mir auch alles -so eng und klein, was mir nun eine Welt für sich geworden ist.‘</p> - -<p>Aber das eine Allheilmittel, das ihr Martha gegeben, tat es doch -nicht allein. Es gab ein stilles Sichverstehen mit der Schwägerin, -ein wortloses gegenseitiges Mitleidsempfinden, das ihnen beiden wohl -tat und sie immer näher zueinander brachte. Beide trugen sie Bürden. -Oft fragte Helene sich, trägt Martha nicht die schwerere? Und wie -trägt sie ihre Last und ihren Kummer! Und dann dachte<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> sie an den -Bruder, der immer die heiße Liebe zu den Seinen, zu Weib und Kind, -zur Heimatsscholle auf den Lippen trug, der ein Tränchen hatte bei -jedem Wiedersehen und bei jedem Abschiednehmen, um ein anderer zu -sein, sobald eine Wegstrecke von ein paar Stunden zwischen ihm lag und -Rohlbeck. „Wilhelm hat mich bei Ewest noch zum Abschied eingeladen am -Abend, ehe wir nach Hamburg fuhren“, hatte Harro geschrieben. „Die -Champagnerpropfen flogen, es war höchst fidel.“ Die Champagnerpropfen -flogen — und daheim sparte Martha Pfennig zum Pfennig. Der Mann -vergaß, sobald ihn die Großstadtluft wieder umwehte; die Frau trug ihre -Last und ihre Sehnsucht schweigend und klaglos weiter und sagte sich -selber, was sie Helene gesagt hatte: „Arbeit! Arbeit!“</p> - -<p>Etwas Wunderbares war es um die Arbeit. Und doch empfand Helene, je -weiter die Zeit ins Land ging, eine klaffende Lücke.</p> - -<p>Manchmal, wenn sie bei irgendeiner hausfraulichen Tätigkeit neben -Martha saß, sprang es jäh in ihr auf: ‚bei aller innigen Liebe, bei -allem Verstehen — wir sind doch ganz verschieden!‘ Manchmal, in -stillen Stunden, wenn sie allein war, überrann sie, schmerzlich fast, -das Gefühl: ‚Ich trag’s nicht so wie sie. Ich müßte mich wehren! -Wehren!‘</p> - -<p>Das waren dieselben Stunden, in denen, allmählich, aber stärker und -immer stärker, der andere Schmerz in ihr wach wurde: und nun hast du -auch deine Kunst zu Grabe getragen ...</p> - -<p>In den ersten Wochen nach ihrer Heimkehr war es ihr unmöglich gewesen, -zu singen; wurde sie gebeten, so wich sie aus. Unmöglich: denn jeder -Ton verwundete ihre Seele.</p> - -<p>Dann kamen wohl Tage, an denen sie sich zwang, zwingen konnte, wenn -Vater abends bat, wie einst: „Nun Lene, wie ist’s? Das heißt ... wenn -du dich disponiert fühlst.“ Sie sang dann eins oder das andere ihrer -alten Liedchen. Aber sie war jedesmal mit sich selber unzufrieden, -fühlte einen fremden Klang aus ihrem Gesang<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> heraus, etwas Erzwungenes. -Und bisweilen meinte Vater selber: „Ich weiß nicht — ich weiß nicht. -Hast du wirklich in Berlin Fortschritte gemacht?“ Einmal nahm sie auch -der alte Heckstein ins Gebet: „Hör’ mal, Jungfer Lene, warum singst du -nie in der Kirche mit? Man ist doch neugierig, und unser guter Flehr -— gut ist er nämlich, obwohl der Rittmeister in ihm den Demokraten -wittert — unser guter Flehr ist einfach unglücklich.“ Da hatte sie, -ohne ihn anzusehen, erwidert: „Ich kann nicht, Onkel Pastor.“ — „Ich -kann nicht! Weißt du, Lene, das ist so die bequeme Ausrede von allen -denen, die nicht wollen. Hast du deine Stimme verloren? Nein — sonst -würdest du’s sagen. Also willst du nicht. Kind, in meiner Art liegt’s -nicht, mich um ungelegte Eier zu kümmern. Gelegte sind besser. Ich -dränge mich auch in niemandes Vertrauen. Aber das kann ich dir sagen: -ein bissel Zwang, den der Mensch sich selber auferlegt, ist etwas sehr -Gutes. Der brave Zschokke, von dem freilich unsere Heutigen nicht viel -wissen wollen, hat mal in seinen Stunden der Andacht gesagt: ‚Der -Mensch vermag unglaublich viel über sich, wenn er ernst will.‘ Das -solltest du dir auch hinter deine allerliebsten Öhrchen schreiben.“</p> - -<p>‚... wenn er ernst will ...‘</p> - -<p>Nein, sie wollte nicht. Noch nicht. Sie ging dem Schmerz aus dem Wege, -der jedesmal neu brannte, wenn sie sich zwang.</p> - -<p>Aber allmählich erwachte doch der Wille, erwachte und erstarkte. Der -innere Drang weckte ihn, die große Lücke in ihrem Leben auszufüllen, -die bloße körperliche Arbeit nicht schließen konnte; und dann kam -die stolze Sehnsucht: geh nicht ganz unter in der Alltäglichkeit. -Du brauchst nicht unterzugehen, denn deine Kunst kann dich über sie -erheben.</p> - -<p>In der Schreibmappe, oben auf dem kleinen Tischchen am Fenster, lag -noch der Brief von Frau Harriers-Wippern.</p> - -<p>„Wie bedauere ich, daß Sie den Unterricht aufgeben. Gerade Sie, liebes -Fräulein, die zu so Großem prädestiniert<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> schienen. Wie ist das nur -möglich?“ Und daneben lag der Brouillon der Antwort, zwanzig Male neu -begonnen, immer wieder verworfen: „Zwingende äußerliche Ursachen ... -leider unüberwindliche Hindernisse.“ Mein Gott, mein Gott, wie armselig -— und wie unwahr!</p> - -<p>Wochen und Monate waren vergangen, ehe Wille und Kraft stark genug -waren, das neue Ringen aufzunehmen. Ganz langsam waren sie erstarkt, -aber plötzlich wurden sie zur Tat. Am ersten Pfingstfeiertage war’s -gewesen, daß der alte Flehr verwundert vor seiner Orgel auflauschte: -da war sie ja, die <span class="antiqua">vox angelica</span>, süß und schön und stark, die -sich in seinen geliebten Chor mischte, ihn trug und über ihm sieghaft -emporstieg:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Schmückt das Fest mit Maien,</div> - <div class="verse indent0">Lasset Blumen streuen,</div> - <div class="verse indent0">Zündet Opfer an:</div> - <div class="verse indent0">Denn der Geist der Gnaden</div> - <div class="verse indent0">Hat sich eingeladen,</div> - <div class="verse indent0">Macht ihm die Bahn,</div> - <div class="verse indent0">Nehmt ihn ein, so wird sein Schein</div> - <div class="verse indent0">Euch mit Licht und Heil erfüllen</div> - <div class="verse indent0">Und den Kummer stillen —“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Ich singe wieder, Harro!“ hatte sie damals geschrieben. „Denk Dir -doch, lieber Harro, ich kann wieder singen. Auch das war in mir -erstorben und ist nun, zu Pfingsten, auferstanden. Leicht macht’s mich -und froh, Du wirst das schon verstehen. Sie sind alle, alle zu mir -in der schweren Zeit so rührend gut gewesen. Am rührendsten Martha, -Wilhelms Frau, die Du leider noch nicht kennst. Sie hat mich gestützt, -mich getragen, mir geholfen in meinen Nöten. Aber schließlich kann -jeder Mensch sich ganz nur selber helfen. Siehst Du, Harro, nun weiß -ich endlich, wodurch ich mir helfen kann. Meine Kunst ist’s, die mich -wieder frei machen wird. Es ist freilich anders wie früher. Ich denke -nicht mehr an äußere Erfolge, nicht an den Konzertsaal und den Beifall, -von dem ich einst träumte. Für mich und<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> für die, die mich liebhaben, -will ich singen, meine Gabe pflegen und weiterbilden. Ich bin so froh, -Harro. Ich wollte, Du wärst hier, und ich könnte Dir das zeigen, wie -froh ich bin. Hinausgehen würde ich mit Dir aufs Feld, wir beide -allein, und mit den Lerchen möcht ich dann um die Wette singen.“</p> - -<p>Am zweiten Pfingstfeiertag, nach dem Schluß des Gottesdienstes, lernte -Helene Herrn von Holfen kennen, den Käufer des Rackower Vorwerks.</p> - -<p>Sie hatte ihn schon in der Kirche bemerkt und sich flüchtig gefragt, -wer der junge fremde Mann drüben auf der anderen Empore wäre; ein -Forsteleve vielleicht, hatte sie gedacht, und sich nicht weiter in -ihrer Aufmerksamkeit stören lassen.</p> - -<p>Nun stand er vor der Kirchentür, stellte sich Vater vor, bat, ihn mit -den Damen bekannt zu machen, und entschuldigte sich zugleich, daß er in -Rohlbeck noch nicht seinen Besuch abgestattet; die Übernahme und die -erste Einrichtung hätten ihn völlig in Anspruch genommen. Er sagte das -alles sehr ruhig, durchaus weltmännisch, bescheiden und doch sicher.</p> - -<p>Der alte Rittmeister, kein Freund besonderer Förmlichkeiten, forderte -ihn freundnachbarlich auf, „mit hinüber zukommen zu einem einfachen -Frühstück und einem Willkommensglase“. Holfen warf einen fragenden -Blick auf die alte Gnädige, und da diese die Aufforderung wiederholte, -nahm er an.</p> - -<p>Seitdem war er ein ziemlich häufiger Gast im Herrenhause. Das Vorwerk -Grunow lag näher an Rohlbeck wie an Rackow, war auch dort eingepfarrt; -Ernst Hackentin hatte daher einen hübschen Vorwand gehabt, die „schwer -zu bewirtschaftende Enklave abzustoßen“. Nun kam Holfen bald mit -dieser, bald mit jener Anfrage und kleinen Bitte. Unverheiratet, hatte -er allerlei Nöte bei seiner Etablierung, die ihm Anlaß gaben, sich -bei dem Rittmeister oder noch mehr bei Martha Rat zu holen. Und sie -alle hatten ihn gern. Mutter fand bald heraus, daß einer von den<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> -pommerschen Holfens eine Baer zur Frau gehabt hätte, deren Mutter -wieder eine Komteß Grucker gewesen, und er hörte dem umständlichen -Nachweis dieser Verwandtschaft „durch sieben Scheffel Erbsen“ äußerst -artig zu. Mit Vater hatte er kleine anregende militärische Diskurse; -er war erst vor anderthalb Jahren aus seinem Regiment, den Pasewalker -Kürassieren, geschieden. Mit Martha gewann er bald besonders viel -Berührungspunkte, denn sein wirtschaftlicher Eifer und eine gewisse -frische naive Art, gerade sie immer aufs neue um Rat anzugehen, machten -ihr Freude. Die Jungens schwärmten für ihn. Es kam ihm gar nicht -darauf an, gelegentlich mit ihnen einen Wettlauf durch den Garten zu -riskieren, und außerdem verstand er allerlei kleine Künste, die ihnen -riesig imponierten, fabrizierte köstliche Flöten und ausgezeichnete -Meisenkästen.</p> - -<p>Gegen Helene war er äußerst zurückhaltend, und sie wieder war -vielleicht die einzige im Herrenhause, die wenig auf ihn achtete. -Höchstens, daß sie manchmal die Schwägerin ein wenig mit ihm neckte. -Merkwürdigerweise hatte die stille Martha Verständnis für einen -harmlosen Neckton und ging nicht ungern auf ihn ein. „Dein Courmacher -kommt!“ hieß es einmal, und: „Gesteh’s nur, Martha, du hast heut wieder -ein zartes Zwiegespräch mit deinem Verehrer gehabt!“ hieß es ein -andermal. Und Martha nickte: „Hatten wir auch — über die beste Art der -Putenfütterung nämlich. Das ist doch gewiß ein zartes Thema.“</p> - -<p>„Ist er wirklich so nett?“</p> - -<p>Dann wurde Martha gleich wieder ein bißchen ernst: „Nett? Ich weiß -nicht. Aber ein ordentlicher, strebsamer, fleißiger Mann ist er.“</p> - -<p>Das war sicher richtig. Helene hörte es von allen Seiten bestätigen. Es -hieß auch, daß er das Vorwerk nur gekauft hätte, um sich als angehender -Landwirt nicht von vornherein zu stark zu engagieren; er sei recht -wohlhabend.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span></p> - -<p>Übrigens war er nicht ohne höhere Interessen. Dann und wann kam es doch -vor, daß Helene und er auf kürzere Augenblicke allein waren, und fast -regelmäßig schlug er dann ein Thema an, das sie fesselte. Einmal fand -er sie auf der Veranda über dem kleinen Geibel-Band, den ihr Harro -geschenkt hatte. Da zitierte er:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Wir können’s kaum erwarten:</div> - <div class="verse indent0">Wann wird die Eiche grün?</div> - <div class="verse indent0">Wann wird im Deutschen Garten</div> - <div class="verse indent0">Die Kaiserkrone blühn?“ — —</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Sie kennen Geibel?“</p> - -<p>„Ich kenne und ich liebe ihn.“</p> - -<p>„Und warum zitierten Sie gerade aus der ‚Ungeduld‘?“</p> - -<p>„Weil mir da Geibel besonders aus dem Herzen spricht.“</p> - -<p>Sie saßen sich gegenüber. Helene hatte den Band vor sich, blätterte ein -wenig darin, sah dann auf.</p> - -<p>„Es ist eigentlich ein politisches Lied. Ich hörte Sie aber neulich -doch einmal sagen, Herr von Holfen, daß Sie der Politik gern fern -blieben.“</p> - -<p>Er lächelte, und sie gestand sich, daß dies Lächeln sein etwas eckiges -Gesicht verschönte. Klug sah er aus.</p> - -<p>„Ist es ein politisches Lied, gnädiges Fräulein? Dann laß ich -diese Politik gelten. Ich mag mich nur nicht Hals über Kopf in das -Parteigetriebe des Tages stürzen, bei dem wohl hüben und drüben -übertrieben und gesündigt wird. Aber den großen Traum der deutschen -Einheit, den Geibel hier aufklingen läßt, den träume ich auch mit; und -ich denke und hoffe, er wird noch Wirklichkeit werden. Wenn wir das -vielleicht auch nicht erleben.“</p> - -<p>Ein andermal war er am Nachmittag gekommen und hatte, ohne daß sie -davon wußte, mit den Eltern in der großen Stube gesessen, während sie -nebenan mit einer Handarbeit beschäftigt war.</p> - -<p>Sie war gerade an diesem Tage in einer besonders gehobenen Stimmung, -die sie jetzt nicht selten, wie in einer Art von Reaktion, überkam. -Die Arbeit hatte sie sinken<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> lassen, am Fenster hatte sie gestanden, -lange Zeit, und über die grünen Wiesen hinweggeschaut, auf denen die -Augustsonne lag. Dann war sie an den Flügel getreten und, recht aus -ihrer Augenblicksstimmung heraus, sang sie Goethes „Auf dem See“.</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Und frische Nahrung, neues Blut</div> - <div class="verse indent0">Saug ich aus freier Welt.</div> - <div class="verse indent0">Wie ist Natur so hold und gut,</div> - <div class="verse indent0">Die mich am Busen hält.“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Warum war sie gerade auf dieses Lied gekommen? Sie wußte es selber -nicht. Aber sie fühlte, daß es sie emporhob, gleich wie auf Schwingen. -Etwas Erhabenes, Befreiendes lag in den schlicht schönen Strophen —</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder?</div> - <div class="verse indent0">Goldne Träume, kommt ihr wieder?</div> - <div class="verse indent0">Weg, du Traum! so gold du bist;</div> - <div class="verse indent0">Hier auch Lieb und Leben ist.“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Sie sang nicht weiter. In einem stillen Wohlgefühl saß sie noch eine -Weile, die Hände auf den Tasten, ging dann wieder ans Fenster, öffnete -die Flügel weit, atmete die würzige Luft. Und die Schlußstrophe klang -leise in ihr nach: „Weg, o Traum! so gold du bist — Hier auch Lieb und -Leben ist.“</p> - -<p>Vom Felde kamen die Erntewagen. Ein paar Schnitter gingen nebenher, -eine Frau, in der einen Hand ein Kind, in der anderen eine kleine Garbe -aufgelesener Halme. Und blau stand der Himmel darüber.</p> - -<p>Nachher erschrak sie ein wenig, als Holfen sie begrüßte: „Ich habe -schon häufiger in der Kirche Ihre schöne Stimme bewundert. Aber ich -hörte Sie noch nie im Hause singen. Darf ich Ihnen danken?“</p> - -<p>Beinahe feindselig sah sie ihn zuerst an. Was sie gesungen hatte, wie -sie es gesungen hatte, war so ganz ihr Eigenes gewesen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span></p> - -<p>Fast schien es, als ob er Ähnliches in ihrem Gesicht lese. Er wurde -ein wenig verlegen, faßte sich dann aber: „Etwas Merkwürdiges ist’s um -Goethes Lyrik. Sie ist selber Musik. Aber wie herrlich hat sich gerade -Schubert den Empfindungen Goethes angepaßt, so daß beides, Ton und -Wort, nun doch ein Ganzes scheinen. Und nun muß ich doch eins sagen: -ich habe das Lied zum letzten Male von Amalie Weiß gehört. Sie werden -wissen, die Wiener Sängerin, die kürzlich den großen Geigenvirtuosen -Joachim geheiratet hat. Aber wenn ich ehrlich sein soll: vielleicht war -Frau Weiß die größere Künstlerin — mehr Seele lag in Ihrem Gesang.“</p> - -<p>Es war so selten, daß Helene Hackentin über ihre Kunst sprechen hörte. -Und wenn sie auch die übertriebene Bewunderung ablehnte, sie freute -sich doch ein wenig.</p> - -<p>Einmal — nicht viel später — meinte Martha neckend: „Hör’, Lene, du -machst mir aber jetzt meinen getreuen Courmacher abspenstig.“</p> - -<p>Da blickte sie ganz erstaunt auf, fand sich nicht gleich in den -scherzenden Ton und antwortete beinahe ernst: „Holfen? Wir sprechen ja -fast nie miteinander.“</p> - -<p>Sie waren beim Wäscheaufhängen auf der Wiese hinter dem Hause, und -Martha kämpfte einen kleinen Kampf mit dem Wind, der ihr ein großes -Tischtuch fortreißen wollte. Sie hatte gerade eine Holzklammer zwischen -den Lippen und konnte nicht eher weitersprechen, als bis die auf -Leinwand und Leine untergebracht war.</p> - -<p>„So — ihr sprecht fast nie miteinander? Als ob das nötig wäre. Ich bin -jedenfalls brennend eifersüchtig.“</p> - -<p>„Du Ärmste! Das tut mir aber furchtbar leid.“</p> - -<p>„Spotte du nur! Nein, dieser infame Wind! Bitte, hilf mal halten, Lene. -Ja ... was ich sagen wollte: warum mag Holfen noch nicht geheiratet -haben?“</p> - -<p>Helene hatte soeben ihren kleinen Korb wieder mit Klammern gefüllt, und -hielt ihn im linken Arm, während sie mit der rechten Hand Klammer neben -Klammer auf die Leine steckte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p> - -<p>„Wir hätten uns auch nicht gerade diesen windigen Nachmittag -auszusuchen brauchen. Ja so ... dein Holfen. Ich denke, er hat die -Rechte noch nicht gefunden. Oder vielleicht hat er sie auch schon -gefunden, und sie zieht nächstens in Grunow ein.“</p> - -<p>„Wenn <em class="gesperrt">du</em> das nun sein solltest —“</p> - -<p>Plötzlich lag der ganze Korbinhalt auf dem Rasen. Ganz erschrocken war -Helene, aber dann lachte sie doch. „Was redest du heute für Unsinn, -Martha. Das ist wirklich ein schlechter Scherz ... Nun hilf wenigstens -auflesen.“</p> - -<p>Sie knieten beide nieder, um die Klammern aufzusuchen. Und da sagte -Martha leise und ernst: „Wenn es nun aber kein Scherz wäre?“</p> - -<p>„Ach geh! Holfen denkt ja gar nicht daran.“</p> - -<p>„Wer weiß?“</p> - -<p>Nun wurde Helene auch ernst: „Aber das wäre ja schrecklich.“</p> - -<p>„Warum, Lene? Er ist wirklich ein Ehrenmann und würde seine Frau auf -Händen tragen. Außerdem: Ihr paßt zusammen, finde ich. Ist er dir denn -unsympathisch?“</p> - -<p>Die Klammern waren im Körbchen gesammelt. Sie standen auf — aber der -Korb blieb zwischen ihnen im Grünen stehen.</p> - -<p>Einen Augenblick stand Helene stumm. Die schmale Falte erschien, tief -eingegraben, zwischen ihren Augenbrauen. Dann sagte sie hastig: „Ich -bitte dich, Martha, wenn du irgend etwas dazu tun kannst, erspare mir -und ihm das. Er mag ein vortrefflicher Mensch sein, aber ich empfinde -auch nicht das Geringste für ihn.“</p> - -<p>Die Schwägerin hatte den Korb schon aufgenommen und wieder mit ihrer -Arbeit begonnen: „Du solltest nicht so schnell entscheiden, liebe -Lene“, sprach sie ein wenig schwer. „Weißt du: ich kenne Ehen, in die -die Frau mit heißem, hoffnungsfrohem Herzen trat, und die ihr nachher -Bitternis auf Bitternis brachten. Und ich kenne andere Ehen, für die -der Verstand der Frau allein das entscheidende Wort sprach, und die -sehr, sehr glücklich wurden!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span></p> - -<p>Helene schüttelte den Kopf.</p> - -<p>Was wollte Martha eigentlich? Da war wieder einmal der -Temperamentsunterschied zwischen ihnen, das Trennende bei aller -Übereinstimmung ihres Fühlens. Vielleicht auch ein Etwas, dachte -Helene weiter, das Wilhelms Verhalten wenn nicht entschuldbar, so doch -erklärlicher, begreiflicher erscheinen ließ: ein Gran Nüchternheit. -Das bleibt meist auf dem Untergrund. Aber dann und wann tritt es doch -zutage, so wundervoll sonst alle Wesenseinheiten in der lieben Martha -gemischt sind. Vielleicht hat Natur das gerade gut gemeint. Vielleicht -könnte sie sonst nicht tragen, wie sie trägt.</p> - -<p>Sie vollendeten schweigend ihre Arbeit. Erst als sie durch den Garten -wieder dem Hause zugingen, sagte Helene: „Ich hoffe immer noch, du hast -vorhin gescherzt. Wenn das aber nicht der Fall ist, und du kannst mir’s -ersparen — ich bitte dich, liebe Martha, tu’s.“</p> - -<p>„Wie sollte ich das? Holfen hat kein Wort zu mir gesprochen, es waren -nur Vermutungen. Aber ich glaube freilich, nicht unberechtigte. Ich -meinte es gut, Lene, ich wollte dich ein wenig vorbereiten. Und ich -meine auch jetzt noch: überleg dir’s, handle nicht unbedacht.“</p> - -<p>Helene schüttelte wieder nur den Kopf.</p> - -<p>Aber in ihrer Seele war durch das Zwiegespräch nun doch die alte, kaum -vernarbte Wunde angerührt worden, daß sie neu schmerzte. Wieder kamen -die Erinnerungen, und es kam der Vergleich: in Leid und Weh hatte ihre -Liebe sie gerissen, bis dicht an den Abgrund; aber die Seligkeiten, -die sie ihr gebracht, die waren unvergeßlich, würden ewig unvergeßlich -bleiben. Es waren doch Augenblicke — gelebt im Paradiese. Und daneben -stand die Prosa: ein Ehrenmann, hatte Martha gesagt, der seine Frau auf -Händen tragen wird. Und wenn der andere — der andere als ein Schuft -an dir gehandelt hat: gleichviel — in uns strömte doch die große, die -göttliche Leidenschaft. Und wenn der Ehrenmann dir wirklich die Hände -unter die Füße breiten würde, dein ganzes Leben hindurch: dies<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> Leben -würde dir zur Hölle werden, wenn du die Liebe nicht hättest.</p> - -<p>Nein! Nein! Und tausendmal Nein!</p> - -<p>Sie wurde noch vorsichtiger Herrn von Holfen gegenüber, wich ihm aus, -wo sie nur konnte.</p> - -<p>Aber sie fand, daß er sich stets gleichblieb. Er war immer gleich -respektvoll, sehr artig — nicht mehr. Martha mußte sich doch wohl -getäuscht haben; vielleicht, dachte Helene bisweilen, neigt sie auch -ein wenig dazu, Ehen stiften zu wollen.</p> - -<p>So schlummerte allmählich ihr Mißtrauen ein.</p> - -<p>Darüber war der Sommer vergangen, der Herbst war gekommen.</p> - -<p>Und in dieser Zeit, wo der Landwirt etwas mehr Muße hat, lud Holfen -die Rohlbecker ein, sich einmal anzuschauen, wie er sich in Grunow -eingerichtet hatte. Zum ersten Male. Bisher hatte er immer lachend -gebeten, ihn zu entschuldigen: es wäre bei ihm noch die reine Wüstenei.</p> - -<p>Es war eine kleine Gesellschaft; die Rackowschen, auch Grucker, -dessen ältester Sohn bei den Pasewalker Kürassieren stand, Artenau, -der Stickereimajor und Bowlenkünstler, mit seiner semmelblonden Frau -und der semmelblonden Tochter. Man kam augenscheinlich, sich über die -Junggesellenhäuslichkeit des Neulings im Kreise ein wenig zu amüsieren, -und war überrascht, wie hübsch sich Holfen „etabliert“ hatte, um mit -Tante Marie zu reden, die das alte Verwalterhaus kaum wiedererkannte -und staunend, mit dem langstieligen Lorgnon vor den Augen, von einem -Zimmer zum andern ging.</p> - -<p>„Aber wirklich, mein lieber Herr von Holfen, Sie haben Wunder -geschaffen. Ganz deliziös. Fehlt nur noch, daß Sie eine liebenswürdige -Hausfrau in das fertige Nestchen setzen.“</p> - -<p>Nur der Garten hatte noch nicht ganz ihren Beifall. Als man draußen -unter der großen Linde beim Kaffee saß, zeichnete sie mit der Spitze -ihres Sonnenschirms in<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> den Kies einen ganzen Plan, nach dem der Garten -freilich fast zu einem Park wurde.</p> - -<p>„Meine Hochachtung!“ rief Graf Grucker. „Marie, du bist und bleibst -sublim! Verwandle doch gleich das ganze Vorwerkchen in einen Jardin! -Die geborene Depensière bist du!“</p> - -<p>Tante Marie zog die Achseln hoch: „Was du nicht weißt, mein Lieber! -Aber dein Französisch ist mäßig. Falls du mich wirklich als -Verschwenderin bezeichnen wolltest, hättest du besser Dissipatrice -gesagt. Depensière hat so eine dumme Nebenbedeutung.“</p> - -<p>„Meine Hochachtung! Welche denn?“</p> - -<p>Während sie das zum Gaudium des kleinen Kreises auseinandersetzte, daß -nämlich die Speisemeisterin in den französischen Klöstern Depensière -genannt würde, sah ihr Mann sie etwas kummervoll unter seinem Einglas -um die Ecke an. Er dachte wahrscheinlich daran, welche Wege sein -hübsches Vorwerk gewandelt war. Überhaupt, er war still und in sich -gekehrt, Ernst Hackentin. Sogar dem harmlosen Artenau fiel das auf, -so daß er den Vetter einmal leise anstieß: „Was hast du denn nur, -Dickerchen?“ Er bekam nur eine knurrige Antwort: „Ach, laß mich. -Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“</p> - -<p>Holfen war der liebenswürdigste Wirt. Aber er war wie von einer leisen, -ihm sonst ganz fremden Unruhe erfüllt. Vielleicht gerade, weil er zum -erstenmal Gäste bei sich sah und ihm die Hausfrau fehlte. Martha machte -zwar auf seine Bitte die Honneurs, aber auch sie wußte ja nicht recht -Bescheid. So hastete er ein wenig zu viel umher.</p> - -<p>Nach Tisch setzten sich die Herren zu ihrem unvermeidlichen Whist. -Die Damen blieben im Vorderzimmer. Die alte Gnädige saß, ein -wenig träumend, auf dem Sofa. Tante Marie führte fast allein die -Unterhaltung. Sie amüsierte sich. Die beiden Semmelblonden aus -Stellberg machten immer so furchtbar dumme Gesichter, wenn sie -irgendeine ihrer kleinen Pikanterien erzählte; wie auf Kommando -sperrten Mutter und Tochter die Mäulchen auf<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> und klappten sie wieder -zu. Es war ja aber auch toll. Da sollte eine Duchesse sich ein Kleid -von kristallisierter Gaze haben machen lassen, vier Röcke übereinander, -das oberste mit acht Volants, und zu dem Ganzen hatte Laferriere, der -große Modeschneider, nicht weniger als elfhundert Ellen Zeug gebraucht. -Aber alle Pariser Damen waren freilich nicht so verschwenderisch mit -dem Stoff. Es gab sogar sehr sparsame. Die Gräfin Castiglione — -„Ihr wißt ja, man sagt, daß sie die Nebenbuhlerin der Kaiserin ist“ -— die Gräfin Castiglione ist im vorigen Jahr auf einem Ball des -Marineministers als Salambo erschienen — „Ihr kennt doch jedenfalls -den Roman von Flaubert, der von der schönen Karthagerin handelt —“, -als Salambo also und war in einem Kostüm, das nur aus dem wunderbaren -Schmuck bestand, den der Kaiser ihr heimlich geschenkt hat.</p> - -<p>Die Tür zum Hinterzimmer stand halb offen. Dann und dann dröhnte -Gruckers mächtige Stimme: „Himmel, hast du keine Flinte! Meine -Hochachtung, Artenau. Karten hat der Mensch — Karten!“ Whist sollte -Schweigen heißen. Aber davon hielten die Herren nichts.</p> - -<p>Helene langweilte sich. Vor solchen Geschichtchen, wie Tante Marie sie -heut liebte, hatte sie einen Abscheu. Sie stahl sich leise fort. Sah -auf einen Augenblick ins Herrenzimmer, aber da war ein Zigarrenrauch, -den man mit dem Messer hätte durchschneiden können. So trat sie auf -die kleine Veranda, die nach dem Garten hinaus neu angebaut war. Ein -winziges Ding, gerade vier Personen hätten darauf Platz finden können. -Aber die Aussicht war entzückend. Der Garten fiel ziemlich steil -ab. Unten lag der Grunower See, von dunklen Fichten umkränzt. Der -Mondschein lag darauf, silbrig leuchtete das Wasser.</p> - -<p>Sie lehnte an der Brüstung, schaute hinab und dachte: Unsere Mark ist -doch schön.</p> - -<p>Mit einem Male stand Holfen seitwärts hinter ihr. Hier, wo das -Mondlicht nicht hinkam, im Dachschatten, war<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> es fast ganz dunkel. Sie -fühlte Holfen mehr als sie ihn sah. Und sie erschrak.</p> - -<p>Dann hörte sie seine Stimme: „Ganz allein, gnädiges Fräulein?“</p> - -<p>„Ich wollte ein wenig Luft schöpfen.“</p> - -<p>„Ist das nicht hübsch, der Ausblick auf den See? Hier ist mein -Lieblingsplatz. Fast jeden Abend sitz ich hier und träume nach des -Tages Arbeit ein wenig.“</p> - -<p>Er sprach ruhig. Aber Helene fühlte, in der Ruhe lag etwas -Beherrschtes. Sie wäre gern ausgewichen, in das Zimmer zurückgetreten. -Aber er stand vor der Eingangstür. Und dann — es war wohl doch nur -Einbildung —</p> - -<p>„Der Platz ist wirklich sehr hübsch. Ich habe oft bedauert, daß wir in -Rohlbeck so wenig Wasser haben.“</p> - -<p>„Gefällt Ihnen Grunow auch sonst in seiner neuen Gestalt, gnädiges -Fräulein?“</p> - -<p>Er war ein wenig nach vorn getreten, und seine Stimme vibrierte nun -trotz aller Beherrschung leise. Jetzt fühlte sie deutlich, daß ihre -erste Befürchtung nicht falsch gewesen war. Und sie dachte nur: wie -ersparst du’s ihm und dir? Aber es war kaum noch möglich. Denn er -wartete ihre Antwort gar nicht ab, sprach gleich weiter: „Man hat mir -heut mehrfach gesagt, ernst der eine, neckend die andere, es wäre fast, -als ob ich dies Haus hier schon für seine zukünftige Herrin vorbereitet -hätte. Niemand hat wohl geahnt, daß dem wirklich so ist, daß ich seit -Monaten täglich, stündlich an diese Herrin gedacht habe.“</p> - -<p>Nein — er durfte nicht vollenden! Sie mußte dem lieben Menschen die -Beschämung ersparen.</p> - -<p>So fiel sie schnell ein: „Das freut mich, Herr von Holfen. Wir alle -werden uns sehr freuen, wenn Sie heiraten.“ Aber indem sie sprach, -erschrak sie vor ihren eigenen Worten. Wenn er die nun falsch auffaßte? -Wie man nur so ungeschickt sein konnte! Hastig fuhr sie fort: „Sehen -Sie, jetzt geht der Mond hinter dem Walde unter. Der See liegt im -Dunkeln. Es wird plötzlich recht kühl. Ich will doch lieber —“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p> - -<p>Da stand er schon dicht neben ihr, beugte sich ganz vor und bat: -„Würden Sie hier als Herrin einziehen mögen — als meine Herrin? -Fräulein Helene ... ich habe Sie so sehr lieb. Fast vom ersten Sehen an -wußt’ ich es —“</p> - -<p>Seine Hand fühlte sie neben der ihren tastend auf dem Geländer. Fühlte, -wie sein Auge durch die Dunkelheit sie suchte.</p> - -<p>Sie wich seitwärts aus. Ganz schmal machte sie sich, drückte sich gegen -die Wand.</p> - -<p>„Fräulein Helene ...“</p> - -<p>Tief schöpfte sie Atem.</p> - -<p>„Herr von Holfen ... bitte ... sprechen Sie nicht weiter ...“ Mühsam, -stockend nur brachte sie es heraus. „Ich darf Sie nicht hören ...“</p> - -<p>Sie wagte nicht aufzusehen. Dachte nur, jetzt wird er gehen. Und so -leid tat er ihr, so unsagbar leid.</p> - -<p>Aber er ging nicht. Einen Augenblick schwieg er. Dann hörte sie wieder -seine Stimme, bittend, beschwörend: „Weisen Sie mich nicht so ab. Sie -kennen mich ja kaum. Vielleicht war das mein Fehler. Ich verstehe -mich wenig auf das Werben um ein Mädchenherz. Aber Liebe soll ja doch -Gegenliebe wecken. Ich will geduldig sein, will warten, ausharren. Ich -hab Sie ja so lieb, Fräulein Helene —“ Und dann, als keine Antwort -kam, fragte er heiß: „Ist Ihr Herz nicht frei?“</p> - -<p>Es war für sie wie ein Schlag. Denn mit einem Male wußte sie: nein, -dein Herz ist nicht frei. Du hast es dir selber nur vorgetäuscht. -Du hast vielleicht überwunden, aber nicht vergessen. Mit einem Male -standen die Erinnerungen wieder vor ihr, die seligen Erinnerungen, -und die qualvoll durchwachten Nächte, die lodernden Sehnsuchten, -die sie in die Kissen hineingeweint hatte, Glück und Leid, all das -Himmelhochjauchzende, all das zu Tode Betrübte.</p> - -<p>Nein, ihr Herz war noch nicht frei. Überwunden mochte es haben, -vergessen konnte es nicht.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span></p> - -<p>Sie kämpfte mit Tränen. Und mit tränenerstickter Stimme bat sie: „Bitte -... lassen Sie mich ...“</p> - -<p>Da trat er zurück. Es war ja auch eine Antwort.</p> - -<p>Ganz schmal machte sie sich, glitt am Geländer entlang, zur Tür dann, -trat in den Salon. Wie das helle Kerzenlicht den Augen weh tat nach der -Dunkelheit draußen —</p> - -<p>Tante Marie war noch immer in Paris. Sie erzählte gerade von einer -Soiree bei der Fürstin Pauline Metternich, der österreichischen -Botschafterin, und daß da Hortense Schneider — „Ihr wißt, die die -‚Schöne Helena‘ kreiert hat“ — anwesend gewesen wäre, und Madame -Térésa von Alcazar d’Eté hätte ihre famosen Gassenhauer gesungen: -„<span class="antiqua">Rien n’est sacré pour un sapeur!</span>“ Die beiden semmelblonden -Artenaus sperrten die Mäulchen auf. Mutter nickte ein wenig in ihrer -Sofaecke und sagte nur einmal aus ihrem Halbtraum heraus: „Ja ... die -Pauline Metternich, das ist eine geborene Sandor ... eine Ungarin.“ -Dann polterte Onkel Grucker herein: „Meine Hochachtung! Der Rittmeister -hat uns heut aber ordentlich belehrt. ’n Daler acht Groschen! I ... und -da ist ja unser Leneken ... Mädel ... ’n Schmatz! Aber ’n ordentlichen, -nich so’n vulgären Onkel-Nichten-Kuß, bei dem man nicht weiß, wie und -warum!“</p> - -<p>Und dann fuhr man hinaus in die dunkle Nacht.</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p>In den nächsten Wochen ließ sich Holfen nicht in Rohlbeck sehen. Die -Rackower erzählten, er wäre in Berlin. „Das heißt,“ meinte Vater, „der -Mann kann sich schon mal ’ne Erholung leisten. Was der den Sommer über -auf seiner Klitsche geleistet hat, geht auf keine Kuhhaut.“ Martha sah -bisweilen, wenn von ihm die Rede war, ein wenig vorwurfsvoll zu Helene -hinüber. Aber sie fragte nicht.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span></p> - -<p>Erst als der Schnee schon lag, sah Helene Holfen wieder. Er kam nun -wieder nach Rohlbeck, nicht so häufig vielleicht wie früher, aber -scheinbar ganz der alte. Immer liebenswürdig, bei allen beliebt; hatte -seine kleinen wirtschaftlichen Anfragen bei Martha, nahm, wenn er -einmal zum Abend blieb, den Jungens eine Partie Mühle nach der andern -ab. Helene und er begegneten sich, als wäre nichts zwischen ihnen -vorgefallen. Und sie war ihm dankbar, daß er ihr das ermöglichte.</p> - -<p>Sie hatte an jener Abendstunde auf der kleinen Veranda doch schwer -gelitten. Nicht nur um Holfens willen, so leid er ihr tat. Sie mußte -von neuem einsargen, was damals lebendig geworden, auferstanden war.</p> - -<p>Wieder waren ihr Arbeit und Kunst getreue Helferinnen. Zumal ihre -Kunst. Harro mußte ihr Noten über Noten senden: Mendelssohn, Schumann, -Schubert. Ein paar Opernpartien studierte sie: aus dem „Waffenschmied“, -aus dem „Feldlager in Schlesien“. Dann wagte sie sich, zögernd, an -die Elsa. Aber da dachte sie sehnsüchtig an ihre Lehrerin zurück, -fühlte das Fehlen der verständnisvollen Anleitung, des ermunternden -Zuspruchs. Richard Wagner stand noch vor ihr wie ein Koloß. Etwas -Erbarmungsloses, fand sie bisweilen, lag in seinen Ansprüchen. Einmal -war sie in ihren Nöten zum alten Flehr geflüchtet. Doch der schüttelte -nur das graue Haupt, ließ die Hand verlegen um die ewigen Stoppeln auf -seinem Kinn gleiten und sagte schmerzlich: „Da kann ich nicht mit, -gnädiges Fräulein.“ Beugte sich, immer die lange Pfeife im Munde, -mit seinen kurzsichtigen Augen tief auf die Noten, versuchte auf -seinem Klimperkasten ein paar Sätze — ging dann plötzlich zu seinem -geliebten Mozart über, schlug die blauen Augen auf, daß sie ordentlich -leuchteten: „Das ist doch noch Musik!“</p> - -<p>... man mußte sich schon selber helfen ...</p> - -<p>Jetzt schickte Harro keine Noten mehr.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span></p> - -<p>Aber dafür seine frohen, übermütigen Briefe von „da oben“ her. Und -Vater beorderte dann und wann Helene ans Klavier, daß sie ihm das -Chemnitzsche Lied sänge:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Schleswig-Holstein, meerumschlungen,</div> - <div class="verse indent0">Deutscher Sitte hohe Wacht,</div> - <div class="verse indent0">Wahre treu, was schwer errungen,</div> - <div class="verse indent0">Bis ein schön’rer Morgen tagt!</div> - <div class="verse indent0">Schleswig-Holstein, stammverwandt,</div> - <div class="verse indent0">Wanke nicht, mein Vaterland!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Manchmal mußte Helene auch aus Harros Briefen vorlesen. Die Garde stand -jetzt schon oben auf jütischem Boden, bei Kolding. Ein wenig neidisch -schrieb der tatendurstige Junker von den Kameraden, denen vor den -Düppeler Schanzen größere Lorbeeren winkten. Aber kleinere Gefechte -gab’s bei ihnen auch, und lustige Geschichtchen wußte er immer zu -erzählen. Gestern hatte „Einer von meinem Regiment“ einen flüchtenden -Dänen angeschossen, ihn dann eingeholt, triumphierend zurückgebracht: -„Das ist <em class="gesperrt">mein Däne</em>!“ und ihn durchaus selber gesund pflegen -wollen. Vater schmunzelte oder lachte auch hell auf. Als Harro -beschrieb, wie wunderschön drollig jetzt die Posten aussähen: im großen -weißen neugelieferten Schafpelz mit dem Helm dazu auf dem Kopfe, meinte -er: „So sahen unsere Kerle im Winter Anno achtzehnhundertundzwölf auch -aus, oben in Kurland, beim alten Yorck. Das heißt, geliefert waren uns -die Pelze nicht. Die hatten wir — gestohlen. Aber Helme hatten wir -noch nicht, und unsere alten Hüte waren immer so steifgefroren, daß man -Suppe draus hätte löffeln können.“</p> - -<p>Dann, Ende März, kam ein förmlicher Jubelruf: „Hurra, nun kommen wir -doch noch vor Düppel. Unsere neuformierten Garde-Regimenter sollen -beweisen, daß sie hinter den alten nicht zurückstehen. Wir wollen’s den -Dannemanns schon zeigen! Und wenn der „Rolf Krake“ angeschwommen kommt, -dann stecken wir den mitsamt seinen dicken Panzerplatten in die Tasche. -Halt mir den<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> Daumen, liebe, liebe Lene! Wenn alles gut geht und ich -kann mich ein bissel auszeichnen, bin ich vielleicht in vier Wochen -Offizier.“</p> - -<p>Helene mußte lächeln. Hinter Harros Zeilen stand immer noch etwas -Besonderes, etwas Heimliches, nur für sie Bestimmtes. Er schrieb nie -von seiner anbetenden Liebe. Manchmal hatte sie geglaubt, daß er die -mit der Schulmappe und der Jungensmütze abgestreift, daß sie sich ihm -und ihr wirklich in gute Kameradschaft gewandelt hätte. Aber dann kamen -wieder Wendungen, die sie anders deuten mußte. „Wir haben gestern -nacht die dritte Parallele ausgehoben. Ganz dicht vor den Schanzen. -Sternenklar war die Nacht. Da hab ich hinaufgeschaut zu den blitzenden -Sternen, und ich hab immerfort an Dich denken müssen.“</p> - -<p>Vater war sehr unruhig in diesen Tagen. Nie konnte er die Posttasche -erwarten. Und wenn er aus der „Kreuzzeitung“ das Neueste vom -Kriegsschauplatz vorlas, dann kramte er aus dem kleinen Schatz -seiner kriegsgeschichtlichen Erinnerungen allerlei Ergänzungen, -Erläuterungen hervor. Der Sturm auf die Düppeler Schanzen stand ja -bevor. „Wird viel Blut kosten, das heißt, die Artillerie hat natürlich -mächtig vorgearbeitet. Aber so ein sturmfreies Werk, mit Graben und -Bastionen — keine Kleinigkeit das!“ Ganz aus dem Häuschen waren die -Jungens. Papier und Bleistift schleppten sie heran, Großvater mußte -ihnen aufzeichnen, wie das eigentlich war: ein sturmfreies Werk und -Parallelen und Laufgräben. Eine ganz wunderliche Zeichnung kam dabei -heraus. Am Sonntag betete Heckstein von der Kanzel für unsere Tapferen -in Schleswig-Holstein.</p> - -<p>Und Helene betete herzinnig mit. Nicht daß sie sich um Harro sorgte. -Wie hätte dem frischen lieben Harro etwas geschehen sollen? Das schien -ihr ganz ausgeschlossen, sie dachte gar nicht daran. Aber die Hände -schloß sie doch und bat um Sieg und flocht auch Harro dabei im stillen -einen Lorbeerkranz.</p> - -<p>Am 18., in der Dämmerstunde, ritt eine Estafette in Rohlbeck ein, ein -Stellberger Postillion. Artenau hatte einmal<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> eine vernünftige Idee -gehabt und an den ungeduldigen alten Rittmeister gedacht, sich’s zwei -blanke Taler kosten lassen.</p> - -<p>Mit zitternden Händen riß Vater die Depesche auf. Sie umdrängten -ihn alle auf der Veranda, sogar Mutter war herausgekommen, als der -Postillion am Tor ins Horn gestoßen hatte.</p> - -<p>„Düppel heut vormittag glorreich erstürmt. Schwere Verluste. General -Raven tödlich verwundet.“</p> - -<p>Der alte Rittmeister hatte sein Käppchen abgenommen.</p> - -<p>Sie sahen alle zu ihm empor. Er las noch einmal. Und dann setzte er -hinzu, mit bebender Stimme: „Unsere brave Armee! Endlich wieder einmal -ein preußischer General für König und Vaterland geblutet. Der erste -nach fünfzig Jahren. Jungens, nun lauft! Zum Kantor. Läuten soll er — -läuten!“</p> - -<p>Eine Stunde später war die Posttasche da. Die „Kreuzzeitung“ wußte -noch nichts. Und auch die vom nächsten Tage brachte nur die erste -Siegesdepesche und einen einzigen Zusatz: siebzig Offiziere tot und -verwundet, gegen tausend Mann. Aber ein kurzer Brief Wilhelms an Martha -war dabei: „Ich komme morgen. Lauter gute Nachrichten. Berlin schwimmt -in Begeisterung und Jubel.“</p> - -<p>Mit Extrapost kam er, ein paar Stunden früher, als erwartet. Die -Jungens hatten oben von ihrem Fenster aus mit ihren Luchsaugen die -Postchaise schon erspäht, als sie noch bei der Dampfmühle war, und -hatten das ganze Haus alarmiert. Wieder standen alle auf der Veranda.</p> - -<p>Als er aus dem Wagen sprang, rief er: „Martha, Vater — ich hab die -Konzession. Die Eisenbahn ist durch!“</p> - -<p>Er stürmte die Stufen hinauf, umhalste einen nach dem andern, sagte, -rief immer wieder: „Ich hab die Konzession. Es ist alles in Ordnung. -Vater, ich hab vierzigtausend Taler dabei verdient. So freut euch doch! -Freut euch doch!“</p> - -<p>Sie freuten sich ja auch alle. Aber die große Spannung war in so -ganz anderer Weise gelöst, als sie es erwartet<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> hatten. Er mußte es -endlich merken. Er lachte: „Ja, so — natürlich, ihr habt alle Düppel -im Kopf! Ihr wißt wohl gar nichts Näheres? Großartig! Berlin hättet -ihr vorgestern abend sehen sollen. Wie toll zogen die Massen durch die -Straßen. Alle Häuser waren illuminiert. Da haben die Berliner nun auf -die Soldateska geschimpft und geschimpft, und jetzt sind sie auf einmal -Feuer und Flamme. Der König bekam die Depesche von der Erstürmung der -ersten sechs Schanzen auf dem Tempelhofer Felde, als er gerade die -Franzer besichtigte. Er fuhr gleich nach dem Palais. Da standen schon -Hunderte und Tausende und sangen das Preußenlied. Er soll Tränen in den -Augen gehabt haben.“</p> - -<p>Wilhelm hatte sehr schnell gesprochen. Nun holte er Atem und fuhr -langsam fort: „Freilich — schwere Verluste. Daß General von Raven -schwer verwundet ist, wißt ihr wohl schon. Ja, und unsere arme Tante -Oschitz ... Harro ist vor Schanze VI gefallen —“</p> - -<p>Da schrie Helene auf.</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Neuntes_Kapitel">Neuntes Kapitel</h2> - -</div> - -<p>Die alten Herrschaften saßen allein auf Rohlbeck.</p> - -<p>Wilhelm hatte gleich erklärt: jetzt müßte es ein Ende haben mit der -ewigen Trennung. Er sehne sich, Weib und Kind bei sich zu haben. Die -Jungens sollten auch aufs Gymnasium. Das letztere war vielleicht für -Martha das Ausschlaggebende. Denn sie schied schmerzenden Herzens von -der Scholle, die ihr so lieb geworden war, als hätte ihre eigene Wiege -darauf gestanden. Und sie fürchtete sich vor Berlin.</p> - -<p>Helene war mit Wilhelms im Herbst übergesiedelt. Zuerst nur, um bei -dem Umzug und bei der Neueinrichtung zu helfen. Dann blieb sie, auf -Vaters ausdrücklichen Wunsch. Sie war so still und ohne rechte Frische -gewesen in all der letzten Zeit; seit der Nachricht von Harros Tode, -hätte man beinahe sagen können. Ein wunderliches Mädel, fand der alte -Rittmeister. Ja, ja doch, es war ja sehr<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> traurig. Aber, du mein Gott, -der Junge hatte doch einen so herrlichen Tod gehabt, für König und -Vaterland. Und ohne Schmerzen, gleich dahin. Daß Lene das so naheging! -Das heißt, sie hatte wirklich immer an dem Harro gehangen, fast wie -eine Schwester. Aber nun das schmale, blasse Gesichtchen. Nun, sie -mußte mal ordentlich heraus. Sollte auch wieder Unterricht nehmen, daß -sie auf andere Gedanken käme. Nicht einen Ton hatte sie gesungen seit -dem letzten Male in der Kirche, wo Heckstein der toten Sieger gedachte.</p> - -<p>Sie wollte nicht nach Berlin. Wollte nicht — wollte auch die alten -Eltern nicht allein lassen. Da sprach der Rittmeister ein Machtwort. -„Und überhaupt, das heißt, so alt sind wir denn doch noch nicht! Das -bißchen Wirtschaften hier! Für immer und ewig brauchst du ja nicht -fortzubleiben, und wenn erst die Eisenbahn fertig ist, dann ist das ja -nur ein Katzensprung.“</p> - -<p>Wilhelm hatte vor dem Halleschen Tor gemietet. In einem ganz neuen -Hause, das die spottsüchtigen Berliner „Neu-Amerika“ getauft hatten, -weil es so weit draußen lag und weil es so sehr groß war. Ein -Riesenkasten, aber schön gelegen. Von der Vorderfront sah man über die -Kanalbrücke auf den Belleallianceplatz mit der Rauchschen Viktoria; -die andere Front der Wohnung ging nach der breiten Bellealliancestraße -hinaus, und jenseits lag das große Rothersche Stift inmitten eines -gewaltigen Gartens. So hatte man doch den Blick auf grüne Bäume. Und -die Jungens jubelten: fast an jedem Morgen wurden sie durch lustige -Militärmusik mit Piefkes Düppelmarsch geweckt, und wenn sie dann ans -Fenster stürzten, dann sahen sie unten die langen, bunten Kolonnen, die -durch die Bellealliancestraße dem Kreuzberg zuzogen.</p> - -<p>Martha lebte sich anfangs sehr schwer ein. Die Wohnung war gewiß für -Berliner Verhältnisse recht geräumig, aber sie empfand überall ihre -Enge gegenüber dem Rohlbecker Hause; litt überhaupt unter der Enge der -großen Stadt nach den langen Jahren des Landlebens,<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> fand sich auch -nicht leicht in die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse, hatte -für ihre emsigen Hände zu wenig zu tun. Aber sie war doch glücklich, -mit ihrem Manne vereint zu sein. Und allmählich gewöhnte sie sich -mehr und mehr, hatte ihr kleines Vergnügen an einem Bummel durch die -Leipziger Straße, suchte überall nach den billigsten Quellen und kam -jedesmal stolz vom Wochenmarkt auf dem Belleallianceplatz zurück; -besonders stolz, wenn sie in einem kleinen Preisdisput mit einem der -groben Marktweiber glorreich obgesiegt hatte. Allmählich gewann sie -Berlin fast lieb.</p> - -<p>Auf Helene wirkte dies Berlin ganz anders als vor zwei Jahren. Sie -war gleichgültig geworden gegen die große Stadt. Es interessierte sie -nichts mehr, es reizte sie nichts mehr: nichts zum Staunen, nichts zur -Bewunderung, nichts zum Widerspruch. Und auch die Erinnerungen glitten -nun, wenn sie kamen, an ihr ab wie etwas Fremdgewordenes. Mit Ausnahme -der einen, um die der Tod frischen Lorbeer gewunden hatte.</p> - -<p>Ihr erster Gang hatte der einsamen Insel gegolten. Sie fand die Tante -merkwürdig gefaßt. Ganz schmal und durchsichtig zart war das kleine -Gesicht unter der Trauerhaube, aber aufrecht und ruhig: „Der Herr hatte -ihn mir gegeben, der Herr hat ihn mir genommen,“ sagte sie fast wie -Hiob, „der Name des Herrn sei gelobt.“ Es lag etwas Tiefergreifendes in -ihrer Ergebenheit. In Helene lebte der Schmerz anders; sie hätte ihn -klagend gen Himmel schreien mögen.</p> - -<p>In sein kleines Stübchen führte Tante Marianne sie. Da stand und lag -noch alles, wie er es verlassen. An dem letzten Tage vor dem Ausmarsch -war er noch darin gewesen.</p> - -<p>Tante Marianne setzte sich vor seinen Schreibtisch, ließ die Bücher, -die auf dem Tisch lagen, langsam durch ihre Hände gleiten, rückte an -dem Tintenfaß. Helene hatte sich ein Korbsesselchen herangezogen, -stützte den Kopf in beide Hände und weinte. Sprechen konnte sie nicht.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p> - -<p>Auch die Tante saß lange schweigend, nun mit gefalteten Händen auf der -Schreibmappe.</p> - -<p>Dann sagte sie ganz langsam: „Er hat dich sehr lieb gehabt, Helene. -Mehr vielleicht, als er sollte. Ich hab das auch erst gemerkt, als du -fort warst.“</p> - -<p>‚Mehr vielleicht, als er sollte.‘ Helene hörte eigentlich nur das. -Konnte man denn einen Menschen mehr liebhaben, als man sollte?</p> - -<p>Aber sie durfte ja nicht mit der Mutter rechten. Und Tante Marianne -würde auch nimmer verstanden haben, wenn sie ihr von dieser reinen -und heißen Jünglingsliebe gesprochen hätte und von dem, was ihr Harro -gewesen und geworden war in der Zeit ihrer Not. Vielleicht meinte Tante -Marianne auch nur ‚Er hat dich sehr liebgehabt — mehr als mich.‘</p> - -<p>Nur eins mußte sie sagen. Und es mochte wohl wie ein Auftrotzen -klingen: „Ich hab ihn auch sehr liebgehabt.“ Wie ein Auftrotzen, und -war doch großer Schmerz.</p> - -<p>Tante Marianne sah auf und senkte den Kopf wieder. Vielleicht hatte -sie auch das nicht recht verstanden, daß man jemand liebhaben kann in -reinster Freundschaft. Vielleicht lebte auch in ihren Gedanken ihr -Harro nur noch als Knabe; vielleicht hatte sie nie ganz begriffen, daß -aus dem Knaben ein Jüngling geworden war, mit all der Lust und all dem -Leid des Jünglingsherzens.</p> - -<p>Sie stiegen wieder herunter und saßen im düsteren Wohnzimmer einander -gegenüber.</p> - -<p>Die Tante fragte nach Rohlbeck, nach den Eltern, nach Wilhelms. Helene -gab Antwort. Und beider Gedanken waren doch nur bei ihm. Er stand für -sie drüben an der Tür, er saß für sie in der tiefen Fensternische, er -ging draußen vorüber unter den blühenden Kastanien.</p> - -<p>Plötzlich sagte Tante Marianne, und nun klang doch der ganze Schmerz -des Mutterherzens durch all ihre Ergebung hindurch: „Warum mußte er -Soldat werden! Ich wollte es nicht. Fast auf den Knien hab ich ihn -gebeten —“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span></p> - -<p>Und wieder saß Helene wortlos. Was sollte sie sagen? Auch das würde -Tante Marianne nicht verstehen: daß der Tod auf dem Schlachtfelde der -schönste Tod ist und daß mit Harro Hunderte und aber Hunderte, arm und -reich, hoch und gering, in den Tod gegangen waren — mit Gott, für -König und Vaterland.</p> - -<p>Mit Gott! Den Kopf hätte Tante Marianne geschüttelt: ‚Du sollst nicht -töten!‘</p> - -<p>Und dabei fühlte sie, wie wieder der fragende, vorwurfsvolle Blick auf -ihr ruhte. Fast als ob er zu ihr spräche: Du bist schuld daran, daß er -so früh eintrat! Daß er ein Mann sein wollte, wo er noch ein Knabe war!</p> - -<p>Es fröstelte sie in dem düsteren Zimmer.</p> - -<p>Schwer stand sie auf. Küßte der Tante die Hand. „Ich muß nun wohl -gehen —“</p> - -<p>Tante Marianne blieb auf dem steiflehnigen Sofa sitzen, sagte nur müde: -„Grüße Wilhelm und Martha.“</p> - -<p>Aber dann plötzlich, als Helene schon an der Tür war, kam die Tante -hinter ihr drein, umschlang sie mit beiden Armen, drückte sie an sich -und rief unter Schluchzen: „Er hat dich so liebgehabt. Er hat dich ja -so liebgehabt!“</p> - -<p>Und da weinten sie beide, Wange an Wange. Weinten um den, der in ihren -Herzen nie sterben würde: um den Knaben, um den Jüngling, um den jungen -Helden, der mit einem Lächeln in den Tod gegangen war.</p> - -<p>Seitdem ging Helene häufig nach der einsamen Insel. Mehr und mehr -lernte sie Tante Marianne verstehen und schätzen. Auch lieben. Aber -diese Liebe rankte sich doch fast nur um die Erinnerung an Harro. Bei -allem Verstehen und aller Verehrung, auch in aller Zuneigung blieb -etwas Fremdes. Und manchmal dachte Helene: ‚Es ist nicht anders wie -in deinem Verhältnis zu Martha. Wir haben uns gefunden, und sind doch -nicht ganz eins geworden.‘</p> - -<p>Bisweilen, wenn sie von der einsamen Insel kam, ging sie auch an der -kleinen Konditorei in der Bendlerstraße<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> vorüber. Einmal stand sogar -das alte Kuchenfräulein vor der Tür und sah in den lachenden Frühling -hinaus, knixte und machte große Augen. Da grüßte Helene mit einem -leichten Kopfneigen und lächelte, indem sie weiterschritt. Wirklich, -sie konnte lächeln. Wunderte sich selber darüber, wie fern ihr nun -diese Episode lag, und daß sie ihr aus einem großen Erleben zu einer -Episode hatte werden können. Aber sie wußte auch: die emsige Arbeit -und ihre Kunst hatten das erste und vielleicht das Beste an ihr getan, -und doch nicht alles; es mußte die Zeit helfen, sie das Überwinden -zu lehren, und es mußte Harros Tod kommen, um das Überwinden zur Tat -werden zu lassen. Wie denn der eine Schmerz so oft den andern löst.</p> - -<p>Monat auf Monat war verstrichen, und der Sommer stand schon vor -der Tür, da raffte sich Helene endlich auch zu dem Besuch bei Frau -Harriers-Wippern auf. Immer wieder hatte sie ihn hinausgeschoben. Nun -drängten Vaters Briefe; es drängte auch das eigene Gewissen. Denn sie -wußte, Mitte Juni ging die Sängerin meist in die Ferien.</p> - -<p>Das Herz klopfte ihr doch, als sie die teppichbelegten Stufen zur -Wohnung hinaufstieg und die Klingel zog. Sie fühlte sich schuldbewußt -der gütigen Meisterin, schuldbewußt auch ihrer eigenen Kunst gegenüber. -Die Worte klangen in ihr auf, die die Lehrerin nach der ersten Prüfung -gesprochen hatte: von der Heiligkeit der Gabe, die ihr verliehen, und -wie man sie hegen und pflegen müsse. Sie aber kam ja eigentlich auch -jetzt nicht, um sich in ganzer Hingebung wieder der Kunst zu widmen. -Fast gezwungen kam sie, unlustig, wie sie in all diesen Wochen gewesen -war.</p> - -<p>Sie mußte ein wenig warten. Es war alles wie früher. Unter den großen -Blattgewächsen saß sie im Salon, die wohlbekannten Bilder blickten von -den Wänden auf sie herab. Aus dem Zimmer nebenan klangen halblaute -Worte, dann einzelne Töne, eine Halbkadenz, ein paar Anschläge auf dem -Flügel. Wie sie das alles kannte!<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> Frau Harriers sang mit halblauter -Stimme. Glockenhell aber. Nun die Schülerin. Hilf Himmel — meine arme -Lehrerin! Solch eine Stümperei! Wie gequält, wie mühsam — schlecht, -einfach schlecht. Was sollte das sein? Heiliger Mozart, wie man sich -so an dir versündigen kann! Wenn das unser alter, guter Kantor hören -müßte —</p> - -<p>Seit Wochen, seit zwei Monaten hatte Helene nicht gesungen, keine Musik -gehört. Nun, ganz plötzlich, regte es sich wieder in ihr. Waren es -Erinnerungen, war’s die Atmosphäre dieses Hauses, waren es die Töne, -die, gedämpft durch Tür und Vorhang, zu ihr drangen? Das Blut wallte. -Sie sprang auf, hastete ein paar Male durch das Zimmer, blieb wieder -stehen, horchte, lauschte.</p> - -<p>Dann ging die Tür. Ein schmächtiges junges Ding, elegant, im lichten -Sommerkleid mit ungeheuerlichen Pagodeärmeln, huschte vorüber. Aber -gleich hinter ihr trat Frau Harriers-Wippern in den Salon. Blieb an der -Schwelle stehen, schlug die Hände zusammen: „Fräulein von Hackentin!“ -— kam dann auf Helene zu, faßte sie um den Gürtel: „Sind Sie’s, oder -ist’s Ihr Geist?“ — lachte ihr altes, helles Lachen: „Nein, ich -fühl’s, sie ist es selber, die Ungetreue, Ungetreueste! Die einzige -Ungetreue, der ich je nachtrauerte! Helene Hackentin! Wie ich mich -freue! Wie ich mich freue!“</p> - -<p>Es stand ihr auf dem schönen Gesicht geschrieben, daß sie sich wirklich -freute. Das war nicht mehr die ernste, gemessene Lehrerin, als die -Helene sie kannte; fast übermütig war sie: „Da muß man sich nun mit -solch einer Demoiselle Stern quälen, die keine Stimme hat, kein Talent, -nicht einmal Gehör, nichts, nichts, als einen reichen Vater, muß sich -quälen und ärgern und läßt eine Helene Hackentin warten! Warum haben -Sie’s mich nicht wissen lassen, daß Sie’s sind — hinausgeworfen hätt’ -ich das Modepüppchen aus dem Tempel! Aber nun lassen Sie sich mal -ordentlich anschauen —“</p> - -<p>Dann wurde sie doch ernst, las wohl in Helenens Zügen das Leid. Sie -schob die Hand vertraulich unter ihren<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> Arm: „Kommen Sie fort aus -dieser kalten Pracht. Ich hab hinten, nach den Gärten hinaus, ein -Privatzimmerchen, in dem wir gemütlicher plaudern können.“</p> - -<p>So saßen sie denn in dem kleinen Raum, in den die grünen Baumwipfel -hineinwinkten und durch dessen weitgeöffnetes Fenster die laue -Sommerluft wehte. Saßen nebeneinander auf der winzigen Couchette wie -zwei gute Freundinnen. Doch das Plaudern wollte nicht recht gelingen. -Luise Harriers mochte nicht fragen, und Helene Hackentin waren die -Lippen geschlossen. Auch in ihr war herzliche Freude über den Empfang. -Aber sie konnte doch nicht sprechen über das, was sie erlebt hatte, -von dem sie zu niemand gesprochen hatte, außer in den Stunden ihrer -größten Herzensangst zu Martha. Nur Harros Tod berührte sie kurz. Und -dann war da noch etwas, was ihr die Lippen schloß. Frau Harriers hatte -gleich anfangs gesagt, leichthin: „Sie waren ja wohl mit Alfred Schwarz -bekannt? Wissen Sie, daß er sich im Winter mit der Theresa Carena -verheiratet hat?“</p> - -<p>Es schmerzte ja nicht —</p> - -<p>Schmerzte es wirklich nicht? Ein dumpfes Wehgefühl hob es aus, eine -jähe Leere, als ob das Blut stockte im Kreislauf, auf einen Augenblick -im Herzen stehen blieb, nicht mehr zum Gehirn emporsteigen wollte. Auf -einen Augenblick nur. Dann konnte Helene ruhig entgegnen: „Ich wußte -nichts davon.“</p> - -<p>„Er war wieder in Petersburg. Wie ich neulich hörte, soll er jetzt in -Paris leben. Er ist ja immer einer von den unsteten Kollegen gewesen, -die nirgendwo festen Fuß fassen können oder wollen.“</p> - -<p>Helene saß still, mit geneigtem Kopf. Sie mußte doch nachsinnen: ja, -ein Unsteter, der nirgend festen Fuß fassen kann. Auch nicht will. -Therese Carena? Noch nie hatte sie den Namen gehört. Fragen mochte sie -nicht. Es war ja auch gleichgültig. Nur — nur — ob er wohl glücklich -war?</p> - -<p>Die Unterhaltung versiegte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p> - -<p>Bis dann Frau Harriers, frisch zugreifend, fragte: „Aber Sie, Fräulein -von Hackentin? Ich kann doch nicht länger damit hinter dem Berge -halten: was macht die Kunst?“</p> - -<p>Da raffte sich Helene auf.</p> - -<p>Stockend, ein wenig verlegen begann sie. Mit der kleinen Münze der -Erklärungen, Entschuldigungen, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte.</p> - -<p>„War denn alles still in Ihnen? Ich kann’s nicht glauben. Wem ein Gott -Gaben lieh, wie Ihnen, dem ist Musik ja der Wundertröster in der Not, -die helle Sonne im Glück.“</p> - -<p>„Sie war mir beides, Sonne und Trost. Dann ist eine Zeit gekommen, in -der nichts mehr in mir klang.“</p> - -<p>„Das sind Unglücksstunden, armes Kind, über die der Wille hinwegtragen -muß. Wer hätte solche Stunden, Tage, Wochen nicht? Ich kenne sie auch. -Doch dann modle ich mir den Goethevers auf meine Art um. ‚Gebt ihr euch -einmal für Poeten, so kommandiert die Poesie!‘ Das heißt — ich singe. -Ich singe mich frei. Aber nun lassen Sie einmal hören, was haben Sie -getrieben, was haben Sie studiert, ehe diese bösen Stunden kamen.“</p> - -<p>Da berichtete denn Helene. Zagend erst, lebhafter dann. Das Wachwerden, -das vorhin im Salon über sie gekommen war, ganz jäh und unerwartet, -kam ihr in den Sinn. Sie erzählte von ihrem vergeblichen Gang ins -Kantorhaus, wie der alte Flehr über die Elsa-Partie den grauen Kopf -geschüttelt hatte. Frau Harriers fand das entzückend: der Kantor, -die lange Pfeife im Munde, auf seinem Spinett sich abmühend über die -Wagnerschen Noten, zu Zerlinens Lied übergehend, die blauen Augen -verzückt gen Himmel gerichtet: „Das ist doch noch Musik!“</p> - -<p>„Den Braven möcht ich kennen lernen. Aber Ihnen möchte ich helfen, -Fräulein Helene! Doppelt helfen — Sie verstehen mich schon. Ich bleibe -zum Glück noch ein paar Wochen hier und hab wenig zu tun. Von morgen an -kommen Sie zu mir. Wir studieren die Elsa. Hier meine Hand — schlagen -Sie ein!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p> - -<p>Vielleicht war es zuerst ein wenig Zwang. Blieb noch eine Weile -Selbstzucht. Aber dann wachte die Freude wieder auf in dem starken -Streben, im Ringen und im Gelingen. Denn es war ein Ringen und es war -ein Gelingen an der neuen großen Aufgabe. Langsam nur, aber stetig -ging es bergauf. Eins kam zum andern. Zu den Stunden bei Frau Harriers -kam italienischer Unterricht bei Signora Marchesi, der kleinen, -quirligen Toskanerin, die für die neue Freiheit ihres Vaterlandes -schwärmte und die Namen Vittore Emanuele und Cavour in jeden dritten -Satz einzuflechten suchte; die die Österreicher so wundervoll haßte, -über den Heiligen Vater so köstlich lächelte, die Priester ihrer Kirche -ironisierte, aber jeden Morgen zur Messe nach der Hedwigskirche ging.</p> - -<p>Tötend langsam waren die ersten Wochen in Berlin hingeflossen, nun -flogen die Tage.</p> - -<p>Ein herrlicher Frühsommer war es, fruchtbar und reich. Vater schrieb -immer wieder, wie prächtig die Ernteaussichten, „das heißt, mehr Regen -könnten wir brauchen. Für unseren märkischen Sand ist bis Johanni jeder -Regenschauer ein Säckchen Dukaten wert.“ Wenn solch ein Brief, meist an -sie gerichtet, kam, so faßte Martha immer die Sehnsucht nach Rohlbeck, -nach grüner Wiese, nach duftendem Flieder, nach einem Kirschbaum im -Blütenschnee. Ganz plötzlich sagte sie dann bei Tisch: „Jungens, wann -kommt ihr heut aus der Schule zurück? Um halb fünf. Gut — wir müssen -ins Freie. Du auch, Lene.“ Und sie packte ein Körbchen mit Butterbroten -und zog mit ihnen hinaus, die Bellealliancestraße hinauf zum Kreuzberg, -und lagerte sich mit ihrer Schar irgendwo in der kleinen Wildnis um das -ragende Denkmal; oder es ging noch weiter hinaus auf der Chaussee, quer -über den riesigen, sonnigen Exerzierplatz bis nach Tempelhof, in den -schattigen Garten von Kreideweiß. Manchmal, selten, hatte auch Wilhelm -ein Gelüste nach etwas Familiensimpelei. Dann schlug er aber eine -etwas höhere Nüance an. Er lud die Seinen — „Jungens, wascht euch die -Pfoten!“ — zu Kaffee und<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> Stippe bei Mielenz an der Potsdamer Brücke -ein, wo der elegante Spießer auf schön getürmten Terrassen saß, oder -führte sie gar am Abend nach dem „Albrechtshof“ oder nach „Moritzhof“ -am Tiergarten. Das war ein besonderer Jubeltag für die Söhne. Denn -erstens bekam jeder ein richtiges Seidel bayerisches Bier und eine -Schinkenstulle, und dann konzertierte der alte Generalmusikdirektor -Wiepprecht dort. Am Schluß stieg der jedesmal auf einen Tisch und -dirigierte ein grandioses Schlachtenfurioso mit großem Trommel- -und Paukengetöse. Die Jungens und auch Martha fanden das über alle -Beschreibung schön. Helene freilich hielt sich lachend die Ohren zu.</p> - -<p>Einmal, im Juni, kam Bruder Fritz angereist und logierte bei Wilhelms. -Der „rote Kreisrichter“ war ein wenig bedrückt. Der Zwist mit dem -Vater lag ihm auf dem guten Herzen, er fühlte sich auch mehr und mehr -isoliert in Stellberg, und dann hatte er dienstlich Unannehmlichkeiten. -Der neue Justizminister Graf Lippe zog schärfere Saiten gegen die -fortschrittlich gesinnten Beamten auf. Es gab gleich am ersten -Vormittag eine lange Beratung zwischen den Brüdern, ohne daß viel dabei -herauskam. Denn Wilhelm sprach als ein Mann der Kompromisse emsig -zum Guten, fürchtete auch persönlich Unbequemlichkeiten für seine -geschäftlichen Beziehungen. Fritz aber redete sich schnell wieder in -seine „Überzeugungstreue“ hinein, wollte lieber gemaßregelt sein, als -nachgeben. Schließlich brach in beiden die Hackentinsche Art durch, sie -lagen sich, nach scharfen Worten, versöhnt in den Armen und schwatzten -davon, wie man sich am besten in Berlin amüsieren könnte.</p> - -<p>„Ohne daß es viel kostet —“ meinte der Stellberger, aber Wilhelm -erklärte: „Ach was! Man sieht sich so selten. Ich lade dich zu Hiller -ein. Die Weiber kommen auch mit. Und am Abend gehen wir zu Kroll. -Martha, Lene — macht euch so schön, als es möglich ist. Ehre wollen -wir mit euch einlegen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span></p> - -<p>Er konnte zufrieden sein, und er schmunzelte auch, als der kleine -Karl Hiller, der frühere Oberkellner von Ewest, der erst vor kurzem -das eigene Geschäft Unter den Linden eröffnet hatte, ihn zu dem -reservierten Tisch geführt hatte: Martha und Helene sahen vorzüglich -aus. Martha in ihrer schlichten Frauenhaftigkeit, die Schwester -rassig, eigenartig — „Donnerwetter, Mädel, als ob du alles Lackzeug -frisch gestrichen hättest.“ Rosigster Stimmung war er: er hatte gleich -gemerkt, wie sich in dem trotz des Sommers überfüllten Lokal, das rasch -in Mode gekommen war, alle Augen auf die schönen Frauenerscheinungen -richteten. Auch mit den Toiletten war er zufrieden: etwas übertrieben -einfach, aber sie kamen mit, die beiden. Wirklich, sie kamen mit, fand -er. Besonders Helene in ihrem Batistkleidchen mit der rosa Tunika über -dem Rock. Zum Erstaunen! Das Mädel wußte aus nichts etwas zu machen. -Und dann ihr wundervolles Haar, vorn in leichten Wellen gescheitelt, im -Nacken der neumodische Chignon, der die rostbraune Flut kaum bändigen -konnte.</p> - -<p>Rosigster Stimmung war er. An jedem dritten Tisch im Saal hatte er -Bekannte, grüßte, nickte, winkte, nannte für die Seinen die Namen: -„Da der Prinz von Schwarzburg! ... Graf Dönhoff ... drüben der große -Theateragent Röder mit seiner schönen Tochter Mila ... in der Ecke -sitzt Strousberg ... siehst du ihn, den kleinen Juden ... und da sitzt -der Oberstleutnant Prinz Hohenlohe, Flügeladjutant des Königs ... -Du, Martha, da kannst du auch die göttliche Anna Schramm sehen mit -dem Rittmeister von Brescius ... und am Nebentisch der schmächtige -Zietenhusar, das ist Graf Haeseler ...“</p> - -<p>Er grüßte, winkte, bestellte seine Lieblingsmarke, Ruinart, spöttelte -mit dem Bruder, der ein wenig steifleinen zwischen Schwester und -Schwägerin saß, aß wie ein Gourmet, schlürfte den Champagner mit -Kennermiene: „Aber die nächste Bouteille, mein lieber Hiller, etwas -kälter.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span></p> - -<p>Helene war zuerst ein wenig befangen. Dann taute auch sie auf, -plauderte drauflos, neckte Martha, die, wie sie behauptete, neuerdings -eine kleine Passion für die Berliner Weiße hätte und die Berliner -Schrippe und frische Blut- und Leberwurst; die überhaupt auf dem besten -Wege wäre, richtig zu verberlinern. Dann saß sie wieder ein Weilchen -stumm, dachte reuig: ‚Was bist du doch für ein Weltkind!‘ trank hastig -ein Spitzglas Champagner, lachte sich über die veränderte Stimmung -fort: ‚Gott, man ist doch nur einmal jung!‘ — fühlte, wie diese -Atmosphäre von Luxus und Wohlleben ihr wohltat, diese Spiegelwände, -die weichen, roten Teppiche, der glänzend weiße Damast, die -Kristallschalen, das diskrete Plaudern und Lachen, der leise, leichte -Duft von Parfüm, Speisen, Zigarrenrauch.</p> - -<p>Plötzlich rief Wilhelm: „Merivaux ... suchen Sie einen Platz? Kommen -Sie hierher. Wir rücken ein wenig zusammen.“</p> - -<p>Da erst sah Helene den Gardeschützen, der mitten im Saal stand, mit dem -Oberkellner unterhandelte. Jetzt stutzte er, zögerte einen Augenblick, -trat dann an den Tisch heran. „<span class="antiqua">Bonjour, mes dames et messieurs!</span> -Sehr freundlich, Herr von ’ackentin. Wenn Sie erlauben —“</p> - -<p>Er sprach noch immer mit leichtem Akzent, kämpfte noch immer ein -wenig mit dem H, mischte noch immer dann und wann einen französischen -Brocken ein. Aber zugelernt hatte er entschieden „in die swere Sprack“ -während der zwei Jahre. Wahrhaftig, länger als zwei Jahre hatte Helene -den Neuchateller nicht gesehen! Und indem sie das mit leisem Staunen -konstatierte, glitt durch ihre Erinnerung doch auch jener Spaziergang, -im Rackower Park, die Begegnung mit Alfred Schwarz, ihr Gesang im Salon -von Tante Marie —</p> - -<p>Merivaux widmete sich zuerst fast ausschließlich Martha, sprach mit -den Herren, erzählte, daß er im Winter vierundsechzig — „da wir -ja leider nicht mobil wurden“ — auf einige Wochen in der Heimat -gewesen wäre: „Schlechte Zeiten für meine Eltern, für unseren ganzen -Adel.“ Die<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Demokraten obenauf, die Royalisten ganz, ganz unten; und -allmählich werde auch so mancher von den Guten untreu. Im Vaterhause -aber erhebe der alte Herr immer noch sein Glas, gefüllt mit blutrotem -Cortaillard: „<span class="antiqua">Vive le roi!</span>“ Und am 22. März hätte auch diesmal -die schwarzweiße Hohenzollernfahne über Schloß Merivaux geflattert.</p> - -<p>Helene hörte gerne zu, wie er so sprach. Ein romantischer Zug klang -daraus, der Widerklang in ihr fand. Dies treue Ausharren auf verlorenem -Posten, dieser trotzige Sinn der alten Royalisten im fernen Lande: das -war wirklich einmal etwas Eigenes in der Alltäglichkeit des Lebens. -Es lag fast greifbar deutlich vor ihr; das altersgraue Schloß mit -dem dräuenden Turm und der Zollernflagge, und tief unten der blaue -Neuchateller See, wie Merivaux ihn einst ihr geschildert, von grünen -Wiesenhalden umkränzt und blütenreichen Hängen, die schneebedeckten -Alpenhäupter im Hintergrunde.</p> - -<p>Einmal mußte sie unwillkürlich zu Merivaux hinübersehen. Und -da begegneten sich ihre Augen. Sie wunderte sich: es war etwas -Träumerisches in seinem Blick — etwas Fremdes — und doch wieder etwas -seltsam Vertrautes.</p> - -<p>Dann wandte er sich gleich an seinen Tischnachbar. Das Gespräch ging -weiter. Fritz konnte sich eine etwas unpassende Bemerkung nicht -versagen, daß Neuchatel doch eben nur seinen natürlichen Anschluß an -die anderen Schweizer Kantone gefunden hätte, wurde aber von Merivaux -ziemlich scharf zurückgewiesen. Dann, um weiterer Peinlichkeit zu -entgehen, fragte Wilhelm recht unvermittelt nach dem neuen Modell der -Jägerbüchse, das die Gardeschützen führten. Und Merivaux sang das Lob -der Zündnadel — „sie schösse töter als tot“. Er war zur Abnahme in -Sömmerda kommandiert gewesen und hatte den alten Dreyse kennen gelernt, -den der König kürzlich geadelt, der aber noch immer wie ein richtiger -Schlossermeister von Werkstatt zu Werkstatt ginge, um allenthalben -nach dem Rechten zu sehen. Wilhelm erzählte dagegen<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> wieder von dem -alten Krupp in Essen und den gezogenen Gußstahlgeschützen und was sich -die Herren von der Bombe davon versprächen. Wozu der rote Landrichter -gähnte. Eigentlich ärgerte sich Helene über Bruder Fritz: der hatte -doch auch einmal des Königs Rock getragen, und nun war ihm das -gleichgültig, was selbst sie und Martha interessierte: wie „da oben“ -bei Lundby die Zündnadel die erste Ernstprobe auf ihre Brauchbarkeit -abgelegt hätte.</p> - -<p>Endlich brach man auf. Merivaux ging mit hinaus zu Kroll.</p> - -<p>Es dämmerte schon leicht, und der Krollsche Garten glänzte in -seiner neuen feenhaften Beleuchtung durch Zehntausende von bunten -Gasflämmchen, die alle Rabatten und Bosketts umsäumten, überall -aus den grünen Büschen herausschimmerten, von hohen Kandelabern -herunterstrahlten. „Etwas Ähnliches gibt es nur noch in Paris, in den -Champs Elysées“, behauptete Wilhelm. „Aber was die Pariser nicht haben, -ist unser Engel.“ Dieser Engel stand vor seinem Orchester, ein kleines -altes Männchen mit kohlschwarzer Perücke, dirigierte ‚mit die Hände -und die Füß’‘ und hatte dabei noch Zeit, jede vorüberwandelnde hübsche -Frauengestalt mit verliebten Blicken zu verfolgen. An hübschen Frauen -aber fehlte es im Krollschen Etablissement nie. Und außer Herrn Engel, -fand Helene, gab es recht viele Herren hier, die unverschämte Augen -machten.</p> - -<p>Man promenierte langsam zwischen den Beeten auf und ab, die so -wunderlich von bunten Blechblumen, mit Gasflämmchen in den Kelchen, -eingefaßt waren. Und da schob sich Merivaux neben Helene.</p> - -<p>Er fragte nach ihrem Gesang, und sie gab ein wenig spitz zurück: „Ich -hätte gar nicht geglaubt, daß Sie dafür Interesse haben ...“</p> - -<p>„Dann irrten Sie, gnädiges Fräulein“, meinte er.</p> - -<p>Sie behielt noch immer ihren etwas ironischen Ton bei: „Also muß -ich mich bedanken, daß Sie sich so gütig für mein bißchen Kunst -interessieren?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p> - -<p>„O nein — warum bedanken?“ Er blieb ganz ruhig. „Aber ich darf gewiß -sagen, daß ich sehr, sehr oft daran dachte, wie schön Sie in Rackow -sangen. Ich ’ab es nicht vergessen: ‚... auf der Welle blinken — -tausend schwebende Sterne ...‘ Vielleicht glauben Sie es mir nicht: ich -liebe die Musik überhaupt sehr.“</p> - -<p>Es klang ihr so naiv, so furchtbar naiv. Sie mußte lächeln, und das sah -gewiß wieder ein wenig überlegen, ein wenig spöttisch aus.</p> - -<p>„Da haben wir’s! Sie lachen mich einfach aus.“</p> - -<p>„Aber, Herr von Merivaux ...“</p> - -<p>„Ich nehm es ja gar nicht übel. Wie soll ich? Ich weiß ja doch, Sie -können kaum anders, und, gewiß, es scheint vielleicht eine seltene -Sache, daß sich ein Offizier stark für Kunst, gerade für Musik -interessiert. Aber es kommt doch vor. <span class="antiqua">Par exemple</span>: wir haben -hier in Berlin einen Offizier-Musik-Verein, und ich spiele die zweite -Violine.“</p> - -<p>Sie machten gerade kehrt, fügten sich von neuem in die Reihen der -Promenierenden ein. Dabei konnte sie ihm unauffällig ins Gesicht sehen. -Ein wenig im Glauben, er habe den Spieß umgedreht und scherze nun -seinerseits. Aber er blickte ganz ernst. Es mußte doch wahr sein, was -er sagte.</p> - -<p>Und er sprach schon weiter: „Sie sind wieder Schülerin von Frau -Harriers-Wippern?“</p> - -<p>Da mußte sie doch erstaunt zurücksagen: „Woher wissen Sie das?“</p> - -<p>‚„<span class="antiqua">Mon Dieu</span> ... Berlin ist so klein. Ich verkehre bei Professor -Taubert, und zu den näheren Freunden des ’auses gehört auch Frau -Harriers. Sie sprach bisweilen von Ihnen, gnädiges Fräulein, und ’at -sehr geklagt, daß Sie gegangen sind auf und davon. Damals! Und weil sie -wußte, daß ich die Ehre ’ab, Sie zu kennen, erzählte sie mir neulich, -sehr froh, von Ihrem Wiederkommen.“</p> - -<p>„Aber davon ahnte ich ja gar nichts.“</p> - -<p>Er lachte. „Man kann doch nicht alles ahnen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span></p> - -<p>„Weshalb haben Sie mit mir in Rackow nie von Ihrer Liebe zur Musik -gesprochen?“ Fast vorwurfsvoll, ein wenig schmollend, sagte sie es.</p> - -<p>„Ja — weshalb nicht? Vielleicht ist mein Interesse erst später recht -erwacht.“ Merivaux ging einige Schritte schweigend weiter. „Vielleicht -sprach ich auch aus Trotz nicht. Ich weiß nicht recht.“</p> - -<p>„Das verstehe ich nicht.“</p> - -<p>„Vielleicht ... nun, vielleicht wollte der Dilettant die Konkurrenz mit -dem ... wie sagt man doch — mit dem Mann von Beruf nicht aufnehmen.“</p> - -<p>Er hatte das letzte zögernd gesprochen, fast wie widerwillig. Und es -schien ihm sofort leid zu tun. Denn er sah wohl, wie Helene Hackentin -ablehnend den Nacken straffte, daß sie starr geradeaus blickte und -ihren Schritt beschleunigte.</p> - -<p>Sie ärgerte sich. Eigentlich traf’s ja doch den Kern der Sache, war’s -ganz richtig, was Merivaux eben gesagt hatte: der Dilettant tritt immer -vor dem Berufskünstler zurück.</p> - -<p>Nun war er wieder an ihrer Seite.</p> - -<p>„Was studieren Sie jetzt mit Frau Harriers, wenn ich fragen darf?“</p> - -<p>Noch immer konnte sie sich nicht ganz überwinden. Ganz kurz gab sie -zurück: „Die Partie der Elsa ...“</p> - -<p>„Eine schöne ... eine sehr schwere Aufgabe. Schwer wie fast alles von -diesem Maestro Wagner. Man muß sich ganz in ihn hineinleben, wenn man -ihn recht verstehen will. Ich ’ab es versucht, aber es will nicht ganz -glücken. Vielleicht muß man ganz ein Deutscher sein dazu?“</p> - -<p>„Warum das, Herr von Merivaux? Die Musik, die Kunst überhaupt ist doch -wohl international?“</p> - -<p>„O nein! Nein doch, gnädiges Fräulein. Das sagt man wohl so, das ist -aber nicht wahr. Man empfindet wohl nach, aber man empfindet nicht -ganz. Es gibt Differenzen. Man kann Mozart überall verstehen und kann<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> -Auber überall verstehen. Aber Wagner nicht. Oder doch nicht gleich. -Gerade weil er so ganz deutsch ist.“</p> - -<p>„Aber Wagner hat doch auch in Paris viele Bewunderer.“</p> - -<p>„Wenige, glaub ich. Man wollte ihn in Mode bringen, aber es ist nicht -geglückt, trotz der Fürstin Metternich. Sie sollten nur sehen, wie sich -die Karikatur über ihn lustig macht. Gavarni und Cham und Noël. Wie man -spottet ...“</p> - -<p>„Das ist sehr häßlich.“</p> - -<p>„<span class="antiqua">Sans doute.</span> Aber der Pariser liebt das so. Und das ’indert -nicht, daß Wagner sich vielleicht doch Bahn machen wird, langsam, -langsam —“</p> - -<p>Da waren sie wieder am Ende der Promenade angelangt, und Wilhelm -unterbrach ihr Gespräch. Er hatte einen freien Tisch unter einer der -Hallen erspäht und behauptete, einen unendlichen Durst zu haben.</p> - -<p>Man kam sehr spät nach Hause. Weit nach Mitternacht. Aber Helene lag -noch lange, ohne Schlaf finden zu können. Eigentlich klang immer nur -das eine Wort, das Merivaux gesprochen, in ihr nach, das Wort von dem -Dilettanten und dem „Mann des Berufs“ — dem Künstler, hätte er sagen -sollen. Ja, dem Künstler! Die Gestalt Alfreds stieg wieder auf, aber es -war nur noch ein Schatten. Nur daß sie daran dachte: merkwürdig, daß er -in all den Stunden, die wir zusammen waren, fast nie ernst über seine, -über unsere Kunst gesprochen hat. Immer glitt er darüber hin, berührte -höchstens das Persönliche, soweit es ihn und vielleicht noch mich -anging ... nie gab er mehr ...</p> - -<p>Es war ja auch nichts Tiefgründiges, was sie mit Merivaux gesprochen -hatte. Gewiß nicht. Aber es war ihr so überraschend gekommen, weil sie -den Neuchateller so ganz anders eingeschätzt hatte, lediglich als den -lustigen, flotten Leutnant. Wie man sich doch im Menschen irren kann, -dachte sie. Und dachte auch flüchtig an Holfen. Auch bei ihm hatte sie -Interessen gefunden, die sie nicht erwartete. Aber es war doch wieder -ein Unterschied dabei: Holfen war gewiß ein gescheiter, liebenswürdiger -Mann,<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> aber er hatte kein Temperament. Und bei Merivaux verriet -sich das überall und immer. Merkwürdig, auch in Äußerlichkeiten. Er -war anders als die meisten. Wie eigen er ihr beim Abschied die Hand -gedrückt hatte, so gar nicht konventionell. Sehr frei und frank, und -doch sehr ehrerbietig.</p> - -<p>Am nächsten Morgen dachte sie nicht mehr an ihn. —</p> - -<p>Eine Woche später begannen für die Jungens die Großen Ferien, und es -ging nach Rohlbeck; nur Wilhelm blieb, mit einem lachenden und einem -weinenden Auge, zurück.</p> - -<p>Und wieder eine Woche später fuhr Helene, einer dringenden Einladung -von Tante Marie folgend, auf einige Tage nach Rackow.</p> - -<p>Als sie, in ziemlich früher Vormittagsstunde, durch das Parktor bog, -sah sie dicht vor ihrem Wagen, fast schon an der Veranda, einen im -ganzen Kreise wohlbekannten und gefürchteten Mann: Herrn Wilke aus -Stellberg. Sie hatte zwar seine persönliche Bekanntschaft noch nicht -gemacht, aber ihn doch schon, auch in Rohlbeck, gesehen, wenn er bei -einem der Kleinbauern oder bei dem Krämer sich als unwillkommenster -aller Gäste einfand. Und sie dachte verwundert: ‚Mann des Gesetzes, wie -kommst du hierher?‘</p> - -<p>Aber da stand schon Onkel Ernst, vergnügt lachend, neben seinem -diskret grinsenden Höhne auf der Veranda und begrüßte sie beide fast -gleichzeitig: „Tag, Leneken! Herzlich willkommen. Nimm die Sachen vom -gnädigen Fräulein, Höhne. Tante ist im Gartensalon, Kind ... Ja, und da -sind Sie ja mal wieder, lieber Wilke. Freut mich, Sie von Angesicht zu -Angesicht zu sehen. Aber Sie sollen doch nicht mit der Dienstmütze auf -den Hof kommen! Das macht einen schlechten Eindruck, mein Lieber.“</p> - -<p>Der lange Labammel stand militärisch stramm: „Vorschrift, Herr Baron.“</p> - -<p>„Ach was, Vorschrift! Na, spazieren Sie nur herauf. Was gibt es denn -Schönes?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span></p> - -<p>„Sechstausend vierhundert Taler, Herrn Baron zu dienen, und einhundert -achtundsechzig Taler fünf Groschen Kosten.“</p> - -<p>„I, sieh mal einer an. Ja, wissen Sie, Wilke, da gehen Sie nur morgen -mit der Chose zu Ephraim Herz. Der wird’s bezahlen.“</p> - -<p>„Unmöglich, Herr Baron. Wie der Lateiner sagt: <span class="antiqua">Hinc Rhodus, hinc -saltus!</span>“</p> - -<p>„Ihr Latein ist schwach, Wilke. So, nun setzen Sie sich erst mal. -Höllisch heiß heut. Was? Erst ’ne kleine Stärkung. Höhne, besorgen -Sie ein Frühstück und eine Flasche Burgunder. Unser Herr Wilke ist -ein Kenner. Bringen Sie aber auch einen guten Korn mit herauf. Na, so -setzen Sie sich doch, Wilke.“</p> - -<p>Der lange Mann stand noch immer, hatte das rote Schnupftuch -herausgezogen, wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und von -der großen roten Nase, die es mit der berühmten Koralle des Doktor -Tiburtius aufnehmen konnte. Er zögerte sichtlich. „Gnädigster Herr -Baron,“ meinte er, „so geht das nicht. Erst der Dienst. <span class="antiqua">Officinum -ante omnia.</span> Ja, Herr Baron, das vom vorigen Male — das passiert -mir nicht wieder. Da können der Herr Baron Gift drauf nehmen.“</p> - -<p>„Aber wo werd ich denn, Wilke. So, hier setzen Sie sich, alter Freund -und Bogenschütze, und heben Sie erst einen Kleinen. Alles der Reihe -nach.“</p> - -<p>Helene hatte das wunderliche Gespräch, etwas neugierig, etwas -ängstlich, aus dem halbdunklen kühlen Korridor mit angehört. Dann war -sie zu Tante Marie geflitzt, die in einem hellblauen Batistkleide, das -über und über mit weißen Spitzen besäumt war, im Gartensalon auf der -Chaiselongue lag und in dem neuen Roman von Fanny Lewald blätterte; -hatte Grüße von den Eltern gebracht, war auf ihrem Stübchen, diesmal -der „Bärenhöhle“, gewesen, hatte sich ein wenig eingerichtet. Als -sie wieder herunterkam und auf die Veranda hinauslugte, saß da immer -noch Onkel Ernst, und ihm gegenüber saß Herr Wilke; zwischen ihnen -standen die Reste eines stattlichen<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> Frühstücks und einige dickbäuchige -Flaschen. Onkel Ernsts Vollmond glänzte eitel Wonne, und Wilkes Nase -glänzte in dem alten Unteroffiziersgesicht wie Purpur.</p> - -<p>„Ja, ja, mein lieber alter Wilke, man hat seine Not“, klang Onkel -Ernsts sanfte, einschmeichelnde Stimme. „Aber man muß sich die Laune -nicht verderben lassen. Erst noch ein Schlückchen Burgunder. Das ist -1848er Romané, mein Bester, so was kriegen Sie nicht alle Tage. He?“</p> - -<p>„Hab ich mein Leblang noch nicht getrunken, Herr Baron. <span class="antiqua">Nullum vinum -nisit franciscum.</span> Aber man soll des Guten nicht zu viel tun. Der -Dienst, gnädigster Herr Baron —“ Er knöpfte an seinem Rock und zerrte -eine dicke Brieftasche heraus. „Sechstausend vierhundert —“</p> - -<p>„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst noch ein -Gläschen. Prosit! — Ach, da bist du ja, Leneken. Komm, setz dich ein -bissel zu uns. Wilke, Sie kennen doch das Rohlbecker gnädige Fräulein?“</p> - -<p>„Wo werd ich denn nich?“ Herr Wilke erhob sich etwas schwer und -umständlich, schwenkte ein weniges mit dem langen Oberkörper. „Ich war -schon mal beim gnädigen Herrn in Rohlbeck, als das gnädige Fräulein -noch in die Windeln lagen, mit Respektus zu melden.“</p> - -<p>„Ja, Ihr segensreiches Wirken, mein lieber Wilke, geht durch -Generationen. Wir wissen es. Immer im Dienst voran. Immer die Pflicht -über alles. Der Mensch braucht Stärkung, um für Dienst und Pflicht die -rechte Kraft zu finden. Prost, mein lieber alter Wilke.“</p> - -<p>„Danke, Herr Baron, danke untertänigst. Ein wunderbares Weinchen, das -der Herr Baron im Kellerchen haben. Ist ja auch berühmt, der Rackower -Keller. Aber nu müssen wir doch wohl —“</p> - -<p>„Nachher, lieber Wilke. Alles zu seiner Zeit. Erst das Vergnügen und -dann die Pflicht. Ja, alter Wilke, wie lange kennen wir uns eigentlich? -Aber so trinken Sie doch. Das ist ja geradezu beleidigend, Sie so -sitzen zu sehen, so trocken.“</p> - -<p>„Na, gnädigster Herr Baron, das wird woll sohner Jahre<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> zwanzig her -sein. Vor dem Einzug von der gnädigsten Frau. Damals liefen immer die -Wechsel von Hartwich Stern aus Frankfurt!“</p> - -<p>„Sieh mal einer an, was Sie für ein Gedächtnis haben. Den wackeren -Geschäftsfreund deckt nun auch schon die kühle Erde. Aber wir beide -wollen auf sein Gedächtnis mal gleich ein stilles Glas trinken.“</p> - -<p>Helene Hackentin saß an der Querseite des Tisches und wußte nicht -recht, ob sie sich schämen oder ob sie lachen sollte. Doch wohl lieber -lachen. Um etwas Wichtiges konnte es sich ja nicht handeln. Onkel Ernst -lachte ja auch sein ganz leises, fast unhörbares Lachen, bei dem sich -die beiden Mundwinkel so seltsam nach unten zogen. Dann und wann sah -er unter seinem Einglas, das wie angemauert vor dem Auge lag, „um die -Ecke“ und nickte Lene zu.</p> - -<p>Sicher: das Ganze war ein Witz. Sonst wäre Tante Marie ja auch nicht -so ruhig gewesen. Sie hatte vorhin sogar zu Höhne gesagt: „Sorgt nur -dafür, daß der alte Wilke sein ordentliches Maß bekommt.“</p> - -<p>Und jetzt gab Onkel Ernst dem Höhne ein geheimnisvolles Zeichen. -Der stellte neue Gläser und eine Flasche Champagner auf den Tisch. -Worauf Herr Wilke die Hände spreizte: „<span class="antiqua">Apage Satanum!</span> Nee, Herr -Baron, das geht wirklich nicht. Über allem der Dienst. Sechstausend -vierhundert —“</p> - -<p>„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst werden wir -mal dieser Pulle nähertreten. Leneken, du trinkst auch ein Schlückchen -mit.“ Der Korken fuhr gegen das Verandadach. „Veuve Cliquot, braver -Wilke. Die edelste aller Witwen soll leben! Na, Witwe? Da haben Sie’s -anders gemacht — was? Seit wann sind Sie denn Witwer?“</p> - -<p>„Seit acht Jahren, Herrn Baron zu dienen.“</p> - -<p>„Also, das nächste stille Glas der teuren Verewigten. Schlimm, was? — -So als einsamer Witmann.“</p> - -<p>„Es geht, Herr Baron, es geht. Man muß sich trösten.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p> - -<p>„Da haben Sie ganz recht, guter Wilke. Und ein stattlicher Mann wie Sie -findet schon Trost. Darauf müssen Sie mal trinken.“</p> - -<p>Es wurde allmählich Helene zu bunt. Sie schlich sich fort, ging -hinunter zu den Beeten am See, wo Tante Marie vom Mai bis in den Herbst -hinein Erdbeeren zur Reife zu bringen wußte. Es gab da heut etwas -Besonderes zu sehen. Quer über die Senke hinweg steckten Arbeiter mit -langen Stangen eine schnurgerade Linie ab; drüben am Hang stand eine -kleine Gruppe Männer um ein dreibeiniges Gestell, das ein Etwas, fast -wie ein Fernrohr, trug. „Unse Isenbahn!“ erklärte der alte Gärtner mit -Stolz.</p> - -<p>Unsere Eisenbahn: Wilhelms Eisenbahn! In zwei Jahren mochte sich hier -ein hoher Damm über das Tal spannen, und die Lokomotive schnob pustend -und fauchend darüber hin, hinter ihr drein polterte und ratterte der -Zug, und eine endlose graue Rauchwolke zog sich bis drüben zum Waldsaum -hin.</p> - -<p>„Da wer’n se noch ihre liebe Not mit han“, meinte Marhenke, der -Gärtner. „Des is allens Sumpf, man bloß ’n bißken Sand druf. Wenn sie -hier Boden ruff karrn, schlingt der Sumpf allens runter. Das geiht so -nich, wie se sich dat denken. Dat weeß ich beter.“</p> - -<p>Helene lächelte. Sie wußte es erst recht besser: der Ingenieur fand -schon Abhilfe. Und wenn der Sumpf wirklich den einen Damm fraß, dann -türmte man den zweiten auf ihn; und wenn der unersättliche Grund -auch den verschlang, legte die Technik den dritten von Hang zu Hang -oder warf eine Eisenbrücke über die Senke. Die Eisenbahn war der -Fortschritt, und der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten.</p> - -<p>Langsam schlenderte sie zwischen den schmalen Beeten des Gemüsegartens -hin. Ihr kam Bruder Fritz, der rote Kreisrichter, in den Sinn. Da -hatte sie ja eben dessen Schlagwort nachgebetet: Der Fortschritt läßt -sich nicht aufhalten. Du lieber Gott, war das nicht am Ende auch nur -ein<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> <em class="gesperrt">Wort</em>? Solch ein Wort, das nur den Weg in ödes Land wies, -wenn man es verallgemeinerte. Ein an sich gutes Wort, das zur Phrase -geworden war in einem unfruchtbaren Kampf.</p> - -<p>Der Bruder tat ihr leid, und Vater erst recht. Zwischen beiden hatte -das eine Wort Zwietracht gesät. Da half kein Brückenschlagen. Der große -Sumpf, Politik geheißen, verschlang jeden Versuch der Verständigung. -Als Martha, die immer versöhnen wollte, gestern von Fritzens Besuch -in Berlin erzählte, hatte Vater bloß gesagt: „Laßt mich mit dem roten -Kreisrichter zufrieden. Das heißt, die Stunde wird ja wohl noch kommen, -wo er sein Unrecht einsieht.“</p> - -<p>Die Sonne stand hoch am Himmel. Es mußte fast Mittag sein. Nun hatte -wohl auch endlich der lange Wilke das Feld geräumt.</p> - -<p>Aber als Helene wieder vor der Veranda stand, saß der gestrenge Beamte, -der Schrecken dreier Städtchen und von zehn Dörfern, immer noch auf -seinem Stuhl. Saß freilich ganz in sich zusammengesunken, mit vornüber -geneigtem roten Kopf, aber immer noch die Hand am Glase.</p> - -<p>„Prosit, Wilkechen!“ sagte Onkel Ernst gerade. „Nun noch ein -Schlückchen auf die Konstitution. Ich meine natürlich Ihre -vortreffliche Konstitution!“</p> - -<p>„Jawoll ... Herr Baron ... die Konstitution ...“ Es war nur noch ein -Lallen. „Sechstausend vierhundert ...“</p> - -<p>„Legen Sie’s nur dahin, Wilke“, meinte Onkel Ernst. „So, Leneken, nun -könntest du eigentlich mal zum Großknecht laufen, der Ochsenwagen -soll kommen.“ Dabei sah er prüfend unter dem Einglas um die Ecke, -diesmal auf Herrn Exekutor Wilke, und lächelte zufrieden. Der hatte -jetzt die Augen geschlossen und schnarchte wie das Vollgatter einer -Schneidemühle, wenn die Sägen solch recht dicken Knorren im Stamm -anfassen.</p> - -<p>Dann kam der Leiterwagen, mit zwei Ochsen bespannt. Der Amtmann -Schmidhals schritt höchstselbst daneben her<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> und half den Schlafenden -aufladen. Wie ein Toter lag er da. Onkel Ernst legte ihm die Mütze und -das dicke Taschenbuch auf den Bauch und faltete ihm die Hände darüber, -schob ihm auch noch den Kopf recht bequem auf dem Strohbündel zurecht.</p> - -<p>„So —“ meinte er dann. „Christian, du fährst hübsch langsam nach -Stellberg und ladst Wilken vor seinem Hause ab. Und sagst dem ältesten -Jungen, der Vater sollte morgen zu Ephraim Herz gehen, der brächte -alles in Ordnung. Pascholl, Christian!“</p> - -<p>Und da war plötzlich auch Tante Marie, besah sich von der Veranda aus -durch ihr Lorgnon das Schauspiel und lachte über das ganze kleine -Gamingesicht. „Eigentlich scheußlich“ sagte sie dabei, „<span class="antiqua">... un -ivrogne! Fi donc!</span>“ Und lachte wieder.</p> - -<p>Die Ochsen zogen an. Schwer rüttelte der Leiterwagen. Das Vollgatter -rasselte dazwischen.</p> - -<p>Onkel Ernst kam langsam die Treppe hinauf, legte zärtlich seinen -dicken Arm um die dünne Taille seiner Frau, die neben ihm wie ein -winziges, zierliches Püppchen aussah, und meinte: „Können wir nicht -bald essen, Mariechen? Das hat mir Hunger gemacht. Und einen Durst -habe ich — einen Durst! Komm, Leneken ... wir wollen uns ein kleines -Erdbeerböwlchen brauen ...“</p> - -<p>Am liebsten wäre Helene Hackentin schon am nächsten Tage nach Rohlbeck -zurückgefahren. Sie konnte einen leisen Ekel nicht überwinden. Das -elegante Rackow übte auch nicht mehr den früheren Reiz auf sie aus. -Jetzt, plötzlich, empfand sie, wie schal und inhaltlos doch das Leben -hier war, wie ganz auf das Äußere gestellt, ein Leben völlig in den Tag -hinein. Und zum erstenmal hatte sie einen Blick hinter die Kulissen -getan: der Glanz hier war auch nur Schein, mühsam genug vielleicht -aufrechterhalten.</p> - -<p>Ganz wunderliche Gedanken kamen ihr, ganz revolutionäre Gedanken. Da -waren die Rackower: jetzt wußte sie, schwer verschuldet waren sie, -hatten ihren Reichtum<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> vergeudet. Da saßen die Eltern in Rohlbeck: -die hatten immer sparsam gelebt und doch so schlecht gewirtschaftet, -daß sie nun arm waren wie die Kirchenmäuse, wenn man’s klipp und klar -heraussagen wollte. Nicht viel anders stand es wohl, mit Ausnahme -vielleicht von Onkel Grucker, der auf seinem schönen Majorat saß, mit -den anderen Verwandten und Nachbaren im Kreise.</p> - -<p>Hatte da Bruder Wilhelm nicht recht, wenn er hinausgegangen war von -der Klitsche in die Großstadt, um sich neue Erwerbsmöglichkeiten zu -erschließen?! Aber freilich: er hatte das Hackentinsche Blut mit -hinübergenommen. Auch er verstand das Zusammenhalten nicht. Das -Geld zerrann ihm unter den Händen. Gerade jetzt wieder. Eigentlich -trieb er’s mit seinem Gewinn aus der Bahnkonzession auch nicht viel -anders, wie es die Eltern getrieben hatten, als ihnen die letzte große -Erbschaft ins Haus gebracht worden war und sie die Geldtönnchen unters -Bett gestellt und aus ihnen geschöpft hatten, bis das letzte Goldstück -fort war.</p> - -<p>Das Hackentinsche Blut! Vielleicht, gewiß war’s nicht nur das -Hackentinsche. Ganz ähnlich, ganz gleich mochte das Blut in den Adern -der anderen Verwandten und Nachbaren rollen. Wer wirtschaftete denn -hier im Kreise wirklich erfolgreich? Die einen verschwendeten, die -andern darbten fast und kamen doch auf keinen grünen Zweig, zehrten -auch nur vom Ererbten und mehrten es nicht.</p> - -<p>Einer machte vielleicht eine Ausnahme: Holfen. Aber der gehörte eben -schon einer neuen Generation an.</p> - -<p>Lag bei dieser neuen Generation wohl die Zukunft?</p> - -<p>Helene mußte an die Jungens denken, an Wilhelms Söhne, Hans und Thedi. -Und dabei wieder an Martha. Vielleicht schlug in ihnen Marthas Blut -durch. Vielleicht erbten sie von ihr die Gabe des Festhaltens, den -gesunden, aufs Praktische gerichteten Sinn.</p> - -<p>Eigentlich waren ihr die Jungens fremd geblieben. Wie einem wohl oft -das Nächste am fremdsten bleibt. Als unartige Bengels, die oft lästig -wurden, hatte sie sie<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> meist empfunden. Nun grübelte sie ihnen nach. -Der Älteste hatte doch viel von der Mutter, einen nachdenklichen Sinn; -ein Bücherwurm war er. Thedi war äußerlich ganz hackentinsch, war auch -Vaters Liebling. Glänzend begabt, hieß es; es flog ihm alles zu, was -der Hans mühsam erobern mußte. Aber er hielt nichts recht fest. Um ihn -konnte man Sorge haben.</p> - -<p>Eine ordentliche Sehnsucht nach den Jungens überkam Helene, fast als -wäre sie seit Wochen von ihnen getrennt. Auch das zog sie wieder nach -Rohlbeck zurück.</p> - -<p>Aber aus Rackow kam man nicht so leicht fort. Onkel Ernst und Tante -Marie waren von einer Güte und Liebenswürdigkeit, der man gar nicht -widerstehen konnte. Mochten sie sonst sein wie sie wollten: sie übten -geradezu einen Zauber aus in ihrer grenzenlosen Gastlichkeit.</p> - -<p>Jetzt war auch das Haus wieder voll. Die kleine, mollig runde Grete -Waldegg wohnte im „Alpenröschen“; Vetter Mollard, der gerade von -Florenz zurückgekommen war, wo er zwei Jahre lang Attaché gespielt -hatte, war in der „Bleikammer“ einquartiert, und Merivaux, der sich -plötzlich angesagt hatte, war gestern abend in den „Pfau“ eingezogen. -In der „Nachtigall“ aber hauste Bernhard Rose, ein mittelloser junger -Student, der nun schon zum zweiten Male ein paar Sommermonate in Rackow -zubringen durfte, um sich ein wenig herauszufüttern. Helene kannte ihn -bereits. Im vorigen Sommer war er mit hohlen, blassen Wangen gekommen -und wesentlich erholt abgereist. Das war auch etwas, was immer wieder -mit Tante Marie versöhnte: ihre Gutherzigkeit war so grenzenlos wie -ihre Gastlichkeit — beide freilich gaben sich oft nach Laune und -fragten nicht viel nach wie und warum.</p> - -<p>Das junge Volk war sehr fidel, und Onkel Ernst und Tante Marie taten -mit. Immer stand etwas Neues auf dem Tagesprogramm. Einmal fuhr die -ganze Gesellschaft nach dem Walde hinaus, in die Haselberge, auf zwei -mächtigen Leiterwagen, um draußen herumzutollen; ein andermal gab’s -eine festliche Krocketpartie, in der die<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> Sieger mit Rosenkränzen -belohnt wurden; im Dorfwirtshaus wurde ein Preiskegeln veranstaltet, -oder es ging nach Nugow, um den alten Grafen Delkowitz, Edlen von -Kastricz, in seiner grauen Johanniterburg zu überfallen, seine -Segelboote mit Beschlag zu belegen und ein paar Schläge über den großen -Nugower See zu machen.</p> - -<p>An den Abenden wurde oft musiziert.</p> - -<p>Der kleine, blasse Student war ein ganz tüchtiger Klavierspieler, -der sogar vor schwereren Aufgaben nicht zurückzuschrecken brauchte. -Aribert Mollard klimperte schlecht und recht die Gitarre, und die -rundliche, mollige Grete Waldegg sang dazu mit offenbarem Wohlgefallen, -mehr schlecht als recht, irgendwelche Liedchen. Merivaux hatte sein -Instrument mitgebracht.</p> - -<p>Helene war begierig, ihn zu hören. Geradeso begierig, wie sie -überrascht gewesen war, als er ihr davon erzählte, daß er Violine -spiele.</p> - -<p>Nun: er war kein Meister. Sie hörte es sofort heraus. Aber er war auch -kein Stümper, und sein Spiel hatte eine angenehme persönliche Note. Es -war so frisch, so natürlich und so anspruchslos, wie sein ganzes Wesen. -Sie konnte nicht anders: sie mußte ihm nach seinem Vortrag ein paar -freundliche Worte sagen.</p> - -<p>Er legte gerade sein Instrument in den Kasten zurück, sah auf, -lächelte, fast ein wenig trübe: „Der gute Wille ist das beste an meinem -Spiel, glaub ich ...“ und setzte dann rasch hinzu: „Aber ich bin sehr -glücklich, wenn es Ihnen wenigstens nicht mißfiel!“</p> - -<p>Da wurde Helene gerufen. Fast immer mußte sie ja zum Schluß singen. -Onkel Ernst steckte jedesmal eine komisch-feierliche Miene auf, wenn er -sie dazu aufforderte: er zwang seinen ungeheuerlichen Körper zu einigen -tänzelnden Schritten, machte ihr eine großartige Verbeugung, sprach in -seinem weichsten Tonfall von der Gnade, die die erhabene Künstlerin -seiner niederen Hütte antue —, und stellte ein fürstliches Honorar in -Aussicht. Unter tausend Louisdor tat er es nicht.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span></p> - -<p>Als sie zum erstenmal im roten Damastsalon an den Flügel getreten war, -kam ein leises Beben über sie. Die Erinnerung wurde wach an jenen -Abend, da sie hier, hier vor Schwarz gesungen hatte. Aber eine kleine -Willensanspannung genügte, und sie war darüber hinweg. Und war froh, -daß es nicht schwerer gewesen.</p> - -<p>Heut sang sie den Schubertschen „Erlkönig“.</p> - -<p>Während sie sang, freute sie sich nur des verständnisvollen Begleiters, -des kleinen Studenten. Aber auch das und alles andere, das Äußerliche, -versank wie immer vor ihrer Seele.</p> - -<p>Sie versetzte, versenkte sich ganz in die Dichtung. In die -Märchenstimmung. Sie fühlte mit dem Vater, der mit seinem Kinde durch -Nacht und Wind reitet; sie empfand die angstvollen Fragen des Kleinen -mit. Sie kämpfte mit dem Reiter gegen das Phantom, sie erlebte mit -ihm die wilde, rasende Flucht und daß sie umsonst blieb gegen die -Naturwelt. Und ihr selbst war’s wunderbar, wie sie nun gelernt hatte, -all das im Gesang auszudrücken. Frage und Antwort von Kind und Vater, -die Lockungen des Erlkönigs, den ganzen Stimmungsgehalt des Liedes.</p> - -<p>Sie dachte, während sie sang, an nichts als an ihre Kunst. Am wenigsten -dachte sie an Merivaux.</p> - -<p>Aber als sie geendet hatte und sich umsah, sah sie zuerst ihn. Der -Zufall wollte, daß er genau an der Stelle stand, wo an jenem Abend -Schwarz gestanden: hinter all den fröhlichen Beifallsspendern, allein, -an der Tür. Er klatschte auch nicht, wie die anderen. Still stand er, -mit leichtgesenktem Kopf. Er kam auch nachher nicht zu ihr, um ihr -irgendeine Liebenswürdigkeit zu sagen, ein Wort der Anerkennung.</p> - -<p>Ein wenig verdroß es sie doch. Sie wußte ja, daß sie gut gesungen -hatte. Gar so schweigsam, gar so zurückhaltend brauchte er auch nicht -zu sein.</p> - -<p>Recht zur Besinnung darüber kam sie nicht. Denn Onkel Ernst schlug, -nachdem „sich der Beifall ausgetost“, wie er meinte, noch einen -Mondscheinspaziergang vor. „Und am<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> Brockenhäuschen soll unsere -<span class="antiqua">Primadonna assoluta</span> ihr fürstliches Douceur erhalten.“</p> - -<p>Es war herrlich im Park. Der Mond stand hoch am sternhellen Horizont, -die Taxushecken, die Baumgruppen warfen lange Schatten auf die -bekiesten Wege. Auf den heißen Julitag war die abendliche Abkühlung -gefolgt. Ganz im Westen, auf Rohlbeck zu, wetterleuchtete es.</p> - -<p>Das junge Volk tollte um das Rackowsche Ehepaar herum, das Arm in Arm, -im langsamsten Tempo, den leichten Hang zum Brockenhäuschen hinaufging. -Es war ein ewiges leises Kichern, Plaudern, Raunen, Flüstern.</p> - -<p>Oben, unter dem Brockenhäuschen, stand Höhne, ein Tablett in der -Hand, auf dem ein geheimnisvolles Etwas unter der Serviette lag. Auf -dem Tisch neben ihm stand eine Bowle in Eis. Ein paar Windlichter -leuchteten. Und Onkel Ernst hielt eine kleine Rede, an deren Schluß -er das geheimnisvolle Etwas gleich einem Denkmal enthüllte: „Unserer -Primadonna, unserer Rohlbecker Helene!“</p> - -<p>Es war eine Torte. Eine große Torte mit Marzipanguß, der einen Kranz -von lauter Goldfüchsen darstellte: „Das Süße der Süßesten“, verkündete -Onkel Ernst und füllte die Gläser. „Aber nun gleich anschneiden! -Vorwärts, Höhne! Die ersten beiden Stücke müssen zwei um die Wette -essen: Grete und Aribert! Keinen Widerspruch. Hier, Grete, hier stellst -du dich hin, dort, Mollard, du ... und nun soll Lene zählen: eins, -zwei, drei!“</p> - -<p>Da standen sie nun wirklich, wie zwei gehorsame Kinder, hatten jedes -ihr Tellerchen in der Hand mit einem Stück Torte darauf, und Helene -zählte: eins — zwei — drei —</p> - -<p>Aber sie hatten kaum zum erstenmal hineingebissen, so gab es ein -ungeheures Spucken, Prusten und Husten. Die mollige Grete ließ den -Teller zur Erde fallen, Mollard schluckte verzweifelt und rollte die -Augen wie ein Erstickender. Onkel Ernst und Tante Marie wollten sich -totlachen.</p> - -<p>Die Torte, dies Meisterwerk von Monsieur Bombourdon, war aus Sägespänen -gebacken. Aus richtigen holzigen,<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> kienigen, märkischen Sägespänen, die -sich wie Harz an die Zähne der unglücklichen Opferlämmer festsetzten, -die wie Leimbrocken an Lippen und Zunge klebten. Bis Höhne jedem als -Erlösungstrank einen Becher Bowle brachte.</p> - -<p>Es war wieder einer jener Momente, in denen Helene nicht recht -mitkonnte. Sie sah und hörte, wie alle lachten und kicherten, bald -Grete und Aribert am meisten. Aber sie stand ein wenig abseits, ein -wenig verlegen. Und plötzlich bemerkte sie, daß auch Merivaux sich -abgesondert hatte. Der Neuchateller schien gleich ihr für diesen -märkischen Junkerscherz kein rechtes Verständnis zu haben.</p> - -<p>Die Bowle war schnell geleert, und wieder unter Plaudern und Lachen -ging es durch die Mondscheinnacht dem Schlosse zu. Höhne hatte die -Gitarre holen müssen, Mollard sang sinnig-minnig: „Guter Mond — du -goldne Zwiebel —“ und die mollige Grete machte schwärmerische Augen.</p> - -<p>Es war wohl Zufall, daß Helene Hackentin und Merivaux ein wenig -zurückblieben.</p> - -<p>Aber als Helene das fröhliche Kichern und Raunen da vorn hörte, in -das sich manchmal Onkel Ernst mit einer seiner, im leisen Hofton -vorgebrachten drolligen Bemerkungen mischte, überkam auch sie etwas wie -Übermut. Eine jugendliche, unbezwingbare Lust, den Neuchateller ein -wenig aus seiner Verschlossenheit herauszuwerfen.</p> - -<p>„Sie sind heute wirklich gar nicht nett, Herr von Merivaux —“ sagte -sie schmollend.</p> - -<p>Er zuckte zusammen, wie aus einem Traum aufgestört.</p> - -<p>„Wodurch ’ab ich mir die Ungnad zugezogen?“ fragte er dann.</p> - -<p>„Der einzige waren Sie, der mir kein Wort über meinen Gesang gesagt hat ...“</p> - -<p>Da sah er sie voll an: „Legten Sie Wert darauf, gnädiges Fräulein?“</p> - -<p>Eine leichte Verlegenheit mußte sie doch überwinden: „Ich würde es -sonst nicht bemerkt haben ...“ Helene wollte die Worte ein wenig kokett -herausbringen, aber es gelang<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> ihr nicht recht. Sie klangen ziemlich -ernst. Und sie fügte schnell hinzu: „Schon deshalb muß ich Wert auf -Ihr Urteil legen, weil Sie der einzige hier sind, der wirkliches -Verständnis für Musik hat.“</p> - -<p>„Sie vergessen mindestens unseren kleinen Studenten.“</p> - -<p>„Nein, nein! Herr Rose hat, wie wohl alles, auch sein Klavierspiel nur -durch eisernen Fleiß errungen. Musik aber muß man fühlen.“</p> - -<p>„Und wenn ich nun gerade deshalb nicht in den lauten Beifall einstimmen -konnte?“</p> - -<p>Helene erschrak. Sie blieb stehen. „Hab ich denn schlecht gesungen?“</p> - -<p>Nun blieb auch er stehen. „Nicht doch! <span class="antiqua">Au contraire.</span> Wie Sie das -nur annehmen können. Gerade weil Sie sangen so schön, so wunderschön, -gerade deshalb konnt’ ich nicht applaudieren wie die anderen. Ich -konnte nicht.“</p> - -<p>Er hatte sehr schnell gesprochen: wie dann immer, wieder mit seinem -leichten Akzent. Helene freute sich aufrichtig. Hundertmal mehr als -über den ganzen Beifall im Damastsalon. Freute sich, und zugleich wurde -der Übermut wieder in ihr lebendig. Wieder meinte sie schmollend, ein -wenig kokett: „Aber ein freundliches Wort hätten Sie doch für mich -haben können. Sie sind doch sonst nicht verlegen um Worte, Herr von -Merivaux.“</p> - -<p>Wie sie das gesagt hatte, fühlte sie plötzlich, daß sie beide allein -waren. Die anderen waren weitergegangen, schon hinter den Taxushecken -verschwunden. Ganz leise nur klang noch das Kichern zurück, dann -und wann ein schwacher Ton der Gitarre. Ganz allein standen sie im -Mondenschein, der so hell leuchtete, daß sie jede Bewegung seines -Gesichtes erkennen konnte. Und sie sah, daß es in diesem schönen, -offenen Gesicht arbeitete.</p> - -<p>„Wir müssen gehen,“ brachte sie beklommen hervor.</p> - -<p>Er schüttelte den Kopf. „Bitte — nein!“ sagte er heiß. „Ich muß Ihnen -erklären, Fräulein ’elene, warum ich nicht sprechen konnte vorhin. -Erklären, was auf mir gelegen hat seit Jahr und Tag. Warum ich Ihnen -ausgewichen<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> bin. Ja, ausgewichen! Bis dann der Zufall mich wieder mit -Ihnen zusammenführte. Neulich! <span class="antiqua">Une chance heureuse</span> — wer weiß -es? — vielleicht das Unglück meines Lebens.“</p> - -<p>„Herr von Merivaux ... bitte ...“</p> - -<p>Da stand er vor ihr, die Hände auf der Brust, mit zuckendem Gesicht, -sah sie mit seinen großen, ehrlichen Augen an, fragend, forschend, -flehend: „Ein paar arme Minuten nur schenken Sie mir ...“</p> - -<p>Und sie konnte nicht nein sagen, er zwang sie. Sein Wille zwang sie.</p> - -<p>„Wie ich da stand heut abend im Salon, und Sie sangen so wunderschön, -da mußt ich denken an einen anderen Abend. Sie ’aben damals gesungen -nicht ’alb so vollendet, aber ich hab schon gespürt die Seele in Ihrem -Gesang. Vielleicht, weil ich Sie liebte. Damals schon. Aber da war der -andere. Und ich fühlte ganz deutlich, daß Ihre Gedanken nur bei ihm -waren. All Ihre Gedanken. Und ich muß Sie fragen. Um die Gnade Gottes: -Sie liebten ihn?“</p> - -<p>Daß sie hätte fliehen können! Weit weg — weit weg! Aber da stand er -vor ihr, mit seinem zuckenden Gesicht und den großen ehrlichen Augen, -in denen es feucht schimmerte, hatte die Hände erhoben —</p> - -<p>Sie neigte nur leise den Kopf.</p> - -<p>Er blickte starr auf sie hin. Fragend, forschend, flehend. Mit -zusammengepreßten Lippen. Auf eines Atemzugs Länge.</p> - -<p>„Und nun? Nun ist das vorbei?“ stieß er hervor.</p> - -<p>„Ja — ganz vorbei —“ Es war nur ein Hauch. Aber es zwang sie, es -zwang sie: sie mußte aufsehen, mußte ihn ansehen.</p> - -<p>Und wie sie ihn ansah, im hellen Mondlicht in sein Gesicht sah, -da wußte sie mit einem Male: es sind Harros Augen, die dir -entgegenleuchteten, Harros ehrliche, offene Augen, die dir sagen: ‚Ich -liebe dich!‘</p> - -<p>Es war ein jähes Erstaunen in ihr, daß sie die Ähnlichkeit nie vorher -bemerkt hatte, ein jähes Erschrecken:<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> wie Merivaux wäre Harro -geworden, wenn der Schnitter Tod ihn nicht hinweggerafft hätte — wie -Harro mußte Merivaux gewesen sein, als er ein Kind, ein Jüngling war.</p> - -<p>Gleich einem Traumbild war’s, das plötzlich vor ihrer Seele emporstieg, -das in ihrem Herzen noch einmal eine Saite aufklingen ließ, die sie für -immer zersprungen wähnte.</p> - -<p>Sie standen und sahen sich in die Augen.</p> - -<p>Die Saite klang und hallte leise, rief wehmütig weiches Empfinden wach. -Schmerzliches Erinnern und sanfte Zärtlichkeit. Ein Neues strömte -auf sie ein, fremd und doch wohlvertraut. Das Glück vielleicht — -vielleicht —</p> - -<p>Und da hatte er sie schon in seine Arme geschlossen, fest und innig ans -Herz genommen, küßte sie und küßte sie wieder.</p> - -<p>Sie hatte die Augen geschlossen, wehrte ihm nicht, lag an seiner Brust.</p> - -<p>Seine Lippen fühlte sie, seine Wange an ihrer Wange, sein Atem ging -über ihr Gesicht. Liebesworte hörte sie dicht an ihrem Ohr, zärtlich, -flehend. Und ihr Blut pulste und rauschte. Immer enger umschloß sie -sein Arm, seine Hand glitt sanft über ihren Nacken, über ihr Haar. Ihr -Herz pochte. Pochte lauter und lauter. „Küsse mich!“ bat er. „Küsse -mich!“</p> - -<p>Und sie küßte ihn. —</p> - -<p>Plötzlich schraken sie auseinander.</p> - -<p>Laute Stimmen kamen, hastige Schritte, wie im Lauf.</p> - -<p>Höhne mit einer Blendlaterne und einem Blatt Papier in der Hand. -Unmittelbar hinter ihm Onkel Ernst, keuchend: „Helene! Helene!“</p> - -<p>Hand in Hand standen sie. Hand in Hand gingen sie ein paar Schritte ihm -entgegen.</p> - -<p>Merivaux wollte sprechen, erklären.</p> - -<p>Aber Onkel Ernst warf nur einen flüchtigen Blick auf sie. Nun er dicht -heran war, sahen sie sein erschrockenes Gesicht.</p> - -<p>Er keuchte noch immer. Mühsam nur brachte er es heraus: „Erschrick -nicht, Helene ... wo hast du denn den<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> Brief, Höhne ... Helene, liebes -Kind — der alte Rittmeister — dein guter Vater — ist plötzlich -schwer — sehr schwer erkrankt —“</p> - -<p>Nach Onkel Ernsts Hand griff Helene, griff dann nach dem Brief. Höhne -hob die Blendlaterne hoch, leuchtete —</p> - -<p>Der kleine Bogen flatterte auf den Kies.</p> - -<p>Einmal, ein einziges Mal schluchzte Helene auf und sank in Merivaux’ -Arme.</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Zehntes_Kapitel">Zehntes Kapitel</h2> - -</div> - -<p>Als Helene nach Rohlbeck kam, war Vater bereits seit zwei Stunden -verschieden. Ohne schweren Todeskampf war der alte Rittmeister -hinübergegangen zu den ewigen Heerscharen. Martha führte die Schwägerin -zu ihm. Er lag wie ein Schlafender auf seinem schmalen Bett. Auf dem -Nachttisch standen zwei Lichter. Das Fenster des Sterbezimmers war -geöffnet, nach altem märkischem Brauch. Die Kerzenflammen flackerten -leicht in der Zugluft, und der wechselnde Reflex gab dem stillen -Greisengesicht dann und wann den Schein des Lebens.</p> - -<p>Helene warf sich am Bett auf die Knie, griff nach Vaters Hand, schrie -auf, drückte den Kopf neben Vaters Haupt in das Kissen, schluchzte -und weinte. Sie wollte nicht glauben, daß Vater tot wäre. Sie konnte -überhaupt keinen Gedanken fassen. Zum erstenmal in ihrem Leben stand -das große ewige Rätsel des Vergehens vor ihr, und ihr war’s, als müßten -ihr Schmerz und ihr Flehen den Vater erwecken können, als müßte Gott -sich erbarmen und ein Wunder tun.</p> - -<p>Nicht fassen und nicht begreifen konnte sie auch dann, als Martha sie -mit sanfter Gewalt emporhob, als der alte Heckstein kam und, selber mit -tränenden Augen, tief ergriffen, ihr milden Trost zuzusprechen suchte.</p> - -<p>Nicht fassen und nicht begreifen konnte ihre leidenschaftliche Seele, -daß es einen Trost geben sollte für solchen<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> Schmerz. Nicht fassen und -nicht begreifen auch, wie ruhig und still die anderen waren. Mutter -sogar. Die saß zwar am Fußende des Bettes, weinte dann und wann leise -vor sich hin, aber sie fand doch Worte. Worte! Fragte, ob Wilhelm -und Fritz benachrichtigt wären, ob das Läuten schon bestellt sei. -Und Martha schaltete und waltete, dachte an alles, wollte Helene gar -nachher drüben an den Kaffeetisch zwingen. Gott im Himmel! Hatten sie -alle denn Vater so wenig lieb gehabt?</p> - -<p>Die Jungens standen scheu, verstört, mit roten Augen. Sie riß sie an -sich — die mußten doch mit ihr fühlen! Ja, die Tränen saßen ihnen -locker. Aber nachher schlichen sie auf den Zehenspitzen zu ihren -Kaffeetassen. Und drüben lag Vater, Großvater, der sie so sehr geliebt -hatte!</p> - -<p>„Martha! Martha, wie ist es denn nur möglich! Wie ist’s denn nur -gekommen?“</p> - -<p>„Du mußt ruhiger sein, Lene. Ehre Gottes Willen! Er hat unserem lieben -Vater doch ein so langes Leben und einen so sanften Tod geschenkt!“</p> - -<p>„Vater war so rüstig! Vater hätte noch zehn, zwanzig Jahre leben -können. Martha, wie ist es gekommen?“</p> - -<p>Da sagte es Martha.</p> - -<p>Vater war ganz munter gewesen, hatte noch mit beiden Jungens selber die -Posttasche geholt. Dann hatten sie um den runden Tisch gesessen, Vater -bei der Zeitung —</p> - -<p>Martha stockte ein wenig. Aber es war nur wie ein zögerndes Atemholen. -„Vater hat sich vielleicht über etwas in der Zeitung geärgert, hat auch -geschimpft. Aber dann ist er aufgestanden und ist auf und ab gegangen -— du weißt ja, wie alle Tage. Mutter hatte die Familiennachrichten -vor sich. Ich häkelte. Siehst du — und da kommt Vater mit einem -Male zu Mamachen, beugt sich ein wenig über sie und sagt: ‚Ich weiß -nicht, Elisabeth, ich weiß nicht, mir ist so komisch, das heißt —‘ -und da fällt er auch schon vornüber. Grad, daß ich ihn noch auffangen -konnte. Wir haben ihn gleich zu Bett gebracht.<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> Der Hans ist zum -Pastor gelaufen. Vater hat noch ein paar undeutliche Worte gesprochen, -lag dann still. Da schrieb ich schnell an dich und hab an Wilhelm -depeschiert und einen reitenden Boten nach Stellberg geschickt zu Fritz -und zum Doktor —“</p> - -<p>„Ja — ja — du hast an alles gedacht!“</p> - -<p>„Das mußte ich doch, Helene. Wer sollte es denn sonst? Und dann ist -Papa sanft hinübergeschlafen. Ich war zuletzt allein bei ihm und hab -ihm die Lider zugedrückt.“</p> - -<p>Helene hatte keine Träne mehr. Heiß brannten ihre Augen, aber der -Tränenquell war versiegt. Sie starrte vor sich hin. Ja, sie waren alle -so ruhig, waren alle so überlegt, so gefaßt. Als ob nur gerade ein -Licht ausgelöscht wäre. Als ob nicht eine Lücke gerissen wäre in ihrer -aller Leben, die sich nie, nie wieder füllen konnte. Nie — nie — -nie —</p> - -<p>In den nächsten Tagen, bis zur Beerdigung, ging sie umher wie eine -Träumende. Und nur wie durch einen Schleier sah sie alles, was um sie -her geschah.</p> - -<p>Die Brüder kamen, standen mit gefalteten Händen an Vaters Bahre, hatten -Tränen in den Augen, sprachen leise und gedämpft, saßen beieinander, -küßten Mutter, beredeten allerlei mit Martha und Heckstein und Flehr. -Martha brachte ein Trauerkleid: „Helene, du mußt verständig sein. Man -darf sich auch dem tiefsten Schmerz nicht so leidenschaftlich hingeben.“</p> - -<p>Onkel Ernst kam und mit ihm Merivaux. Er drückte ihr die Hände, sprach -sanft und lieb, wollte sie küssen. Sie schrak zusammen und entwand sich -ihm. Sah ihn an fast wie einen Fremden, neigte dann den Kopf, ließ es -sich gefallen, daß er ihre Hände hielt —</p> - -<p>Sie sah einen Wagen vorfahren, sah, wie der schwarze, florbespannte -Sarg heruntergehoben wurde, und lief hinauf in ihr Zimmerchen, lief in -dem hin und her, von einer Wand zur anderen, wohl eine Stunde lang.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p> - -<p>So fand sie Wilhelm. Er fragte, ob sie denn Vater nicht noch einmal -sehen wollte, ehe der Sarg geschlossen würde.</p> - -<p>‚... ehe der Sarg geschlossen wird ...‘, klang es in ihr nach. Schrill -und schneidend. Aber sie nickte, und da nahm sie der Bruder unter den -Arm, stützte sie, sagte auch wie Martha: „Helene, du mußt verständig -sein. Wir trauern doch alle um unseren guten Papa. Aber das Leben -fordert seine Rechte. Man muß darüber hinfortzukommen suchen, und wenn -es noch so schwer ist.“</p> - -<p>Sie nickte wieder, aber verstanden hatte sie kaum, was Wilhelm sagte.</p> - -<p>Dann, als sie draußen an der Treppe standen, begann er noch einmal, -leise: „Sei gut zu Fritz. Der trägt’s am schwersten.“</p> - -<p>Verständnislos sah sie ihn an, bewegte die Lippen. Er mochte es für -eine Frage nehmen.</p> - -<p>„Nun — er muß doch denken, daß Vater sich so aufgeregt hat, weil er -sich bei der Ersatzwahl für den Kreis als fortschrittlicher Kandidat -hat aufstellen lassen. Das hat Vater zuletzt in der Zeitung gelesen. -Sei gut zu dem armen Fritz —“</p> - -<p>Sie hauchte ein Ja, aber recht verstanden hatte sie das auch nicht. -Vater! Vater! Sie haben ja alle nichts als Worte.</p> - -<p>Und dann stand sie am offenen Sarge. Wie versteint zuerst. Sah auf das -stille Greisengesicht, das ganz klein geworden schien, sah auf die -weißen Locken, sah auf die wachsweißen Hände, zwischen die Martha ein -Kreuzchen und einen kleinen Strauß blauer Vergißmeinnicht gelegt hatte.</p> - -<p>Sah dann langsam im Kreise herum, auf die Ihren, die um den Sarg -standen. Und sie sah zum ersten Male in all den Gesichtern den heiligen -Ernst und den tiefen Schmerz, erkannte zum erstenmal, daß sie alle von -der selben Trauer erfüllt waren, wie sie.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span></p> - -<p>Ganz sacht ging sie zur Mutter hinüber, legte den Arm um ihre Schulter, -küßte ihre Stirn. Trat an den Sarg — und da endlich kamen die Tränen. -Sie lösten sich sanft, und sie konnte leise ein stilles Gebet sprechen.</p> - -<p>Auch Heckstein stand am Sarge seines alten Freundes.</p> - -<p>Als sie hinausgingen, lag Diana vor der Tür und winselte. Der Pfarrer -beugte sich und klopfte dem Tier leise auf den Kopf, fast zärtlich: -„Da reden die klugen dummen Menschen von der unverständigen Kreatur“, -meinte er wehmütig und streichelte den Hund. „Kusch, Diana. Er hat dich -auch lieb gehabt.“</p> - -<p>Dann schob er seine Hand unter Helenes Arm: „Komm, Kind, wir wollen -einmal durch den Garten gehen.“</p> - -<p>Schweigend gingen sie bis zu den großen Kastanien, unter deren Schatten -er mit dem alten Rittmeister so oft gewandelt war. Da bog er ein, -drückte Helenes Arm: „Kind, sie haben mir erzählt, daß du wie von -Sinnen bist. Das ist nicht recht von dir. Sieh mal, ich will dir nicht -mit billigen Trostworten kommen und auch nicht mit Vorwürfen. Aber -ich hab dich getauft und konfirmiert, da hab ich schon ein Recht, mit -dir ein paar ernste Worte zu sprechen. Die Juden stellten Klageweiber -an und zerrissen ihr Gewand und streuten Asche auf ihre Häupter. Wir -Christen müssen und sollen den Tod anders anschauen. Er darf keinen -Schrecken für uns haben. Uns ist er ja nichts als der Übergang aus der -Weltlichkeit in die Ewigkeit. Und was könnten wir Schöneres wissen von -einem geliebten Toten, denn: ihm ist wohl.“</p> - -<p>Sie schritt neben ihm, mit tief gesenktem Kopf.</p> - -<p>„Ich kenne dich ja, Helene“, sprach er weiter. „So warst du von klein -auf: immer kochte es bei dir über, in der Freude und im Schmerz. Das -Leben aber fordert ein Maßhalten. Du mußt dich beherrschen, auch grade -jetzt. Denk’ nur daran, Kind, daß dein guter Vater nun nicht mehr ist. -Denk’ mehr daran, wie lieb er dich gehabt hat. Ich kann’s dir sagen: -du warst sein besonderer<span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span> Liebling. Noch in den letzten Tagen hat er -mit mir so manches über dich gesprochen, in Zärtlichkeit und auch in -Sorgen. Aber die Sorgen hab ich ihm ausgeredet, und dann leuchteten -seine schönen blauen Augen: ‚Mein Spätling!‘ sagte er.“</p> - -<p>Ihre Hand bebte auf seinem Arm. „Onkel Pastor“, sagte sie ganz leise. -„Ich hab Vater ja so sehr, so sehr liebgehabt. Ich kann gar nicht -sagen, wie sehr. Aber nun quält mich der Vorwurf: ich bin nicht gut -genug gegen ihn gewesen, ich bin nicht dankbar genug gewesen, ich — -ich hab auch nicht das volle rechte Vertrauen zu ihm gehabt.“</p> - -<p>„Kind, so mußt du nicht denken. Denk’ nur daran, daß du ihn liebgehabt -hast. Das ist genug und ist alles. Das andere: liebes Kind, es ist wohl -aller Eltern Los, daß ihnen ihre Liebe nie ganz vergolten wird. Ein -Kind <em class="gesperrt">kann</em> vielleicht Elternliebe und Elternsorgen nicht ganz -vergelten, denn beide sind zu groß und zu unendlich. Aber danach fragen -Elternherzen gar nicht. Die wollen nur wissen und fühlen, daß die -Kinder sie liebhaben und gut tun in ihrem Sinn.“</p> - -<p>Wieder sagte sie: „Ich hätte doch mehr Vertrauen zu Vater haben sollen.“</p> - -<p>„Wenn Kinder groß werden, Helene, so gehen sie ihre eigenen Wege. Das -ist nicht anders in der Welt und so vom lieben Gott gefügt. Es ist -nicht nötig, daß sie dann jedesmal zu den Eltern kommen und fragen: bin -ich auf dem rechten Pfad. Die Hauptsache ist, daß es vor ihrem eigenen -Gewissen der rechte Weg ist.“</p> - -<p>Schweigend gingen sie ein Stück weiter, wandten sich und schritten -langsam zurück. Da begann Heckstein wieder: „Der Rackower war gestern -bei mir, Helene. Deinetwegen. Du weißt schon, weshalb?“</p> - -<p>„Ja, Onkel Pastor“, gab sie leise zurück.</p> - -<p>„Es ist jetzt eigentlich nicht die Stunde, um dir Glück zu wünschen, -mein Töchterchen. Aber ich denke, ich kann’s doch. Gerade in Vaters -Sinn, denn er hat sich nichts<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> sehnlicher für dich ersehnt, als einen -guten braven Mann. Daß er’s erlebt hätte! Du hast ihn gewiß sehr lieb, -deinen Neuchateller!“</p> - -<p>Da blieb Helene stehen. Sie sah zu Boden. Zwischen ihren Brauen grub -sich die kleine schmale Falte ein.</p> - -<p>„Onkel Heckstein —“ sagte sie dann zögernd. „Ich weiß es nicht —“</p> - -<p>„Aber, liebe Helene!“</p> - -<p>In diesen letzten zwei Tagen war die Erinnerung an Merivaux, die -Erinnerung an jene flüchtigen Minuten im Rackower Park wohl bisweilen -durch ihren Sinn geglitten. Aber sie hatte das abgewehrt, wie sie sich -ihm selber entzogen hatte. Nicht einmal abgewehrt vielleicht; es war -aufgetaucht und untergegangen in ihrem leidenschaftlichen Schmerz, wie -einzelne Regentropfen in einem Seespiegel verschwinden, ohne Spuren zu -hinterlassen.</p> - -<p>„Aber, Helene!“ wiederholte Heckstein.</p> - -<p>Da richtete sie den Kopf hoch und sah ihn an. Ganz tief eingeschnitten -stand die Falte zwischen den Brauen in dem gequälten, übernächtigten -Gesicht. Aber in ihrer müden Stimme lag doch etwas wie Trotz.</p> - -<p>„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte sie noch einmal. „Laßt mir Zeit.“ -Und sie schluchzte kurz auf. Nur einmal. Dann kämpfte sie es herunter, -griff nach den beiden Händen Hecksteins, drückte sie krampfhaft: „Dank, -Onkel Pastor. Du hast mir doch wohlgetan! Dank!“</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*</p> - -<p>Das märkische Kirchlein, der kleine Friedhof hatte eine solche -Trauerversammlung noch nicht aufgenommen. Nun erst erwies es sich, -wieviel Liebe der alte Rittmeister, der schlichte Mann, im ganzen -Kreise und darüber hinaus besessen hatte. Heckstein hatte recht, wenn -er in seiner einfachen Rede betonte: er ist heimgegangen zum ewigen -Frieden und hinterläßt auf Erden keinen Feind.</p> - -<p>Von weit her kam der Landadel. Aber es kamen auch die Bauern und -Kossäten aus den nächsten Dörfern mit Weib und Kind. An diesem Tage -ließen sie die Arbeit<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> allenthalben ruhen, um dem Herrn auf Rohlbeck -die letzte Ehre zu erweisen. Und aus den kleinen Städten kam von den -Beamten und den Gewerbetreibenden, wer immer mit den Hackentins in -Verbindung gestanden hatte.</p> - -<p>In der Mitte der Kirche stand, von dem reichen Segen der sommerlichen -Gärten verhüllt, der schwarze Sarg. Obenauf lagen die wenigen Orden. -Die kostbarsten obenan: das Eiserne Kreuz und das russische St. -Georgskreuz, das Hackentin sich bei Kulm Anno dreizehn erkämpft hatte.</p> - -<p>Kurz und kernig sprach der Pfarrer, die eigene Ergriffenheit -niederringend, vom Altar aus. Er zeichnete das Charakterbild des -Verewigten: ein rechter und echter märkischer Edelmann, getreu seinem -König, treu der Scholle, die ihn trug; herzensgut und hilfsbereit, ein -guter Gatte, ein guter Vater, ein guter Patron, seinen Leuten allezeit -ein guter Herr; tapfer im Kriege, bescheiden im Frieden. Gott vor Augen -und im Herzen. „Manche werden vielleicht sagen und sprechen: es war -kein reiches Leben. Die Toren! Gewiß, es war kein Leben, erfüllt mit -äußeren Ehren. Es war kein Leben, emporgetragen durch großes Streben. -Es war kein Leben voll Prunk und Glanz. Klein war der Kreis, in dem -er wirkte, er, den ich durch nun fünfunddreißig Jahre meinen liebsten -Freund nennen durfte. Aber er füllte diesen engen kleinen Kreis durch -die Liebe seines großen, grundgütigen Herzens. Darum trauern wir alle -so tief um ihn, darum will uns die Lücke, die Gottes unerforschlicher -Ratschluß riß, als nimmer ausfüllbar erscheinen. Ich sage euch: es -war ein reiches, gesegnetes Leben, und in reichem Segen bleibt uns -sein Gedächtnis. Unser Herr und Gott, der dem lieben Verewigten dies -Leben schenkte bis in das Greisenalter hinein, ohne daß des Alters -Beschwerden an ihn herantraten, gab ihm auch einen gnädigen schnellen -Tod sonder Schmerzen, und er hat ihn in Gnaden aufgenommen in sein -himmlisches Reich. Amen.“</p> - -<p>Die Orgel setzte ein. Und über den heut hundertstimmigen<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> Chor hinaus -sang die Tochter dem Vater das Lied von Ernst Moritz Arndt, das er sich -schon vor Jahren von seinem Freunde Heckstein für diesen Tag erbeten -hatte:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Geht nun hin und grabt mein Grab,</div> - <div class="verse indent0">Denn ich bin des Wanderns müde.</div> - <div class="verse indent0">Von der Erde schied ich ab,</div> - <div class="verse indent0">Denn mir ruft des Himmels Friede,</div> - <div class="verse indent0">Denn mir ruft die süße Ruh’</div> - <div class="verse indent0">Von den Engeln droben zu —“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Dann segnete der Pfarrer den Sarg ein. Sechs alte Soldaten, märkische -Bauern, trugen ihn hinaus unter den breitästigen Maulbeerbaum, der -einst auf Befehl Friedrichs des Einzigen gepflanzt worden war, -hinaus zu der langen Reihe der Gräber, die sich um das kleine uralte -Erbbegräbnis scharten.</p> - -<p>Nur wenige Worte konnte Heckstein hier sprechen. Dann brach ihm, der -sich so tapfer gehalten, die Stimme. Langsam sank der Sarg in die Gruft.</p> - -<p>Wie eine schwarze Mauer stand dichtgedrängt die Masse der -Leidtragenden. Ein kurzes Schluchzen, ein verhaltenes Weinen und wieder -tiefe, tiefe, ehrfurchtsvolle Stille.</p> - -<p>Als Erste dann wankte die gebeugte Greisin am Arm des ältesten Sohnes -an das offene Grab, warf drei Hände Heimaterde in die Gruft. Und sie -folgten alle — alle — zum letzten Abschiedsgruß.</p> - -<p>Bis dann die Landwehrmänner, einer noch mit dem Kreuz von Eisen, drei -mit dem Düppelkreuz auf den langen schwarzen Bauernröcken, herantraten, -die Jagdflinte in der Hand, und dem Kameraden die drei Ehrensalven über -das Grab schossen.</p> - -<p>Als die letzte Salve verhallt war, sprach Graf Grucker, der neben dem -Pfarrer stand und ihm liebevoll die Hand gereicht hatte: „Mir ist’s, -als hätten wir mit unserem guten Hackentin die alte Zeit begraben. Nun -kommt wohl eine neue herauf. Daß sie nur gut wird — meine Hochachtung -— die neue Zeit!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span></p> - -<p>Heckstein sah zu ihm empor mit schimmernden Augen: „Das walte Gott!“</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*</p> - -<p>Helene hatte ihre eigene Schwäche gefürchtet und die Leidenschaft ihres -Schmerzes. Daß sie zusammenbrechen würde oder aufschreien, mitten im -Gotteshause, an der offenen Gruft. Und doch war sie ganz gefaßt, ganz -ruhig gewesen unter der Heiligkeit von Ort und Stunde. Der wehe Schmerz -war zur sanften Trauer gewandelt, und als sie in das kleine Kirchlein -trat, hob sie die Weihe des Augenblicks über alles Irdische empor. Die -Orgel klang, und fest setzte ihre Stimme ein, dem geliebten Vater zur -letzten Ehre.</p> - -<p>Es tat ihr wohl, daß sie alle gekommen waren, unendlich wohl die Liebe -und Verehrung, die ihm galt. Eine stille wehmutsvolle Freude war in -ihr, daß durch die Kirchenfenster die strahlend helle Sonne leuchtete. -Als ob Gott es mit Vater noch heut besonders gut meinte.</p> - -<p>Ganz ruhig, ganz gefaßt war sie in all ihrer Ergriffenheit.</p> - -<p>Einmal nur wollte ihre Kraft schwinden. Als der Sarg langsam in die -Gruft glitt. Vielleicht sah man’s ihr an, vielleicht schwankte sie. In -dem Augenblick suchte eine feste Hand die ihre, und sie war wie eine -gute Stütze. Nur ganz dunkel empfand sie, daß Merivaux neben ihr stand, -mitten unter ihren Nächsten, daß er es war, der ihre Hand ergriffen -wie mit wortlosem Zuspruch. Aber sie ließ sie ihm, trat mit ihm an -die Gruft, und so gaben sie gemeinschaftlich dem Vater den letzten -Erdengruß.</p> - -<p>Während sie langsam, inmitten der Trauerversammlung, über den Dorfanger -schritten, drückte er noch einmal innig ihre Hand, und dankbar empfand -sie, daß er nicht zu ihr sprach. Daß er nicht unter denen blieb, -die von weit her gekommen waren und nun nach ländlichem Brauch mit -hinübergingen in das Elternhaus.</p> - -<p>Weit denen voraus floh sie in ihr kleines Zimmer unter dem Dach — —</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p> - -<p>Und nun war alles vorüber, das Leben pochte wieder an die Tür mit -seinen alltäglichen Forderungen und seinen Rechten.</p> - -<p>Es gab vielerlei zu ordnen und zu besprechen, wie immer, wenn der -Tod das Haupt einer Familie abberufen hat. Die beiden Brüder saßen -zusammen über Büchern und Papieren, rechneten und rechneten mit heißen -Köpfen. Dann wurden Martha und Helene hinzugezogen. Das Resultat war -bedrückend. Von Jahr zu Jahr waren die Erträge von Rohlbeck geringer -geworden; wenn man die Hypothekenschuld abzog, blieb nur ein kleiner -Überschuß. Der sollte, dafür hatte vor allem Fritz gesorgt, für Helene -gesichert werden. Nicht viel mehr war’s, als einmal eine knappe -Ausstattung.</p> - -<p>Rohlbeck war kein Lehngut. Deshalb hatte Wilhelm dafür gesprochen, den -Besitz zu verkaufen. Aber da war es wieder Fritz, der sich dagegen -ereiferte. Merkwürdigerweise.</p> - -<p>In all den Tagen seit Vaters Tod war der Kreisrichter sehr still und -in sich gekehrt gewesen. Er mochte nicht loskommen können von der -schmerzlichen Empfindung, daß sein politisches Auftreten Vater in -dessen letzten Stunden zum mindesten sehr stark erregt hatte. Zwar -sprach niemand mit ihm, und auch er sprach mit niemand darüber. Aber -in seinem Herzen lebte wohl die starke Empfindung, daß er gegen die -Geschwister doppelt gut sein müßte.</p> - -<p>So verzichtete er sofort auf jedes Erbteil und auch auf die kleine -Zulage, die er bisher von Vater erhalten hatte. Als Wilhelm dann die -Frage des Verkaufs aufs Tapet brachte, erklärte er sich dagegen: „Ich -weiß ja, ihr werdet erstaunt sein. Ich weiß ja, wie ihr über meine -politische Richtung denkt, daß ihr mich bisweilen vielleicht als einen -Renegaten, als ein verlorenes Glied der Familie Hackentin angesehen -habt. Still — Wilhelm, wir wollen daran nicht weiter rühren. Aber das -sage ich euch: in mir lebt ein starker Familiensinn, und in mir lebt -auch die Treue zur Heimaterde. Mit meiner Zustimmung<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> wird Rohlbeck -nicht verkauft, sondern für euren Ältesten erhalten.“</p> - -<p>Martha war zu Tränen gerührt. Ganz in ihrem Sinne hatte Fritz -gesprochen. Sie streckte dem Schwager die Hand hin: „Dank, Fritz, -vielen, vielen Dank!“</p> - -<p>Also nicht verkaufen, aber verpachten: das allein blieb schließlich -übrig. Und Omama sollte mit Wilhelms nach Berlin ziehen.</p> - -<p>Die alte Gnädige saß nun längst wieder auf ihrem Traumplatz am -Fenster der großen Stube. Man merkte ihr vielleicht am wenigsten an, -welches Leid über dies Haus gekommen war. Manchmal schien sie ganz -interesselos, murmelte undeutlich vor sich hin; dann schien es, als ob -sie nur Sinn für Äußerliches hätte: „Also Adolf Grucker war da? Und der -Landrat? Artenaus auch — so — haben sie denn auch alle ordentlich -zu essen bekommen, liebe Martha?“ Oder: „Heckstein wird recht alt. -Er hätte wirklich mehr von Papachens Kriegstaten einflechten sollen, -Anno dreizehn und so.“ Oder: „Helene steht die Trauer recht gut. -Hatte Mariechen eigentlich Crêpe de Chine an?“ Manchmal aber rief sie -plötzlich Diana zu sich ans Fenster und sprach mit dem Hunde fast wie -mit einem Menschen. „Ja, Diana, das Herrchen! Ich weiß ja, manchmal war -er hart zu dir. Zu mir auch. Aber geliebt haben wir ihn beide. Nicht -wahr?“ Dann saß Diana dicht am Nähtisch, hatte den klugen Kopf weit -vorgestreckt und winselte leise.</p> - -<p>Sie hatten sich alle davor gefürchtet, Omama das Resultat ihrer -Beratungen mitzuteilen; kam es ihnen doch wie ein Wagnis vor, dies -Verpflanzen der Greisin nach Berlin. Merkwürdigerweise nahm sie alles -ganz gelassen auf. „Tut nur, was notwendig ist. Auf mich nehmt keine -Rücksicht“, sagte sie zuerst. Aber ein paar Stunden später winkte sie -Martha zu sich und begann von Berlin zu sprechen. Von dem Berlin vor -vierzig Jahren freilich: von König Friedrich Wilhelm dem Dritten und -von seiner schönen Schwester Charlotte, der Kaiserin von Rußland.<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> -Ob man mit der Post bis zur Königstraße führe? Ob Jagor noch das -erste Restaurant sei? Damals hätten sie immer im „Roten Adler“ in der -Kurstraße gewohnt. Und ob Spontini noch lebte — das müßte Helene doch -wissen. Den hätte sie einmal seinen „Nurmahal“ dirigieren sehen ... -Helene mußte wirklich kommen, und Mutter redete von Iffland und von -der Stich und dann von der Henriette Sonntag — immer fast, als ob sie -gestern die gesehen hätte, und ob Kotzebues „Johanna von Montfaucon“ -noch gegeben würde? Fast, als wäre die Gegenwart ausgelöscht in ihrem -Gedächtnis, und als lebte sie nur noch der Erinnerung an längst -vergangene Tage.</p> - -<p>Wilhelm fühlte sich jetzt ein wenig als Haupt der Familie.</p> - -<p>Als solcher sprach er auch mit der Schwester über Merivaux.</p> - -<p>Zum ersten Male bei der Erörterung über ihr Erbteil. Ganz nebenbei: -„Gottlob, daß dein Bräutigam in einer so guten Assiette ist, Helene.“ -Da war sie hochgefahren, das Blut schoß ihr in das Gesicht, und sie -sagte nur, scharf und knapp: „Das, bitte, laßt jetzt!“</p> - -<p>Aber ein paar Stunden darauf kam Wilhelm auf ihr Zimmer. Etwas -feierlich, etwas väterlich und ein wenig verlegen: „Ich muß doch -mit dir reden, liebe Helene. Möchte dir vor allem, ganz im stillen, -herzlich gratulieren. Merivaux ist ein Prachtmensch, ich hab ihn immer -sehr gern gehabt. Nun — und ich kann’s ja wohl sagen — früher hatten -wir auch so manchmal heimlich gedacht — ja! — die Rackower hatten uns -so Andeutungen gemacht. Wir hatten’s dann aufgegeben. Desto besser, daß -es nun doch wahr geworden ist. Es ist ja ein trauriges Zusammentreffen -mit Papas Tod — zu traurig für euch beide. Aber überlegt muß das doch -nun werden, ob eure Verlobung jetzt offiziell werden soll.“</p> - -<p>Sie stand am Fenster und sah auf den Wirtschaftshof hinaus und das -Winkelchen Garten, das sich rechts anschloß. Wandte dem Bruder das -Gesicht nicht zu —<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> wozu sollte er sehen, wie das Blut darin kam und -ging! — und antwortete nicht.</p> - -<p>Er sprach auch gleich weiter: „Ich weiß selber nicht recht, ob es nicht -taktvoller wäre, wenn ihr damit mindestens ein paar Wochen wartet? Ist -es dir recht, wenn ich mit Merivaux darüber spreche? Er hat sich zu -heut nachmittag bei mir ansagen lassen.“</p> - -<p>Da schrak sie zusammen und entgegnete fast heftig: „Bitte — nein! Ich -muß selber mit — mit ihm sprechen.“</p> - -<p>Wilhelm lachte leise: „Wie aufgeregt du bist! Natürlich sollst du -selber mit ihm sprechen. Wer sollte dir denn das wehren?“ Und nach -einer Weile: „Du bist doch ein wunderliches Menschenkind, Lene. Läßt -mich hier stehen und reden und siehst mich nicht an. Ich könnte fast -glauben, du hast etwas gegen mich.“</p> - -<p>Nun endlich wandte sie sich langsam um, immer noch wortlos. Und da trat -er dicht zu ihr, legte seine Hände auf ihre Schultern: „Aber wie siehst -du denn aus, Lene? Sieht so eine glückliche Braut aus!“</p> - -<p>„Glücklich —“, sagte sie schwer.</p> - -<p>Er verstand es falsch. „Ja, freilich! Armes Kind! Sei nicht böse. Man -vergißt manchmal auf Momente ...“</p> - -<p>Dann war er gegangen.</p> - -<p>Und Helene begann wieder ihre stumme Wanderung durch das kleine Zimmer, -von einer Wand zur anderen. Immer tiefer grub sich dabei die Falte -zwischen ihre Brauen ein. Immer trüber und schmerzlicher wurde der -Ausdruck ihres Gesichts. Aber auch immer entschlossener.</p> - -<p>Bis sie hinunter ging, um Merivaux zu empfangen.</p> - -<p>Sie bat Martha, es so einzurichten, daß sie ihn gleich allein sprechen -könnte. Die Schwägerin sah ihr erschrocken ins Gesicht. „Aber ... -Helene ...“ Da sagte sie: „Bitte, liebe Martha, quäle mich nicht. Ich -habe schwer genug zu leiden.“ Und der Ton ihrer Worte war wohl so -bestimmt, daß Martha nur leise aufseufzte: „Ich meinte es gut. Geh in -Vaters Zimmer. Ich werde Merivaux zu dir führen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p> - -<p>Wohl eine Viertelstunde mußte sie in dem kleinen Raum warten, den Vater -als sein eigentliches Heiligtum betrachtet hatte. Die Kinder, die Enkel -hatten ihn selten betreten dürfen. In ihrer Stimmung aber empfand -Helene doppelt eindringlich das Persönliche in diesem Zimmer. Die fast -spartanische Einfachheit seiner Ausstattung, die vom Dorftischler -gefertigten birkenen Stühle, das steife Roßhaarsofa, der gewaltige -Schreibtisch, den Vater seiner Größe halber immer die „Kossätenscheune“ -genannt hatte: das alles erinnerte sie an ihn, stimmte sie wehmütig. -An der Wand hingen ein paar Familienbilder. Einmal, als sie noch ein -Kind war, hatte er ihr die erklärt: „Das da war mein Herr Vater, Helene -— das heißt, wir mußten ja damals zu unseren Eltern Sie sagen und -Herr Vater und Frau Mutter. War auch ein gestrenger Herr, gegen uns -Kinder, gegen alle Leute. Ich hab’s noch mitansehen müssen, daß er -einen Knecht peitschen ließ, bis der ganze Rücken blutig war, und uns -hat er auch oft genug mit der Karbatsche gezüchtigt. Ein gestrenger, -ein harter Herr — das heißt, mit allem Respekt zu sagen. Aber es ist -doch besser, wenn der Mensch ein weiches Herz hat. Man soll seinem -Mitmenschen nichts zuleide tun, wenn man es vermeiden kann. Man soll -auch mal ein Opfer bringen können deshalb. Merke dir das, mein Kind.“ -Und da hing auch die Silhouette der schönen Tante Charlotte, die sie in -der Familie das Bild ohne Gnade hießen — Tante Charlotte Hackentin, -die um die Wende des Jahrhunderts Hofdame bei der Prinzessin Wilhelm -gewesen war und von der die Sage ging, daß sich ihrethalben der Graf -Hoym erschossen hätte.</p> - -<p>Eine Weile stand Helene vor den Bildern.</p> - -<p>Dann wandte sie sich ab und schüttelte den Kopf. Nein — es war -töricht, Vergleiche und Folgerungen ziehen zu wollen. Töricht, kindisch -war’s. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich. Das war es, nichts -anderes.</p> - -<p>Und da trat auch schon Merivaux ins Zimmer, kam auf sie zu, faßte ihre -beiden Hände, sah ihr tief in die<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> Augen: „Liebe ’elene, liebe Helene,“ -sagte er, „wie schwer hast du gelitten! Ich hab immerzu — immerzu nur -an dich gedacht. Liebe Helene —“</p> - -<p>Er küßte ihre Hände. Er wollte sie an sich ziehen.</p> - -<p>Da bog sie sich weit zurück.</p> - -<p>„Helene“, rief er. Erstaunt, erschrocken. Aber dann kam ein Lächeln auf -sein Gesicht, ein kleines, zärtliches, schmerzliches Lächeln. Er küßte -ihr noch einmal die Hand. „Arme, liebe ’elene“, sagte er wieder. „Oh, -ich weiß, wenn ich meinen alten Papa hätte begraben müssen, ich würde -auch nicht zu trösten gewesen sein ...“</p> - -<p>Er suchte ihren Blick. Sie wandte das Gesicht zur Seite.</p> - -<p>„... aber wenn dein Papa auf uns herabsieht ... ganz gewiß, Helene ... -er würde uns segnen.“ Und nach einer Weile: „Sieh mich doch nur einmal -an. Ich hab solch eine große Sehnsucht gehabt nach dir ... solch eine -Sehnsucht. Ich hab dich ja so lieb!“</p> - -<p>Immer noch hielt er ihre beiden Hände.</p> - -<p>Zuerst hatte er Deutsch gesprochen. Nun strömten ihm, unbewußt wohl, -die Laute seiner Muttersprache über die Lippen. „Manchmal denk ich, -wie ich nur hab leben können ohne dich? All die Zeit, diese langen -zwei Jahre! Lange, schwere Jahre, Helene! Und dann, endlich, endlich, -neulich das Glück. Kaum getraut hab ich mich noch zu hoffen. Aber da -war es mit einem Male, ein Geschenk des Himmels, dein Geschenk, Helene. -Das Glück, das Glück, — deine Liebe!“</p> - -<p>Und mit einem Male sprach er wieder Deutsch. „Sag’ einmal, einmal nur: -ich hab dich lieb, Gaston ... Gaston ... hörst du ... Gaston, ich hab -dich lieb ...“</p> - -<p>Was hatte sie ihm nicht alles sagen wollen?! Wie hatte sie sich das -alles überlegt! Ruhig, verständig: ‚Es war ein Rausch, Herr von -Merivaux, der Rausch eines Augenblicks. So sehr ich mich schäme, ich -muß es Ihnen gestehen. Um Ihretwillen; ich bin es Ihnen schuldig. Ich -habe eine aufrichtige Zuneigung zu Ihnen, aber nicht mehr. Das langt -nicht für das Leben. Wenn Sie mir<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> zürnen, muß ich es tragen als die -Schuldige. Nur verachten Sie mich nicht.‘ Das alles hatte sie ihm sagen -wollen, und noch viel mehr. Ruhig, verständig, gewissenhaft. Ganz -scharf hatte sie es sich überlegt und erwogen.</p> - -<p>Und nun brachte sie kein Wort über die Lippen.</p> - -<p>Seine zartfühlende Art lähmte sie. Die innige Liebe, die aus seinen -Worten, aus seinem Wesen sprach, lähmte sie. Ihr Wille schmolz dahin. -Und sie dachte nur das eine: ‚Mein Gott, wie soll das werden?‘ Dachte -in tiefster Herzensangst: ‚Du kannst ja nicht nein sagen! Du hast ja -nicht die Kraft, ihm diesen Schmerz zuzufügen.‘</p> - -<p>Dann hörte sie wieder: „Ansehen sollst du mich, liebe Helene. Nur -einmal ansehen!“</p> - -<p>‚... Du hast nicht die Kraft, du hast wohl auch nicht das Recht! Was -kommt es denn auf dich an? Denke nicht an dich, denke an ihn! An seine -große Liebe!‘</p> - -<p>„Sag’ einmal: Gaston, ich ’ab dich lieb ...“</p> - -<p>Es klang so rührend, es klang so gut! Und sie war doch nun einmal die -Schuldige, die Schuldige geworden vor fünf Tagen, oben im Rackower -Park, im Mondenschein. Damals hätte sie sich wehren müssen, fliehen, -flüchten. Nun war es zu spät. Nein sagen, jetzt: es wäre eine -Unbarmherzigkeit gewesen und ein Unrecht. Er hätte sie verachten müssen -— oder es hätte ihn in die Verzweiflung gestürzt. Aus Mitleid mit ihm -schon durfte sie nicht nein sagen ...</p> - -<p>„Einmal nur: Gaston, ich ’ab dich lieb ...“</p> - -<p>Ganz langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu.</p> - -<p>Und stammelnd, wie ein Kind, sprach sie: „Ich, ich hab dich lieb ...“</p> - -<p>„Sag’: Gaston!“</p> - -<p>„... Gaston ...“</p> - -<p>Da nahm er sie in die Arme und küßte ihr die Tränen aus den Augen.</p> - -<p>Acht Wochen später gingen die Verlobungsanzeigen ins Land.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p> - -<p>Wilhelms waren nun längst wieder in Berlin, Omama und Helene mit ihnen.</p> - -<p>Man hatte sich etwas stark einschachteln müssen in der Wohnung. Helene -mußte mit der Mutter ein Zimmer teilen; der Flügel war in Wilhelms -Arbeitszimmer untergebracht worden. Eng war es, aber Martha wußte für -alles Rat. Sie freute sich der Omama wie eines lieben Vermächtnisses, -betreute und verhätschelte sie und wurde nur, dann und wann, ein -wenig ungnädig, wenn sie die Jungens gar zu sehr verzog, ihnen zur -unrechten Stunde eines ihrer unzähligen Hausmittelchen eindoktern -wollte, oder wenn Omama sich an ihrer Nähmaschine zu tun machte. Denn -diese Nähmaschine, die ihr Wilhelm kürzlich geschenkt hatte, war ihr -etwas wie ein Heiligtum. Sie kostete freilich auch fast genau hundert -Taler, und alle bekannten Damen kamen, um das neue Wunder anzustaunen, -das die Singer-Kompanie gerade erst in Preußen einzuführen begonnen -hatte. Omama konnte wohl ein Viertelstündchen dem Spiel des blanken -Schiffchens zusehen; dann aber ging sie meist, kopfschüttelnd, zu -ihrem Sorgenstuhl an das andere Fenster und schaute auf den Platz vor -der Halleschen Brücke hinaus; wenn dort zwei Omnibusse hielten, drei -Torwagen ihres Wegs zogen und ein halbes Dutzend Menschlein hasteten, -dann sagte sie: „Liebes Kind, welch eine Cohue! Welch eine Cohue!“ Und -sie schüttelte dabei die ewig kohlschwarzen, an jedem Morgen mit dem -Tolleisen gebrannten Locken, die zu zwei und zwei rechts und links an -ihren Schläfen wie Perpendikel hin und her schwangen.</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p>Einige Tage nach der Ankunft in Berlin war der alte Herr von Merivaux -gekommen, um die Braut seines Sohnes zu begrüßen. Ein stattlicher, -vornehmer Herr, mit einem rosigen Gesicht, langem, weißem Schnurrbart -und weißem Henriquatre; im Knopfloch seines schwarzen Gehrocks<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> trug er -ostentativ das Bändchen des Roten Adlerordens.</p> - -<p>Er war herzlich zu Helene, ein wenig zurückhaltend Wilhelms gegenüber. -Helene hatte die Empfindung, als ob er bisweilen seine Augen etwas -erstaunt, etwas enttäuscht über die einfache Einrichtung schweifen -ließe, und sie straffte sofort den Nacken: sollte ich ihm vielleicht -nicht gut genug sein, hat er eine reiche Schwiegertochter erwartet? -Aber sie mußte bald erkennen, daß sie sich getäuscht hatte. Der alte -Herr entwickelte eine herzgewinnende natürliche Liebenswürdigkeit. -Er sagte ihr die reizendsten Artigkeiten, erklärte, daß er sehr -erfreut wäre, eine preußische Aristokratin, eine Tochter aus so alter -märkischer Familie, zur Schwiegertochter zu erhalten — fügte lächelnd -hinzu: „Daß mein neues Töchterchen <em class="gesperrt">so</em> schön ist, konnte ich -freilich trotz Gastons Enthusiasmus nicht ahnen.“ Und dann kam die -Frage, die sie gefürchtet hatte. Wieder mit einem leichten Lächeln: -„Junge Leute haben es immer eilig, und sie haben recht. Man kann nicht -früh genug ganz glücklich werden. So darf ich gewiß fragen, ob Sie -schon den Termin der Hochzeit festgesetzt haben?“</p> - -<p>Sie schöpfte tief Atem. „Keinesfalls — vor Ablauf des Trauerjahres“, -sprach sie dann rasch und entschieden. Im gleichen Augenblick sah -sie, wie Gaston errötete, daß Wilhelm, der der französisch geführten -Unterhaltung nur mühsam folgen konnte, wie abwehrend die Hand hob.</p> - -<p>Aber da verbeugte der alte Herr sich schon gegen sie: „Pardon ... -ich muß wirklich sehr um Verzeihung bitten. Ihr Entschluß ehrt Ihre -Gesinnung, liebe Tochter. Eine gute Tochter wird stets auch eine gute -Frau. Sie haben durchaus recht. Gaston wird sich bescheiden müssen, so -schwer das seiner Liebe gewiß ist.“</p> - -<p>Gaston mußte sich bescheiden —</p> - -<p>Er mußte sich überhaupt bescheiden: Helene war eine sehr spröde, eine -herbe Braut. Sie war zu verständig, seiner Zärtlichkeit zu wehren, aber -sie erwiderte sie nicht.<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> Ein Dulden war’s, nie ein Geben. Und dann und -wann kamen Stunden, in denen sie sich ihm ganz zu entziehen suchte, wo -ihre Herbheit zur Härte wurde, ihre Kühle zur eisigen Kälte.</p> - -<p>Einmal sagte ihr Martha: „Nimm mir’s nicht übel, Lene, aber ich muß -dir die Leviten lesen. Du bist eine merkwürdige Braut! Hast du denn -Fischblut in den Adern? Oder ist es ein kokettes Spiel, das du mit -Gaston treibst? Ich an seiner Stelle ... ich ließe mir das einfach -nicht gefallen.“</p> - -<p>Merivaux hatte den Abend bei Wilhelm zugebracht. Als er aufbrach, -geleitete Helene ihn gerade bis an die Zimmertür. Er stand wartend, -ihre Hand in der seinen, mit einem bittenden Lächeln: „Nun ... du -kommst doch noch einen Moment mit hinaus, ’elene?“ Da hatte sie den -Kopf geschüttelt: „Geh nur! Gute Nacht!“</p> - -<p>Jetzt saß sie in dem alten Ohrenwangenstuhl, der von Rohlbeck aus -mitgewandert war, den Kopf ganz in die eine Ecke gedrückt, und Martha -stand vor ihr, im sonst so ruhigen Gesicht den ehrlichen Zorn.</p> - -<p>„Nein, ich ließe es mir wahrhaftig nicht gefallen! Ein so lieber Mensch -ist Gaston. Immer gleich artig, immer aufmerksam. Und immer aufs neue -sieht man, wie er dich liebt. Und du — wenn ich’s nicht besser wüßte, -möchte ich sagen: ein Eisblock bist du. Wenn er nur mal ordentlich -aufbrausen wollte! Dir deinen Kopf zurechtsetzen! Ich gönnte es dir!“</p> - -<p>Ganz fest drückte Helene den Kopf gegen das harte Polster. Die Augen -hatte sie geschlossen.</p> - -<p>„Manchmal möchte man wahrhaftig glauben, du hättest Gaston nicht lieb!“</p> - -<p>Die beiden Hände preßte Helene auf die Armlehne. Die schmale Falte -zwischen ihren Brauen grub sich tief ein.</p> - -<p>Und dann stand sie plötzlich auf, legte ihre Hände auf Marthas -Schultern: „Quäle mich nicht! Ich bin so müde!“ sagte sie. „Schlaf -wohl — wenn du kannst!“ und ging hinaus. Ging in ihr Zimmer, das -sie mit Omama teilen<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> mußte. Die lag schon im Bett, konnte aber nie -einschlafen, ehe die Tochter kam, und redete dann immer noch allerlei. -Halb waren’s Monologe, halb war’s an Helene gerichtet.</p> - -<p>„Dein Gaston ... ja ... dein Gaston! Anno dreißig oder einunddreißig -war ich in Karlsbad. Da lernte ich einen jungen Grafen Meerwedt -kennen. Auch so chevaleresk wie dein lieber Gaston. Da haben wir -einmal eine Partie in den Wald gemacht. Der Herr von Auerswald hatte -die entrepreniert ...“ Dann kam ein halblautes Lachen ... „und da war -eine junge Komteß Adelau, und mit einem Male war der Meerwedt und sie -verschwunden, und dann fanden wir sie, gerade als er sie embrassierte -... Ja, die Jugend!“</p> - -<p>Nun hatte sie schon Mutter gute Nacht gesagt und das Licht gelöscht. -Da fing Omama noch einmal an, kicherte ein wenig und sagte: „Hörst du -noch, Lenchen? Ich wollt nur sagen: vor dem guten Papa durft ich ja nie -davon reden. Der war ja immer so komisch, wenn ich von Körner erzählte. -Ja, wie war das doch nur? Ich find’s wohl nicht mehr recht zusammen. -Wie war das doch nur?“</p> - -<p>Ein Weilchen schwieg Omama. „Richtig, Lene, jetzt hab ich’s. Hörst -du? Es ist so hübsch, was der Theodor sagt: Drum leb’, wer das Küssen -und Lieben erdacht ... ja ... wer das Küssen erdacht ... Ich war auch -einmal jung ... Küßt du ihn gern, deinen lieben Gaston?“</p> - -<p>Ein leises Kichern wieder, ein halblautes: „Ja ... die Jugend ...“ Bald -kamen die tiefen, ruhigen Atemzüge. Omama schlief. Gewiß lag auf ihrem -guten Antlitz zwischen all den Runzeln und Fältchen ein Lächeln der -Erinnerung.</p> - -<p>Aber Helene fand und fand keinen Schlaf, bis der Morgen graute. Auf ihr -lastete die Gegenwart, und sie fürchtete sich vor der Zukunft.</p> - -<p>Wie sie alles jetzt hinausschob, hinauszögerte, als erwartete sie, daß -irgendein kommender Tag ihr eine Befreiung bringen könnte, so hatte sie -auch die nötigsten Besuche<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> hinausgeschoben. Schließlich sah sie selber -ein, es mußte der Pflicht genügt werden.</p> - -<p>Es waren der Besuche ja auch nicht viel zu erledigen. Von den Kameraden -Merivaux’ waren nur wenige verheiratet.</p> - -<p>Aber auch Tante Marianne Oschitz stand auf der kleinen Liste. Es -herbstete schon stark, als das Brautpaar vor der einsamen Insel -vorfuhr; und als Helene am Arm Merivaux’ durch den Vorgarten schritt, -dachte sie unwillkürlich: ‚nun sind es drei Jahre, seit du hier -einzogst. Erst drei Jahre — schon drei Jahre! Die dir mehr Erleben -gebracht haben, mehr als alle anderen. Und kein Glück ...‘</p> - -<p>Sie dachte noch daran, als sie vor Tante Marianne stand. Es mochte wohl -nicht so glücküberströmend klingen, wie das gleiche Wort aus anderem -Mädchenmunde: „Mein Bräutigam, liebe Tante.“</p> - -<p>Die kleine alte Frau machte einen hinfälligen Eindruck. Sie hatte sich -bei dem Eintritt der beiden mühsam erhoben, kam ihnen auf dem Stock mit -schwerer Elfenbeinkrücke gestützt entgegen, sagte freundlich mit ihrer -leisen, sanften Stimme: „Ich freue mich herzlich. Der Segen Gottes möge -mit eurem Bunde sein —“, und dann stutzte sie plötzlich.</p> - -<p>Es war nur auf einen Moment, sie nötigte gleich zum Sitzen. -Immerhin war es so auffallend, daß es Helene nicht entging. Sie sah -auf Merivaux, wie eine Erklärung suchend. Aber der stand gerade -aufgerichtet, nach seiner Gewohnheit Tante Marianne mit seinen großen, -blauen Augen hell ansehend. Immer sah er allen Leuten so ins Gesicht, -so offen und zuversichtlich.</p> - -<p>Tante Marianne war heut sehr weich und gütig, zeigte ein lebhafteres -Interesse, als sonst ihre Art war, erkundigte sich nach Merivaux’ -Heimat, nach seinen Plänen für die Zukunft; schien sich zu freuen, als -er frisch und fröhlich antwortete: „Ich ’ab nur einen Plan für die -Zukunft, meine Frau recht glücklich zu machen.“ Sie<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> lächelte, nickte -und hatte gleich eines ihrer alten Sprüchlein: „Wer glücklich ist, kann -immer glücklich machen! ... Sie haben so zuversichtlich glückliche -Augen, lieber Herr von Merivaux.“</p> - -<p>„Ich ... glückliche Augen, gnädige Frau?“</p> - -<p>„Jawohl, glückliche Augen. Sorge nur, Helene, daß ihnen jeder trübe -Schatten erspart bleibt.“</p> - -<p>Sie sprachen noch dies und das. Dann war es Zeit, aufzubrechen. Aber -als sie sich schon empfohlen hatten, hielt Tante Marianne Helene noch -einmal zurück. Ihre Stimme bebte ein wenig, und in ihrem kleinen, -blassen Gesicht lag ein Zug des Ergriffenseins. „Ist dir das auch schon -aufgefallen,“ flüsterte sie hastig, „daß dein lieber Gaston die Augen -von meinem Harro hat? Ganz Harros Augen.“ Und sie hob sich plötzlich -auf den Zehenspitzen und küßte die Nichte zärtlich: „Lang mögen sie dir -leuchten ... lang ...“</p> - -<p>Draußen, im Vorgarten, fragte Merivaux: „Was hatte deine Frau Tante dir -noch anzuvertrauen?“</p> - -<p>Sie schüttelte den Kopf. „Nichts Besonderes, Gaston —“ und ging mit -gesenktem Kopf neben ihm weiter bis zum Wagen. ‚Ja, Harros Augen‘, -dachte sie. ‚Seine Augen, Harros Augen ... die haben es mir damals -angetan, im Rackower Park ... —‘</p> - -<p>Eine verhaltene Bitterkeit, fast etwas wie ein Vorwurf, lag in dem -Gedanken. Sie fühlte es selber, empfand es als ein Unrecht. Fühlte sich -ihm gegenüber ja so oft im Unrecht. Als sie im Wagen saßen, war es ihr, -als müßte sie etwas gutmachen ihm gegenüber. Sie zwang sich, auf seine -lebhafte Unterhaltung einzugehen, mit ihm zu plaudern. Und sie fand -plötzlich, daß das gar nicht so schwer war. Er erzählte so anregend, er -hatte so viele Interessen.</p> - -<p>Einmal sagte sie, ein wenig nachdenklich: „Ich finde eigentlich, -Gaston, daß du dich in den letzten Jahren recht verändert hast.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p> - -<p>„<span class="antiqua">Mon Dieu</span> ...“ gab er halb im Scherz, halb wirklich erschrocken -zurück ... „Zu meinem Nachteil?“</p> - -<p>„Nein, Gaston. Als ich dich kennen lernte, konnte ich in dir nicht mehr -sehen als einen flotten, jungen Offizier.“</p> - -<p>„Und nun?“</p> - -<p>„Jetzt bin ich bisweilen erstaunt, wieviel du weißt. Daß dich Literatur -und Kunst so stark interessieren.“</p> - -<p>Er scherzte wieder: „Also gewiß ... du hast mich damals unterschätzt.“ -Dann wurde er ernst: „Es liegen drei Jahre dazwischen, Helene. Drei -Jahre bedeuten viel im Menschenleben. Oder richtiger, sie können -viel bedeuten. Mir haben sie jedenfalls manch innere Wandlung -gebracht. Aber ich könnte dir zurückgeben, was du mir sagst. Als ich -dich kennen lernte, warst du auch nur ein wunderschönes charmantes -Mädchen, dem eine gütige Fee die herrliche Stimme geschenkt hatte — -eine Zufallsgabe schließlich. In den drei Jahren bist du eine andere -geworden —“</p> - -<p>Da hielt der Wagen. Sie mußten aussteigen, um bei Frau von Gélieu die -Karten abzugeben und zu erfahren, daß die gnädige Frau ausgegangen wäre.</p> - -<p>Als sie dann wieder im Wagen saßen, war Helene es, die den abgerissenen -Faden der Unterhaltung neu aufnahm.</p> - -<p>„Du sagtest, ich wäre eine andere geworden. Ich wünschte dir, ich wäre -das junge Mädchen geblieben, das ich damals war.“</p> - -<p>„Helene!“ rief er.</p> - -<p>„Du würdest glücklicher sein.“</p> - -<p>Es war ein Zwang in ihr, ihn anzusehen, als sie das sagte. Aber sie sah -in so leuchtende Augen, daß sie den Blick senken mußte.</p> - -<p>„Ich kann nur noch glücklicher werden!“ sagte er dann heiß. Schwieg -einen Moment, schöpfte tief Atem und fuhr fort, nun sehr ernst. „Es -ist wirklich nicht anders, liebe Helene: ich kann nur noch glücklicher -werden. Ich weiß, daß wir es beide werden. Da du davon angefangen hast, -will ich es dir gestehen: ich leide gewiß oft unter<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> deinem harten -Wesen. Wie könnte es anders sein! Aber sieh: mein Vater ist ein sehr -kluger Mann. Als wir drei neulich zum letztenmal beisammen waren, ging -ich mit ihm den weiten Weg bis zu seinem Hotel. Wir sprachen natürlich -von dir — nur von dir. Er ist sehr empfänglich für Frauenschönheit. -So war er bezaubert von deiner Erscheinung. Dann schwieg er eine ganze -Weile und sagte endlich: ‚Weißt du auch, Gaston, daß du dir deine Braut -erst erobern mußt? Ihre Seele ist noch nicht bei dir.‘ Die Hand hab ich -ihm gegeben: ‚Ich weiß es, Papa. Aber ich werde um sie werben, nimmer -müde, bis sie ganz mein ist. Denn ich habe sie lieb über alles in der -Welt.‘“</p> - -<p>Sie saß wieder mit gesenktem Kopf, sprach kein Wort.</p> - -<p>Mit einem Male hörte sie neben sich sein frisches, fröhliches Lachen, -das so seltsam klang nach seinen ernsten Worten und doch in diesem -Augenblick so wohltuend und befreiend war.</p> - -<p>Er deutete zum Fenster hinaus: „Hier wohnte einst mein Landsmann -Merveilleux. Kennst du seine Geschichte mit dem Droschkenkutscher? -Also wir Schützen sind doch nun mal lebenslustige Leutchen. Zwei von -uns, Merveilleux und Pfuel, waren es ganz besonders. Abend für Abend -tollten sie in Berlin herum, und oft graute der Morgen, ehe sie daran -dachten, in unser Quartier, hier weit draußen, an der Köpenicker -Landstraße, zurückzukehren. So waren sie der Schrecken der biederen -Droschkenkutscher geworden. Die fürchteten die Fahrt nach der Kaserne -wie das höllische Feuer. Geht eines Abends Pfuel allein aus. Es wird -wieder peinlich spät oder früh, ist außerdem ein schreckliches Wetter -— <span class="antiqua">gressillement</span>, wie wir’s nennen. Mein Pfuel will also -fahren, erwischt auch eine <span class="antiqua">voiture</span>. Kaum aber sieht ihn der -Droschkenkutscher — sie kannten ihn alle — so haut er auf sein Pferd -ein und ruft nur noch: ‚Adieu, Pfuel, ... grüßen Sie Murmeljahn!‘ Fort -war er. Und jetzt sind wir bei unserer Kommandeuse —“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span></p> - -<p>Seine ernsten Worte — sein frohes Lachen tönten in ihr nach. Sie -fühlte sich frischer und freier. ‚Man muß ihn gern haben‘, dachte -sie. ‚Ich müßte ihn liebhaben.‘ Und sie dachte weiter: ‚Vielleicht — -vielleicht werde ich ihn liebhaben.‘</p> - -<p>In dieser Stimmung ging sie auch endlich zu Frau Harriers-Wippern. -Nicht zuletzt auch auf seinen Wunsch. Er hatte schon so oft gebeten, -daß sie den Unterricht wieder aufnehmen sollte.</p> - -<p>Die Lehrerin kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. „Ich hab -ja schon gratuliert, aber ich möchte meinen Glückwunsch gern noch -einmal mündlich und recht innig wiederholen. Ich habe mich so sehr -gefreut, liebes Fräulein Helene! Nicht zuletzt, weil unser Merivaux der -Glückliche ist.“</p> - -<p>‚Unser Merivaux‘ ... es klang Helene Hackentin ganz eigen.</p> - -<p>Sie saßen wieder beieinander in dem kleinen Gartenzimmer der Sängerin, -und Helene hörte, doch mit einiger Verwunderung, wie beliebt und -geschätzt ihr Bräutigam in den engeren musikalischen Kreisen war. -„Es ist merkwürdig, wie viele Offiziere gerade in Berlin wirklich -verständnisvolle Musikfreunde sind. Aber unser Merivaux steht da in -erster Reihe. Ich meine natürlich nicht als ausübender Künstler — -darauf kommt es ja auch gar nicht an. Aber er hat die rechte Liebe, -hat Verständnis, hat Urteil ... und hat seine besondere, so unendlich -liebenswürdige Gabe, das alles zum Ausdruck zu bringen.“ Frau Harriers -hielt immer noch Helenes Hand und drückte sie herzlich: „Mein erster -Gedanke, als ich die Anzeige las, war ein Gedanke der Freude: sie -beide passen so trefflich zueinander. Eine kleine Spur Selbstsucht war -auch dabei, daß ich’s nur gestehe: so geht Helenens Kunst doch nicht -verloren!“</p> - -<p>Helene war wortkarg, war in tiefem Sinnen. Sie hatte in den letzten -drei Monaten so wenig an ihren Gesang gedacht. Manchmal, wenn Merivaux -bat, wenn er sie zum<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> Flügel führen wollte, hatte sie abgewehrt — wie -sie immer abwehrte. Ein-, zweimal hatte er seine Geige mitgebracht: sie -hatte auch ihn nicht gebeten, zu musizieren. Nun fühlte sie auch hier -ein Unrecht. Und empfand seinen Zartsinn, der nie ungeduldig wurde, nie -drängte, nie einen Vorwurf hatte, als besondere Güte.</p> - -<p>„Ich hoffe, Fräulein Helene, Sie bringen mir ihn bald. Vielleicht -musizieren wir dann einmal zusammen. Wie aber steht’s mit uns beiden? -Sie nehmen doch die Stunden wieder auf?“ Frau Harriers schrak ein wenig -zusammen, sie bemerkte wohl erst jetzt, daß die Braut ganz in Schwarz -gekleidet war. „Ja so, Sie armes Kind! Aber ich meine, Musik, gute -edle Musik eint sich auch mit der tiefsten Trauer. Sie trägt uns ja -himmelan, über alles Irdische hinweg.“</p> - -<p>„Die ‚Elsa‘ möchte ich jetzt ruhen lassen ...“ sagte Helene gepreßt. -„Ich kann nicht ...“</p> - -<p>„Das verstehe ich. Lassen Sie mich nur sorgen. Wir halten unsere alte -Zeiteinteilung fest — nicht wahr? Und grüßen Sie mir Ihren lieben -Gardeschützen, der so gut in Ihr Herz zu treffen wußte.“</p> - -<p>Daß er nur besser in das Herz getroffen hätte ...</p> - -<p>Daß dies herbe spröde Herz sich gar nicht regen wollte ...</p> - -<p>Überall, wo Helene hinkam, hörte sie Merivaux rühmen, hörte sie sein -Lob. In den verschiedensten Schattierungen. Wilhelms liebten ihn -schon jetzt wie einen Bruder; er hatte Tante Mariannens so schwer -zu erringendes Wohlgefallen gewonnen; die Frauen der verheirateten -Kameraden hatten sie ein wenig geneckt, daß sie den charmantesten aller -Junggesellen im Bataillon in Amors Fesseln geschlagen; der Kommandeur -hatte Wilhelm gegenüber Merivaux einen der begabtesten Offiziere -genannt und einen unübertrefflichen Kameraden.</p> - -<p>Manchmal hatte sie gedacht, sich zum schwachen Troste: ja doch ... er -ist ein liebenswürdiger Charmeur! Nun hörte und erkannte sie selber -alle Tage mehr, daß das doch nur die Außenseite seines Wesens war. Daß -die glänzende<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> Hülle auch einen schönen edlen Kern barg. Daß er gut, -vornehm denkend, daran hatte sie nie gezweifelt. Jetzt aber wußte sie, -daß er auch ein grundgescheiter, ein vielseitig gebildeter Mann war. -Und vor allem sah und fühlte sie immer tiefer, wie innig und heiß er -sie liebte.</p> - -<p>Immer wieder sagte sie sich: man muß ihn gern haben ... ich müßte ihn -liebhaben ...</p> - -<p>Nur: ihr Herz wußte nichts von ihm.</p> - -<p>Es kamen Augenblicke, Stunden, in denen es in ihr schrie: wenn er -dich doch einmal recht schlecht behandeln wollte! Wenn er dich doch -einmal fühlen lassen wollte, wie kalt und schlecht du gegen ihn bist! -Vielleicht verlangt die Hackentinsche Brut die Peitsche, anstatt des -Zuckerbrots!</p> - -<p>Aber er blieb immer der Geduldige, Nachsichtige, Rücksichtvolle; -dankbar für die geringste Freundlichkeit, für das kleinste -Entgegenkommen, für ein gutes Wort, für ein Lächeln.</p> - -<p>Dabei fühlte sie hinter all der Geduld und Nachsicht sein heißes Blut, -sein starkes Temperament, sein Begehren, fühlte, wie er sich zwang und -wie er litt. Sie fühlte es, sie sah es. Es war ihr eine eigene Qual, -wenn er manchmal, auf kurze Momente, die Lider sinken ließ, verstummte. -Nur um sie gleich wieder mit hellen, guten Augen anzusehen, wie ein -Bittender. Wie einer, der da weiß: ich werde um sie werben, nimmer -müde, bis sie mein ist.</p> - -<p>Und dann empörte sie wieder diese Zuversicht, dies Vertrauen und -Selbstvertrauen. Empörte sie gleich einem Zwang: als ob er ihren Willen -beugen, sie knechten wollte in alle Zukunft hinein. Scharf wurde sie -dann und bitter. Bis sie sich doch wieder sagte, es ist ja nur seine -große, große Liebe, die auf Gegenliebe hofft und wartet.</p> - -<p>Wenn er litt, ohne zu klagen, so litt sie nicht minder, und auch sie -hatte niemand, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Ganz genau wußte -sie: es würde sie niemand verstehen.</p> - -<p>Es gab Tage, in denen eine wehrlose, wohltuende Müdigkeit über ihr lag. -Dann war sie sanft, nachgiebig auch zu ihm; duldete seine Zärtlichkeit, -hatte sogar eine leise<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> Freude, einen stillen Genuß manchmal an einem -guten Gespräch mit ihm; hörte ihn spielen, ging vielleicht selbst an -den Flügel, sang irgendein schwermütiges Lied. Aber gerade der Moment -war meist der Gipfelpunkt. Wenn sie ihn dann hinter sich stehend wußte, -seinen Atem fühlte, seine Hand sah, wie sie sich nach dem Notenblatt -ausstreckte, um es zu wenden, kam der Rückschlag. Sie brach jäh ab, -sprang auf — und es kamen Augenblicke, in denen es ihr eine boshafte -Freude war, ihm wehe zu tun. Eine Freude, die sie tiefste Qualen und -schmerzhafteste Scham kostete.</p> - -<p>Das waren die Augenblicke, in denen sie darauf wartete: jetzt muß -er doch gehen, um nie wiederzukommen. Und doch erschauerte: wenn er -aber nie wiederkäme? Das waren dieselben Augenblicke, in denen sie -vom wehsten Mitleid erfüllt war für ihn und in denen sie sich selber -ganz als Schuldige fühlte. Frau Harriers war wenig zufrieden mit ihrer -Schülerin in diesem Winter.</p> - -<p>Wilhelm kümmerte sich fast gar nicht um das Brautpaar; Martha sah -schließlich doch nur die Oberfläche, dachte höchstens, sagte es -vielleicht: „Du bist eine recht unausstehliche Braut.“ Mutter führte -ihr Traumleben weiter, verschmolz sich Gegenwart und Vergangenheit, -verwechselte Merivaux gelegentlich mit einem ihrer Söhne und legte -neuerdings Rouge auf. Wohl Berlin zu Ehren. Wobei es vorkam, daß nur -die eine Wange rosig leuchtete, die andere vergaß sie.</p> - -<p>Ganz verlassen und vereinsamt fühlte sich Helene oft. Grenzenlos unnütz -dabei. Den Haushalt in der Stadtwohnung hielt Martha allein wie am -Schnürchen. So war sie zur Untätigkeit verurteilt, spürte auch so wenig -Neigung, sich wirtschaftlich zu betätigen. Und selbst ihre Kunst dünkte -sie oft ein Zwang.</p> - -<p>Nur mit den Jungens beschäftigte sie sich mehr als früher.</p> - -<p>Den äußeren Anlaß gab, daß Hans ein paar Male mit einem französischen -<span class="antiqua">exercice</span> hilfesuchend zu ihr kam: „Hilf, Tante Helene. Du hast -ja einen Bräutigam, der solch halber<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> Gallier ist.“ Da sie in der Tat -fertig Französisch sprach und schrieb, konnte sie helfen. Und sie half -so gern — es war ihr eine wahre Wohltat, irgend jemand helfen zu -können. Bald kam auch Thede mit dem einen oder dem anderen Anliegen. -Richtiger: wenn der Ältere bat, forderte der Jüngere. Aber er tat’s -mit einer so drollig unverschämten Miene, daß man ihm nicht böse sein -konnte.</p> - -<p>Manchmal war es ihr, als lernte sie die beiden Neffen erst jetzt recht -kennen. Und auch dann hatte sie wieder ihre stille Freude. Hans war -nun fast sechzehn Jahre, ein langaufgeschossener, ein wenig ungelenker -Jüngling, der seine junge Sekundanerwürde mit einigem Selbstbewußtsein -trug; ein Bücherwurm und Grundtoffel, fleißig und hübsch besinnlich. -Thede war viel lebhafter, renommierte gern einmal ein wenig, lernte -spielend, was der Ältere sich mühsamer erobern mußte. Bisweilen malte -Helene sich im stillen den Lebenslauf der beiden aus, horchte sie -wohl auch daraufhin aus. Hans wollte Architekt werden oder Techniker, -Eisenbahningenieur, Maschinenkonstrukteur; Thede schwärmte für den -bunten Rock, den ja alle Hackentins getragen hatten. Aber er hatte auch -seine besonderen Gedanken dabei: die junge preußische Flotte reizte -ihn, Kapitän Jachmann von der „Arcona“, der den Dänen bei Jasmund so -wacker die Zähne gezeigt, war sein Held und Vorbild.</p> - -<p>Das war sicher: die Jungens gingen einmal andere Wege, als die -Hackentins bisher, Generation auf Generation, gegangen waren. In ihnen -war noch genug von dem feurigen guten Blut des alten Geschlechts, aber -das Blut der Mutter hatte sich eingemischt, drang kräftig durch; mehr -noch bei dem Älteren, aber doch auch bei Thede. Sie fanden sich gewiß -einmal gut mit dem Leben ab und in ihm zurecht. Wurden vielleicht -endlich einmal wieder Mehrer, nicht Verzehrer.</p> - -<p>Helene dachte oft: die Hackentins können es brauchen! Gerade in diesem -Winter kam ihr das recht klar zum Bewußtsein.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span></p> - -<p>Daß es in Rackow kriselte, hatte sie schon im Sommer erkannt. Einmal -erzählte Wilhelm, Ernst sei nur mit vieler List an der Schuldhaft -vorbeigekommen. Nun erfuhr man, daß die Gläubiger das Sequester -eingeleitet hatten. Dann kam Onkel Ernst nach Berlin. Aber wenn Helene -gemeint hätte, daß er niedergeschlagen sein müsse, so hatte sie sich -getäuscht. „Ja, ja, meine liebe Martha,“ meinte er mit seinem leisen -behaglichen Lachen, „wir wären also glücklich pleite. Klingt sehr -häßlich, nicht wahr? Ist aber gar nicht so schlimm. Ein paar Jahre, und -wir sind wieder obenauf. Außerdem aber — wozu hat man seine hübschen -kleinen Konnexionen — außerdem hab ich für die Karenzzeit ein Pöstchen -als Kurdirektor in Ems erobert. Man kann auch so leben, meine Lieben.“ -Dabei sah er unter seinem Einglas um die Ecke auf Tante Marie hin. -Deren kleines Gamingesichtchen war freilich ein wenig spitzer geworden, -aber sie trug den Nacken noch steifer als sonst. „<span class="antiqua">Enfin</span>, ich -freue mich auf Ems. In der Saison haben wir da die Creme der ganzen -europäischen Gesellschaft. Lauer hat gesagt, Majestät müßten im Sommer -unbedingt hin. Mignonne, ich lade dich ein, wir wollen ein bissel Staat -mit dir machen. Aber dann bist du wohl schon ein glückliches kleines -Frauchen, und Merivaux wird sich nicht von dir trennen wollen.“</p> - -<p>Als sie gegangen waren, lachte Wilhelm hinter ihnen her: „Ernst ist wie -eine Katze, er fällt schließlich immer wieder auf die Füße. Vielleicht -haben wir Hackentins alle etwas von der glücklichen Eigenschaft. -Manchmal denk ich, unser Leichtsinn ist wie ein Schwimmgürtel, der -in der Gefahr die besten Dienste tut ... Martha, ich bitt’ dich, -mach’ nicht solch mechantes Gesicht. Und du, Lene ... na, du siehst -ja jetzt oft aus wie eine betrübte Lohgerberswitwe, der alle Felle -fortgeschwommen sind ... komisches Mädel ... nur daß dir auch das gut -steht!“</p> - -<p>Ja, es mußte ihr wohl gut stehen, daß ihr Gesicht so viel schmaler, daß -sein Ausdruck so viel ernster geworden war.</p> - -<p>Sie war nicht eitel, aber sie war doch ein junges Mädchen<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> und ging -dem Spiegel nicht aus dem Wege. Und wenn er es ihr nicht gesagt hätte, -würden es ihr die Männeraugen verraten haben, die ihr überall folgten, -bis zur Peinlichkeit.</p> - -<p>Einmal sagte sie zu Merivaux: „Ich hab heute nacht geträumt, daß ich -die Pocken bekommen hätte. Furchtbar häßlich war ich geworden, und als -du kamst, hast du dich mit Abscheu von mir gewendet.“</p> - -<p>„Aber, Helene, wie kann man nur solch törichtes Zeug träumen?“</p> - -<p>„Es ist gar nicht so töricht. Im Gegenteil, es beschäftigt mich -sehr. Nimm einmal an, der Traum wäre Wahrheit, ich wäre plötzlich -sehr häßlich geworden. Dann würde deine Liebe zu mir sehr schnell -zerstieben. Das ist mir ganz sicher. Gib’s nur ehrlich zu — ich nehme -es dir nicht übel.“</p> - -<p>Sie sah ihm scharf in die Augen, wartete ungeduldig. Denn das wußte -sie, er sprach immer die Wahrheit.</p> - -<p>Da wurde er ernst. „Es tut mir weh, daß du so klein von mir denkst.“</p> - -<p>„Ich denke gar nicht klein von dir. Es wäre ja nur natürlich, wenn du -mich dann nicht mehr liebtest.“</p> - -<p>„Nein: es wäre sehr unnatürlich, Helene. Um der Wahrheit die Ehre zu -geben: vielleicht würde ich mich in Helene Hackentin nicht verliebt -haben, wenn sie nicht so wunderschön wäre. Aber verliebt sein und -lieben ist doch zweierlei. Jetzt liebe ich dich! Und wahrhaftig: ich -liebe doch nicht nur deine Schönheit, ich liebe dich um all deiner -Eigenschaften willen. Ich lieb deine Stimme, ich lieb dein Herz und -deine Seele, ich lieb dich, wenn du sonnig dreinschaust, und ich lieb -dich, wenn die Schatten über deinen schönen Augen liegen. Glaub’ es mir -nur: und wenn du heut häßlich würdest wie die Nacht, ich würde dich -lieben, lieben — lieben!“</p> - -<p>Er hatte seinen Arm um sie gelegt, er zog sie sanft an sich, enger -dann, immer fester. Ihren Kopf bog er sacht zu sich, bis ihr Widerstand -nachgab: „Ich liebe dich! Deine<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> Seele liebe ich!“ Und er küßte sie auf -die geschlossenen Lider, er küßte die geschlossenen Lippen. — —</p> - -<p>Das waren wieder Augenblicke, in denen es in ihr Herz einzog, wie -träumendes Glücksempfinden: „Ich werde ihn lieben ... ich liebe ihn -schon ... vielleicht ... vielleicht lieb ich ihn wirklich ...“</p> - -<p>Dann folgten Stunden, Tage, in denen sie ruhiger wurde, glauben lernte, -sich zurecht fand, sich zwang und besiegte. Um das Weihnachtsfest spann -sich solche Zeit freieren, froheren Aufatmens für sie. Ein wohliges -Gefühl des Zusammengehörens überkam sie, eigentlich zum ersten Male. -Sie gingen miteinander durch die menschenüberfüllten Straßen, ihre -kleinen Einkäufe zu besorgen. Mit den frohlockenden Jungens zogen -sie im rieselnden Schnee auf den Weihnachtsmarkt, der rund um das -alte Zollernschloß an der Spree aufgebaut war, traktierten sie bei -Josty an der Stechbahn, dem großen Süßigkeitsmann, mit Schokolade und -Pfannkuchen; Helene erzählte von Onkel Grucker und Tante Hufnagel, und -Gaston erzählte, wie er in Berlin erst den Christbaum kennen gelernt -und deutsches Weihnachten. Gemeinsam mit Martha schmückten sie die -Tanne. Dann kam der heilige Abend selber mit seinem heimeligen Zauber, -mit Fichtennadelduft und Kerzenweihrauch. So liebevoll hatte Gaston an -sie und an alle gedacht, so herzlich freute er sich über ihre kleinen -Gaben. Von einem zum andern ging er, küßte der Omama die Hand, ließ -sich von ihr streicheln, wie ein Kind; stand dann mit der Braut unter -dem leuchtenden Christbaum, sah sie mit seinen blauen zärtlichen Augen -an, fragte leise, bittend: „Hast du mich lieb?“ Da drückte sie ihm die -Hand und sagte hochaufatmend: „Ich hab dich lieb, Gaston.“ Sagte es, -wie befreit, und war gewiß, daß sie die Wahrheit sprach.</p> - -<p>Durch die ganze frohe Festzeit hielt die schöne Stimmung an. Am -Silvesterabend hatte Wilhelm nach den polnischen Karpfen einen Punsch -gebraut. Rechte Fröhlichkeit wollte freilich nicht aufkommen; eine -leise Wehmut lag auf dem kleinen Kreise, die Erinnerung an Vater, der -am letzten<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> Abend des Jahres immer seine kleinen Scherze getrieben -hatte mit Schiffchenschwimmen und Bleigießen und groß gewesen war im -Ausdeuten mit seinem „das heißt“. Unwillkürlich knüpfte sich manch -anderer Rückblick auf das schwindende Jahr an. Wilhelm stöhnte ein -wenig: es war geschäftlich ein schlechtes Jahr gewesen; der Zwist -zwischen Regierung und Abgeordnetenhaus wollte nicht enden, und -haarscharf nur war Preußen am Zerwürfnis mit seinem Bundesgenossen -von Schleswig-Holstein her, mit Österreich, vorübergekommen. „Wie -Blei lastet die Politik auf jeder Unternehmungslust“, meinte er. „Wer -mag denn sein Geld riskieren, wenn vielleicht schon die nächsten -Monate Krieg bringen können. Krieg mit Österreich — es ist gar nicht -auszudenken. Wenn Vater das erlebt hätte, der immer auf Österreich -geschworen hat!“</p> - -<p>„Wir Soldaten — wir sehnen natürlich solch frischen fröhlichen Krieg -herbei“, warf Gaston dazwischen.</p> - -<p>Da schrak Helene zusammen: „Sag’ das nicht!“ bat sie leise. „Sag’ das -nicht!“</p> - -<p>„Ich wär ein schlechter Soldat, wollt’ ich’s nicht sagen. Als -Offizier Seiner Majestät ... nun ja, und es regt sich wohl auch das -Landsknechtsblut meiner Ahnen. Damit mußt du dich schon abfinden, -Helene.“</p> - -<p>„Krieg — es ist etwas Schreckliches um den Krieg.“</p> - -<p>Omama saß am anderen Ende des Tisches, hatte ein kleines Nickerchen -gemacht, aber die letzten Worte doch verstanden: „Kind,“ sagte sie, „es -kann auch etwas Heiliges sein. Anno achtzehnhundertdreizehn ... ja ... -und da haben die armen Frauen, die nichts anderes hatten, ihre goldenen -Trauringe gegen eiserne vertauscht ...“</p> - -<p>„Leicht würde unser allergnädigster Herr gewiß den Mobilmachungsbefehl -nicht unterschreiben“, meinte Wilhelm. „Krieg gegen Österreich — und -mit Österreich vielleicht ganz Deutschland gegen uns ... es bleibt ein -Wagnis. Ich hoffe immer noch, Bismarck findet einen anderen Ausweg, -obwohl oft behauptet wird, er triebe uns dem Kriege zu.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span></p> - -<p>„... ja ... und Fräulein von Schmettau ließ sich ihr schönes Haar -abschneiden ... hat’s an den Coiffeur verkauft und das Geld fürs -Vaterland hingegeben ...“</p> - -<p>„Daß der Herr von Bismarck den Krieg will, glaube ich nicht. Aber er -weiß wohl, daß der Krieg oft eine Notwendigkeit ist, um aus verrotteten -Zuständen herauszukommen, und er kennt keine Furcht. Solche Politik -treibt er sicher nicht, wie die, die uns arme treue Neuchateller elend -im Stich ließ.“</p> - -<p>„... ja ... und da hielt ich das kleine Bändchen von Körner in der Hand -... ‚Leyer und Schwert‘ stand darauf ...“</p> - -<p>Ganz still saß Helene.</p> - -<p>Sie dachte eigentlich nicht an Gaston, daß der mit hinausziehen -müßte ins Feld. Es war nur eine unklare, unheimliche Angst in ihr. -Harro tauchte vor ihr auf, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte: die -Primanermütze keck auf dem lockigen Blondhaar. Und Tante Marianne in -den schwarzen Trauerkleidern, mit dem blassen Gesicht, das kleiner und -immer kleiner zu werden schien. Wie unzählige trauerten gleich ihr, und -wie kurz war der Feldzug gegen Dänemark gewesen, wie gewaltig mußte ein -Krieg gegen das mächtige Österreich werden. Wie gewaltig, wie blutig.</p> - -<p>Plötzlich brausten von der Straße her die lauten Neujahrsrufe. Die -Glocken klangen.</p> - -<p>„Auf ein glückliches neues Jahr!“ rief Wilhelm. Merivaux stand vor -seiner Braut, sah ihr in die Augen. „Ein glückliches neues Jahr, -’elene,“ sagte auch er, und sie wußte, wie er das meinte und verstand. -Beide Hände streckte sie ihm hin: „Viel Glück wünsch ich dir, Gaston — -all das reiche Glück, das du verdienst!“</p> - -<p>Da kamen auch schon die Jungens hereingesprungen, halb angezogen nur, -trotz des Verbots. Thede brüllte sein „Prosit Neujahr!“, Hans ging -reihherum, seinen Glückwunsch zu sagen. Ganz zuletzt kam er zu Helene -und Merivaux,<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> machte ein etwas verlegenes Gesicht und einen etwas -linkischen Kratzfuß und begann:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Das alte Jahr ist nun verschwunden,</div> - <div class="verse indent0">In dem ihr beide euch gefunden.</div> - <div class="verse indent0"><em class="gesperrt">Du</em> kamst aus stolzem Bergesland,</div> - <div class="verse indent0"><em class="gesperrt">Du</em> stammtest aus dem märkischen Sand:</div> - <div class="verse indent0">Es gibt der Berg und Talesgrund</div> - <div class="verse indent0">Ganz sicher einen guten Bund!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Hallo!“ rief Wilhelm lachend. „Das sind ja Verse — es reimt sich -wenigstens.“</p> - -<p>Hans wurde rot wie ein Puter, aber er fuhr tapfer fort:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„So lang ihr lebt, wird dieses Jahr</div> - <div class="verse indent0">Euch immer scheinen wunderbar.</div> - <div class="verse indent0">Und seid ihr alt wie Omama,</div> - <div class="verse indent0">Sagt sicher ihr: wie schön war’s da!</div> - <div class="verse indent0">Doch wünschen wir, die hier vereint,</div> - <div class="verse indent0">Daß euch die Sonn’ noch heller scheint,</div> - <div class="verse indent0">Daß ihr seid wieder übers Jahr</div> - <div class="verse indent0">Ein glückumstrahltes Ehepaar!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Der Junge, der Junge!“ Wilhelm hatte sich in einen Sessel fallen -lassen und klatschte in die Hände: „Was sagst du dazu, Martha? Na, -Mamachen, das hat er sicher von dir!“</p> - -<p>Gaston hatte Hans rechts und links einen festen Kuß auf die roten -Wangen gedrückt. Er war gerührt und wiederholte immer aufs neue: -„Scharmant — scharmant! Nicht wahr, Helene? Scharmant: ‚Daß ihr seid -übers Jahr — ein glückumstrahltes Ehepaar.‘“</p> - -<p>„Ja, Gaston“, sagte Helene leise. Und nahm Hansens Kopf zwischen ihre -beiden Hände: „Du guter Junge ... ich danke dir ...“</p> - -<p>Omama hatte, während Hans sein Poem deklamierte, aufgemerkt, und, die -Lippen bewegend, still mitskandiert; einmal den Kopf geschüttelt, dann -so lebhaft zustimmend genickt, daß die schwarzen Schläfenlocken weit -vornüberfielen. Nun wollte sie aufstehen. Martha sprang hinzu,<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> stützte -sie. So ging sie langsam um den Tisch herum, legte dem Enkel ihre Hand -auf den Scheitel, machte vor dem Brautpaar einen kleinen graziösen -Knix, und es schien, als wollte auch sie irgendein eigenes Verslein -sprechen. Aber sie fand wohl die Worte nicht, murmelte ein Weniges, was -niemand recht verstehen konnte, und sagte dann endlich: „Ja ... ja ... -ihr Kinder ... übers Jahr ... ein glückumstrahltes Ehepaar ...“ — —</p> - -<p>Am Neujahrstag war Helene in der Garnisonkirche gewesen, auf Merivaux’ -besonderen Wunsch, denn sonst ging sie meist mit Martha zu Büchsel in -die Matthäikirche. Aber Gaston wollte, daß sie einmal Strauß predigen -hören sollte — und Gaston selber war heut in die Garnisonkirche -kommandiert. Sie hatten sich freilich nur flüchtig begrüßen können. -Aber er hatte ihr doch nach dem Gottesdienst vor der Tür die Hand -geküßt, und sie hatte ihm dann noch nachgeschaut, während er seine -Gardeschützen die Alte Friedrichstraße heraufführte, zurück zur Kaserne.</p> - -<p>So herrlich hatte Strauß gesprochen. Über die Unruhe der Zeit und den -Frieden im eigenen Herzen. Der alte König hatte in der Loge gesessen, -mitten unter seinen Kriegern, ehrwürdig und sichtlich ergriffen.</p> - -<p>An die Predigt dachte Helene und an den königlichen Greis, während -sie langsam über die Spreebrücke schritt, am Museum vorbei, durch den -Lustgarten. An die Unruhe der Zeit und den inneren Frieden, den Frieden -des Herzens. Auch ihre Zeit war voll Unruhe gewesen, aber nun zog -allmählich der Friede in ihr Herz. „Wir müssen um ihn kämpfen, auf daß -er uns gegeben werde!“ hatte der Prediger gesagt. Auch sie hatte um ihn -gerungen, nach ihren Kräften, und nun fühlte sie ihn in ihrer Brust. -Nicht freilich als ein berauschendes Glück. Aber der Friede nach dem -Kampf war wohl nimmer solch ein ganzes, volles Glück, denn das Weh der -Kämpfe mußte noch lange, lange nachklingen. Und doch ein Glück! Eine -wohlige Ruhe, ein friedvoller Ausblick aus der Gegenwart in die Zukunft -— das war es!</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p> - -<p>Über die Schloßbrücke ging Helene, am Kronprinzenpalais und dem -Opernhaus vorüber; blieb ein paar Augenblicke am Denkmal des Großen -Friedrich stehen, sah zu dem Eckfenster des Palais empor, an dem sich, -wie sie gehört hatte, der König häufig zeigte, wenn die Wache aufzog. -Aber es war wohl noch zu früh. Langsam ging sie weiter, die Linden -entlang.</p> - -<p>Gerade wollte sie die Charlottenstraße überschreiten, da erschrak sie -heftig. Es war wie ein Schlag. Das Herzblut stand ihr still ...</p> - -<p>Drüben, vom Gendarmenmarkt her, kam ein Paar.</p> - -<p>Eine elegante, nein — eine aufgeputzte Dame, sehr groß, sehr robust, -mit flatternden Hutbändern um das volle Gesicht, das gewiß einst schön -gewesen war —</p> - -<p>Und neben ihr — neben ihr — Alfred Schwarz —</p> - -<p>Fliehen wollte Helene, fliehen. Aber ihr Fuß stand wie gebannt.</p> - -<p>Mühsam trat sie endlich ein paar Schritte zurück, trat in einen -Hauseingang. Er sollte sie nicht sehen, durfte sie nicht erkennen.</p> - -<p>Doch dann fühlte sie: er erkannte sie nimmer.</p> - -<p>Alles sah sie, nichts entging ihr, während sie tief in den Hauseingang -gedrückt stand und das ungleiche Paar drüben vorüberging, so nah, daß -sie die laute Stimme der Frau hören konnte. Nicht die einzelnen Worte, -aber den unfreundlichen, schneidenden Ton.</p> - -<p>Alles sah sie. Er war noch immer sehr elegant angezogen, aber die -Kleider schlotterten um seine Glieder. Die Frau — seine Frau sprach -auf ihn ein. Da kam ein spöttisches Lächeln in seine Züge. Dann schlich -er weiter. Sein Stock stieß schwer auf die Steine. Jetzt bogen sie in -die Linden ein — — —</p> - -<p>Helene stand noch immer in der Flurnische und rührte sich nicht. Sie -starrte auf die Stelle, wo er soeben drüben Halt gemacht hatte, um Atem -zu schöpfen, wo er spöttisch gelächelt hatte, wie jemand lächelt, der da -denkt:<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> was verschlägt’s?! Der Vorhang fällt, die Komödie ist aus — —</p> - -<p>Das Herz krampfte sich ihr zusammen.</p> - -<p>Das also war die Frau, um derentwillen er sie betrogen hatte und -gedemütigt! Kaum zweihundert Schritte von hier, damals, als sie in der -Winternacht vor seinen Fenstern stand, als hinter den blauen Vorhängen -die Lichter aufflammten und die Silhouetten sich scharf abzeichneten: -er und sie —</p> - -<p>Wie die Erinnerungen kamen! Da hatte man geglaubt, sie seien eingesargt -für immer. Und nun stiegen sie empor, lebten ein neues Leben, bohrten -sich ins Herz.</p> - -<p>Die Erinnerungen kamen und der Zorn und die Scham. Und dann über alles -hinweg das große, große Mitleid.</p> - -<p>Es war nicht mehr Liebe. Aber es war doch das Mitleid, das aus der -Liebe geboren war. Die war tot, war tot — und lebte doch weiter -in diesem alles durchdringenden Mitleid. Sie lebte weiter in den -Erinnerungen, die längst eingesargt waren, und die doch wieder -auferstanden, wühlten und schmerzten. Die immer wieder auferstehen -würden, über die nichts hinwegtrug — nichts —</p> - -<p>Und alles andere war Betrug und Selbstbetrug. Betrug war und Einbildung -der erkämpfte Frieden. Betrug war, daß dies Herz je, jemals einen -anderen lieben könnte. Betrug war jeder Kuß, den diese Lippen gaben, -Betrug jedes Wort der Zärtlichkeit, Betrug jede Hoffnung auf ein -zukünftiges Glück. — —</p> - -<p>Zu Hause waren sie im Festtagskleide und in Festtagsstimmung. „Schade -nur, schade, daß der gute Gaston heut nicht kommen konnte, daß er -Kasernendienst hatte. Gerade heute, armes Bräutchen ...“ meinte -Wilhelm. „Bissel elend sieht die Helene aus. Hat wohl ein kleines -Silvesterkäterchen.“</p> - -<p>Sie scherzten und lachten. Sie konnten scherzen und lachen und das neue -Jahr in Gedanken und Wünschen mit Rosengirlanden umwinden — — —</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span></p> - -<p>Dann saß Helene in der Enge ihres Zimmers und schrieb, während Omama -dicht neben ihr auf dem Kanapee träumte, Bogen auf Bogen an Gaston; -zerriß Bogen auf Bogen, kämpfte ihre Tränen und ihr Schluchzen -herunter, daß Omama nichts merke, setzte wieder an, fand nicht Anfang -und nicht Ende.</p> - -<p>Was sollte sie schreiben?!</p> - -<p>Bis sie dann endlich, in angstvoller Verzweiflung, ein paar Worte fand:</p> - -<p>„Ich flehe Dich an, Gaston, gib mich frei. Wenn Du mich lieb hast, -und ich weiß, Du hast mich sehr lieb, so gib mich frei. Ich bin sehr -schlecht. Ich habe Dich betrogen und belogen. Ich kann nicht vergessen, -und von Dir weiß mein Herz nichts. Sei Du barmherzig zu mir, wie Du -immer gütig warst: gib mich frei. Deine unglückliche Helene.“</p> - -<p>Sie überlas gar nicht, was sie geschrieben hatte, kuvertierte, schrieb -die Adresse, huschte die Treppe hinunter zum nächsten Briefkasten, warf -den Brief ein. Und wäre fast zusammengebrochen, als der kleine Deckel -mit leisem Rascheln zuschlug — hinter dem Briefe, der ihr Schicksal -barg.</p> - -<p>In fliegender Hast, wie gepeitscht, war sie auf die Straße geeilt. -Schwer und langsam stieg sie die Treppe hinauf. Und suchte sich einen -stillen Winkel, um sich auszuweinen. Zu weinen um den einen und um den -anderen. — —</p> - -<p>In all ihrer Verzweiflung stand ihr eins klar vor der Seele: daß -Gaston sie nicht ohne Kampf aufgeben würde. Sie wußte, er kam gewiß. -Sie wartete darauf mit angstvollem Herzen, suchte ihre armen schwachen -Waffen der Abwehr zu schmieden. Rechnete sich aus: in aller Frühe -hat er deinen Brief; der Dienst wird ihn noch ein paar Stunden -festhalten, aber dann — dann kommt er — und er wird vor dir stehen -und Rechenschaft fordern.</p> - -<p>Er kam. Noch früher, als sie erwartet, schon gegen zehn Uhr.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span></p> - -<p>Sie hörte die Flurschelle, hörte seine Stimme. Er sprach mit Martha: -„Wo ist Helene?“ — „Guten Morgen, lieber Gaston. Entschuldige meine -Toilette. Helene? Drinnen bei Omama —“ Dann kamen seine festen Tritte -durch das Wohnzimmer, dann ging die Tür —</p> - -<p>Helene saß neben ihrer Mutter am Fenster, zum erstenmal wohl im Leben -wie bei Omama Schutz suchend. Saß mit dem Rücken gegen die Tür, wagte -nicht aufzustehen, nicht aufzusehen.</p> - -<p>Er kam gerade auf beide los, küßte Omama die Hand, sagte: „Ich muß -Helene allein sprechen. Du erlaubst wohl.“ Nahm Helene an der Hand, -zwang sie mit sanftem Druck. Willenlos folgte sie. In das Nebenzimmer -führte er sie, bis zum Sofa. Und als sie dann saß, faßte er wieder ihre -Hand und sagte: „Meine liebe arme Helene!“</p> - -<p>Sie bebte, und die Tränen kamen ihr, als sie seine warme Stimme hörte, -den zärtlichen Druck seiner Hände fühlte.</p> - -<p>„Wollen wir deinen Brief nicht als ungeschrieben betrachten?“ fragte -er. „Du hast das in der Erregung geschrieben, unter irgendeinem fremden -Einfluß. Es ist am besten, Helene, wir vergessen es beide.“</p> - -<p>Sie schüttelte nur langsam den Kopf.</p> - -<p>„Liebe Helene, du bist sehr sensibel, läßt dich von Stimmungen -beeinflussen. So war es sicher auch gestern. Ich glaube nicht, daß du -mit Überlegung geschrieben hast. Vielleicht weißt du heut gar nicht -mehr, was du schriebst. Sag’ mir, daß es dir leid tut. Ein Wort von -dir, und es ist alles wieder gut.“</p> - -<p>Er sprach ganz ruhig. Aber sie fühlte aus dem Unterton seiner Stimme, -wie traurig er war.</p> - -<p>Wieder konnte sie nur den Kopf schütteln. Doch dann machte sie -plötzlich ihre Hand frei, hob sie vor die Brust und bat mit einer -letzten starken Willensanspannung: „Ich bitte dich ... laß mich frei!“</p> - -<p>Es war ein Schweigen zwischen ihnen.</p> - -<p>„Wenn ich dich nicht so heiß liebte, Helene,“ sagte er<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> dann, „würde -ich nun gehen. Wenn ich dich nicht so sehr liebte, wäre ich gar nicht -gekommen. So aber ... Du mußt mich hören. Gerade in der letzten Zeit -fühlte ich deutlich, daß alles anders, besser zwischen uns wurde. Ich -war so beglückt darüber. Und nun ... nun dein jäher Entschluß.“</p> - -<p>Er wartete. Aber sie schwieg, hatte immer noch beide Hände vor die -Brust gedrückt, sah starr zu Boden.</p> - -<p>„Helene, das weißt du: du hast in mir den treusten Freund.“</p> - -<p>Sie nickte ein paar Male, schluchzte leise auf.</p> - -<p>„Würde es dein armes wundes Herz nicht erleichtern, wenn du dem -treuen Freunde Vertrauen schenktest? Vielleicht kann er dich trösten, -vielleicht könnte er dir raten und helfen.“</p> - -<p>Da sah sie auf und ihn an. Wie durch einen Flor von Tränen sah sie sein -trauriges Gesicht und seine gütigen Augen.</p> - -<p>Er nahm wieder ihre eiskalten Hände in die seinen.</p> - -<p>„Sprich dich aus, Helene“, bat er. „Du wirst Verständnis bei mir -finden. Denn das, was du schreibst: ich mag es gar nicht wiederholen — -das ist ja alles nur Traum und Selbstquälerei. Sprich nur, Helene, sag’ -mir alles ...“</p> - -<p>Da begann sie.</p> - -<p>Aber sie stockte gleich wieder. Hub wieder an —, sagte ganz leise: -„Ich kann nicht, Gaston ...“</p> - -<p>„Versuche es nur. Nicht um meinetwillen ... denk’ nur immer daran: hier -sitzt dein bester Freund, der dir gern beistehen möchte in deiner Not.“</p> - -<p>So sagte sie ihm alles. Ihr jubelndes Glück und ihr tiefstes Leid und -wie sie sich langsam aufgerichtet hätte und gestern, gestern noch froh -und glücklich gewesen wäre, bis sie ihm begegnet war. Ihm! Wie da alles -wieder in ihr aufgelebt wäre, plötzlich, in tausend Schmerzen —</p> - -<p>In kleinen Bruchstücken nur kam es über ihre Lippen. Sie mußte sich oft -zwingen. Sie weinte leise. Fand wieder<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> ein paar Worte, mühsam, hastete -dann in ihrer Rede wie im Fieber. Ihre Hände zitterten in den seinen, -krampften sich zusammen, streckten sich wieder —</p> - -<p>Und endlich schloß sie: „Ich bin sehr schlecht gewesen zu dir. Ich hab -dich belogen und betrogen, damals im Park ... und immer ... immer. Ich -kann ja nicht vergessen ... es ist ja gar nicht aus in mir ... es wird -ewig leben ... und nun geh, lieber Gaston, geh ... vergiß du mich ... -wenn du kannst, verachte mich nicht ...“</p> - -<p>Sie konnte nicht weiter. Tief sank der Kopf auf die Brust. Schluchzen -erstickte die letzten Worte und ward zum stillen Weinen.</p> - -<p>Aber in diesem Weinen keimte allmählich ein Verwundern in ihr auf: -warum hält er immer noch meine Hände? Und warum tut mir das so wohl ...</p> - -<p>Dazwischen hörte sie seine Stimme: „Weine dich nur aus, Helene“, und -nach einer Weile: „Kannst du mich jetzt hören?“</p> - -<p>„Ich danke dir viel, vielmal für dein Vertrauen, Helene“, begann -er dann. „Nichts ist, als daß deine Nerven dir einen bösen Streich -gespielt haben. Still, Helene, höre nur weiter. Niemand von uns -vergißt wohl je ganz eine große Freude, ein großes Leid. Das mag tief -untertauchen im Gedächtnis, aber plötzlich ist es wieder auf der -Oberfläche. Vergessen können wir alle nicht, wir können nur überwinden. -Darauf kommt es an. Du aber hast ja längst überwunden.“</p> - -<p>Sie schüttelte wieder schwer den Kopf.</p> - -<p>„Du hast es, glaub’ es mir. Die Erschütterung riß nur den Schmerz -wieder auf. Laß einige Tage dahingehen, und auch das ist überwunden. -Seh ich aus wie einer, der sich betrogen und belogen fühlt. Sieh doch: -ich lächele schon wieder.“</p> - -<p>Sie sah immer noch wie durch einen Schleier von Tränen. Aber sie sah, -daß er wirklich lächelte, ihr wie ermutigend zulächelte aus seinen -guten Augen. Und lächelnd fuhr er fort:</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span></p> - -<p>„Ja, Helene, sieh mich nur an! Mit deinen lieben, zagen, zweifelnden -Augen. Es wird nicht in Trümmer gehen, ich halte es, mein Glück! Ich -lasse dich nicht, Helene! Ich halte dich, ich zwinge dich. Man zwingt -nicht nur mit Gewalt: Liebe und Geduld, Geduld und Liebe sind meine -Waffen. Und ich werde siegen!“</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Elftes_Kapitel">Elftes Kapitel</h2> - -</div> - -<p>Martha und Merivaux saßen im Wohnzimmer sich gegenüber.</p> - -<p>Es war Ende März, und draußen meldete sich der erste Frühling. Zag -noch, wie verschämt, aber ausnahmsweise kalendermäßig. Auch die -Truppen hatten bereits Frühling gemacht, zogen fleißig auf den -Kreuzberg, früher als sonst; es lag ja außer dem milden Frühlingswehen -auch allerlei Unruhe in der Luft. Österreich, hieß es, mobilisierte -insgeheim. Man erzählte wieder einmal von scharfen diplomatischen Noten -über die Regelung der Verhältnisse in Schleswig-Holstein, über die -Erbansprüche des Augustenburgers, denen Bismarck im Interesse Preußens -widerstrebte; man erzählte, wie hinter diesen Noten das Verlangen nach -einer neuen Ordnung des deutschen Bundes stehe.</p> - -<p>Darüber sprachen auch Martha und Gaston.</p> - -<p>Er war von einer Truppenübung gekommen, hatte am Halleschen Tor sein -Pferd dem Burschen übergeben und war heraufgesprungen, um Helene guten -Morgen zu sagen. Aber sie war ausgegangen. Martha meinte, sie müsse -bald heimkehren. Da bat er um ein Butterbrot.</p> - -<p>Und so saßen sie sich gegenüber; er frühstückte und erzählte allerlei, -was die Zeitungen in den letzten Tagen gebracht und was er sonst -erfahren hatte. Er sprach sehr lebhaft und war sehr entrüstet über die -laue Stimmung in Berlin.</p> - -<p>Martha hörte lächelnd zu, bis er plötzlich schwieg und, nun auch -lächelnd, meinte: „Ich glaube, beste aller Schwägerinnen, du lachst -ganz veritabel über deinen untertänigsten Diener.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span></p> - -<p>„Das nun gerade nicht, Gaston. Eigentlich freu ich mich nur über dich. -Aber, weißt du, merkwürdig kommt’s mir schon vor, wie du dich verändert -hast.“</p> - -<p>„Ich? Wieso denn?“</p> - -<p>„Ja, so leicht ist das nicht zu sagen. Einmal rein äußerlich. Wenn ich -so denke, wie du radebrechtest, fast radebrechtest, als ich dich kennen -lernte, und wie gut du jetzt unsre swere Sprak’ sprichst — das ist -doch schon erstaunlich. Sogar über das H kommst du ganz glatt hinweg.“</p> - -<p>„Das macht die Übung, Martha. Gerade des H! Denk’ doch nur, wenn man -alle Augenblicke Helene sagen möchte, wenn man sogar Helene laut denkt, -alle Tage, alle Stunden, alle Minuten —“</p> - -<p>„Sei so gut und laß wenigstens die Sekunden aus. Obwohl ich dir das -auch zutrauen würde. Die Sprache ist doch nur ein Äußerliches. Du hast -dich aber in den letzten Jahren auch zum Preußen umgedacht.“</p> - -<p>„Umgedacht — das ist ein neues Wort, das ich mir merken werde. — Ich -bin doch Offizier Seiner Majestät des Königs von Preußen.“</p> - -<p>Sie schob ihm den Teller mit den Brötchen näher und schenkte ihm sein -Glas wieder voll.</p> - -<p>„Das warst du früher auch. Aber du warst es, sozusagen, als -Neuchateller. Jetzt aber merke ich, daß du ganz Preuße geworden bist. -Fast möchte ich sagen: Märker. Wie du vorhin auf die Demokraten -geschimpft hast, mußte ich an meinen guten seligen Schwiegerpapa -denken. Viel besser konnte das der alte Rittmeister auch nicht.“</p> - -<p>Martha hatte bisweilen im Gesicht einen Ausdruck von Schelmerei, der -ihr allerliebst stand. So auch jetzt. Gaston machte ihr eine kleine -Verbeugung: „Ich muß dich öfter zum Lächeln bringen,“ meinte er, „du -hast dann zwei Grübchen in der Wange, die ganz reizend sind. Pardon -für die Abschweifung. Ja ... du hast recht,“ fuhr er fort, „als ich -eintrat, war mir Preußen eigentlich völlig Nebensache. Aber es ist wohl -so: wenn man mit Leib und Seele Soldat ist, schließt man sich eben an -das große Ganze immer<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span> enger an. Und dies Preußen hat überhaupt eine -merkwürdige Assimilationskraft. Eure Mark noch besonders. Erst hab ich -riesengroße Sehnsucht nach meinen Bergen gehabt und euren Sand fast -gehaßt. Nun lieb ich ihn.“</p> - -<p>„Es blüht freilich ein gewisses schönes Röslein auf diesem Sande — ein -schönes Röslein, wenn es auch Dornen hat.“</p> - -<p>„Laß nur die Dornen, <span class="antiqua">ma belle-sœur</span> — Die sind gar nicht so bös -mehr ... Aber es scheint, da kommt Helene —“</p> - -<p>Er war, als die Flurglocke klang, sofort aufgesprungen und ging seiner -Braut entgegen. Die Tür blieb offen. Martha konnte von ihrem Platz -aus gerade sehen, wie sie sich begrüßten. Sie lächelte wieder, aber -diesmal fehlte die Schelmerei in ihrem Gesicht. Sie wunderte sich nur, -sie ärgerte sich ein wenig, und sie dachte daran, wie sie einst ihrem -Wilhelm bei jedem Wiedersehen, und wenn es nach einer Trennung von -wenigen Stunden gewesen, an den Hals geflogen war.</p> - -<p>Diese beiden da blieben ewig und immer zeremoniös. Gaston küßte -Helene die Hand, sie hielt ihm, wenn es hoch kam, die Wange hin; dann -schüttelten sie sich die Hände wie zwei gute Freunde; er nahm ihr den -Mantel ab, und sie sprachen miteinander wieder wie gute Kameraden. Sie -hörte es: „Du hier, Gaston!“ — „Ja, Helene, auf einen Sprung, gerade -vom Kreuzberg. Verzeih den Dienstanzug.“ — „Aber ich bitt dich.“ — -„Wo warst du denn, wenn ich fragen darf?“ — „Bei Frau Harriers.“ — -„Das freut mich —“</p> - -<p>Früher, vor zwei, drei Monaten noch, war zwischen den beiden dort -häufig etwas wie ein Kampfzustand gewesen, ein heimliches Ringen, das -auch dem Unbeteiligten nicht verborgen bleiben konnte. Jetzt schienen -sie sich in einem schönen Gleichmaß gefunden zu haben. Schön? War -dies Gleichmaß wirklich schön? Ja ... wenn man nicht beiden doch -immer angemerkt hätte, daß es nur auf ein Beherrschen herauskam. Wenn -man nicht das starke Temperament gekannt hätte, das in den beiden -steckte. Auch in der Lene. Gerade in der Lene! Man brauchte ja nur -zurückzudenken —</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p> - -<p>Sie kamen herein. Helene nickte der Schwägerin zu. „Kann ich von -Gastons Frühstück mit profitieren?“</p> - -<p>„Du wirst dem hungrigen Kriegsmann doch nicht seine paar kümmerlichen -Brötchen fortessen. Wart’, ich hol’ dir was.“</p> - -<p>Hinaus war sie. Aber hinter der Tür blieb sie stehen. ‚Die Welt wird -nicht umstürzen, wenn ich einmal lausche. Ob sie sich jetzt wenigstens -einen ordentlichen Kuß gaben?‘</p> - -<p>Sie horchte vergeblich. Die da drinnen sprachen wie zwei gute Freunde. -Von Musik natürlich wieder. Musik ist ja eine schöne Sache — ohne -Zweifel. Aber ein Brautpaar hat doch eigentlich etwas Besseres zu tun. -„Wir haben die Elsa wieder aufgenommen ...“ „Ich hätte mir den Schritt -vom belcanto zu Wagner doch nicht so schwer gedacht ...“ „Alles kommt -darauf an, den Charakter herauszuarbeiten, der Persönlichkeit gerecht -zu werden.“ ‚Du mein Gott, werdet euch doch selber gerecht, ihr beiden -lieben Narren. Wenn ihr wüßtet, wie kurz selbst eine lange Brautzeit -ist und daß sie so nie wiederkehrt. Ihr Narren — ihr Narren!‘</p> - -<p>Ärgerlich gab sie den Lauscherposten auf, ging in die Küche, machte -eigenhändig eine Schrippe zurecht, benutzte die Gelegenheit, ihrer -Minna nach bewährtem Rohlbecker Rezept gründlich den Kopf zu waschen, -weil gestern abend ein baumlanger Grenadier vor der Küchentür gestanden -hatte — „anständige Mädchen sind nicht so verliebt wie du dumme -Trine!“ — und ging ins Wohnzimmer zurück.</p> - -<p>Da saßen die beiden immer noch in ansehnlicher Distanz und sprachen -immer noch kluge Worte. Diesmal hatten sie die Literatur beim Wickel. -Natürlich — Lene schmökerte ja neuerdings in jeder freien Stunde, -anstatt mal in der Küche nach dem Rechten zu sehen, was für eine -angehende Hausfrau jedenfalls wichtiger wäre. Und wovon schnackten sie? -Von dem neuen Roman, von dem jetzt alle Welt redete, der „Ägyptischen -Königstochter“. Hilf, Himmel ... wann spielte die Geschichte? Im -sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt? Wenn es noch der herrliche -Roman gewesen wäre,<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> der jetzt gerade in der „Gartenlaube“ erschien: -„Goldelse“ hieß er ja wohl. Aber das alte Ägypten!</p> - -<p>Da saßen sie und redeten Bücher, und die Schrippe rührte Helene auch -nicht an. Redeten und redeten — und machten sich selber nur was -vor. Man brauchte sie ja nur anzusehen: Gaston sprach ganz ruhig, -in seinem allerschönsten Deutsch, aber in seinen Augen lohte das -verhaltene Feuer. Die Marlitt, oder wie die Verfasserin des Romans in -der „Gartenlaube“ hieß, hätte leidenschaftliche Augen nicht besser -beschreiben können, als man sie hier sah. Und Lene saß da, sprach -ebenso ruhig, sah aber gar nicht auf. Nun, man kannte ja ihre Augen. In -denen lag jetzt immer ein eigner feuchter Schimmer. Man kannte sie — -aber klug wurde man aus ihnen nicht und aus Helene überhaupt nicht. Nur -daß das Gesicht immer blasser und immer schmaler wurde, das sah man, -aber dabei wurde das Mädel auch immer hübscher. Zum Verwundern war’s.</p> - -<p>Endlich schien sich Gaston an Marthas Anwesenheit zu erinnern.</p> - -<p>„Wo ist Wilhelm eigentlich, liebe Martha?“</p> - -<p>„In Warschau. Es schwebt da ein Projekt wegen der Verlängerung der Bahn -über die russische Grenze hinaus.“</p> - -<p>„Der gute Wilhelm muß viel auf der Eisenbahn liegen.“</p> - -<p>„Ja — leider —“</p> - -<p>Dann sprachen die beiden schon wieder miteinander. „Wir müssen -nächstens in die Ausstellung am Kantianplatz, Helene. Es ist ein -wunderschöner Richter dort.“</p> - -<p>‚Wofür die sich auch alles interessierten? Musik — Literatur — -Malerei — und waren Braut und Bräutigam und saßen da wie die Ölgötzen.</p> - -<p>Mochten sie! Was hatte Gaston gesagt? Der gute Wilhelm! Ja ... leicht -hatte er’s ja nicht. Aber man hatte es auch nicht leicht, so viel -allein mit den großen Jungens, die Vaters Hand noch so sehr bedurften. -So viel allein! Beinahe so viel allein, wie früher in Rohlbeck. Aber es -ging wohl nicht anders. Zuerst war der Verdienst an der Bahnkonzession -wie unerschöpflich erschienen. Du mein<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> Gott! Nachher war er zum -größten Teil vorgegessenes Brot gewesen. Als Tante Marianne bezahlt war -und die vielen Wechsel eingelöst waren, da blieb nicht arg viel. Sparen -konnte Wilhelm ja nicht — leider —‘</p> - -<p>‚Leider —‘</p> - -<p>Und da ging die Tür, und Omama kam herein, auf ihren Stock gestützt. -Die schwarzen Locken pendelten rechts und links von den Schläfen, und -sie hatte wieder nur auf einer Wange Rouge aufgelegt. Aber sie lachte -vergnügt: „Ich muß doch einmal nach unserem lieben Brautpärchen sehen -... Was das Lenchen heut wieder für verliebte Augen macht ...“ — —</p> - -<p>Gaston hätte wohl vor Glück gejauchzt, wenn aus Helenes Augen ihm -einmal die Liebe entgegengeleuchtet haben würde. Aber sie blieb -gemessen und kühl. Sie wehrte sich nicht mehr, sie trotzte nicht mehr, -sie weinte nicht mehr. Sie schien ganz ruhig geworden nach dem einen -letzten großen Sturm um die Jahreswende.</p> - -<p>Er wartete.</p> - -<p>Es gab wohl Stunden, in denen er verzweifeln wollte, in denen er -meinte: es geht so nicht weiter, du trägst es nicht mehr! Du pochst -gegen einen Stein, der nie Funken sprühen wird.</p> - -<p>Aber er zwang sich immer wieder.</p> - -<p>Sie waren wirklich gute Freunde geworden. Martha sah ganz recht.</p> - -<p>Manchmal dachte Helene: es ist ja nicht anders als früher, wir waren -ja immer gute Kameraden. Manchmal dachte sie: wir werden immer gute -Freunde bleiben, ohne Streit und Zwist; was könnte ich mir Besseres -wünschen; wie viele Ehen mögen selbst dieser Freundschaft entbehren. -Aber oft, oft, in einsamen Stunden schrie es auch in ihr: soll es nun -immer, immer so weitergehen! Und wenn du’s erträgst, kann er es denn -ertragen, soll er darben ein ganzes langes Leben hindurch! Denn sie -fühlte, daß hinter seinem beherrschten Wesen die Leidenschaft wachte, -daß er wartete<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> von Tag zu Tag. Und je vertrauter sie miteinander -wurden, desto mehr litt sie um ihn, und konnte ihm doch nicht helfen.</p> - -<p>‚Gib mich frei!‘ hatte sie ihn noch einmal gebeten. Er hatte nur -den Kopf geschüttelt. In seinem Gesicht aber stand dabei ein fast -fanatischer Ausdruck, wie sie ihn einst auf alten Märtyrerbildern -gesehen hatte: ein Ausdruck des Leidens und des Glücks im Leiden. -Dann war das Gesicht weich geworden. ‚Niemals!‘ hatte er gesagt. ‚Du -kannst mir verbieten, dich zu sehen. Dich zu lieben kannst du mir nicht -verbieten.‘</p> - -<p>Oft dachte sie an seine Worte: ‚Wir alle können nicht vergessen, aber -wir können überwinden. Und du hast längst überwunden.‘</p> - -<p>Sie hatte nicht daran geglaubt, damals, als die Begegnung mit Schwarz -ihr das Herz zerrissen. Nun wußte sie, daß er doch recht gehabt.</p> - -<p>Wenige Tage später sprach Frau Harriers-Wippern plötzlich von Schwarz. -Achselzuckend, mitleidig: „Sie kannten ihn ja. Er war immer ein Bruder -Leichtsinn, der seine Gaben verschleuderte wie sein Geld. Jetzt war -er hier, ohne Engagement. Zu mir ist er nicht gekommen, er schämte -sich wohl. Aber ich hörte, daß es ihm schlecht geht, und daß er sehr -unglücklich mit seiner Frau lebt. Röder hat ihnen beiden schließlich -ein Engagement nach Odessa besorgt, aber mit einer Gage, die wohl -gerade nur das Leben fristet.“ Sie seufzte leise. „Einer von vielen. -Wer in unserem Beruf nicht Charakter hat und starken Willen, der leidet -leicht Schiffbruch.“</p> - -<p>Sie hatte es geahnt, und das Mitleid preßte ihre Seele, als sie es -nun hörte. Die heiße Erregung jedoch, welche die Begegnung in ihr jäh -wachgerufen, zitterte nicht mehr in ihr. Es war so, wie Gaston gesagt: -überwunden hatte sie. Nur das Mitleid blieb. Und vielleicht nur ein -dumpfes Weh: Die Leidenschaft für ihn hat all deine Kraft zur Liebe so -ausgeschöpft, daß dein Herz arm geworden ist und arm bleiben wird für -immer.</p> - -<p>Gaston sprach zu ihr nie von dem Termin der Hochzeit.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p> - -<p>Aber sie hörte, daß er mit den Geschwistern davon gesprochen, daß er -den Frühherbst in Aussicht genommen hatte. Dann und wann kam auch die -praktische Martha mit einer Anfrage wegen der Aussteuer. Sie hatte -schon Leinen eingekauft und die Näherin im Hause, als könnte es gar -nicht anders sein. Als ganz selbstverständlich, als Pflicht nahm sie es -an, daß sie für Mutter eintrat.</p> - -<p>Zuerst war Helene zusammengezuckt, als Martha von all dem sprach. Aber -dann hatte sie lächeln können. „Du ordnest das gewiß am besten — ich -danke dir.“ Und sie wunderte sich selber: ihr graute nicht vor der -Entscheidung, ganz ruhig nahm sie sie hin. Wieder mit dem Empfinden: -wie wenigen Mädchen mag die Erfüllung der höchsten Wünsche vergönnt -sein, wie unendlich viele müssen sich bescheiden. Du hast es immer noch -gut: Du hast Gaston sehr gern, du schätzt ihn, ihr seid eins in so -vielem, so vielem. Unglücklich mit ihm kannst du nie werden. Nur ob du -ihn glücklich machen wirst ...?</p> - -<p>Sie war ruhig und gefaßt.</p> - -<p>„Meine liebe Hackentin“, sagte einmal Frau Harriers etwas unzufrieden. -„Sie sind ein wunderliches Menschenkind. Ich habe bei meinen -Schülerinnen doch schon so manches erlebt, aber solche Wandlungen noch -nie wie bei Ihnen.“</p> - -<p>Helene wurde rot. Sie hatte immer noch diesen jähen Farbenwechsel, ja -er war wohl noch auffallender, seit ihr Gesicht blaß und durchsichtig -geworden war. „Was hab ich denn verbrochen?“ fragte sie etwas kleinlaut.</p> - -<p>„Gar nichts. Sie schreiten in der Technik unaufhaltsam fort, ich werde -Ihnen bald nichts mehr zu geben wissen. Aber die Technik ist doch nicht -alles. Du lieber Gott! Das Organ gab Ihnen die gütige Natur, und wer -die Stimme hat, kann schließlich bei dem nötigen Fleiß all das dazu -lernen, was die Kunst zu lehren vermag. An Fleiß fehlt’s bei Ihnen auch -nicht. Aber ich habe mit Ihnen Zeiten von so schwankender Stimmung -durchgemacht, daß ich manchmal vor Rätseln stehe. Wie oft hab ich -zügeln<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> müssen, wenn das Temperament mit Ihnen durchgehen wollte —“</p> - -<p>Sie standen vor dem Flügel. Die Stunde war beendet, im Vorzimmer -wartete wohl schon eine andere Schülerin, oder der Herr Baumeister, der -Gatte der Sängerin, wartete gar mit dem Mittagessen. Frau Harriers war -ein wenig ungeduldig. Sie schloß den Flügel.</p> - -<p>„Ja ... und soll ich Ihnen sagen, wie jetzt Ihre Stimme klingt? -Apathisch klingt sie. Nach Resignation klingt sie! Alles schön, rund, -tadellos, ein wahrer Genuß, diese Atemökonomie! Aber manchmal singen -Sie ... wie drück’ ich’s nur aus? ... nun, wie aus Pflichtgefühl, aus -einem müden Pflichtgefühl heraus. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie ein -glückliches Bräutchen sind und einen der besten Männer bekommen, würde -ich mir allerlei Gedanken machen. So — nun ist’s heraus, und nun -machen Sie, daß Sie fort kommen. Merivaux steht doch schon drüben und -wartet auf Sie.“</p> - -<p>... aus Pflichtgefühl ...</p> - -<p>So also sang sie? Handelte sie auch so? Nur aus Pflichtgefühl? Und -würde sie, nur aus Pflichtgefühl, Gaston eine gute Gattin werden? Alles -nur aus armseligem Pflichtgefühl! Als ob sie sich treiben ließ auf -einem der großen Bettelsuppenströme des Lebens!</p> - -<p>Der Gedanke empörte sie. Denn sie hatte Gaston doch gern! Sehr gern -sogar!</p> - -<p>Ihr war es, als müßte sie sich selber aufrütteln. Sich herausreißen aus -dem Sich-gehen-lassen, aus dem stumpfen Gleichmaß. Kämpfen gegen sich -selber.</p> - -<p>Unten, drüben auf dem Trottoir, ging wirklich Gaston auf und ab.</p> - -<p>Ein paar Augenblicke blieb sie im Hausflur stehen, sah zu ihm hinüber. -Die schmale Falte zwischen ihren Brauen grub sich tief ein.</p> - -<p>Dann schritt sie schnell über die Straße, nickte, lächelte, hing sich -in seinen Arm.</p> - -<p>„Guten Morgen, lieber Gaston. Ich freue mich, daß du<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> kommen konntest. -Hast du Zeit? Können wir einen kleinen Bummel durch den Tiergarten -machen?“</p> - -<p>Er bejahte eifrig, sichtlich erfreut. Und sie gingen die Querallee -hinauf, bogen zum Goldfischteich ein.</p> - -<p>In den ersten Maitagen war es. Der Tiergarten stand im duftigen jungen -Grün. Die Lenzsonne lag warm auf Weg und Steg. In den dichten Büschen -zwitscherten die Amseln. Die Welt war schön geworden, fast über Nacht, -denn plötzlich war der Frühling in die Mark gekommen.</p> - -<p>Um diese Stunde war der Tiergarten wenig belebt. Am Rande der Wege ein -paar Kinderwagen, aus denen rosige Babygesichter zur Sonne lachten; -einige Spreewälderinnen in ihren bunten Röcken, dann und wann eine -Matrone, die einsam Luft schöpfen ging, ein pensionierter alter Herr, -der seinen Gesundheitsmarsch machte. Es verlor sich in der Weite.</p> - -<p>Sie plauderten dies und das, wie gute Freunde plaudern, bunt -durcheinander: von Marthas Wirtschaftlichkeit, von Wilhelms nie -rastenden Plänen, von der Omama; von der Charlotte Wolter, der -großen jungen Tragödin, von der Erhardt, der schönen Künstlerin des -Schauspielhauses, und von der Lucca, die jüngst als Julia unerhört -gefeiert worden war; und daß der Krollsche Garten nächstens wieder -eröffnet werden würde, in noch feenhafterer Beleuchtung als je zuvor.</p> - -<p>Es war wie immer zwischen ihnen. Und doch anders. Er empfand es, -wie lebhafter heute Helene war, angeregter, daß ihr Ton wärmer war. -Manchmal fühlte er den leichten Druck ihrer Hand auf seinem Arm. -Federnden Schrittes ging sie an seiner Seite, und einmal sagte sie: -„Ist das schön heut! Ich möchte stundenlang so gehen. Womöglich ganz -allein mit dir durch einen weiten, weiten Wald.“</p> - -<p>Er sah sie an, und auf ihrem Gesicht war ein Lächeln.</p> - -<p>Sie nickte ihm zu, ganz leise nur. „Der Frühling —“</p> - -<p>Da sagte er schnell: „Und bald kommt der Sommer, und dann — dann -reisen wir beide nach meiner Heimat.“</p> - -<p>Nebeneinander standen sie am Teich. Lustig huschten die<span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span> goldschuppigen -Fische, die grünen Wipfel spiegelten sich im Wasser. Weit und breit war -kein Mensch außer ihnen.</p> - -<p>Immer noch sah er ihr in das liebe schöne Gesicht, in dem langsam ein -feines Rot emporstieg. Seine Hand hatte er um ihren Gürtel gelegt. „Ich -freue mich ja so darauf, dir meine Heimat zu zeigen, unseren herrlichen -See, unsere Berge. Anfang August, denk ich, reisen wir — gleich nach -unserer Hochzeit.“</p> - -<p>Ein leichtes Beben ging durch ihre Glieder. Aber sie nickte wieder.</p> - -<p>„Es ist dir recht so?“</p> - -<p>„Ja, Gaston.“</p> - -<p>Dann gingen sie langsam weiter und um das Wasser herum. Mit dem -leichten Plaudern war’s freilich vorbei. Er hatte ihre Hand wieder in -seinen Arm gezogen, sprach von seinem alten Vater, sprach dann davon, -daß er nun eine Wohnung mieten wollte. „Ich hab immer noch gezögert, -denn man hat mir angedeutet, daß ich Adjutant bei der Inspektion -werden soll. Dann brauchten wir nicht so weit hinaus zu ziehen, in die -häßlichste Gegend Berlins. Ich möchte dich so gern in ein recht, recht -hübsches Heim führen, Helene.“</p> - -<p>Plötzlich blieb sie wieder stehen, sah zu Boden, sah dann auf: „Du bist -ein rechter Wagehals?“</p> - -<p>„Wieso denn?“</p> - -<p>„Daß du es mit mir wirklich versuchen willst. So unliebenswürdig wie -ich bin, so apathisch oft ...“</p> - -<p>Er lachte. „Ach geh doch! Was sind denn das für Dummheiten. Laß nur den -Sommer kommen. Laß uns nur erst auf meiner lieben kleinen Terrasse am -See sitzen, wir beide ganz allein. Oder im Boot auf der blauen Flut. -Oder in die Berge fahren, höher, immer höher! Wenn ich dich nur erst -ganz für mich habe! Ich will dir schon die Falte da aus der Stirn -küssen — die da!“</p> - -<p>Und mit einem Male hatte er sie umfaßt, die Hutkrempe weit -zurückgebogen und küßte sie wirklich gerade zwischen die Brauen. Ganz -wenig nur wehrte sie sich, gar nicht<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> fast. Da küßte er sie auch auf -die Lippen, und heut hielt sie still. „Der Frühling —“, sagte er und -lachte ihr in die Augen.</p> - -<p>Wieder gingen sie weiter, den schmalen Fußweg zur Rousseauinsel.</p> - -<p>„Also Anfang August!“ meinte er froh. „Dann müssen wir in den ersten -Septembertagen zurück sein. Das Manöver schenkt der König von Preußen -auch den glücklichsten Leuten nicht. Alles freilich nur, wenn es nicht -Krieg gibt.“</p> - -<p>„Krieg ... was ihr alle immer von Krieg redet. Wilhelm hat auch weiter -nichts im Sinn.“</p> - -<p>„Bedenklich genug sieht’s aus, Helene. Gestern hieß es bei uns schon, -die Reserven sollten eingezogen werden. Nachher war’s nur ein Gerücht.“</p> - -<p>„Krieg mit Österreich —“</p> - -<p>„Vielleicht nicht nur das. In der „Kreuzzeitung“ stand, daß Sachsen und -Hannover auch schon rüsten.“</p> - -<p>„Sind wir Preußen denn so böse, daß man uns durchaus an den Kragen -will?“</p> - -<p>„Du Kind! Aber ich bin nicht viel besser als du, höchstens daß ich -weiß: die Preußinnen können reizend sein! Ist mir auch wichtiger als -die ganze Politik. Und nun laß gut sein. Ich bin so froh heut, so froh — —“</p> - -<p>Als Helene daheim die Treppe hinaufstieg, tönte es in ihr, wie ferner, -ferner Glockenklang: Du hast heut einen lieben Menschen sehr, sehr -glücklich gemacht! Und sie war froh darüber.</p> - -<p>Sie war so froh, daß sie oben Martha umarmte, dann zur alten Mutter -lief, die am geöffneten Fenster in den Frühling hinausträumte, sie -leise umfaßte: „Ich muß es dir doch sagen, Mama, Anfang August ist -unsere Hochzeit.“</p> - -<p>Omama sah auf, schüttelte verwundert den Kopf, nickte dann: „So ... -so! Ja! Ja! Anfang August. Wir haben auch im August geheiratet. Ja -... warte einmal, Lenchen ... und Grucker auch. Damals ... also den -lieben Gaston ... ich weiß ja ... ich weiß alles. Aber so blaß darfst<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> -du zur Hochzeit nicht aussehen, Lenchen ... und wir trugen damals -den Brautschleier hinten fest in die Coiffüre gesteckt und <span class="antiqua">par -devant</span> ein ganz schmales Myrtenkränzchen ...“ Sie kicherte leise -und sang mit ihrer matten Stimme vor sich hin: „Wir winden dir den -Jungfernkranz — mit veilchenblauer Seide! Ja, ja, mein Lenchen ... wir -winden dir den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide ...“</p> - -<p>Da kamen die Jungens hereingestürmt, erregt, mit roten Gesichtern. Sie -schrien durcheinander, wollten sich nicht zu Worte kommen lassen. „Wißt -ihr’s schon? Wie wir aus der Schule kamen, wurden die Extrablätter -ausgerufen. Auf Bismarck ist geschossen worden! Unter den Linden. Er -soll tot sein. Nein, schwer verwundet. Den Mörder haben sie gleich -aufgeknüpft. Nein, Bismarck hat ihm selber noch die Pistole aus der -Hand geschlagen —“</p> - -<p>Es ging wirr durcheinander. Und dann war plötzlich Wilhelm da, auch -er mit rotem Kopf. Er wußte alles ganz genau, hatte gerade bei Hiller -gefrühstückt, nicht weit vom Schauplatz des Attentats. Nein, gottlob, -Bismarck war nicht einmal verwundet, trotzdem der Mörder — Blind -sollte er heißen und ein fanatischer Demokrat sein — aus nächster -Nähe fünf Schüsse auf ihn abgefeuert hatte. Auf dem Wege zum König war -Bismarck gewesen, zum Vortrag bei Seiner Majestät.</p> - -<p>Wilhelm lief kreuz und quer durch die Stube, fast wie Vater es getan -hatte, wenn er sehr erregt war. „Was für Zeiten, Martha, was für -Zeiten! Heut morgen erst die Nachrichten aus Österreich und Italien. -Überall Rüstungen, Mobilmachung. Dann die Börse — reine Kriegspanik. -Was für Zeiten! Man mag es gar nicht ausdenken: wir dicht vor einem -Kriege mit Österreich. Stellt euch das nur vor: mit Österreich, unserem -Bundesgenossen seit achtzehnhundertdreizehn! Womöglich noch Krieg mit -Sachsen, Hannover, Bayern, mit all den anderen deutschen Staaten! -Wir allein! Dabei den Hader im Innern. Die Demokraten auf Bismarck -spinnefeind — weg mit Bismarck, heißt’s<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> hier, diesem Ministerium -keinen Groschen! heißt’s da. Und unsere guten Konservativen — nun, -weiß Gott, zum Verwundern ist’s nicht, daß sie den Bruch mit der -österreichischen Freundschaft bitter beklagen. Wenn wir wirklich Krieg -bekommen, ist’s ein schrecklicher Bruderkrieg. Wenn das Vater erlebt -hätte! Unser armes Preußen!“</p> - -<p>Nun stand er in der Mitte des Zimmers: „Jungens, glotzt mich nicht so -dumm an. Wenn ihr älter seid, werdet ihr’s begreifen, was das heißt, -Deutsche gegen Deutsche! Das Herz könnte sich einem im Leibe umdrehen. -Und dabei geht’s um die Existenz, einfach um Sein oder Nichtsein. -Wenn wir geschlagen werden — und wer kann im voraus wissen, wie die -Würfel fallen — wenn wir geschlagen werden, hat Preußen aufgehört, -eine Großmacht zu sein. Sie wollen uns ja längst den Großmachtkitzel -austreiben. Lieber Gott, wie mag unserem König zumute sein vor der -Entscheidung!“</p> - -<p>Helene war noch immer bei der Mutter am geöffneten Fenster, durch das -die milde Frühlingsluft hereinströmte.</p> - -<p>Sie verstand das alles nur halb, was der Bruder in seiner Erregung -heraussprudelte. Verstand es so wenig, wie sie früher Vaters politische -Erörterungen verstanden hatte. Nur das eine verstand sie: Krieg — -Deutsche gegen Deutsche! Und sie schauerte leise zusammen. Krieg — da -zog dann auch Gaston hinaus —</p> - -<p>„Aber Wilhelm, du sprichst ja, als ob das schon so gewiß wäre — das -mit dem Krieg“, sagte Martha zag dazwischen.</p> - -<p>„Sicher? Wer weiß das. Man hofft ja immer noch auf Frieden. Hofft? -Heut war der Prinz Hohenlohe bei Hiller. Der hat Verwandte in der -österreichischen Armee — die brennen alle auf unsere Demütigung. -Freunde haben wir nirgendwo. Was heißt da hoffen? Zu Kreuze kriechen -wir Preußen nicht. Wenn’s nicht anders sein kann, muß eben das Schwert -entscheiden!“</p> - -<p>Mit einem Male hob Omama wieder an: „Ja ... ja. Das Schwert ...“ Und -sie sang leise vor sich hin: „Nun<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> laßt das Liebchen singen — daß -helle Funken springen — Der Hochzeitsmorgen graut —“</p> - -<p>Da fielen die Jungens ein, wie auf Kommando: „Der Hochzeitsmorgen graut -— Hurra, du Eisenbraut!“</p> - -<p>Wenn in den nächsten Tagen Wilhelm nach Haus kam, war’s jedesmal mit -umwölkter Stirn. Immer wieder stöhnte er: „Die Zeiten! Die Zeiten!“ -Immer neue Nachrichten brachte er mit: Der König hatte nach langem -Zögern die Mobilmachung von vier Armeekorps befohlen; Napoleon mischte -sich in den Streit ein, bot seine Vermittlung an — natürlich um im -Trüben zu fischen. Dann wußte er von Friedenspetitionen zu erzählen, -die aus einzelnen Provinzen an Seine Majestät abgegangen wären, von -schmachvollen Äußerungen einzelner demokratischer Führer: ‚Lieber -die Kroaten in Berlin, als Bismarck noch länger am Staatsruder!‘ -Dann wieder von patriotischen Regungen, wie wacker sich die zunächst -bedrohten Schlesier hielten: ‚Wir wollen keinen schlechten Frieden!‘ -hieß es gerade in ihrer Adresse. Aber immer waren seine letzten Worte: -„Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“</p> - -<p>Merivaux konnte nicht so viel kommen wie bisher. Der Dienst nahm ihn -stark in Anspruch. Aber jedesmal, wenn er kam, war’s, als ob ein paar -Sonnenstrahlen ins Haus glitten. Die Jungens, in denen eine gewaltige -romantische Kriegslust erwacht war, jubelten ihm entgegen, Omama -wachte, sobald er ins Zimmer trat, aus ihrem Traumleben auf, mit Martha -und Wilhelm tauschte er Neuigkeiten. Und immer war er selber froh, -heiter, zuversichtlich. Es lag etwas eigen Beruhigendes in seiner -männlichen Frische, das auch auf Helene wirkte. Solange er bei ihr war, -blieb sie ruhig. Sobald er gegangen, klang immer wieder in ihr auf: der -Krieg — der Krieg! Einst hatte sie nur an Harros Tod gedacht, wenn -vom Kriege die Rede war: nun bebte sie in Sorge um den lieben Freund, -dessen Ring sie am Finger trug.</p> - -<p>„Unruhige Zeiten! Schlechte Zeiten!“ Heut der Schimmer einer -Friedenshoffnung. Morgen die sichere Erwartung:<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span> der Krieg ist -unvermeidlich. Auf den Straßen die eingezogenen Rekruten und -Landwehrleute in langen Zügen. An jedem Morgen endlose Kolonnen, -die mit schmetternder Musik die Bellealliancestraße hinaufzogen zum -Kreuzberg. Dann regelmäßig der König, der hinausfuhr, seine Garden noch -einmal zu besichtigen.</p> - -<p>Es war doch merkwürdig, es fiel auch Helene auf, wenn sie vom -Eckfenster aus den schlichten Wagen des greisen Kriegsherrn schon -von weitem sah: von Tag zu Tag fast steigerte sich der Jubel, der -ihn umrauschte. Manchmal ging ihr durch den Sinn, wie sie ihn zuerst -gesehen hatte, am Brandenburger Tor, vor nun drei Jahren, daß ihn -damals nur wenige grüßten. Und heut standen die Bürgersteige voll -wartender Menschen, vom Belleallianceplatz her hob es an und pflanzte -sich fort, das dröhnende Hurra! Es war, als ob die Preußenherzen -erwachten. Wenn das Vater erlebt hätte!</p> - -<p>Dann war eines Tages Fritz da, der rote Kreisrichter. Ganz plötzlich -und unerwartet, in aller Morgenfrühe, als unten gerade die Alexandriner -mit klingendem Spiel vorüberzogen.</p> - -<p>„Wilhelm, ich trag’s nicht länger. Ich habe aus lauterer Überzeugung -gehandelt. Ich kann auch jetzt noch nicht mit Bismarck gehen, ich -verurteile seine Stellung gegen den Augustenburger. Aber ich fühl’s, -daß nun der innere Zwist schweigen muß. Wenn Preußen in Gefahr ist, -müssen wir alle einig sein. Daß du’s nur weißt: ich bin gestern auf dem -Generalkommando gewesen und hab mich zum Diensteintritt gemeldet.“</p> - -<p>Wenn das Vater erlebt hätte! Wenn das Vater erlebt hätte!</p> - -<p>Unruhige Zeiten! Das Abgeordnetenhaus, das jede Kriegsanleihe -verweigert hätte, aufgelöst; Darlehnskassenscheine mußten ausgegeben -werden, um die nötigsten Millionen zu schaffen, und konnten oft nur -schwer untergebracht werden. Heut hieß es: die Österreicher rücken -unter Benedeck in Schlesien ein. Morgen verlautete, Preußen<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> hätte mit -Italien einen Bündnisvertrag geschlossen, und in Venetien seien schon -die ersten Kanonenschüsse gefallen. Noch nie seit fünfzig Jahren war -der Kurs der preußischen Staatspapiere so tief gesunken wie in diesen -Tagen.</p> - -<p>Nun hatte auch Wilhelm die Uniform wieder angezogen, führte eine -Ersatzkompagnie beim Franz-Regiment und war nicht wenig stolz -im Schmuck der Waffen, war wieder ganz Soldat. Jetzt sprach er -plötzlich nicht mehr von den „Schlechten Zeiten!“ Er sprach nur -noch von <em class="gesperrt">seiner</em> Kompagnie, von <em class="gesperrt">seinen</em> Offizieren, von -<em class="gesperrt">seinem</em> Feldwebel. Und wenn er in den Dienst ging, bürstete -Martha an ihm herum und sah ihm verliebt nach.</p> - -<p>Eines Morgens hatte Helene eine kleine Besorgung am Belleallianceplatz -gemacht. Als sie zurückkam, stand auf der Halleschen Brücke ein -baumlanger Bauer, zog seine graue Kappe und greinte über das ganze -braune Gesicht.</p> - -<p>„Metschke! Metschke, wie kommen Sie denn hierher?“</p> - -<p>„Jo, gnä’ Frölen, mei Willem steht doch bei de Franzer. Un ik wollt -ihm doch noch mal sehn tun, e’ er ’n Krieg muß. Von wegen, deß ich ihm -sag: tu du deine Schuldigkeit, mein Sohn, daß werr keene Schande an der -ha’n. Na, gnä’ Frölen, er hätt’s jo och so getan, der Willem.“</p> - -<p>„Das glaub ich, Metschke. Wollen Sie nicht mit heraufkommen? Da drüben -an der Ecke wohnen wir.“</p> - -<p>„Nee, gnä’ Frölen, ich wart hier, bis der oll König ’rückkommt. ’s isch -man jutt, daß der oll klug König die Suldaten nich abgeschafft hätt. -Un denn muß ick widder zur Kaserne. Morjen rücken se aus, die Franzer. -Aberscht scheen Gruß soll ick vertellen vom Herrn Kantohr und von -Herrn Pastohr. Min Jott, sein dis Zeiten! Aberscht passen Se uff, gnä’ -Frölen, wie wer se vertobacken wer’n, wir Preußen! Wenn dat der gnä’je -Herr Rittmeister erlebt hätt!“</p> - -<p>Die blauen Märkeraugen glänzten, wie der Metschke das sagte.</p> - -<p>Oben saß Gaston schon am Fenster und wartete.</p> - -<p>Sie sah’s ihm gleich an, heut war auch er erregt.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span></p> - -<p>„Helene, morgen rücken wir aus. Erschrick nicht: zunächst nur in -Kantonnements bei Kottbus.“</p> - -<p>Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. „Morgen —“ sagte sie tonlos. -Aber er nahm ihre beiden Hände: „Ich habe mit dir zu sprechen. Eine -große, große Bitte hab ich.“ Sie sah ihn an, sah ihm in die Augen, und -wußte nur ein: ‚um was er auch bitten mag, ich werde nicht nein sagen‘.</p> - -<p>„Immer wieder ist mir in diesen unruhigen Tagen durch die Seele -gegangen, wie du nun allein zurückbleibst. Ich denke nicht an den Tod. -Gott bewahr’ mich. Aber niemand kann wissen, was der Krieg bringt. -Helene, der Gedanke quält mich, daß ich nicht für dich sorgen kann — -auf alle Fälle. Ich würde keinen Moment Ruhe haben — draußen. Und -dann ... ich habe Sehnsucht, dich mein zu wissen. Ich bitte dich: laß -übermorgen unseren Hochzeitstag sein.“</p> - -<p>Sie bebte. Immer größer waren ihre Augen geworden. Das Herzblut -stockte, dann pulste es aufwärts, daß ihr die Sinne schwinden wollten.</p> - -<p>Sie fühlte den Druck seiner Hände, und sie sah die fiebrige Erregung in -seinem Gesicht, die heiße, sehnsuchtsvolle Erwartung.</p> - -<p>So sagte sie: „Ja ... Gaston ... ja!“</p> - -<p>Dann kam ihr jäh, irgendwoher aus dem Untergrund der Seele, der Gedanke -eines Ausweichens noch in letzter Minute. „Gaston, der Konsens ... so -schnell kannst du den Konsens des Königs doch nicht erhalten.“ Indem -sie es aussprach, überflutete sie die Scham: ‚Wünscht du denn wirklich -eine Verzögerung? Kannst du ihm das antun?‘</p> - -<p>Er aber fand den Einwand nur begreiflich: „Für solche Zeiten gelten -Ausnahmebestimmungen. Laß das nur meine Sorge sein.“ Sein Gesicht -strahlte vor Freude und Dankbarkeit. „In drei Tagen, Helene! In drei -Tagen! Ich kann’s noch gar nicht fassen. In drei Tagen bist du mein!“ -Etwas wie toller Übermut packte ihn. Er legte den Arm um Helene, er -wirbelte mit ihr, eh sie sich’s versah, im Walzertakt durch das Zimmer: -„In drei Tagen, Helene, in drei Tagen —“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span></p> - -<p>Es war wohl gut, daß die drängenden Vorbereitungen Helene so wenig -Zeit zur Besinnung ließen. Daß in die Unruhe der Zeit sich die Unruhe -im Hause mischte. Martha schlug die Hände über dem Kopf zusammen: -„Wie soll denn das gemacht werden? Wo willst du denn ein Brautkleid -herbekommen? Wie denkt sich Merivaux das alles!“ Und dann war sie es -doch, die für alles Rat schaffte, zu allem Rat wußte. Die freilich -auch Helene in einen großen Trubel des Überlegens, der Besorgungen mit -hineinriß.</p> - -<p>Es war gut so. Die Stunden gingen im Fluge. Helene kam kaum zu klarem -Überlegen. Am späten Abend, abgehetzt, todmüde, dachte sie nur: es muß -wohl eine Fügung sein. Und es war dann wie erlösender Friede in ihr.</p> - -<p>In der Nacht zum Mittwoch, ihrem Hochzeitstage, aber fuhr sie aus -dem Schlafe auf. Der Junimorgen dämmerte schon durch die Fenster. -Sie konnte sich in den ersten Augenblicken gar nicht zurechtfinden. -Das Herz pochte jäh, sie richtete sich empor, eine rätselhafte Angst -schüttelte sie. Ja so ... da schlief Mutter und atmete ruhig ... und -das dort war die Tür zum Nebenzimmer ... und da lag ausgebreitet -ihr Brautstaat. Geträumt mußte sie haben, irgend etwas Furchtbares, -Unfaßbares. Was war es nur gewesen? Gaston hatte vor ihr gestanden, mit -einem Gesicht wie von Stein, und hatte sie an den Schultern gepackt: -„Du liebst mich ja nicht! Du liebst mich ja nicht!“</p> - -<p>Jetzt sah sie das Traumbild wieder deutlich vor sich, sah sein -schmerzverzerrtes Gesicht, hörte seinen gellenden Ruf. Wußte, es war -nur ein Traum gewesen, und durchlebte ihn noch einmal wie Wirklichkeit. -Frostschauer überrann sie und dann glühende Hitze, eine beklemmende -Angst, als ob sie aufspringen müßte, drüben an Mutters Bett hinknien, -flehen: ‚Hilf mir doch! Hilf mir doch! Ich kann nicht mit einer Lüge -vor den Altar treten!‘</p> - -<p>Aber ihr konnte ja niemand helfen. Mutter nicht. Und wenn sie sich vor -Wilhelm und Martha hinwerfen wollte, sie würden nur den Kopf schütteln -und sie nicht verstehen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span></p> - -<p>Gaston — —</p> - -<p>Wenn sie jetzt noch seine Füße umklammerte: ‚Ich kann nicht! Erbarme -dich meiner!‘</p> - -<p>Aber Gaston war bei seiner Truppe, kam erst morgen, eine Stunde vor der -Trauung, aus dem Kantonnement zurück. Kam glückstrahlend, mit seiner -hoffenden Liebe, mit jubelnder Seele, in seiner glaubensstarken festen -Zuversicht — kam, um sie zum Altar zu führen, und dann hinauszugehen -in den Krieg — — —</p> - -<p>Nein! Nein! Und wenn sie es heute beschloß und stünde morgen vor ihm -... sie würde es nicht über die Lippen bringen.</p> - -<p>Fröstelnd hüllte sie sich in ihre Decke und starrte durch das Fenster -auf den grauen Morgen.</p> - -<p>Noch einmal zogen in dieser schweren Stunde die inneren Erlebnisse der -letzten Jahre durch ihre Seele. Wie ein Phantom tauchte Alfred auf, -tauchte empor und verschwand. Harro kam mit seinen jungen leuchtenden -Augen. Sie sah sich noch einmal im Park von Rackow beim Mondenlicht, -fühlte noch einmal den ersten Kuß von Gastons heißen Lippen: Da hatte -die Lüge angefangen! Die Lüge! Lieber Gott im Himmel ... war es denn -eine Lüge gewesen, eine Lüge, die so harte Strafe verdiente! Und wie -hatte sie gekämpft und war doch nicht freigekommen! Aus Schwäche .... -ja, aus feiger Schwäche. Und aus Mitleid ... ja, aus Mitleid. Aus dem -Empfinden heraus, ihm nicht den einen großen Schmerz antun zu wollen. -Und dann, weil sie ihn gern hatte ... weil ein unnennbares Gefühl sie -immer wieder zu ihm zog ...</p> - -<p>Aber aus all dem Schwankenden, Unklaren ließ sich doch keine Brücke -bauen.</p> - -<p>Und nun gab es keine Flucht mehr und kein Entrinnen —</p> - -<p>... als den Tod ...</p> - -<p>Ihr Tod — was hätte er ihm genützt! Ihr Tod hätte ihm den größten -Schmerz des Lebens zugefügt, und nie würde er ihn überwinden können.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span></p> - -<p>Aufrecht saß Helene, mit pochenden Pulsen, die Augen starr auf das -Fenster gerichtet. Langsam aus der Dämmerung erhob sich der Tag. Ihr -Hochzeitstag.</p> - -<p>Der Tod! Nein — dagegen schrie doch auch ihre blühende Jugend, ihr -gesundes Blut empörte sich. Wenn du eine Schuld auf dich geladen hast, -so trage sie bis zum Ende!</p> - -<p>Und sie sah ihn wieder im Geiste vor sich, wie sie ihn morgen sehen -würde. Mit den glücklichen Augen, aus denen die Liebe lachte. Sie hörte -seine Stimme, die so männlich und so zärtlich klang: ‚Meine Helene! -Meine Helene!‘</p> - -<p>Es war eine Fügung. Alles ist Fügung, muß als Fügung genommen werden.</p> - -<p>Das Herz wurde ruhiger. Eine stille Ergebung kam über sie. Leise sprach -sie vor sich hin: ‚Ich hab ihn gern ... ich möchte ihn recht liebhaben. -Ich will immer gut zu ihm sein. Immer gut und dankbar für seine große -Liebe ...‘</p> - -<p>Sie sah geradeaus zum Fenster, hinter dem es nun hell geworden war. Ein -einzelner Sonnenstrahl kam. Schmal nur, aber goldig leuchtend glitt er -ins Zimmer, bis zu ihr hin, wie der erste Gruß des jungen Tages. Ihres -Hochzeitstages.</p> - -<p>Nur ein kleiner Kreis war bei der Feier zugegen. Gastons Vater war -durch die Sperrung der süddeutschen Bahnen am Kommen verhindert. Er -war nur bis Basel gelangt und konnte nur von dort aus telegraphisch -seine Glück- und Segenswünsche senden. Aber daß ein anderer sich unter -den wenigen Gästen befand, rührte Helene tief. Der alte Heckstein war -von Frankfurt aus mit der Extrapost gekommen. Sie sah ihn erst, als -sie am Arm ihres Mannes aus der Kirche schritt. Unter Tränen lächelte -er ihr zu: „Leneken, ich mußte dir doch für unser ganzes Rohlbeck die -Glückwünsche bringen. Gottes Segen sei mit dir und mit deinem Mann.“</p> - -<p>Eine stille blasse Braut war sie. Doch laut und fest hatte ihr Ja durch -das Gotteshaus geklungen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p> - -<p>Als sie aus der Kirche traten, sah Gaston sie glücklich an: „Meine -Helene! Wie danke ich dir.“</p> - -<p>Und als der kleine Kreis dann bei dem einfachen Festmahl saß, das -Martha gerüstet hatte, sagte Tante Oschitz leise zu Wilhelm: „Daß -Helene schön ist, hab ich immer gewußt. Daß sie so schön aussehen -könnte wie heut mit dem Myrtenkranz — das hätt’ ich doch nicht -geglaubt. Wenn mein armer lieber Harro sie so gesehen hätte.“</p> - -<p>Ruhig und rührend sanft erschien Helene.</p> - -<p>Nur als Gaston ihr ein leises Zeichen gab, zuckte sie ein wenig -zusammen. Aber sie erhob sich sofort.</p> - -<p>Gaston hatte das mit Wilhelms besprochen: „Ich muß heut abend in das -Kantonnement zurück. Laßt sie mir ein paar kurze Stunden und macht kein -Aufhebens, wenn wir aufbrechen.“</p> - -<p>So nahmen sich alle zusammen. Selbst die Jungens. Die lauschten -freilich gerade auf den lebhaften Disput, der sich zwischen Tante -Marianne und dem Onkel Pastor angeknüpft hatte über die Gottlosigkeit -des Krieges. Onkel Pastor war doch ein streitbarer Mann.</p> - -<p>Martha ging mit dem jungen Paar hinaus, half Helene beim Umkleiden. -Und dann kam Omama noch auf einen Augenblick auf den Flur, küßte die -Tochter, tätschelte mit ihrer welken Hand Gastons Wange: „Seid gut -miteinander ... und kommt recht gesund von der Hochzeitsreise zurück, -ihr Kinder.“ Sie hatte längst vergessen, daß Merivaux in den Krieg -ging, hatte es wohl nie recht begriffen. —</p> - -<p>Es war spät am Abend, als Helene heimkam.</p> - -<p>Bis vor die Tür hatte sie Gaston gebracht. Im Hausflur umarmte er sie -noch einmal, küßte sie leidenschaftlich. „Meine geliebte Frau!“ Ein -paar Augenblicke ruhte sie weinend an seiner Brust. „Gott schütze dich, -Gaston!“</p> - -<p>Dann riß er sich los.</p> - -<p>Langsam stieg sie die Treppe hinauf; schloß die Tür auf.</p> - -<p>Martha, die an alles dachte, alles überlegte, hatte auch das so -gewollt: es sollte niemand auf die junge Frau<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> warten. Sie hatte es -auch eingerichtet, daß Helene nun ihr Zimmer für sich bewohnte.</p> - -<p>Auf dem Flur brannte die Lampe. Sie nahm sie, ging in ihr Zimmer, -stellte sie beiseite.</p> - -<p>Da lag noch ihr Brautkleid und all der bräutliche Schmuck.</p> - -<p>Lange stand sie davor, in tiefem Sinnen, mit gefalteten Händen. Es war -ihr alles wie ein Traum.</p> - -<p>Sie nahm den Myrtenkranz, ließ ihn langsam, zärtlich durch die Finger -gleiten. Leise sprach sie ihren Hochzeitsspruch vor sich hin: „... und -hättet der Liebe nicht.“ — „Gott schütze dich, Gaston.“</p> - -<p>Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen!</p> - -<p>Der Conte war in Berlin, Graf Grucker. Kam auch zu Wilhelms oder -eigentlich zu der jungen Frau, die immer sein Liebling gewesen war. In -Johanniteruniform, gestiefelt und gespornt, feldzugsgemäß, aber mit -einem Riesenstrauß in der Rechten und einer massigen silbernen Bowle -unter dem linken Arm. „Meine Hochachtung, Leneken. Da, nimm mal erst. -Und nu’n Schmatz. Hast du brav gemacht. Na, wer war nur der Prophete? -Wer hat dir gesagt: Leneken, der Neuchateller! Besinn dich man: -zwischen der Schnapstheke und Madame Hufnagel. Da ... die Blumen vor’s -Herz un den Kübel für’n Hausstand. Der Artenau, der Stickereimajor, die -Dusche, kann euch die Rezepte dazu geben.“</p> - -<p>Schwer ließ er sich in den nächsten Stuhl fallen. „Sind das Zeiten! -Was, Wilhelm? Da ist der Manteuffel in Holstein eingerückt, und der -Gablentz hat mit seinen Österreichern das Feld geräumt. Na, schön ... -aber weißt du’s Neueste? Österreich hat gestern die Bundesexekution -gegen Preußen beantragt. Scheußliche Geschichte! Wenn man so denkt, der -janze deutsche Bund gegen Preußen! Bruderkrieg! Bruderkrieg!“</p> - -<p>Weit streckte er die Riesenstiefel von sich: „Und, Wilhelm, unsre -Alliance mit den italienischen Revolutionären von Mazzinis Gnaden ... -brrr ... ’s geht einem doch<span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span> höllisch <span class="antiqua">contre cœur</span>. Da hat man nu -fünfzig Jahre und so die Fahne hochgehalten gegen den Umsturz ... ja -... und nu soll man sich mit ’n Male umkrempeln. Immer hat man’s mit -Österreich gehalten, auch wenn se uns mal schlecht behandelt haben — -das haben se manchmal — und nu heißt’s: linksum kehrt! Wenn das der -alte Rittmeister erlebt hätte!“</p> - -<p>Mit einem Male stand er wieder auf den Beinen, straff, zog den -Uniformrock herunter. „Der König hat’s befohlen. Wird wohl nicht anders -gegangen sein. Und gut ist’s schon, daß die Schwadronneure ’mal ’s Maul -halten müssen. Ich sage euch, draußen in der Mark gilt wieder der alte -Preußenruf: Mit Gott, für König und Vaterland! Na, Leneken, Mädel ... -pardon! ... junge Frau, was machst du denn für’n ernstes Gesicht?“</p> - -<p>„Ach — Onkel Grucker —“</p> - -<p>„Paperlapapp! Warst doch immer ’n tapferes Frauenzimmerchen. Jede -Kugel, die trifft ja nicht. Un was so’n richtiges märkisches Mädel ist, -das beißt die Zähne zusammen, wenn der Herzallerliebste in’n Krieg muß. -Pflicht — einfach Pflicht! Ich muß ja auch auf’n Kriegsschauplatz. Na -wart ’mal, wenn ich deinem Mann begegne, werd’ ich ’n grüßen. Weißt -du, was ich ’m sage: <span class="antiqua">Monsieur de Merivaux.</span> Sie sein ein janz -verfluchtigter Schwerenöter. Aber Sie haben einen janz exzellenten -Geschmack! Hol mich dieser und jener — meine Hochachtung!“ — —</p> - -<p>Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen!</p> - -<p>‚Was geht mich die Politik an? Was geht mich die Zeitung an?‘ hatte -Helene sonst gedacht. Nun harrte und wartete sie, mit den Jungens, -die ganz rabiat geworden waren, um die Wette auf die alte verhuzelte -Zeitungsfrau, kämpfte mit Hans und Thede jedesmal einen kleinen Kampf -um das erste Blatt.</p> - -<p>Die Preußen in Hannover. Die Preußen in Dresden. Der alte deutsche -Bund nach Preußens Erklärung aufgelöst. Und dann der herrliche Aufruf -des Königs „An mein Volk“<span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span> — ganz wie Vater so oft von Anno dreizehn -erzählt hatte — mit den verheißungsvollen Schlußworten: „Verleiht -uns Gott den Sieg, dann werden wir auch stark genug sein, das lose -Band, welches die deutschen Lande mehr dem Namen als der Tat nach -zusammenhielt, in anderer Gestalt fester und heilvoller zu erneuern!“</p> - -<p>Spärlich kamen die Nachrichten von Gaston. Er hatte es vorausgesagt: -„Ich werde so oft schreiben, wie ich kann. Aber sorge dich nicht, wenn -einmal die Briefe ausbleiben.“</p> - -<p>Spärlich kamen die Briefe, und sie waren kurz. Aber immer wieder stand -es in ihnen: „Meine geliebte Frau!“</p> - -<p>Als sie das zum ersten Male las, war ihr das Blut jäh in die Wangen -gestiegen. Und jedesmal, wenn wieder ein Brief kam, flüchtete sie in -irgendeine stille Ecke der Wohnung, daß niemand sie beobachten konnte. -Und jedesmal sann und sann sie, lange, über dem Brief — und über sich -selber.</p> - -<p>Zum Altar war sie geschritten mit mühsam errungener Selbstbeherrschung; -aufrecht gehalten durch den Gedanken an seine große, geduldige, -nachsichtige Liebe, und doch mit quälendem Vorwurf im Herzen.</p> - -<p>Nun war das alles ganz anders —</p> - -<p>Der Sturmesrausch, den sie einst erträumt, der freilich war nicht -gekommen. Nicht das Gefühl höchster Seligkeit, nicht die Wonne und Glut -der Leidenschaft. Aber eine sanfte dankbare Zärtlichkeit füllte ihr -Herz.</p> - -<p>Hans und Thede hatten eine große Karte des Kriegsschauplatzes -mitgebracht. Da verfolgten sie zu dritt nach den Zeitungsnachrichten -und auch nach Gastons Briefen die Stellung der Truppen, so gut es eben -ging, und nicht zuletzt suchten die Jungens nach jedem Quartier der -Gardeschützen.</p> - -<p>Sein letzter Brief kam aus Haindorf, dicht an der böhmischen Grenze: -„Heut ritt der Kronprinz an uns vorüber. Die Schützen jubelten ihm -zu. Übermorgen geht’s, hoffen wir, nach Österreich hinein. Sorge -Dich nicht, meine geliebte Frau. Gott wird mich schützen. <span class="antiqua">Vive le -roi!</span>“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span></p> - -<p>Mit der Morgenpost war der Brief gekommen. Gegen Mittag stürzte -Wilhelm die Treppe hinauf. Er hatte die Wache aufziehen lassen, war in -Paradeuniform. Kaum im Zimmer, riß er die Schärpe herunter: „Martha, -wir haben eine große Schlacht verloren!“ Die hellen Tränen liefen ihm -über die Wangen. „Man weiß noch nichts Näheres. Aber es ist Tatsache. -Eine große Schlacht! Die arme Armee! Der arme König!“</p> - -<p>Er war in völliger Verzweiflung, aufgelöst, fast besinnungslos. Rannte -im Zimmer auf und ab. „Eine große Schlacht verloren! Wie wird das nun -werden! Wenn das Vater erlebt hätte.“ Vergeblich suchte Martha ihn zu -beruhigen. „Gut, daß die Jungens noch nicht größer sind. Daß sie noch -nicht ganz verstehen können, was wir verspielt haben.“</p> - -<p>Auf Helene achteten sie nicht.</p> - -<p>Sie stand an der Wand, mußte sich fest anlehnen, hatte die Hände vor -die Brust gepreßt, und alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen.</p> - -<p>Sie dachte nicht an die verlorene Schlacht, sie hörte nicht mehr, was -der Bruder in seiner maßlosen Erregung sagte. Nur an Gaston dachte sie. -Und plötzlich kam aus Angst und Sorge die Sehnsucht über sie.</p> - -<p>Sie sah ihn vor sich in Not und Gefahr. Sie meinte ihn stürzen zu -sehen, von Blut überströmt — die Feinde brachen über ihn herein, er -lag unter Rossehufen —</p> - -<p>Da schrie sie jäh auf: „Gaston!“ — —</p> - -<p>Es war ein böser Abend, der Abend des 28. Juni. Wilhelm ging noch -einmal in die Stadt, um Nachrichten einzuholen. Aber niemand wußte -etwas Bestimmtes. Nur unklare Gerüchte schwirrten. Vergeblich umlagerte -die Masse die Zeitungsredaktionen. Im Kriegsministerium zuckte man -die Achseln. Ein höherer Offizier, den Wilhelm traf, lachte ihn aus: -„Unsinn! Wir haben die besten Nachrichten. Der Kronprinz hat die -böhmischen Pässe schon überschritten.“ Ein anderer sprach von einem -unentschiedenen<span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span> Gefecht gegen die hannöversche Armee, die sich nach -dem Süden durchschlagen wollte.</p> - -<p>Als er endlich heimkam, war Helene ruhiger geworden. Aber ihre Augen -schienen von seinen Lippen ablesen zu wollen, was er für Nachricht -brächte. Er hatte sich nun schon selber bezwungen, ärgerte sich über -sein hitziges Temperament, das ihn immer alles pechschwarz oder -rosenrot sehen ließ, versuchte zu scherzen. Aber da bat sie, mit -erhobenen Händen: „Bitte — bitte — nein!“</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p>Am nächsten Vormittag lachte die Siegessonne über Berlin. Die Glocken -läuteten. Die Jungens kamen glückstrahlend heim: die Schule war -geschlossen worden auf die Siegeskunde von allen Seiten: von Nachod -und Soor und Alt-Rognitz und Königinhof. Genug des Triumphes, um die -übertriebenen Gerüchte von gestern, die die Schläge von Trautenau und -Langensalza zu schweren Niederlagen gestempelt, vergessen zu machen.</p> - -<p>Die Siegessonne lachte über Berlin.</p> - -<p>Helene stand am Fenster und sah, wie auf allen Häusern die -schwarzweißen Fahnen aufstiegen. Drüben am Rotherschen Stift vor -der Anschlagsäule drängte sich das Volk um die Depeschen. An der -Brücke stand ein langer Tisch, ein paar Bürger dahinter, mit großen -schwarzweißen Kokarden an den Zylinderhüten und Sammelbüchsen in den -Händen: „Für unsere tapferen Krieger.“</p> - -<p>Die Siegessonne leuchtete über Berlin. Wie Jauchzen und Jubeln klang es -von fern her. Und dann und wann, wenn wieder ein Packen Extrablätter -unter die Masse vor der Litfaßsäule flog, brach dort ein brausendes -Hurrarufen aus.</p> - -<p>Die Siegessonne lachte über ganz Preußen. Auch über die -Hunderttausende, die sich um Vater, Mann oder Kind härmten.</p> - -<p>An Vater dachte Helene, an den alten Rittmeister, und was der ihr wohl -gesagt hätte: ‚... das heißt, mein Lenchen, in solchen Stunden kann -die Frau erst zeigen, was sie<span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 306]</span> wert ist. Fünf Brüder gingen wir Anno -dreizehn ins Feld, zwei kamen wir nur zurück. Aber meine Mutter hat -nicht gejammert und geflennt. Wenn sie von den Brüdern sprach, hat sie -immer nur gesagt: Sie starben für König und Vaterland den Heldentod.‘ — —</p> - -<p>Unruhige Zeiten! Glückliche Zeiten!</p> - -<p>Wieder klangen die Glocken. Die hannöversche Armee war zur Kapitulation -gezwungen, und während der König auf den Kriegsschauplatz eilte, brach -Prinz Friedrich Karl den heldenmütigen Widerstand der Österreicher und -Sachsen bei Gitschin.</p> - -<p>Wieder jubelte Berlin. Und wieder harrten und härmten sich -Hunderttausende um Väter, Gatten, Brüder, Söhne.</p> - -<p>Eine kurze Zeile nur hatte Helene erhalten, mit Bleistift beim -Biwakfeuer geschrieben: „Bin gesund und denke Dein in Liebe und -Sehnsucht. Gaston.“ In unaussprechlichem Dankgefühl schlossen sich ihre -Hände um das kleine Blatt. — — —</p> - -<p>„Der Gouverneur soll Viktoria schießen.“</p> - -<p>Die Schlacht bei Königgrätz war geschlagen. Das tapfere österreichische -Heer im vollen Rückzug.</p> - -<p>Und fast zugleich trafen die ersten Verlustlisten ein. Vereinzelte -Zeitungsnachrichten zuerst, vereinzelte Anzeigen der Regimenter, -und dann, dann die große Liste, Truppenteil an Truppenteil, Name an -Name gereiht. Lang, endlos lang war sie und trug die Trauer über das -jubelnde Land.</p> - -<p>Auf den Bahnhöfen kamen die ersten Verwundeten an. In die hellen -Sommerkleider auf den Straßen mischte sich das Schwarz. Neben die -siegesfrohen Gesichter traten die tränendurchfurchten.</p> - -<p>Wieder wie achtzehnhundertvierundsechzig ging Martha an den -Leinenschrank, saß und zupfte Scharpie, Fädchen auf Fädchen. Und -Helene saß dabei, die Linnenstreifen in der untätigen Hand, zwang -sich, geduldig zu scheinen und ruhig, und bebte doch in harrender -Erregung. Dann brachten die Jungens Zeitungsblätter, und sie durchflog -Spalte um Spalte mit fiebrigen Augen. Wilhelm kam von vergeblichen<span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span> -Erkundigungsgängen heim, war selber beunruhigt; auch um Fritz, der -bei den Fünfunddreißigern mitgekämpft hatte. Schlecht und ungeschickt -verbarg er die eigene Sorge.</p> - -<p>Es konnte ja nur ein gutes Anzeichen sein, daß keine Nachricht da war. -Ja, doch! Ja, doch! Es konnte —</p> - -<p>Man muß Geduld haben. Es geht Zehntausenden nicht anders als uns. Ja, -doch! Ja, doch! Aber sie härmen sich auch wie wir —</p> - -<p>„Du mußt bedenken, liebe Helene, wie schlecht die Verbindungen in -solchen Tagen sind.“ — „Ja, doch — ja, doch —“</p> - -<p>Dann schellte es draußen im Flur. Der Briefträger —</p> - -<p>Und wieder, wieder brachte er keine Nachricht. Drucksachen, Umschläge -mit gleichgültigen Geschäftsadressen — keinen Feldpostbrief!</p> - -<p>Der dritte, der vierte Tag, nachdem die Geschütze mit donnerndem Salut -den großen Sieg gekündet — und keine Nachricht!</p> - -<p>‚Ich will eine tapfere Soldatenfrau sein!‘ rief Helene sich immer -wieder zu. Aber dann versagte plötzlich die Kraft, der Kopf sank -vornüber, sie schluchzte auf.</p> - -<p>Martha legte den Leinwandstreifen zur Seite, beugte sich zärtlich -über sie, strich sanft über das rostbraune Haar: „Mein Schwesterchen! -Morgen! Morgen gewiß! Nur Gottvertrauen und Mut! ... Siehst du, wie -lieb du deinen Gaston hast!“</p> - -<p>Mit todtraurigen Augen schaute Helene auf: „Vielleicht liegt er hilflos -irgendwo ... in einer elenden Hütte ... und ich kann nicht bei ihm sein -... kann ihm nichts sein! Die erbarmungslose Untätigkeit! Martha, ich -ertrag’s nicht!“</p> - -<p>Und Martha nahm ihre Hände, sprach ihr gut zu, fühlte, wie vergeblich -Worte waren, und dachte doch immer: ‚wie lieb sie ihn nun hat ... wie -lieb sie ihn nun hat ...‘</p> - -<p>Am Abend saß Omama an ihrem Traumfenster, sah auf den mondüberströmten -Rotherschen Garten hinaus und sprach sich mit ihrer zittrigen Stimme -ein Lied von Anno<span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span> dreizehn vor, wie sie nun eins nach dem andern in -diesen Tagen in ihr aufstiegen: „... wie glühen dann die Herzen — so -froh und stark und weich! Wer fällt, der kann’s verschmerzen — Der hat -das Himmelreich!“</p> - -<p>Plötzlich kniete Helene neben ihr, umklammerte ihre Knie, bat: „Hör -auf, Mutter, hör’ auf!“</p> - -<p>Die Greisin schüttelte verwundert den Kopf. „Aber Kind ... es ist doch -ein sehr schönes, gutes Gedicht ... ‚Der hat das Himmelreich!‘“</p> - -<p>„Ach, Mutter —“ und Helene warf den Kopf in Omamas Schoß. „Ich kann’s -nicht hören!“</p> - -<p>Endlos die bangen Nächte.</p> - -<p>Helene lag und rang die Hände: „Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn -mir!“ Übersann, wieder und wieder, jede Stunde des Zusammenseins mit -ihm: wie gut, wie geduldig er immer gewesen, wie er nimmer ermüdend um -ihre Liebe geworben. Sie sah seine traurigen Augen, sah seine Augen im -Glück, fühlte seine Lippen auf ihrem Munde.</p> - -<p>„Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn mir!“</p> - -<p>An jene Nacht vor der Hochzeit dachte sie zurück, an ihre Kämpfe, an -ihre Verzweiflung. Und nun stand das alles vor ihr, als ob sie schlecht -gewesen wäre. Undankbar gegen ihn und ungerecht! Gefallsüchtig heut — -kalt und herzlos morgen! Gespielt hatte sie mit ihm! Nicht Vertrauen -mit Vertrauen vergolten!</p> - -<p>„Allmächtiger Gott, erbarm dich, laß ihn mir! Daß ich gut machen kann!“ — — —</p> - -<p>Wieder kam der Tag.</p> - -<p>Da stürmte plötzlich Hans herauf, jubelte, schwenkte einen Brief in der -Hand: „Tante Helene! Tante Helene!“</p> - -<p>Das Herz wollte ihr stillstehen. Ein einziger Laut rang sich von ihren -Lippen.</p> - -<p>Und sie riß den Brief an sich, barg ihn zwischen den Händen, küßte ihn -unter heißen Glückstränen.</p> - -<p>Der große Junge stand daneben, wischte sich die Augen, wartete eine -lange Weile, wehrte sich gegen die eigene Rührung, ließ dann die Tränen -kullern, wie sie wollten,<span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span> räusperte sich. Bis er endlich doch bat: „So -lies doch, Tante Helene.“</p> - -<p>Da sah sie ihn an mit feuchten Augen, schlang den Arm um ihn, küßte ihn -zärtlich —</p> - -<p>... und dann las sie.</p> - -<p>Wie ein Kind fast, zusammengekauert, saß sie auf dem Sessel, hielt den -einen Briefbogen zwischen den Händen, die noch immer bebten, hatte den -zweiten auf dem Schoß. Las mit fliegender Hast und überlas dann jede -Seite gleich noch einmal. Das Blut kam und ging in dem schönen Gesicht.</p> - -<p>Einmal gleich im Anfang sagte sie, hochaufatmend, aber ohne aufzusehen, -sehr eilig: „Gesund, Hans —“ Las wieder ein paar der eng mit Bleistift -beschriebenen Seiten weiter, blätterte zurück: „Am 3. abends — Herr -Gott, wie langsam der Brief ging!“ Sah auf einen kurzen Moment auf, -nickte Hans mit glückstrahlenden Augen zu, nahm den zweiten Bogen auf.</p> - -<p>„Das muß ich dir aber doch vorlesen, Hans —“</p> - -<p>„... wir wollten — so gegen vier Uhr — die jenseits Leipa eroberte -Batterie verlassen, da kam der König mit seiner Suite angeritten, -Bismarck und Moltke waren auch dabei. Alles brach in lauten Jubel aus, -unsere Schützen waren gar nicht mehr zu halten. Wir stürzten auf den -König los, wer zunächst war, faßte seine Hand und küßte sie. Stell -Dir das vor, <span class="antiqua">ma chérie</span>, noch mitten im Kanonendonner, unter -Hurrarufen, das gar nicht enden wollte. Seine Majestät sahen sehr ernst -aus, aber so mild, so gütig. Und denk’ Dir, plötzlich erkannte er mich. -Er winkte mir zu und grüßte: „<span class="antiqua">Bonjour</span>, Merivaux.“ Da hab ich in -den Kanonendonner hinein, recht aus voller Brust, gejubelt: „<span class="antiqua">Vive -le roi! Vive le roi!</span>“ Wie ich’s als Kind von meinem Vater gelernt -hatte. Da lächelte der König ...“</p> - -<p>Weiter las sie, blätterte zurück, las wieder.</p> - -<p>Las dann noch einmal halblaut: „Jetzt liegen wir im <span class="antiqua">bivouac</span>. Ich -schreib dies schon in der Dämmerung. Gerade klang die Retraite über -das Schlachtfeld und der Choral ‚Nun danket alle Gott‘. Wir alle haben -mitgesungen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span></p> - -<p>Und dann verstummte sie. Das brauchte der Junge doch nicht zu hören, -all die Zärtlichkeit, die Liebesworte der letzten Zeilen, all die -Sehnsucht, die ihr entgegenklang — — —</p> - -<p>Aber sie sprang auf, lief durch die ganze Wohnung. Nun sollten es alle -wissen. Von einem lief sie zum andern, küßte Omama, umhalste Martha. -Immer wie ein jubelndes Kind und immer mit Glückstränen in den Wimpern.</p> - -<p>Am Nachmittag ließ sich Frau Harriers-Wippern melden.</p> - -<p>Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf Helene zu: „Ich brauch’ ja nicht -zu fragen! Das Glück steht Ihnen auf dem Gesicht geschrieben, Frau von -Merivaux. Aber gratulieren will ich — recht von Herzen! Sie haben -sicher die besten Nachrichten.“ Und sie küßte Helene auf beide Wangen.</p> - -<p>Dann wurde sie rot: „Übrigens muß ich gestehen, ich komme eigentlich -nicht nur, um zu gratulieren. Ich komme mit einer Bitte ... Was Sie -immer für sonderbare Augen machen können, Frau von Merivaux! Ganz -andere Augen als andere Menschen. Ja, also, um mit der Tür ins Haus zu -fallen: Sie sollen mit mir in einem Konzert singen.“</p> - -<p>Helene erschrak. Aber Frau Harriers ließ sie gar nicht zu Worte kommen: -„In einem Konzert zum Besten unserer Tapfern, unserer Verwundeten! Da -können Sie doch gar nicht nein sagen! ... Aber da stehen in Ihren Augen -schon wieder alle möglichen Fragen — immer kann man’s in Ihren Augen -lesen, was Sie denken. Warum ich gerade zu Ihnen komme? Erstens weil -ich so ziemlich die einzige Sängerin von einigem Renommee bin, die -in Berlin geblieben ist, die sogenannten ersten Kräfte also mangeln. -Hauptsächlich aber — werden Sie nur ganz nach Belieben rot! — weil -ich Sie wenigstens einmal herausbringen möchte. Also aus reiner elender -Lehrerinneneitelkeit.“ Sie lachte fröhlich. „Nun?“</p> - -<p>„Es ist ... es kommt so plötzlich ...“</p> - -<p>„Das Gute kommt meist plötzlich. Übrigens hab ich alles<span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span> vorbedacht. -Wir haben acht Tage Zeit. Ihre Hand, liebe Helene, was zögern Sie? -Nicht wahr, Sie wollen?“</p> - -<p>Da sagte Helene rasch: „Ja, ich will!“</p> - -<p>Nachher gereute es sie ein wenig. Hatte sie nicht zu schnell zugesagt? -Ob es Gaston auch recht sein würde? Es war ja für die Verwundeten! Ob -sie’s auch gut machen würde?</p> - -<p>Aber all die Bedenken gingen unter in dem großen Glücksempfinden, das -sie heut erfüllte.</p> - -<p>Das Konzert — nun dachte sie kaum noch an das Konzert und an ihre -Zusage. Sie saß und schrieb einen langen Brief an Gaston. Ganz anders, -als sie bisher an ihn geschrieben. Ohne die Worte zu überlegen, ohne zu -wägen. Nur wissen sollte er, wie selig sie war, wissen, wie sie sich -nach ihm sehnte, wissen — wissen, daß sie ihn liebte!</p> - -<p>Selbst trug sie den Brief zur Post. ‚Nein! Ich trag ihn lieber zum -Anhalter Bahnhof — dann kommt er schneller in Gastons Hände.‘ Und -sie ging zum ersten Male seit Tagen durch die Straßen, die noch im -Siegesschmuck lagen. Immer hatte sie ja zu Haus gesessen — gewartet — -gewartet —</p> - -<p>Alles sah sie erst jetzt. Die Fahnen und die Girlanden. An der -altersgrauen Stadtmauer ging sie entlang und mußte lachen. Da hatten -die Berliner Rangen winzig kleine Löcher durch die zermürbten Steine -gestoßen, und darum stand: „Hier zieht Benedeck in Berlin ein!!!“ Stand -in Kreideschrift im Halbkreis herum mit drei Ausrufungszeichen dahinter.</p> - -<p>Plötzlich fiel ihr ein: ‚Tante Oschitz! Jetzt gehst du noch zu Tante -Marianne. Die muß doch Nachricht haben.‘ Aller Welt hätte sie zujubeln -mögen, wie glücklich sie war.</p> - -<p>Und sie ging weiter, über den Potsdamer Platz, durch die -Bellevuestraße, am Tiergartensaum entlang. Dachte: da drüben am -Goldfischteich hat Gaston zum erstenmal von unserem Hochzeitstag -gesprochen. Lachte in sich hinein, wie hilflos sie damals gewesen. -Lief wie ein Kind durch den Vorgarten der Stillen Insel, fiel Tante -Marianne um den Hals: „Ich hab einen Brief. Mein Gaston ist gesund!“ -War<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span> glücklich, daß die Greisin sich mit ihr freute. Weinte wie Kinder -weinen, als Tante Marianne sie vor das große Bild Harros führte, das -sie von Professor Richter hatte malen lassen. „Ach, Harro — unser -guter lieber Harro!“ Und hatte, als sie die Stille Insel verlassen, -doch nur wieder das eine Glücksgefühl im Herzen und nur den einen -Gedanken an Gaston.</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p>Das Konzert fand in der Singakademie statt. Frau Harriers-Wippern hatte -nachträglich noch zwei, trotz der Ferien zufällig in Berlin anwesende -Mitglieder des Königlichen Opernhauses gewonnen, den Bassisten Salomon -und Fräulein Horina. Für Helene waren drei Nummern reserviert.</p> - -<p>Ein wenig befangen war Helene doch.</p> - -<p>Als am Morgen die Jungens jubelten: „Tante Helene steht an den -Litfaßsäulen! Tante Helene steht in der ‚Kreuzzeitung‘!“ war sie rot -wie ein Schulmädchen geworden. Und als sie mit Martha zur Singakademie -fuhr, hatte sie eine unheimliche Empfindung im Kehlkopf: ‚Du wirst ja -keinen Ton herausbringen können.‘ Auch der Zuspruch von Frau Harriers -half nicht viel. Einmal lugte sie in den überfüllten Zuschauerraum: sie -sah nur eine Masse Menschen die wie ins Dunkle getaucht schien.</p> - -<p>Schon klang die Ouvertüre zu „Struensee“ auf.</p> - -<p>Im Konversationszimmer stand der Baumeister Harriers neben Helene, -hatte eine halbe Flasche Champagner in der Hand und sagte gutmütig -lächelnd: „Ich kenn’ das von meiner Frau. Die hat heut noch manchmal -Lampenfieber. Dann hilft nur ein Glas Champagner.“ Sie wehrte wortlos -ab — und dann stürzte sie doch ein Glas herunter.</p> - -<p>Draußen sang gerade Fräulein Horina ...</p> - -<p>Dann hieß es: „Die vierte Nummer! Frau von Merivaux — bitte!“</p> - -<p>Helene stand auf dem Podium. Im hellen Licht.</p> - -<p>Sie mußte überraschend schön wirken in ihrem Brautkleid,<span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span> zu dem sie -ein paar mattblaue Schleifen genommen hatte und einen Kranz von weißen -Rosen in das rostbraune Haar. Vielleicht hatte es sich herumgesprochen, -daß die neue Erscheinung, die Schülerin der gefeierten Frau Harriers, -die jungvermählte Gattin eines Offiziers sei, der im Felde stand. -Vielleicht war’s auch nur Neugier. Es ging ein leises Rauschen durch -den Zuschauerraum.</p> - -<p>Einen Moment stand sie noch in Verwirrung. Verneigte sich tief.</p> - -<p>Nun klangen die ersten Akkorde —</p> - -<p>Da war ihre Befangenheit plötzlich verschwunden, mit einem Male. Sie -setzte ein.</p> - -<p>Das Uhlandsche Lied sang sie, nach der Komposition von Franz Schubert:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Die linden Lüfte sind erwacht,</div> - <div class="verse indent0">Sie säuseln und weben Tag und Nacht —“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Es war merkwürdig, sie staunte selbst. Noch nie vielleicht war sie so -gut disponiert gewesen wie im diesen Augenblicken. Sie fühlte, wie -sie ihr Organ meisterte, wie es sich ihrem Willen fügte gleich einem -gehorsamen Instrument. Fühlte, wie sie von Atemzug zu Atemzug freier -wurde, wie ihre Stimme sich immer weiter entfaltete —</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Es blüht das tiefste, tiefste Tal,</div> - <div class="verse indent0">Nun armes Herz vergiß der Qual,</div> - <div class="verse indent0">Nun muß sich alles, alles wenden.“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Rauschender Beifall tönte herauf, als sie geendet. Und plötzlich, -während sie sich verneigte, kam wieder die große Verwirrung über sie. -Keine Angst, aber etwas Beschämung.</p> - -<p>Noch immer wollte der Beifall nicht aufhören. Noch einmal mußte sie -sich verneigen.</p> - -<p>Aber als sie sich nun wieder aufrichtete und sich zurückziehen wollte, -unterschied sie zum ersten Male in der vordersten Reihe ein paar -bekannte Gesichter. Omama neben Wilhelm — Martha —</p> - -<p>Aber wer war denn das? Zwischen Mutter und der Schwägerin?</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span></p> - -<p>Kantor Flehr saß da mit den gefalteten Händen im Schoß, die blauen -Augen leuchteten aus dem lederfarbenen Gesicht wie in Entzückung zu ihr -hinüber —</p> - -<p>Das war sicher Marthas Werk! Keine größere Freude hätte sie ihr an -diesem Abend bereiten können! Und sie neigte sich zum drittenmal und -nickte ihm zu, nur ihm unter all den Hunderten.</p> - -<p>„Das haben Sie brav gemacht, Helene“, meinte dann Frau Harriers. „Brav -ist eigentlich zu wenig. Es soll auch nur den Zoll für Ihre Tapferkeit -ausdrücken. Wenn ich so an mein erstes Debüt zurückdenke — wie eine -Heldin haben Sie sich benommen! Aber sagen Sie, wer ist denn der alte -wunderliche Mann neben Ihrer Frau Schwägerin, der Sie angestaunt hat -wie ein Wunder —“</p> - -<p>„Mein erster Lehrer —“</p> - -<p>„Der alte Kantor, von dem Sie mir so oft erzählt haben? Den muß ich -kennen lernen. Den bringen Sie mir morgen, und ich will ihm ganz allein -alles aus seinem geliebten Mozart vorsingen, was er nur hören mag.“</p> - -<p>Es war eine seltsam frohe Stimmung über Helene gekommen, seit sie den -Alten gesehen und erkannt hatte. Wie ein lieber Grußbringer aus der -märkischen Heimat erschien er ihr. Sie dachte zurück an ihre ersten -Versuche bei ihm, dachte dankbar zurück an die entscheidende Stunde, in -der er, der Schüchterne, so tapfer vor Vater um ihre Kunst gestritten -hatte.</p> - -<p>Und dann flogen ihre Gedanken wieder weit weg, nach dem -Kriegsschauplatz, zu Gaston. Daß der heut hier fehlte! Wenn er unten -gesessen hätte, sie gehört und den Beifall! Sie gehört und gesehen in -dem weißen Kleide, das sie nun zum zweiten Male trug, mit so ganz, ganz -anderen Empfindungen im Herzen, als damals — als damals —</p> - -<p>„Frau von Merivaux!“</p> - -<p>Sie sang das Lied der Prascovia aus Meyerbeers „Feldlager“. Wieder -tönte der Beifall. Und ein großes Blumenarrangement stand plötzlich vor -ihr auf dem Podium, ein mächtiger Korb mit Rosen, den die Kameraden -von der<span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span> Ersatzkompagnie der Gardeschützen geschickt hatten. Nun sah -sie auch die wohlbekannten Uniformen unter den Zuschauern, und wieder -dachte sie an den fernen Geliebten.</p> - -<p>Noch einmal mußte sie auf das Podium.</p> - -<p>Frau Harriers hatte darauf bestanden, daß sie das Mignonlied singen -sollte. Sie hatte sich ein wenig gesträubt.</p> - -<p>Jetzt, während sie das Lied sang, kam ihr die beseligende Empfindung: -‚Du singst es ja für Gaston‘ —</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent12">„Dahin! Dahin!</div> - <div class="verse indent0">Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehen.</div> - <div class="verse indent0">Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?</div> - <div class="verse indent0">Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg ...“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Ihr war’s, als zöge sie mit ihm in sein Heimatland. Und ihre Stimme -gewann, ihr ganz unbewußt, noch einen besonderen Klang, einen -schwermutsvollen süßen Zauber.</p> - -<p>Sie mußte das Lied wiederholen —</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„Kennst du des Land, wo die Zitronen blühn,</div> - <div class="verse indent0">Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,</div> - <div class="verse indent0">Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,</div> - <div class="verse indent0">Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?</div> - <div class="verse indent0">Kennst du es wohl!</div> - <div class="verse indent12">Dahin! Dahin!</div> - <div class="verse indent0">Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehen!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Dann stand draußen, während im Saal die Eroica-Sinfonie aufklang, die -kleine Künstlerschar und umringte Helene. Frau Harriers schloß sie in -die Arme: „Ich habe eben Taubert gesprochen. Er ist ganz hingerissen. -Liebe Helene — vergessen Sie die Kunst nicht in Ihrem Glück.“</p> - -<p>Fast dasselbe aber sagte nachher in seiner schüchternen, schlichten und -doch ein wenig überschwenglichen Art der alte Kantor. Er faßte beide -Hände Helenens, hielt sie andächtig in den seinen: „Daß ich das erlebe! -Liebe, liebe gnädige Frau ... Wenn Sie so recht glücklich sind, dann -denken Sie immer daran, daß Ihre Kunst das schönste Glück erhöhen und -krönen kann ...“</p> - -<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br /> -*</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span></p> - -<p>Eine Woche noch, und es tauchten Gerüchte auf, daß im Hauptquartier des -Königs, in Nikolsburg, über den Frieden verhandelt würde.</p> - -<p>Gerade an dem Tage, an dem Helene die erste Zeitungsnotiz darüber las, -schrieb Gaston aus Holleschin: „Auf dem Marsch gegen Wien.“ Es war die -Antwort auf Helenes Brief. Er rechnete noch fest auf die Fortsetzung -des Feldzuges, aber er schrieb kaum von Gefahren und Strapazen: immer -wieder nur schrieb er von der Seligkeit, die Helenes Brief in ihm -erweckt: „Das ist mein schönster Siegespreis!“</p> - -<p>Friede!</p> - -<p>Helene hatte bis zur letzten Minute nicht fest an ihn zu glauben -gewagt. Sie hatte ihn erhofft, jede Nachricht mit zitternder Spannung -verfolgt und doch immer wieder gezagt. Nun jauchzte ihr Herz.</p> - -<p>Manchmal in diesen Tagen kam sie sich als recht schlechte Patriotin -vor —</p> - -<p>Bruder Fritz war bei Königgrätz leicht verwundet und als Rekonvaleszent -zurückgekehrt, mußte noch liegen, hatte sich bei Wilhelms einquartiert, -um seine völlige Herstellung abzuwarten. Denn dem groben Doktor -Tiburtius in Stellberg traute er keine besonderen chirurgischen Künste -zu.</p> - -<p>Die Brüder saßen viel zusammen. Wilhelm war ein wenig stolz auf den -verwundeten Bruder, klagte, daß er selbst beim Ersatz geblieben war, -tat sich etwas darauf zugute, Fritz bei sich zu pflegen und zu hegen; -ihm das Beste vorzusetzen, was der Keller hergab, und für seine -Unterhaltung zu sorgen. Bis zur Stunde, wo Wilhelm aus dem Dienst kam, -las Fritz sämtliche Berliner Zeitungen und war dann vollgesogen wie -ein Schwamm. Sein sonnengebräuntes Gesicht lachte, wenn er Wilhelm und -möglichst die ganze Familie an seinem Schmerzenslager versammelt sah.</p> - -<p>Da hörte denn auch Helene, was Großes geschehen, welch Größeres in -Aussicht stand für Preußen, für das deutsche Vaterland.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span></p> - -<p>Fritz war noch immer der Mann der Politik. Aber der ‚rote Kreisrichter‘ -war er nicht mehr. „Wir haben uns geirrt. Die besten von uns gestehen -es offen ein. Wir haben vor allem Bismarck unrecht getan — und dem -König. Wir haben uns geirrt — im ehrlichen Glauben. Aber nun heißt’s -für uns, auch ehrlich die dargebotene Hand zu ergreifen. Der Konflikt -muß begraben sein. Gottlob!“</p> - -<p>Und er sprach weiter vom neuen Norddeutschen Bunde, und wie der nur -die Vorstufe sei zu einem einigen Deutschland. Er sprach wehmütig -vom Ausscheiden Österreichs aus dem Kreise der deutschen Staaten und -von Bismarcks politischer Weisheit, die dem Donaustaat allzu schwere -Opfer erspare; wohl in der Hoffnung, daß es dereinst auch mit ihm zu -einer Versöhnung kommen möge. „Denn wir sind und bleiben deutsche -Brüder!“ Und er sprach stolz von Preußens Machtzuwachs, daß nun -die beiden Hälften der Monarchie verbunden seien, das Preußen mit -Schleswig-Holstein den besten deutschen Kriegshafen gewonnen habe.</p> - -<p>Helene hörte das alles: Sie freute sich auch darüber. Zumal, wenn es -immer wieder hieß: „Wenn doch unser guter Vater das erlebt hätte!“</p> - -<p>Aber sie schämte sich auch. Nein, eine gute Patriotin war sie nicht! -Ihr Herz war so voll von dem einen, daß sich für alles andere nur wenig -Raum fand. Beim besten Willen: der Norddeutsche Bund und die deutsche -Einheit, die ließen sie im letzten Grunde gleichgültig. Sie hörte das -alles, und sie dachte doch nur an Gaston.</p> - -<p>Dann legte wohl Martha den Arm um den Nacken der jungen Frau und küßte -sie wortlos auf die Stirn. Oder die alte Omama kam auf ihren Krückstock -gestützt vom Fensterplatz herüber, schüttelte den Kopf, daß die -schwarzen Schläfenlocken pendelten, und meinte: „Unsre Lene war eben -immer ein kurioses Menschenkind ... ja ... aber ihr müßt wissen ... -<span class="antiqua">C’est l’amour! C’est l’amour!</span> Ja, der Flehr ... übrigens etwas -deplaciert kam ich mir doch neben ihm vor, neulich im Konzert ... ja, -der<span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span> Kantor hat auch gesagt: gelernt hätt’ die Lene wohl unglaublich -viel, aber das allein tät’s doch nicht.“ Ganz leise kicherte sie noch -einmal vor sich hin: „<span class="antiqua">C’est l’amour! C’est l’amour.</span>“ Und Helene -wurde rot wie ein junges Mädchen. — — —</p> - -<p>Wilhelm schmiedete schon neue Geschäftspläne. Er wollte mit einem -Konsortium die Waffen der früheren hannöverschen und hessischen Truppen -kaufen. „Ich stehe in Unterhandlung mit chilenischen und argentinischen -Emissären — für Südamerika sind die alten Flinten noch wunderbar -schön.“ Dabei rechnete er auf Heller und Pfennig heraus, daß er den -Seinen ein riesiges Vermögen bei dem Geschäft gewinnen müsse. „Sobald -ich entlassen bin, geh ich nach London, um abzuschließen!“</p> - -<p>‚Arme Martha! Er ist und bleibt der unverbesserliche Phantast und -Optimist.‘ Aber wenn Helene ihm in sein schönes, immer heiteres Gesicht -sah, sein liebenswürdiges Lachen hörte, sagte sie sich wieder: ‚Bös -kann man ihm doch nicht sein. Auch Martha nicht, wenn sie auch manchmal -nicht leicht trägt. Im Grunde: die beiden passen trefflich zueinander.‘</p> - -<p>Dann träumte sie weiter: ‚Wie werden wir beide wohl miteinander sein?‘ -Und sie preßte die Hände aneinander, als ob sie etwas recht, recht fest -halten wollte.</p> - -<p>Oft dachte sie zurück an ihr innerstes Erleben. Nichts hätte sie missen -mögen. Sie wußte nun: Durch Schmerz und Leid führte mein Weg zum Glück! -Und sie wußte auch: ein Schößling, der schnell aufschießt, hält der -Zeit selten stand; der langsam wachsende Baum aber wird stark und -kräftig. So war ihre Liebe — — —</p> - -<p>Berlin rüstete sich zum Empfang der Sieger.</p> - -<p>Die Einzugsstraße Unter den Linden schmückten als schönste Zier die -zweihundertneun eroberten Geschütze, von Viktorien unterbrochen, die -auf goldenen Schildern die Namen der Schlachten und Gefechte trugen. -Viktorien leiteten zur Schloßbrücke. Auf dem Lustgarten erhob sich der -Altar mit der riesenhaften Borussia dahinter, umgeben<span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span> von den Statuen -der Hohenzollernherrscher. Flatternde Fahnen, Girlanden, Blumenschmuck -allerorten —</p> - -<p>Wilhelm hatte einige Fensterplätze im Zeughaus erhalten.</p> - -<p>Hier stand Helene und sah über die wogenden Massen hinüber, auf die -breite freie Straße, die die Sieger vom Brandenburger Tor her kommen -mußten.</p> - -<p>Von fernher klang der Jubel der Hunderttausende, kam näher, schwoll, -wie Sturmesbrausen.</p> - -<p>Der Zug nahte. Vorn die Generale, Bismarck und Moltke.</p> - -<p>Der König dann, mit ihm der Kronprinz, Prinz Friedrich Karl, die -Heerführer.</p> - -<p>Drüben am Palais nahm der König Aufstellung, um seine Tapferen an sich -vorüberziehen zu lassen.</p> - -<p>Hochaufgerichtet saß der Kriegsherr im Sattel.</p> - -<p>Und wie Helene ihn so sah, umbraust von Jubel, der sich immer und immer -erneute, der nicht enden wollte und nicht enden konnte, da tauchte noch -einmal ein seltsames Erinnerungsbild vor ihrer Seele auf.</p> - -<p>Vor vier Jahren hatte sie ihn zum ersten Male gesehen, den greisen -König, im Wagen, am Brandenburger Tor. Fast die einzige war sie -damals gewesen, die sich vor ihm zum Gruß beugte. Als ob er die Liebe -seines Volkes verloren hätte. Ernst hatte sein gütiges Auge über alle -hinweggesehen, ernst und milde. Ja, auch er hatte sich die Liebe -erobern müssen, in schwerem Ringen! Aber nun hielt er dort drüben, -bei seinem großen Ahn, Friedrich dem Einzigen, und ein dankbares Volk -jubelte ihm zu. Nun hatte er dieses Volkes Liebe für alle Zeiten —</p> - -<p>Das Herz pochte, und in ihr war der große Jubel: Heil, König dir!</p> - -<p>Mit einem Male, plötzlich, war sie wieder ganz die Tochter des alten -Rittmeisters, die echte Märkerin, die leidenschaftliche Patriotin: -‚Heil, König dir!‘</p> - -<p>Unten zogen die eroberten Fahnen durch die Ruhmesstraße.</p> - -<p>Dann folgten, im endlos langen Zuge, die siegreichen Truppen. Die -Musikchöre spielten. Immer aufs neue<span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span> setzte der Jubel ein. Im -Feldanzug kamen die Regimenter, mit Blumen bekränzt die Gewehre, -die zerschossenen Helme. Im festen Tritt marschierten sie an dem -Kriegsherrn vorüber —</p> - -<p>Und nun spähte Helene mit Falkenblick. Schon von weitem sah sie die -schwarzen Käppis der Schützen. Sah dann vor seinem Zuge ihn, Gaston. -Sah ihn vor dem Könige salutierend den Degen senken, sah, wie sein -Blick sich wandte, suchend, forschend, bis er sie fand. Und da erst -dachte sie daran, daß neben ihr ein alter Herr stand, mit dem Roten -Adlerorden im Aufschlag des schwarzen Rockes, ein alter Herr, der von -weither gekommen war, den Sohn an diesem Tage zu grüßen und dem König -sein „<span class="antiqua">Vive le roi!</span>“ zuzujubeln. Sie faßte seine Hand und sagte: -„Vater — sieh — Gaston —“</p> - -<p>Unten zogen die Truppen weiter. Regiment auf Regiment, Schwadron auf -Schwadron, Batterie auf Batterie. Zogen über die Schloßbrücke zum -Altar, der zu Füßen der Borussia errichtet war.</p> - -<p>„Ein anderer wird morgen die Kompagnie zur Kaserne führen“, hatte -Gaston gestern geschrieben. Aus dem letzten Quartier.</p> - -<p>So wußte Helene, daß er kommen und sie finden würde.</p> - -<p>Sie trat zurück vom Fenster, aus der Enge der Zuschauer, in den Saal. -Niemand achtete auf sie. Unten zogen noch immer die Regimenter vorüber. -Triumphmusik klang herauf und der brausende Jubel der Menge.</p> - -<p>Sie wartete —</p> - -<p>Und ihr Herz wurde weit. In ihr tönte der Text ihres Brautspruches -wieder, und es war wie ein glückseliger Sphärenklang ... „Und hättet -der Liebe nicht ...“</p> - -<p>Am Eingang des Saales stand er, seine Augen suchten sie.</p> - -<p>Da ging sie ihm entgegen — — —</p> - -<hr class="end" /> - -<div lang='en' xml:lang='en'> -<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>AUF MÄRKISCHER ERDE</span> ***</div> -<div style='text-align:left'> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Updated editions will replace the previous one—the old editions will -be renamed. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. 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Redistribution is subject to the trademark -license, especially commercial redistribution. -</div> - -<div style='margin-top:1em; font-size:1.1em; text-align:center'>START: FULL LICENSE</div> -<div style='text-align:center;font-size:0.9em'>THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE</div> -<div style='text-align:center;font-size:0.9em'>PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free -distribution of electronic works, by using or distributing this work -(or any other work associated in any way with the phrase “Project -Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full -Project Gutenberg™ License available with this file or online at -www.gutenberg.org/license. -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™ -electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to -and accept all the terms of this license and intellectual property -(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all -the terms of this agreement, you must cease using and return or -destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your -possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a -Project Gutenberg™ electronic work and you do not agree to be bound -by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person -or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -1.B. “Project Gutenberg” is a registered trademark. 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Information about the Mission of Project Gutenberg™ -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of -electronic works in formats readable by the widest variety of -computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It -exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations -from people in all walks of life. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Volunteers and financial support to provide volunteers with the -assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s -goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will -remain freely available for generations to come. In 2001, the Project -Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure -and permanent future for Project Gutenberg™ and future -generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see -Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit -501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the -state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal -Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification -number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by -U.S. federal laws and your state’s laws. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, -Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up -to date contact information can be found at the Foundation’s website -and official page at www.gutenberg.org/contact -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread -public support and donations to carry out its mission of -increasing the number of public domain and licensed works that can be -freely distributed in machine-readable form accessible by the widest -array of equipment including outdated equipment. Many small donations -($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt -status with the IRS. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Foundation is committed to complying with the laws regulating -charities and charitable donations in all 50 states of the United -States. Compliance requirements are not uniform and it takes a -considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up -with these requirements. We do not solicit donations in locations -where we have not received written confirmation of compliance. To SEND -DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state -visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -While we cannot and do not solicit contributions from states where we -have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition -against accepting unsolicited donations from donors in such states who -approach us with offers to donate. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -International donations are gratefully accepted, but we cannot make -any statements concerning tax treatment of donations received from -outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Please check the Project Gutenberg web pages for current donation -methods and addresses. 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Thus, we do not -necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper -edition. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Most people start at our website which has the main PG search -facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -This website includes information about Project Gutenberg™, -including how to make donations to the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to -subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. -</div> - -</div> -</div> -</body> -</html> diff --git a/old/69133-h/images/cover.jpg b/old/69133-h/images/cover.jpg Binary files differdeleted file mode 100644 index 470cbf0..0000000 --- a/old/69133-h/images/cover.jpg +++ /dev/null diff --git a/old/69133-h/images/signet.png b/old/69133-h/images/signet.png Binary files differdeleted file mode 100644 index a63dd08..0000000 --- a/old/69133-h/images/signet.png +++ /dev/null |
