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-The Project Gutenberg eBook of Auf märkischer Erde, by Hanns von
-Zobeltitz
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Auf märkischer Erde
-
-Author: Hanns von Zobeltitz
-
-Release Date: October 11, 2022 [eBook #69133]
-
-Language: German
-
-Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at
- https://www.pgdp.net
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUF MÄRKISCHER ERDE ***
-
-
- ####################################################################
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
- Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1910 so weit
- wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler
- wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht
- mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
- unverändert. Fremdsprachliche und regional gefärbte Ausdrucksweisen
- wurden unverändert übernommen.
-
- Die Buchversion wurde in Frakturschrift gesetzt. Besondere
- Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der folgenden
- Sonderzeichen gekennzeichnet:
-
- kursiv: _Unterstriche_
- fett: =Gleichheitszeichen=
- gesperrt: +Pluszeichen+
-
- ####################################################################
-
-
-
-
- Auf märkischer Erde
-
-
-
-
- _~HANNS VON ZOBELTITZ~_
-
- Auf märkischer Erde
-
- Roman
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- [Illustration]
-
- ~NEUFELD & HENIUS / VERLAG / BERLIN~
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- +Alle Rechte vorbehalten+
-
- ~Copyright 1910 by Egon Fleischel & Co., Berlin~
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- Gedruckt bei A. Heine, G. m. b. H., Gräfenhainichen
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-
-Erstes Kapitel
-
-
-Die Rackowschen waren soeben fortgefahren. Im großen Zimmer räumte
-Helene mit dem Stubenmädchen den Kaffeetisch ab. Ihr feines Näschen
-schnoberte, wie’s der Vater nannte, dem leisen, süßen Duft von Waffeln
-und Pariser Parfüm nach, der noch im Raum lag. Immer hinterließ Tante
-Marie diesen Veilchengeruch mit dem Moschusakzent, und immer rief er in
-Helenens erregbarer Phantasie unklare Vorstellungen wach von unerhörtem
-Luxus, von rauschenden Seidenkleidern, kostbaren indischen Schals,
-koketten Kapotthütchen, von funkelnden Brillanten und Perlenreihen,
-die sich um tiefentblößte weiße Nacken schmeichelten. Ganz merkwürdig:
-immer war dann auch das Bild der schönen Kaiserin Eugenie da, von der
-die Rackowschen vorhin wieder erzählt hatten. Tante Marie von ihrer
-Anmut und Eleganz, von den Kleidern, die sie auf der Brunnenpromenade
-in Ems getragen, und wie groß der Umfang ihrer Krinoline gewesen wäre;
-Onkel Ernst mit zugespitzten dicken Lippen von ihrer Schönheit, ihrem
-üppigen rotblonden Haar, ihrem blendenden Teint. Und daß und wie der
-General Fleury immer um sie gewesen wäre. Da hatten die Herren gelacht,
-aber Tante Marie und Martha hatten verstohlene Blicke gewechselt.
-
-Die Tassen klirrten leise unter ihren Händen. Sie fühlte, wie ihr das
-Blut in die Wangen stieg.
-
-Der Rittmeister schritt schweigend auf dem hausgewirkten Läufer
-entlang, der in der Diagonale des großen Zimmers lag, von der
-Korridortür bis zur Tür der Vorratskammer. Straff aufrecht ging er,
-die Hände auf dem Rücken, den Kopf mit dem weißen, ein wenig gelockten
-Haar etwas vorgebeugt, seine gewohnten zwölf Schrittchen hin, zwölf
-Schrittchen zurück. Jedesmal, wenn er kehrt machte, sah er zärtlich
-zu seinem Spätling hinüber. Aber seine Gedanken waren nicht um Helene
-beschäftigt. Auch sie gingen nach Paris. Immer, wenn der Name Paris
-fiel, dachte er an seine große Zeit zurück, an die Tage, an denen er
-sich das Kreuz von Eisen gewonnen hatte, an seinen geliebten Marschall
-Vorwärts und an den anderen Napoleon, den er heut noch haßte wie Anno
-13. Ebenso haßte, wie er den Neffen verachtete, ihn und das ganze
-Getriebe um ihn her. Ein ehrlicher und kritikloser Haß war’s, und eine
-ehrliche und kritiklose Verachtung, ganz im altpreußischen Zuschnitt.
-
-An dem letzten der drei Fenster saß Mutter. Mutter -- Omama genannt,
-seit die Kinder von Bruder Wilhelm im Hause waren und heranwuchsen.
-Selbst Helene vergaß sich manchmal und sagte Omama zu ihrer Mutter. Vor
-dem birkenen Nähtisch saß sie und träumte mit ihren großen blauen Augen
-ins Freie, in die grünen Fliederbüsche des Gartens hinaus. Die Hände im
-Schoß und die Lippen in leiser, stummer Bewegung. Vielleicht skandierte
-sie wieder einmal. Schrieb’s wohl auch am Abend heimlich auf und
-legte es heimlich in das Glaskästchen mit den blauen Bändern, wo ihr
-Allerheiligstes und Allerheimlichstes war, ihr Reliquienschrein. Der
-alte Rittmeister nannte ihn spottend den Körnersarg. Denn ganz unten
-lagen ein paar vertrocknete Veilchen, die der Sänger einst der Omama
-verehrt hatte. Lang, lang war’s her, und aus der jungen Komteß Grucker
-war ein verhutzeltes altes Frauchen geworden, aus der gefeierten
-Schönheit, der reichen Erbin eine kleine, greise märkische Edelfrau.
-Aber sie konnten’s beide nicht vergessen: Omama nicht die eine
-Begegnung, die eine Stunde unter der Eiche im Park, und der Rittmeister
-nicht seine rasende Eifersucht. Trotzdem die schleichende Zeit sonst so
-vieles ertötet und begraben hatte.
-
-Es war totenstill im großen Zimmer. Nur das Ticken der Kuckucksuhr
-klang, und bisweilen schnappte Diana, die am Ofen lag, nach einer
-verspäteten Fliege. Dann blitzte der alte Herr aus seinen scharfen
-Augen mißbilligend hinüber und machte halblaut: Kusch. Gleich legte der
-Köter gehorsam den feinen Kopf zwischen die Pfoten. Einen höllischen
-Respekt hatten die Hunde. Der Rittmeister dressierte sie selber; noch
-nach der alten Methode, mit Peitsche und Korallenhalsband.
-
-Der Kaffeetisch war längst abgeräumt. Das Mädchen hatte das Damasttuch
-mit hinausgenommen, Helene breitete die braune Plüschdecke über den
-Tisch. Wie immer verdroß sie dabei der große runde Fleck, auf dem am
-Abend die Lampe stand. Sie strich von rechts drüber hin und von links.
-Es half nichts. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren.
-Abgeschabt und ärmlich. Altmodisch und ärmlich. Wo sie auch hinsah,
-alles im Zimmer abgeschabt, altmodisch und ärmlich. Die Tapete mit den
-kleinen Vierecken und den bunten Sträußchen in jedem Quadrat voller
-Flecken; der Sofateppich mit dem Rosenmuster dünn; die Zimmerdecke
-grau verblakt; das eckige, steiflehnige Kanapee eingesessen. Und sie
-dachte wieder an das elegante Rackow und an die elegante Tante Marie,
-die so häßlich war wie die Nacht und doch alle Welt bezauberte, dachte
-darüber hinaus wieder an Paris und an die Toiletten der Imperatrice,
-an funkelnde Diamanten und an Perlenketten, die sich um tiefentblößte
-weiße Nacken schmeichelten. Und an die Große Oper dachte sie, von der
-die Rackower erzählt hatten. An die erste Aufführung des „Tannhäuser“,
-der die im vorigen Jahr in Paris beigewohnt hatten, dachte sie, und was
-das für eine kuriose Musik gewesen sein sollte, von einem Deutschen
-namens Wagner, einem Revolutionsmann von 48 -- und dann dachte sie an
-die Desirée Artôt und an die kleine Pauline Lucca, die in Berlin seit
-dem vorigen Jahr alle Herzen entflammte. Bruder Wilhelm konnte ja nicht
-genug Wesens von ihr machen.
-
-Helene war an den Ofen getreten. Fast wie im Trotz lehnte sie sich
-fest an ihn und fühlte dabei, daß ihre Hände fiebrig heiß auf den
-kalten Kacheln lagen.
-
-Immer noch machte Vater seinen eintönigen Marsch in der Diagonale.
-Immer noch träumte Mutter zum Fenster hinaus. Immer noch -- immer noch.
-Die Luft war so drückend, und es schien, als senkte sich die graue
-Zimmerdecke langsam immer tiefer.
-
-„Ich geh’ hinaus auf die Veranda“, sagte sie plötzlich scharf in die
-Stille hinein. Und wunderte sich, daß sie’s überhaupt sagte.
-
-Der alte Rittmeister unterbrach seinen Marsch nicht, nickte nur,
-lächelte ihr zu. Mutter sah flüchtig auf. „Nimm mein Tuch um, Lenchen.
-Es wird schon kalt gegen Abend.“
-
-„Mich friert nicht. Ich geh’ zur Post mit den Jungens. Oder ich geh’ zu
-Pastors.“
-
-Eigentlich hätte sie sagen mögen: ich geh’ in die weite Welt hinaus.
-Und wußte doch, daß ihre Welt drüben an der neuen Chaussee, an der
-schnurgeraden Pappelreihe ihr Ende hatte. Aber vielleicht sah, faßte
-sie dort wirklich die Post, die von Frankfurt kam ... und hinter
-Frankfurt lag Berlin ... zwei Stunden nur mit der Eisenbahn, und der
-wundervolle köstliche Dampfwagen raste von Berlin weiter hinaus in die
-Weite, in diese köstliche, wundervolle Weite ..
-
-Aber dann, als die schwere eichene Haustür hinter ihr ins Schloß
-gefallen war, blieb sie doch auf der Veranda stehen.
-
-Denn da saß Martha, hatte eine gewaltige irdene Schüssel im Schoß und
-schnipselte Bohnen. Fleißig wie immer. Grad daß sie über das bessere
-Kleid, das sie den Rackowern zu Ehren in der Eile angetan, die große
-Küchenschürze gebunden hatte.
-
-Als Helene sie so sah, wurde wieder etwas wie Trotz in ihr wach, eine
-Auflehnung gegen das Bild der Alltäglichkeit. Sie fragte hastig: „Warum
-quälst du dich selber, Martha? Laß das doch Mamsell machen.“ Und sie
-wurde rot dabei, denn sie liebte die junge Schwägerin in ihrem heißen
-Herzen, hegte eine unwillige Bewunderung für sie.
-
-Martha Hackentin sah nur einen Augenblick auf. „Ich kann doch nicht
-müßig sein. Mamsell hat in der Leuteküche zu tun.“ Da lief Helene
-zurück an den Schrank im Flur, holte sich ein Küchenmesser, zog sich
-einen Stuhl heran und griff in die irdene Schüssel. Es ging ihr gut von
-der Hand, wenn sie irgendeine Arbeit begann, aber sie hatte keinerlei
-Neigung zur wirtschaftlichen Betätigung und erlahmte schnell.
-
-Auch jetzt lehnte sie sich bald zurück und sah der Schwägerin zu. Sah
-auf den glatten dunklen Scheitel und die weiße, etwas niedrige Stirn,
-die tief über das Gefäß gesenkt war. Sah auf die Hände, die, so gut sie
-gehalten waren, die stark tätige Hausfrau verrieten.
-
-„Sehnst du dich nie nach der Stadt?“ fragte sie plötzlich.
-
-„Wie sollte ich, Helene? Ich bin ja gern in Rohlbeck. Ich bin doch
-hier zu Hause.“ Martha hatte auf einen Moment die klaren grauen Augen
-gehoben, hatte ein wenig mit dem Kopf geschüttelt: Helene tat oft gar
-zu merkwürdige Fragen.
-
-„Nun ... du bist doch aus der Stadt. Du bist doch kein Landkind.“
-
-„Aber ich hab’ hier meine Heimat gefunden. Meine liebe zweite Heimat.“
-Sie schwieg einen Augenblick. „Ich hab’ meine Kinder hier und meine
-Arbeit.“
-
-„Ja. Freilich! Arbeit hast du, von früh bis spät. Die erste im Hause
-auf und die letzte in den Federn. Man müßte sich eigentlich schämen vor
-dir. Man müßte --“
-
-„Du Närrin! Mir ist’s noch nie zu viel geworden.“
-
-Eine Weile war’s stille zwischen ihnen. Auch Helene hatte wieder in die
-Schüssel gegriffen, aber sie zog die Bohnen nur spielend durch ihre
-feingliedrigen langen Hände. Es war wieder, wie es oft war. Sie hätte
-der Schwägerin nicht weh tun wollen -- um alles in der Welt nicht. Aber
-sie einmal ein wenig aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, an
-ihrem ewig gleichen, schönen Maßhalten zu rütteln: das reizte sie wie
-eine verbotene Frucht.
-
-„Wilhelm bleibt diesmal fürchterlich lange in Berlin.“
-
-„Er muß wohl.“
-
-„Wenn ich an deiner Stelle wär’, Martha -- ich stürbe vor Sehnsucht.“
-
-„Es stirbt sich nicht so leicht, du Kind.“
-
-Noch immer klang die Stimme gleich gelassen. Aber die Hände ruhten doch
-auf eines Atemzugs Länge am Rande der Schlüssel, und die weiße, schmale
-Stirn hatte sich noch ein wenig tiefer geneigt.
-
-„Du sagst das so: Wilhelm muß! Meine brüderliche Liebe hat an unserer
-Öde hier nie besonderen Gout gefunden.“
-
-Diesmal sah Martha voll auf. Eine leichte Röte stieg in ihr weiches
-Gesicht, flutete über den klaren Teint, der vielleicht das Schönste an
-ihr war, und ebbte gleich wieder ab.
-
-„Das war nicht hübsch von dir, Helene“, sagte sie dann bestimmt. „Du
-weißt es doch: die kleine Klitsche kann nicht zwei Familien ernähren,
-und Wilhelm war nicht so ... nicht so vorsichtig, sich eine reiche Frau
-zu nehmen. Da muß er eben Geld verdienen ... und hat’s gewiß dabei oft
-schwer genug.“
-
-„Das elende Geld!“ rief Helene. „Das herrliche, das wunderherrliche
-Geld. Ach Martha ... einmal so recht in Friedrichsdore wühlen können!
-Scheffelweise möcht’ ich’s haben. So reich sein wie die Rackower, ein
-großes, glänzendes Haus machen, reisen, die Welt sehen ...“
-
-„Und glaubst du, daß das glücklich macht?“
-
-„Ja! Ja! Mich gewiß. So wie ich nun mal bin. Sieh mich nur strafend an,
-nenn’ mich nur schlecht! Ich kann mich nicht ändern. Ihr alle könnt
-mich nicht ändern!“ Heiß hatte sie’s herausgestoßen, mit halblauter,
-mühsam verhaltener Stimme. Den rostbraunen Haarschopf warf sie zurück,
-strich sich mit beiden Händen über die Schläfen. Und dann kam gleich
-der Rückschlag. Die Hände sanken in den Schoß. „Aber wir sind ja hier
-alle arm wie die Kirchenmäuse. Die ganze Sippe: die Golziner, die
-Steckschen, die Buckschen. Grad nur die Rackower machen eine Ausnahme,
-weil die Tante Marquise die Millionen hat. Sonst ... es ist ein Jammer
-um den elenden märkischen Sand!“
-
-Martha war aufgestanden. Sie setzte die große Schüssel auf den eichenen
-Tisch. Nun siegte der Unwille doch über ihre Gelassenheit. „Du bist
-ein rechtes Kind, Helene“, sagte sie ziemlich scharf. „Schäm’ dich,
-unsere liebe Scholle zu schelten. Die ist treu, wenn sie auch karg
-sein mag. Und wir müssen Treue um Treue vergelten. Geh hinüber auf den
-Kirchhof, schau’ dir die alten Gräber an. Da liegen deine Vorfahren,
-Reihe um Reihe, seit dreihundert Jahren. Seit dreihundert Jahren hat
-das gegolten: Treue um Treue. Daß dir das die Städterin sagen muß, dir,
-Helene! Schäme dich!“
-
-Eine Sekunde stand Helene noch im Trotz. Dann flog sie der Schwägerin
-jäh um den Hals und küßte sie rechts und links auf die Wangen. „Du
-Gute! Du Liebe! Du Allerbeste ...“
-
-Da trat gerade der alte Herr aus der Haustür, und als er seinen
-Spätling und die Schwiegertochter in der engen Umarmung sah, lachte er
-froh: „So hab’ ich euch gern. Das heißt“ -- er legte den gekrümmten
-rechten Zeigefinger um den Nasenrücken -- „das heißt ... die
-Überschwenglichkeit stammt natürlich von der Helene. Hat sie von der
-guten Mama. Die war auch so ... gleich aus dem Häuschen ... das heißt,
-damals, als wir noch jung waren. Lieber Gott ... ja ... und ist das
-heut nicht ein schöner Septemberabend?“
-
-Das letzte sagte er schon, sich umwendend, auf der Mitte der
-tief ausgetretenen Treppenstufen, die von der Veranda in den
-Garten hinabführten. Und ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er
-weiter hinunter, den breiten sandigen Fahrweg entlang, der, von
-sonnverbrannten kümmerlichen Rasenbeeten umsäumt, am Tore in den
-Dorfanger mündete.
-
-Es war die Stunde, zu der er sich seit Jahrzehnten, Sommer und Winter,
-dort am Torweg mit dem Pastor ~loci~ traf. Das Wetter mußte schon
-sehr schlecht sein, wenn der alte Rittmeister und Pastor Heckstein ihr
-Rendezvous in die große Stube des Schlosses, wie das herrschaftliche
-Haus trotz aller Einfachheit von alters her genannt wurde, oder in
-das verräucherte Studierzimmer des Pfarrhauses verlegten. Wetterfeste
-Greise, die sie waren. Dem Rittmeister verschlug’s nichts, mit seinen
-fast siebzig Jahren bei strengster Kälte ein paar Kesseltreiben
-mitzumachen, und Heckstein, der nur wenige Jahre jünger war, fuhr im
-Winter regelmäßig im offenen Wägelchen ohne Pelz nach seinen beiden
-Filialdörfern, Dommelt und Rackow, stand im dünnen Talar in der
-ungeheizten Kirche auf der Kanzel und lachte nachher vor der Kirchtür
-seinen anderen Freund und Patron Ernst Hackentin aus, wenn der
-schimpfend die gewaltige Kugel seines Korpus in kostbaren Zobelpelz aus
-dem gutsherrlichen Gestühl herausrollte.
-
-Auch heut kam er pünktlich des Wegs vom Pfarrhause her, der kleine
-hagere Mann im schwarzen Düffelrock mit dem schwarzen breitkrämpigen
-weichen Filzhut über dem scharfkantigen bartlosen Gesicht, aus dessen
-brauner Lederhaut die großen Augen hell und gutmütig, aber auch eigen
-lustig und listig herausleuchteten. Er stapfte mit gemächlichen
-Schritten, hob hier seinen dicken Knotenstock drollig drohend gegen den
-halbwüchsigen Christian Metzger, der in der letzten Konfirmandenstunde
-gedöst haben mochte und nun schleunigst Reißaus nahm; blieb dort
-stehen, um einer Gänseherde, die in wohlgeordneter Marschordnung
-über den Anger zog, wohlgefällig nachzuschauen, und fragte die
-Frau Kantorin, die am Zaun stand, wie ihre berühmten Gravensteiner
-heuer zu geraten versprächen. Da gerade die hübsche Anna Flehr, die
-Kantorstochter, am selbigen Zaun Maulaffen feilhielt, so kniff er ihr
-im Vorübergehen fest in die runde, rosige Backe. Für ein hübsches
-Menschenkind hatte er das gleiche Verständnis wie für einen guten
-Apfel, wobei ihm aber ein frisches Mädel lieber war als ein Bube und
-ein duftender Gravensteiner lieber als eine schrumpliche Reinette.
-
-Vor ihm her trottelte Waldmann, rastete, machte einen Bogen, lief
-wieder ein Stückchen voraus, kam zurück, schlenkerte mit dem langen
-Behang -- kurz, benahm sich höchst willkürlich. Ganz im Gegensatz zur
-Diana, die haarscharf hinter dem linken Fuß ihres gestrengen Herrn
-blieb, mit der feinen Nase dicht an dessen grauem Beinkleid. Und die
-grundsätzlich nie von dem pastoralen Dackel Notiz nahm.
-
-Schon von weitem grüßten sich die beiden alten Herren. Der Rittmeister
-hob militärisch zwei Finger an sein Käppchen; der Pastor berührte
-flüchtig die Hutkrempe.
-
-„N’Abend, Hackentin. Wie geht’s? Wie steht’s?“
-
-„N’Abend, Pastor. Alles gut zu Wege bei dir?“
-
-Sie nannten sich seit achtunddreißig Jahren du; seit Heckstein den
-Wilhelm getauft hatte. Mit dem stand er nun auch schon zwölf Jahre
-auf du und du, seit dem Tauftage seines Ältesten. Und dem hatte
-Heckstein neulich mit einem freundschaftlichen Jagdhieb eröffnet: „Na,
-Junker Hans, wenn ich deinen Erstgeborenen taufe, machen wir beide
-Brüderschaft. Sput’ dich nur ’n bissel, daß ich nicht zu lange warten
-brauch’.“
-
-Ein paar Augenblicke blieben die alten Freunde zwischen den Pfosten
-des Torwegs stehen, zwei vierkantig behauenen, schwarzgeteerten
-Eichenstämmen, jeder mit einer Vollkugel gekrönt, die gelegentlich auf
-der Feldmark gefunden worden waren; Kantor Flehr, der ein Bücherwurm
-war, hatte damals eine gelehrte Untersuchung angestellt, nach der sie
-russischer Providenz sein sollten und aus den Julitagen 1759 stammten,
-in denen General Wedel sich vor Soltykow über die Oder zurückziehen
-mußte.
-
-Der Pastor sah auf die frische Radspur. „Die Rackower waren hier. Wie
-waren sie denn, Hackentin?“
-
-„Ernst ist noch ’n bissel dicker geworden, denk’ ich. Das heißt
--- wenn’s möglich ist. Mariechen war herablassend wie immer, ganz
-Marquise, hatte ein Monstrum von Krinoline an, ein Kleid mit verrückt
-vielen Volants und dazu einen neuen Sonnenschirm, blaue Seide mit
-Spitzen, der wohl wieder die Weiber auf zehn Meilen im Umkreis
-verdreht machen wird. Das heißt -- sie nannte das Ding natürlich nicht
-Schirm, sondern ~ombrelle~. Auf der Rechnung nimmt sich das
-übrigens tout-egal aus, und bezahlt wird die doch sobald nicht.“
-
-Sie zwinkerten sich, verständnisvoll lächelnd, mit den Augen zu
-und bogen in die Allee von hochstämmigen Kastanien ein, die sich
-längs des Gartenzauns hinzog. Langsam, behaglich schritten sie
-nebeneinander her; Diana immer mit der Nasenspitze am linken Bein des
-Rittmeisters, Waldmann bald voraus, bald zurück, bald stehen bleibend
-und die schlanke Engländerin mit klugen Augen, halb neidisch, halb
-mißachtungsvoll anschauend.
-
-„Ja, und Ernst hat eine neue Delikatesse erfunden. ~Crêpes à la
-Suzette~, glaub’ ich, nennt er das Deubelszeug. Das heißt -- es sind
-Eierkuchen mit irgend ’ner Soße aus Likören, wenn ich recht verstanden
-hab’. Du kannst dir ja das Rezept von ihm geben lassen. Die Pastorin
-wird sich schon darauf verstehen.“
-
-„Nee, Hackentin. Ich bleibe bei Speckeierkuchen. Wenn’s dazu langt,
-will ich schon froh sein. Denn was so unsere Bauern sind -- du kennst
-sie ja -- wenn die uns die Eier abliefern, wundert sich meine Guste
-immer, daß Hühner überhaupt so kleine Eier legen können. Was hat Ernst
-denn sonst noch erzählt?“
-
-Der alte Rittmeister schnellte mit dem Fuß ein Steinchen zur Seite.
-„Sie sind auf der Durchreise von Ems ein paar Tage in Berlin gewesen,
-haben auch Wilhelm gesprochen, der wieder mal große Rosinen im Kopf
-haben soll. Das heißt -- von wegen der Eisenbahnkonzession -- du
-weißt ja. Die Rosinen kenne ich nachgerade, aber den Kuchen, in dem
-sie gebacken werden sollen, den werd’ ich wohl nicht erleben. Na, ich
-will mich nicht ärgern. Was Ernst sonst erzählte? Politik, Politik und
-nochmal Politik. Unser herrlicher Landtag -- daß ihn der Deibel hole --
-treibt sein Spielchen weiter, Hohenlohe macht Bücklinge, und Majestät
-können zusehen, ob schließlich ’n paar Kröten von der Kammer bewilligt
-werden. Das heißt -- wahrscheinlich nicht mal das. Schlechte Zeiten,
-Heckstein ... hundsmiserable Zeiten. Ein altes Preußenherz möcht’ sich
-am liebsten umdrehen bei dem Skandal.“
-
-Oft zitierte der Pastor nicht Bibelworte. Die sparte er sich für
-den Sonntag auf. Aber manchmal glitt ihm doch eins über die Lippen.
-„Hoffnung läßt nicht zuschanden werden“, meinte er.
-
-„Jawohl, Heckstein, ich weiß. Steht Römer fünf. Aber im Hiob steht
-auch: der Menschen Hoffnung ist verloren. Siehst du ... so steht’s
-um meine Hoffnung. Das heißt -- um die Armee geht’s, und wenn unser
-Allergnädigster Herr nur wollte! Bloß dem Wrangel ’nen Wink geben, und
-der fegte wie Anno achtundvierzig den ganzen liberalen Schwindel zum
-Tempel raus. Gegen Demokraten helfen nur Soldaten. So aber frißt das
-Geschwür weiter ... bis in unsere eigenen Familien hinein!“
-
-Das war ein Punkt, auf den der Pastor das Gespräch nur ungern
-lossteuern sah. Denn das ging auf Fritz Hackentin, des Rittmeisters
-Zweiten, der erst Leutnant bei den Franzern gewesen war, dann zur
-Themis geschworen hatte und nun als Kreisrichter in Stellberg saß. Ein
-guter Junge, aber ein unruhiger Kopf. Etwas unruhiges Blut hatten die
-Rohlbecker Hackentine ja alle. Das kam von den Gruckers herüber, in
-denen nun mal der romantische Zug lag. Wenn man so daran dachte: als
-die alte Gnädige jung gewesen war, als sie noch vierelang fuhr und
-selber kutschierte --
-
-Aber auf den Fritz durfte Hackentin nicht zu sprechen kommen. Das wurde
-sonst ungemütlich, und dazu war der Abend zu schön.
-
-Zum Glück waren sie gerade unter der letzten Kastanie angelangt. Drüben
-stand der Kantor in seiner Haustür, der lange Labammel, dürr wie die
-endlose Pfeife, aus der er qualmte. Kaum, daß er sie aus den Zähnen
-zog, um seinen Gruß anzubringen.
-
-„Na, Flehr, was macht der Bakel?“ rief Hackentin über die beiden Zäune
-hinüber.
-
-„Danke, Herr Rittmeister. Wie das Sprichwort sagt: Wer den Stock
-fürchtet, kann nur mit dem Stock regiert werden. Man braucht ihn eben.“
-
-„Ja, Kantor, vielleicht waren’s bessere Zeiten, als man ihn mehr
-brauchte. Das heißt -- nicht bloß in der Schulstube.“
-
-„Ich weiß nicht, Herr Rittmeister, ob das bessere Zeiten waren.“
-
-„Vielleicht erfahren Sie’s noch.“ Hackentin wandte sich. Halblaut,
-etwas unwirsch meinte er zu seinem alten Freunde: „Der ist auch schon
-angesteckt, liest mit dem Grunowschen Müller zusammen die ‚Tribüne‘. Du
-solltest ihm mal feste den Daumen aufs Auge drücken, Heckstein --“
-
-„Er ist nicht der Schlechteste. Seine Bengels hält er stramm in
-Ordnung, mit und ohne Rohrstöckchen, je nachdem. Sie lernen bei ihm
-gerade richtig: nicht zu viel und nicht zu wenig. Und solchen Chor in
-der Kirche, wie er ihn zurechtgebracht hat, wirst du im ganzen Kreise
-vergeblich suchen. Von der Musika versteht er was. ‚Meine Hochachtung‘,
-würde dein Schwager Grucker sagen. Na, und was die politische Gesinnung
-anbetrifft, ... du kennst ja meine Ansicht: das kommt und geht. Wenn
-wir ein paar Jährchen weiter sind mit Gottes Hilfe, lachen wir beide
-wohl über die Aufregung von heute. Denn, weißt du, im Grunde ist alles,
-was brandenburgisch ist, doch loyal bis auf die Knochen.“
-
-Der Alte grollte: „Das haben wir achtundvierzig gesehn ...“
-
-„Ach was! Was war denn da außer Berlin los? Berlin aber ist gar
-nicht brandenburgisch, wenn’s auch zufällig mitten in unserer lieben
-Sandstreubüchse liegt. Berlin ist Berlin. Da muß immer gestänkert
-werden. Aber sonst? Der Flehr da ist typisch. Mal gelegentlich ’n
-bissel das Maul vollnehmen, mal recht klug schnacken, mal sich recht
-gebildet fühlen und mal recht schön liberal wählen, wenn’s hoch kommt.
-Mehr aber nicht.“
-
-„Ist gerade genug. Order muß pariert werden.“
-
-„Wird auch ... Da kommt ja die Lene. He, Leneken, wohin denn so eilig?“
-
-Mit ihren schnellen Schritten kam sie vom Schlosse her. Einen Hut
-hatte sie nicht aufgesetzt; in der leisen Dämmerung, die schon
-anhob, spielten ihre Haarwellen ins Goldig-Rote. Ein Tuch hatte sie
-umgenommen; fest lag das dünne Gewebe um die Schultern, umspannte knapp
-die jugendliche Büste und war hinten in der Taille zusammengeknotet.
-
-„Ich will der Post auflauern, Onkel Pastor.“
-
-„Denkst wohl, der Schwager Postillion bringt dir’n Schatz mit, Lene?“
-
-„Der könnte mir grad’ fehlen, Onkel Pastor. Willst du -- Waldmann, du
-Frechdachs! Sieh dir mal Diana an, wie die artig ist.“
-
-„Im Pfarrhaus gibt’s frischen Pflaumenkuchen, Leneken.“
-
-„Ich hasch’ mir beim Zurückkommen ein Stück.“
-
-Sie nickte dem Vater zu, sie winkte von weitem zum Kantor hinüber und
-huschte weiter, durch das Tor, den Anger entlang.
-
-Die beiden Alten sahen ihr wohlgefällig nach. Es war immer, als
-schwebte sie über dem Boden. Ganz eigen zierlich setzte sie unter
-dem weitbauschigen Rock, der grad nur die modische Krinolinenform
-andeutete, die Füßchen. Schuster Freyer in Logow war sonst kein Held in
-seinem Fach, aber für das gnädige Fräulein auf Rohlbeck tat er immer
-sein Bestes.
-
-„Ein Mordsmädel, deine Lene!“ meinte der Pastor schmunzelnd.
-
-Der Rittmeister nickte. „Ein gutes Kind. Das heißt -- es ist noch
-junger Most. Das gärt und gärt und will manchmal überschäumen. Man muß
-die Lene ein bißchen straff im Zügel halten.“
-
-Heckstein lächelte verstohlen. Er wußte am besten, daß die Kinder im
-Schloß nie recht im Zügel gehalten worden waren. Nicht gleichmäßig
-wenigstens. Mal hatten die Zügel am Boden geschleift, mal waren sie
-wieder gewaltsam angezogen worden; und wenn Hackentin am rechten
-Zügelende zog, zerrte die alte Gnädige vielleicht gerade am linken.
-Aber das tat am Ende nicht viel. Es war ein guter Kern in den Kindern.
-
-Wie er das überdachte, während sie langsam wieder unter dem grünen
-Dach der Kastanien hinschlenderten, fiel ihm ein, daß die Gelegenheit
-vielleicht günstig wäre, für den Kantor noch ein gutes Wort einzulegen.
-
-„Sieh mal, Hackentin,“ begann er aufs neue, „da hast du eben auf den
-Flehr geschimpft. Hast aber ganz vergessen, was der Mann sich für eine
-Mühe mit der Lene gegeben hat und noch gibt. Ich meine von wegen ihres
-Gesanges.“
-
-„Wird ihm doch auch bezahlt.“
-
-„Na hör’ mal: die paar Dittchen für die Stunde! Du kannst froh sein,
-daß wir solch einen musikalischen Kantor hier haben, der dafür sorgt,
-daß Lenes schöne Stimme nicht verkommt. Aber neulich hat er mir selber
-gestanden, daß er am Rande seiner Kunst ist.“
-
-„Jawohl -- jawohl -- ich weiß schon. Das heißt -- daß Lene in die Stadt
-müsse, einen anderen, besseren Lehrer bekommen. Die Litanei hat er mir
-auch schon vorgebetet. Unsinn, Pastor. Dazu langt’s nicht mehr. Und ich
-will auch nicht. Will nicht, daß der Lene alle möglichen Fladusen in
-den Kopf gesetzt werden. Damit darfst du mir nicht kommen ...“
-
-Der Rittmeister rückte sein Käppchen plötzlich ganz weit nach rückwärts
-auf die weißen lockigen Nackenhaare, wandte sich kurz um, und da Diana
-der Kehrtwendung nicht schnell genug folgte, vielmehr mit fragendem
-Blick aufsah, kriegte sie einen sanften Hieb --
-
-„Und im übrigen ist der Kantor doch ein Demokrat.“
-
-Helene war indessen den Dorfanger entlang gegangen, hatte ein paar
-Worte mit der Frau Kantorin gewechselt, die immer aussah wie ein
-scheues, in der Gefangenschaft gehaltenes Reh, wenn jemand vom
-Schloß sie ansprach, und die um so scheuer und demütiger wurde, je
-freundlicher die Worte waren, die man an sie richtete. Dann hatte
-Lene bei Meister Winkel, dem lobesamen Schneider des Dorfes und dessen
-Krämer, eine Bestellung der Schwägerin ausgerichtet, die sich auf
-ein Paar Hosen ihres Neffen Hans bezog, und dann war sie am Kirchhof
-ein paar Augenblicke stehengeblieben. Da lag, seitlich der kleinen
-Backsteinkirche, die noch immer des richtigen Geläuts entbehrte,
-weil weder Patron noch Gemeinde die Mittel aufbrachten, das alte
-Erbbegräbnis. Es mochte noch in besseren Zeiten gebaut sein, vor
-hundert oder hundertfünfzig Jahren vielleicht: die eisenbeschlagene Tür
-war sogar von ein paar Säulen eingerahmt, wirklichen Sandsteinsäulen,
-mit einem Giebelchen darüber, in dem das Hackentinsche Wappen mit den
-drei Hecken als Sandsteinrelief eingelassen war. Aber der Zahn der
-Zeit hatte den Bau angefressen. Die Säulen waren zermürbt, das Wappen
-war kaum noch erkennbar, das Ziegeldach schadhaft -- gut, daß der
-dicht wuchernde Efeu das Schlimmste zudeckte. Das Erbbegräbnis hatte
-auch schon lange nicht mehr zugereicht; links und rechts daneben lagen
-Hackentinsche Gräber. Schlichte Gräber, die sich wenig von denen der
-wohlhabenden Bauern unterschieden. Höchstens, daß sie ein wenig mehr
-gepflegt waren, und auch das nur, weil die junge Gnädige eine besondere
-Vorliebe für den Kirchhof hatte.
-
-Ein paar Minuten stand Helene am Zaun. Ihr lagen Marthas Worte im Sinn
-von der Treue um Treue. Die hatten sie vorhin gepackt und klangen noch
-in ihr nach. Aber wie sie so auf die Gräber sah, über denen sich zwei
-große Maulbeerbäume mit weitgespannten Ästen breiteten, die noch auf
-des großen Friedrichs Befehl gepflanzt worden waren, fing sie plötzlich
-an zu frösteln.
-
-Neulich in Rackow hatte sie in einem Bande Gedichte geblättert.
-Eigentlich nur, weil Tante Marie so viel Wesens von dem großen
-Franzosen Victor Hugo machte. Jetzt fiel ihr mit einem Male ein Satz
-daraus ein: „~Gloire, jeunesse, orgueil, biens que la tombe
-emporte ...~“
-
-Ruhm und Jugend und Stolz --
-
-Nein! Nein! Für sie hatten die Gräber nichts Erhebendes! Sie konnte
-sich nur vor ihnen fürchten. Wie Moderluft wehte es aus ihnen. Ein
-Schauer überrann sie. Und sie zog das dünne Tuch fester um die
-Schultern und eilte rasch weiter, am Krug vorüber und an der Schmiede,
-der neuen Chaussee zu, die dicht am Dorfausgang die schmale Wintze
-überbrückte.
-
-Da stand schon der Doktor Hemming mit den beiden Junkern. Oder vielmehr
-er stand, seitlich der Brücke, an eine dicke Weide gelehnt und himmelte
-über das Stoppelfeld zum Horizont hinüber. Die Jungens aber saßen
-auf der Steinbrüstung der Brücke; der langaufgeschossene Hans schien
-es seinem Hauslehrer nachmachen zu wollen, er starrte träumend mit
-gesenktem Kopf auf das rinnende Wasser, während Thede -- Theodor --
-irgendeine Bohnenstange aufgegabelt hatte, die dreimal so lang war wie
-der Knirps, und mit ihr ebenso kräftig wie zwecklos in den zerwühlten
-Uferrändern umherstakte. Vielleicht dachte er in seiner wallenden
-Phantasie, auf diese bequeme Art ein paar der berühmten Wintze-Krebse
-zu fangen und Mutter in die Küche liefern zu können.
-
-Alle drei achteten nicht auf die Nahende. Und Helene war das ganz
-recht. Denn der Hauslehrer mit seinen wasserblauen Schmachtaugen
-langweilte sie immer; außerdem konnte sie ihn nicht leiden, weil er
-immer ja sagte, auch wenn ihm der Widerspruch auf der sommersprossigen
-Stirn geschrieben stand. Und die Jungens -- die Jungens waren eben
-dumme Gören mit hundert unnützen Fragen, dazu mit unfehlbar schmutzigen
-Pfoten, die überall hinklatschten, wo sie nichts zu suchen hatten.
-
-Aber das war es nicht allein. Die Equipage, die vor dem Kruge hielt und
-augenscheinlich auch auf die Post wartete, beschäftigte ihre Gedanken.
-Sie hatte die Rackower Schimmel sofort erkannt und den dicken Jochen,
-den zweiten Herrschaftskutscher. Es war überhaupt zweite Garnitur,
-Wagen, Pferde und Kutscher. Wen ließen die Rackower nur abholen? Sie
-hatten ja nichts davon erzählt, daß sie einen Gast erwarteten. Aber
-sie hatten freilich fast immer Gäste im Haus. Ob es jemand von den
-Leibern aus Frankfurt a. O. war? Einer von den jagdlustigen Herren
-vom Leibregiment, der noch ein paar Rebhühner knallen wollte? Oder
-ein Ulan aus Züllichau? Oder kam nur Onkel Artenau aus Stellberg, um
-der Marquise seine neueste Pracht- und Prunkstickerei vorzuführen?
-Pfui Spinne ... solch ein Mann, der sich Königlich Preußischer Major
-schimpfen ließ, und den halben Tag am Stickrahmen saß wie eine alte
-Jungfer.
-
-Mit einem Male hatte Junker Thede doch die Tante erspäht. Er schmiß
-die Bohnenstange ins Wasser, daß es hoch aufspritzte, schwang seine
-kurzen Beinchen mit einem Wuppdich über die Brüstung, stieß ein
-Indianergeheul aus, kam im Galopp angejagt und -- richtig -- da wollten
-auch schon seine Pfoten mit den Farbenklexen von Tinte, Flußmoder und
-Tuschkastenresten an ihren Rock aus geblümter Indienne. „Tante Lene,
-Tante Lene, weißt du schon das Allerneueste?“
-
-„Finger weg, Thede! Himmel, wie der Junge wieder aussieht!?“ Und da
-gerade Doktor Hemming sich umschaute, den Strohhut, den er immer bis
-in den November hinein trug, lüftete und anstatt auf den harmlosen
-Horizont zu ihr himmelte, mochte der auch gleich sein Teil abbekommen.
-„Nein, wie Sie den Bengel mit solchen Händen herumlaufen lassen
-können?! Unsere Ferkelchen sind ja reinlicher als er.“ Und dann kam
-doch die Neugier ihrer jungen Jahre: „Das Allerneueste? Na, das wird
-wieder mal was Feines sein?“
-
-„Ein Russe kommt nach Rackow. Ein wirklicher, leibhaftiger Russe.“
-
-„Woher hast du denn dein großes Wissen, Thede?“
-
-„Na ... von dem Rackower Jochen ... natürlich.“
-
-Inzwischen hatte auch der Hans sich von der Brückenmauer herabbequemt.
-Im Vollgefühl seiner höheren Weisheit höhnte er: „Ja -- und Thede
-stellt sich den Russen mit einer Bärenfellmütze und einem +so+
-langen Bart vor. So wie er in der Fibel abgemalt ist.“
-
- „Der Russe lebt in Eis und Schnee,
- Säuft vielen Schnaps und noch mehr Tee,“
-
-gab der Hauslehrer einen Fibelvers eigener Erfindung zum besten
-und wartete, ob sein Witzchen nicht ein Lächeln auf dem schönen
-Mädchengesicht heraufzaubern würde.
-
-Aber er wartete vergeblich. „Ach Unsinn --“ meinte Helene nur und
-schlenderte langsam über die Brücke auf die Chaussee. Ach Unsinn --
-sagte sie, und doch beschäftigte sie der Russe gewaltig. Ein Russe, ein
-leibhaftiger Moskowiter! Wo den die Rackower nur aufgegabelt hatten?
-Und warum die heut nachmittag nichts von ihm erzählt hatten? Gewiß,
-weil er wieder einmal eine Überraschung für den ganzen Kreis sein
-sollte. Sicher irgendein Großfürst oder einer der millionenschweren
-Bojaren. Oder mindestens ein Diplomat. Aber dann hätten sie doch nicht
-die zweite Garnitur, Pferde, Wagen und Jochen, zum Abholen geschickt ...
-
-Da kam sie aber wirklich, die Post.
-
-Auf dem Stellberger Berge, wo sich die Chaussee in den Wald verlor,
-wirbelte eine kleine Staubwolke auf, wälzte sich näher und näher den
-Hang hinunter. Bald wurden dahinter, in kleinen Abständen, noch zwei
-Wölkchen sichtbar -- die Beichaisen. Der Verkehr von Frankfurt a. O.
-nach Posen mußte lebhaft sein, jetzt im Frühherbst.
-
-Nun unterschied man schon Wagen und Pferde. Und als die Hauptpost
-draußen an der Schneidemühle vorüberrollte, setzte der Postillion sein
-Horn an die Lippen. Es klang deutlich, getragen und langsam, herüber:
-
- „Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt’ ich auf mein Grab,
- Da kam ein stolzer Reiter und brach sie ab ...“
-
-Der Hauslehrer stand wieder neben Helene. Er fühlte das
-unwiderstehliche Bedürfnis, geistreich und sinnig zu sein: „Wie lange
-noch, und wir hören den guten Schwager zum letzten Male. Wenn der Herr
-Baron erst die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen bauen wird, verödet
-die Chaussee, und dann heißt es auch für Rohlbeck, was der Dichter
-Scherenberg klagt:
-
- Mit Totenschnelle geht es fort,
- Kein Schwager knallt hinein,
- Kein Wegesgruß, kein schelmisch Wort,
- Kein Posthorn weckt den müden Ort
- Und klingt zum Träumen ein.
- O Eisenbahn, was bist du kommen,
- Hast unser Posthorn uns genommen!“
-
-„Ich denke, Sie wollen ein Mann des Fortschritts sein, Herr Doktor?“
-warf Helene schnippisch ein.
-
-„Am rechten Ort, gnädiges Fräulein. Immer am rechten Ort. Aber die
-Poesie darf darüber nicht verkümmern. Hören Sie doch nur: ‚Ach
-Reitersmann, ach Reitersmann, laß doch die Lilien stehn. Sie soll ja
-mein fein’s Liebchen noch einmal sehn ...‘ Ist das nicht schön? ...
-‚Dann begraben mich die Leute ums Morgen ... rot ...‘“
-
-„Schade nur, Herr Doktor, daß der Postillion so schauderhaft falsch
-bläst --“ meinte sie spitz und ärgerte sich, daß sie es sagte. Denn
-eigentlich hatte der Postillion gar nicht falsch geblasen, und sie
-selber lauschte solchem Volkslied über alle Welt gern. Und sie
-dachte daran, wie sie bisweilen in dem stillen Abendfrieden ins Feld
-hinausgewandert war, ganz allein, sich auf einen Grenzstein gesetzt
-hatte, den Kopf in beide Hände vergraben, um dem Klang des Posthorns zu
-lauschen, der ihr immer wie ein Gruß aus weiter, weiter Welt erschien.
-
-Doch da hielt schon die Hauptpost dicht an der Brücke.
-
-Die beiden Junker stürmten mit Geheul voran; teils, um die lederne
-Posttasche aufzufangen, die der Schwager im kunstvollen Bogen vom
-hohen Bock herabschleuderte; teils, um den erwarteten „Moskowiter“ mit
-eigenen Augen zu schauen.
-
-Recht enttäuscht waren sie. Denn der Herr, der ausstieg, hatte gar
-nichts Besonderes an sich. In ihren Augen zumal.
-
-Es war ein schlanker, junger Mann in grauem Reiseanzug, der lange
-Rock eng in der Taille, die Pantalons sehr weit. Das brünette Gesicht
-bildhübsch, etwas scharf und ganz glatt rasiert. Auf dem braunen Haar
-trug er einen gewaltigen Kalabreser, und um seinen hohen Kragen war
-kunstvoll eine bunte Krawatte geschlungen, in der ein großer Brillant
-funkelte.
-
-Als er ausgestiegen war und die kleine Gruppe -- Helene, Doktor Hemming
-und die beiden Junker -- sah, stutzte er und zog den Hut. Aber Helene
-fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß, ärgerte sich wieder und
-machte kehrt. So mochte der Fremde merken, daß die junge Dame ihn
-nicht erwartete. Und da kam auch schon Jochen, meldete sich, wies auf
-seinen Wagen und half den Koffer aus dem hinteren Verschlag der Post
-herausheben. Es mußte sehr schnell gehen, denn der Kutscher der ersten
-Beichaise drängte und drohte weiterzufahren.
-
-„Habt ihr die Posttasche?“ fragte Hemming. „Nun denn -- marsch!
-Großvater wartet.“ Und er ging den Jungens, die um ihr Leben gern sich
-den Koffer des Fremden noch näher angesehen hätten, voraus, um Helene
-einzuholen. Aber sie hatte sich beeilt, und er wollte nicht auffällig
-hasten. So kam er erst dicht vor dem herrschaftlichen Tor wieder an
-ihre Seite, und im gleichen Augenblick überholte sie auch die Rackower
-Equipage. Der „Russe“ saß weit zurückgelehnt, in etwas theatralischer
-Pose, die Beine vorgestreckt, im Fond und lüftete noch einmal mit einer
-gewissen Grandezza seinen Heckerhut.
-
-Der Doktor grüßte zurück, während Helene den Nacken straffte. Sie sagte
-sogar: „Warum grüßen Sie denn?“
-
-„Aber ... der Herr ist doch Gast der Rackower Herrschaften. Ich kann
-doch nicht unhöflich sein.“
-
-„Ich weiß nicht, wie der Mann dazu kommt, mich zu grüßen. Er ist mir
-doch nicht vorgestellt.“
-
-Sie fühlte selbst, daß sie ungerecht und unlogisch war. Man nahm es
-sonst auf dem Lande nicht so genau. Es war aber etwas wie das Gefühl
-in ihr: du mußt dich wehren! Ohne daß sie recht wußte, weshalb und
-wogegen. Sie war jäh aus dem Gleichgewicht geworfen. Am liebsten hätte
-sie sich mit Herrn Hemming gezankt, nur um eine Ablenkung zu finden.
-Sie spitzte schon das Mäulchen, um ihm irgendeine Sottise zu sagen.
-Doch dann besann sie sich: es lohnte nicht. Es blieb immer einseitig,
-das Streiten mit diesem weichen Menschen, diesem Ja- und Amensager,
-dieser Qualle, die auswich, sobald man fest zugriff.
-
-So faßte sie lieber die Jungens, die herangekommen waren, an den
-Achseln, Hans rechts, Thede links, und jagte mit ihnen den Weg entlang,
-daß die Posttasche am langen Lederriemen sich wie eine Sturmfahne um
-ihre Köpfe schwang. Jagte die Verandatreppe hinauf, durch den dunklen
-Flur in die große Stube, warf die Tasche auf den Tisch: „Da habt ihr
-sie --“
-
-Mutter saß noch immer an ihrem Traumfenster, schrak aber auf: „Kind,
-Helene, wie kann man so laut sein. So laut und so wild.“ Vater stand am
-Ofen, kramte in der Tasche nach dem Brillenfutteral: „Steck’ die Lampe
-an, Lene.“
-
-Wie alle Abend, wenn die Dämmerung heranschlich. Und wie alle Abend
-stand nun schon die große, hohe Moderateurlampe mitten auf dem
-Tisch, auf dem runden, abgeschabten Fleck der braunen Plüschdecke.
-Wie alle Abend pumpte Helene das Öl auf, horchte auf das leise
-„Gluck-Gluck-Gluck“, nahm Glocke und Zylinder ab, strich mit ihren
-hastenden Händen ein Vierteldutzend Schwefelhölzer vergeblich auf dem
-scharfgeritzten Deckel des Porzellanbehälters an, bis endlich eins
-zündete.
-
-Mit einem Male war plötzlich in ihr alle Aufregung erloschen.
-Gluck-Gluck-Gluck machte das Öl in der Lampe, und ihr klang’s wie: alle
-Abend -- alle Abend -- alle Abend ...
-
-Nun leuchtete die Lampe auf, warf ihren milden Lichtkreis gerade über
-den runden Tisch, indes das übrige Zimmer in der Dämmerung blieb. Vater
-holte vom Schreibtisch den kleinen Schlüssel, schloß die Posttasche
-auf, wie alle Abend. Und wie alle Abend sammelte sich um den Tisch für
-das große Ereignis das ganze Haus. Mutter kam von ihrem Traumplatz,
-Martha kam; der Hauslehrer war plötzlich da, und die Jungens boxten und
-knufften sich schweigend am Ofen. Wie alle Abend. Vater faßte tief in
-die Tasche hinein, legte den kleinen Pack Briefe und Zeitungen sorgsam
-vor sich hin, setzte umständlich die Brille auf und begann zu sortieren.
-
-„Da, Herr Doktor --“ Das war auch derselbe Ton und dieselbe Bewegung
-an jedem Abend, ein widerwilliger Ton und ein verächtliches Schnippsen
-der Finger, die dem Hauslehrer seine Zeitung hinüberschnellten. Die
-Volkszeitung! Jeden Abend aufs neue empörte sich der alte Herr darüber,
-daß in seinem Hause dies verfl-- Demokratenblatt gehalten werden durfte.
-
-„Da, liebe Martha ... von Wilhelm ...“
-
-Ein paar Briefe, die schon äußerlich einen geschäftlichen Charakter
-zeigten, den blauen Firmenstempel etwa von Moses Conitzer in Stellberg,
-schob er zur Seite. Dann endlich setzte er sich und faltete fast
-feierlich die Kreuzzeitung auseinander. Und regelmäßig sagte dabei
-Mutter aus ihrem hochlehnigen Ohrenstuhl heraus: „Hackentin, mir die
-Familiennachrichten.“
-
-Eigentlich gab er nur sehr ungern ein Stück Zeitung ab, ehe er sie
-selber, langsam und gewissenhaft, von Anfang bis zu Ende studiert
-hatte. Wenn sie keine Beilage brachte, knurrte er wohl auch ein
-langgezogenes ‚Neee ... nachher ...‘ oder er lachte: ‚Erfährst schon
-noch früh genug, wer wieder mal in die Mariage geraten ist oder wer’n
-Kind gekriegt hat.‘ Heut gab es eine Beilage: „Da ... Elisabeth ...“
-
-Und dann wurde es still im Bannkreis der Lampe, an der Runde des großen
-Tisches.
-
-Der Rittmeister und Hemming entfalteten ihre Zeitungen; Martha las,
-Zeile für Zeile, den Brief ihres Mannes; die alte Gnädige vertiefte
-sich in die Familiennachrichten; die beiden Jungens wußten, daß sie
-das Maul und die streitbaren Hände stille zu halten hatten, holten ihre
-Lieblingsschmöker, Hans einen Band der Beckerschen Weltgeschichte,
-Thede sein „Gumal und Lina“, und steckten die Nasen hinein.
-
-Ganz stille war’s, bis auf das Knistern des Papiers.
-
-Der Stuhl zwischen Martha und Mutter blieb leer -- Helenens Stuhl. Sie
-stickte sonst um diese Stunde oder häkelte Frivolitäten. Heut mochte
-sie’s nicht. Auf leisen Sohlen schlich sie ins dunkle Nebenzimmer,
-setzte sich an den geöffneten Flügel und träumte vor sich hin.
-
-Manchmal glitt ihre Linke über die Klaviatur, ohne daß sie eine Taste
-niederdrückte ... manchmal zitterte wohl auch ein ganz leiser Klang aus
-den Saiten, ein Hauch nur.
-
-Von links her kam dann und wann ein gedämpftes Tellerklirren. Auguste
-deckte im Saal den Abendtisch. Und mitten in ihre Träumerei hinein
-dachte Helene: ‚Was es wohl geben wird? Speckbratkartoffeln natürlich
-und saure Milch ...‘
-
-Langsam kroch drüben über den Wiesen der Mond hinauf. Jetzt legte sich
-ein Streif blauweißes Licht über das Fensterbrett, nun zog er schon bis
-zum Flügelende hin.
-
-Einmal sagte Mutter: „Da zeigt Graf Schulenburg von den Alexandern
-seine Verlobung an ... mit der Witwe seines Bruders ... Meta, geborene
-Freiin von Eckardstein. Er lag mal ein Manöver hier. Eckardstein ...
-Eckardstein? Das ist ganz junger Adel ... nicht wahr, Karl?“
-
-„Natürlich, Elisabeth ... das heißt, vom Alten Fritz her, glaub ich,
-oder so ... Aber nun laßt mich zufrieden mit Hinz und Kunz. Da soll man
-noch Sinn dafür haben ... schlechte Zeiten ... Schandzeiten ...“
-
-‚Was er wohl antworten wird?‘ dachte Helene. ‚Ja bei den Zeiten. Was,
-Herr Doktor, bewegte Zeiten ... sagen ... selbstverständlich. Die
-Qualle hat grad noch den Mut, sich ihre liberale Zeitung zu halten.
-Weiter langt’s nicht.‘
-
-Richtig ...
-
-„Jawohl, Herr Rittmeister, bewegte Zeiten.“
-
-„+Schand+zeiten, sag’ ich Ihnen, Doktor. Da haben wir’s: in der
-Schlußsitzung des Abgeordnetenhauses der Militäretat abgelehnt -- das
-heißt, grad noch zehn Abgeordnete haben dafür gestimmt!“
-
-Helene interessierte die Politik gar nicht. Langweilte sie geradezu.
-Knapp, daß sie wußte, wie nun schon zwei Jahre oder darüber der Streit
-um die Armee zwischen Landtag und König sich hinzog, daß sich der
-Konflikt immer schärfer und schärfer zuspitzte. Merkwürdig, wie sich
-die Männer über solche Dinge ereifern konnten. Vater nun gar. Manchmal
-bebte seine gute alte Stimme förmlich vor Erregung, wenn er von den
-verfl-- Demokraten sprach, die alles besser wissen wollten.
-
-„So ... so ... das sind doch noch brave Leute. Vorgestern war eine
-Deputation aus dem Kreise Bromberg beim König auf Schloß Babelsberg,
-um Majestät ihre Ergebenheit und die Stimmung des Kreises zugunsten
-der Militär-Reorganisation auszusprechen. Der Treskow auf Grocholin
-... übrigens ein Treskow ohne c ... hm ..., der Pfarrer Ehrlich auf
-Groß-Murzyno, der Lehrer Stieff aus Raczkowerdorf ... Also auch mal ’n
-Lehrer ... merkwürdig ...“
-
-Das war wieder eine Spitze. Aber die Qualle regte sich nicht.
-
-Es wurde wieder ganz stille.
-
-Plötzlich fragte Vater: „Na, Doktor, was meint denn Ihr Blättchen? Das
-heißt -- eigentlich gelüstet es mich nicht nach der Weisheit.“
-
-„Es ist wohl noch alles unentschieden, Herr Rittmeister.“ Wie das Gluck
-... Gluck in der Lampe kam es heraus. „Das Ministerium wird wohl gehen
-müssen.“
-
-„So ... meinen Sie? Auf das Ministerium kommt’s übrigens spottwenig an.
-Das heißt: in Preußen muß der König regieren. Punktum.“
-
-Wieder las Vater. Die Zeitung knisterte und knisterte.
-
-Einmal sprach Martha mit ihrer sanften Stimme: „Wilhelm kommt am
-Sonntag.“ Es klang so viel Glück aus dem Wort und frohe Erwartung. Aber
-es achtete niemand darauf, nur gerade daß die Jungens aufschauten. In
-deren Augen war ja doch die Neugier: was bringt Papa uns mit?
-
-Mit einem Male schlug Vater mit der flachen Hand auf das Papier.
-Und seine Stimme bebte wieder. „Da haben wir’s. Hört mal. Hier,
-ganz versteckt, steht es: ‚Der bisherige Gesandte am französischen
-Hofe, Herr von Bismarck-Schönhausen, ist gestern abend von des
-Königs Majestät zum Staatsminister und interimistischen Vorsitzenden
-des Staatsministeriums ernannt worden.‘ Das heißt also: Da haben
-wir den Mann des königlichen Vertrauens. Bismarck-Schönhausen ...
-Bismarck-Schönhausen ... war der nicht Gesandter in Petersburg,
-Elisabeth?“
-
-„Ja, ich glaube ... warte einmal ... er hat eine Puttkamer zur Frau ...
-ich entsinne mich ... von den pommerschen Puttkamers ... Viertlum oder
-so hieß das Gut.“
-
-„So ... so! Was du nicht immer alles weißt.“
-
-Vater war ganz aufgeregt. Als sich Helene umwandte, sah sie, daß er
-aufgestanden war und schneller als sonst seinen Lieblingsgang auf dem
-Läufer in der Diagonale des Zimmers machte. Alle Augenblicke erschien
-seine Silhouette vor dem hellen Türrahmen. Die Zeitung flatterte in
-seiner Hand, und er sprach in abgerissenen Worten, halb für sich,
-halb für die anderen: „Bismarck ... Bismarck-Schönhausen. Das muß der
-Bismarck sein, der Anno achtundvierzig den Demokraten ordentlich die
-Wahrheit gezeigt hat. Das heißt: im Vereinigten Landtag ... damals. So
-... und ’n Puttkamer aus Viertlum. Hm ... das heißt: eigentlich mag ich
-diese Herrschaften da nicht, die Blankenburgs und Theddens, die mit
-dem lieben Gott immer ’n Privatabkommen haben wollen, fast wie Tante
-Marianne ... ja ... aber wackere, feste Leute sind’s schon, loyal bis
-in die Knochen, als ob’s Märker wären, die Pommern. Ja ... und was
-sagen Sie nun eigentlich dazu, Doktor?“
-
-Ganz leise stand Helene auf. Das mußte sie sehen, was die Qualle für
-ein Gesicht machen würde.
-
-Aber sie kam nicht auf ihre Rechnung. Der Hauslehrer schien aus allen
-Wolken gefallen. Er sah aus seiner Zeitung hoch, mit himmelnden Augen:
-
-„Verzeihung, Herr Rittmeister, ich habe hier gerade eine Rezension
-gelesen ... über ein paar neue Stücke im Wallnertheater. ‚Verplefft‘
-von Herrn von Moser ... es soll sehr amüsant gewesen sein.“
-
-„Herr von Moser?“ sagte Mama sofort dazwischen. „Das ist auch ein
-früherer Offizier. Bei den Gardeschützen stand er, den Neuchatellern.
-Wer jetzt nicht alles schreibt?“
-
-Vater sah erst den Doktor, dann Mutter an, schüttelte den Kopf und
-lachte. Lachte, daß die Stube dröhnte.
-
-„Na, wenn’s wahr ist und Sie haben gar nicht zugehört, Herr Doktor ...
-dann ist’s schon ’ne kuriose Geschichte. Wozu halten Sie sich denn
-justement das Blatt? Das heißt: wenn Sie so wenig Interesse für die
-Politik haben? Kreuzdonnerwetter ...“
-
-Da ging zum Glück die Tür zum Saal. Auguste kam herein, gluckste: „Es
-ist angerichtet.“ Ein Duft nach gebratenem Speck umwehte sie. Natürlich
-... es gab wieder Speckbratkartoffeln und saure Milch ... wie an jedem
-Abend. Saure Milch mit Torf, dachte Helene und sah schon im Geiste
-die Schüssel vor sich, mit dem geriebenen Schwarzbrot, das sie „Torf“
-nannten, schüttelte sich und hatte den Herrn von Bismarck-Schönhausen
-vergessen samt der ganzen Politik.
-
-
-
-
-Zweites Kapitel
-
-
-In Stellberg war Herbstmarkt.
-
-Es war eigentlich nicht viel los. Nur die Pferdejuden hatten zu
-tun. Mancher Bauer schlug jetzt billig einen Gaul los, den er zur
-Winterbestellung nicht mehr zu brauchen meinte und nicht bis zum
-Frühjahr durchfuttern wollte. Vor dem „König von Preußen“ trottelte
-alle Augenblick eine Schindmähre, am Halfter geführt, in mehr oder
-minder widerwilligem Trab vorbei, und Moritz Cohn aus Ziebingen,
-Hartwig Kantorowicz aus Meseritz, Ephraim Hentschel aus Zielenzig
-standen in ihren langen, dunklen Kaftanen, den hohen, glänzend
-gewichsten Stiefeln, unter der Mütze die Löckchen über die Schläfen
-fallend, dabei und machten die Gäule herunter. Bis dann der eine oder
-der andere doch den Bauer in die Schankstube winkte.
-
-Auf dem Marktplatz waren in zwei Reihen die Buden aufgeschlagen, Zelt-
-und Bretterwerk. Kleinkram lag darin, Schnittwaren, Hausgerät, allerlei
-Tand. Von den Stangen wehten die bunten Taschentücher, die der Bauer
-liebt, mit schönen Bildern darauf: das Königspaar, die Krönung, auch
-noch die Völkerschlacht bei Leipzig. Dicke wollene, blaue und rote
-Unterröcke baumelten daneben und weiße Schürzen. In der einen Bude
-gab’s Peitschen aller Art und Regenschirme, in der nächsten lockten die
-neuesten Bilderbogen von Gustav Kühn aus Neu-Ruppin. Die schönste Bude
-aber hatte Tante Hufnagel, die dicke Konditorsfrau. Sie hatte auch den
-meisten Zulauf. Mit ihren zwei Mamsellen stand sie hinter dem langen
-Tisch, und sie lächelten alle drei so süß, wie ihre Ware war: Berge von
-Streuselkuchen und Brezeln, Düten mit Bonbons, vor allem jedoch Stöße
-von Pfefferkuchen; die „Mehlweißchen“ von Tante Hufnagel waren berühmt
-bis über Frankfurt hinaus, und auf den Lebkuchenkerzen hatte keine
-Konkurrenz so schöne Verslein wie sie.
-
-Das große, immer umlagerte Konditorzelt stand gerade gegenüber der
-Apotheke „Zum Mohren“.
-
-Auch in der Apotheke gab’s heute mächtig viel Arbeit. Die Gelegenheit
-des Marktes mußte benutzt werden, allerlei Bedarf an Medizin für Mensch
-und Vieh einzukaufen. Außerdem war der humpelnde Provisor ein halber
-oder drei Viertel Doktor, nur daß er seine Verordnungen ohne Rezept
-und umsonst lieferte, sogar mit einem derben Witzlein dazu. Auch gab es
-in der Apotheke manche schöne Dinge, die nicht zur Heilkunst gehörten,
-aber in hohem Ansehen standen: allerlei Wohlriechendes, Lederzucker,
-buntschillernde süße Magenmorsaille mit merkwürdig viel Gewürzen,
-und vor allem einen Apothekerschnaps, bitter wie Galle, scharf wie
-Schwefelsäure und wärmend wie ein gutgeheizter Kachelofen -- einen
-herrlichen Apothekerschnaps, der „Doktor“ hieß, aber ein Dutzend
-Doktoren wert war und doch nur einen Silbergroschen kostete.
-
-Der Provisor Dingeldey hatte an solchen großen Tagen alle Hände voll
-zu tun. Denn sein Chef, Herr Herr, war durch andere Obliegenheiten
-vollauf in Anspruch genommen. Höchstens, daß er mal ein eiliges Rezept
-zusammenbrauen half, was selten genug vorkam, denn an Markttagen
-verschrieb Doktor Tiburtius wenig oder gar nichts. Da saß der auch an
-dem großen braunen Tisch im Nebenzimmer der Offizin und trank seinen
-gezehrten Oberungar, den er für das bekömmlichste Getränk der Welt
-erklärte. Er trank ihn -- und nicht zu knapp. Wie eine ungeheure
-Koralle stand ihm die Nase im Gesicht, und zweimal im Jahr hatte er
-das Zipperlein. Das merkten jedesmal seine Patienten im ganzen Kreise
-am eignen Leibe: denn in diesen schlimmen Perioden verordnete er fast
-ausschließlich Rizinusöl, abwechselnd mit Kurella. Über Land fahren,
-zu seinen Kranken, konnte er freilich nicht, wenn er die Füße in den
-dicksten Strümpfen immer am Ofen halten mußte. So beschränkte er
-sich darauf, die Mägen auszufegen, wie er es nannte. Und gerade in
-diesen Zeiten, hieß es, machte er die glänzendsten Kuren. Wenn er dann
-wieder gesund war, half er mit Grobheit nach. Er konnte furchtbar grob
-sein, der Doktor Tiburtius. Bei den Bauern hielt er’s für geradezu
-unentbehrlich; auf den Gutshöfen war er nur wenig höflicher.
-
-Herr Apotheker Herr persönlich widmete sich an den Markttagen fast
-ausschließlich den Gästen im Nebenzimmer der Offizin. Er wäre sehr
-entrüstet gewesen, wenn ihm jemand gesagt hätte, er unterhielte da
-eine Weinstube. Empört wäre er gewesen, wenn jemand geäußert hätte,
-er bediente seine Gäste. Die Tatsache stand trotzdem fest, daß man im
-braunen Zimmer Getränke erhielt, die nicht aus der lateinischen Küche
-stammten. Man mußte freilich zu den Honoratioren zählen, man durfte
-auch nicht bezahlen. Aber die Eingeweihten wußten, daß jede Flasche
-unweigerlich einen Taler kostete, nur der Champagner -- Grüneberger
-Landkarte war’s von Foerster & Grempler und trug auf der Etikette einen
-Plan der gesegneten Gemarkung -- nur die Pulle Champagner kostete
-zwei Taler. Den Obolus legte man beim Abschied schweigend auf den
-Tabakskasten am Fenster; vergaß es einmal ein Gast, so kam’s auf die
-Jahresrechnung der Apotheke. Im übrigen wurde Herr Herr durchaus als
-Herr behandelt. Er saß mitten unter seinen Gästen, wenn er nicht gerade
-unterwegs war nach dem Keller, und wenn er besonders gut aufgelegt
-war, so pfiff er ihnen etwas vor. In der ganzen Provinz Brandenburg
-einschließlich Berlin pfiff anerkanntermaßen niemand so künstlerisch
-schön als Herr Herr.
-
-Es war noch früh am Tage, gegen elf Uhr, und die Tafelrunde noch klein.
-Obenan saß der Doktor Tiburtius vor seinem Oberungar. Neben ihm links
-der Kreisrichter, Fritz von Hackentin und der Herr des Hauses bei
-einer Flasche Pontac; ihnen gegenüber Major a. D. von Artenau, ein
-Hüne von Gestalt mit einem riesigen Schnauzbart und buschigen grauen
-Brauen über den vom ewigen Sticken entzündeten Augen. Er hatte noch
-um kein Getränk gebeten, wartete vielmehr auf einen Partner für eine
-„Landkarte“ oder noch lieber für ein kleines Böwlchen; denn abgesehen
-von seiner grandiosen Stickkunst war er auch der anerkannte Meister im
-Bowlenbrauen.
-
-Das Gespräch ging langsam. Der Doktor schimpfte auf den Schäfer Knorr
-in Lobitten, der wieder einmal gegen Gesetz und Kleiderordnung einem
-alten Weibe das ausgefallene Schultergelenk eingerenkt hätte, und
-auf die Themis mit den verbundenen Augen, die die allerdummsten und
-allertollsten Kurpfuschereien dulde, wobei der Kreisrichter einen
-bitterbösen Seitenblick abbekam.
-
-Fritz Hackentin hörte sich das lächelnd an. Er hielt die schlanke
-rechte Hand um sein Glas gelegt, drehte es langsam hin und her, hatte
-sein gewöhnliches ironisches Zwinkern um die klugen grauen Augen und
-empfand ein kleines Vergnügen darüber, wie der Doktor sich mehr und
-mehr in die Wut hineinsteigerte. Und erst als der schließlich mit
-einem „Himmelkreuzdonnerwetter, wozu hat unsereiner denn eigentlich
-studiert!“ schloß, fragte er trocken: „Ja, hat Meister Knorr denn das
-Gelenk wirklich wieder in Ordnung gebracht?“
-
-„Was geht denn in drei Deibels Namen mich das an? Ob die olle Gillerten
-ein Krüppel bleibt oder nicht! Verdient hätte sie’s schon. Was, Herr
-Herr, hab’ ich recht?“
-
-„Hat der Schäfer Geld für die Kur genommen?“
-
-„Den Geier wird er getan haben. Dazu sind die Kanaille viel zu schlau.
-Das wird gelegentlich auf andere Weise abgemacht. Heimlich und
-heimtückisch.“
-
-„Ja, lieber Doktor, wenn der Mann sich nicht hat bezahlen lassen, dann
-kann die Justiz auch nichts machen.“
-
-„Das ist eben der Skandal. Aber ich faß den Knorr schon noch. Der Kerl
-muß sitzen! Der Kerl muß ...“
-
-Weiter kam er nicht. Denn Artenau hatte den Hals gereckt, rief
-dazwischen: „Da kommt der Conte aus Sodelzig ...“ und sie sahen alle
-auf.
-
-Das Gespann des Grafen Grucker war auch sehenswert. Vor dem Wagen zwei
-edle Pferde, wie immer naß und mit Schaumflocken übersät, denn der alte
-Graf fuhr wie ein Toller; das Geschirr arg desolat, hier und dort mit
-Stricken und Bindfaden geflickt; der Wagen selber aber, die im ganzen
-Kreise berühmte „Wurst“, bestand aus nicht viel mehr als aus einem
-langen gepolsterten Brett, das über die Achsen gelegt war. Im Reitsitz
-saß der Graf darauf, und ganz hinten hockte in einer Art Korb der
-Kutscher.
-
-Man hörte schon von der Straße aus die dröhnende Stimme: „Meine
-Hochachtung! Daß du mir die Schinder ordentlich abreibst!“
-
-Dann klang’s aus der Offizin: „Meine Hochachtung! Na, Herr Provisor,
-erst mal’n Doktor. Aberst gut vermengeliert. So, danke --“
-
-Dann flog die Tür auf, und der untersetzte starke Mann krachte ins
-Zimmer: „Meine Hochachtung! Da wär’n wer ja. ’n Tag allinsgesamt.
-Artenau, ich seh’s dir an deiner schönen Nasenspitze an, du hast
-auf mich gewartet. Also mansch uns man ’n Röhrenwasser. Puh --“ und
-er setzte sich auf einen Stuhl, daß es krachte, reichte jedem über
-den Tisch die Rechte hin und drückte die verschiedenen Hände, bis
-die Besitzer „au“ sagten. Mit der Linken aber krabbelte er aus der
-Joppentasche ein halbes Dutzend Zigarren heraus, lang, dick und schwarz
-wie die Nacht, legte sie vor sich auf den Tisch, zündete sich die erste
-an und meinte, „Kindersch, ich muß euch ’ne Geschichte erzählen.“
-
-„Nämlich, wie ich zum Frühjahrsmarkt hier nach Stellberg fahre, sagt
-die Gräfin: ‚Otto,‘ sagt sie, ‚du mußt so gut sein und die Mamsell
-mitnehmen.‘ ‚Wozu denn?‘ frag ich. ‚Sie muß Geschirr für die Leutküche
-kaufen.‘ Also Mamsell wird auf die Wurst gepackt, hinten auf ’n
-Kutschersitz, und der Karl muß hinter mir reiten. Man soll ja nun mal
-den Weibern nichts abschlagen. Alles geht auch ganz gut, bloß daß der
-Artenau da ’ne recht längliche Bowle gebraut hatte und wir längelicht
-hier sitzen blieben. Um dreie läßt die Mamsell gehorsamst fragen, ob
-der Herr Graf nicht bald abführe, und um viere läßt sie wieder fragen.
-Da kann doch der geduldigste Mensch ein Wüterich werden. Aber ich bin
-ganz stille, und Abend gegen neune fahren wir wirklich los. Wie der
-Hausknecht vom ‚König von Preußen‘ am Wagen leuchtet, seh ich die
-Mamsell mit ’nem großen Korbe auf dem jungfräulichen Schoß und mit
-großen, dicken Tränen auf den Backen. Pimperlings rennen die runter.
-Ich kann alles, aber heulen kann ich nicht sehen. Warum heult das
-Frauenzimmer: bloß weil sie ’n paar Stündeken hat warten müssen. Als
-ob ich im Leben nicht schon manchmal viel länger hätt warten müssen,
-wenn ~par exemple~ zum Beispiel die Gräfin nicht mit der Toilette
-fertig wurde. Na also, ich denke: das Heulen mußt du der Mamsell
-abgewöhnen. Fahr also drauflos, gleich furioso über das Pflaster, und
-das Frauenzimmer schreit, als ob es am Spieße steckt. Dann das Stück
-Chaussee und dann ... na, ihr kennt ja den Waldweg über Ebersvorwerk,
-schön ist er nicht. Und die Mamsell schreit und schreit. Laß sie man
-schreien, denk ich, sie sitzt ja dahinten wie in Abrahams Schoß. Sie
-wird schon stille werden. Wird sie auch, so etwa von Doberow an. Mal
-dreh ich mich um. ‚Mamsellken‘, ruf ich. Keine Antwort. ‚Karl, ist
-denn Mamsell noch da?‘ ‚Jawohl, Herr Jraf.‘ Na also. Ich fahr also
-wieder zu, nicht schlecht, die Füchse hatten lange gestanden. Da sind
-wir denn endlich. Ich steig ab, die Mamsell steigt ab. Nicht ’ne Träne
-mehr, aber ’n Gesicht, wie siebzehn Tage Regenwetter. Kein Ton. Aber
-wie ich frag: ‚Na, Mamsellken?‘ da reißt sie ’s Tuch vom Korb und weist
-so mit der Hand darauf hin, als wie wenn sie sagen möchte: Da hast du
-die Bescherung! ’s waren nämlich man bloß noch Scherben drin, blaue,
-braune, graue und weiße, keiner größer wie ’n Dalerstück. Und wie ich
-lache: ‚Mamsellken, lassen Sie das man nich die Frau Gräfin sehen, daß
-Sie so schlecht verpackt haben‘, da schmeißt sie mir den ganzen Zauber
-vor die Beine: ‚Un zu Johanni zieh ick, Herr Jraf!‘“
-
-Er lachte, daß die Wände dröhnten, und alle lachten mit, so ansteckend
-war dies tiefe Lachen aus voller Brust. Man mußte immer mit ihm lachen,
-wenn auch seine Geschichten selten eine richtige Pointe hatten. Er
-lachte selber, bis er nicht mehr konnte. Dann zog er ein rotseidenes
-Taschentuch, so groß, daß man damit den halben Tisch hätte zudecken
-können, und wischte sich die Augen aus. „Na, Artenau, du alter
-Stickereimajor, biste fertig? Laß mal schmecken. Heut wird aber nich so
-lange gepichelt. Ich wollte eigentlich nur den Rittmeister sprechen.
-Kommt Vater nicht, Fritze?“
-
-„Ich denk doch, Onkel Grucker. Wilhelm ist in Rohlbeck und wollte mit
-Papa kommen.“
-
-„So, der Wilhelm. Na, der wird uns wohl die Eisenbahn in der Tasche
-mitbringen. Ich pfeife übrigens auf die Eisenbahn, mir ist meine
-Wurscht lieber.“
-
-„Ich pfeife auch auf die Eisenbahn“, warf Doktor Tiburtius dazwischen.
-„Stellberg kriegt ja doch keinen Bahnhof, und dann sitzen wir ganz in
-der Bredouille. Das bißchen Verkehr, was wir hier haben, geht auch
-noch in die Wicken. Die Chaussee ja: die war gut. Aber die Eisenbahn?
-Das ist man dummes Zeug. Ist gar kein Bedarf dazu da. Zwischen Berlin
-und Hamburg, oder zwischen Berlin und Leipzig und so, das laß ich mir
-gefallen. Aber bei uns? Na, Ihrem Bruder Wilhelm mag sie schon helfen,
-Herr von Hackentin, uns hilft sie sicher nichts -- die Eisenbahn!“
-
-Der Kreisrichter hatte wieder sein überlegenes ironisches Lächeln.
-„Gegen einen Kulturfortschritt soll man sich nie sträuben.“
-
-„Laß uns bloß mit deiner Kultur und dem Fortschritt zufrieden,
-mein Junge“, rief der Graf. „Wir haben schon genug Kultur, und den
-sogenannten Fortschritt hab ich noch von achtundvierzig her im Magen.
-Aber ich will mich nicht ärgern. Und da hätten wir ja übrigens den
-Rackower ... meine Hochachtung, wen bringt denn der mit?“
-
-Vor der Tür hielt der Rackower Viererzug. Rappen, in glänzender
-Kondition mit Silbergeschirren; ein elegantes Coupé dahinter.
-
-„Meine Hochachtung, Dicker!“ schrie Grucker dem Eintretenden entgegen.
-
-„~Bonjour, messieurs!~“ Ernst Hackentin machte eine seriöse
-Handbewegung „Erlauben Sie ... gestattet, daß ich unseren lieben Gast
-vorstelle, Herr Alfred Schwarz, Kaiserlich Russischer Hofopernsänger.“
-
-Man rückte zusammen. Unwillkürlich schob man sich immer zusammen,
-sobald der Rackower an einem Tisch erschien; auch dann, wenn mehr als
-genügend Raum vorhanden war. Er war wirklich übermenschlich dick, der
-kleine Mann. Eine Fettkugel war er mit ganz kurzen Beinchen und ganz
-kurzen Armen; der Kopf darüber glich einer zweiten Kugel; glattrasiert,
-bartlos, mit einer ungeheuerlichen Glatze, die nur im Nacken ein
-schmaler, graumelierter Haarkranz abschloß; im faltenlosen Gesicht lag
-stets ein Zug ungemessenster Sorglosigkeit, schrankenlosen Behagens,
-und dazu blitzten und blinkerten die kleinen Augen wohlwollend und
-listig zugleich.
-
-Schwer ließ er sich nieder. In gemessenem Abstand von der Tischkante,
-die ja nicht, wie an der Rackower Tafel, den im ganzen Kreis bekannten
-ovalen Ausschnitt trug.
-
-„Hier, mein lieber Schwarz, hier, bitte ...“ Er nannte die Namen.
-„Mein verehrter Herr Herr, dürfen wir uns bei Ihnen zu einer Flasche
-Pontac invitieren? Vielleicht ein wenig temperiert, wenn es Ihnen keine
-besondere Mühe macht. Wie geht es der verehrten Gräfin, lieber Grucker?
-Ah ... gut ... freut mich riesig. Danke, Marie ist auch gut zu Wege.
-Famöses Herbstwetter, nicht wahr? Ich bin sehr froh, daß es unser
-lieber Gast so gut trifft.“
-
-Der Rackower sprach mit ganz sanftem Tonfall, deutlich akzentuiert,
-aber leise. Immer, auch bei Nichtigkeiten, als wenn ihm ungeheuer daran
-läge, zu überzeugen. Grucker nannte seine Art zu reden manchmal den
-Hofpredigerton. Er sprach auch gern und langatmig, mit ausgesuchter
-Höflichkeit, in jeder Einzelwendung. Dazwischen mußte seine silberne
-Schnupftabakdose, mit dem Namenszug in farbigen Steinen auf dem Deckel,
-die Runde machen, wenn es irgend anging.
-
-Sonst fesselte seine Redegabe meist auch die Widerstrebenden. Er hatte
-ja immer den Sack voll Neuigkeiten, schon aus den Pariser Zeitungen,
-die er sich hielt. Aber heut konzentrierte sich das Interesse doch mehr
-auf seinen Gast als auf ihn. Ein russischer Hofopernsänger? Etwas
-noch nicht Dagewesenes im Kreise. Erstens schon an sich: ein Sänger.
-Zweitens: ein Opernsänger. Drittens: ein russischer! Warum den die
-Rackower eingeladen hatten? Doppelt merkwürdig, weil Marie Hackentin
-sonst ja immer die Exklusive markierte. Denn auch ein Hofopernsänger
-blieb doch immerhin ein Komödiant.
-
-Herr Alfred Schwarz saß zwischen den Herren wie ein Mann, der gewohnt
-ist, das allgemeine Interesse zu erregen. Schweigsam zuerst, aber
-mit dem Ausdruck artigsten Zuhörens in dem jugendlichen schönen
-Gesicht. Dann allmählich auftauend, weltgewandt in das allgemeine
-Gespräch eingreifend, jede Frage mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit
-beantwortend. Er saß in sehr legerer Haltung, die schlanken Beine
-übereinander geschlagen, so daß auf dem einen Fuß das Streifchen eines
-seidenen Strumpfes sichtbar wurde, und drehte sich aus dem Etui, das
-auf seinem Schoß lag, eine Zigarette nach der anderen.
-
-Grucker, der leidenschaftliche Kettenraucher, schnoperte eine ganze
-Weile nach dem starken süßen Duft, bis er fragte: „Schmeckt denn das
-Deubelszeug eigentlich?“
-
-„Wollen Sie nicht einmal selbst versuchen, Herr Graf?“ Die flinken,
-schlanken Hände hatten sofort eine Papyros gedreht. „Bitte, wollen Sie
-hier anfeuchten ...“
-
-„Lecken soll ich?“ Alle lachten, denn Grucker machte die Sache mit
-seiner dicken, schweren Zunge möglichst ungeschickt. Die erste
-Zigarette zerkrümelte, mit der zweiten ging es besser, und dann
-schmunzelte der Konte: „Weiß Gott, nicht übel, so zwischen durch. Ein
-famöser Tabak das muß ihm der Neid lassen.“
-
-„Die Großfürstin Maria Constantinowna hatte die Gnade, mir ein paar
-Pfund zu senden.“
-
-„Sie waren lange in Petersburg?“ fragte Fritz Hackentin über den Tisch
-herüber.
-
-„Vier Saisons. Ich kam ein Jahr nach der Beendigung des Krimkrieges an
-die Newa.“
-
-„Schlimme Tage für Rußland --“
-
-„Bah! Man merkte davon in Petersburg wenig. Der Russe trägt nicht
-schwer. Das Land mochte erschöpft sein, aber es war doch durch die
-Lieferungen sehr viel Geld verdient worden, und der Rubel rollte. Wir
-hatten fast immer das Haus zum Brechen voll.“
-
-Artenau war längst fasziniert von dem auffallend schönen Brillanten,
-den der Sänger in der Krawatte trug. Schließlich zwang er sich nicht
-länger, beugte sich weit vor und meinte mit seiner stockenden Stimme:
-„Sie haben da einen wunderschönen Solitär ...“
-
-„Seine Majestät der Zar ließen mir die Nadel nach einer Vorstellung
-des „Fra Diavolo“ überreichen. Übrigens --“ er lachte gleichmütig --
-„nachträglich hab ich erfahren, daß Seine Majestät mir einen weit
-kostbareren Stein bestimmt hatten. Aber das geht in Rußland nun einmal
-so: auf dem Wege von Seiner Majestät bis zu mir wurde der Brillant
-immer kleiner.“
-
-„Schweinebande!“ rief Doktor Tiburtius dazwischen. „An den Galgen
-sollte die Gesellschaft.“
-
-„Es ist in der Welt nicht anders. Die kleinen Diebe hängt man, die
-großen läßt man laufen.“
-
-„Oho! Oho, Herr Schwarz! Bei uns ist’s doch anders. In Preußen gibt’s
-noch Richter. Bei uns gilt gleiches Recht für jedermann, und wenn
-wir auf etwas stolz sein dürfen, dann ist’s die Ehrlichkeit unserer
-gesamten Beamtenschaft.“
-
-Der Sänger verbeugte sich verbindlich: „Ich bin ja selber preußischer
-Untertan, wenn auch aus einem entlegenen Winkel des Königreichs.“
-
-„Nämlich, wenn man fragen darf?“
-
-„Ich bin dicht an der französischen Grenze geboren, in einem kleinen
-Ort nahe Saarbrücken.“
-
-Plötzlich fuhr Graf Grucker in die Höhe: „Die Rohlbecker! Und die Lene
-ist auch mit. Donnerwetter, da muß ich doch ...“ Er stülpte seine Kappe
-auf und hastete zur Tür hinaus.
-
-Draußen half Wilhelm Hackentin seinem Vater aus dem Wagen.
-
-Vater und Sohn waren sehr verschieden. Wilhelm überragte den
-Rittmeister fast um Haupteslänge, und sein Gesicht zeigte nicht die
-Hackentinschen Züge, sondern die Gruckerschen, mit dem ausgeprägten
-Kinn, der kühn geschwungenen Nase. Er hieß nicht umsonst der „schöne“
-Wilhelm. Und man sah ihm an, er hielt auf sein Äußeres. Während der
-Vater einen grauen, ausgedienten Flausrock trug, war er sehr elegant
-und sehr geschmackvoll gekleidet, in einem langen hellen Redingote,
-unter dem weite, gestreifte Beinkleider mit breiten, schwarzen Galons
-hervorsahen; und während der Rittmeister Handschuhe grundsätzlich
-verschmähte, außer beim Kirchgang, deckten seine auffallend kleinen
-Hände weiche gelbe Lederhandschuhe; der alte Herr trug eine Jagdkappe,
-abgetragen wie sein Überrock, der Sohn eine seidene schwarze Reisemütze
-von fast kokettem Schnitt.
-
-„Meine Hochachtung!“ rief der Graf schon auf der obersten Stufe zur
-Apothekentür, und dann hatte er den Rittmeister umhalst und küßte
-ihn schallend erst auf die rechte, dann auf die linke Backe. „Tag,
-Schwager. Tag, Wilhelm!“ Auch der bekam seine Küsse, und dann hob
-Grucker die Nichte mit seinen mächtigen Armen aus dem Wagen, schwenkte
-sie einmal im Kreis, daß die Röcke flogen, setzte sie nieder, und
-gleich hatte auch sie ihr Teil: diesmal aber traf’s nicht die Wangen,
-sondern die Lippen. Lene hielt übrigens ganz stille. Hätte sich ja auch
-nicht rühren können, so fest hielt der Onkel. Wollte sich auch nicht
-rühren: denn Onkel Grucker war eben Onkel Grucker. Und ihr Pate dazu.
-
-Er schnalzte mit der Zunge und lachte: „Meine Hochachtung! Geht man
-hinein und sorgt, daß mir der Artenau das Röhrenwasser nicht aussauft.
-Ich muß mit der Lene erst ... na, Puttchen, he? -- was müssen wir denn?“
-
-Sie hatte bei ihm schon eingehakt: „... zu Tante Hufnagel gehen ...“
-
-„Na natürlich. Und wenn’s ’n Daler kost’.“
-
-Das war immer so. Wenn der Graf auf den Jahrmärkten einer seiner
-Nichten habhaft wurde -- und manchmal waren’s auch nur Wahlnichten,
-aber jung und hübsch mußten sie sein --, dann zog er mit ihnen zu
-Tante Hufnagel. Und gewöhnlich hatten sie dabei einen Kometenschweif
-hinter sich: die liebe Jugend des Städtchens. Denn die wußte, daß es
-dem Sodelziger Herrn, so sparsam der sonst war, auf ein paar Hände voll
-Pfeffernüsse nicht ankam. Manchmal auch nicht auf eine Handvoll blanker
-Dreier. Gerad wie dem alten Wrangel in Berlin.
-
-„Na, Puttchen, was macht das Herz?“ scherzte er, während sie über die
-Straße gingen.
-
-„Onkel Grucker, ich hab keins.“
-
-„Meine Hochachtung! ’n Mädel ohne Herz. So was läßt der liebe Gott ja
-gar nicht zu. Na hör mal, Deern, ... und ich dachte doch, der hübsche
-Gardeschütze, der dich immer mit so großen Gucklöchern ansah, bei uns,
-bei dem Manöverdiner ... der Neuchateller ... wie hieß das Luderchen
-doch ...“
-
-„Merivaux, Onkel Grucker. Das ist aber auch das Einzige, was ich von
-ihm weiß.“
-
-„Merivaux -- so! Der Deixel soll die französischen Namen behalten. Sind
-aber brave Kerle, die Neuchateller. Haben sich als gute Royalisten
-gezeigt, als die da unten Revolution machten. Anno sechsundfünfzig und
-so. Ja -- Tag, Tante Hufnagel. Meine Hochachtung!“
-
-Madame Hufnagel knixte ganz tief, die beiden Mamsellen knixten noch
-tiefer, und alle drei lächelten so süß, wie ihre Waren waren.
-
-„Na, nu greif mal zu, Puttchen.“
-
-Helene Hackentin zierte sich nicht. Wie hätte man sich denn auch
-vor der Bude von Tante Hufnagel zieren können. Sie stopfte ein paar
-Pralinees ins Kröpfchen und steckte sich die Taschen voll. Rechts ein
-Paket Schokoladenpfefferkuchen und links den kleinen Karton mit einem
-Königsberger Marzipanherz. „Siehst du, Onkel Grucker, nu hab ich ’n
-Herz!“ Famos übrigens, daß die Pelerine links und rechts ordentliche
-Taschen hatte.
-
-Brrr -- brrr schmiß der Graf eine Handvoll Pfeffernüsse über die
-blonden, braunen, schwarzen Köpfe hin. Es summte in der Luft wie ein
-Schrotschuß Und die liebe Jugend jagte hinterher, stolperte, schubste
-sich, balgte sich, lag auf den Pflastersteinen und jauchzte. Grucker
-aber hatte gerad noch einen Blondkopf an den langen Zöpfen erwischt.
-„Bist du nicht eine kleine Tiburtia? Die Nas’ kenn’ ich doch! Sperr’s
-Maul auf und mach die Augen zu. So ... da ...“ Unbarmherzig schob er
-einen wahren Riesenkloß Mehlweißchen in den aufgerissenen Schlund und
-wollte sich totlachen, wie das Unglückswurm zwischen Lachen und Greinen
-biß und schluckte.
-
-„So, Tante Hufnagel ... Schluß. Was kost’t der Kitt? ’n Daler zwanzig
-... hier! Bist fertig, Puttchen? Na, denn woll’n wir mal. ’n Abend ...
-’n Abend ...“
-
-Und wieder knixte Madame Hufnagel ganz tief, beide Mamsellen knixten
-noch tiefer, alle drei lächelten so süß wie Marzipan. Helene hakte
-wieder ein, aber dann besann sie sich und meinte, ein wenig zögernd:
-„Nun muß ich zu Tante Artenau ...“
-
-„Meine Hochachtung! Nee aber -- was willst du denn da? Etwa zusehen,
-wie die semmelblonde Julie das Kunststück fertig bringt, ein Hühnerei
-in der Achselhöhle auszubrüten? Pfui Spinne. Komm du man mit zu uns
-ordentlichen Leuten.“
-
-Es stand ihr auf dem Gesicht geschrieben: ihr war das auch lieber. Aber
-sie zögerte noch immer, griff in die linke Manteltasche -- gut doch,
-daß der Mantel so schöne Taschen hatte! -- krabbelte sich ein Stückchen
-Pfefferkuchen heraus und steckte es zwischen die Zähne. Gerad noch so
-viel Platz blieb, daß sie fragen konnte: „Wer ist denn drin, Onkel
-Grucker?“
-
-„Wer wird denn drin sein, Mademoiselle Neugier? Artenau und Tiburtius
-und Fritze, dein Bruder Demokrat ... na, und Ernst mit seinem
-Moskowiter Sänger.“
-
-Es war gut, daß sie nicht über den Straßendamm konnten. Gerad kam
-nämlich von der Kirche her ein Haufen Menschen mit einer „Moritat“ in
-der Mitte, und der Mann mit der Schauleinewand pflanzte sich just vor
-der Apotheke auf. So etwas mußte Grucker sich immer in der Nähe ansehen
-und anhören, blieb also stehen, sagte lachend: „Meine Hochachtung ...
-wunderschön!“ und merkte gar nicht, wie Helene aus eigenem Antrieb
-den Schritt hemmte und daß sie trotzig den Nacken steifte. Bis der
-Leierkasten sein Lied abgespielt und der Mann das Epos von dem
-siebenfachen Mord vorgetragen hatte --
-
- „Und so hat in einer Nacht
- Er sieben Christen umgebracht“ --
-
-Währenddessen konnte Helene sich besinnen. Sie knabberte dabei langsam
-ihren Pfefferkuchen auf. Da wären wir ja beinah’ recht albern gewesen,
-dachte sie. Warum denn nicht? Was geht mich dieser ... dieser Russe
-an. Nun gerade! Und als Grucker sein Dittchen auf den Sammelteller
-geworfen hatte und sich wieder in Bewegung setzte, fragte sie: „Also
-der Rackower Gast? Was ist denn das für ein Menschenkind?“
-
-„Biste neugierig, Puttchen?“
-
-„Bewahre. Ich frag nur so ...“
-
-„Na also, wenn du nur so fragst: er trägt seidne Strümpfe und ’ne
-Krawattennadel, die ihm der Kaiser aller Reußen geschenkt haben soll.
-Sonst ’n ganz manierliches Kerlchen, scheint’s. Schmokt auch ’n ganz
-wundervollen Toback. Meine Hochachtung -- wirklich! Weiter weiß meines
-Vaters Sohn nichts von ihm.“
-
-Da waren sie auch schon in der Offizin.
-
-Aber nun zögerte Helene doch wieder. Es war sehr laut im Nebenzimmer.
-Auch der Graf horchte auf. „Die scheinen ja ’n bissel scharf aneinander
-geraten. Hör’ mal, Lene ...“
-
-„Ich möchte doch lieber ...“
-
-„Na, du wirst dich doch nicht fürchten! Was sich zankt, liebt sich,
-Leneken.“
-
-Er stieß die Türe auf, stapfte mit seinem lauten „Meine Hochachtung!“
-über die Schwelle, stieß aber direkt auf seinen Neffen Fritz Hackentin,
-der -- mit dem Hut in der Hand -- hinauswollte, rot im Gesicht und vor
-Erregung zitternd. Der Bruder stand daneben, suchte ihm den Hut zu
-entwinden.
-
-„Hallo, mein Junge!“ rief Grucker. „Hier wird nicht desertiert.“ Er
-faßte ihn mit beiden Händen um den Leib, hob ihn hoch, wie man ein Kind
-hochhebt, drehte ihn um und schob ihn, ohne loszulassen, wieder zum
-Tisch hin. „Komm, Lene, Mädel, streichle mal ’n bißken. Kreuzdonnerstag
-und Freitag, man wird doch hier in Ruh’ sein Glas Wein trinken können!“
-
-„Laß mich, Onkel Grucker ... laß mich!“
-
-Aber die eisernen Fäuste hielten fest. „Nee, Fritz. So kommst du nicht
-los. Erst ’n Versöhnungsschluck. Habt wieder mal hohe Politik getrieben
--- he? Verflucht und zugenäht! Na, was gab’s denn?“
-
-Drüben saß der alte Rittmeister. Er war so blaß im Gesicht, wie der
-Sohn rot war, und die Hand, die er am Glas hielt, zitterte auch. Aber
-er zwang sich. „Wenn du’s wissen willst, Schwager. Das heißt, daß mein
-Sohn Fritz uns gerad erzählt hat, daß er Mitglied vom Nationalverein
-ist. Und da hab ich ihm meine Meinung gesagt. Das heißt, über die ganze
-Schreierei und über den vielgeliebten Schützenherzog in Gotha dazu. Und
-das kann er nicht vertragen.“
-
-„Deshalb ist es besser, ich gehe!“ stieß der Kreisrichter hervor.
-„Meine Überzeugung lasse ich nicht antasten, auch von dir nicht, Papa.“
-
-Der Graf hatte ein Lachen, das oft geradezu erlösend wirken konnte.
-So lachte er jetzt. Und es paßte in dies Lachen hinein, was er
-zwischendurch in einzelnen Brocken vorbrachte: „Brat mir einer
-’n Storch ... kriegen sich Vater und Sohn wegen Herzog Ernst von
-Sachsen-Koburg-Gotha, Durchlaucht und so, an den Kragen ... aber
-den Storch recht knusperig, bitte! Kinderkens, seid gut ... lieber
-Artenau, du oller Stickereimajor, nu aber schnell ’ne neue Mischung ...
-was Besänftigendes. Heut wird nicht mehr Politik gemacht ... hier setzt
-du dich, Fritze ... so ... na, und da hab ich euch die Lene mitgebracht
-... Lene ... Puttchen ... komm her. Es frißt dich keiner ...“
-
-Sie war an der Tür stehengeblieben.
-
-Daß sich Vater und Bruder stritten, war ihr nichts Neues. Das ging
-nun schon seit Jahren, man hatte sich nachgerade daran gewöhnt: Vater
-und Fritz vertrugen sich schließlich immer wieder, und Onkel Grucker
-brachte das gewiß heute schnell zuwege. Er verstand das Leimen.
-
-Aber diesmal war’s ihr peinlich. Weil der Fremde dabei war. Der Russe,
-gegen den sie vom ersten Sehen an etwas wie instinktive Abneigung
-empfunden hatte.
-
-Das Zimmer war mit Tabaksrauch gefüllt. Mehr noch als Onkel Pastors
-Arbeitsstube am Sonnabend. Mit dem Messer hätte man den Qualm
-durchschneiden können, und die Augen taten einem weh; kaum, daß man die
-Herren am Tisch unterscheiden konnte: den Doktor, der bei Lene noch von
-früher her immer einen Lebertrangeschmack auf der Zunge hervorrief, den
-lustigen Herrn Herr, Artenau, Onkel Ernst ...
-
-Ja ... und da stand der Russe am Fenster.
-
-Fast wie sie an der Tür. Vielleicht hatte er auch den gleichen Gedanken
-wie sie: ich wollte, ich wäre nicht hier. Zu verwundern wär’s nicht.
-
-Das Gespräch am Tisch ging noch ein paar Augenblicke weiter. Schon
-gemäßigter. Sie hörte nur einzelne Worte ... „Das deutsche Vaterland
-...“ sagte Fritz. „Nee, unser altes Preußen ...“ sagte Vater, und Onkel
-Grucker: „Nu laßt’s mal endlich ...“
-
-Da war auch schon der Rackower aufgestanden, dem jeder politische
-Streit unbequem war, hatte das Monokel ins Auge geklemmt und ihr
-zugenickt, war zu seinem Gast ans Fenster getreten. Und der wandte ihr
-im nächsten Moment das Gesicht zu, verbeugte sich.
-
-Zu dumm, zu kindisch, daß man immer noch rot wurde wie ein Backfisch ...
-
-„Na, Leneken, wo steckst du denn?“ rief der Graf schon zum drittenmal.
-„So komm doch! ’s ist wieder Friede im Lande.“
-
-Langsam ging sie an den Tisch, nickte, reichte die Hand. Und nun walzte
-sich Onkel Ernst heran, stellte ihr den Russen vor. Jäh überflutete
-sie wieder die alberne Röte. Aber sie überwand sie diesmal schnell;
-vielleicht, weil es ihr so komisch vorkam, daß er Schwarz hieß, einfach
-Schwarz, während sie irgendeinen Namen auf off oder itsch erwartet
-hatte.
-
-Der Friede schien wirklich geschlossen, die Gläser wurden neu gefüllt,
-Grucker hatte schon wieder eine seiner langen dicken Zigarren in Brand.
-Dann hieß es plötzlich, wie zur Besiegelung des Friedens: „Lieber Herr
-Herr, pfeifen Sie uns eins“, und der Apotheker ließ sich nicht lange
-bitten. Er spitzte die Lippen und pfiff. Erst von Schumann: „Wohlauf,
-noch getrunken, den funkelnden Wein ...“ und dann sein Glanzstück aus
-„Fra Diavolo“.
-
-Eigentlich liebte Helene dies Kunstpfeifen wenig. Es hatte für ihr
-empfindliches Ohr immer ein wenig Schrilles. Aber das mußte sie
-zugeben: Herr Herr machte seine Sache gut, und es war +doch+
-Musik. Stets, wenn ein Lied erklang, wurde ihre Seele wach.
-
-Und dann war sie mit einem Male, sie wußte selbst nicht, wie es
-eigentlich gekommen war, in einem Gespräch mit dem Russen. Sie nannte
-ihn im stillen immer den Russen, wenn er auch Schwarz hieß.
-
-Er hatte an die Produktion des Apothekers angeknüpft, aber sie waren
-im Nu darüber hinaus. Von der Musik im allgemeinen sprach er, von den
-neuesten Opern dann, von Spontini, von Donizetti, von Lortzing und vor
-allem von Meyerbeer. Eigen erfreut schien er, daß sie gut Bescheid
-wußte. Einmal sagte er: „Ich hätte nie geahnt, daß man hier, in der
-Landeinsamkeit, Musik so liebt.“
-
-„Gerade, wenn man so einsam lebt, meine ich, muß man sie doppelt
-lieben.“
-
-„Sie ist die große Herzenströsterin.“ Er sprach es mit Emphase, aber
-das entging ihr.
-
-„Ich finde, daß sie immer neue Sehnsucht weckt“, erwiderte sie.
-
-Als ob er sie nicht ganz verstanden hätte, so schaute er sie an.
-Er wiegte den schönen Kopf: „Gewiß, sie weckt Sehnsuchten, aber
-nur, um sie wieder zu stillen.“ Und dann: „Sie üben selber Musik,
-gnädiges Fräulein? Aber was frage ich -- wer sich so stark für Musik
-interessiert, muß auch versuchen, dem inneren Drang zum Leben zu
-verhelfen.“
-
-„Ich singe ... ein wenig.“ Erst als sie es gesagt hatte, fiel ihr ein,
-daß Onkel Grucker vorhin von Herrn Schwarz als dem „Moskowiter Sänger“
-gesprochen hatte. Es war aber nur eine ganz unklare Vorstellung in ihr,
-was der Onkel eigentlich damit gemeint hatte, und sie war nun doch
-neugierig: „Sie singen auch -- nicht wahr?“ fragte sie, und es mochte
-wohl sehr naiv klingen. Denn er lachte ganz leise, verneigte sich ein
-wenig: „Es ist ja mein Beruf, gnädiges Fräulein. Ich bin Opernsänger.“
-
-Das war ihr eine kleine Enttäuschung. Er hatte so weltmännisch
-geplaudert; für einen Diplomaten würde sie ihn gehalten haben,
-vielleicht auch für einen Offizier in Zivil. Opernsänger ... Komödiant
-... das hätte sie nicht gedacht. Aber es interessierte sie gewaltig,
-und aus dem Untergrund ihres Bewußtseins stiegen zugleich Erinnerungen
-an eigene heiße, tolle Träume empor, in denen sie sich selber gefeiert
-gesehen hatte, wie die Jenny Lind gefeiert worden, wie jetzt die Lucca
-in Berlin. So daß sie sich der ersten Empfindung schämte und lebhaft,
-doppelt liebenswürdig meinte: „Jetzt verstehe ich erst. Nicht wahr,
-Herr Schwarz, Sie waren in Petersburg engagiert und daher“ ... nun
-überkam sie wieder eine leichte Verlegenheit ... „daher hieß es auch,
-daß Sie Russe wären? Wo haben Sie eigentlich meine Verwandten kennen
-gelernt?“
-
-„In Ems, gnädiges Fräulein. Wir gebrauchten zur gleichen Zeit die
-Kur. Das russische Klima hatte bei mir eine kleine Halsaffektion
-hervorgerufen. Man muß vorsichtig sein in meinem Beruf.“
-
-Sie hatten ganz ungestört miteinander sprechen können, denn die übrige
-Tafelrunde war völlig durch Herrn Herr in Anspruch genommen. Der mochte
-wohl von dem Wunsch beseelt sein, ein politisches Gespräch nicht neu
-aufkommen zu lassen. Hatte erzählt, daß er von Frankfurt eine von den
-neuen merkwürdigen Lampen mitgebracht hätte, die mit Petroleum gespeist
-würden, einem Öl, das in Amerika aus der Erde fließe. Der und jener
-hatte davon schon gehört, der Rackower und Wilhelm Hackentin hatten
-die Lampen auch in Berlin gesehen. Doktor Tiburtius wollte wissen, daß
-man Erdöl schon im Altertum zur Beleuchtung gebraucht hätte; Ben Akiba
-habe nun einmal recht: es gebe nichts Neues unter der Sonne. Im übrigen
-wäre das ein gefährliches Zeug, stinke wie die Pest und explodiere wie
-Schießpulver. Als der Apotheker schließlich das Lämplein holte und
-umständlich anzündete, rückten die Herren wirklich vorsichtig ihre
-Stühle rückwärts, am weitesten Artenau.
-
-„Meine Hochachtung“, rief Grucker und klatschte sich auf die
-Oberschenkel.
-
-Da blickte Helene auf und sah durch die dichten schweren Tabakswolken
-die helle, gelbliche Flamme über dem gläsernen Bassin. Und mit einem
-Male kam es ihr vor, als wäre sie emporgeflogen, weit hinauf, und nun
-wieder jäh auf die Erde zurückgeworfen. Die Lampe im großen Zimmer zu
-Rohlbeck stand plötzlich vor ihr, sie hörte das Gluck-Gluck, und sie
-sah den häßlichen Fleck, den das schwere Gestell in die alte, braune
-Plüschdecke gedrückt hatte.
-
-Sie mochte nicht weiter sprechen, und nur wie von fernher hörte sie,
-was die andern sagten. Bruder Wilhelm natürlich schon von Plänen und
-Spekulationen, die man in Berlin an das Erdöl knüpfe. Du lieber Gott,
-das war auch solch Phantast, der gute Wilhelm. Immer wollte er in
-den Himmel fliegen, und immer setzte ihn das Schicksal hart auf den
-Rohlbecker Sand zurück. Dann sprach ja wohl Fritz davon, daß das
-Petroleum, wenn die Zeitungen recht berichteten, sehr billig werden
-würde, daß es das Licht der Armen werden könnte; die Quellen in
-Nordamerika sollten schier unerschöpflich sein. Und da mischte sich
-Vater ein. Was für ein Unsinn, meinte der. Billig -- bei den hohen
-Transportkosten übers Weltmeer. Die armen Leute übrigens -- die armen
-Leute! Erstens gibt’s, gottlob, auf dem Lande keine wirklich armen
-Leute, das heißt, die Rohlbecker Herrschaft ausgenommen. Und zweitens
-sollten die armen Leute nur ihre Talglichter weiter ziehen, das heißt,
-der Kienspan sei auch nicht zu verachten. Und drittens käme die ganze
-Geschichte doch nur auf eine Konkurrenz für den Landwirt heraus, das
-heißt, dem guten Rüböl sollte der Garaus gemacht werden. Viertens und
-letztens aber: in sein Haus käme die neumodsche Sache nicht hinein, das
-heißt, er hätte nicht Lust, in die Luft gesprengt zu werden. Einmal,
-in der Schlacht von Leipzig, wär’s schon nahe daran gewesen, und daran
-hätte er noch genug. Worauf Artenau dringend bat: „Lieber Herr Herr,
-bitte, nehmen Sie das Ding fort. Aber erst auslöschen, erst auslöschen
-...“ und alle lachten.
-
-Nein, alle lachten nicht. Ihr selber war die Kehle wie zugeschnürt,
-und Herr Schwarz hatte nur ein Lächeln. Ein kleines, feines Lächeln,
-das etwa sagen mochte: Liebe Leute, was seid ihr für wunderliche
-Menschenkinder, und wie eng muß euch der Horizont gezogen sein.
-
-Der gelbe Lichtschein über dem gläsernen Behälter war erloschen, der
-Tabaksschwaden strich wieder über den Tisch. Die Lampe aber wanderte
-den Tisch entlang. Jeder tastete und fühlte an dem neuen Lichtspender
-herum, und jeder gab seinen Senf dazu.
-
-Ganz still saß Helene. Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken, und
-die Hände hatte sie im Schoß verschränkt; fest preßten sich die Finger
-ineinander.
-
-„Ich muß Sie singen hören, gnädiges Fräulein“, hörte sie neben sich.
-
-Da kam der alte Trotz über sie. Sie zog die Achsel hoch. „Wozu? Es
-lohnt nicht!“ gab sie kurz, fast bitter zurück.
-
-„Das können Sie selber nicht wissen. Und ... Sie haben einen Timbre in
-der Stimme, der meine Erwartung hochspannt.“
-
-Sie sah ihn an. War das eben eine Phrase gewesen? Aber er hielt stand.
-„Glauben Sie’s mir nur, gnädiges Fräulein.“ Er beugte sich ein wenig
-vor und sprach leise weiter, in seinem weichen, einschmeichelnden
-Tonfall: „Es muß doch wohl so etwas geben wie Vorbedeutungen? Als
-ich vor drei Tagen durch den märkischen Sand rollte, in der Enge der
-Postchaise, ehrlich gestanden, mit ein wenig gemischten Gefühlen: warum
-hast du eigentlich die Einladung angenommen? Du hättest doch lieber in
-Berlin bleiben oder du hättest nach Paris gehen sollen -- sehen Sie,
-da überkam mich plötzlich die Empfindung: du wirst hier etwas erleben.
-Eine ganz sichere Empfindung. Es ist mir früher schon ähnlich ergangen,
-und ich habe mich nie getäuscht. Als ich dann ausstieg, da fiel mein
-erster Blick auf eine junge Dame. Darf ich es aussprechen, auf eine
-sehr schöne junge Dame. Und ich wußte sofort: dein Erlebnis beginnt.
-Ich wußte, daß ich Sie wiedersehen würde.“
-
-Er schwieg.
-
-Ihr war das Blut ins Gesicht gewallt. Aber sie straffte den Nacken.
-Was fiel dem Herrn ein? Wie konnte er so zu ihr sprechen? Ihre Finger
-schoben sich noch fester ineinander. Starr sah sie geradeaus, mit einem
-hochmütigen Blick.
-
-„Hätte ich das nicht sagen dürfen?“ hörte sie wieder die weiche
-Flüsterstimme. „Dann müssen Sie mir verzeihen. Ich bin ein Fremder
-hier und vielleicht nicht gewöhnt, die Worte auf die Goldwage zu
-legen. Wir Künstler dünken uns ja allzu leicht freier als der
-Alltäglichkeitsmensch ... Sind Sie zornig auf mich? Ich will mich
-bessern ... und dennoch, ich muß es Ihnen sagen: Ihr Unwille macht Sie
-nur noch reizvoller.“
-
-Sie war empört. Sie antwortete nicht, sie bewegte sich nicht. Sie war
-empört, und doch lauschte sie: wird er nicht weiter sprechen? Und doch
-baute sie sich schon eine goldene Brücke: bin ich nicht am Ende ein
-rechtes Kind? Da draußen in der weiten, weiten Welt mag man noch ganz
-andere Worte wagen und sagen, und niemand nimmt Anstoß daran.
-
-„Ich muß Sie singen hören!“ wiederholte er. „Ich muß!“
-
-Er wartete. Bis er sich dann plötzlich zu dem Rackower umwandte. „Herr
-von Hackentin, wissen Sie, daß Sie eigentlich recht grausam gegen Ihren
-Gast waren?“
-
-„Eheu!“ machte der Dicke. Er war zwar anscheinend während der letzten
-Minuten aufmerksam dem Gespräch der Herren gefolgt, in dem die Geister
-wieder aufeinander zu platzen schienen: einem Gespräch über den neuen
-Ministerpräsidenten Herrn von Bismarck-Schönhausen -- aber er hatte
-dabei kein Auge von dem jungen Mädchen gewandt. Konnte er doch, wie
-Grucker immer behauptete, unter seinem Monokel „um die Ecke gucken“.
-
-„Eheu!“ sagte er noch einmal. „Wie meinen Sie das, mein lieber Schwarz?
-Ich bin desolat“ -- und sah dabei sehr vergnügt darein.
-
-„Sie haben mir noch nicht dazu verholfen, das gnädige Fräulein singen
-zu hören.“
-
-Der Rackower schlug sich vor die Stirn. „Beim Zeus! Nein -- bei Apoll
-und allen Musen! Ich bin ganz desolat. Aber wissen Sie, mein lieber
-Schwarz, ein vorsichtiger Gastfreund spielt nicht all seine Atouts
-gleich aus. Wir hatten unsere liebe Helene natürlich auf dem Programm.“
-Er sah wieder einmal um die Ecke nach der Nichte hin und nickte:
-„Nun, schöne Helene? Du wirst Tante Marie und uns doch die Freude
-machen, recht bald einmal zu uns zu kommen? Oder willst du, daß wir
-dich feierlich invitieren: ~Madame la Baronne et Monsieur le Baron
-Ernest~ usw.? Ist doch sonst nicht zwischen Rohlbeck und Rackow
-Sitte gewesen.“
-
-Er hatte es langsam, in seinem zierlichen, leisen Hofton gesagt, und so
-gewann Helene etwas Zeit. Eine Galgenfrist, schien ihr. Zuerst hatte
-ihr ein kräftiges, trotziges Landmädel-Nein auf der Zunge gelegen. Dann
-hatte sie sagen wollen: ‚Ich komme schon, aber erst, wenn dieser Herr
-abgereist ist.‘ Nein, das ging ja nicht. Also: ‚Ich komme schon, aber
-ich singe nicht.‘ Nun sprach sie: „Ja, danke, Onkel Ernst ... gern!“
-Wurde wieder einmal rot dabei und dachte: ‚Wartet nur! Stockheiser werd
-ich sein. Heiser, wie eure Primadonnen sein sollen, wenn sie nicht
-singen wollen.‘ Und wußte dabei doch: ‚Du wirst singen ...‘
-
-
-
-
-Drittes Kapitel
-
-
-Im Kreise Stellberg gab es kaum ein wirkliches Schloß. Helene Hackentin
-hatte nicht unrecht: sie waren ja alle arm wie die Kirchenmäuse,
-die Golziner, die Steckschen, die Brunowschen; gerade daß sie sich
-durchschlugen auf dem kargen Boden. Grucker hätte vielleicht bauen
-können, sprach wohl auch seit Jahrzehnten davon, war aber zu bequem
-und war ein zu guter Wirt. Fleißig und sparsam, wie sie fast alle, nur
-nicht so der Not gehorchend, mehr der Gewohnheit nach. Ein wirkliches
-Schloß gab es freilich, aber das war mehr Burg als Schloß: der riesige
-Kasten in Nugow, in dem der alte böhmische Graf wie ein halber
-Einsiedler hauste, Graf Delkowitz, Edler von Kastricz. Das war aber
-ein Fremder im Kreise, und die Ansässigen kamen selten in die uralte
-Johanniterburg, deren gewaltiger Turm wie ein Wahrzeichen vergangener
-Zeiten ins Land ragte.
-
-Auch das Rackower Herrenhaus war kein Schloß. Immerhin war’s ein
-stattlicher Bau, langgestreckt, einstöckig, mit ein paar in das hohe
-Dach eingefügten Mansarden und einem neueren rückwärtigen Flügel, den
-Ernst Hackentin angebaut hatte, als er die hannöversche Erbtochter
-heimführte. Die Freiin von Lastrop sollte ja entsetzt gewesen sein,
-als sie mit ihren Eltern zum ersten Male nach Rackow gekommen war, um
-sich ihren zukünftigen Wohnsitz anzuschauen. Der Anbau war geradezu
-Bedingung gewesen; aber mit dem Ausbau waren Ernst Hackentin und Frau
-Marie, die Marquise, wie sie im Kreise mit gutmütigem Spott genannt
-wurde, eigentlich bis auf den heutigen Tag nicht fertig geworden.
-
-Daß sie nicht niedergerissen und ganz neu gebaut, hatte oft
-Verwunderung erregt. Einmal, als der alte Lastrop das Zeitliche
-gesegnet, war’s auch nahe daran gewesen. Der berühmte Landesbaurat
-Schinkel war in seinem letzten Lebensjahr in Rackow zu Gaste, und
-Ernst Hackentin sagte bisweilen: „Ja, wenn unser großer Schinkel nicht
-darüber hinweggestorben wäre.“ Aber die Mittel hatten doch wohl nicht
-gereicht. Sie saßen ja in einer brillanten Assiette, die Rackower, hieß
-es; aber sie führten einen riesigen Train, reisten viel, gingen im
-Winter zu Hofe. Manchmal lachte man im Kreise: Isaak Böhm aus Frankfurt
-oder gar der kleine Jakob Friedländer aus Zielenzig sollten plötzlich
-neben anderen illustren Gästen in Rackow gesehen worden sein. Nun --
-augenblickliche Verlegenheiten kann schließlich jeder haben. Man weiß
-das ja. Es ging auch niemand etwas an, zumal die Rackower kinderlos
-waren. Und dann: ein so liebenswürdiges Haus, so liebenswürdige Wirte
-wie sie gab es auf zwanzig Meilen in der Runde nicht. Wennschon die
-„Marquise“ bisweilen sehr herablassend sein konnte. War da jüngst
-der Amtsrat Weese auf Neu-Bukerow nobilitiert worden, ein Mann, mit
-dem der ganze Adel des Kreises seit Menschengedenken als mit einem
-Standesgenossen verkehrt hatte. Was tut die Marquise, als sie zum
-ersten Male wieder mit ihm zusammenkommt? Sie reicht ihm die Hand zum
-Kuß: „Ich freue mich unsäglich, Herr von Weese, Sie nun endlich ganz
-als einen der Unseren begrüßen zu können.“ Du lieber Himmel, der alte
-Mann hatte nachher selber herzlich darüber gelacht. Böse sein konnte
-man der Marquise ja nicht. Sie war so herzensgut. Und Stil hatte sie
-doch auch in ihrer Art.
-
-Gastfrei war das Rackower Haus wie kein anderes im ganzen Kreise, und
-auch die Art der Gastfreundschaft hatte Stil. Hannöverschen Stil --
-englischen Stil.
-
-Ein paar junge Mädchen, ein paar junge Herren waren meist zu Gaste
-in Rackow; Hausherr und Hausfrau liebten die Jugend. Die Mädchen
-logierten im Anbau, die Herren oben in den Mansarden, wo jedes der
-kleinen Zimmer seinen originellen Namen hatte: da gab es ein „Pompeji“,
-so genannt nach der roten Tapete, ein „Handtuch“, weil das Zimmer
-sehr schmal und lang war, eine „Bärenhöhle“, weil hier jahrelang ein
-Leutnant von Baer während seines Sommerurlaubs gehaust hatte, und eine
-„Bleikammer“, sintemalen dieses Zimmer der lieben Sonne besonders
-ausgesetzt war. Unten im Anbau waren die Namen poetischer: es gab den
-„Pfau“, die „Nachtigall“ und das „Alpenröschen“; es gab sogar eine
-„Sehnsuchtskammer“, als das letzte Zimmer der Reihe.
-
-In der Sehnsuchtskammer wohnte diesmal Helene Hackentin.
-
-Am Tage nach dem Markt war Tante Marie nach Rohlbeck gekommen.
-Unangemeldet, auf ihrem Selbstkutschierer mit den Ponys. Hatte sich die
-liebe ~petite-nièce~ auf acht Tage ausgebeten: „Du kommst gleich
-mit mir, ~mignonne~. Pack’ deine Siebensachen. Vergiß auch ein
-helles Fähnchen nicht. Vielleicht macht es sich, daß wir ein Tänzchen
-riskieren.“
-
-Der alte Rittmeister hatte ein wenig geflucht. Mama barmte: „Du bist
-recht grausam, Marie, uns das Kind zu entführen. Denkst gar nicht an
-uns Alte!“ Aber die Marquise lachte: „Es ist nur um das Gewöhnen,
-liebe Elisabeth. Ihr sollt euch dran gewöhnen, daß Helene euch früher
-oder später, besser früher als später, ganz entführt wird. Seid keine
-Egoisten. Ihr habt ja Martha, Wilhelm ist jetzt auch da -- und dann
-eure Enkel. Gönnt anderen auch etwas.“
-
-„Das heißt --“ begann der Rittmeister brummig. Aber er kam nicht
-weiter. Bei der Rackowerin kam man nie weiter, wenn sie sich
-vorgenommen hatte, zu persuadieren. Zudem: es war ein Axiom, daß die
-jungen Mädchen sich in Rackow bewegen lernten, sich abschliffen,
-gleichsam einen Blick in die große Welt taten. Dem widerstrebten Eltern
-nur in den seltensten Fällen.
-
-Die aber, die es zunächst anging, stand am unschlüssigsten. Immer
-war sie leidenschaftlich gern in Rackow gewesen. Nun stand sie und
-stand, steif und unbeholfen, und drehte an dem Schürzenzipfel wie ein
-Backfisch.
-
-„Vielen Dank, liebe Tante ... aber ...“
-
-Die Marquise lachte wieder. Ihr goldiges Lachen, das das häßliche
-Gamingesicht so seltsam verschönen konnte: „Aber ... aber! Aber ich
-habe nichts anzuziehen. Nicht wahr? Mignonne, du hast deine Jugend,
-hast deine blanken Augen. Mein Herz, was willst du noch mehr! ~En
-avant~ ... ~en avant~ ... in einer Viertelstunde muß dein
-Köfferchen gepackt sein.“
-
-Noch einen Moment stand Helene. Dann flog sie plötzlich aus der Tür und
-die Treppe hinauf.
-
-Frau Marie hatte sich in den großen Lehnstuhl mit den mächtigen
-Ohrenwangen gesetzt. Das zierliche Figürchen verschwand fast in dem
-Ungeheuer, die Krinoline mußte sie gewaltsam zusammendrücken, und dabei
-bauschte sie sich erst recht unförmlich auf. Es sah eigentlich komisch
-aus. Aber die kleine Persönlichkeit beherrschte doch das ganze Zimmer.
-Sie hielt auch hier Cercle und hatte für jeden eine liebenswürdige
-Bemerkung. Der Rittmeister bekam eine Anerkennung, wie artig seine
-Hunde seien; der alten Gnädigen sagte sie ein heiteres Wort, wie
-Mignonne hübscher würde von Tag zu Tag und daß sie ganz die Augen der
-Mama hätte. Martha, die ihr eine Limonade brachte, erhielt ein Lob
-für die vortreffliche Mischung, die Mamsell in Rackow nie erzielte,
-und Wilhelm mußte über die Fortschritte des Bahnprojekts berichten.
-Dabei wurde er immer Feuer und Flamme. Sein schönes Gesicht leuchtete
-auf, er zwirbelte den koketten Spitzbart mit den wohlgepflegten weißen
-Fingern -- und immer hatte er die bestimmteste Zusage von Exzellenz
-Itzenplitz, die Konzession schon „in der Tasche“ ... gerade daß noch
-einige kleine Schwierigkeiten zu überwinden waren. Er stöhnte freilich
-auch immer: „Mein liebes Rohlbeck! Weib und Kind muß ich allein
-lassen ... aber was soll man tun?“ Ein klein bissel malitiös konnte
-die Marquise manchmal doch sein: „Nun, Wilhelm, Berlin ist auch ganz
-pläsierlich“, meinte sie und kicherte. Doch da sie Martha, die sie
-besonders gern hatte, nicht weh tun wollte, fügte sie gleich hinzu:
-„Leicht hast du’s allerdings nicht in Berlin, ich weiß das, Wilhelm. Es
-ist ja jetzt ein großes Wettrennen um die Bahnkonzessionen. Graf Redern
-erzählte uns davon. Aber es wird doch auch enorm verdient. Wie heißt
-doch der Mann, der die erste Geige spielt? Richtig: Stroußberg ... ein
-Jude ... natürlich. Der soll ja bei der Bahn oben in Preußen ein großes
-Vermögen machen. Wilhelm, Wilhelm ... ich seh dich schon als Millionär!
-Nun: ~à tous seigneurs, tous honneurs~!“
-
-Dann kam Helene herunter. Hinauf war sie gestürmt, ganz langsam schlich
-sie nun ins Zimmer, und es klang eigen kleinlaut, als sie sagte: „Ich
-bin fertig, Tante Marie.“
-
-Etwas Unsicheres, Sprunghaftes lag auch jetzt noch in ihrem Wesen. Sie
-war in den beiden Tagen, die sie in Rackow war, ihrer selbst nicht froh
-geworden.
-
-Und es war doch so schön hier. Der Oktober meinte es diesmal besonders
-gut. Wenn der Amtmann Schmidthals, der seit einem Menschenalter Rackow
-ziemlich oder ganz selbständig verwaltete, -- Graf Grucker legte,
-sobald auf die Verwaltung seitens des alten „Mistikers“ die Rede
-kam, den Akzent immer auf die erste Silbe -- wenn Schmidthals bei
-der Veranda vorüberkam und die graue Kappe von dem grauen Haar zog,
-schmunzelte er jedesmal: „So ahnen Herbst haben wir noch nie gehabbt.“
-
-Die Rackower waren Spätaufsteher. Onkel Ernst erhob sich erst gegen
-zehn Uhr aus seinem Riesenbett, und Tante Marie wurde überhaupt erst
-gegen Mittag sichtbar. Bis zur Mittagsstunde blieben die Gäste sich
-selber überlassen. Doch auch sie kamen in Rackow bald ins selige
-Faulenzen hinein. Helene aber war von Hause aus an frühes Aufstehen
-gewöhnt, denn der alte Rittmeister verlangte ihre Gegenwart bei seiner
-Morgensuppe, die unweigerlich aus Brotschnittchen mit heißem Wasser
-aufgebrüht bestand.
-
-So war sie auch hier schon gegen sieben Uhr am Frühstückstisch auf der
-Veranda.
-
-Gestern hatte sie den Herrlichkeiten dieses Rackower Frühstückstisches
-ganz allein gegenübergesessen: der großen silbernen Kaffeemaschine, dem
-silbernen Brotröster, den vielen kalten Platten. Allein mit Höhne, dem
-Leibdiener Onkel Ernsts, der geräuschlos seines Amtes waltete, immer
-mit einer diskreten Gönnermiene, wie man sie armen Verwandten gegenüber
-hat.
-
-Heut erschien, zu ihrer Überraschung, fast gleichzeitig mit ihr der
-Neuchateller: Leutnant de Merivaux von den Gardeschützen. In hohen
-Stiefeln, mit der Jagdjoppe; das frische Gesicht zartrosig, trotz
-des eben überstandenen Manövers, den kleinen Schnurrbart lustig
-aufgedreht. Lustig war das ganze Kerlchen. Kerlchen -- pardon! --
-nein: der schlanke junge Herr. Aber lustig war er doch, mit seinen
-leuchtenden blauen Augen und dem gegen alle militärische Vorschrift
-kurz geschorenen schwarzen Haar, mit seinen raschen Bewegungen und dem
-leisen Radebrechen in der Sprache, von dem man nie recht wußte, war es
-echt, war es ein wenig gemacht.
-
-„~Bonjour~, gnädiges Fräulein!“ rief er gleich und streckte ihr
-beide Hände entgegen. „Ein so schöner Morgen, ein wonniger Morgen.
-Wie kann man nur so lange liegen in den Federn, wenn die Sonne so
-wunderschön scheint und Fräulein von ’ackentin auf der Veranda sitzt.
-Oh, was sind das hier für faule Menschen.“
-
-Dann saß er auch schon. „Mein lieber ’öhne, eine Tasse Mokka. Aber
-recht stark. So ... und recht viel Milch. Danke: Milch, keine Sahne.
-Mein gnädiges Fräulein, und Sie schmieren mir ein Brot. Ah ... hier
-bekommt man doch richtiges weißes Brot ... Semmel ... nicht immer
-~pain bis~. Ich kann nicht vertragen dies schwarze Brot. Ich hab
-so ein gar sehr schwachen Magen ... ein Magen wie ein schwächliches
-Kind.“ Wobei er sich eine Scheibe Schinken auf den Teller legte, die
-für zwei starke Männer ausgereicht hätte. „~Grand merci~, gnädiges
-Fräulein. ~Je vous en fais mes remerciments!~ Sie sind sehr gütig.
-Noch ein Ei, ~mon chèr~ ’öhne ... bitte sehr ...“
-
-Man konnte ihm nicht böse sein. Eigentlich wäre sie lieber allein
-geblieben wie gestern, diese einzig ruhige Stunde in dem geräuschvollen
-Rackower Leben. Aber mit den Wölfen mußte man nun einmal heulen.
-
-Er trank seinen Kaffee in ganz kleinen Schlückchen, zerpflückte sein
-geliebtes ~pain blanc~, ließ seine blauen Augen leuchten, erzählte
-von Berlin und von seiner Kaserne, ganz draußen, weit draußen, fast
-bei Treptow, wo „sich die Fuchs sagen gut’ Nacht“. Und dann fragte
-er plötzlich: „Warum ’aben Sie gestern nicht wollen singen, gnädiges
-Fräulein! Wo wir doch alle so sehr gebeten ’aben.“
-
-„Ich war nicht disponiert, Herr von Merivaux.“
-
-„Ah! Das haben Sie gestern auch gesagt. Aber es ist doch nicht wahr ...“
-
-„Bitte sehr, Herr von Merivaux!“
-
-„Pardon, gnädiges Fräulein. Aber wenn eine Sängerin nicht disponiert
-ist, hört man es an ihrer Sprache. Sie sind doch nicht heiser. Werden
-Sie heut singen?“
-
-„Ich weiß es nicht. Ich glaube kaum.“
-
-„Ich ’abe nicht vergessen, wie Sie ’aben gesungen auf Soldelzig, bei
-Comte Grucker.“
-
-„Verstehen Sie denn etwas von Gesang?“
-
-„~Si peu que rien!~ Leider. Aber ich lieb’ die Musik über alles,
-und besonders hab’ ich Sie hören gern singen.“
-
-Helene mußte lachen. Es kam zu komisch heraus, wie er das sagte. Und
-dabei machte er so eigne Augen. Fast verliebte Augen. Gut, daß man
-wußte, man brauchte ihn nicht seriös zu nehmen.
-
-„Etwa so gern, wie Sie nach einem guten Diner eine Zigarre rauchen.
-Nicht wahr, Herr von Merivaux.“
-
-„Ja! Ganz gewiß. Ungefähr so. Ah, eine gute Zigarre. ~Mon cher~
-’öhne ... Sie wissen gewiß, wo der Herr Baron hat stehen seine guten
-Zigarren. Sie sehen ganz aus, als ob Sie auch rauchten gern eine gute
-Zigarre.“ Er gab dem Diener einen kleinen freundschaftlichen Klaps.
-„Also wie eine sehr, sehr gute Zigarre, gnädiges Fräulein. ~Mais, mon
-dieu~, ... Sie dürfen das nicht übelnehmen.“
-
-„Ich denke gar nicht daran. Ich fühle mich sogar sehr geehrt!“
-
-Höhne hatte inzwischen wirklich eine Kiste Importen gebracht. Merivaux
-zündete sich umständlich eine Zigarre an, und tat liebevoll den ersten
-Zug. „Bei einer guten Zigarre kommen immer gute Gedanken. Bei Ihrem
-Gesang, gnädiges Fräulein, denk ich, kann man auch nur ’aben gute
-Gedanken. Als Sie in Sodelzig haben gesungen das Lied von der Baronin
-Rothschild -- ‚~si vous n’avez rien à me dire~‘ -- hab ich immerzu
-denken müssen an meine liebe Heimat, an unsere schönen Berge, an den
-blauen See ... ja ... und an meine gute ~maman~ ...“
-
-Er war aufgestanden. Er blies schnell hintereinander ein paar
-kunstvolle Ringe und lachte: der erste Ring hatte sich zur Decke
-erhoben, war langsam gesunken und lag nun, für einen Augenblick, gleich
-einem Kränzlein just um Helenens weißes Morgenhäubchen.
-
-Merivaux lachte, sah auf sie herab, und sie wurde böse: „Was lachen Sie
-eigentlich, Herr von Merivaux! Über mich?“
-
-Da sagte er: „Schade ... nämlich, er ist jetzt fort. Ja so,
-gnädiges Fräulein, Sie wissen ja nichts davon. Ich hatte Ihnen
-eine ~auréole~ aufgesetzt ... aus Tabaksrauch ... und ist
-ein Sonnenstrahl dazu gekommen. Wenn Sie wüßten, wie scharmant das
-ausgesehen ’at!“
-
-Unwillkürlich faßte sie nach dem Haar.
-
-Aber er schüttelte den Kopf. „Nein, nun ist das fort: ~auréole~
-und Sonnenstrahl. Aber ... scharmant sieht das immer noch aus ... das
-...“
-
-Ein wenig verwirrt war sie doch, ein wenig verlegen. „Was Sie immer für
-törichtes Zeug reden, Herr von Merivaux!“
-
-„Ich? Aber nein doch ... Sind Sie fertig mit dem Dejeuner, gnädiges
-Fräulein? Wollen wir ein wenig in den Garten?“
-
-Sie war schon aufgestanden und nickte.
-
-Langsam schritten sie die kleine Treppe hinunter.
-
-Frau Marie war eine Gartenkünstlerin. Sie hatte eine Wüstenei
-vorgefunden und ein kleines Paradies geschaffen. Vor dem Hause lag
-ein großes Rosenparterre; gutgehaltene, kurzgeschorene, manneshohe
-Taxushecken schlossen es seitlich ab; breite Einschnitte, die gewölbten
-grünen Toren glichen, führten von hier in den eigentlichen Park, der
-sich weit hinzog und allmählich in Wiesen und Waldpartien überging.
-Nicht so ausgedehnt war das Ganze, wie der Park von Muskau, den der
-Graf Pückler angelegt hatte, aber einzelne Teile konnten an Schönheit
-doch mit dem Meisterwerk des alten Semilasso wetteifern.
-
-Man war stolz im ganzen Kreise auf den Park von Rackow, und auch Helene
-war es. Sie führte Merivaux von einem Ausblick zum andern; an dem
-Borkenhäuschen vorüber, in dem im Hochsommer meist der Kaffee genommen
-wurde, zum schilfumstandenen Teich; von dort zur Höhe, von der man die
-schönste Aussicht auf das Dorf Rackow hatte und darüber hinweg zu dem
-Hügelzuge, an dem Rohlbeck lag.
-
-„Da, sehen Sie, Herr von Merivaux. Da bin ich zu Hause ...“
-
-Indem sie das sagte, fühlte sie: es war wirklich schön. Der
-Herbstzauber ruhte auf dem Landschaftsbilde; die Sonne malte ihre
-farbigen Reflexe; das Dörfchen unten mit dem hohen altersgrauen
-Kirchturm war wie eingebettet in Grün, Rot und Gold; weite Felder
-dann, und dahinter der Höhenzug mit den festgeschlossenen geradlinigen
-dunklen Kieferforsten.
-
-Aufmerksam schaute der junge Offizier in die Weite. Eine Weile schwieg
-er. Aber dann begann er von seiner Heimat zu sprechen, von dem ewig
-blauen See, von ragenden Felsen, von schneegekrönten Häuptern. Er
-sprach von den Weinhängen, auf denen jetzt die feurigen Trauben
-reiften, von der üppigen Vegetation am Gestade des Neuchateller
-Sees mit den Wäldern von echten Kastanien, von den Magnolien und
-Mandelbäumen im Garten von Schloß Merivaux.
-
-Er konnte also auch ernst sprechen. Sieh einmal an. Ernst und schön.
-Sie mußte das zugeben. Aber es reizte sie. Sie, die sich immer in
-die Weite sehnte, lehnte sich plötzlich dagegen auf, daß man ihr die
-Schönheit der Fremde rühmte, wo sie die Schönheit der eigenen Heimat
-gelobt wissen wollte.
-
-„Warum sagen Sie mir das alles?“ fragte sie scharf dazwischen.
-
-„Weil ich wohl möchte, daß Sie es kennen lernten, gnädiges Fräulein.“
-
-„So finden Sie es schöner ... schöner als bei uns?“
-
-Er lächelte überlegen. „Das hier ist wie eine Oase. Aber sonst, ~mon
-dieu~ ... nicht so böse Augen machen, bitte ... sonst ist die Mark
-Brandenbourg ein armes Land.“
-
-„Warum sind Sie denn aber hergekommen?“
-
-„Oh ... warum? Wie können Sie fragen? Weil wir sind Royalisten. Man hat
-uns geknechtet daheim, die Demagogen haben gesiegt. Aber wir ’alten
-treu zu unserem Fürsten, zu unserem König. Wir wollen ihm weiterdienen.
-~Vive le roi!~“
-
-Sie waren weitergegangen, den breiten Weg zurück. Jetzt blieb Merivaux
-plötzlich stehen. Er griff mit einer seiner heftigen Bewegungen in die
-Fliederbüsche, knickte ein paar Zweiglein. „Mein Vater haben sie in
-~prison~ geworfen, die Revolutionäre, als der Aufstand kam. Dann
-hat uns Preußen im Stich gelassen ... Politik ... Politik ... was weiß
-ich. Aber wir bleiben treu ... treu bis zum Tod. Verstehen Sie das,
-gnädiges Fräulein?“
-
-Helene nickte. Sie fühlte: das war jetzt nicht mehr der kleine lustige
-Leutnant, der zu ihr sprach. Es war ein Mann, der einer Überzeugung
-diente. Es stieg heiß in ihr auf. Sie begriff vielleicht nicht ganz.
-Aber sie empfand: ein Mann, der seine schöne Heimat verläßt, die er
-über alles liebt, um in der Fremde dem Herrscher mit Blut und Leben zu
-dienen, dem die Vasallentreue gebührte! Alles um der Treue willen!
-
-Wieder gingen sie ein Stück weiter, schweigend nun.
-
-Da kam ihnen bei der Wegbiegung Herr Schwarz entgegen. Im langen
-braunen Rock, auf dem Kopf ein winziges Hütchen, in der Hand einen
-leichten Stock mit goldener Krücke, um den hohen Hemdkragen ein
-seidenes Cachenez.
-
-Helene sah ihn -- und mit einem Male fühlte sie, jäh erschreckend, wie
-plötzlich all die Sympathie für den jungen, frischen Menschen neben
-ihr verblich, wie sich all ihre Gedanken widerstrebend dem Sänger
-zuwandten. Dabei trotzte es in ihr auf: ich will nichts von ihm wissen,
-ich will nicht -- will nicht! Und sie straffte sich, setzte ihre
-hochmütigste Miene auf.
-
-Herr Schwarz ignorierte beides: die kühle Gleichgültigkeit in dem
-schönen Mädchengesicht und Abwehr und Verdruß in den Zügen des jungen
-Offiziers. Der hatte sich schnell eine Gerte aus dem Busch gebrochen
-und schwippte damit durch die Luft, schlug sich an die Stiefelschäfte.
-
-Vollständig fast ignorierte Herr Schwarz den Neuchateller; gerade
-nur die notwendigste Höflichkeit lag in seinem Gruß. Er wandte sich
-ausschließlich an Helene.
-
-„Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen? Aber was frage ich! Ich
-bin ja nicht mit Blindheit geschlagen.“
-
-„Fragen Sie doch lieber. Oder soll ich Ihnen sagen: Fräulein von
-Hackentin ’at mir gerad eben gesagt, daß sie ist stock’eiser.
-Stock’eiser, Monsieur Schwarz --“
-
-Der Sänger lachte. „Dann wird das gnädige Fräulein einen Scherz gemacht
-haben. Als ich vor einer Stunde etwa mein Fenster öffnete, hörte ich
-ein paar halblaute Töne, eine Kadenz nur ... unter mir mußte man auch
-das Fenster aufgetan haben -- nun, kurz und gut, ich wußte sofort, daß
-diese Stimme nur die von Fräulein von Hackentin sein konnte. Ich wußte,
-heut ist das gnädige Fräulein nicht mehr indisponiert, heut wird sie
-singen.“
-
-„Sie wird nicht singen --“ sagte Helene und setzte den Kopf noch
-gerader auf den Nacken.
-
-Er nahm seinen Stock zwischen beide Hände vor die Brust, daß die
-goldene Krücke unter das Kinn zu liegen kam, lächelte wieder, überlegen
-und fast ein wenig ironisch: „Sie wird doch singen, wenn der Kollege
-sehr bittet.“
-
-„Der Kollege? Welcher Kollege, Herr Schwarz?“
-
-„Nur meine Wenigkeit, gnädiges Fräulein. Sie müssen das Wort schon mit
-in den Kauf nehmen: wir huldigen ja derselben Kunst, der göttlichen
-...“ Plötzlich brach er ab. „Ist das nicht übrigens ein wonniger
-Oktobermorgen? So warm wie im Hochsommer.“
-
-Merivaux machte eine Bewegung mit dem Zeigefinger um den Hals: „Aber
-Sie ’aben gepummelt das Cachenez um die Kehle.“
-
-„Vorsicht ist zu allen guten Dingen nutze, Herr Leutnant. Diese ‚Kehle‘
-hier aber ist ein gut Ding. Nicht für mich nur, sondern für die Welt,
-in der man den ~bel canto~ zu schätzen weiß.“
-
-Sie waren weitergegangen und standen vor dem kleinen chinesischen
-Pavillon, der die Fernsicht nach der anderen Seite bot: nicht auf
-Rohlbeck, sondern nach Stellberg hin. Fast das gleiche Bild, nur daß
-das Dorf im Vordergrunde fehlte. Und da sagte Schwarz: „Wie schön doch
-diese Mark Brandenburg ist. Ich hätte es nie für möglich gehalten. Man
-hatte mir so viel erzählt von ihrem öden Sande, daß ich in eine Wüste
-zu kommen fürchtete. Aber nun kann ich mich gar nicht satt sehen an
-diesen weiten Blicken auf die geraden schlichten Linien der Landschaft.
-Ich kenne doch ein großes Stück Welt, kenne romantischere, äußerlich
-reizvollere Gegenden. So gepackt aber hat’s mich selten wie hier. Wie
-das alles zusammenstimmt: Landschaft und Menschen. Alles so offen, so
-einfach, ohne Kompliziertheit, immer zum Herzen sprechend. Sprechend?
-Nein, klingend, tönend. Man muß es lieben, beides, Land und Leute.“
-
-Helene schwieg, trotzdem er zu ihr sprach. Nur zu ihr. Sie wollte nicht
-antworten. Aber hindern konnte sie doch nicht, daß sich die Worte
-wieder in ihre Seele schmeichelten, die Worte und der Klang dieser
-Stimme.
-
-„Ist doch ein armselig Land!“ sagte Merivaux dazwischen. Wie aus Trotz
-heraus.
-
-„Wie Sie das nur behaupten können! Es gibt gewiß reichere Erdenflecken.
-Länder, in denen wirklich Milch und Honig fließt, Gegenden, die auch
-auf das äußere Auge stärker wirken. Die Mark spricht, für mich, zur
-Seele. Und nun die Menschen! Merkwürdige Menschen. Schlendere ich
-gestern abend durch das Dorf. Ganz allein. An einem Zaun steht ein
-alter Bauer, ich fang ein Gespräch mit ihm an. Wortkarg gibt er Rede
-und Antwort. Und dann hat er -- ich sprach vom Wetter -- fast genau
-Hamlets Wort: es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...“
-
-Merivaux schlug sich wieder mit seiner Gerte auf den Stiefelschaft, daß
-es klatschte: „Da ’aben Sie dazu gedichtert, Monsieur Schwarz. Einfach
-hineingedichtert. Der Bauer ist Bauer, und Bauer bleibt Bauer.“
-
-Der Sänger zog die Achseln hoch und sah zu Helene hinüber, als
-erwartete er einen Einwurf, eine Parteinahme für sich. Aber die blieb
-aus. Ihre Gedanken waren eine andere Straße gezogen. In ihr klangen nur
-seine Worte über das Landschaftsbild. Zuerst hatte sie sich darüber
-gefreut, gerade weil sie im Gegensatz zu Merivaux’ Urteil standen. Nun
-schienen sie ihr doch ein wenig phrasenhaft, ein wenig gekünstelt. Was
-hatte der Neuchateller eben gesagt? Hineingedichtert ...
-
-Da sagte Schwarz, und sie horchte wieder auf seine weiche,
-einschmeichelnde Stimme: „Wir wollen nicht streiten. Der Morgen ist
-wirklich zu schön dazu. Kommen wir nicht auf diesem Wege zur Fasanerie,
-gnädiges Fräulein?“
-
-Sie nickte, und sie gingen weiter.
-
-Erst zu dreien, dann blieb Merivaux ein paar Schritte zurück. Einmal
-sah sie sich nach ihm um; flüchtig, eigentlich nur aus Höflichkeit,
-als Verwandte des Hauses, dessen Gast auch er war. Aber er stand an
-den Büschen, hatte die Zweige auseinandergebogen, spähte vielleicht
-nach einem Vogelnest. Das mochte ihn mehr interessieren als alles, was
-der Russe -- immer noch nannte sie ihn in Gedanken so -- erzählte. Der
-hatte schnell wieder den Übergang gefunden vom märkischen Bauer zur
-großen Welt. Aus der Enge in die Weite, schien es ihr. Er sprach von
-Petersburg, von Paris, von Wien, vom geselligen Leben, vom Theater. Es
-war ihr so fremd, es war ihr so neu -- fast alles, was er sagte. Man
-mochte wollen oder nicht: man mußte lauschen. Auch dem, was er über
-sich einfließen ließ: von dem unwiderstehlichen Drang, der ihn, den
-Sohn eines Bergwerkdirektors, zur Kunst getrieben hätte; wie er schon
-auf dem Gymnasium durch seine Stimme Aufsehen erregt, welche Kämpfe er
-zu durchringen gehabt, wie dann das Glück über ihn gekommen wäre. Und
-nun sei er auf der Höhe --
-
-„Auf der Höhe ... ja ... und doch nimmer befriedigt ...“
-
-Es klang so weich, es klang so schmerzlich: nimmer befriedigt.
-
-Ein Geständnis war es. Es schlug eine Saite in ihrer eigenen Seele an.
-Sie +mußte+ fragen: „Nimmer befriedigt? Sie? Und warum?“ Ganz
-zögernd nur, scheu kam das letzte Wort.
-
-„Ja ... warum? Wer kann das eigentlich sagen? Da ist der heiße Wunsch,
-immer Reiferes, immer Vollkommneres zu leisten, das große Streben, das
-den Künstler bis zum letzten Atemzuge nicht verlassen darf. Und daneben
-steht die unendliche Leere.“
-
-Es zwang sie, ihn anzusehen. Fast schien es, als glänzten seine Augen
-feucht.
-
-Sie schüttelte zaghaft den Kopf. „Die Leere?“
-
-„So ist es, mein gnädiges Fräulein. Nicht anders. Streben und
-Beifallslohn ... wunderbar schön sind sie, bezaubernd, berauschend.
-Aber der Rausch verfliegt, der Zauber erlischt. Es bleibt nur der
-graue Alltag, in den keine Sonne hineinleuchtet. Manchmal glaubt man
-freilich, einen freundlichen Sonnenstrahl festhalten zu können ... aber
-...“
-
-Er brach ab.
-
-Schweigend gingen sie noch ein paar Schritte weiter, blieben dann
-stehen. Helene war’s, als stockte ihr der Atem.
-
-Da fragte er: „Werden Sie heut singen?“
-
-Sie neigte den Kopf, ohne ein Wort. Aber es war doch eine Bejahung.
-
-Und dann war mit einem Male Merivaux neben ihnen und noch ein anderer,
-den er unterwegs aufgelesen haben mußte.
-
-Merivaux hatte wieder ein fröhliches Lachen, das ihr geradezu weh tat
-in diesem Augenblick. „Also, Monsieur Schwarz, also hier ’ab ich einen
-ganz Sachverständigen. Also, Monsieur Smithals, also was ’alten Sie von
-die märkischen Bauer?“
-
-Worauf der stämmige Alte auch lachte: „Unse Pauern? Verfluchtigte
-Sakarmenter sind’s, Herr Leutnant.“
-
- * *
- *
-
-Helene war unter den Fröhlichen sehr still gewesen.
-
-Man war bei Tisch immer fröhlich in Rackow. Die Tafelrunde hatte
-hier ihre besondere Weihe. Onkel Ernst war ein Schlemmer. Er nannte
-sich einen Gourmet, aber er war beides: Gourmet und Gourmand; er aß
-möglichst erlesen und aß -- wie ein Scheunendrescher. Wenn er am
-eigenen Tisch vor seinem berühmten ovalen Ausschnitt präsidierte, in
-den sein Bäuchelchen gerade hineinpaßte, glänzte sein Gesicht vor
-Behagen und Wonne: „Nun, Mariechen, was gibt’s denn heut?“ fragte
-er noch vor der Suppe, obwohl er das Menü schon vorher mit Monsieur
-Bombourdan, dem Chef, eingehend erwogen hatte. Und Tante Marie, die
-selber aß wie ein Piepmatz, aber noch eine weit feinere Zunge hatte als
-der Rackower, lächelte gnädig: „Du wirst schon zufrieden sein.“ Dann
-sah Onkel Ernst regelmäßig unter seinem Monokel „um die Ecke“, musterte
-der Reihe nach seine Gäste und freute sich, wenn er auch bei ihnen
-einiges Verständnis erhoffen konnte.
-
-Heut mochte das angehen. Die Rohlbecker waren heraufgekommen. Die
-Rohlbecker Damen -- mit denen war zwar in bezug auf kulinarische
-Genüsse nicht viel anzufangen; der alte Rittmeister würdigte eigentlich
-nur eine Delikatesse, im Juni den Matjeshering, von dem er sich
-regelmäßig einmal im Jahr ein kleines Tönnchen aus Hamburg kommen ließ.
-Aber Wilhelm Hackentin hatte sich in Berlin neuerdings zu einem kleinen
-Schlecker ausgebildet, der eine Holsteiner Auster von einer Native mit
-geschlossenen Augen zu unterscheiden wußte. Der lustige Merivaux kannte
-sich auch aus; französisches Blut! Neulich hatte der davon gesprochen,
-daß man Hammelkoteletten eigentlich nur in einer Pfanne braten sollte,
-die mit einer Zwiebel ganz, ganz leicht ausgestrichen wäre -- „grad
-nur ein ’auch“. Nicht übel. Und Alfred Schwarz war geradezu ein Mann
-nach Onkel Ernsts Herzen. Das Bürschlein hatte schon in Ems eine Zunge
-bewiesen, die der Nachbarschaft seiner berühmten Stimmbänder nichts
-nachgab. Eine Bordeauxzunge, die Lage und Jahrgang geradezu erstaunlich
-zu beurteilen wußte, im Handumdrehen, und die auch beim Champagner
-nicht versagte. Petersburger Schule, so lächerlich das war. Das Volk
-soff Wuttki, Wuttki und nochmals Wuttki, aber dafür aßen und tranken
-die oberen Zehntausend desto besser.
-
-Man war wie immer sehr fröhlich am Rackower Tisch.
-
-Nicht laut indessen. Selbst die heitersten Scherzworte flogen in
-gedämpftem Ton herüber und hinüber. Gerade, daß die kleine, mollig
-runde Grete Waldegg, die Tochter vom Stockschen Oberstleutnant,
-manchmal aufkicherte, wenn ihr Tischherr, der rote Fritze Hackentin,
-ein bissel mit ihr zu schäkern versuchte.
-
-Helene war unter den Fröhlichen sehr still.
-
-Merivaux hatte sie geführt und gab sich umsonst redlichste Mühe, ein
-Lächeln auf dem heut so eigen ernsten Gesicht heraufzulocken. Auf ihrer
-anderen Seite saß ihr Bruder Wilhelm. Der wußte, so gesprächig er
-war, auch nichts mit ihr anzufangen. Sie saß mit gesenkten Augen und
-berührte die Speisen kaum. Nur ein Glas roten Champagners, Spezialität
-des Rackower Kellers, Marke Ruinart & Cie. in Reims -- trank sie hastig
-leer.
-
-Ihr gegenüber hatte, zwischen Martha Hackentin und Tante Marie, der
-Russe seinen Platz.
-
-Manchmal, auf den Bruchteil einer Sekunde, sah Helene zu ihm hinüber.
-Wie unter einem Zwang. So lebhaft er sich unterhielt: jedesmal trafen
-sich doch ihre Blicke. Und immer senkte Helene, erschrocken, die Augen
-wieder auf ihren Teller.
-
-Der Kaffee wurde im Damast-Salon genommen. Nicht um den großen
-runden Tisch, wie in Rohlbeck und in den anderen Gutshäusern, wo der
-Nachmittagskaffee mit „Stippe“ eine besondere Rolle spielte. Frau
-Marie wußte in ihrem roten Salon die Gäste unaufdringlich in einzelne
-Gruppen zu gliedern, Altersklassen und Interessensphären geschickt
-zusammenzuschieben.
-
-Auch ihr Salon hatte Stil. An den damastbespannten Wänden ein paar
-gute Bilder, ein Aquarell von Hildebrand mit aller Farbenpracht der
-Tropen, ein treffliches Porträt von Franz Krüger, das Onkel Ernst noch
-in seiner Jugend Maienblüte, als schlanken Jüngling, darstellte,
-ein großer Stich nach Guido Reni. Zwischen den Möbeln, wo es irgend
-anging, Blattpflanzen und blühende Blumen, die der Gärtner täglich
-erneuern mußte, und neben dem Kamin eine ziemlich große Voliere,
-hinter deren vergoldeten Stäben ein Dutzend winzig kleiner Tropenvögel
-das kurze Leben verträumte. Das kurze Leben: denn diese bunten
-Kinder einer südlicheren Sonne starben dahin wie die Fliegen, trotz
-der liebevollsten Pflege, und der Berliner Händler mußte alle paar
-Wochen Nachschub senden. War Tante Marie aber besonders in Stimmung,
-so öffnete sie die Tür der Voliere, lockte die Tierchen heraus, bis
-sie frei im Salon umherflatterten. Es gab dann immer lautes Jubeln,
-viel „Ahs“ und „Ohs“. Nur dem alten Rittmeister war die „Unzucht“
-ein Greuel. Er huldigte Frau Marie mit einem Respekt, in dem sich
-chevalereskes Wesen und derbes Landjunkertum eigen mischten. Aber
-ihre Behandlung der Tropenfremdlinge nannte er, dem sonst jede
-Humanitätsduselei weltenfern lag, Tierquälerei.
-
-Unter dem Stich nach Guido Reni stand der wunderschöne Bechsteinflügel
-in gläsernen Untersätzen auf dem dunkelroten Teppich.
-
-Helene und die mollig runde Grete Waldegg waren von der Hausfrau an dem
-Tischchen beschäftigt worden, auf dem die silberne Kaffeemaschine mit
-all ihrem Zubehör prunkte. Das war in Rackow immer das Amt der jungen
-Mädchen: sie hatten den Mokka zu bereiten, Herrn Höhne zu assistieren,
-den älteren Damen persönlich das Meißener Schälchen mit einem artigen
-Knicks zu überreichen. Tante Marie sah dem gern zu, durch die scharfen
-Gläser ihrer langstieligen Lorgnette, und manchmal gab’s nachher eine
-kleine Instruktionsstunde: „Cherie, so faßt man aber eine Tasse nicht
-an“ ... „Mignonne, vor einer Greisin könntest du dich wirklich ein
-wenig tiefer beugen“ ... „Mein liebes Kind, man macht bei solcher
-Gelegenheit kein ~air moussade~ ... lächeln mußt du, liebenswürdig
-lächeln ...“
-
-Ihr eigenes kleines spitzes Gamingesicht hatte ja meist auch solch ein
-liebenswürdiges, komplisantes Lächeln. Auch jetzt, wo sie -- nachdem
-der Kaffee genommen war -- einen Blick der Aufforderung zu Herrn
-Schwarz hinübersandte. Der stand an der Tür zur Bibliothek, der einzige
-Gast in Frack und weißer Battistbinde, mit ein paar Orden im Knopfloch,
-das Täßchen noch in der Hand. Ziemlich vereinsamt. Aber er zeigte es
-nicht, daß er sich vereinsamt fühlte. Seine Blicke waren all die Zeit
-im Zimmer umhergewandert, um schließlich immer wieder auf Helenens
-rostbraunem Haar, das in hundert winzigen Löckchen sich gegen den
-glatten Scheitel sträubte, haften zu bleiben.
-
-Er verstand den Blick der Hausherrin sofort. Vielleicht hatte er darauf
-gewartet. Ganz leicht verbeugte er sich, setzte die Schale beiseite,
-ging auf den Flügel zu, öffnete die Klaviatur. Höhne eilte diensteifrig
-herbei, schob den Stuhl zurecht.
-
-Helene hatte sich mit Molly und Bruder Fritz ins Schmollwinkelchen
-neben der Voliere geflüchtet. Ganz tief zurückgelehnt saß sie, hatte
-die Hände im Schoß verschränkt. Und um ihre roten Lippen spielte ein
-etwas spöttischer Zug. Sie fand, daß der Russe keine gute Figur machte.
-Es war immer wie eine Pose; sein Stehen an der Tür, sein gleitendes
-Schreiten, die Art, wie er jetzt am Flügel Platz nahm, einen Moment
-nachzusinnen schien. Eine kleine Schadenfreude war in ihr und doch auch
-eine große Erwartung.
-
-Doch nun klangen die ersten Töne auf. Schwarz schlug ein paar Akkorde
-an, dann setzte er ein.
-
-Er sang die große Arie aus „Zar und Zimmermann“: „Einst spielt ich mit
-Zepter und Krone und Stern ...“
-
-Es wurde still im Raum.
-
-Der spöttelnde Zug erlosch in Helenens Gesicht. Es spannte sich. Sie
-richtete sich auf, und dann beugte sich ihr schlanker Körper mehr und
-mehr nach vorn. Und die Hände hoben sich aus dem Schoß, preßten sich
-gegen die Brust, eng verschlungen.
-
-Großer Gott ... war das denn möglich? Gab es das? Solch eine Stimme!
-Solchen Wohlklang, solche Kraft ... und solche Kunst! Eine Himmelsgabe,
-köstlich und wunderbar, gemeistert in edelster Schule! Ein Vortrag, der
-aus tiefstem Empfinden kommen mußte, der zu dem Herzen sprach, daß es
-jubeln mußte. Nein, nicht jubeln: stumm lauschen, stumm genießen, in
-Demut genießen!
-
-Gleich Perlen auf Goldschnur gereiht, so war es, Ton auf Ton. Klar,
-rein ... erhaben ... groß ... herrlich!
-
-Sie dachte nur: der erste wahrhafte Künstler, den du hörst. Welch eine
-Gnade ...
-
-Der letzte Ton verklang.
-
-Der Beifall brach los.
-
-Sie hörte ihn kaum. Sie sah nicht, wie Vater klatschte, wie selbst die
-stille Martha die Hände rührte. Sah nicht, wie Ernst Hackentin sein
-Bäuchlein trommelte; nicht, wie der Garde-Schütze, der neben Wilhelm
-hinter dem Stuhl der Mutter stand, die Hände hob, um sie dann gleich
-sinken zu lassen. Sah auch nicht, wie Tante Marie quer durch den Saal
-schwebte, trippelnd, raschelnd und lächelnd, am Flügel stehenblieb, dem
-Sänger zuflüsterte.
-
-Tief in Träumen befangen saß Helene. In Träumen, die vor ihr die
-Pforten einer neuen Welt weit auftaten ...
-
-Dann horchte sie doch auf, erschreckt zuerst.
-
-Von neuem hob es an. Sie fühlte sogleich, daß eine andere Hand den
-Flügel meisterte. Als sie den Blick hob, sah sie, daß Tante Marie vor
-dem Instrument saß, daß der Russe neben ihr stand.
-
-„Letzte Rose“ sang er.
-
- „Letzte Rose ... o wie einsam magst du hier verblühen ...
- Deine andern freundlichen schönen Schwestern sind ja längst, ja
- längst dahin ...“
-
-Es war anders als vorhin. Vielleicht war es noch schöner. Seine Stimme
-klang gleich kräftig, aber weicher, einschmeichelnder. Wie ein ewiges
-Locken war es, ein süßes, verführerisches Bitten, Flehen, Werben ...
-
-Wieder saß sie weit vornübergebeugt, die Hände gegen die hochatmende
-Brust gepreßt. Und nun die Augen auf ihn gerichtet. Sie sah nur
-sein Profil, die scharf geschnittenen Linien des schönen Gesichts.
-Gleich einer Silhouette hob sich das ab von dem Hintergrund der roten
-Damasttapete, hell beleuchtet von den vielen Kerzen des Kronleuchters.
-Die kleine Gestalt von Tante Marie war nur wie ein helles Fleckchen vor
-dem Flügel. Über ihr Köpfchen blickte er hinweg auf die Notenblätter.
-Zwei -- dreimal griff seine Hand nach vorn, um sie zu wenden.
-
-Dann plötzlich, ganz zuletzt, wandte er den Kopf. Sein Blick streifte
-durch den Raum, wie suchend, blieb auf Helene haften. Ein Lächeln kam
-zu ihr hinüber: war’s recht so? Ein siegesgewisses Lächeln: nicht wahr
-... es ist schön gewesen!
-
-Noch eine glänzende Perlenkette von Tönen, sieghaft wie jenes Lächeln,
-mühelos quellend wie im Triumph des großen Könnens. Und er schwieg.
-
-Wieder der starke Beifall. Ganz leicht neigte er den Kopf zum Dank.
-Vater, Wilhelm waren schon neben ihm, schüttelten ihm die Hand, Onkel
-Ernst hob sich aus seinem Sorgenstuhl, rollte sich zum Flügel. Tante
-Marie hatte den Drehsessel umgewendet, lachte zu ihm in die Höhe.
-
-Aber plötzlich löste er sich aus der Plaudergruppe. Mit raschen
-Schritten ging er quer durch das Zimmer, blieb vor Helene stehen und
-bat, ehe sie noch recht zur Besinnung kommen konnte: „Jetzt werden Sie
-singen, gnädiges Fräulein!“ Bat -- und es war doch fast wie ein Befehl.
-Sie schrak heftig zusammen, aber sie stand auf. Schüttelte den Kopf,
-hob die Hände zur Abwehr. So stark war sie erschrocken, daß sie nicht
-sprechen konnte. Nicht einmal das eine: ‚Jetzt -- nimmermehr.‘
-
-„Darf ich Sie zum Flügel führen?“ hörte sie seine Stimme. Und zugleich
-neben sich ein leises, etwas spöttisches Kichern der molligen
-rundlichen Molly. Es klang ihr auch wie: ‚Jetzt singen ... wie sollte
-die Lene das riskieren.‘ Aber es peitschte ihren Trotz auf. Sie legte
-mit einem plötzlichen Entschluß ihre Hand in seinen Arm, ging ein paar
-Schritte, blieb dann doch wieder stehen: „Ich kann jetzt nicht singen
-... nach Ihnen!“
-
-„Gnädiges Fräulein ...“
-
-Sie standen mitten im Zimmer, gerade unter dem Kronleuchter, und nun
-nicht mehr allein. Tante Marie war herangetreten: „Aber, Mignonne!“
-Vater kam und erklärte im Rittmeisterton: „Ziere dich nicht. Das ist
-ridicül. Das heißt: Sing, so gut du kannst. Mehr verlangt keiner.“
-
-‚Ich kann nicht --‘ wollte sie noch einmal sagen. Aber sie fühlte sich
-von Schwarz unwiderstehlich weitergezogen, mit einem ganz sachten
-Druck seines Armes, stand schon am Flügel und wußte gar nicht, wie sie
-dorthin gekommen war.
-
-„Was werden Sie uns singen?“ fragte Schwarz. Und zum dritten Male
-wollte sie entgegnen: ‚Gar nicht singen will ich‘ und hatte doch schon
-die Hand nach dem Notenschränkchen neben dem Instrument ausgestreckt.
-Er griff gleichzeitig zu. Die Blätter raschelten. Auf einen Augenblick
-berührte ihre heiße Stirn fast seine Wange. Wieder schrak sie zusammen,
-richtete sich hastig auf, schüttelte den Kopf. Wortlos ...
-
-‚Warum quälen sie mich!‘ schrie es in ihr. ‚Warum quälen sie mich? Ich
-kann ja doch gar nichts. Kann ja nicht singen ... hier nicht ... heut
-nicht ...‘
-
-„Mendelssohn liegt Ihnen gewiß, gnädiges Fräulein?“
-
-Er hatte ein Blatt herausgesucht, wies es ihr hin. Und in heller
-Verzweiflung neigte sie den Kopf.
-
-„Soll ich akkompagnieren?“
-
-Endlich fand sie die Sprache wieder: „Nein -- nein! Ich begleite mich
-immer selber ...“ Der Gedanke, hinter ihm zu stehen, ihm folgen zu
-müssen, war ihr unerträglich.
-
-Dann war plötzlich Bruder Wilhelm neben ihr. Sie mochte ihm leid tun.
-Er schob ihr den Stuhl zurecht, raunte ihr ein paar liebe Worte zu --
-
-Und nun saß sie, hatte die Hände auf den Tasten, sah auf das Notenblatt
-und meinte, keinen Finger rühren, keinen Ton herausbringen zu können.
-Die Stimme stickte ihr ja im Halse, die Kehle war so trocken, war wie
-zugeschnürt. Weinen hätte sie mögen.
-
-Aber mit einem Male, ganz jäh, war das alles anders.
-
-Mit einem Male kam es wie eine große Befreiung über sie. Unerklärlich,
-wie das geschah. Ganz plötzlich hatte sie das Empfinden: ‚Du mußt
-singen! Du kannst es! Du wirst es gut machen, wirst ihm beweisen, daß
-du keine elende Stümperin bist. Daß auch dir Gott die Gabe verlieh ...‘
-
-Noch sah sie wie durch einen Tränenschleier die Noten. Aber gleich
-darauf ward es helle vor ihr. Das leise, unsichere Beben der Finger,
-das sie vorhin gespürt, verschwand. Sie fühlte, wie die Stimme frei
-wurde ... ganz frei --
-
-Und so sang sie --
-
- „Wie ist Natur so hold, so gut!“
-
-Das Goethesche Lied hatte er für sie gewählt.
-
-Während sie sang, wurde sie froh. Das war ja fast immer so; aber heut
-doch anders wie sonst; eine wahre Lust, hinauszujubeln, erwachte in ihr.
-
- „Auf der Welle blinken
- Tausend schwebende Sterne,
- Weiche Nebel trinken
- Rings die türmende Ferne ...“
-
-Es war wie ein Rausch. Ein holder, beseligender, traumhafter Rausch.
-Sie fühlte wohl, daß es ihr glückte, daß sie gut sang, besser als je.
-Aber sie gab, was sie gab, doch völlig unbewußt. Die Töne quollen in
-ihr empor, ohne daß sie suchte.
-
-Und dann war alles aus. Mit dem letzten Ton entschwanden ihr Wille und
-Kraft, die Begeisterung erlosch, die Spannung der Seele ließ nach. Müd
-und matt wie ein Vögelchen, das aus Wolkenhöhen zu Boden geschmettert
-wurde, hockte sie vor dem Instrument, die Hände waren von den Tasten
-gesunken und lagen im Schoß. Sie hörte nur undeutlich den Beifall,
-dachte nur: ‚ach ... es war ja doch nichts, du kannst ja gar nichts;
-und wenn sie klatschen ... was verstehen sie!‘ Ein Schluchzen stieg auf
-in ihr. Sie biß die Zähne aufeinander, preßte die Lippen zusammen; tief
-herab glitt ihr Kopf, und die Stirn schmerzte.
-
-Mehr sollte sie singen. Die Stimmen schwirrten durcheinander. Man
-bat, machte Vorschläge: eines der Taubertschen Kinderlieder, das
-Rothschild-Liedchen: ~Si vous n’avez rien à me dire~ ...
-
-Nein! Nein! Nein!
-
-Dann stand sie jäh auf. Mit dem plötzlichen Entschluß: ‚jetzt willst du
-das letzte wissen ... sein Urteil ... und wenn es dein Todesurteil wäre
-...‘
-
-Sie wandte sich kurz um.
-
-Und da sah sie ihn. Er stand nicht in der Gruppe der Verwandten am
-Instrument. Er war zurückgetreten, lehnte wie vorhin, ehe er gesungen,
-an der Tür zur Bibliothek.
-
-Sie sah ihn und sah, daß seine Augen zu ihr herüberleuchteten. Und
-nun kam er, faßte ihre beiden Hände, unbekümmert um alle, die um sie
-waren, und sprach: „Sie werden eine große Sängerin werden! Eine von den
-ganz großen, vor denen sich Könige und Fürsten neigen. Ich preise mich
-glücklich, daß ich als Erster Ihnen das sagen darf.“
-
-
-
-
-Viertes Kapitel
-
-
-Kantor Flehr schob mit gesenktem Haupt langsam über die Dorfaue. Man
-konnte es ihm ansehen, daß er Sorgen hatte, die ganze Hucke voll, und
-zwar, trotzdem Kartoffelferien waren und die liebe Jugend ihm daher den
-Schädel nicht heiß machte.
-
-Sorgen hatte Kantor Flehr zwar eigentlich immer. Ein
-Dorfschulmeisterlein im Königreich Preußen und keine Sorgen: das gab’s
-ja einfach nicht. Gerade daß man vor dem Verhungern geschützt war --
-bei der Herde Kinder, die sich so nach und nach einfand. Recht machen
-konnte man es auch niemand: dem Herrn Patron nicht; dem Herrn Pastor
-nicht, obwohl beide noch nicht die schlimmsten waren, im Gegenteil. Den
-Bauern und Kätnern, dem lumpigsten Tagelöhner erst recht nicht. Und
-deren Ehegesponsten nun schon gar nicht. Denn im Grunde genommen: den
-Weibsen wär’s am liebsten gewesen, wenn sie ihre Rangen gar nicht in
-die Schule zu schicken brauchten, oder wenn er den Nürnberger Trichter
-besäße, um Bub und Mädel in einem einzigen Viertelstündchen- alles
-einzutrichtern, was sie fürs Leben gebrauchten. Damit besagte Rangen
-den besagten Eltern in Feld und Wirtschaft helfen könnten, von früh bis
-spät. Von der Bildung hielt das Volk verflucht wenig. Aber man selber
-hatte doch nun mal sein Pflichtgefühl und seine Ideale. Hatte man, und
-konnte, durfte man nicht preisgeben. Wenn schon das ganze Dasein immer
-wieder die elendsten Kompromisse verlangte.
-
-Sorgen also hatte Kantor Flehr eigentlich immer, und sie hatten
-ihm wohl auch die tausend Runzeln und Fältchen in das alte Gesicht
-gegraben. Aber an diese alltäglichen Sorgen gewöhnte man sich
-allgemach, wie man sich daran gewöhnt hatte, daß Quetschkartoffeln
-mit einem Brocken Speck gar kein so übles Essen waren, oder daran,
-daß man immer wieder einen Pflock zurückstecken mußte, was die eigene
-geistige Fortbildung anbetraf, oder daran, daß Goethe und Schiller nur
-an Sonntagsnachmittagen vom kleinen Bücherbord heruntergenommen werden
-konnten; auch daran, daß das alte Klavier von Jahr zu Jahr dünner im
-Ton wurde.
-
-Es mußte schon einiges Besondere zusammenkommen, wenn Kantor Flehr
-den Kopf so tief auf der Brust trug wie heute, den schmalen, langen
-Oberkörper so vornübergeneigt hielt.
-
-So war es aber auch. Der Tag verdiente drei Kreuze im Kalender.
-
-Erst hatte man vom alten Heckstein wieder einmal eine kleine Vorlesung
-entgegennehmen müssen über den Geist der „Regulative --“.
-Selbstverständlich, das wußte man ja, kam die Salbaderei dem guten
-Heckstein selber nicht recht aus dem Herzen; war ein viel zu
-aufgeklärter Mann dazu, um vom Geist dieser Regulative überhaupt
-aus Überzeugung sprechen zu können, dieser Einschnürungs- und
-Verdummungsparagraphen. Aber ein Keil drückte da eben den andern. Und
-das war schließlich dem Pastor doch wohl aus dem Herzen gekommen,
-daß er sagte: „Überhaupt, Herr Kantor, Sie sind mir zu liberal!“ Ja
-... hm ... was sollte man darauf erwidern, wenn der Alte so seinen
-gichtgekrümmten Zeigefinger hob? Zu liberal! Du mein Gottchen! Man
-hatte doch eben seine Ideale. Und wer die nicht, innerlich mindestens,
-hochzuhalten wußte in dieser Zeit, wo die Reaktion wieder mal umging,
-als ob sie die letzten paar Säulchen untergraben wollte, auf die sich
-noch die Freiheit des Staatsbürgers stützen konnte ... ja, wer sich
-seine bißchen Ideale nicht zu wahren wußte, der ging eben moralisch vor
-die Hunde. Nicht mehr Staatsbürger, sondern Staatsknecht war man
-dann ...
-
-Nun ja ... und eine Stunde darauf war der Schulze gekommen, Christian
-Lehmpuhl. Hatte wieder mal solch ein Schreiben vom Herrn Landrat,
-Hochwohlgeboren. Wenn man nur die Handschrift des hochmögenden
-allmächtigen Kreissekretärs sah, konnte einem die Galle überlaufen; es
-roch ordentlich nach Bureaukratie daraus. „Es wird darauf aufmerksam
-gemacht ...“ fing es immer an. „Wonach zu richten“ oder „Es wird mit
-Bestimmtheit erwartet ...“ schloß es. Diesmal auch. Und dazwischen
-gab’s Donner und Blitz gegen die „auf Untergrabung der Königlichen
-Autorität abzielenden Bestrebungen“; gegen die „schlechten,
-staatsfeindlichen Zeitungen“, die den „Geist der Auflehnung zu
-verbreiten suchen“; gab’s eine Lobrede auf das Kreisblatt. Das
-Kreisblatt! Das Käseblatt! Da stand nun Christian Lehmpuhl und wußte
-sich nicht Rat. Was sollte man ihm raten? Gegen den Herrn Landrat?!
-Der Wind und Wetter machen oder die Sonne scheinen lassen konnte über
-Gerechte und Ungerechte. Zumal, wo man doch genau wußte, daß die Bauern
-weder eine vernünftige Zeitung +noch+ das Kreisblatt lasen. Was
-lasen die denn überhaupt! Na ja ... schließlich war’s denn wieder auf
-aller Weisheit Schluß herausgekommen: „Da wer’ ik woll die Krakulle
-rumschicken müssen“, hatte der Schulze beschlossen. Schön ... schön:
-also morgen ging das berühmte gebogene Holzstück von Haus zu Haus, und
-daran flatterte das Schreiben des Landrats wie ein Fähnchen. Aber der
-Bauer wandte es ja doch nur rechts und drehte es links; es las keiner,
-oder wenn es einer las, verstand er’s nicht. Und das war noch das
-Beste ...
-
-Ja ... und dann war der Herr Doktor Hemming aus dem Schloß
-herübergekommen. Der Mann wußte ja eminent viel, alles was wahr
-ist; ein tüchtiger Pädagoge sollte er auch sein, und die Junker
-lernten mächtig, hieß es. Aber ein unausstehlicher Mensch blieb er
-mit seinem hochmütig-herablassenden: „Herr Kollege“. Immer klang
-das wie schneidende Ironie. Und immer hatte er gleich die Politik
-beim Wickel. Immer in seiner herausfordernden Art. „Es rührt sich
-endlich, Herr Kollege. Es rührt sich. Haben Sie das neueste Flugblatt
-des Deutschen Nationalvereins gelesen? Großzügig -- famos! Und unser
-Landtag! Da ist doch noch mal Wille und Kraft. Waldeck und Twesten
-und die anderen. Alle -- ganze Männer! Nicht wahr? Wenn die Regierung
-ihre Sache auf die Spitze treiben will, sie soll’s nur wagen. Dieser
-Ansturm des Militarismus wird am festen Willen des Volkes zerschellen,
-ist eigentlich schon zerschellt, und auch diese neue Größe, dieser
-Herr von Bismarck, wird daran nichts ändern. Sagen Sie selber, Herr
-Kollege, soll unsere Nation verbluten unter der Last der Armee? Dieses
-unproduktiven Heeres, das kein Volksheer mehr ist, sondern nur noch ein
-dynastisches Werkzeug? Wer könnte das leugnen? Glauben Sie mir nur,
-Herr Kollege, die Überzeugung wächst in immer weitere Kreise hinein,
-daß es auf diesem Wege nicht mehr weitergehen kann. Selbst in die
-Kreise des Junkertums. Fragen Sie mal bei Herrn Fritz von Hackentin an,
-wie der über die gegenwärtige Situation denkt.“
-
-Eine Viertelstunde war das so weitergegangen. Eigentlich ganz
-interessant. Man sprach ja gern mal mit einem gebildeten Mann über
-politische Dinge, wo man so ganz vereinsamt lebte. Wenn nur nicht
-dieser entsetzliche Hochmut in dem Doktor Hemming gesessen hätte.
-Sprach man denn überhaupt mit ihm? Er sprach ja allein.
-
-Ja, und dann kam’s zum Schluß: „Übrigens läßt der Rittmeister Ihnen
-sagen, Herr Kollege, daß er mit Ihnen zu reden hätte. Sie möchten doch
-gegen Mittag mal im Schloß vorsprechen.“
-
-Na ja ... und das war vielleicht das Ärgerlichste. Das dickste Ende kam
-nach. Denn der alte Rittmeister war zwar ein lieber, prächtiger Mann,
-aber gut Kirschenessen war unter Umständen mit ihm nicht. Im Grunde war
-und blieb er doch immer der Junker, der keine Überzeugung neben der
-eigenen dulden konnte. Der König von Rohlbeck! Du mein Gottchen! Ein
-armseliges Königreich. Nur daß man doch darin leben mußte, daß man es
-unmöglich mit dem alten Herrn verderben durfte. Mit ihm nicht, mit der
-Herrschaft überhaupt nicht. Es gab da doch zu viel Fäden, die man nicht
-zerreißen konnte.
-
-Was der Herr Rittmeister nur wollte? Natürlich betraf’s auch wieder die
-Politik. Man hörte das ja ordentlich im voraus: „Das heißt, Kantor, ich
-muß sagen ...“
-
-Ja, Kantor Flehr hatte heute seine dreifach gesiebten Sorgen. Das graue
-Haupt sank immer tiefer auf die schmale Brust herab, je näher er den
-beiden schwarzen Stämmen mit den Kanonenkugeln darauf kam, die den
-Eingang zum Schloßgarten flankierten.
-
-Aber dicht vor dem dräuenden Tor hatte er noch eine Begegnung. Von der
-anderen Seite kam der Großbauer Metschke, Adolf Metschke, und hielt ihn
-fest. War sonst eigentlich ein ordentlicher Mann, der Metschke, hatte
-außerdem eine prächtige Stimme, die manchmal den ganzen Kirchenchor
-zusammenhielt. Aber wen er einmal festhielt, der kam nicht so leicht
-los.
-
-„Gut, dat ik Ihnen treffe, Herr Kantohr. Ik wollt zundersch mit Ihnen
-reden. Is das denn die Wahrheit, daß se de Soldaten abschaffn wolln?“
-
-„Aber Metschke --“
-
-„Jestern ist Sie da nämlich ’n Schlosser aus Ziebinge im Krug gewesen.
-Der hat’s vertellt. Vor janz jewiß. Nu muß Se mein Willem zur Stellung.
-Sähen Se, Herr Kantohr, da mächt ik doch jerne wissen, ob’s wirklich
-seine Richtigkeit haben tut?“
-
-Flehr schüttelte den Kopf. „Metschke, woher soll ich das wissen. Man
-spricht ja so allerlei. Aber abschaffen ... ganz abschaffen ... daran
-ist nicht zu denken. Mein ich.“
-
-„Se müßten’s doch eberscht wissen, Herr Kantohr. ’s soll doch schon in
-die Blätter stehn.“
-
-„Da wird viel geschrieben, lieber Metschke.“
-
-Adolf Metschke ließ endlich den Westenknopf frei, aber er stellte
-sich dafür in Positur gerade vor den Eingang. Kraute mit dem linken
-Zeigefinger hinter dem Ohr in seinem flachsblonden Schopf, spuckte
-aus und meinte: „Dat kann woll stimmen. ’s wär ja och janz scheen,
-aber ik kann Se nich dran glauben, Herr Kantohr. Ick bin Se selwst
-Suldat ’wesen. Franzer, Se wissen schon. Na, un so was muß woll sin.
-Min Willem soll och zu de Franzer, wenn’s so bliewt. Un ’s wird woll
-so bliewn. Nämlich wie sollt das der Keenig denn machen, wenn die
-Franzosen kommen und er keine Suldaten nich hat?“
-
-Im allgemeinen beschränkte der brave Flehr sein Bildungsbemühen
-pflichtgemäß auf die Jugend; bei den Alten war, das hatte die
-Erfahrung ihn gelehrt, doch Hopfen und Malz verloren. Aber manchmal
-wandelte ihn doch das Bedürfnis an, auch ihnen gegenüber aufklärend zu
-wirken.
-
-„Ich sagte Ihnen ja schon, Metschke, an die Abschaffung der Armee denkt
-niemand im Ernst. Aber es wird wohl von Freunden des Volks erwogen, ob
-man nicht mit weniger Soldaten auskommen kann oder ob man die Soldaten
-nicht nur ganz kurze Zeit bei der Fahne behalten braucht.“
-
-Metschke kraute sich weiter hinter dem Ohr. Er sann nach. „’s wäre
-woll janz scheen so“, meinte er. „Wenn der Willem nich so lang aus de
-Wirtschaft müßte.“ Pause. „Aber, Herr Kantohr, des jeeht och nich mit
-sohne kurze Zeit. Des ist man bloß Jerede. Ik bin doch selwst beis
-Kommiß jewesen, Franzer, Herr Kantohr. Un so aus ’m Pauern, was noch
-jrün und naß hinter de Ohren is, ’n orndlichen Suldaten machen, das is
-nich so haste nicht, kannste nich. Da is der langsame Schritt und da is
-’s Jewehr un ’s Schieße un die Instruxon un so ...“
-
-Es schien, der brave Metschke hatte starke Lust, seine militärischen
-Erinnerungen noch lang auszuspinnen. Doch der Kantor wurde ungeduldig.
-Er zog die große silberne Zwiebel aus der Tasche. „Lieber Metschke, ich
-muß zum Herrn Rittmeister ...“
-
-„So ... zum ollen gnä’gen Herrn. Den sullt’ man mal fragen. Der weiß
-Bescheid. De hat die Franzosen aus’m Lande mit rausgeschmissen, un ’s
-Eiserne Kreuz hätt’ er ...“ Damit gab er endlich den Eingang frei.
-„Scheen Dank ock, Herr Kantohr ... ick meen, et jeeht nich ...“
-
-Langsam ging Flehr weiter, den geraden breiten Weg entlang, der zur
-Verandatreppe führte. Zuerst mit einem Lächeln im runzligen Gesicht und
-mit einem Kopfschütteln über diesen Bauern, über die Bauern überhaupt:
-die wurden innerlich doch nicht frei, die klebten, klebten wie an ihrer
-Scholle so an allem, was alt hergebracht war. Und wer weiß: wenn der
-Schlosser aus Ziebingen etwa wieder im Krug seine neuen Weisheiten zum
-besten gab, ob ihm dann nicht Adolf Metschke als alter Franzer das Fell
-tüchtig vollgerbte. Womit vielleicht nicht mal ein Unglück geschah.
-Denn man mochte noch so liberal denken, ... hm ... daß solche Schwätzer
-zu wühlen versuchten ... hm ... das konnte man doch nicht billigen.
-
-Allmählich erstarb das Lächeln zwischen den Runzeln und Falten, aus
-denen das zweimal wöchentlich angesetzte Rasiermesser die grauen
-Stoppeln nie ordentlich herausbekam.
-
-Was eigentlich der alte Rittmeister nur wollte?
-
-Es war so gar nicht seine Art, jemand zu sich zu bescheiden. Hochmütig
-war er wahrhaftig nicht. Er ging in die ärmste Hütte, und im
-Kantorhause hatte er oft genug, fast freundnachbarlich, vorgesprochen.
-
-Was er nur wollte?
-
-Und da saß ja auch schon die alte Gnädige an ihrem Fenster, mit
-ihrem verschleierten Blick, und nickte auf seinen Gruß ganz eigen
--- schon von weitem. Die alte Gnädige! Ja ... als man nach Rohlbeck
-gekommen war, da war sie noch jung gewesen und schön und lustig. War
-vierelang gefahren, mit dem Diener auf dem Bock. Die Zeiten hatten
-sich geändert; besser waren sie nicht geworden, auch nicht für die
-Herrschaft. Eigentlich zum Gotterbarmen. Wirklich verschwendet hatten
-die Hackentins nie, aber das schöne Vermögen zerrann ihnen doch unter
-den Händen. Wirtschaften konnten sie nicht. Freilich -- ein Armer
-klopfte auch heut noch nicht vergebens im Schloß an. Und wenn man’s
-recht überlegte: auch im Kantorhause hatten sie oft genug geholfen ...
-
-Was nur der alte Rittmeister wollte?
-
-„Herein!“
-
-Das kam ganz in Rittmeisterton aus der großen Stube.
-
-„Na, da wären wir ja also, Herr Kantor ...“
-
-Dem Rittmeister stak immer noch das „Er“ zwischen den Lippen.
-Natürlich, er wußte, das ging nicht mehr in der neuen Zeit, Anno 1862.
-Selbst zum kleinsten Kossäten mußte man „Sie“ sagen. Aber das „Sie“
-wollte bisweilen nicht recht über die Lippen, und dann kamen allerlei
-wunderliche Umschreibungen heraus.
-
-„Also, da wären wir ja, Herr Kantor“, wiederholte er. „Guten Tag auch.
-Das heißt, ob es ein guter Tag ist heut, wer will das wissen?“
-
-Er stand in der Mitte der Stube. Am Fenster saß die alte Gnädige,
-am Ofen saß Wilhelm Hackentin, und beide nickten dem Kantor zu. Der
-dienerte, wobei seine endlos lange Gestalt fast zu einem rechten Winkel
-zusammenknickte, und dann rieb er sich, verlegen wartend, die knochigen
-Hände.
-
-„Wir wollen uns lieber setzen, Herr Kantor,“ begann der Rittmeister
-wieder, blieb aber stehen, um nach einem Weilchen fortzufahren: „Aber
-warum setzt man sich denn nicht? Da ... bitte ...“
-
-Herr Flehr setzte sich wirklich; aber nur auf die Kante des nächsten
-Stuhls, und er dachte noch immer: ‚was der Rittmeister nur will?‘
-
-„Also ... nämlich ... das heißt, wir müssen ein ernstes Wort
-miteinander reden, Herr Kantor.“ Damit begann der alte Herr seine
-gewohnte Wanderung auf der Diagonale des Zimmers. Es wurde ihm
-leichter, während des Gehens zu sprechen. Auch jetzt. Freilich in
-wohlkonstruierten Sätzen kam die Rede nicht heraus:
-
-„Also ... nämlich ... das heißt, gestern in Rackow. Da war ein
-Sachverständiger, das heißt, man sagt es. Ein kaiserlich russischer
-Hofopernsänger. Das heißt, manchmal denk ich, er ist ein Luftikus. Da
-hat das gnädige Fräulein gesungen, Helene. Und der Monsieur Schwarz
-oder Weiß -- Namen kann ich nie behalten --, der hat ein großes
-Wesen davon gemacht. Mag ja auch sein ... das heißt, ich habe selber
-gefunden, Lene sang sehr schön. Aber was versteh ich davon?! Also der
-Mann hat allerlei Fladusen vorgebracht: eine unvergleichlich schöne
-Stimme, eine Wunderstimme und so, wie sie nur alle hundert Jahre
-vorkommt. Und daß es ’ne Sünde und ’ne Schande wär, wenn solch eine
-Stimme nicht an die Öffentlichkeit käme. Öffentlichkeit -- schrecklich!
-Ja ... und sie haben alle auf mich eingeredet, das heißt, der Sänger
-voran und dann die Rackower und da der Wilhelm auch, Helene müßte nach
-Berlin. Das heißt ... nämlich ... da liegt der Haken! Ihre Kunst in
-Ehren, mein lieber Kantor, aber mit der Schule, oder wie man’s nennt,
-da hapert es noch. So das Tippelchen auf ’m i. Also nach Berlin, zu
-irgendeiner ganz großen Lehrerin. In Berlin gibt’s natürlich so was.
-Was gibt’s denn am Ende in Berlin nicht? Nämlich aber: das kostet ein
-riesiges Geld. Die Berliner nehmen’s von den Lebendigen und den Toten.
-Und da ... das heißt, da möcht ich erst mal den Kantor Flehr fragen,
-auf Ehre und Gewissen, ob er nach seinen Kenntnissen meint ... das
-heißt, ob er wirklich und wahrhaftig glaubt, daß es mit der Stimme von
-dem gnädigen Fräulein so etwas ganz Besonderes auf sich hat?“
-
-Der alte Rittmeister hatte sich heiß geredet. Ganz fließend hatte er
-schließlich gesprochen, während er dreimal die Diagonale des Zimmers
-durchmaß. Jetzt erst sah er auf und zu dem Kantor hinüber. Und da stand
-er still und staunte.
-
-Es war wohl auch ein wunderliches Bild.
-
-Ruckweise, langsam hatte sich die lange Gestalt gestreckt und gehoben.
-Das Kinn zuerst, der Nacken dann; der immer gebeugte Rücken war gerade
-geworden, und nun stand der ganze Mann aufrecht da, ganz aufrecht,
-hatte die hageren Hände vor der Brust gefaltet, und aus seinen grauen
-Augen leuchtete es.
-
-Nichts sagte er als: „Lieber Gott, ich danke dir, daß ich das noch
-erlebe!“ Sagte es so rührend, daß die alte Gnädige am Fenster leise
-aufschluchzen mußte.
-
-Auch den Rittmeister mußte es wohl packen. Aber er knurrte nur ein paar
-ganz unverständliche Töne, und um seiner Bewegung Herr zu werden, fuhr
-er den Kantor an: „Das heißt, wir spielen doch hier nicht Komödie. Man
-kann doch nie auf eine klare Frage eine deutliche Antwort bekommen --
-hol’ mich der Deubel!“
-
-Sonst hätte solch ein Ton Herrn Flehr gleich aus der Kontenance
-gebracht. Diesmal nicht. Mit erhobener Stirn gab er zurück: „Ja,
-Herr Rittmeister, die sollen Sie haben. Ich bin nur ein einfacher
-Dorfschulmeister, aber von Gesang versteh ich einiges mehr als die
-meisten meiner Kollegen. Das muß wohl angeboren sein. Darum kann ich
-auch, wie der Herr Rittmeister es verlangen, auf Ehre und Gewissen
-erklären: solch eine Stimme, wie die von dem gnädigen Fräulein, mag’s
-wirklich nur alle hundert Jahre einmal geben. Das hab’ ich dem Herrn
-Pastor schon vor Jahr und Tag gesagt und hab ihn gebeten --“
-
-„Ich weiß, ich weiß“, wehrte der alte Rittmeister ab, und dann begann
-er seine Wanderung von neuem, schweigend, mit immer schnelleren
-Schritten.
-
-„-- und es ist wohl Pflicht, solch eine Gottesgabe zu schulen --“ wagte
-der Kantor noch einzuwerfen.
-
-„Pflicht! Pflicht!“ kam’s von dem Teppich herüber. „Ich weiß allein,
-was Pflicht ist. Das braucht man mir nicht zu sagen. Das heißt, ob’s
-für die Lene ein Glück ist, darauf kommt es an. Dem Mädel den Kopf
-verkeilen, ihr Rosinen in den Sinn setzen ... ja, und wenn Gott den
-Schaden besieht, wer hat etwas davon? Öffentlich auftreten -- da müßt
-ich doch vorher in der Grube liegen! Soll eine Hackentin vielleicht als
-Komödiantin auf der Bühne stehen?!“
-
-Die müde Stimme der alten Gnädigen klang dazwischen: „Solch wirklich
-ganz große Sängerin ist doch eine Ausnahme, Hackentin. Denk’ an die
-Sonntag, die eine Gräfin Rossi wurde ...“
-
-„Komödiantin bleibt Komödiantin.“
-
-„Aber Papa, es hat ja noch niemand ernstlich vom Theater
-gesprochen“, meinte Wilhelm. „Neben der Opernsängerin steht doch die
-Konzertsängerin.“
-
-„Die muß auch vor die Öffentlichkeit. Das heißt, die singt auch jedem
-Laffen für ’n preußischen Taler was vor!“
-
-Da sprach Kantor Flehr noch einmal. Er war schon wieder in sich
-zusammengesunken, aber nun richtete er sich auf, rang ein wenig mit
-sich, straffte wie den äußeren auch den inneren Menschen:
-
-„Mit Verlaub, Herr Rittmeister“, begann er, und aus seiner sonst so
-gedrückten Stimme klang ein fester, warmer Ton. „Kommt es denn so
-auf das Äußere an, darauf, ob das gnädige Fräulein später einmal, so
-oder so, fremde Menschen entzücken, begeistern soll? Das ist gewiß
-auch etwas Herrliches, aber die Hauptsache, meine ich, ist es doch
-nicht. Die Hauptsache, mein’ ich, ist, daß das gnädige Fräulein
-+für sich+ lernt. Wenn der liebe Gott einem Menschen solch eine
-Wundergabe verleiht, begnadet er ihn dadurch vor Millionen, aber er
-legt ihm auch Pflichten dafür auf. Das wollt ich vorhin schon sagen:
-die Pflicht, in der Kunst das Höchste anzustreben. Und weil das der
-Einzelne nicht immer allein kann, müssen alle, die ihn liebhaben, dabei
-mithelfen. Das hilft nun mal nichts, Herr Rittmeister -- mit Verlaub zu
-sagen. Denn wenn es nicht geschieht, verkümmert die Gottesgabe ... und
-dann verkümmert damit der ganze Mensch! Er hätte so groß werden können,
-aber er wird arm und klein. Unglücklich wird er, Herr Rittmeister ...
-und wenn ihm sonst das Leben mit allen Gütern dieser Welt überschüttet
-... er wird arm und klein und unglücklich ...“
-
-Der Rittmeister war stehengeblieben. Er sah mit hellem Staunen zu
-seinem Kantor hinüber: daß der so sprechen konnte. Die alte Gnädige
-hatte sich erhoben, kam auf ihren Mann zu, bat leise: „Papachen ...“
-
-Das Ticken der Kuckucksuhr hörte man, so still war es.
-
-Bis dann Hackentin plötzlich sagte: „Die Lene hat einen guten Anwalt an
-unserem Flehr ... hol’ mich dieser und jener.“ Er zauste einmal rechts
-und einmal links an seinem weißen Schnurrbart. „Das heißt, Herr Kantor,
-ich bin noch nicht beim Ja und Amen. Aber unglücklich ... unglücklich
-soll uns die Lene nicht werden ...“
-
-Und so kam Helene Hackentin nach Berlin. Zuerst nur, damit Frau
-Harriers-Wippern, die Herr Schwarz als die erste der Berliner
-Gesangslehrerinnen namhaft gemacht hatte, ihre Stimme prüfe. Zu mehr
-wollte sich der alte Rittmeister nicht verstehen.
-
-Wilhelm mußte sowieso wieder nach der Hauptstadt; er sollte die
-Schwester unter seine Obhut nehmen.
-
-Es war die erste größere Reise für Helene; über Frankfurt a. O. war
-sie noch nie hinausgekommen. Und diese Reise, samt allem, was mit ihr
-zusammenhing, war für sie ein so großes Ereignis, daß dadurch manch
-inneres Erleben der letzten Tage in den Hintergrund geschoben wurde.
-Wohl zitterte es in ihr nach: im Wachen und im Träumen. Sie schrak
-bisweilen mitten in ihren kleinen Reisevorbereitungen zusammen, hörte
-plötzlich wieder die weiche, klingende Stimme, hörte die leise ihr
-zugeflüsterten Worte: „Ich hab heute ja nur für +Sie+ gesungen!“
-Aber das erlosch immer wieder. Sie lächelte wohl auch darüber: es
-war ja nicht mehr als eine artige Courmacherei, wie sie gewiß in der
-großen Welt da draußen üblich war und nicht viel bedeutete. Für sie
-sicher nicht viel bedeutete. Denn sie hatte ja nun ihre Kunst. Die
-große, himmlische Kunst. Die mußte ihr alles sein. Nur die herzliche
-Dankbarkeit gegen Schwarz blieb lebendig: er hatte den Bann gebrochen,
-er hatte den Weg geöffnet und gebahnt; ohne ihn wäre sie wohl ewig in
-der Enge geblieben. Und als er ihr in Rackow zum Abschied die Hand
-gereicht, sie noch einmal mit glänzenden Augen angesehen, da hatte sie
-standgehalten, den Druck seiner Hand ehrlich erwidert, hatte für sein
-„Auf Wiedersehen!“ ein herzliches „Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen so
-sehr!“ gehabt.
-
-Ihr junges Herz strömte überhaupt über vor Dankbarkeit. Wie gut und
-lieb nun alle zu ihr waren. Wieviel Opfer für sie gebracht wurden!
-
-Die Tränen flossen beim Abschied. Aber die Augen blickten schon wieder
-hell über die Herbstlandschaft, ehe die Post noch die Stellberger
-Fichten erreicht hatte.
-
-Sie saßen allein in der Beichaise, Wilhelm und sie. Dem Bruder schien
-es ähnlich zu gehen wie ihr. Auch er, der immer ein wenig leicht am
-Wasser baute, hatte beim Abschied Frau und Kinder mit feuchten Augen
-umarmt; als die Post über die Grenze von Rohlbeck rollte, beugte er
-sich weit hinaus, sah noch einmal zurück: „Mein liebes altes Rohlbeck!“
-Dann saß er eine ganze Weile betrübt und bekümmert in seiner Ecke.
-Aber kurz vor Stellberg hatte er sich schon wieder aufgerichtet: „Nun,
-Kleinchen! So in Gedanken? Wart’ nur, was du für Augen machen wirst!“
-Er hatte fröhlich gelacht dabei und fing an, von Berlin zu erzählen.
-
-Merkwürdig schnell vergingen dabei die fünf Stunden Postfahrt. Es gab
-ja schon jetzt genug zu hören und zu sehen: bald kutschierte auf der
-Chaussee ein Bekannter vorüber und mußte mit Hallo begrüßt werden;
-bald hielt man zum Pferdewechsel auf einer Poststation, stieg aus,
-wanderte ein paar Schritte auf und ab, sie immer zärtlich bei dem
-Bruder eingehakt, trank in Stellberg Kaffee, aß in Reppen Mittagbrot.
-Spaßhaft, wie Bruder Wilhelm überall bekannt war. Auf jeder Station
-kamen Leute zu ihm: „Nun, Herr Baron, wieder einmal nach Berlin?“ --
-„Wie gehen die Geschäfte?“ -- „Geht’s voran mit unserer Eisenbahn?“
-Und er schüttelte die Hände, gab Auskunft, lachte, lud den zu einem
-Schnäpschen und jenen zu einem Schoppen Bordeaux ein.
-
-Dann war mit einem Male die Oderbrücke da. Mächtig rauschte der Strom,
-und drüben breitete sich im Herbstsonnenlicht das Städtebild, Mauer an
-Mauer, Dach an Dach, turmüberragt.
-
-Frankfurt kannte Helene. Ein paar Male schon war sie hier gewesen,
-mit Vater oder Martha, um Einkäufe zu besorgen. Ihr war’s +die+
-Großstadt. Das Auerbachsche Kleiderstoffgeschäft erschien ihr mit
-seinen mächtigen Schaufenstern als ein Riesenhaus, und die Rasenacksche
-Konditorei hatte schon in ihren Kindheitsträumen neben Tante Hufnagel
-eine Rolle gespielt.
-
-„Kleinchen,“ meinte der Bruder, „wir haben über zwei Stunden Zeit bis
-zur Abfahrt des Zuges, und ich habe Geschäfte zu erledigen. Du kennst
-dich ja hier aus in dem Nest.“ Nest sagte er. „Kannst mich in ’ner
-Stunde in der Weinstube von Lienau abholen.“
-
-Ihr war’s ganz recht so. Auch körperlich eine Wohltat, sich die Füße
-zu vertreten nach der langen Fahrt. Und so frank und frei durch die
-Straße zu bummeln, hier stehenzubleiben und dort, in ein Schaufenster
-hineinzugucken, dies zu bewundern und das anzustaunen. Wirklich:
-sie kam sogar bei Rasenack nicht vorbei. Eine Tasse Schokolade mit
-Schlagsahne wenigstens konnte sie sich leisten. Sie war ja so reich:
-von allen Seiten hatte man ihr noch etwas in das kleine Portemonnaie
-hineingesteckt, immer der eine, ohne daß der andere etwas davon wissen
-sollte; und am letzten Tage war gar Tante Marie in Rohlbeck gewesen,
-hatte sie zur Seite genommen und ihr etwas Raschelndes in die Hand
-gedrückt. „Da, Mignonne!“ Ein Zehntalerschein war’s, als sie ihn
-nachher besah. Zehn Taler -- ein Vermögen!
-
-Knapp zur rechten Zeit kam man auf den Bahnhof. Der Breslauer Zug
-stand schon bereit, und Wilhelm Hackentin konnte gerade noch seine
-Schwester und sich in ein ziemlich überfülltes Coupé bringen. Helene
-war atemlos vom schnellen Gehen, aber auch von der Aufregung, zum
-ersten Male mit der Eisenbahn zu fahren. Sie hatte ein wenig die klare
-Besinnung verloren, der Bruder mußte sie dirigieren und schieben.
-Es läutete schon, als sie endlich saß -- und da sah sie noch, wie
-Merivaux, der Gardeschütze, auf dem Perron entlanghastete. Im ersten
-Augenblicksempfinden wollte sie ihm zurufen: „Hier ist noch ein Platz!“
-Wollte winken -- doch dann ließ sie die Hand gleich sinken und lehnte
-sich schweratmend zurück. Sie dachte: ‚Der ist böse auf dich. Schade.
-Nicht ein gutes Wort hatte er in Rackow mehr für dich. Weshalb nur? Du
-hast ihm doch nichts getan.‘
-
-Da pfiff die Lokomotive, zog an, keuchend. Eine dichte Rauch- und
-Dampfwolke fauchte an dem Fenster vorüber, ein starker Stoß kam, ein
-rasselnder Ruck und noch einer. Helene griff erschrocken nach der Hand
-des Bruders: war ein Unglück geschehen? Doch der lächelte, hatte schon
-sein Zigarrenetui aus der Tasche gezogen. Und dann begann ein Gleiten,
-gleichmäßig, wie in immer neu atemholendem Rhythmus; draußen flogen die
-letzten Häuser vorüber, und die ersten Bäume tauchten auf, verschwanden
-wieder; da war noch ein Fabrikschornstein in der Ferne, kam näher,
-näher, jetzt stand er fast vor dem Fenster -- nun lag er schon weit
-zurück; eine Schar Krähen flatterte auf und zerstob; auf der Straße
-drüben trabte ein Pferd wie im Versuch des Wettlaufs, wurde im Nu
-überholt, wurde kleiner und immer kleiner, war nur noch ein schwarzer
-Punkt und nun nicht mehr zu sehen.
-
-Weit vornübergebeugt saß Helene und spähte auf die ewig wechselnden
-Bilder, auf ihr Kommen und Gehen, ihr Auf- und Untertauchen, lauschte
-dem Klingen der Räder auf den Schienenstößen, fuhr zusammen, wenn der
-Pfiff der Lokomotive auftönte, wie ein greller Hilfeschrei, freute
-sich, sobald wieder eins der kleinen Bahnwärterhäuschen kam mit dem
-stramm stehenden Mann davor, der sein Fähnchen wie zum Salut in der
-Hand hielt, schrak auf, als gleich rasenden Gespensterwagen, donnernd
-und polternd, ein Zug auf dem Nebengeleise vorüberbrauste.
-
-Ganz langsam nur beruhigten sich ihre Nerven, und es kam ein
-wundervolles Empfinden über sie wie in einem Traum: so also ging es aus
-der Enge in die Weite, in die große herrliche Welt da draußen. Eine
-Zaubergewalt trug sie hinaus, hinein in das Leben. Dort vorn fauchte,
-schnob der feurige Riese in ihrem Dienst, spannte seine Kräfte, daß sie
-gleich Hunderten von starken Rossen dahin jagten, nimmermüde, -- der
-gewaltige Feuerriese, der sie hinaustrug, hinauf, weiter und weiter,
-höher und immer höher, hinaus in die Welt, hinauf zum Ruhm ...
-
-Ein paar Male sah sie zu Bruder Wilhelm hinüber. Der saß in seiner
-Ecke, die Zigarre zwischen den Lippen, hatte sein Notizbuch
-vorgenommen; er mochte wohl wieder seine Geschäfte im Kopf haben.
-Da durfte sie nicht stören. Flüchtig glitt ihr Blick über die
-Mitreisenden. Wie gleichgültig die alle gegen das große Wunder waren!
-Der dicke Mann dort schlief; eine Dame drüben kramte gerade aus ihrer
-Reisetasche ein paar Butterbrote heraus, eine andere, jüngere, las in
-einem abgegriffenen Bande, schien schon bei den letzten Seiten zu sein,
-hatte einen zweiten Band bereits auf dem Schoß. Mit ihren scharfen
-Augen konnte Helene den Titel lesen. „Gutzkow, Der Zauberer von Rom“
-stand darauf. Und dann saß neben ihr ein junger Mann, der auf einer
-großen Karte, die er auf den Knien ausgebreitet hielt, herumstudierte;
-deutlich konnte sie erkennen, daß sein Zeigefinger schwarzen, starken
-Linien folgte: Berlin-Köln-Paris. Also nach Paris reiste er. Wundersam,
-wie diese Eisenbahn die Länder aneinanderzurücken schien. Und wie
-schnell das ging. Helene fiel ein, daß Mutter gelegentlich erzählt
-hatte, wie sie mit ihren Eltern im eigenen Wagen nach Karlsbad gefahren
-sei; damals, als Goethe dort zur Kur war. Vier Tage hatte die Reise
-gewährt. Jetzt brauchte man vielleicht einen Tag ...
-
-Plötzlich wurde ein unwiderstehliches Mitteilungsgefühl in ihr
-lebendig. Sie legte ihre Hand auf des Bruders Arm. „Wir fliegen ja --“
-sagte sie fast beklommen.
-
-Wilhelm ließ sein Notizbuch sinken und lachte: „Fliegen, Lene? Mit
-dem elenden Bummelzug? Ach nein. Soweit sind wir in unserem guten
-Preußen noch nicht. Aber in England --“ und er fing an, ihr vom
-englischen Eisenbahnwesen zu erzählen, von dem großen Jagdzug, der
-seit Jahresfrist dort Süd und Nord, London und Edinburg verband. Er
-erzählte von den Schnellzügen zwischen Paris und Marseille, sprach
-von Nordamerika. Überall schien er Bescheid zu wissen, und seine
-blauen Augen leuchteten dabei. „Ja, mein Kleinchen, wir leben in einer
-großen Zeit. Wir stehen aber erst im Anfang der Entwicklung. Wir
-sind vielleicht nur die Pioniere, die das Feld vorbereiten, die Saat
-aussäen, die unsere Kinder und Kindeskinder ernten sollen ...“
-
-Er sprach lange und sprach gut. Alles verstand sie freilich nicht. Aber
-ihr Respekt vor dem Bruder wuchs. Nur daß sie dabei über ein leises
-Verwundern nicht hinauskam: zu Hause, in Rohlbeck, hatte Wilhelm oft
-fast etwas Gedrücktes. Es war, als fiele das mehr und mehr ab von ihm,
-je weiter er sich von der Heimat entfernte. Als atmete er freier, als
-wüchsen ihm die Gedanken. Aber schien sich nicht auch vor ihr die Welt
-zu weiten?
-
-Die Dämmerung sank herab. Der Abend kam.
-
-Als der Zug sich Berlin näherte, war es dunkel. Aus der Dunkelheit
-leuchteten, wie in einem neuen Wunder, blinkende Lichter auf.
-Vereinzelt erst, mehr und mehr dann; ganze Reihen schließlich.
-Als hätte die große Stadt sich Helene Hackentin zu Ehren in ein
-Lichtermeer getaucht. Überall flammte und glühte es. Aus den
-Fenstern, die vorüberhuschten, von den Straßenfronten herauf, und
-bunt und farbig, weiß, rot, grün aus den Weichenlaternen der rechts
-und links endlos wachsenden Schienengeleise. Bis der Zug in den
-Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof einrollte.
-
-Beängstigend dies Leben und Treiben, und doch wieder so wundervoll,
-so eigen berauschend. Die Scharen von Reisenden, die der Zug entlud,
-die hastend und drängend dem Ausgang zustrebten; die Gepäckträger, die
-sich durch die Menge schoben, die Karren mit Koffern und Ballen; ein
-Rufen, Schreien, Schwatzen, Fragen, Auskunftgeben, Willkommenheißen,
-Abschiednehmen ohne Ende. Dann auf einen Augenblick noch einen Gruß von
-Merivaux, im Vorüberschieben nur. Ein flüchtiges Wort zwischen Wilhelm
-und ihm: „Sind Sie mit demselben Zuge gekommen?“ -- „Schade ... wir
-hätten zusammen fahren können.“ Schade -- auch Helene dachte wieder
-flüchtig: ‚Schade --‘
-
-„Schnell, Kleinchen -- sonst bekommen wir keine Droschke!“
-
-Und nun die Fahrt durch Berlin. Nahm denn das gar kein Ende? „Sind wir
-noch nicht bald da, Wilhelm?“
-
-„Geduld, Lene. In Berlin muß man Geduld lernen.“
-
-Immer neue Straßen, breite und enge, immer neue Häusermassen. Immer
-mächtiger und höher, immer heller beleuchtet, immer reicher die
-Schaufenster, immer stärker der Verkehr.
-
-„Das ist der Dönhofsplatz, Lene. Sieh mal, das ist das Abgeordnetenhaus
--- da zerbrechen sich die angeblich Weisesten die Köpfe um das Wohl und
-Wehe des Landes. So -- und nun kommt unsere gute ‚Stadt London‘.“
-
-Der Oberkellner, ein pikfeiner Herr im Frack und weißer Weste, stand am
-Eingang und dienerte: „Die Zimmer sind bereit, Herr Baron. Nr. 34 für
-das gnädigste Fräulein.“ Die teppichbelegte Treppe ging’s hinauf, eins,
-zwei Stockwerke hoch, daß einem der Atem fast versagte. „Hier, Lene
--- vorläufig nimm vorlieb“, sagte Bruder Wilhelm. „Dein Koffer kommt
-sofort. Mach’ dich recht schnell ein bissel zurecht, wir essen nachher
-unten.“
-
-Groß war das Zimmer Nr. 34 nicht, und schön war es auch nicht mit
-seiner schäbigen Hoteleleganz, dem schmalen Bett, dem kleinen
-Waschtisch und der Plüschgarnitur, an der die Quasten abgerissen waren.
-Aber Helene sah das alles nicht. Sie hatte nur einen Wunsch; ein paar
-Minuten ganz still und ruhig zu sitzen, dort auf dem Bettrand sich ein
-wenig sammeln zu dürfen, recht zum Bewußtsein zu kommen: du bist nun
-also wirklich in Berlin. Es war ja alles wie ein Traum.
-
-Lange freilich ließ ihr Wilhelm nicht Zeit. Nach knapp einer
-Viertelstunde schon pochte er: „Bist du fertig?“ Gerade daß sie noch
-den Reisestaub abschütteln konnte, das Haar ein wenig glattstreichen.
-Als sie heraustrat auf den schmalen Korridor, der ihr endlos erschien,
-wie eine ganze Straße, musterte der Bruder sie. „Na, es mag angehen
-für heut abend“, sagte er ein wenig von oben herab, aber mit seinem
-sonnigsten Lächeln.
-
-Dann saßen sie unten im Speisesaal, im strahlenden Licht der großen
-Gaskronen. Es war ja doch wohl Gaslicht, von dem sie schon so viel
-gehört hatte? Dies seltsam helle, eigen flackernde Licht, das von der
-Decke herableuchtete und aus vielarmigen Leuchtern an den weißen Wänden.
-
-Wilhelm bestellte eine Flasche Champagner und suchte ihr in der
-riesengroßen Speisekarte ein paar Gerichte aus. Aber sie konnte kaum
-essen. Es war zu überwältigend -- das alles. Der große Saal, in Licht
-getaucht, die vielen Menschen an den Tischen, das Schwatzen und Lachen
-der Gäste, die hin und her gleitenden Kellner.
-
-„Prosit, Kleinchen. Was machst du denn für Augen? Fast, als ob du ins
-Paradies schautest. Ach Kind, gewöhn’ dir das ab. Es ist nicht gut,
-wenn man sich verwundert zeigt, und mit dem Wasser wird schließlich
-auch in Berlin gekocht. Da ... trink nur ...“
-
-Und sie trank. Wie Feuer strömte es durch die Adern, stark und süß.
-
-„Ach ... Wilhelm ... lieber Wilhelm ...“
-
-„Ja doch, du kleines Provinzschäfchen. Es ist schon anders wie in
-Rohlbeck. Was? Aber ob’s immer besser ist? Na, darüber wollen wir uns
-heut den Kopf nicht zerbrechen. Freuen wir uns der Stunde.“ Er nahm
-von der Fruchtschale ein paar Rosinen, warf sie in ihren Spitzkelch.
-„Siehst du, wie das perlt und perlt, wie der Schaum gleich wieder
-aufsteigt. So ist Berlin. Hier perlt das Leben immer aufs neue hoch,
-schäumt und schäumt. Trink aus, Lene, trink aus, ehe der Schaum
-verfliegt.“
-
-Es war wohl spät, als sie die Treppen wieder hinaufstiegen, eins, zwei
-hohe, steile Treppen. „Wir wohnen dem Himmel nahe, Lene“, scherzte der
-Bruder. „Schlaf wohl und träume etwas Schönes. Man sagt ja: was man in
-der ersten Nacht in einem fremden Hause träumt, geht unweigerlich in
-Erfüllung.“
-
-Die Augen wollten ihr zufallen vor Ermüdung. Aber der Schlaf wollte
-nicht kommen. Lange, lange nicht. Von der Straße herauf drang es wie
-ein unaufhörliches Tosen. Wagenrollen auf hartem Pflaster, Hunderte von
-Menschenstimmen, ebbend jetzt, wieder anschwellend dann.
-
-Aus all dem Hasten dort unten stieg ihr ein Bild der großen Stadt
-empor, unklar und verworren, wie ein Kind es sich in Gedanken formt
-und aufbaut. Ein Labyrinth war’s schließlich mit tausend Wegen, die
-von himmelhohen Wänden eng umschlossen wurden, und sie lief und
-lief in ihnen umher, ohne ihr Ziel zu finden, immer schneller und
-immer hastender, stieß mit den Händen überall auf die kalten, öden,
-eisenharten Steinmauern, wußte nicht ein noch aus ...
-
-Da kam einer, hatte eine hohe Pelzmütze auf, an der ein glitzernder
-Edelstein funkelte, nahm sie an der Hand, wollte sie führen. „Wir
-finden schon den Ausweg, Helene Hackentin“, sagte er mit seiner
-einschmeichelnden Stimme. „Ganz gewiß, wir finden ihn.“ Aber sie
-hasteten beide weiter und weiter, und immer wieder trafen sie aufs neue
-himmelhohe, kalte, öde Steinwände, aus denen es keinen Ausweg gab.
-
-Dann war sie, mit einem Male, in der kleinen Kirche von Rohlbeck.
-Die Orgel klang dünn, wie immer. Der alte Heckstein verließ eben die
-Kanzel; sie saß im Herrschaftsgestühl, links die Mama und rechts der
-Vater; auch Martha war da, mit ihrem lieben, glatten, ruhigen Gesicht,
-das ein wenig traurig aussah. Wilhelm war ja wieder in Berlin. „Das
-heißt,“ sagte Vater, „Heckstein hat heut schön gepredigt.“ „Nein,
-Papachen,“ gab Mama zurück, „er hat wieder einmal einen alten Bock
-geschlachtet.“ „Wenn schon,“ meinte der Vater darauf, „die Hauptsache
-ist, daß wir unser Kind wiederhaben.“ Und da setzte Kantor Flehr mit
-dem Schlußgesang ein.
-
-‚Natürlich, du träumst das alles --‘ sagte sich Helene dabei. ‚Träumst
-es und bist doch eigentlich ganz wach. Hörst ja den Lärm von der Straße
-und das Laufen auf der Treppe und das Zuschlagen der Türen. Merkwürdig
-ist das. Aber es ist so schön, dies Träumen. Gerade das letzte, das
-von Rohlbeck. Und eigentlich hast du heut, den ganzen Tag, noch nicht
-einmal an Rohlbeck gedacht. An unser liebes altes Rohlbeck -- und an
-Vater und Mutter ...‘
-
-Da faltete sie die Hände. Sie wollte wohl eines ihrer alten
-Kindergebete vor sich hersagen. Aber sie kam nicht dazu. Mit einem
-müden, frohen Lächeln schlief sie ein.
-
-
-
-
-Fünftes Kapitel
-
-
-Am nächsten Morgen brachte Wilhelm ein kleines Billett mit an den
-Frühstückstisch, hielt es der Schwester hin, daß sie gerade nur die
-Handschrift auf der Adreßseite sehen konnte, und fragte scherzend:
-„Rate! Von wem?“
-
-Helene hatte prächtig geschlafen und war in rosigster Laune. „Vom
-Kaiser von Rußland!“ gab sie lachend zurück.
-
-„Nicht ganz, aber beinahe. Von einem gewissen kaiserlich russischen
-Hofopernsänger wenigstens.“
-
-Er wartete wohl, daß sie heftig zugreifen würde. Doch er irrte. Ihre
-Hand hob sich zwar, sank aber gleich wieder zurück, und sie machte
-sich eifrig an ihrem Milchbrot zu tun. Daß ihre Hand dabei ein wenig
-zitterte, bemerkte er nicht, fragte nur wieder: „Bist du denn gar nicht
-neugierig?“
-
-„Du wirst mir ja schon sagen, was Herr Schwarz dir geschrieben hat.“
-
-„Sehr richtig bemerkt, Lene. Also laß mal dein Brötchen ruhen ...
-ist übrigens famos, das Berliner Gebäck, nicht wahr? Anders als die
-Wassersemmeln, die die Semmelmuhme von Lagow im Tragkorb bringt?“
-
-„Sehr fein ist’s. Also ...“
-
-„Ja, also. Herr Schwarz scheint wirklich einer der liebenswürdigsten
-Tenore des neunzehnten Jahrhunderts. Er schreibt mir: ‚Sehr
-verehrter Herr von Hackentin! Gestern hatte ich Gelegenheit, Madame
-Harriers-Wippern zu sprechen. Sie ist erfreut über die Mitteilungen,
-die ich ihr machen konnte, und gern bereit, das gnädige Fräulein
-zu prüfen. Da ich nach unserer Verabredung annehme, daß Sie gestern
-angekommen sind, habe ich Sie gleich für heut mittag 12½ Uhr angesagt.
-Meine gehorsamsten Empfehlungen an Fräulein Schwester und die Bitte,
-daß das gnädige Fräulein sich nicht wegen des Probesingens Sorge macht.
-Das könnte nur schaden und ist auch total unnötig: ich weiß, was ich
-gesagt habe, und übernehme jede Garantie. Hochachtungsvollst‘ und so
-weiter und so weiter ...“
-
-Wilhelm faltete den Brief wieder zusammen: „Hoffentlich bist du gut
-disponiert, Helene ...“
-
-Er bekam nicht gleich Antwort. Aber diesmal konnte Helene ihre Erregung
-nicht verbergen. Das Blut strömte ihr ins Gesicht, kam und ging. Das
-Messerchen, das sie noch in der Hand hielt, klirrte gegen den Teller.
-
-„Aber Helene!“ Er schüttelte den Kopf. „Bist doch sonst solch tapferes
-Mädel. Du wirst doch singen?“
-
-Sie fand noch immer kein Wort. Es wirbelte in ihrem Kopf. Sie wollte
-lachen und sagen: ‚Natürlich werd ich singen. Gut werd ich singen. Was
-denkst du denn eigentlich?!‘, aber ihr war es, als könnte sie nicht
-einen Ton herausbringen.
-
-Dann streckte sie endlich, immer noch schweigend, die Hand hin. Er gab
-ihr den Brief. Sie überlas einmal, zweimal die etwas flüchtigen Zeilen.
-Mechanisch zuerst, wie um Zeit zu gewinnen. Dann aufmerksamer, Wort
-für Wort. Dabei wurde sie ruhiger. Sie rückte gleichsam von der Probe
-auf ihr Können ab. Aber zugleich kam eine andere Überlegung: ‚Daß Herr
-Schwarz so großes Interesse an dir nimmt!‘ Es hatte etwas Peinliches
-für sie, es hatte zugleich etwas Wohltuendes. Es verdroß sie, setzte
-sie in Verlegenheit -- und doch freute sie sich darüber. Und daß es sie
-freute, verdroß sie wieder. Dabei fühlte sie aufs neue das seltsame
-Prickeln in ihren Adern, das sie neulich abends in Rackow empfunden
-hatte, als er sich über sie beugte und ihr leise zuflüsterte mit seiner
-weichen, einschmeichelnden Stimme: „Sie wissen doch, daß ich nur für
-Sie gesungen habe!“ Sie dachte: ‚Heut also wirst du ihn wiedersehn‘,
-und indem sie das dachte, sah sie im Geiste schon sein schmales feines
-Gesicht vor sich und seine Augen auf sich gerichtet.
-
-Wilhelm wurde ungeduldig. So raffte sie sich auf, mit einem jähen
-Entschluß: „Ich möchte aber nicht, daß Herr Schwarz bei Frau
-Harriers-Wippern ist, wenn ich singen soll --“
-
-„Ja ... gib mir doch noch mal den Brief. Er schreibt ja gar nichts
-davon ...“
-
-„Er ... er wird doch dabei sein ...“
-
-„Und wenn er’s ist, stört dich das?“
-
-„Ja ... es stört mich.“
-
-Der Bruder drehte den Brief in den Händen herum. „Nimm es mir nicht
-übel, Helene, das ist ein bissel kindisch“, sagte er ärgerlich. „Ist
-eigentlich auch undankbar. Ich kann dem Mann doch nicht schreiben:
-‚meine Schwester wünscht Ihre Gegenwart nicht‘. Übrigens weiß ich nicht
-einmal seine Adresse.“
-
-„Doch! Die steht ja auf dem Bogen. Hotel de Rome.“
-
-„So. Richtig. Der Herr Hofopernsänger wohnt etwas vornehmer als wir. Ja
-... aber was soll ich ihm denn schreiben?“
-
-Sie zog die Stirn kraus, bis eine kleine schmale Trotzfalte zwischen
-den Brauen stand. „Schreib, was du willst. Ich ... wir dankten ihm ...
-er möchte sich aber nicht bemühen. Lieber Gott, solch ein kluger Mann,
-wie du bist, wird doch eine passende Ausrede finden. Ich bitte dich
-recht sehr, Wilhelm, schreibe gleich ... schicke einen Boten!“
-
-Wilhelm Hackentin schüttelte den Kopf. „Es ist mir wirklich höchst
-fatal, Lene.“
-
-„Ich bitte dich! Tu es mir zuliebe. Ich ... ich würde sonst nicht
-singen können. Glaub’ es mir.“
-
-Er trank seinen Kaffee aus, ging dann hinüber nach dem Schreibtisch,
-der am Fenster stand. „Meinetwegen ...“ sagte er im Fortgehen.
-
-Sie sah, wie er sich drüben den Stuhl zurechtrückte, sich setzte, zur
-Feder griff.
-
-Ganz still saß sie, immer die Augen auf ihn gerichtet, immer noch mit
-der kleinen schmalen Trotzfalte zwischen den Augenbrauen. Sah auf den
-Bruder und sah doch über ihn hinweg.
-
-Wilhelm schrieb hastig, setzte einmal ab, fuhr fort, überlas, was er
-geschrieben hatte. Nun stand er auf, kam zurück. „Hier, Helene ...“
-
-Da griff sie nach dem Bogen in seiner Hand und sagte jäh: „Ich hab es
-mir überlegt. Wir wollen den Brief nicht abschicken.“
-
-Er lachte laut auf. „Na, da hätten wir’s ja. Also eine Kaprice! Weiter
-nichts als Laune. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten.
-Das, scheint mir, trifft bei dir auch zu. Nun laß mich aber wenigstens
-in Ruhe eine zweite Tasse Kaffee trinken.“
-
- * *
- *
-
-Frau Harriers-Wippern wohnte in der Viktoriastraße.
-
-Wilhelm hatte eine Droschke nehmen wollen, aber Helene bat, daß sie zu
-Fuß gehen dürfte. Ihr war es, als müßte und könnte sie sich einen Druck
-von der Seele fortlaufen, wie sie wohl in Rohlbeck weit hinaus, über
-die Felder nach dem Forst gelaufen war, wenn die Unruhe sie geschüttelt
-hatte.
-
-So gingen sie. Manchmal sah Wilhelm die Schwester heimlich von
-der Seite an. Er wurde nicht recht klug aus ihr. Ihr Gesicht
-zeigte eigentlich keine besondere Spannung. Aber ihre Gangart war
-eigen hastig. Manchmal lief sie fast, um dann wieder plötzlich
-stehenzubleiben, mit irgendeiner Ausrede, mit einem Blick in ein
-Schaufenster. Aber er sah wohl, daß dieser Blick nur flüchtig über
-die Auslagen hinglitt, viel flüchtiger, als er’s von dem Provinzmädel
-erwartet hätte. Ihre Gedanken mußten ganz wo anders sein.
-
-Einmal fragte er: „Hast wohl doch ein bissel Herzklopfen, Lene?“
-
-Da schüttelte sie den Kopf.
-
-Sie gingen durch die Leipziger Straße. Dann und wann machte er sie auf
-ein Gebäude, auf eine Sehenswürdigkeit aufmerksam. „Da hast du das
-Kriegsministerium.“ „Das ist das Denkmal vom Grafen Brandenburg ...
-weißt du, dem Sohn König Wilhelms des Zweiten und seiner morganatischen
-Gattin, der Gräfin Dönhoff“ -- „Das sind die alten Torgebäude und
-dahinter steht die Stadtmauer, die um das ganze innere Berlin geht.“
-
-Sie nickte dann, aber er fühlte, sie hörte kaum, was er sagte.
-
-Am Tor mußten sie eine Weile warten. Auf der Verbindungsbahn kam durch
-die Hirschelstraße ein langer Güterzug angekrochen; die Maschine
-läutete, ein Beamter mit einer roten Fahne ging vor ihr her, um die
-Passanten abzuhalten. Er erklärte ihr das wieder: wie diese Bahn die
-einzelnen Bahnhöfe für den Güterverkehr miteinander in Verbindung
-setze, so daß also ein Frachtstück, das etwa von Stettin käme und nach
-Breslau bestimmt wäre, nicht umgeladen zu werden brauchte. „So?“ sagte
-sie und weiter nichts.
-
-„Dort drüben -- der Potsdamer Bahnhof war der erste in Berlin. Die Bahn
-nach Potsdam war nämlich überhaupt die erste in Preußen, ist schon
-vor mehr als zwanzig Jahren gebaut worden. Du, Lene, da passierte
-eine komische Affäre. Der alte Nagler, der damals an der Spitze der
-Post stand, wollte nämlich von der Eisenbahn nichts wissen. Und um zu
-beweisen, daß sie ganz unnötig wäre, ließ er säuberlich konstatieren,
-daß der ganze Verkehr zwischen Potsdam und Berlin täglich mit drei
-Voitüren bewältigt würde. Wozu also eine Eisenbahn? Übrigens sind die
-Herren mit den langen Zöpfen heut noch nicht ausgestorben.“
-
-„So“, sagte sie wieder und weiter nichts.
-
-Inzwischen war der Güterzug vorübergepoltert, die Menschenmasse,
-die sich aufgestaut hatte, wälzte sich über den Platz und zog die
-Geschwister mit. Durch die stille Bellevuestraße gingen sie. „Das ist
-der Tiergarten,“ meinte Wilhelm und zeigte auf die entlaubten Bäume.
-„Fünf Minuten weiter wohnt Tante Oschitz, der wir heut nachmittag
-unsere Visite machen werden.“
-
-„So“, sagte sie zum dritten Male. Und da gab er es auf.
-
-Und nun waren sie in der Viktoriastraße. Wilhelm suchte die Hausnummern
-ab. „Hier ist’s.“
-
-Da sah er, zum ersten Male, daß aus dem Gesicht der Schwester jeder
-Blutstropfen gewichen war. Eigen glänzend standen die großen blauen
-Augen in dem weißen Antlitz. Nur die Lippen waren rot, rot wie
-Korallen. Und die Unterlippe hatte Helene ein klein wenig zwischen die
-Zähne gezogen.
-
-„Du hast ja doch Angst --“
-
-„Bewahre. Was denkst du dir denn.“
-
-Sie gingen die teppichbelegte Treppe hinauf, schellten. Ein Diener
-öffnete. Wilhelm reichte ihm seine Karte. Er verschwand, kam gleich
-zurück: „Die gnädige Frau läßt bitten.“
-
-Helene sah ihn nicht sofort, aber sie fühlte: +er+ ist hier.
-
-Sie sah zuerst nur die hohe schlanke Frau, die mit liebenswürdigem
-Lächeln auf sie zukam. Und sie sah auch, daß Frau Harriers-Wippern
-ein wenig stutzte, als sie dicht vor ihr stand, wie in einer leichten
-Überraschung. „Fräulein von Hackentin, ich freue mich, daß Sie sich mir
-anvertrauen wollen“, sagte sie. „Kollege Schwarz hat mir viel von Ihnen
-erzählt.“ Das Lächeln in dem jugendlichen Gesicht vertiefte sich ein
-wenig. „Aber er hat nicht übertrieben, wie ich soeben bemerke.“
-
-Da trat er auch schon hinter den großen Blattgewächsen, die den
-einen Teil des Salons abgrenzten, hervor: „Sie sind sehr indiskret,
-gnädige Frau“, scherzte er. „Ich gestehe aber, daß ich ein schlechter
-Schilderer war.“
-
-Einen Augenblick hielt er Helenens Hand in der seinen. Auf einen
-Moment kreuzten sich ihre Augen. Ihre Hand war eiskalt, aber ihr Blick
-hielt dem seinen stand. Vielleicht sogar mit einem etwas feindseligen
-Ausdruck. Schwarz senkte das Auge zuerst, fast wie in leichter
-Verlegenheit. Er wandte sich schnell zu Wilhelm Hackentin, ihn zu
-begrüßen. Und da sagte Frau Harriers-Wippern auch schon, auf die Tür
-des Nebenzimmers deutend: „Jetzt, bitte, lassen die Herren uns allein.“
-
-Die Probe verlief ganz anders, als Helene erwartet hatte.
-
-Es war, als hätte die große Sängerin und Sangesmeisterin ihr die
-mühsam errungene Ruhe von den Augen abgelesen. Sie ließ ihr Zeit, bat
-zunächst, abzulegen, begann zu plaudern. Vom Alltäglichen, von der
-kleinen Reise, von den ersten Eindrücken in Berlin. Anfangs sprach
-sie fast allein. Dann, allmählich, brachte sie Helene zum Sprechen,
-lauschte, fragte nach dem bisherigen Unterricht. „Ein alter Kantor vom
-Lande. Sieh da! Das sind noch nicht die schlechtesten, und ich freue
-mich immer aufs neue, welche Liebe zur Musik in diesen Leuten steckt,
-von der leidigsten Schulmeisterei nicht zu töten.“ Fragte weiter, was
-Helene gesungen habe. Sprach dazwischen wieder von eigenem Erleben.
-
-Langsam wich die Starrheit aus dem Gesicht des jungen Mädchens, das
-Blut strömte in die Wangen zurück. Der +eine+ Gedanke, der
-den ganzen Morgen auf ihr gelastet, wurde von dem Zwang, zuhören,
-antworten, Auskunft geben zu müssen, verdrängt; von dem Interesse an
-der schönen liebenswürdigen Dame, von der Verwunderung: „Wird sie dich
-denn noch nicht zum Singen auffordern?“ Ihr Denken konzentrierte sich
-wieder mehr und mehr auf das Kommende. Es war auch dabei ein leises
-Sorgegefühl: ‚Wie wirst du bestehen?‘ Aber es lag nichts Drückendes,
-nichts Beengendes darin.
-
-Soeben hatte die Sängerin noch von ihrer Jugend geplaudert, daß sie im
-Kloster erzogen worden sei. Nun stand sie plötzlich am Flügel, schlug
-ein paar Akkorde an: „Bitte, Fräulein von Hackentin, eine Skala ...“
-
-Es war so überraschend, daß Helene gar nicht recht zur Besinnung kam.
-Aber indem sie sang, schmolz auch der letzte Rest des Angstempfindens.
-„Brav!“ hörte sie nur. „Und nun noch einmal. Ordentlich heraus aus dem
-Kehlchen ...“
-
-„So. Und nun singen Sie mir mal etwas ganz Einfaches. Ganz ohne
-Begleitung. Vielleicht irgendein Volksliedchen. Ganz wie Ihnen der
-Schnabel gewachsen ist, mit Verlaub zu sagen. Soll ich helfen? Wie
-wär’s mit ‚Ein getreues Herze wissen, hat des höchsten Schatzes Preis
-...‘ Das kennen Sie doch -- nicht wahr? Also nun los ...“
-
-So sang sie.
-
-Frau Wippern nickte ihr zu, als die erste Strophe verklungen war. Sang
-dann die zweite, recht, als ob sie selber die größte Freude daran
-hätte, ließ Helene die dritte singen: saß am Flügel nieder, blätterte
-in einem Notenheft. „Wie ist’s? Nehmen wir etwas aus unseres guten Papa
-Webers „Freischütz“: ‚Kommt ein schlanker Bursch gegangen ...‘“
-
-„Brav! Brav!“ hieß es dann wieder. „Nun noch einmal ein paar
-Tonleitern. Geben Sie her, was Sie haben. Denken Sie, Sie stünden auf
-Bergeshöhe, ganz allein, und schmetterten die Töne in die freie weite
-Luft, mit den Lerchen um die Wette.“
-
-Und nun stand Frau Wippern wieder neben Helene. „Öffnen Sie, bitte,
-einmal den Mund, Sie kleine Lerche. Recht weit, bitte, daß ich
-ordentlich hineinsehen kann. Ohne Sorge: ich bin ja kein Dentist, und
-Ihre Beißerchen können sich außerdem sehen lassen. So ... nun mal
-tief Atem holen ... langsam ausstoßen. Sehr schön.“ Sie klopfte ihr
-zärtlich auf die Wange. „Sie sind ein mutiges Menschenkind! Seine
-helle Freude hat man daran.“ Sie lachte. „Wenn Sie wüßten, mit welchen
-Angstmeierkindern ich manchmal zu tun habe!“ Dann wurde sie wieder
-ernst. „Aber nun lassen Sie sich sagen, was ich nach solch einer kurzen
-Probe sagen kann, sagen darf. Das Material ist einfach wundervoll, und
-Gott und Ihrem alten Kantor sei’s gedankt, den ich dafür im Geiste
-umarmen möchte: es ist unverbildet. Gesund ist’s, kerngesund! Eine
-Wonne für jeden Lehrer. Was daraus zu machen ist? Ich könnte wohl
-sagen: Großes ... das Größte! Aber, liebes Fräulein von Hackentin,
-prophezeien ist ein mißlich Ding. Das hat mir seinerzeit meine
-unvergeßliche Lehrerin, meine teure Franziska Cornes, auch vorgehalten,
-als ich so vor ihr stand, wie Sie heut vor mir. Eine Menschenstimme
-ist kein mechanisches Instrument. Sie ist hundert Zufälligkeiten, ist
-den mannigfachsten Anfechtungen unterworfen. Und der Lehrer allein
-tut’s auch nicht. Der Schüler muß die rechte Liebe haben, unermüdliche
-Geduld, einen nimmermüden Fleiß. Er darf nie vergessen, welch kostbares
-Gut ihm verliehen wurde, muß dies Gut pflegen und hegen wie ein
-Heiligtum --“
-
-Sie schwieg und sah Helene in das schöne Gesicht, aus dem die Erregung
-der Stunde leuchtete.
-
-„Nun, Fräulein von Hackentin, wie ist’s? Wollen wir’s daraufhin wagen?“
-
-Da schlug Helene in die dargebotene Hand ein und beugte sich zugleich
-im unwillkürlichen Impuls, diese Hand zu küssen. Aber Frau Wippern
-zog sie schnell fort: „Da haben wir’s.“ Sie lachte schon wieder ihr
-berühmtes silberhelles Lachen. „Als ob ich eine alte Dame wäre mit
-meinen sechsundzwanzig Jahren. Bloß, weil ich Lehrerin bin und so
-ernste Worte sprechen kann. Nicht wahr? Und jetzt können wir ja auch
-die Herren der Schöpfung erlösen.“
-
-Wilhelm war stark befangen, aber Schwarz kam gleich auf die Damen zu:
-„Nun, hab ich zuviel gesagt? Ich sehe es Ihnen beiden ja an: es war
-vortrefflich. Meinen Glückwunsch der Lehrerin und der Schülerin!“ --
-
-Dann gingen sie zu dritt die Viktoriastraße hinauf, durch die
-Lennéstraße dem Brandenburger Tor zu. Helene in der Mitte, Schwarz ihr
-zur Rechten, der Bruder links.
-
-In Helenens Seele zitterte das Erleben nach. Sie war über die Prüfung
-hinweggekommen, sie wußte selbst nicht wie. Nun klang es in ihr gleich
-Musik. Seltsam weich war sie gestimmt. Wie in einem leisen leichten
-wonnigen Rausch schritt sie dahin. Die Erde schien unter ihr zu federn.
-Aller Welt hätte sie ein Liebes tun mögen. Da war der Bruder, der
-gute Wilhelm! Ja ... und der andere, der war doch ein guter Kamerad.
-Wie dumm sie heut morgen gewesen war. Und so unfreundlich. Allerlei
-törichte Gedanken hatte sie in sich herumgewälzt.
-
-„Du, Lene, dort drüben wohnt Strousberg.“
-
-Am Morgen hatte sie über Wilhelms Worte hinweggehört, jetzt merkte sie
-auf. Vielleicht nur, um ihm eine kleine Freude damit zu erweisen.
-
-„Strousberg -- wer ist das?“
-
-„Aber besinn dich doch. Ich hab ja so viel von ihm erzählt. Bethel
-Henry Strousberg, gestern noch ein unbekannter Journalist, heut
-ein Faiseur, der seine geschickten Finger in allen möglichen
-Eisenbahnunternehmungen hat. Er wird noch viel von sich reden machen.
-Denk’ an mich.“
-
-„Werd ich! Werd ich!“
-
-Und sie gingen weiter am Saume des Tiergartens entlang, durch die
-Schulgartenstraße, die altersgraue Stadtmauer zur Rechten. Schwarz
-hatte nur wenige Worte gesprochen seit seinen letzten im Musikzimmer.
-Und nun wunderte sie sich darüber, und sie wartete auf das, was
-er sagen würde. Er mußte, mußte ihr doch noch etwas sagen! Es war
-unmöglich, daß sie so weitergingen und sich dann trennten und ... und
-wer weiß, wann einmal wiedersahen ... niemals vielleicht ...
-
-Oder wartete er darauf, daß sie ihm danken würde? Vielleicht hätte
-sie’s gemußt. Aber da war etwas in ihr, das ihr die Zunge band. Das
-Danken mochte Wilhelm besorgen.
-
-Der hatte noch eine Weile von Strousberg weiter gesprochen, dem großen
-Finanzgenie, der scheinbar aus Papier Gold zu machen verstand. Doch nun
-fragte er, an der Schwester vorbei: „Wir wurden vorhin unterbrochen,
-Herr Schwarz. Was also haben Sie für den Winter vor?“
-
-„Ja, so, Herr von Hackentin -- es schweben noch verschiedene
-Engagementsanträge. Eigentlich sollte ich wieder an die Newa. Aber das
-Klima bekommt mir auf die Dauer nicht. Dann hieß es Wien. Ließe ich mir
-schon eher gefallen. Die goldige Kaiserstadt an der Donau, wo der Spieß
-mit dem Backhändl dran sich allezeit dreht. Eine wirkliche Musikstadt
-zugleich. Freilich, am liebsten möchte ich mich für eine Saison gar
-nicht binden. Nur gastieren -- mit einem ~pied-à-terre~ hier.
-Berlin hat es mir nun einmal angetan -- neuerdings --“
-
-Wie er das letzte sagte, fühlte sie, daß sein Auge das ihre suchte.
-Und mit einem Male überkam sie wieder die Angst, die sie heute früh
-geschüttelt hatte. Glühend heiß und eiseskalt. Es war nicht mehr der
-gute Kamerad, der da neben ihr herschritt, dem man dankbar sein mußte:
-Es war das Schicksal.
-
-Starr sah sie geradeaus.
-
-„Wien ... ja ... eine herrliche Stadt“, hörte sie Wilhelm neben sich.
-„Ein bissel Phäakenstadt. Aber das reiche wunderbare Hinterland,
-Ungarn, der ganze Orient -- da ist noch eine Zukunft. Da ist viel Geld
-zu verdienen. Und Sie würden doch lieber hierbleiben? Ist kein Platz
-für Sie an unserer Oper?“
-
-„Kaum, höchstens als Gast. Hier schwört man zu dem schönen Woworski --“
-er zog ein wenig die Achseln hoch -- „dann soll ja auch Albert Niemann
-herkommen. Und schließlich: Exzellenz von Hülsen ist mir persönlich
-nicht allzu sympathisch. Er sieht mir sein Theaterreich zu sehr wie
-eine Kompagnie Soldaten an. Aber ich bleibe doch wohl in Berlin. Ich
-kann mich, ich will mich jetzt hier nicht loslösen ...“
-
-Wieder fühlte sie seinen Blick. Und wieder sah sie starr geradeaus.
-
-Da rief Wilhelm: „Lene, das Brandenburger Tor! Siehst du die Quadriga?
-Weißt du: Vater erzählt so gern davon, wie sie Napoleon geraubt hat und
-wie wir sie uns wiedergeholt haben! Anno achtzehnhundertvierzehn. Du
-... hör’ mal ... du hast Glück heute ...“
-
-Von jenseits des Tores klang Trommelwirbel, von dem Wachthause her. Und
-dann rollte aus der mittelsten Toröffnung ein schlichter, zweispänniger
-offener Wagen. Ein Greis saß darin, mit weißem Bart, ausrasiert am
-Kinn. Gerade aufgerichtet saß er in seiner schmucklosen Uniform, dem
-geschlossenen Paletot, der hohen Mütze.
-
-„Der König --“
-
-Ganz dicht fuhr der Wagen an ihnen vorüber. Helene verneigte sich tief.
-Es durchschauerte sie: gar nicht tief genug konnte sie sich neigen vor
-des Königs Majestät. So war es ihr von klein auf gesagt und gelehrt
-worden.
-
-Ein paar Leute standen rechts, standen links. Nur wenige grüßten.
-
-Und dabei hatte der königliche Greis so huldreich an den Mützenschirm
-gefaßt; fast war es, als ob sein gutes klares Auge auf einen Moment auf
-der kleinen Gruppe geweilt hätte, als ob über das ernste Antlitz der
-Schein eines gütigen Lächelns geglitten wäre.
-
-„Warum grüßen denn die Leute nicht, Wilhelm?“ Jetzt endlich fand Helene
-die Sprache wieder, und in ihr klang ein Ton der Empörung. „Muß man den
-König denn nicht grüßen?“
-
-„Du Kind! Ja, man müßte. Aber man muß nicht. Dem Prinz-Regenten haben
-sie noch zugejubelt. Jetzt ist das anders. Seit ein paar Monaten
-besonders. Die Regierung ist unbeliebt, und der Berliner hält sich für
-verpflichtet, das auch dem König zu markieren. Manchmal denk ich: gut,
-daß Vater still in Rohlbeck sitzt. Der würde seinen Zorn nicht bändigen
-können.“
-
-Sie waren durch das Tor geschritten. Die Wache war unter Gewehr. Es
-mußte soeben abgelöst worden sein. Die Gardeschützen waren aufgezogen.
-Über die grünen Röcke und die goldenen Knöpfe blitzte die Sonne. Und da
--- am Flügel seiner Mannschaft stand Merivaux, den Degen noch in der
-Hand.
-
-„~Bon jour, monsieur de Merivaux~“ rief Wilhelm über das Gitter.
-
-Der junge Offizier blickte überrascht auf, senkte den Degen zum Gruß.
-„Weggetreten“, kommandierte er mit heller Stimme. Die Büchsen klirrten
-gegen die Gewehrständer, es gab auf einen Moment ein Rasseln und
-Rauschen. Dann, so schien es, wollte der Neuchateller an das Gitter
-treten. Aber als ob er sich im letzten Augenblick besönne, grüßte er
-nur noch einmal und wandte sich nach der Säulenhalle, wo der Kamerad,
-den er abgelöst hatte, wartend stand.
-
-„~Monsieur de Merivaux~ makte ja ein serr brummiges Gesicht.“
-Es klang etwas spöttisch, wie Schwarz das sagte. Es klang etwas
-komödienhaft mit der übertriebenen Nachahmung des Akzents. Und es sah
-spöttisch und herausfordernd zugleich aus, wie er dabei mit seinem
-dünnen Stöckchen gegen die Beinkleider klopfte.
-
-Drüben stand eine einsame Droschke.
-
-„Können wir nicht nach Hause fahren“, bat Helene plötzlich. „Ich bin so
-müde, Wilhelm.“
-
- * *
- *
-
-Nun war Helene Hackentin bei der Tante Oschitz untergebracht. „Auf ein
-paar Wochen,“ hatte Vater geschrieben, „das heißt, wenn wir’s so lange
-ohne dich aushalten.“ „Ich behalte dich auch ein paar Monate,“ hatte
-Tante Marianne gesagt, „das heißt, wenn du keine Späne machst.“
-
-Frau von Oschitz bewohnte dasselbe kleine Haus in der Tiergartenstraße,
-das der verstorbene Geheime Rat vor einem Vierteljahrhundert gekauft
-hatte. Rechts nach der Bendlerstraße zu war vor wenigen Jahren ein
-dreistöckiges Miethaus entstanden, links eine große Villa aufgeführt
-worden. Dazwischen stand das graue Häuslein, das noch aus der
-kurfürstlichen Zeit stammte und einst ein Lustschlößchen gewesen sein
-sollte; ein tiefer Vorgarten schied es von der Straße; dahinter dehnte
-sich ein noch größerer, wenig gepflegter Garten bis zum Landwehrgraben.
-„Meine Insel“ nannte Tante Oschitz ihren Besitz manchmal, und er
-war wirklich wie ein abgeschiedenes Stückchen Erde. Wenn Helene in
-der ungeheuerlich tiefen Fensternische stand, in der ein ganzer
-Schreibtisch Platz gefunden hatte, und in den Garten hinaussah, konnte
-sie denken, daß sie in Rohlbeck wäre. Der Lärm der Stadt drang nicht
-bis hierher, die weite, von hohen Bäumen umrahmte Rasenfläche glich
-einer Wiese, und sogar eine Stallung fehlte nicht. Die Pferde freilich
-hatte Tante Marianne bald nach dem Tode ihres Mannes abgeschafft. „Das
-Geld, das sie fressen, kann ich besser verwenden.“
-
-Die kleine, zarte Dame sollte einst eine Schönheit gewesen sein.
-Heut sah man wenig davon. Das Gesicht war mit Fältchen übersät, vor
-der Zeit gealtert. So hieß sie in der Familie die +alte+ Tante
-Oschitz und war doch noch gar nicht so sehr alt. Helene wußte das:
-Mutter, die immer gern den Jahren anderer nachrechnete, hatte oft
-genug davon erzählt: Marianne Hackentin war Hofdame bei der Prinzessin
-der Niederlande gewesen, hatte ungezählte Körbe ausgeteilt und erst
-mit dreißig und einigen Jahren, als sie „längst aus dem Schneider
-heraus war“, wie Mama das ausdrückte, den Geheimrat erhört -- „Matthäi
-am letzten“. Der einzige Sohn aber, Harro, war siebzehn. Also hatte
-Tante Marianne etwa die Fünfzig erreicht. Helene kam sie vor wie eine
-Greisin. Und die kleine, schwächliche Frau wußte sich, bei aller
-Güte, auch den Respekt einer Greisin zu wahren. Selbst dann, wenn man
-manchmal gern über sie gelacht hätte.
-
-Einst, erzählte man in der Familie, sollte Tante Oschitz sehr
-lebenslustig gewesen sein. Mit ihrer Verheiratung war eine Veränderung
-ihres Wesens eingetreten, über die sogar der Rackower, ihr
-Jugendfreund, noch heute den Kopf schüttelte; seit sie Witwe war, lebte
-sie fast ganz weltabgeschieden. Nur ihrem Harro und ihren guten Werken;
-allenfalls noch ihrer Porzellansammlung, obwohl sie jeden Groschen, den
-sie dafür ausgab, eigentlich als Sünde betrachtete. Sie war sehr fromm.
-Die Landeskirche genügte ihr nicht, und sie hatte sich einem kleinen
-Kreise ähnlich gerichteter Seelen angeschlossen, die der Pastor Müller
-um sich versammelte. Ein Geistlicher, der auch aus der Landeskirche
-ausgeschieden war. „Tränen-Müller“ hieß er unter den Ketzern Berlins,
-denn in seinen Konventikeln sollten die Tränlein fließen wie Bächlein
-auf den Wiesen.
-
-Als Tante Oschitz zum letzten Male in Rohlbeck gewesen war, hatte sie
-ein gewaltiges Ringen mit dem alten Heckstein gehabt. Seitdem streckte
-der, sobald die Rede auf sie kam, immer abwehrend beide Hände aus:
-„Hackentin, verschone mich bloß mit der Oschitzen. Die ist mir über.“
-Und dazu lachte der „dreimal gesottene Rationalist“, -- so hatte sie
-ihn genannt, bis er nicht mehr konnte.
-
-Übrigens mußte Helene dem „Tränen-Müller“ eigentlich dankbar sein.
-Das Zünglein, ob Tante Marianne sie auf längere Zeit aufnehmen wollte
-oder nicht, hatte anfangs ein wenig geschwankt, aber er hatte für sie
-entschieden. Der schöne Mann liebte die „Schönheit der Kreatur“, wie
-er es ausdrückte. Als der sich an einem der ersten Abende einfand,
-hatte Helene das Zimmer verlassen wollen, um nicht zu stören. Da war
-er auf sie zugekommen, hatte seine weißen, weichen Hände sanft auf
-ihre Schultern gelegt, sie auf den Stuhl niedergedrückt und mit seiner
-unendlich milden Stimme gesagt: „So bleiben Sie doch, liebes Kind. Ich
-sehe Sie so gern an.“ Und außerdem liebte er die Musik, sogar die
-weltliche. Von ihm zuerst hörte sie vom trefflichen Grell, dem Direktor
-der Singakademie, und vom Sternschen Gesangverein.
-
-Es war sehr still auf der einsamen Insel. Tante Marianne liebte die
-tiefste Ruhe um sich her. Die Dienstboten schlichen auf Filzsohlen und
-flüsterten nur. Sogar Harro war auf diese Stille hin erzogen, er sprach
-im Hause immer vorsichtig und gedämpft. Und doch sprühte dem blonden
-Gymnasiasten das helle Leben, ja der Übermut aus den blauen, glänzenden
-Augen. Manchmal, wenn er mit Helene im hinteren Garten spazieren ging,
-rief er plötzlich laut: „Laß uns laufen! Um die Wette laufen! Bis
-uns der Atem ausgeht!“ Das taten sie dann. Sie rasten an den hohen
-Taxushecken entlang bis zum Landwehrgraben und wieder zurück, bis sie
-wirklich nicht mehr konnten und stehenbleiben mußten, mit roten Wangen
-und jagenden Pulsen. „Ah, war das schön! War das schön!“
-
-‚Ein Prachtjunge, der Harro! Man muß ihn gern haben!‘ dachte Helene
-dann. ‚Wer weiß, ob ich’s ohne ihn so gut aushielte auf der einsamen
-Insel?‘
-
-Denn Tante Oschitz hatte auch ihre „Mucken“. Sie tyrannisierte auf ihre
-milde Art das ganze Haus und alles, was darin war.
-
-„Nimm dich in acht vor Tante Marianne!“ hatte Wilhelm bei der
-Übersiedlung gesagt. „Es hat manchem nicht gut getan, mit ihr Kirschen
-essen zu wollen.“
-
-Dabei standen sich eigentlich gerade der Bruder und Tante Oschitz
-merkwürdig gut. Manchmal saß Wilhelm wohl eine Stunde und länger bei
-ihr allein. Manchmal hörte sie fast andächtig zu, wenn er von seinen
-Projekten sprach. Manchmal freilich strich sie ihm auch eine bittere
-Wahrheit fingerdick aufs Brot. Gleich in den ersten Tagen einmal. Da
-hatte er ihr im Auftrag von Vater von der Pension gesprochen, die der
-für Helene bezahlen wollte.
-
-„Nein, mein lieber Wilhelm, Geld nehme ich nicht. Der Rittmeister
-hat’s nicht dazu, wird schon seine Mühe haben, das sündhaft schwere
-Geld für den Unterricht aufzubringen. In Rohlbeck konnte man ja nie
-rechnen, hat immer nur depensiert. So ist’s denn da immer weiter bergab
-gegangen.“ Sie sagte es, die Hände im Schoß gekreuzt, mit sanfter
-Stimme, die aber einen eigen bestimmten Klang hatte.
-
-„Sparsam genug haben Vater und Mutter, weiß Gott, gelebt.“
-
-„Laß doch den lieben Gott aus dem Spiel. Ja, sparsam haben sie gelebt,
-aber wirtschaften konnten sie nicht. Damit sind sie bei aufgepritschten
-Brotsuppen und Braunbier auf den Hund gekommen. Ich hab’s doch noch
-erlebt, als deine Mutter ihr letztes Väterliches ausgezahlt bekam.
-Dreißigtausend Taler waren es, und in zwei Goldtönnchen ist’s in
-Rohlbeck angekommen. Was haben sie damit gemacht? Die Tönnchen unter
-ihre Betten gestellt, und wenn jemand Geld brauchte, dann langte
-er hinein. Wenn ich’s nicht beschwören könnte, würde ich’s selber
-nicht glauben. Nicht zinstragend angelegt, nichts -- nichts! Einfach
-aufgebraucht, bei Wassersuppen und Braunbier. Und dabei ist Heinersdorf
-verkauft worden, und Grunow mußte verkauft werden. Es ist eigentlich
-gar nicht auszudenken. Sünde ist’s -- Sünde!“
-
-„Die alte Zeit, Tante Marianne. Mir wär’s auch lieber; die Eltern
-hätten besser gewirtschaftet und ich brauchte mich hier nicht zu
-schinden.“
-
-„Wie häßlich gesagt -- schinden? Geldverdienen ist ehrliche Arbeit. So
-jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen, steht in der
-Heiligen Schrift. Ich laß es dir übrigens, du bist ein emsiger Mann, in
-deiner Art. Aber daneben steckt das Rohlbecker Blut in dir. Dem kann
-nicht genug gesteuert werden.“ --
-
-Still und friedfertig floß das Leben dahin auf der einsamen Insel.
-
-Aber die Stille und der Friede des Hauses, denen sich Helene äußerlich
-anzupassen hatte, füllten ihr Herz nicht. Ihr Herz war unruhig und
-voller Unrast.
-
-In ihren Nöten war die Kunst ihr einziger Halt. Doch je weiter die Zeit
-ging, desto mehr fühlte sie, auch die Kunst war nur ein zerbrechlicher
-Stecken für sie. Der stärkste Fleiß half da nicht. Er mochte die
-Stunden töten. Daneben aber blieben andere Stunden, in denen ihre Kunst
-nur ihre Seele immer stärker aufpeitschte.
-
-Wohl war Frau Harriers-Wippern zufrieden. Fast immer gleich zufrieden.
-Helene sah es ihr mehr an, als daß sie es aussprach, denn sie war
-ziemlich karg mit Anerkennung und Lob und verlangte viel, was Helene
-zuerst ganz wunderlich vorkam: endlose Atemübungen, sorgsame Studien
-vor dem Spiegel, predigte immer wieder: „Langsam -- langsam! Geduld,
-Fräulein von Hackentin!“ Bisweilen aber nannte sie sie doch ihre
-liebste Schülerin, bisweilen sprach sie doch von erstaunlich schnellen
-Fortschritten. Aber dann und wann, und nur immer häufiger, schüttelte
-sie auch den Kopf: „Sie dürfen sich nicht überanstrengen, liebes Kind.“
-
-„Es strengt mich nicht an. Nie! Nie!“
-
-„Sie wissen das selbst nicht. Mir kann das nicht entgehen. Ihr
-Temperament reißt Sie zu sehr fort. Es ist etwas Herrliches, gerade
-für unsere Kunst, um ein starkes Temperament. Nur müssen wir es straff
-im Zügel zu halten wissen. Bei Ihnen steigert’s sich manchmal bis zur
-Leidenschaftlichkeit.“
-
-Und Helene wußte: ja -- bis zur Leidenschaft!
-
-Das war ihr Schicksal. Er war ihr Schicksal.
-
-Sie hatte sich dagegen gesträubt mit aller Kraft ihres Willens. Mit all
-ihrem Stolz. Es war stärker als sie.
-
- * *
- *
-
-Alfred Schwarz war wirklich in Berlin geblieben. War wenigstens meist
-in Berlin. Ende Oktober gastierte er in der Friedrich-Wilhelmstadt;
-unmittelbar nach Theodor Wachtel und mit gleich großem Erfolge.
-
-Sie hatte ihn bis dahin nur wenige Male gesehen. Einmal traf
-sie ihn zufällig -- war es zufällig? -- im Vorzimmer von Frau
-Harriers-Wippern. Einmal begegnete sie ihm auf dem Wege zu ihrer
-Lehrerin. Sie sprachen nur knappe Worte miteinander. Er erkundigte
-sich nach ihren Fortschritten, wie sie sich eingelebt hätte. Sie gab
-so kurz als möglich Auskunft, nur so viel, als die kargste Höflichkeit
-forderte. Kaum so viel: denn die Abwehr lohte in ihrer Seele.
-
-Aber sie mußte an ihn denken, Tag und Nacht. Im Zorn auf ihn und auf
-sich selber. In schmerzvoller Sehnsucht dann. Immer sah sie ihn vor
-sich, immer hörte sie seine Stimme. Mitten im Traum schrak sie auf:
-sie waren wieder in Rackow gewesen, er hatte wieder die „Letzte Rose“
-gesungen, er hatte wieder gesagt: nur für Sie -- nur für dich! Sie
-schrak auf und biß vor Scham in ihr Kissen und weinte --
-
-Und nun gastierte er -- Frau Harriers-Wippern hatte es beiläufig
-erzählt -- in der Friedrich-Wilhelmstadt.
-
-Ein paar Male war sie in der Königlichen Oper gewesen. Auf Billetts
-ihrer Lehrerin. Das gehörte ja zu ihrer Ausbildung. Ein paar
-Male auch in Konzerten. Einmal hatte sie Tante Oschitz in eine
-Beethovensche Symphonie begleitet, ein andermal durfte Harro mit ihr
-in ein Stockhausensches Konzert. Der gute Junge! Fast hätte er laut
-aufgejubelt, und wie er den ritterlichen Kavalier spielte!
-
-Aber die Friedrich-Wilhelmstadt: Tante Marianne hätte nur die Achseln
-gezuckt. Und sie durfte doch auch nicht fragen, nicht bitten. Sie
-wollte ja auch gar nicht ... Nein! Nein! Nein!
-
-Da kam Wilhelm: „Lene, hier! Herr Schwarz hat mir zwei Billetts
-geschickt ...“
-
-Nein! Nein! -- Ja! Ja!
-
-Tante Oschitz machte eine bedenkliche Miene, aber Wilhelm streichelte
-sie mit klugen Worten.
-
-Er sang den Postillion.
-
-Und es war fast eine Enttäuschung. Er sang wundervoll, er spielte
-hinreißend. Das Haus jubelte ihm zu, wie es kaum Wachtel zugejubelt
-hatte. Und dennoch war es eine Enttäuschung: sie mochte ihn nicht als
-Postillion. Es tat ihr weh, ihn mit der Peitsche knallen zu hören. Es
-war ihr wie eine Erniedrigung. Sie schalt mit sich selber -- und sie
-war doch auch froh darüber; erleichtert fast.
-
-Zwei Tage darauf fuhren am Nachmittag die Rackower vor.
-
-Frau Marie und Frau Marianne liebten sich nicht und waren daher
-doppelt artig gegeneinander. Immer erkundigten sie sich nach ihren
-beiderseitigen Interessen, für die sie doch kein Interesse hatten.
-Tante Marie nach der Mission in Indien, Tante Oschitz nach den
-Winterplänen der Rackower. Immer mit kleinen Malicen zwischen allen
-Artigkeiten. Onkel Ernst gab Harro einen derben Klaps: „Nun, mein
-Junge, wann hast du denn endlich die gräßlichen Schulbänke hinter dir?“
-und tätschelte Helene beide Wangen: „Viele Grüße aus Rohlbeck. Sind
-alle gut zu Wege, bißchen fatigue siehst du aus, Leneken ...“ Dabei sah
-er schmunzelnd unter seinem Monokel um die Ecke auf die beiden Damen,
-die sich drüben am Kaffeetisch so eifrig und stimmungsvoll unterhielten.
-
-Und dann hieß es: „Heut abend entführen wir dir natürlich die Lene.
-Aber, liebste Kusine, das ist doch selbstverständlich. Mach’ bloß kein
-so böses Gesicht. Wir liefern dir unsere Lene auch pflichtschuldigst
-persönlich ab. Um den Hausschlüssel müssen wir freilich bitten.“
-
-Den Hausschlüssel bekam Helene nicht. Aber Urlaub bekam sie -- „es wird
-auf dich gewartet werden.“
-
-Vom Theater kein Wort. Und doch wußte Helene: heut abend singt er in
-Flotows „Martha“. Heut abend höre ich wieder die „Letzte Rose“ ...
-
-Ganz still saß sie nachher im Wagen. Wußte nicht, ob sie sich freuen
-oder fürchten sollte. Würde es wieder eine Enttäuschung sein?
-Vielleicht konnte sie es überhaupt nicht vertragen, ihn auf der Bühne
-zu sehen, im Komödiantengewand, geschminkt und aufgeputzt. Vielleicht
-konnte sie den lärmenden Beifall nicht ertragen, der ihm zujauchzte.
-So schön wie in Rackow sang er auch gewiß nicht ... damals, als er nur
-für sie gesungen hatte ...
-
-Dabei mußte sie Rede und Antwort stehen. Über ihren Unterricht, über
-Tante Marianne. Ja, und dann sprach Tante Marie wieder von Rohlbeck.
-Rohlbeck ... Rohlbeck ... was war das eigentlich? Wo lag das? Es war ja
-fast wie ausgelöscht in ihrer Erinnerung. Selten nur hatte sie in all
-der letzten Zeit an die Eltern gedacht, an Martha ... gerade nur die
-Pflichtbriefe hatte sie geschrieben. Sie verlangten ja auch nicht viel
-Nachricht daheim, das Porto war teuer. Ja ... und nun pochte das auch
-wieder an ...
-
-„Der Rittmeister und Fritz haben sich gründlich brouilliert. Kein
-Wunder: Fritz ist dem liberalen Wahlverein beigetreten. Ein Hackentin.
-Eigentlich wirklich ein Skandal. Die Politik ...“
-
-Ach, was ging sie die Politik an. Heut abend hörte sie die „Letzte
-Rose“ ...
-
-Sie saßen in der Fremdenloge. Vorn Tante Marie und Helene, dahinter
-Onkel Ernst. Und kaum hatte er die Bühne betreten, so wußte sie, daß er
-sie bemerkt hatte -- wußte: heut singt er wieder nur für dich. Nur für
-dich. Mag das ganze Haus ihm zujubeln und toben: er singt nur für dich!
-Nur für dich!
-
-Es versank alles vor ihr. All der Firlefanz dort oben zwischen den
-gemalten Kulissen. Sie sah auch nicht darauf hin, sah auch kaum ihn.
-Nur hören -- lauschen -- lauschen --
-
-Heut zum ersten Male schmolz auch ihre Abwehr, schmolz ihr Stolz.
-Nichts war in ihr als ein läutendes reines Glücksklingen.
-
-Bis der Vorhang zum letzten Male fiel.
-
-„Na, kleine Enthusiastin! War’s schön?“ meinte Onkel Ernst, während der
-Logenschließer ihm in den Pelz half. „Mariechen, wir fahren gleich nach
-dem Hotel. Schwarz kann in einer Viertelstunde auch dort sein.“
-
-Zuerst verstand sie nicht. Dann bäumte es sich in ihrem Herzen auf.
-Ihn wiedersehen! Heute noch ... nach diesen Stunden! Fast wie eine
-Unmöglichkeit erschien es ihr. Als ein Traum, als unfaßbares Glück,
-und doch bebte und zitterte sie vor der Minute, in der seine Augen den
-ihren begegnen, seine Hand die ihre fassen würde.
-
-„Wer kommt denn noch, Ernst?“
-
-Onkel Ernst nannte ein paar Namen, gleichgültige Namen. Offiziere
-wahrscheinlich, Diplomaten. „Merivaux hat abgeschrieben. Die
-Gardeschützen haben eine große Übung im Terrain.“
-
-Merivaux! Richtig ... der Neuchateller. Ja -- so! Mein Gott, wie
-gleichgültig das alles war.
-
-Und dann, schon im Wagen, mußte sie es doch sagen: „Tante Oschitz wird
-ungehalten sein. Ich möchte lieber nach Hause.“ Sprach’s, wußte, daß es
-Lüge war und doch auch Wahrheit.
-
-Es war zu dunkel, als daß die Rackower die Blutwelle hätten sehen
-können, die ihre Wangen überflutete. Das Rollen des Wagens übertönte
-den angstvoll zitternden Ton ihrer Stimme. Onkel Ernst sagte nur: „Ach
-du Schäfchen ...“
-
-Ein paar Minuten darauf stand sie im Salon des Hotel de Rome. Es wurden
-ihr ein paar Herren vorgestellt, sie hörte die Namen nicht. Man sagte
-ihr einige Artigkeiten, sie fand nur ein Lächeln. Das Herz klopfte ihr
-bis in den Hals hinauf.
-
-Dann war er mit einem Male da. In der Tür stand er, im Frack mit weißer
-Binde, sah sich um, suchte sie ... ja ... suchte sie ...
-
-Sie las auf seinem Gesicht noch die Erregung der Bühne. Dann ein ganz
-leichtes, fast unmerkliches Kopfneigen zu ihr hinüber, ein frohes
-Lächeln: ‚Da bist du ja ... ich bin so glücklich, daß du hier bist ...‘
-und er trat zu Tante Marie, küßte ihr die Hand.
-
-Tante Marie hielt Cercle. Sie saß am Kamin, als einzige Dame; die
-Herren standen um sie herum, plauderten, Deutsch und Französisch. Nun
-winkte sie mit dem Fächer: „Helene ...“
-
-Wie schwer ihr die wenigen Schritte wurden. Als ob sie Blei an den
-Sohlen trüge; und sie hätte doch fliegen mögen.
-
-„Mignonne, Herr Schwarz wollte dich begrüßen.“
-
-Wortlos stand sie, knickste, unbewußt, was sie tat, fühlte seine Hand,
-empfand seinen Blick, wagte die Augen nicht zu erheben. Ihn nicht
-anzusehen. Denn sie fühlte: siehst du ihn an, jetzt an, so weiß er, daß
-du sein willenloses Geschöpf bist, für immer und ewig.
-
-Da öffneten sich auch schon die Flügeltüren. Der Oberkellner kam
-majestätisch auf Tante Marie zu: „~Madame, est servi.~“ Ein
-fremder Herr verbeugte sich: „Gnädiges Fräulein, ich habe die Ehre ...“
-Sie legte ihre Hand in seinen Arm. Einmal dachte sie, wie im Fluge:
-‚Ein Glück, daß er dich nicht führt.‘ Dann: ‚Wärst du doch weit von
-hier, bei Tante Oschitz und Harro, oder in Rohlbeck ...‘ Dann wieder:
-‚Wirst du ihn nachher noch sprechen?‘ ...
-
-Erst als sie saßen, als Graf Werther ein paar Worte zu ihr gesprochen
-hatte, bemerkte sie, daß Alfred Schwarz ihr zur Rechten saß. Wieder
-schrak sie zusammen, wieder wagte sie nicht, aufzusehen, nicht, ihn
-anzusehen. Und sehnte sich doch mit aller Leidenschaft ihrer Seele nach
-einem Blick aus seinen Augen, nach einem Wort von seinen Lippen.
-
-Dann fiel ihr mit einem Male ein, daß Vater wohl manchmal gesagt hatte:
-„Bist doch mein tapferes Mädel!“ Sie klammerte sich an das Wort. ‚Nein:
-nicht feige sein! Ankämpfen, ankämpfen! Um Gottes willen, was sollen
-denn diese fremden Menschen denken?‘
-
-Es war ihr immer noch, als säße sie in einem großen Schleier. Nur
-undeutlich sah sie drüben die weiße Feder auf dem Turban, den Tante
-Marie trug, und den blitzenden Crachat auf der Brust des Herrn neben
-ihr. Nur undeutlich hörte sie, was man sprach. Aber nun zwang sie
-sich. ‚Bist doch mein tapferes Mädel!’ Nun kämpfte sie gegen sich an.
-Und langsam, ganz langsam sank der Schleier nieder. Der Wille kam ihr
-zurück. Sie nahm ein paar Bissen, sie trank hastig ein Glas Champagner.
-Sie konnte jetzt antworten. „Ja, ich bin noch nicht lange in Berlin.“
--- „Jawohl, es gefällt mir ausgezeichnet.“ ... „Bei meiner Tante
-Oschitz.“ -- „Ganz richtig, mein verstorbener Onkel war Vortragender
-Rat im Kultusministerium.“
-
-Und dann hörte sie plötzlich auch seine Stimme neben sich. Leise
-flüsterte er: „Habe ich gut gesungen heut abend? Ich sang auch heut nur
-für ... nur für ein wunderschönes junges Mädchen, das rechts in der
-Fremdenloge saß. Ein wunderschönes Mädchen mit rostbraunem Haar, mit
-blauen, leuchtenden Augen ...“
-
-Die ganze Tischrunde, meinte sie, müßte es gehört haben. Aber das
-schwirrte und schwirrte durcheinander.
-
-„Darf ich denn diese wunderschönen blauen Augen jetzt nicht
-wiedersehen?“
-
-Es zwang sie. Er zwang sie. Sie mußte sich ihm zuwenden. Dabei raffte
-sie noch einmal all ihren Willen, all ihre Kraft zusammen, rang um ein
-Lächeln, suchte nach einem abwehrenden leichten Scherz zur Antwort.
-Aber als sie ihn ansah, brachen Wille und Kraft zusammen.
-
-Vielleicht fühlte er es. Vielleicht stieg das Mitleid in ihm empor. Er
-sprach lauter, so daß es die Nächsten hören mußten: „Es war ein recht
-gutes Ensemble. Fanden Sie nicht auch, gnädiges Fräulein? Das Orchester
-ist sogar vortrefflich. Man darf ja nicht die Ansprüche stellen, die
-einer großen Oper gegenüber berechtigt sind. Aber immerhin, es ist mehr
-als Mittelmaß. Dazu dies dankbare Publikum!“
-
-Sie verstand seine Absicht, war ihm dankbar. Aber sie brachte nur mit
-Mühe ein „Es war sehr schön --“ über die Lippen. Ein Hauch war es nur,
-wohl ihm allein verständlich, und er mochte es deuten -- in seinem
-Sinne. Er strahlte sie an. Und als ob sie nun seiner Stimmung Flügel
-verliehen hätte, riß er das Tischgespräch an sich. In sprühender
-Laune erzählte er vom russischen Hofe, gab kleine Theateranekdoten,
-Kulissenscherze zum besten; sprach dann wieder ernster: von Richard
-Wagner, den er in Zürich kennen gelernt hatte, von dem greisen
-Meyerbeer, dem er in Paris nähergetreten war, von Rubinstein, in
-dessen Petersburger Heim er Gast gewesen. Er sprach vortrefflich,
-pointenreich. Daß er -- immer er im Mittelpunkt aller Wendungen
-stand, was verschlug’s? Vielleicht gab gerade das Persönliche seiner
-Unterhaltungsgabe besonderen Reiz.
-
-Helene lauschte und lauschte. Manchmal senkte es sich wieder über sie
-gleich einem dichten Schleier, so daß sie nicht mehr die Worte, nur
-noch den Klang seiner Stimme wie im wohligen Traume hörte; dann kamen
-Momente, in denen sie mit einem heimlichen Jubel dachte: eigentlich
-spricht er nur zu dir, nur für dich allein. Und ein -- zwei Male
-fühlte sie, wie, während er sprach, seine Hand unter der Tafel die
-ihre suchte. Dann schrak sie zusammen, rückte ab von ihm und konnte
-doch nicht wehren, daß er ihren Arm streifte, ganz leise, zärtlich,
-verstohlen.
-
-Tante Marie hob die Tafel auf.
-
-Im Salon nebenan wurde der Kaffee genommen. Und hier gewann Helene
-endlich die Selbstbeherrschung zurück. Sie stand, getrennt von ihm, in
-einem Kreise der jüngeren Herren, fand sich in dem leichten Plauderton
-zurecht. Es gab einige Anknüpfungspunkte. Der eine der Herren hatte
-in Sodelzig bei Onkel Grucker in Quartier gelegen, der andere kannte
-Fritz -- „den sonderbaren Schwärmer, der ja unter die Demokraten
-gegangen sein soll“ -- von der Universität her. Wilhelm kannten fast
-alle. „Warum ist Ihr Herr Bruder heut nicht hier?“ Graf Werther lachte:
-„Wilhelm Hackentin sitzt bei Ewest mit ein paar englischen Herren
-zusammen, die nach ungezählten Pfunden aussehen. Ich war vorhin auf
-einen Stipps drin und sah ihn zwischen wallenden grauen Bärten, ganz
-ehrwürdig vor lauter Wohlhabenheit.“
-
-Plötzlich war Schwarz wieder neben ihr, und wie er vorhin das Gespräch
-der ganzen Tafel beherrscht hatte, so wußte er sie jetzt aus der
-Unterhaltung der anderen herauszureißen, sie für sich selber zu
-isolieren. Was er zuerst sagte, das durften, konnten sie alle noch
-hören. Nach ihren Studien fragte er. Ob sie sich zufrieden fühle bei
-der Kollegin Wippern? Wartete die Antwort nicht ab, sondern ergänzte
-selber: „Unsere treffliche Harriers-Wippern ist ja Ihres Lobes voll.
-Meine Lieblingsschülerin, sagt sie immer wieder. Aber eigentlich müßten
-Sie zur Viardot nach Baden-Baden. Das wäre die rechte Lehrerin für Sie.“
-
-Dann, als sie für ein paar Augenblicke allein standen, flüsterte er
-hastig: „Entsetzlich -- diese Geselligkeit. Dieser Zwang! Nicht zwei
-Worte kann man unbeobachtet mit jemand sprechen, dem man so viel zu
-sagen hätte, so unendlich viel ...“
-
-Sie sah scheu, erschrocken, fast verständnislos zu ihm auf, senkte
-gleich wieder den Blick. Ihr war’s ja, als hätten sie den ganzen Abend
-über miteinander gesprochen, zueinander, nur zueinander und füreinander.
-
-„... so unendlich viel zu sagen!“ wiederholte er heiß. „Es muß anders
-werden. Ah, jetzt nur einmal einen Spaziergang durch den Rackower Park,
-allein, ohne diese zudringlichen, neugierigen, fremden Gesichter.
-Allein ... wir beide ... wie schön müßte das sein!
-
-... So sprechen Sie doch! Nur ein paar Worte, ich beschwöre Sie. Morgen
--- nicht wahr? -- Morgen gegen ein Uhr gehen Sie zur Wippern ...“
-
-Sie konnte ja nicht sprechen. Ihre Stimme war erstickt. Vor Angst, vor
-Scham, vor fassungsloser Scheu. Aber der Stolz war von ihr abgefallen,
-verweht, dahin. Sie neigte willenlos den Kopf.
-
-„Ein Uhr ... Dank ...“ hörte sie noch. Und da kam Onkel Ernst
-angekugelt, quer durch den Salon: „Leneken, jetzt mußt du aber leider
-fort. Sonst kriegen wir’s mit Tante Oschitz zu tun, und ich bin kein
-Ritter Georg -- das Drachentöten war nie meine Force.“
-
-Er nahm sie an der Hand, schielte unter seinem Einglas um die Ecke
-auf Graf Werther hin und auf Schwarz, die plötzlich in ein angeregtes
-Gespräch verwickelt schienen, führte Helene zur Tante. Sie knixte,
-küßte die Hand, bekam einen kleinen zärtlichen Klaps mit dem Fächer,
-grüßte noch flüchtig nach rechts und links, mußte von Onkel Ernst
-einen dicken Schmatz auf die Stirn in den Kauf nehmen: „Fameus hast du
-ausgesehen, Lene. Trotz deines simplen Fähnchens. Tante Marie müßte
-eigentlich mal mit dir zu Bonwitt fahren .... Nacht, Kind. Grüße den
-Drachen.“
-
-Draußen stand Höhne mit dem diskret vertraulichen Domestikengesicht,
-das er armen Verwandten gegenüber immer hatte, geleitete sie, mit zwei
-Schritt Distanz, die Treppe hinunter zum Hotelwagen: „Untertänigst gute
-Nacht, gnädiges Fräulein.“
-
-Und dann huschte sie durch den Vorgarten, der im ersten Schnee lag,
-unter den bereiften Bäumen hin, in fliegender Eile. Schon von weitem
-sah sie, daß die Lampe im Zimmer von Tante Marianne noch leuchtete. Ein
-schmaler Lichtkegel fiel aus dem Fenster im Erdgeschoß quer über den
-weißen Rasen.
-
-Gleich, auf das erste leise Pochen, war Tante Marianne an der Tür. In
-ihr dickes Umschlagetuch ganz eingehüllt; das kleine, schmale Gesicht
-hob sich aus dem Schwarz wie ein Nonnenantlitz.
-
-Es sah so ernst und so streng aus, daß Helene zusammenbebte, als ob sie
-sich einer Schuld bewußt wäre. Aber Tante Marianne hatte kein tadelndes
-Wort. Sie nickte nur, und es klang höchstens ein wenig spöttisch: „War
-es sehr schön, Helene? Nun ja, natürlich. Die Rackowschen sind ja die
-berühmten Amüseurs. Da steht das Licht. Gute Nacht, mein Kind.“
-
-Nun war sie oben in ihrem Zimmerchen.
-
-Als sie den Leuchter auf den Nachttisch stellte, fiel ihr erster Blick
-auf ein kleines, altes Buch, das bisher nie dort gelegen hatte. Ein
-Lesezeichen lag darin, in Kreuzesform geschnitten. Und als sie das Buch
-aufschlug, las sie:
-
- „Wer die Welt erkieset,
- daß er Gott verlieset,
- Wenn es geht ans Scheyden,
- Verlieret er alle Beyden.“
-
-
-
-
-Sechstes Kapitel
-
-
-‚... Wer die Welt erkieset ...‘
-
-An jenem Abend, als Helene den Spruch des alten Tauler zum ersten Male
-las, hatte er sie schwer getroffen.
-
-Nun lächelte sie darüber. Sie hatte ja gar nicht ‚die Welt erkieset‘.
-Nur einen einzigen, einen geliebten Mann hatte sie sich zu einem
-stillen, heimlichen Glück gewonnen. Sie hatte ja gar nicht Gott
-verlassen: der liebe Gott dort oben über den Wolken hatte ihr ja in
-seiner unergründlichen Güte diesen einzigen, den über alles geliebten
-Mann geschenkt!
-
-Ihr Herz war so voll. Ihr Glück war so groß. Und daß es so heimlich und
-verschwiegen, das war zu allem Herrlichen noch eine besondere Gnade. An
-jedem Abend lag sie mit gefalteten Händen und träumte offenen Auges ein
-Dankesgebet. Nun wußte sie es: er hatte sie geliebt vom ersten Sehen
-an; er würde sie lieben bis zu seines Herzens letztem Schlag. Und sie
--- sie! Ach, was kam es auf sie an?! Wenn sie auf dem Altar, den sie
-sich errichtet, zu Asche verglühte, was verschlug’s!
-
-Nein, nicht zu Asche verglühen. Immer aufs neue erglühen, leben und
-lieben! Jeden Augenblick festhalten, Hand in Hand mit dem Geliebten
-bitten, beten: verweile doch ... du bist so schön! Und über den
-Augenblick hinaus Pläne schmieden, Hand in Hand mit dem Geliebten. Aug’
-in Aug’ mit ihm goldene Pläne, Zukunftsschlösser bauen, Stein auf Stein
-zu wunderbaren Wölbungen zusammentragen und zu festen Fundamenten.
-Die Zukunft -- die Zukunft gehörte ja ihnen und ihrem Glück! Aber auch
-geduldig warten und ausharren wollte sie, sich biegen und beugen und
-arbeiten, studieren. Alles, alles, wie er es wünschte und wollte ...
-
-Sie sahen sich täglich.
-
-Die Liebe machte sie beide erfinderisch. Manchmal mußte sie über ihn
-lächeln: wie unerschöpflich sein Register an Auskunftsmitteln war.
-Manchmal scherzte sie, sprach zu ihm Goethes Wort aus der „Iphigenie“:
-„Mir schien List und Klugheit nicht den Mann zu schänden --“. Manchmal
-erschrak sie vor seinen Anschlägen und stimmte doch jubelnd bei. Heut
-mußte der gute Wilhelm herhalten, den Elefanten spielen; morgen sahen
-sie sich in einem Konzert, in der Oper; dann begegneten sie sich bei
-der Harriers-Wippern; ein großer Spaziergang durch die verwachsenen,
-verschneiten Wege des Tiergartens, vom Goldfischteich bis zu Kroll,
-von Kroll bis zum Hofjäger, kreuz und quer, einte sie heut; morgen
-mußte sie Besorgungen in der Stadt vorschützen, und er führte sie durch
-die vergessenen kleinen Straßen Alt-Berlins, wo sie sicher waren,
-keinem Bekannten zu begegnen. Oder sie trafen sich im Alten Museum, in
-irgendeinem Teil, wo es für sie nichts zu sehen gab: bei den Ägyptern
-oder vor den Münzkästen. Da standen sie dann vor irgendeiner Mumie oder
-den Diadochenmünzen, drückten sich die Hände, flüsterten, raunten,
-scherzten -- und blickten sich in die Augen. Und wenn der Aufseher
-gerade vorüberging, machten sie ernste, wichtige Gesichter und wiesen
-mit ausgestrecktem Zeigefinger: „Außerordentlich interessant ...
-Erstaunlich, diese Alten!“
-
-Wovon sie sprachen, worüber sie raunten und flüsterten? Über ihre
-Liebe, über ihr Glück. Wie das gekommen, wie das war, wie das bleiben
-sollte -- in alle Ewigkeit. Nur über ihre Liebe, nur über ihr Glück.
-Oder doch fast nur. Denn er sprach auch bisweilen von seiner Tätigkeit,
-von seinen Erfolgen; auch wohl von den kleinen unberechenbaren
-Verdrießlichkeiten und Enttäuschungen, die keinem Schaffenden erspart
-bleiben. Aber sie brauchte ihn dann nur hell anzusehen, seine Hand zu
-drücken, und die Schatten verflogen. Selten, sehr selten sprach er von
-ihrer Kunst. Das tat manchmal ein wenig weh. Aber es genügte ja, daß er
-wußte, sie schritt fort. Und wie schritt sie fort! Sagte das nicht auch
-Frau Harriers-Wippern: „Vor ein paar Wochen zeigten Sie nur das starke
-Temperament, jetzt fühle ich die Seele in Ihrer Stimme.“ Das tat die
-Liebe -- auch das tat die Liebe!
-
-Ein paar Male mußte Alfred verreisen. Auf vier, fünf Tage, einmal
-auf eine ganze Woche. Nach Dresden, nach Köln, nach Hannover zu
-Gastspielen. Das waren trostlose Tage. Dann legte sich jedesmal die
-Stille der einsamen Insel mit Zentnerschwere auf Helene. Nicht als
-Frieden empfand sie die Ruhe, nur als Öde. Ihrem ganzen Leben fehlte
-der Inhalt; selbst die Kunst war keine Trösterin. Tante Mariannes
-leise, dünne Stimme tat ihr fast körperlich weh. Nichts interessierte
-sie. Was kümmerte es sie, wenn Tante Oschitz aus der „Kreuzzeitung“
-vorlas, daß Preußen an der Halsstarrigkeit der liberalen Abgeordneten
-zugrunde gehen würde, daß der König, Bismarck und Roon auch gegen diese
-verstockten Demokraten die Heeresreorganisation durchsetzen müßten; daß
-die Russen sich mit den Polen in den Haaren lägen? Was kümmerte es sie,
-wenn der Tränen-Müller im dämmrigen Salon schöne Worte über die Weihe
-der kommenden Weihnacht sprach, während ein halbes Dutzend alter Damen,
-um ihn gruppiert, Missionsstrümpfe strickte.
-
-Ja, wenn Harro noch der alte gewesen wäre, der junge, liebe, frische
-Kamerad. Aber um Harros Unbefangenheit war es geschehen. Anfangs hatte
-sie sich amüsiert, wie er ihr Ritterdienste leistete, daß er ein wenig
-verliebt in sie war, wie er das äußerte, mit verstohlenen Blicken,
-mit halben Worten. Nun war das anders. Er konnte sie schweigend eine
-Viertelstunde lang anstarren, fest zusammengepreßt die Lippen und
-düster die Augen. Manchmal war es zum Fürchten. Manchmal dachte sie:
-Er ahnt etwas von deinem heimlichen Glück, er ist eifersüchtig, er
-quält sich und will dich quälen. Dann war’s wieder, als wollte er
-gutmachen. Sie fand plötzlich auf ihrem Zimmer ein paar Rosen. Rosen
-zur Winterszeit! Daß der Junge nur nicht sein ganzes Taschengeld für
-sie verpulverte. Oder er faßte plötzlich nach ihrer Hand und bat: „Du
-übst wohl viel, aber uns singst du gar nichts mehr vor. Tu’s wieder,
-liebe Helene.“ Sie mußte den Kopf schütteln. Was sie jetzt hätte singen
-können, wie sie’s hätte singen mögen, das paßte nicht für die einsame
-Insel, auch nicht für Harro --
-
-Schreckliche Tage, diese Tage, an denen Alfred fern war. Aber auch
-die Sehnsucht hatte ihre Süßigkeit. Und dann flogen ja die heimlichen
-Briefe herüber und hinüber, ~Poste restante~-Briefe, die sie von
-der Hauptpost in der Spandauer Straße abholen mußte, jedesmal mit
-erneutem Herzklopfen. Ein kümmerlicher Ersatz freilich, solch ein
-Brief. Auch faßte Alfred sich immer so kurz. Kein Wunder zwar bei
-dieser aufreibenden Tätigkeit auf den Gastspielreisen, bei den langen
-Fahrten, den Proben, den vielen Verpflichtungen. Aber das Schreiben lag
-ihm wohl überhaupt nicht. Er berichtete nur, und Herz und Augen suchten
-in seinen Zeilen oft vergeblich nach den heißen Liebesworten.
-
-Was tat’s! Was verschlug’s?! Ein paar Tage, und er war wieder da! Sie
-sah ihn wieder, sie flüsterten und raunten, sie lachten und jubelten
-und waren glücklich.
-
-Dann setzte der Winter, der so lange gezögert hatte, mit voller Macht
-ein und erwies sich als ein arger Störenfried.
-
-Den richtigen deutschen Winter, wie er nun mit einem Male da war,
-fürchtete Alfred. Über das bißchen Schnee und ein, zwei Grad Kälte
-war er fortgekommen; als aber die Eisblumen an den Fenstern blühten,
-fühlte er im Geist schon den Katarrh, begann zu schelten, daß man an
-der Spree gegen Witterungsungunst schlechter geschützt sei als an der
-Newa, und ging trotz Pelzkragen und Schal nur ungern über die Straße.
-Mit den heimlichen Wanderungen durch den Tiergarten oder durch das
-Gassengewirr vom Molkenmarkt zum Alexanderplatz war es vorbei. Das
-Landkind, das mit Vater bei achtzehn Grad Kälte im offenen Schlitten
-zu fahren gewohnt war, wollte das nicht recht begreifen. Aber da der
-geliebte Mann so empfindlich war, half’s ja nichts: sie mußte sich
-fügen.
-
-Sie ratschlagten.
-
-„Ich mache einfach bei deiner Tante Besuch“, meinte er. „Ich habe schon
-manchen Drachen gezähmt, um mit dem Rackower zu sprechen.“
-
-„Tante Marianne ist kein Drachen. Aber --“
-
-„Aber --“, fragte er heftig zurück. „Sollte ich ihr etwa deiner Meinung
-nach nicht vornehm genug sein?“
-
-Es kränkte sie ein wenig. Ihr ‚Aber‘ konnte sie doch nicht recht
-begründen. „Ich hab’s nur so in den Fingerspitzen, Fred ... es tut
-nicht gut.“
-
-„In den Fingerspitzen? Zeig’ doch mal her.“ Er lachte und küßte
-jeden einzelnen Finger einzeln auf die rosige Spitze. „In diesen
-allerliebsten Dingerchen hier können ja nur die allerschönsten Ideen
-hausen. Wenn in den Fingerspitzen überhaupt Ideen wohnen können.“
-
-Er machte seinen Besuch, wurde sogar angenommen; brachte zur Einführung
-eine Empfehlung der Rackowschen Herrschaften, sprach sehr zierlich über
-die reizende Lage der einsamen Insel, bewunderte das alte Berliner
-Porzellan in der Mahagoniservante, spielte, ganz beiläufig, darauf an,
-daß er eigentlich die wundervolle Stimme von Fräulein von Hackentin
-entdeckt hätte -- und wurde, ehe er es sich noch versah, in Gnaden
-entlassen. Oder richtiger: nur entlassen.
-
-Helene war nicht anwesend gewesen. Als ihr aber Tante Oschitz von dem
-Besuch erzählte, setzte sie hinzu: „Dieser Herr Schwarz oder wie er
-heißt, paßt zu den Rackowschen. Er ist auch ein Fant!“
-
-Das Blut jagte über Helenens Wangen. Gut, daß es zwischen den tiefen
-Mauern immer so dämmerig war. „Ein Fant! Tante Marianne, wie kann man
-so hart urteilen nach einmaligem Sehen!“ stieß sie heiß hervor. Empört
-war sie. Das war noch das mindeste, was sie der Tante sagen mußte.
-
-Die alte Dame schwieg eine Weile. „Vielleicht hast du recht, Kind,“
-meinte sie dann. „Wir sollen nicht allzu schnell urteilen. Ich erkenne
-auch an, daß dieser Herr dein Bestes gewollt hat. So magst du ihm wohl
-dankbar sein dürfen. Aber ungerecht war ich, glaube ich mindestens,
-doch nicht. Ich habe in den Gesichtern der Menschen lesen gelernt: in
-diesem hübschen glatten Gesicht sehe ich nichts als Oberflächlichkeit.“
-
-„Daß du ihn einmal singen hörtest, Tante!“
-
-„Ich bin wohl nicht musikalisch genug, um das würdigen zu können,
-Helene. Aber gesetzt, er sänge wie Orpheus, so würde mich das nicht
-beeinflussen. Kunst ist ein Kräutlein nicht für alle Leutlein, sagt
-ein altes Sprichwort. Bei seiner Kunst müßte ich immer an das Theater
-denken, und ich liebe diese Welt des Scheins und des Trugs nicht. Du
-weißt es.“
-
-Sie sprach das alles mit ihrer ruhigen, leisen, sanften Stimme. Daß
-diese Stimme doch so wehe tun konnte!
-
-„Herr Pastor Müller geht aber auch ins Theater.“
-
-„Das mag wohl sein, und er wird wissen, wie er es mit sich und Gott
-abmacht. Du mußt mich nicht falsch verstehen, Helene: ich richte nicht.
-Ich spreche nur ein subjektives Empfinden aus. Und nun ist’s wohl genug
-von diesem Herrn Schwarz --“
-
-„Deine Frau Tante ist +doch+ ein Drachen,“ sagte Alfred, als sie
-sich am Tage darauf trafen. „Sie hat mich kaum eines Wortes gewürdigt.
-Ja und Nein war ihre Rede, und es fehlte nur das Amen. Das wird wohl
-gefolgt sein, mit drei Kreuzen, als sich die Tür hinter mir geschlossen
-hatte.“
-
-Es klang sehr verletzt, und sie fand nicht den Mut, ihm ein Wort
-zugunsten von Tante Oschitz zu sagen.
-
-„Helene, Schönste, Liebste -- könntest du nicht einmal zu mir kommen?
-Du kennst meine kleine Wohnung ja gar nicht, weißt nicht, wie ich
-hause. Ich denke es mir so reizend, dir eine Tasse Tee zu bereiten, bei
-mir, echt russisch, auf einem riesigen Samowar.“
-
-Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf.
-
-„Sei nicht so klein, Helene ...“
-
-Wieder schüttelte sie den Kopf.
-
-Er kannte das schon: sie gab eigentlich immer nach, aber bisweilen grub
-sich zwischen ihre Brauen ein Fältchen des Eigenwillens ein, dabei
-spannte sich ihr Nacken, sie schloß die Augen, als wollte sie ihn nicht
-ansehen -- dann war jedes Wort vergeblich.
-
-„Liebste Närrin! Ich hab übrigens noch einen anderen Vorschlag. Eine
-Entdeckung hab ich neulich gemacht --“
-
-Seitdem trafen sie sich meist in einer winzig kleinen Konditorei in der
-Bendlerstraße. Nur ein Katzensprung war’s von der einsamen Insel, und
-doch waren sie hier sicher vor jeder Entdeckung. Denn die Konditorei
-war jetzt, im Winter, nur während der Mittagsstunden einigermaßen
-besucht, von den Eisläufern, die sich hier bei einem Glase Punsch ein
-wenig aufwärmen wollten.
-
-Einen schmalen Verkaufsraum gab’s dort und dahinter ein einziges
-Zimmerchen mit vier Tischchen. Ein verschossener brauner Plüschvorhang
-trennte beide Räume. Vorn saß hinter dem Ladentisch ein verrunzeltes
-Fräuleinchen, immer tief über einen Leihbibliotheksband gebeugt.
-„Versteinert, wie ihre Kuchen,“ meinte Alfred. Im Gastzimmer waren sie
-stets allein. Es kam wohl vor, daß die dünne Türklingel ging und Helene
-aufschrecken ließ. Aber es war dann immer nur irgendein Dienstbote, der
-etwas holte: ein Dutzend Pfannkuchen, ein paar Spritzkuchen, ein paar
-Windbeutel.
-
-Manchmal gab’s Anlaß zu einem Scherz. „Hörst du, Helene, Baisers!
-Baisers! Komm -- komm, kleine süße Konditorin ...“
-
-Zuerst hatten sie sich gegenüber gesessen an einem runden Tische mit
-fleckiger Marmorplatte. Aber es gab da an der Wand ein uraltes Sofa.
-Zu dem hatte er sie in einer Dämmerungsstunde geführt.
-
-Ach, diese glückseligen Dämmerungsstunden, in denen sie sich am ehesten
-fortstehlen konnte. Tante las dann, und Harro saß über seinen dreimal
-gesegneten Schulaufgaben.
-
-Fräulein Minna -- sie wußten schon, daß das Kuchenfräulein Minna hieß
--- kam jedesmal hereingetrippelt, wollte auf einen Stuhl steigen, um
-die eine Gasflamme anzuzünden.
-
-„Aber Fräulein Minna, Sie Verschwenderin! Es ist ja noch ganz
-hell!“ rief Fred empört. Und sie trippelte wieder fort, mit einem
-verständnisvollen Lächeln, trippelte zu ihrem Leihbibliotheksbande, in
-dem gewiß immer unendlich viel Liebe vorkam.
-
-Der ganze Raum war erfüllt von einem süßen Duft. Zuerst hatte der
-Helene angewidert. Nun wußte sie nichts mehr davon. So wenig wie
-davon, ob das Stückchen Kuchen, das sie pflichtschuldigst zerkrümelte,
-altbacken war oder nicht.
-
-O diese Dämmerungsstunden im Schutze des alten, lieben braunen
-Plüschvorhangs, auf dem tiefeingesessenen Sofa, wo sie zuerst allein
-gesessen hatte -- und nun mit ihm saß. Eng aneinandergeschmiegt,
-plaudernd, raunend, flüsternd, Hand in Hand, wo sie träumten, sich
-Zukunftsschlösser bauten ...
-
-Eifrig bauten sie jetzt Zukunftsschlösser. Er wußte, daß sie ein
-armes Mädchen war, arm wie eine märkische Kirchenmaus. Nichts brachte
-sie ihm als ihre Liebe, ihre große Liebe. Aber dafür hatten ja beide
-ihre Kunst. Ein Jahr noch, und sie möchte hinaustreten können auf die
-Bretter, die die Welt bedeuten. Ihre neue Welt! Ihr stand es nun fest,
-auch sie ging zur Bühne. Der Widerstand der Eltern würde schon zu
-besiegen sein. Daran zweifelten beide nicht. Zweifel? Es gab für sie
-überhaupt keine Zweifel: hell, sonnig lag die Zukunft vor ihnen.
-
-Ein Jahr noch! Was war ein Jahr?! Wo jeder Tag, von einem Sehen zum
-andern, für Helene verrauschte wie ein Augenblick.
-
-In der kleinen Konditorei feierten sie auch ihr Weihnachten miteinander.
-
-Helene hatte nach Rohlbeck kommen sollen. Aber als Wilhelm sich wenige
-Tage vor dem Fest einfand, um alles zu verabreden, hatte sie ein
-Tuch um den Hals und klagte. Nein, bei dieser eisigen Kälte durfte
-sie ihre Stimme der Gefahr nicht aussetzen. Es ging wirklich nicht,
-Wilhelm sah das selber ein, auch Tante Oschitz riet ab. Schade ...
-die Eltern werden’s schmerzlich empfinden. Jawohl ... aber auch sie
-werden’s einsehen. Und Geld hätte es auch gekostet ... alles kostete
-so viel Geld, und Vater hatte erst vor kurzem geschrieben, mit den
-Kartoffelpreisen sei’s jammervoll, „das heißt, liebe Lene, du brauchst
-dir darüber keine Kopfschmerzen zu machen“.
-
-Als Bruder Wilhelm gegangen war, huschte Helene treppauf in ihr
-Zimmer, lachte wie ein Schulmädchen, das die französische Stunde
-geschwänzt hat, und kramte ganz unten aus dem Kommodenkasten die kleine
-Perlenstickerei heraus, an der sie so glückselig heimlich arbeitete,
-bei jeder Perle einen Wunsch für ihn hineinflechtend, ein ‚Sei
-glücklich! Behalt mich lieb!‘
-
-Tante Marianne hatte eine große Weihnachten. Sie bescherte vielen armen
-Kindern, meist aus dem Osten Berlins, wo dem Pastor Müller jüngst von
-seiner Gemeinde ein eignes Kapellchen gebaut worden war.
-
-Aber sie hatte auch Helene nicht vergessen. Unmittelbar neben Harros
-Aufbau stand ihr Gabentisch. Da lagen die Briefe und kleinen Geschenke
-aus Rohlbeck und von der Tante ein Pelzmuff und ein Buch mit Goldtitel
-und Goldschnitt: „Amaranth“ war’s, von Oskar von Redwitz. Daneben lag
-noch ein kleines Bändchen: „Neue Gedichte“ von Emanuel Geibel. Sie
-blätterte mit ungeduldiger Hand darin. Auf der ersten Seite stand in
-Harros steifer Handschrift: „Seiner lieben Kusine“ ... Als sie flüchtig
-aufsah ihm einen Dank zuzuwinken, sah sie, daß er seinen Aufbau noch
-gar nicht beachtet hatte, daß seine Augen nicht von ihr ließen --
-
-Der gute dumme Junge! Wenn er wüßte, wenn er wüßte ...! Aber es tat ihr
-doch leid, daß sie so gar nicht an ihn gedacht hatte. An wen hatte sie
-denn überhaupt gedacht in all den letzten Wochen, als nur an den einen,
-den einen!
-
-Tante Marianne stand inmitten der Kinder, die scheu und verlegen ihre
-wollenen Jacken und Strümpfe, ihre Pfefferkuchen, Äpfel und Nüsse
-beschauten. Für jedes hatte Tante Marianne ein gütiges Wort.
-
-Jetzt war es an der Zeit --
-
-Helene huschte hinüber, zu dem großen Weihnachtsbaum, dankte, küßte die
-Hand: „Ich gehe nur auf ein paar Minuten zu Frau Harriers-Wippern.“
-
-‚Wie ich schon lügen kann,‘ fand sie selber und freute sich darüber.
-Lachen hätte sie mögen.
-
-Tante Marianne war vollauf beschäftigt. „Nimm aber den Pelzkragen,
-Kind!“ sagte sie nur zerstreut und hatte schon wieder einen kleinen
-Blondkopf beim Wickel, band ihm zur Probe ein paar feste wollene
-Ohrenklappen über das Flachshaar.
-
-Jetzt war es an der Zeit. Jede Minute war kostbar, jede Minute ein
-Weihnachtsgeschenk. Im Nu hatte sie den Mantel um, den Kapotthut auf,
-eilte die Treppe hinunter.
-
-Da stand Harro im Flur. Gerade vor der Haustür, breitbeinig, mit seinem
-finstersten Gesicht.
-
-„Du willst fort, Helene? Heut? Jetzt? Am Heiligen Abend?“
-
-„Nur zu Frau Harriers-Wippern.“
-
-Das Lügen war nicht so leicht wie vorhin. Der Junge hatte ein paar
-Augen, die dreinschauten, als wollten sie einen durchbohren.
-
-„Sie hat mich zur Bescherung gebeten. Ich komme gleich zurück, lieber
-Harro.“
-
-„Ich bringe dich --“ Er griff schon nach dem Kleiderrahmen an der Wand.
-
-„Nein, das gebe ich nicht zu. Du darfst jetzt nicht von Tante fort.“
-
-„Wir kommen ja gleich zurück.“ Fast höhnisch klang’s, wie er das
-„gleich“ betonte.
-
-„Unter keinen Umständen, Harro. Laß nur, ich bitt’ dich!“
-
-Der Boden brannte ihr unter den Füßen. Wie nur den dummen, lieben,
-eifersüchtigen Jungen beruhigen, beseitigen?
-
-„Ich danke dir auch vielmals für das schöne Buch, Harro. Geibels
-Gedichte hatt’ ich mir schon lange gewünscht. Wie gut du das getroffen
-hast.“
-
-Er stand noch immer.
-
-Da kam ihr ein toller Einfall.
-
-Sie packte plötzlich den Kopf des Jungen mit beiden Händen und
-küßte ihn: „Dank, Harro!“ und noch einmal „Dank! Dank!“ Küßte ihn
-auf die zuckenden Lippen. Derb und herzlich. Und dann ließ sie ihn
-stehen, rannte zur Tür, rannte durch den Vorgarten, jagte die stille,
-menschenleere Straße entlang. Immer vor sich hin lachend. Ein Küßchen
-in Ehren ... da hatte sie einen Glücklichen gemacht, recht zum schönen
-Weihnachtsfeste. Ein Küßchen in Ehren ... weiß Gott in Ehren, denn
-solch Kuß zwischen Vetter und Kusine war ja nicht viel anders als
-zwischen Geschwistern ... aber was der Junge für Augen gemacht hatte!
-
-Das Lachen noch auf den Lippen, die Wangen vom schnellen Lauf in der
-kalten Luft gerötet, so kam sie in die Konditorei, nickte dem alten
-Fräulein zu, hob den Plüschvorhang -- und wäre fast in ein lautes
-Jubeln ausgebrochen. Denn da stand Fred, hatte eine richtige kleine
-Weihnachtspyramide vor und zündete die gelben Wachslichterchen an.
-Gerade nur zwei Spannen hoch war das Gestellchen, streckte seine acht
-gradlinigen grünen Arme steif von sich, vier größere unten, vier
-kleinere oben; auf der Spitze aber turnte ein goldenes Engelchen.
-
-Sie flog auf den Geliebten zu, sie flog ihm an den Hals:
-
-„Ach du ... du ... das hast du für mich ...?“
-
-„Selbst auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Schloß gekauft und
-höchsteigenhändig hertransportiert. Gibt’s etwas Lieberes,
-Scheußlicheres als solch eine Berliner Pyramide?“
-
-Und dann saßen sie nebeneinander auf dem Sofa, und erst mußte er die
-Augen zumachen, „aber fest, ganz fest“, und sie baute ihm unter der
-Pyramide den kleinen Tabaksbeutel auf, in dessen Perlenstickerei sie
-so unzählige gute Wünsche hineingearbeitet hatte. Und darauf hielt
-er ihr mit der Linken die Augen zu und kramte aus der Tasche heraus.
-Eine Brosche war’s mit gelben geschliffenen Topasen, zierlich in
-Goldfiligran gefaßt, ein rotes Juchtentäschchen für Visitenkarten,
-ein Fläschchen ~Violet de Parme~. Und nun ging’s ans Sehen und
-Bewundern und Bedanken. Mit den kleinen Punschgläsern, die Fräulein
-Minna hereingebracht, stießen sie an; ein Schüsselchen mit süßem
-geriebenem Mohn stand daneben, dem Berliner Weihnachtsessen; davon
-steckte Helene ihm einen Löffel voll in den Mund und wollte sich
-totlachen, als er sich entsetzt schüttelte.
-
-Mit einem Male klang ein Klavier, dünn und fein, aber ganz deutlich. Es
-mußte wohl oben, über der Konditorei, beschert werden: „Stille Nacht
-... heilige Nacht ...“
-
-Und da begann Helene mitzusingen. Ganz leise zuerst. Dann stimmte er
-ein, und nun sangen sie beide, laut und voll und jubelnd.
-
-Sie merkten es gar nicht: der Plüschvorhang hob sich verstohlen,
-zwischen den braunen Falten schob sich das alte verrunzelte Gesicht von
-Fräulein Minna hindurch. Ganz still stand sie, andachtsvoll lauschend,
-mit verklärter Miene.
-
- „Stille Nacht, heilige Nacht,
- Alles schläft, einsam wacht
- Nur das traute, hochheilige Paar.
- Holder Knabe im lockigen Haar --
- Schlaf in himmlischer Ruh --“
-
-Der Gesang verhallte. Sie sahen sich an mit leuchtenden Augen und
-wußten beide, daß sie noch nie, nie so schön gesungen hatten, nie
-schöner singen würden, als eben.
-
-Langsam glitten die Falten des braunen Vorhangs wieder zusammen.
-
-„War das schön! War das schön!“ hauchte Helene. Und er küßte ihr die
-Tränen aus den Augen.
-
-Eine ganze Weile saßen sie still. Die winzigen gelben Wachslichterchen
-brannten herunter. Weihnachtsduft zog durch den Raum. Nun erlosch das
-letzte Licht --
-
-Da stand Helene auf. „Ich muß fort“, sprach sie leise und gepreßt. Es
-wurde ihr so schwer, so schwer.
-
-„Bleib doch noch!“ bat er. „Bleib doch --“
-
-Aber sie schüttelte den Kopf, faßte noch einmal seine beiden Hände:
-„Dank ... Dank für diese Stunde!“ Noch einmal umarmte sie ihn.
-
-Draußen an dem Kuchentisch mit den vielen Glasglocken und Flaschen
-stand Fräulein Minna. Sie knixte tief, als Helene vorüberkam: „Wie
-wunderschön haben die Herrschaften gesungen. Unser Domchor kann’s nicht
-schöner.“
-
-Sie hörte es nicht. Es war wie ein großer Rückschlag auf all die Freude
-und Seligkeit in ihr, eine herzbeklemmende Angst: Harros Augen standen
-vor ihrer Seele. Diese hellen Knabenaugen, die sie wie entgeistert
-angeschaut hatten.
-
-Und auf dem kurzen Weg nach Hause überschlich sie noch ein anderes
-Gefühl, zum erstenmal: die Scheu vor der Lüge. Bisher hatte die
-Heimlichkeit täglich neuen Reiz für sie gehabt, plötzlich, jäh,
-erschrak sie vor ihr. Weshalb jetzt, plötzlich -- sie wußte es nicht.
-Vielleicht taten auch das die hellen Knabenaugen.
-
-Die Straße entlang hastete sie, aber als sie in den Vorgarten kam,
-wurden ihre Schritte langsamer und langsamer. Noch nie war ihr der Mut
-gesunken, jetzt lähmte eine dumpfe Zaghaftigkeit ihr die Glieder. Und
-trotzdem wiederholte sie sich immer wieder: ‚es war doch so schön ...
-es war doch so schön‘ -- und hätte weinen mögen.
-
-Der große Tannenbaum war schon erloschen. Tante Oschitz saß ermüdet
-in einem Lehnstuhl am Ofen, fragte nur flüchtig: „War’s schön?“ Ganz
-seltsam klang das Helene. Sie nickte stumm. Dann sah sie verstohlen
-auf Harro. Der saß an seinem Gabentisch, den Kopf ganz tief über ein
-Buch gebeugt. Leseratte, die er war. Es wurde Helene leichter ums Herz.
-Vielleicht -- vielleicht hatte sie sich doch getäuscht. Er machte
-einen so kindlichen Eindruck, wie er dasaß, die Hände an den Schläfen,
-die Finger in das dichte blonde Haar gewühlt, versunken in sein
-Geschenkbuch. Nicht einmal aufgeblickt hatte er bei ihrem Kommen.
-
-Dann meldete auch schon der alte Diener, daß angerichtet wäre. Tante
-Marianne stand auf: „Kommt Kinder!“ Wie Harro nun den Kopf hob, da
-sah Helene die flammende Röte auf seiner Stirn, auf seinen Wangen und
-empfand, daß er ihren Blicken auswich. Und als er dann am zierlich
-gedeckten kleinen Tisch das Gebet sprechen sollte, wie alle Tage, da
-kamen die gewohnten Worte eigen zerstückt von seinen Lippen. Er sprach
-wie ein Träumender. So daß die Mutter sagte: „Aber Harro! Was hast du
-denn? Es ist ja wirklich, als ob du unseren Herrn Jesu über deinem
-neuen Band Grube vergessen könntest. Schäme dich!“
-
-Er schrak zusammen. Aber es war wie ein Trotz in ihm. Kein Wort der
-Entschuldigung sprach er, setzte sich, steckte sich mit seinen raschen
-knabenhaften Bewegungen die Serviette zurecht; immer ohne aufzusehen.
-Und die Bierkarpfen, von denen er gestern im voraus geschwärmt, rührte
-er kaum an.
-
-Recht schweigsam verlief das kleine Mahl. Eigentlich sprach nur Tante:
-von dem Jubel der Kinder vorhin, von der Freude des Schenkens, von
-der Weihe dieses Abends. Nur mit halber Aufmerksamkeit folgte Helene.
-Ihre Gedanken wanderten. Aber einmal schrak sie auf, wie aus einem
-Traum. Tante Marianne erzählte, daß man im Palais, als sie noch Hofdame
-gewesen, neben den Tannenbäumen stets auch eine der alten Berliner
-Weihnachtspyramiden gehabt hätte ... „Du hast sicher solch ein Ding
-noch nie gesehen, Helene, solch eine Pyramide mit den steifen, gerade
-abstehenden Armen ...“
-
-Bald nach Tisch brachte der Diener die Leuchter hinein, stellte sie auf
-den Tisch an der Tür, die Porzellankästchen mit den Schwefelhölzern
-daneben und auf jeden Leuchter die Lichtputzschere. Wie an jedem
-Abend. „Der gnädigen Herrschaft wünsche ich gute Nacht“, sagte er
-leise, wie immer. Das war wie an jedem Abend das Zeichen zum Aufbruch.
-Tante Marianne glitt, langsam und geräuschlos, zu dem Tisch an der
-Tür hinüber, zündete umständlich die drei Kerzenstümpfe an. „Gute
-Nacht, Kinder.“ Dann küßte sie den Sohn, legte auf einen Augenblick
-ihre Rechte in die Helenes, die sich tief über die kühle Matronenhand
-neigte. Und wie an jedem Abend stiegen die beiden gemeinsam die Treppe
-hinauf.
-
-Das war sonst oft, fast immer unter halblautem Lachen und Scherzen
-geschehen, und manchmal hatten sie, zumal in der ersten Zeit, noch ein
-paar Minuten auf der großen Truhe oben im Flur gesessen und geplaudert.
-
-Heut ging Harro stumm neben Helene her. So stumm -- das Herz wurde ihr
-schwer und schwerer. ‚Wenn ich nur erst in meinem Zimmer wäre,‘ dachte
-sie beklommen.
-
-Nun war sie oben.
-
-„Gute Nacht, Harro“, sagte sie rasch. „Schlaf wohl!“ und reichte ihm
-die Hand hin.
-
-Da griff er, mit einem Ruck des Armes, zu, sah sie zum erstenmal heute
-abend an. Mit einem eigenen Blick, nicht mehr versteint, sondern
-forschend, vorwurfsvoll. Das Helle, Kindliche schien in den blauen
-Augen erloschen, ein dunkles, wissendes Leuchten war darin. Seine
-Hand bebte, wie sie so die ihre umfaßte. Um seine Lippen zuckte es.
-Plötzlich, ehe sie es hindern konnte, hatte er ihr die Hand geküßt. Sie
-fühlte eine schwere Träne auf dem Gelenk. Und dann lief er auch schon,
-wortlos, den Flur hinunter, seinem Zimmer zu.
-
-
-
-
-Siebentes Kapitel
-
-
-Zwischen Weihnacht und Neujahr war Alfred verreist. Er gastierte in
-Frankfurt am Main, und seine Abwesenheit dehnte sich bis Anfang Januar
-aus, länger, als er Helene gesagt hatte. Es war eine öde, trübe Zeit
-für sie, zumal auch Frau Harriers-Wippern Ferien hielt. Die Stunden
-schlichen dahin und die Tage, und Helene kam in ein Grübeln hinein, das
-ihrem Wesen sonst ganz fremd war. Wie auf Wolken war sie gewandelt in
-all den letzten Wochen, wie in einem Rausch. Nun dünkte sie alles um
-sie her so nüchtern, so leer, ihr Dasein so schal, als wäre ihm jeder
-Inhalt genommen.
-
-Auch die einsame Insel drückte auf sie, die noch vertiefte Stille
-dieser Woche, die Tante Marianne so ganz als weihnachtlich empfand. An
-den Festtagen fuhr unweigerlich am frühen Vormittag die Mietkutsche
-vor. Tante Oschitz hätte jeden Zwang zum Besuch des Gottesdienstes
-verworfen, denn er entsprach so gar nicht ihren Anschauungen; aber
-sie sah es als selbstverständlich an, daß Helene und Harro sich ihr
-anschlossen. Eine Qual schon allein diese endlose Fahrt, den Vetter
-auf dem Rücksitz gegenüber! Das Kapellchen, dem die festliche Weihe
-fehlte; die Predigt, deren steten, sanften Druck auf die Tränendrüsen
-Helene instinktiv empfand; noch einmal die lange, lange Fahrt, während
-derer Tante mit Harro ein immer vergebliches Examen über das, was
-der Tränen-Müller soeben verkündet, anstellte. Trotz auf der einen,
-Verstimmung auf der andern Seite. Verstimmung, die eigentlich den
-ganzen Tag über anhielt, um sich erst gegen Abend in eine schmerzliche
-Mutterzärtlichkeit aufzulösen.
-
-Es war ja gut, daß Harro der Verstimmung wie der Zärtlichkeit auswich
--- und anderem. Er war tagsüber fast nie zu Hause, hatte tausend
-Ausreden. Oft genug fehlte er sogar bei den Mahlzeiten; bisweilen kam
-er erst spät in der Nacht zurück, heimlich, auf verbotenem Wege, mit
-falschen Schlüsseln. Vielleicht steckte er auch mit den Dienstboten
-im Bunde. Jedenfalls hörte Helene in ihren unruhigen Nächten oft noch
-nach Mitternacht seinen leisen Schritt auf dem Korridor. Und es gab ihr
-jedesmal einen Stich ins Herz: auch daran war sie schuld. Ganz genau
-wußte sie das.
-
-Einmal, nachmittags, war Tante Marianne zu ihrem Bankier gefahren.
-Helene saß unten im Salon. Es dämmerte schon leicht, so daß sie ihr
-Buch aus der Hand legen mußte. Ein paar Male ging sie im Zimmer auf
-und nieder, setzte sich vor das Instrument, schlug ein paar Akkorde
-an. Wie eine halbe Ewigkeit erschienen ihr die Tage, in denen sie
-nicht geübt hatte. Sie dachte nach: wann hast du überhaupt zum letzten
-Male gesungen? Und da schoß ihr durch den Sinn: ‚Am heiligen Abend! Am
-heiligen Abend -- mit ihm!‘ In jener Stunde, in der sie eigentlich zum
-letzten Male sich ganz, ganz glücklich gefühlt hatte --
-
-So deutlich ... so zum Greifen deutlich stand plötzlich wieder sein
-Bild vor ihrer Seele.
-
-Ob auch er wohl jetzt ihrer gedachte?
-
-Tiefer sanken die Schatten herab. Fast dunkel war es im Zimmer.
-
-Ganz leise und sacht fing sie an, gerade so, wie sie beide neulich --
-neulich angefangen hatten.
-
- „Nur wer die Sehnsucht kennt,
- Weiß, was ich leide!
- Allein und abgetrennt
- Von aller Freude --“
-
-Sie wußte nicht, wie das Goethelied ihr ins Gedächtnis gekommen war.
-Nur das fühlte sie, daß es so ganz ihrer Stimmung entsprach. Und ihre
-Stimme hob sich, schwoll und schwoll --
-
- „Ach, der mich liebt und kennt,
- Ist in der Weite --“
-
-Einmal war es, als ginge eine Tür. Aber sie überhörte es. All ihre
-Seele war bei dem Gesang. Wie auf Flügeln trug es sie himmelan, als ob
-ihre Kunst das Herz läutere. Dies zuckende Herz --
-
- „Nur wer die Sehnsucht kennt,
- Weiß, was ich leide!“
-
-Ein paar Atemzüge lang saß sie ganz still, die Hände noch auf den
-Tasten, mit geschlossenen Augen. Ihr war so wohl und war so weh --
-
-Da hörte sie deutlich nebenan, im Arbeitszimmer des Herrn von Oschitz,
-ein verhaltenes Schluchzen. Ein einziger kurzer Ton nur war’s. Fast nie
-betrat jemand dies düstere, kleine Gemach des Verstorbenen. Und noch
-einmal klang’s auf, so daß sie zusammenschauerte. Ein Wehlaut, wie mit
-Trotz unterdrückt.
-
-Fast im gleichen Moment aber sprach jemand nebenan. Des alten Dieners
-Stimme: „Die Lampe, junger Herr -- Sie woll’n sich wohl die Augen ganz
-verderben.“ Und dann schlug wieder eine Tür heftig zu.
-
-‚Armer Harro! Lieber armer Junge! Auch dir muß ich weh tun, du dummer
-lieber Junge --‘
-
-Während des ganzen Abends, die halbe Nacht über wurde sie den Gedanken
-an ihn nicht los.
-
-Diese unruhigen Nächte!
-
-Da kamen die Gedanken, wanderten, erloschen und stiegen aufs neue
-empor. Und die Sehnsucht kam, krallte sich ein, wurde zum zehrenden
-Schmerz; wollte sich aufrichten, sich emporranken am Glückserinnern,
-wurde herabgezerrt vom zagenden Zweifel. Wie zerborsten, zertrümmert
-sah Helene bisweilen den stolzen, schönen Bau der Zukunft vor sich,
-den sie so froh, so siegesgewiß aufgerichtet hatten. Hindernisse
-auf Hindernisse, an die sie nie gedacht, türmten sich auf dem Wege,
-sperrten jede Aussicht.
-
-Er schrieb so selten, so furchtbar selten für ihre Sehnsucht. Seine
-Briefe waren so kurz und karg. Gierig suchte sie zwischen den Zeilen,
-was nicht in ihnen stand. Immer nur von +seinen+ Erfolgen,
-Triumphen schrieb er, von +seiner+ Arbeit. Manchmal, wenn sie
-solch ein Billett mutlos in den Schoß sinken ließ, kam ihr ein
-häßlicher Gedanke: er +spricht+ eigentlich auch immer nur von
-sich. Aber sie schüttelte solch Empfinden ab wie einen Schmutztropfen.
-Sie schämte sich.
-
-Vor Jahren hatte sie in Rohlbeck einmal Goethes „Wahrheit und Dichtung“
-gelesen. Jetzt ging sie an Harros Bücherschrank, suchte sich den Band
-heraus, ließ Frankfurts Straßen und Gassen wieder vor sich aufsteigen,
-ging wie im Traum mit dem Geliebten zum alten Römer und in das Haus
-am Großen Hirschgraben. Von dem schönen Gretchen las sie, von Goethes
-Sekundanerliebe, und dachte an Harro. Dachte dann jäh auch: ‚die
-schönen Frankfurterinnen!‘ Es war wie der Blitz einer Eifersucht. Er
-traf und schmerzte. Aber gleich bat sie Alfred die Sünde ab -- und
-dann lachte sie leise vor sich hin. Wie man so töricht werden kann vor
-Sehnsucht.
-
-Das Lachen erstarb, die Sehnsucht blieb.
-
-Tante Oschitz kümmerte sich nicht groß um Helene. Das hatte sie nach
-einigen Anläufen aufgegeben. In ihr lag es nicht, um Seelen zu kämpfen.
-Sie selber hatte sich durchringen müssen. Das mochten andere auch tun,
-und es gelang jedem, so Gott es wollte.
-
-Helene war ihr auch wesensfremd. Sie hatte sie gern, aber nicht mehr;
-es gab keine engeren Verbindungsglieder zwischen beiden, als die
-Verwandtschaft schlug. Und wenn sie doch einmal, selten, eine Brücke
-suchte, so schreckte ihre Herbheit Helene ab, vielleicht gerade weil
-diese herbe Art sich meist so eigen mit sanften Worten gab.
-
-Trotz allem konnte Tante Marianne die Veränderung in Helenens Wesen
-nicht entgehen.
-
-„Du siehst schlecht aus, Kind“, sagte sie eines Tages. „Ich glaube, du
-kommst zu wenig an die Luft.“
-
-„Ich bin ganz wohl.“
-
-Sie saßen sich in der tiefen Fensternische, unten im Salon, gegenüber;
-Tante Marianne mit einer ihrer Handarbeiten beschäftigt, die Harro
-früher bisweilen respektlos genug mit Penelopes Geweben verglichen
-hatte; Helene über ihrem Buch.
-
-„Man täuscht sich in der Jugend leicht über das eigene Befinden.
-Wirklich: dein Aussehen straft deine Versicherung Lügen.“
-
-„Ich bin ganz wohl“, wiederholte Helene hartnäckig.
-
-Tante Oschitz sah schärfer zu und schüttelte den Kopf. „Ich will Harro
-sagen, daß ihr morgen einen tüchtigen Spaziergang macht.“
-
-„Bitte -- nein, Tante --“
-
-Es kam so heftig heraus, daß die alte Dame stutzig wurde. „Habt ihr
-euch entzweit, du und Harro?“ fragte sie erstaunt. „Ihr wart doch so
-gute Freunde.“
-
-„O ja ... o nein! Nur ... ich meine ... Harro hat so vieles andere vor
-jetzt. Er braucht auf mich keine Rücksichten zu nehmen.“
-
-„Viel zu viel hat der Schlingel vor. Ich bin auch nicht blind.“ Tante
-Marianne lächelte -- für ihren Jungen hatte sie im letzten Grunde ihres
-Herzens immer Entschuldigungen bereit. „Aber es bleibt dabei. Morgen
-treibe ich euch beide aus dem Hause.“
-
-Es blieb wirklich dabei. Und es wurde ein qualvoller Spaziergang durch
-den verschneiten Tiergarten. Sie rasten im schnellsten Tempo ihren
-Gesundheitsmarsch ab. Immer dachte Helene: ‚das sind dieselben Wege,
-dieselben Wege, die er und ich gingen.‘ Immer dachte sie dazwischen:
-‚der arme Junge, der arme Junge!‘
-
-Die Querallee waren sie gegangen, zum Großen Stern, bogen nun wieder
-in das Weggewirr ein, das zur Rousseau-Insel zurückführte. Ohne ein
-Wort zu sprechen. Manchmal sah Helene scheu auf ihren Begleiter. Er
-hatte die Hände tief in die Manteltaschen gesteckt, zur Faust geballt;
-der schöngeformte Kopf war auf die Brust gesenkt; auf der Stirn
-unter der Pelzmütze lagen dichte Falten; die Lippen hatte er fest
-aufeinandergepreßt.
-
-Plötzlich, mitten in der Einsamkeit, blieb er stehen.
-
-„Helene --“ sagte er jäh, und dann stockte er wieder. Ganz tief, ganz
-alt hatte seine Stimme geklungen.
-
-Ein Beben überlief sie, eine unbestimmte Angst. Unwillkürlich war auch
-sie stehengeblieben und wäre doch am liebsten geflohen.
-
-Mit einem Male riß er die Fäuste aus den Taschen, die Tränen stiegen
-ihm in die Augen. Er faßte nach ihren Händen. Und nun hatte seine
-Stimme wieder den rührenden Ton der Jugend: „Liebe Helene, kann ich dir
-nicht helfen?“
-
-Sie empfand alles, was in seinem Herzen vorging. Durchlebte es mit ihm
-in einem Augenblick: seine ehrliche Jungenliebe, -- sein Sehnen -- der
-reine, schöne Wunsch, sich selber für sie zu opfern! Wußte, daß auch er
-sich einen Altar aufgebaut hatte, auf dem er sein eigenes Herz für sie
-in Rauch und Asche verbrennen wollte! Fühlte den heiligen Ernst, der in
-ihm glühte!
-
-Die Angst glitt ab von ihr. Aber weinen hätte sie mögen. Ans Herz hätte
-sie ihn nehmen mögen wie einen Bruder. Nein -- mehr war er, als ihr je
-ein Bruder gewesen war, je sein würde!
-
-Lügen konnte sie nicht in diesen Augenblicken. Nicht lügen ... schrie
-es in ihr. Nicht einmal leugnen!
-
-Aber sie konnte auch nicht anders, als den Kopf schütteln. Ernst und
-schwer und nun auch mit tränenden Augen.
-
-„Ich hab dich gestern singen hören“, sprach er weiter. Ganz langsam
-kamen die Worte ihm von den Lippen. „Du sangst so wunderbar schön ...
-das Beethovensche Lied ... das Harfnerlied. So wunderbar schön, aber es
-war, als bräche dir das Herz darüber entzwei.“
-
-Sie neigte den Kopf. „Unsagbar wohl hat es mir doch getan“, sagte sie.
-Es waren ihre ersten Worte. Und wie sie sich selber sprechen hörte,
-kam ihr allmählich das Bewußtsein ihrer Überlegenheit wieder. Der
-Überlegenheit, die ihr bei fast gleichen Jahren ihr Geschlecht gab und
-ihr Erleben. Gerade nun empfand sie das: wie jung der liebe Harro da
-neben ihr war, und auch das andere: wie sie selber in diesen letzten
-Monaten gereift war.
-
-Ihre Überlegenheit kam zurück, und damit ihre Sicherheit. Aber der
-innige Wunsch blieb, dies junge Herz zu schonen, ihm gut zu tun, wie
-sie nur konnte.
-
-Sie drückte ihm die Hände. „Ich danke dir, lieber Harro. Ich weiß, wie
-gut du es meinst. Ich will dir immer eine treue Freundin bleiben.“
-
-Er zuckte zusammen. „Helfen möchte ich dir!“
-
-„Wir Menschen können einander wohl nur selten helfen.“
-
-„Du sagst, du wolltest meine Freundin sein. Dann mußt du auch Vertrauen
-zu mir haben, Helene!“
-
-Da war schon wieder der Trotz in seiner Stimme, der rechte
-Jungenstrotz. Und das tat ihr wohl.
-
-Sie antwortete nicht gleich, sie begann auszuschreiten.
-
-„Es gibt Dinge, Harro, die man auch dem besten, liebsten Freunde nicht
-mitteilen darf. Stimmungen gibt es und Kämpfe, die man nur selber
-durchringen und überwinden kann.“
-
-Er nickte, rasch hintereinander, ein paar Male, als ob er gleich
-empfinde. Doch dann trotzte er wieder auf. „Das ist nicht die richtige
-Freundschaft!“
-
-„Wir wollen’s der Zeit überlassen, Harro.“
-
-Sie gingen schneller, und er merkte wohl, daß sie ihm auswich. Jetzt
-schwieg auch er. Biß wieder die Zähne aufeinander, stopfte beide Hände,
-zur Faust geballt, trotzend in die Manteltaschen, ließ den Kopf tief
-hängen, und unter der Pelzkappe zog sich das krause Faltengewirr über
-die Stirn. Einmal kam etwas wie ein bitterer Lachton zwischen den
-geschlossenen Lippen hervor.
-
-‚Nun ist er doch wieder ganz der törichte Junge‘, dachte sie. ‚Gottlob!
-Töricht und dabei so lieb, so lieb!‘
-
-Und da waren sie auch schon dicht an der Tiergartenstraße. Durch die
-Bäume schimmerte grau die einsame Insel mit dem roten Ziegeldach
-darüber.
-
-‚Ein gutes Wort mußt du ihm doch noch sagen ...‘
-
-Die Hand streckte sie ihm hin. „Schlag ein, Harro! Also auf gute
-Freundschaft!“
-
-Er sah auf. Ganz dicht standen seine Brauen aneinander. Er zögerte,
-rang mit sich. Die Fäuste kämpften in den Manteltaschen: sollen wir
-oder sollen wir nicht? Die Oberzähne nagten an der Lippe.
-
-Plötzlich stieß er heraus: „Ja -- du --!“ Machte kurz kehrte und rannte
-in den Tiergarten zurück. -- --
-
-Nun aber, nun war Alfred endlich in Berlin. Sie sah ihn wieder, hörte
-seine Stimme, hielt seine Hand in der ihren, saß neben ihm in der
-lieben, kleinen Konditorei auf dem alten Sofa und bat ihm im geheimen
-all ihr Zagen und Sorgen, all ihren Kleinmut ab. Nicht im geheimen nur.
-Ganz offen, ganz ehrlich: „Ich war so töricht, Fred ... ich habe mich
-so geängstigt ... so hoffnungslos war ich. Ach, Fred, du darfst mich
-nicht so lange allein lassen. Ich ertrage das nicht. Die Sehnsucht ist
-zu groß.“
-
-„Ja, die Sehnsucht! Glaubst du denn, Helene, ich hätte nicht unter
-der Sehnsucht gelitten?“ Er legte den Arm um sie, zog sie an sich.
-„Aber ich weiß wohl, wir Männer kommen leichter darüber hinweg als
-ihr Frauen. Schon durch den Beruf. Was war das wieder für eine
-abscheuliche, anstrengende Sache, dieses ganze Gastspiel! Schon allein
-die Fahrt bei dieser Kälte. Man ist in Deutschland doch noch um ein
-Jahrzehnt zurück oder länger. Gerade daß immer alle fünf Stationen
-eine Fußflasche mit heißem Wasser ins Coupé geschoben wird, während
-es selbst in Rußland schon ordentlich geheizte Wagen gibt. Ridikül
-ist’s. Und der ungemütliche Aufenthalt im Frankfurter Hotel, und diese
-jammervollen Theaterverhältnisse in der lobesamen Freien Reichsstadt!“
-
-„Warst du am Großen Hirschgraben?“
-
-„Wo?“
-
-„Am Großen Hirschgraben ... wo der junge Goethe gewohnt hat.“
-
-Er lachte. „Ach, du liebe, liebe Närrin. Was ist mir der junge Goethe!
-Hat der am Großen Hirschgraben gewohnt? Ich weiß nicht einmal, wo der
-liegt. Aber den Tannhäuser hab ich gesungen: das war wenigstens ein
-Erfolg, der wohltun konnte.“ Und er erzählte von der Aufführung -- lang
-und breit --
-
-Sie wußte selbst nicht, warum es ihr weh tat, daß er vom jungen Goethe
-nichts wußte, nichts wissen wollte. Es war ja auch ungerecht, daß
-sie’s mit einer leisen Bitterkeit empfand, sie gestand es sich ein.
-Und ungerechter noch, daß sie nicht mit der gewohnten Aufmerksamkeit
-zuhören konnte. Aber sie mußte sich geradezu anstrengen, ihm zu folgen.
-
-Nicht einmal fragte er: wie ist es dir denn ergangen in diesen langen,
-langen Tagen? Freilich, ein Mann hatte eben seinen Beruf, und es war
-wohl in der Ordnung, daß er ganz in ihm aufging. Aber weh tat es doch.
-Nun -- auch sie würde ja einmal ihren Beruf haben. --
-
-Und wonnig, beseligend war es doch schon, ihn wieder zu haben. Seine
-Nähe zu fühlen, seine Hand zu halten. Was wollte sie denn mehr: er
-liebte sie -- er liebte sie! Er sah ihr in die Augen, tief, tief, er
-suchte ihre Lippen --
-
-Was wollte sie mehr? Was wollte sie mehr! Nichts -- nichts -- nichts!
-
-Dann zog er ihr kleines Weihnachtsgeschenk heraus: „Das ist mein treuer
-Begleiter gewesen“, sagte er.
-
-Nun hatte sie ihm längst die Kunst abgelernt, zwischen spitzen Fingern
-eine Zigarette zu drehen. Er lachte jedesmal, wenn sie ihm die
-hinhielt, daß er sie anfeuchte. „Nein, daß mußt du tun -- schmeckt
-besser so!“ Und sie lachte wieder, ließ die Zunge vorsichtig über den
-Papierrand gehen. „Jetzt rauche auch du ein paar Züge!“ Das konnte sie
-nicht, das lernte sie nicht. Versuchte es, ihm zuliebe, und erstickte
-fast. „Kleine Deutsche -- du!“ spöttelte er. „Da waren meine russischen
-Freundinnen erfahrener.“ Sie zog ein Gesichtchen. „Aber Lene! ~Tempi
-passati!~ Du bist doch nicht eifersüchtig?“ -- „Rasend eifersüchtig
-könnte ich sein.“ -- „Ach geh! Das ist ja immer eine Dummheit.“
-
-Ein paar Augenblicke sah sie wortlos vor sich hin. Dann schlang sie jäh
-die Arme um seinen Hals und küßte, küßte ihn.
-
-Fast täglich sahen sie sich nun. Aber meist nur wie im Fluge, auf
-karge Minuten. Seine Zeit war sehr knapp, er studierte ein paar neue
-Rollen, hatte mancherlei gesellige Verpflichtungen. Auch ging er nicht
-mehr so gern wie ehedem in die kleine Konditorei; er behauptete, das
-gute Kuchenfräulein fiele ihm auf die Nerven und der süße Dunst in
-dem winzigen Lokal wäre schier unerträglich jetzt im Winter, wo nie
-gelüftet würde.
-
-„Warum kommst du nicht endlich einmal zu mir? Ich habe dich so oft
-gebeten. Nachgerade -- weißt du, Helene -- empfinde ich es fast wie
-einen Mangel an Vertrauen.“
-
-Ein paar Male sagte er das. Aber sie antwortete nie. Immer straffte
-sich dann ihr Nacken, und sie bog den Kopf zurück mit dem ablehnenden,
-abwehrenden, eigensinnigen Ausdruck, den er schon kannte.
-
-Einmal hatten sie sich im Vorzimmer von Frau Harriers-Wippern
-verabredet. Er mußte ein wenig warten, die Unterrichtsstunde schien
-sich auszudehnen. Als Helene herauskam, sah er, daß sie geweint hatte.
-„Nun?“ fragte er. „Was hast du denn?“
-
-Erst wollte sie nicht recht mit der Sprache heraus. Endlich gestand
-sie, daß Frau Harriers mit ihr nicht mehr so zufrieden wäre wie früher,
-ihr leise Vorwürfe gemacht hätte: sie sei nicht aufmerksam genug, übe
-auch wohl nicht mehr so fleißig wie ehedem. Es schien Helene sehr
-nahegegangen zu sein.
-
-„Ach -- bah!“ machte er. „Jeder Lehrer muß gelegentlich tadeln. Aber
-wenn sie schon recht hat: warum hat denn dein Eifer nachgelassen?“
-
-Sie sah ihn an: mußte er sich denn nicht selber sagen, woran das lag?
-Daß sie nur an ihn, nur an ihn denken konnte.
-
-Eine Antwort wartete er nicht ab. „Übrigens, Helene, hab ich dir längst
-gesagt, daß die gute Harriers nicht mehr die rechte Lehrerin für
-dich ist.“ Er wurde eifriger. „Ich will dir einen Vorschlag machen:
-entschließe dich kurz und schnell und fahre zur Viardot!“
-
-„Aber du weißt doch, daß das nicht geht.“
-
-„Nicht geht? Warum denn nicht? Um des elenden Mammons willen? Ich hab
-genug verdient in den letzten Jahren. Ein Wort von dir, und wir sitzen
-morgen früh in der Bahn -- wir beide, ganz allein, Helene --“
-
-Sie waren aus dem Hause getreten, gingen langsam die Viktoriastraße
-hinunter, dem Tiergarten zu.
-
-„Sei nicht so klein, Helene! Du bist doch Künstlerin. Du willst eines
-Künstlers Frau werden. Wir haben das Recht, freier, größer zu denken
-als andere Menschen. Wirf endlich einmal dein Philistertum hinter dich.
-Helene, Geliebte -- wir beide, allein --“
-
-Wieder straffte sich ihr Nacken. Aber dann ließ sie den Kopf sinken.
-Glühend heiß stieg es in ihr empor.
-
-Sein leises Raunen klang so einschmeichelnd in ihr Ohr. „Wenn du mich
-wirklich lieb hast, Helene, wirst du ja sagen. Liebe muß Vertrauen
-haben, Liebe soll doch auch Opfer bringen können. Opfer? Ich will ja
-gar kein Opfer. Laß dir sagen, Helene: wir fahren nicht gleich nach
-Baden-Baden. Wir fahren erst nach Helgoland. Nach dem freien Stück
-englischen Bodens. In drei Tagen sind wir Mann und Frau. Helene,
-Geliebte, so kann es nicht weitergehen.“
-
-Ihre Hände krampften sich in der kleinen Muff zusammen. ‚Mann und
-Frau!‘ dachte sie. ‚Großer guter Gott, wäre denn das möglich?‘ Ein
-unsagbares Glücksempfinden war in ihr und eine herzbeklemmende Angst.
-‚Lieber Gott, hab Erbarmen --‘
-
-Da sah sie drüben, auf der anderen Seite der Straße, Harro gehen. Er
-kam aus der Schule, hatte die schwarze Mappe mit seinen Büchern unter
-dem Arm, ging hart an den Vorgärten entlang und spähte mit finsterer
-Miene zu ihnen herüber. Sie sah es deutlich: seinen trotzigen Mund und
-das Faltengewirr auf der Stirn.
-
-Mit einem Male rief sie laut: „Harro! Harro!“
-
-Es war der Entschluß eines Augenblicks. Ein Entschluß, der über sie
-gekommen war, sie wußte selbst nicht wie. Ein Hilfeschrei vor sich
-selber vielleicht. Stehen blieb sie, als ob plötzlich Bleilasten an
-ihren Füßen hingen. Und kaum hatte sie gerufen, so brach es wie ein
-herzzerreißender Jammer über sie herein: ‚Du hast ja Alfred tödlich
-beleidigt. Das wird er dir nie verzeihen.‘
-
-Der Vetter kam mit hastigen Schritten quer über die Straße.
-
-Aber nun sah sie nicht mehr hin, nun sah sie nur Alfred. Sah erst
-das Schürzen seiner Lippen, dann das Auffunkeln in seinen Augen.
-Niederknien hätte sie mögen vor ihm: ‚Vergib mir, vergib! Bis ans Ende
-der Welt gehe ich mit dir ... allein mit dir ...‘
-
-Plötzlich dachte sie: ‚jetzt schlägt er dich, schlägt dich nieder. Und
-auch das wäre Seligkeit ...‘
-
-Und dann sah sie plötzlich, wie er sein Gesicht zwang. Ganz ruhig, ein
-wenig spöttisch sagte er: „Das ist ja wohl Ihr Herr Vetter, gnädiges
-Fräulein? Guten Tag, Herr von Oschitz.“
-
-Weiter gingen sie, nun zu dritt. Nein, sie ging nicht, sie schleppte
-sich vorwärts. Ketten hingen ihr an den Gliedern, Ketten umschnürten
-ihre Seele. Kaum zu atmen vermochte sie.
-
-Harro sprach kein Wort. Er hatte flüchtig seine Pelzkappe berührt, dann
-wieder beide Hände in die Manteltaschen gesteckt, ganz tief und zu
-Fäusten geballt. Rechts schritt er neben Helene her, den Kopf im Nacken.
-
-Aber Alfred sprach. Völlig beherrscht, angeregt sogar, heiter, etwas
-überlegen. Daß es doch ein glücklicher Zufall gewesen wäre, wie man
-sich bei der Harriers getroffen; vom Winterwetter und der Eisbahn; von
-seiner Schulbankzeit und wie erleichtert er aufgeatmet hätte, als er
-den Ranzen hinter sich geworfen.
-
-Bis zur einsamen Insel ging er mit. „Hat mich sehr gefreut, Herr von
-Oschitz. Bitte, legen Sie mich der Frau Mama zu Füßen. -- Addio,
-gnädiges Fräulein ...“ Und dann noch, ganz flüchtig scheinbar, nur ihr
-verständlich: „Ja so ... wir wurden vorher unterbrochen ... vielleicht
-überlegen Sie sich doch meinen Vorschlag. Die Viardot ist nun einmal
-die erste Lehrerin Europas. ~Au revoir!~“
-
-Die eiserne Gartentür flog lautschallend ins Schloß, von Harro
-geschleudert.
-
-Nun noch der kleine Weg durch den Vorgarten.
-
-Da tat Harro endlich den Mund auf, fragte: „Warum hast du mich gerufen?“
-
-Sie hatte die Frage erwartet und erschrak doch vor ihr. Hatte sich die
-Antwort zurechtgelegt und brachte sie doch nur mühsam heraus: „Ich ...
-sah dich dort ... drüben ...“
-
-„So? So! Es war also nur eine Begrüßung, quer über die Straße. Es klang
-auch ganz so ... so wie eine Begrüßung.“
-
-Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie war so matt, so zerschlagen,
-so widerstandslos.
-
-„Quäl’ mich nicht, Harro!“ bat sie.
-
-Er war stehengeblieben, sah zu Boden, sah dann wieder sie an. Der Trotz
-wich aus seinem Gesicht, aber die Bitterkeit blieb in seiner Stimme:
-„Nein, ich will dich nicht quälen. Ich hab dich zu lieb dazu. Ich seh
-ja auch, dich ... dich quält anderes genug.“
-
-„Es wird schon wieder besser werden. Es ist nur, weißt du -- du hast
-doch gewiß auch oft Verdruß in den Stunden.“
-
-Sie war eine so schlechte Lügnerin, schämte sich so, daß sie gerade vor
-Harro lügen mußte. Das Blut schoß ihr ins Gesicht.
-
-„In den Stunden also --“
-
-„Quäl’ mich nicht, Harro!“
-
-Da ging er weiter. Die Haustür glitt ins Schloß, ganz sanft drückte
-Harro sie zu. Schweigend schritten sie nebeneinander die breiten
-Eichenstufen hinan. Erst vor ihrer Tür, oben im halbdunklen Korridor,
-blieb er noch einmal stehen. Tief schöpfte er Atem, es war, als ringe
-er mit sich. Dann sprach er dringend, heiß: „Du hast neulich nichts von
-mir wissen wollen, Helene. Aber ich muß es dir doch noch einmal sagen,
-wie gern ich dir helfen möchte. Wenn ... wenn er nur deiner wert ist
-...“
-
-Ganz leise hatte er das letzte geflüstert in seiner verhaltenen dunklen
-Jungensstimme. Verschämt fast und doch so innig. Sie hörte es mit
-geschlossenen Augen, gegen die Wand gelehnt.
-
-Als sie die Augen öffnete, war Harro fort. Und sie ging in ihr Zimmer
-und weinte sich aus.
-
- * *
- *
-
-Am Nachmittag kam Bruder Wilhelm. Helene wurde heruntergerufen, ließ
-aber um Entschuldigung bitten: sie hätte schreckliche Kopfschmerzen.
-Die Wahrheit war’s und doch nicht die ganze Wahrheit, sondern eine
-Ausrede. Nur niemand sehen, niemand hören wollte sie.
-
-Da kam aber Wilhelm selbst heraufgepoltert, sah in das dunkle Zimmer,
-holte vom Korridor die Lampe: „Aber Lene, was machst du? Tante Marianne
-klagte auch, du sähst miserabel aus. Laß doch mal zusehen. Wo fehlt’s
-denn?“
-
-Die Augen taten ihr weh in dem plötzlichen grellen Licht. Sie hielt die
-Hand vor, auch deshalb: wozu brauchte er die Tränenspuren zu sehen!
-Ein Lächeln zwang sie heraus, indem sie ihm die Hand gab: „Kopfweh,
-Wilhelm, weiter nichts. Morgen ist alles wieder gut.“
-
-Der große Optimist war leicht beruhigt, schob die Lampe beiseite,
-setzte sich: „Na ja, so leicht sind wir Hackentiner nicht
-unterzukriegen. Ja ... und ich möcht dir doch noch Prost Neujahr sagen.
-Eine ganze Hucke Grüße und Wünsche bring ich dir aus unserm lieben
-alten Rohlbeck mit.“
-
-„Ach ... Rohlbeck ... ja, unser altes liebes Rohlbeck ...“ Wie sie das
-sagte, hatte sie eine ganz unbestimmte Empfindung: dies Rohlbeck mußte
-weit, weit abliegen. Unermeßlich weit.
-
-Wilhelm machte sich’s behaglich und begann zu erzählen. Natürlich
-zuerst von Martha und seinen Schlingels; mit dem üblichen kleinen
-Seufzer: ja, wer es so gut hätte und immer bei ihnen sein könnte. Von
-Vater und Mutter dann und von ganz Rohlbeck, mit dem alten Heckstein
-an der Spitze, der am ersten Feiertag prächtig gepredigt, aber am
-zweiten dafür wieder mal einen uralten Bock abgeschlachtet hätte --
-„na, freilich hatten wir am Abend bis Glock eins Whist gedroschen.“ Vom
-Weihnachtsfest erzählte Wilhelm: wie sie alle in der großen Stube um
-den Christbaum gestanden hätten. Vater hätte gemeint: „Sehr schön, sehr
-schön, das heißt, schöner wär’s, wenn die Lene hier wäre“, und Mutter
-hatte etwas wie Tränen in der Stimme gehabt. Mutter wurde recht alt.
-
-Anfangs hörte Helene nur mit halbem Ohr zu. Aber allmählich, mehr und
-mehr, gewannen die lieben Gestalten, von denen Wilhelm sprach, doch
-Leben vor ihrer Seele. Gerade, weil die so matt und flügellahm war. Ihr
-war’s, als wehte der Duft der großen Kiefer, um die sie alle gestanden,
-noch heut zu ihr; der großen Kiefer, die Vater in jedem Jahr mit dem
-Großknecht selber im Walde aussuchen ging. Etwas wie leises, leises
-Heimweh überkam sie; jetzt, plötzlich, nachdem sie so lange fast gar
-nicht an die Heimat gedacht hatte.
-
-Ganz anders klang es wie vorhin, als sie nun noch einmal sagte: „Ja ...
-ja, unser liebes altes Rohlbeck!“
-
-Sie schwiegen ein Weilchen. Dann fragte er, wie sie über das Fest
-fortgekommen wäre. „Pläsierlich wird’s ja nicht gewesen sein, taxier
-ich. So mit Tante Oschitz ... ich kenn das. Du hättest doch lieber
-mitkommen sollen, Lene. Na, übrigens, Vater wird ja jedenfalls zum 3.
-Februar herkommen.“
-
-„Vater -- herkommen?“
-
-„Ihr lebt aber hier, scheint’s, wirklich auf der berühmten einsamen
-Insel. Lest ihr denn keine Zeitungen? Zum großen Veteranenfest!
-Kinder, seid ihr komisch. Zur Enthüllung des Denkmals des
-hochseligen Königs sollen doch möglichst all die alten Krieger von
-Achtzehnhundertdreizehn, aus den Freiheitskriegen, nach Berlin kommen.
-Hast du denn nicht einmal vom König gelesen, wie er das Programm
-abgeändert hat? Da hatten die Hofschranzen fein säuberlich geschrieben:
-‚Alle Krüppel werden dem Veteranenzuge in Wagen aus dem königlichen
-Marstall folgen.‘ Dick streicht’s unser allergnädigster Herr aus und
-schreibt eigenhändig dafür hin: ‚Diejenigen, welche infolge ihrer bei
-der Landesverteidigung erhaltenen ehrenvollen Wunden gelähmt sind ...‘
-und so weiter. Fein, nicht wahr? Und schön! Ja, also, ich denk’, Vater
-wird bestimmt kommen.“
-
-Helene schwieg. In ihr arbeitete es: Vater würde kommen, und Vaters
-Jägeraugen waren scharf. Er las gewiß in ihrem Gesicht, was sie
-erlebt. Und wenn er dann fragte! War’s doch überhaupt wie ein Wunder,
-daß bisher alle blind gewesen waren -- bis auf das eine Paar heller
-Jungensaugen! Wenn Vater kam und sie ansah und fragte -- -- --
-
-„Gerade redselig bist du nicht, Lene.“
-
-„Wilhelm, mein armer Kopf.“
-
-„Ja so ...“ und er erzählte weiter. Von den Rackowern, die diesmal
-den Winter daheim bleiben wollten. Sie müßten sparen, hatte der dicke
-Ernst gesagt. „Na, Lene, die Rackowschen und sparen! Schaden könnt’s
-ja nicht, denn man munkelt, Ernst sitze bei Ephraim Hirsch feste in
-der Kreide. Aber die und sparen. Tante Marie hat zu Weihnachten einen
-Kaschmirschal geschenkt bekommen, der seine tausend Taler unter Brüdern
-kostet.“ Übrigens hätten sie sehr nach Helene gefragt.
-
-„Wann bist du denn zurückgekommen?“ Sie sagte es eigentlich nur, um
-etwas zu sagen.
-
-„Gestern nachmittag. Ich wär schon gestern zu dir gekommen, aber meine
-englischen Freunde hatten mich auf acht Uhr zu Ewest eingeladen. Da
-traf ich übrigens auch den Russen, wie du ihn ja wohl immer nanntest,
-Herrn Schwarz. In einer höchst fidelen Gesellschaft.“
-
-Ganz weit lehnte sie sich zurück und deckte die Hand noch fester über
-die Augen.
-
-„Theatervölkchen, weißt du. Wir haben noch ein paar Flaschen Cliquot
-zusammen getrunken. Meinen Engländern machte das einen Heidenspaß. Der
-eine, Mister Forster, hätte am liebsten angebändelt. Es war da eine
-bildschöne Person darunter, aus Frankfurt, die gefiel dem edlen Briten
-über die Maßen -- doch die war in festen Händen. Aber was red’ ich da
-... das ist ja nichts für Mädchenohren.“
-
-Er schämte sich ein wenig und lachte verlegen. Sah nicht, wie die
-Schwester ganz hintenübersank, wie sie sich dann wieder aufrichtete,
-starr und steif. Hörte nicht, wie ihre Brust sich hob, ihr Atem
-schneller ging und immer schneller.
-
-Er sah und hörte nichts. Er sprach schon wieder von Rohlbeck. Es ging
-so doch nicht mehr lange mit dem ewigen Hin- und Herkutschieren. Wenn
-endlich die Konzession für die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen
-hinaus wäre -- und er hätte sie sicher in der Tasche, und das gäbe
-einen ordentlichen Batzen Geld --, dann müßten sie ganz nach Berlin
-ziehen. Schon der Jungens wegen, damit die in eine ordentliche Schule
-kämen.
-
-„Na, Lene, und nun Gott befohlen. Soll ich die Lampe mit herausnehmen?
-Bist wohl lieber im Dunkeln? Ja, solche verdeubelten Kopfschmerzen.
-Kenn’ ich, hab ich auch manchmal; wenn auch von anderer Art. Adieu,
-Lene, gib mir die Hand. Donnerwetter, was hast du für eiskalte Hände.
-Soll ich dir ’n Doktor schicken? Gute Besserung liebe Lene --“
-
-Nun war er endlich gegangen.
-
-Helene hatte ihr Taschentuch herausgezerrt und biß auf das Leinen.
-Sonst hätte sie aufschreien müssen. Aufschreien, daß es durch das ganze
-Haus gellte.
-
-Ihm nachschreien: das ist gelogen! Wie kannst du es wagen, vor meinen
-Ohren Alfred so zu verleumden! Weißt du denn nicht, daß er mich liebt?
-Mich -- nur mich!
-
-Gelogen! Gelogen! Gelogen!
-
-Immer wieder sprach sie es in Gedanken vor sich hin. Es tat ihr
-körperlich weh, es war, als ob das Wort jedesmal einer spitzen Nadel
-gleich ihr ins Gehirn stoße. Aber sie wiederholte, wiederholte: gelogen
--- gelogen -- gelogen --
-
-Eine Stunde wohl saß sie so, ohne sich zu rühren. Ohne einen einzigen
-anderen Gedanken fassen zu können. Nur, daß ihr wohl ein Wort durch
-den Sinn schoß, das er neulich gesprochen hatte, lachend: „Du bist
-doch nicht eifersüchtig?“ Aber es war nur wie eine unklare Erinnerung.
-Eifersüchtig?! Wie sollte sie eifersüchtig sein? Es war doch alles
-gelogen -- gelogen -- gelogen --
-
-Einmal steckte Tante Oschitz den Kopf durch die Türspalt: „Immer noch
-Kopfschmerzen? Armes Kind! Mach dir doch einen ordentlichen Umschlag
-von Eau de Cologne.“
-
-„Ja, liebe Tante.“
-
-„Ich muß zu Madame Sandern. Willst du das Abendbrot auf dein Zimmer?“
-
-„Wie du befiehlst, liebe Tante.“
-
-O Gott, daß auch diese sanfte Stimme schmerzen konnte.
-
-„Soll dir das Mädchen die Lampe bringen?“
-
-„Bitte nein, liebe Tante.“
-
-„Recht gute Besserung, Kind. Ich stelle dir unten das Akonit hin. Zehn
-Tropfen, hörst du.“
-
-„Ja, liebe Tante.“
-
-Langsam schloß sich die Tür wieder. Tante Marianne hatte so
-geräuschlose Sohlen. Aber heut hörte Helene jeden, jeden ihrer Schritte
-auf der Treppe, bis zur letzten Stufe, und jeder dieser sanften
-schleifenden Tritte schmerzte.
-
-Wieder saß sie im tiefen Dunkel. Saß regungslos. Und dachte immer
-wieder: gelogen -- gelogen -- gelogen --
-
-Und dachte nun doch zurück an den heutigen Vormittag. Gerade weil
-sie ja wußte, was der Bruder da leichthin geredet hatte, war gelogen.
-Selbstverständlich gelogen. Alfred, der ihr heute -- heute -- ins Ohr
-geflüstert hatte: „Mann und Frau“ ... „wir allein, ganz allein“: Alfred
-sollte gestern abend ...
-
-... sollte überhaupt! Ach, diese schlechten, schlechten Menschen!
-
-Lachen müßte man -- wenn man nur könnte --
-
-Aber sie selber: sie selber war auch schlecht gewesen. Denn schlecht
-war es, daß sie kein volles Vertrauen zu ihm fassen konnte. Wie kam
-das überhaupt? Wenn man jemand liebt, muß man volles Vertrauen haben.
-Unbedingtes, grenzenloses Vertrauen. Muß Opfer bringen können. Ja,
-hätte sie denn nicht für ihn sterben mögen ... sterben mit tausend
-Freuden!
-
-Sie aber ... sie hatte nach Harro gerufen. Wie um Hilfe. Nach dem
-dummen Jungen, der seines Weges kam, schlendernd, mit der Mappe
-unter dem Arm. Die Fäuste in den Manteltaschen. In den Augen dieses
-argwöhnische Überwachen. Was fiel dem Jungen ein!
-
-Mit Verachtung hätte Alfred sie strafen müssen. Aber er war der
-Großmütigere gewesen, der Überlegene, der Verzeihende.
-
-Und immer -- immer war sie klein gewesen, klein und kleinlich ...
-
-Und nun gar eifersüchtig. Nein, nein! Das nicht! Es war ja alles
-erlogen -- erlogen -- erlogen --
-
-Wieder saß sie eine Weile ganz still, regungslos.
-
-Dann sprang sie plötzlich jäh auf. Sie tastete im Dunkeln nach ihrem
-Schrank, riß ihren Mantel heraus und den Pelzhut. Alles im Dunkeln,
-ohne zu wählen; warf den Mantel um. Mit hastenden, unsicheren Händen.
-Der Hut wollte und wollte nicht sitzen. Ihr Haar hatte sich wohl
-gelockert. Sie griff hinein, preßte es gewaltsam unter die Hutform,
-schürzte die Bänder unter dem Kinn.
-
-Aber als sie die Türklinke in der Hand hatte, wandte sie sich noch
-einmal um. Nun brauchte sie doch Licht. Strich das Schwefelholz an,
-entzündete die Kerze, kniete vor der Kommode nieder. Da lag, ganz unten
-versteckt, die Brosche mit den Topasen. Die mußte sie doch anstecken --
-heute.
-
-Das ging nur vor dem Spiegel. ‚Mein Gott, wie siehst du aus!‘ dachte
-sie erschrocken. Auf einen Augenblick kam ihr die Besinnung zurück.
-Soweit wenigstens, daß sie sich das Haar glatt strich. ‚Nein, häßlich
-darf er dich nicht finden.‘ So weit wenigstens, daß sie die Knöpfe des
-Mantels richtig schloß, den Hut gerade rückte.
-
-Die Topasen schimmerten und glänzten, wie sie so bei dem matten Schein
-der Kerze die Brosche vor sich hin hielt. Ein leises Lächeln huschte
-über ihr Gesicht. Darüber wird er sich gewiß freuen, daß du die
-angesteckt hast. Heute --
-
-Nun war sie fertig, war ruhig. Wirklich, glaubte sie, ‚ich bin nun ganz
-ruhig‘. Es war ja nur der Entschluß, der so schwer war.
-
-Sie löschte die Kerze. Sie huschte die Treppe herunter und über den
-Flur. Leise, vorsichtig, öffnete sie die Haustür. An Harros scharfe
-Ohren dachte sie dabei. Leise, vorsichtig drückte sie die Tür wieder
-zu. Es war doch ein Glücksfall, daß Tante Oschitz gerade heut abend aus
-war. Bei der alten Madame Sandern. Da saßen sie jetzt und strickten
-Missionsstrümpfe. Komisch eigentlich: um die Neger da hinten, da unten
-in Afrika sorgte sich Tante Oschitz.
-
-Draußen war es schneidend kalt. Aber die Kälte tat Helene wohl. Sie
-atmete tief auf. Der Kopfschmerz war verschwunden. Wie fortgezaubert.
-Durch die Kälte vielleicht, durch den Entschluß vielleicht. Durch einen
-großen, guten Entschluß! Der das Herz so leicht macht und so froh.
-
-Schnellen Schrittes ging sie die Tiergartenstraße entlang, dann durch
-die Lennéstraße. Es war sehr leer auf den Straßen bei der starken
-Kälte. Im Rauhreif standen links die Bäume des Tiergartens, winkten
-rechts die des Radziwillparks über die alte Stadtmauer. Sogar auf dem
-Pariser Platz war es still. Der Posten an der Brandenburger Torwache
-lief in schwerem Mantel hinter dem Gitter herum, um sich warm zu
-halten. ‚Das ist der Weg, den wir am ersten Tage in Berlin gegangen
-sind‘, dachte Helene. ‚Und nun gehe ich zu ihm -- zu ihm!‘
-
-Das kurze Stück Unter den Linden, die Wilhelmstraße. ‚Ja, zu ihm!
-Was er wohl für Augen machen wird? ‚Du, Helene?!‘ Ans Herz wird er
-mich nehmen, und ich will ihm abbitten, alle meine Zweifel, all meine
-häßlichen kleinen, kleinlichen Gedanken.‘
-
-Jetzt kam die lange Behrenstraße. Ganz am Ende wohnte er, fast
-gegenüber dem Opernhause. Oft genug war sie ja vorübergegangen, hatte
-zu seinen Fenstern emporgesehen mit pochendem, sehnsüchtigem Herzen.
-
-Plötzlich kam ihr der Gedanke: wenn er nun nicht zu Hause ist? Aber das
-war ja unmöglich. Er +mußte+ zu Hause sein, heute: das wollte das
-Schicksal.
-
-Sie war sehr schnell gegangen, zuletzt fast gelaufen.
-
-Nun, plötzlich, als sie auf der anderen Straßenseite die erleuchteten
-Fenster des Ewestschen Restaurants sah, stockte ihr der Atem. Dort
-also hatte er gesessen, in lustiger Gesellschaft, gestern abend --
-in solcher Gesellschaft. Was hatte Wilhelm erzählt? Doch das war ja
-gelogen -- gelogen -- gelogen --
-
-Sie wiederholte es sich immer wieder, immer eindringlicher. Aber das
-würgende Gefühl in der Brust wurde sie nicht los, die atembeklemmende
-Enge. Mühsam nur kam sie vorwärts, und jetzt erst fühlte sie die
-schneidende Kälte, den scharfen Wind, der die Straße entlang jagte, ihr
-gerade ins Gesicht. Sie schauerte zusammen. An der Rückfront des Palais
-mußte sie einen Augenblick stehen bleiben. Und da schoß ihr plötzlich
-der Gedanke durch den Sinn: ‚Hier wohnt der alte König, und Vater kommt
-als sein Gast. Vater!‘
-
-‚Vater --‘
-
-‚Was Vater wohl dazu sagen würde, wenn er dich hier fände, auf diesem
-Wege?!‘
-
-Sooft hatte er ihr den Nacken gesteift, hatte sie den Kopf zurückwerfen
-lassen, der Hackentinsche Stolz. Halb unbewußt beides: Familienstolz
-und Mädchenstolz. Heut hatte sie das beides weit hinter sich geworfen.
-Aber nun war’s doch, als hörte sie Vaters Stimme: „Mädel, wo hast du
-deinen Stolz?“
-
-Sie biß die Zähne aufeinander, stand noch einen Moment mit
-geschlossenen Augen. ‚Mein Stolz? Ja, mein Stolz! Was ist mein Stolz
-gegen meine Liebe!‘ Und weiter ging sie, an den kümmerlichen Büschen
-des Opernplatzes entlang, jetzt schon seine Fenster suchend.
-
-Die Fenster waren dunkel. Er war nicht daheim.
-
-Aber er mußte ja zu Hause sein. Er hatte gewiß auch ein Zimmer nach dem
-Hofe hinaus.
-
-Wieder stand sie ein paar Minuten, nach den Fenstern dort drüben
-hinüberspähend, als ob im nächsten Augenblick hinter den Rouleaus ein
-Lichtschein aufflammen müßte.
-
-Dann wollte sie über die Straße. Sie mußte ja doch über die Straße. In
-dies Haus drüben, die zwei Treppen hinauf. Sie +mußte+ ja doch ...
-
-Aber es war wie eine Lähmung in ihr. Die Füße wollten sie nicht
-hinübertragen. Der Mädchenstolz, der Hackentinsche Stolz war mit einem
-Male wieder da: Helene Hackentin geht in später Abendstunde zu ihrem
-Geliebten!
-
-Als ob ihr das jemand ins Ohr raunte. Wie häßlich das war, wie gemein
-das klang!
-
-Dabei wiederholte sie schwer, langsam die Worte. Triumphierend wollte
-sie es sich selber zurufen: ‚Ja doch! Ja doch! Gerade das: zu ihrem
-Geliebten!‘ Aber es ging nicht, der häßliche Klang blieb und blieb.
-
-Einmal sah sie sich wirr um. War es denn überhaupt schon so spät? Sie
-hatte keine Uhr befragt. Die Straße, der Platz waren menschenleer;
-doch die Häuser waren noch nicht geschlossen; das Opernhaus war noch
-erleuchtet. Aber das tat ja alles gar nichts, bedeutete ja gar nichts.
-Und wenn es zur Mitternachtsstunde gewesen wäre --
-
-Ganz menschenleer war die Straße.
-
-Plötzlich hörte sie Stimmen. Und sie sah drüben, dicht an den Häusern
-entlang, ein Paar gehen. Einen Mann und eine Frau, Arm in Arm --
-
-... Alfred ...
-
-Starr aufgerichtet stand sie, starr, wie versteint. Ihre Augen spähten
-durch die Dunkelheit. Nun traten die beiden in den kümmerlichen
-Lichtkreis der nächsten Laterne. Nun klangen noch einmal ihre Stimmen
-herüber, ein Scherzwort, ein kurzes Auflachen. Jetzt waren sie drüben
-am Hause, stiegen die paar Stufen zur Tür hinauf. Die Tür knarrte, ging
-auf, schloß sich wieder hinter den beiden.
-
-Starr aufgerichtet stand Helene, starr, wie versteint. Den Kopf weit
-vorgestreckt, die Augen auf die Tür gerichtet, hinter der die beiden
-verschwunden waren: Alfred ... und die Frau! Jetzt hatten sie wohl die
-zweite Treppe erreicht, jetzt standen sie vor seiner Wohnung, jetzt zog
-er den Schlüssel aus der Tasche.
-
-Mit einem Male flammte es hinter den Rouleaus auf. In einem dämmrigen
-Schein, wie wenn jemand ein Schwefelholz entzündet. Ein leuchtender
-Punkt zuerst, dann das ganze Fenster füllend, daß ein breiter
-Lichtstreif durch die blaue Stoffgardine auf die Straße hinaus fiel.
-Und hinter dem blauen Vorhang silhouettenhaft, scharf umrissen, zwei
-Gestalten --
-
-Noch immer stand Helene starr aufgerichtet, wie zu Stein erstarrt, mit
-weit vorgestrecktem Kopf, die schmerzenden Augen nach drüben gerichtet,
-die Hände gegen die keuchende Brust gepreßt. Noch immer konnte sie das
-Unfaßbare nicht begreifen. Aber es bohrte sich ihr wie mit tausend
-spitzen Nadeln ins Hirn, es schnürte ihr den Atem ein, es legte sich
-mit Zentnerlasten auf sie: das Unfaßbare, das Unbegreifbare, das
-Fürchterliche ... die Erkenntnis!
-
-Dann kam endlich ein einzelner Ton des Jammers aus ihrer Brust, ein
-einziger Wehlaut nur. Die Starrheit wich. Sie schlug die Hände vor das
-Gesicht. Und dann rannte sie quer durch die kümmerlichen Büsche des
-öden Platzes, als ob sie dem Entsetzen entfliehen wollte, das noch mit
-ihr ging und das sie nie, nie verlassen konnte.
-
-Sie jagte über den Platz, als ob sie gehetzt würde, als ob der Schimpf
-und die Schande hinter ihr drein wären.
-
-Mit einem Male aber waren ihre Kräfte am Ende. Auf die ungeheure
-seelische Anspannung folgte jäh der Rückschlag. Sie taumelte, raffte
-sich noch einmal auf. Stand, sah sich wirr um, tat noch ein paar
-mühsame Schritte vorwärts --
-
-Da fühlte sie eine sanfte, starke Hand an ihrem Arm. Hörte eine Stimme:
-„Liebe Helene ... ich bin’s ... ich, Harro! Komm ... erlaube, daß ich
-dich stütze ... liebe Helene ...“
-
-Klar bewußt wurde ihr all das nicht. Aber in ihrer ohnmächtigen
-Hilflosigkeit empfand sie die hilfreiche Hand, empfand sie den
-zärtlichen, mitleidsvollen Ton der Stimme. Sie lehnte sich auf den Arm,
-ließ sich willenlos halten und stützen. Wie von fern her hörte sie
-wieder: „Nicht durch die vielen Menschen, Helene, nicht wahr? Die Oper
-ist eben aus. Drüben bekommen wir gewiß einen Wagen.“
-
-Er führte sie, langsam, sorglich, wie man eine Kranke führt. Hob sie in
-die Droschke, setzte sich still neben sie, fragte nicht, hielt nur ihre
-Hand mit einem weichen, gleichmäßigen Druck.
-
-Ganz zusammengesunken saß sie in ihrer Ecke. Manchmal ging ein Schauern
-über sie hin, sie zuckte zusammen wie in einem schrecklichen Traum,
-schluchzte weh auf. Manchmal faßte ihre freie Hand nach dem Halse, als
-suchte sie etwas, das sie einengte, ihr den Odem abschnürte.
-
-Die Droschke trottete und trottete über das Pflaster. Es tat so weh, so
-weh ...
-
-Einmal fuhr Helene auf, rief wie erwachend, fast feindselig: „Wohin
-bringst du mich!“
-
-Da war wieder die liebe, zärtliche, mitleidsvolle Stimme: „Ängstige
-dich nicht, Helene ... nach Hause ...“ Ganz seltsam klang die Stimme,
-so ruhig, so zuversichtlich. War das wirklich Harros Stimme, war das
-Harros Hand, die die ihre hielt? Merkwürdig ... Harros Hand ... und tat
-so wohl ...
-
-Wieder kauerte sie sich zusammen, ganz tief in ihre Ecke. Schreckte von
-neuem auf: „Wo kommst du denn her?“
-
-„So laß doch, Helene. Ich kam ganz zufällig über den Opernplatz.“
-
-Ob er wohl log? Gewiß log er. Das fühlte sie. Aber weiter konnte sie
-nicht denken. Nur daß er gut zu ihr war, wußte sie.
-
-Weiter und weiter rasselte der Wagen, immer im gleichmäßigen langsamen
-Trotteltrab. Jeden Hufschlag empfand sie. Es klang fast wie: ‚Wie soll
-das nun werden? Wie ... soll ... das ... nun ... werden?‘ Aber auch dem
-konnte sie nicht nachdenken. Es war alles so verworren, so unklar. Nur
-ein großer, großer Schmerz war da.
-
-Endlich hielt der Wagen.
-
-„Mama ist nicht zu Hause. Johann auch nicht, nur Luise“, hörte sie
-wieder. „Ich bring dich hinauf. So ... komm ... gib mir deine Hand.“
-
-Das war also doch Harro. Wie verständig der Harro war! Der Junge!
-
-Und dann lag sie auf dem Sofa oben in ihrem Zimmer. Die Lampe brannte,
-aber Harro hatte den Schirm vorgezogen, das Licht blendete nicht. Es
-war schön warm; draußen war es doch eisig kalt gewesen. Und die alte
-Luise war da, brachte heißen Tee, zog ihr die Stiefel aus, rieb ihr die
-Füße. Und als sie gegangen, kam Harro noch einmal herein, setzte sich
-zu ihr, streichelte ihr die Hand.
-
-Was war denn das?
-
-Der große Junge hatte ja dicke Tränen in den Wimpern.
-
-Sie sah ihn an, richtete sich mühsam hoch, sah ihn wieder an, mit
-erwachenden Augen. Sank zurück, schlug die Hände vor das Gesicht und
-schluchzte -- schluchzte bitterlich.
-
-Mit einem Male stand nun alles wieder vor ihrer Seele -- durchlebte sie
-all ihr Unglück noch einmal, rang mit der Verzweiflung, bäumte sich
-auf, brach völlig zusammen. Nun hörte sie nicht mehr, was Harro ihr
-zusprach, fühlte nicht mehr den leisen, mitleidsvollen Druck seiner
-Hand. Fühlte nur eins: es ist aus und zu Ende ... dein Glück liegt in
-Trümmern und Scherben ...
-
-Eine endlose, endlose Nacht.
-
-Tante Marianne war gekommen, aufs heftigste erschrocken. „Wir hatten
-noch einen Spaziergang gemacht, Helene und ich“, hatte Harro erklärt.
-„Da ist sie plötzlich ohnmächtig geworden. Sie war ja schon in den
-letzten Tagen nicht wohl. Erinnere dich nur, Mama.“
-
-Der Arzt wurde gerufen, Tante brachte Helene zu Bett. Willenlos ließ
-sie alles mit sich geschehen, sprach nicht, lag mit geschlossenen
-Augen. Der Medizinalrat machte ein bedenkliches Gesicht -- „Ein
-Nervenfieber im Anzug“ -- verschrieb ein Rezept, wollte am nächsten
-Morgen wiederkommen.
-
-Nicht von Helenens Bett wich die Tante. Ein paar Male kam Harro auf den
-Fußspitzen, öffnete eine Türspalte, schlich wieder zurück. Die Medizin
-wurde gebracht. „Du mußt einnehmen, liebes Kind!“ Gehorsam richtete
-sich Helene auf. „Du bist so gut zu mir, liebe Tante --“ sank wieder
-zurück, lag mit geschlossenen Augen, endlose, endlose Stunden. Manchmal
-dachte Tante Marianne: es scheint doch, sie schläft. Aber dann sah
-sie wieder, wie die Hände auf der Bettdecke leise hin und her gingen,
-immer, als suchten sie nach etwas Verlorenem. Wie bei einer Fiebernden,
-und doch war der Puls ganz regelmäßig und die Stirn eher kühl als heiß.
-
-Als der Morgen dämmerte, wurden die Hände ruhiger. Manchmal bewegte
-Helene die Lippen, als wollte sie etwas sagen oder als spräche sie
-mit sich selber. Tante Marianne sah das alles, sah auch, wie sich
-zwischen den Brauen ein paar Fältchen eingruben. Wie bei Harro, dachte
-sie; es muß doch etwas wie eine Familienähnlichkeit sein. Es schien
-nun wirklich, als schliefe Helene fest. Auch ihre Lippen waren jetzt
-ruhig, seltsam zusammengepreßt nur, ganz schmal und blutlos.
-
-Durch die tiefen Fensternischen brach das Tageslicht. Ein erster
-schmaler Sonnenstrahl legte sich quer über die Bettdecke. Tante
-Marianne wollte aufstehen, den Vorhang zuziehen. Da schlug Helene die
-Augen auf. Sie haschte nach der Hand der Tante und sagte matt, aber
-ganz klar: „Daß ich dir soviel Mühe mache, Tante.“ Sie zog die Hand an
-ihre Lippen. „Ich werde euch allen das nie danken können. Ich bin wohl
-überhaupt eine recht undankbare Kreatur.“
-
-Tante Marianne war sehr glücklich. Wer so sprach, konnte nicht
-ernstlich krank sein! In aufwallender Herzlichkeit beugte sie sich über
-die Nichte, küßte sie: „Du liebes böses Kind! Wir haben uns wirklich
-geängstigt. Was für Geschichten machst du nur!“
-
-In Helenes Augen lag immer noch etwas Starres. „Ja ... was für
-Geschichten ...“ sagte sie langsam. Und dann gleich: „Aber ängstigen
-braucht ihr euch nicht. Es muß wie ein plötzlicher Anfall gewesen sein.
-Jetzt bin ich ganz wohl. Und du hast die ganze Nacht hier gewacht. Ich
-schäme mich, Tante ...“
-
-„Aber, Helene! Und ganz wohl: das glaube nur nicht. Da müssen wir erst
-den Doktor hören.“
-
-Helene saß aufrecht in ihrem Bett. Sie fühlte, daß ihr Haar sich gelöst
-hatte, griff nach der einen schweren Flechte, die ihr wie ein Goldband
-über der Brust hing. Ein flüchtiges Rot ging über ihre Wangen, während
-sie die hochsteckte. „Ganz wohl? Ganz gesund hätte ich sagen sollen“,
-sprach sie wieder in ihrem schweren fremden Tonfall.
-
-„Aber Kind, das ist doch dasselbe --“
-
-Sie antwortete nicht, ließ sich zurückfallen, schloß die Augen, sah
-wieder auf. Etwas unsicher und zaghaft. Griff von neuem nach der Hand
-der Tante, sagte langsam, als ob ihr doch jedes Wort schwer fiel:
-„Liebe Tante ... ich habe eine sehr große Bitte ... ich möchte so
-schnell als möglich nach Hause ... nach Rohlbeck ...“
-
-Dabei blieb sie. Immer wiederholte sie es. Der Tante, dem Arzt, auch
-Wilhelm gegenüber, der gerufen worden war.
-
-Sie schien auch wirklich ganz gesund. Der Medizinalrat machte zwar
-einige Einwendungen, sprach dann von einem Nervenchock, gab jedoch zu,
-daß sie durchaus reisefähig wäre. So gab man ihrem Wunsche schließlich
-nach. Tante Marianne war vielleicht ein wenig pikiert über die Hast,
-mit der Helene ihre kleinen Vorbereitungen traf; sie schüttelte den
-Kopf, konnte sich in den plötzlichen Entschluß nicht hineindenken; die
-offenbare Veränderung im Wesen der Nichte verwirrte, versöhnte sie aber
-auch einigermaßen. Eine fremde, stille Schweigsamkeit war in Helene,
-eine fast wortlose, aber innige Dankbarkeit sprach aus ihr.
-
-Wilhelm wollte die Schwester am nächsten Tage wenigstens bis Frankfurt
-bringen. Am Abend kam er noch einmal, um sich als unabkömmlich zu
-entschuldigen. Nun sollte Harro für ihn einspringen. Ob er wohl die
-Klasse auf einen Tag ohne Schaden versäumen könnte? Er wurde rot, dann
-erklärte er sein „Selbstverständlich“. Tante Marianne ging hinauf, um
-Helene Mitteilung zu machen. Sie kniete vor ihrem Köfferchen, sah auf
-wie erschrocken, sagte dann hastig: „Aber ich kann doch wahrhaftig
-allein reisen!“ Als die Tante ihr zusprach: „zu unserer Beruhigung,
-Kind! Wenigstens, daß wir wissen, du bist gut in der Post untergekommen
---“ senkte sie den Kopf. Es war also abgemacht.
-
-In ganz früher Morgenstunde mußte sie aus dem Hause, denn
-der Zug ging schon um acht Uhr, und man gebrauchte bis zum
-Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof fast eine Stunde.
-
-So elend und übernächtigt sah sie aus, als sie herunterkam, daß
-die Tante erschrak. Aber Helene schien ganz ruhig. Sie sagte jedem
-einzelnen Dienstboten Lebewohl; dann umarmte sie die Tante, dankte ihr
-noch einmal.
-
-„Liebes Kind, du kommst ja bald wieder. Nimm’s nicht so feierlich.“
-
-„Wenn ich wirklich wiederkomme --“
-
-„Aber, Helene!“
-
-Sie stand einen Moment mit hängendem Kopf, wie tief in Gedanken
-versunken, griff dann nach der Hand der Tante, zog sie an die Lippen.
-Es war wie eine Abbitte. Und sie sagte auch wirklich nach einer kleinen
-Pause: „Verzeih mir, Tante Marianne. Ich hätte wohl manchmal anders
-sein können. Behalt mich ein wenig lieb ...“
-
-Schweigsam saßen die beiden Reisenden nebeneinander.
-
-Bisweilen sah Harro verstohlen auf Helene, bisweilen wollte er
-irgendeine kleine Unterhaltung anfangen. Immer wieder verstummte er.
-Aber er umgab sie mit schonendster Sorglichkeit.
-
-Einmal, kurz vor Frankfurt, sprach Helene wie aus einer langen
-Gedankenkette heraus: „Ich muß dich noch um etwas bitten --“
-
-„Gewiß, Helene! Sag’s nur!“
-
-„Bitte, geh zu Frau Harriers-Wippern und entschuldige mich. Sag’, daß
-ich plötzlich hätte abreisen müssen. Ich würde ihr von Rohlbeck aus
-schreiben.“
-
-„Ich gehe gleich morgen.“ Und dann sagte er fast dasselbe wie seine
-Mutter: „Helene, du kommst doch bald wieder!“
-
-Da sah sie ihn an, eigentlich zum erstenmal heute, und sie schüttelte
-langsam den Kopf.
-
-„Helene --“
-
-Es war, als suchte er nach Worten. Über das junge Gesicht strömte
-wieder das Rot. Er mußte erst eine Scheu überwinden.
-
-„Helene ... du hast doch deine Kunst!“ kam es dann plötzlich heraus. Es
-klang fast wie vorwurfsvoll und tröstend zugleich.
-
-Sie hatte die Hände im Schoß geschlossen. Sie drückten sich noch fester
-ineinander. Ihr Blick wich wieder seinem Auge aus. Und dann sagte sie,
-auch wie in einer inneren Scheu, ganz leise: „Harro ... mir ist’s, als
-sei auch die zerbrochen ...“
-
-Erst als sie schon am Wagen stand, in dem schmalen Posthof, unmittelbar
-vor dem Einsteigen, sprach sie noch einmal zu ihm. Ganz kurz nur: „Du
-bist gestern sehr gut zu mir gewesen, Harro. Ich danke dir vielmals.
-Und wenn du kannst, Harro ... denke nicht schlecht von mir.“
-
-Er schluckte ein paar Male, als ob er mit Tränen kämpfte. Dabei
-hatte er die Hände wieder in den Manteltaschen, zu Fäusten geballt.
-Ruckweise nur erwiderte er: „Schlecht von dir! Ach ... Helene ... nie
-... niemals. Ich ... du weißt es ... ich hab dich ja so lieb. Manchmal
-denk ich, du müßtest eigentlich meine Schwester sein ... manchmal ...“
-Plötzlich riß er die Hände aus den Taschen und griff nach ihrer Hand.
-Das Blut kam und ging in seinem Gesicht. „Nimm’s dir doch nicht so zu
-Herzen, Helene! Das ist ja alles dummes Zeug ... das ...“
-
-Der Postillion blies. Der Kondukteur drängte. Über Harro schien etwas
-wie innere Wut zu kommen, er mußte sich irgendwie Luft machen. Mit
-einem Ellbogenstoß schob er einen dicken Wollhändler zur Seite, schrie
-ihn an: „Was machen Sie sich hier mausig. Sehen Sie nicht, daß die
-Dame einsteigen will!“ -- Dann hob er Helene in den Wagen, deckte ihr
-die Reisedecke über die Knie, drückte noch einmal ihre Hände. „Adieu,
-Helene ... auf Wiedersehen ...“ Da war seine Stimme schon wieder
-knabenhaft weich geworden. „Bleib gesund ...“
-
-Und dann stand er, die Mütze in der Hand, neben dem hohen Wagen. Der
-Wind spielte mit seinem blonden Haar. „Adieu ... liebe, liebe Helene
-...“
-
-Trotz allem: Helene fühlte sich erleichtert, als sie allein war unter
-fremden Menschen.
-
-In den endlosen Stunden der Nacht, während sie gelegen hatte, wach mit
-geschlossenen Augen, mit der Verzweiflung ringend, war, langsam und
-allmählich, ein neues Gefühl in ihr erwacht. Während der ganzen Fahrt
-heute war es gewachsen und gewachsen. Nun sie allein war unter den
-fremden Passagieren, sann und sann sie ihm nach. Es war ein Empfinden,
-das ihr unsagbare Schmerzen brachte und an das sie sich doch klammerte
-wie der Ertrinkende an die schmalste Bootsplanke. Es war der Vorwurf:
-wo hattest du deinen Stolz?!
-
-Gestern abend -- deutlich stand der Moment vor ihrer Seele -- gestern
-abend, am Palais, war einer Warnung gleich in letzter Minute der
-Weckruf in ihr erklungen: was Vater wohl sagen würde? ‚Mädel, wo hast
-du deinen Stolz?‘
-
-Gestern abend hatte die Leidenschaft sie darüber hinweggepeitscht. Nun
-klang er immer wieder auf, der Vorwurf: wo hattest du deinen Stolz?
-
-Es war ja freilich nur wie eine schmale Bootsplanke --
-
-Wie sie so saß und sann und grübelte, rann es ihr immer wieder siedend
-heiß durch die Adern. ‚Und wenn er heut käme und umfaßte dich und du
-hörtest seine Stimme: wo bliebe dein Stolz? Wie Schnee in der Sonne
-wäre er.‘ Aber wenn sie so dachte, dann bäumte sich jetzt ihr ganzes
-Inneres dagegen auf. Die Scham überflutete sie: ‚Nein! Nein! Und wenn
-er käme! Eine andere war ich gestern -- eine andere bin ich heute! Ein
-Leben liegt zwischen gestern und heut.‘
-
-Auch das fragte sie sich immer wieder: warum fliehst du vor ihm?
-
-Plötzlich in der Nacht, aus der Verzweiflung geboren, war ihr der
-Entschluß gekommen, und sie hatte nach ihm gegriffen: auch wie der
-Ertrinkende nach der schmalen Bootsplanke. Nun war ihr Stolz wach
-geworden und schrie ihr zu: warum fliehst du vor ihm! Aber da war auch
-die Scheu vor dem Kampf und die übergroße Müdigkeit. Da war die Furcht
-vor den forschenden Blicken -- auch vor Harros wissenden Augen. Da war
-die Sehnsucht nach Ruhe, nach der Enge und Stille des Landes, nach dem
-Frieden des Elternhauses.
-
-In ewig gleichem Trabe zog die Post ihres Weges, zwischen den ewig
-gleichen Pappelreihen entlang, durch die ewig gleichen Schneeflächen,
-die sich rechts und links breiteten, schier endlos.
-
-Gleichgültig saßen die drei anderen Fahrgäste in ihren Ecken. Fremde
-Leute -- gottlob. Dann und wann blies der Postillion ein kurzes Lied,
-immer, wenn der Wagen durch ein Dorf ratterte. Ein paar Stimmen dann
-am Wege, ein Hundegekläff, ein Peitschenknall -- und wieder die weite,
-weite Schneeebene.
-
-Als sie hinausgefahren war aus der Heimat, hatten die Wiesen noch im
-Grün gestanden. Nun war es Winter geworden. Winter --
-
-Die Gegend wurde bekannter; hier ging der Weg nach Sodelzig ab; dann
-klangen die Hufschläge scharf auf dem berühmten Pflaster von Stellberg.
-An der Apotheke fuhr die Post vorbei -- hinter jenem Fenster dort hatte
-sie ihn zum ersten Male gesprochen.
-
-Die drei Hügel kamen, die Mutter Hoffnung, Liebe, Glaube getauft hatte:
-vom ersten aus sollte man hoffend die Kirchturmspitze von Rohlbeck
-suchen; beim zweiten sich in der Liebe beglückt fühlen, die in der
-Heimat wartete; das dritte brachte die nahe Gewißheit des Wiedersehens.
-Glaube war für Mutter Gewißheit.
-
-Aber je näher die Heimat kam, desto banger wurde Helene.
-
-Warum war sie aus Berlin geflohen? Trug sie die Unruhe nicht in sich,
-mit sich, in den Frieden der Heimat hinein? Mußte sie nicht auch
-hier fragenden, forschenden Augen begegnen? Würde man nicht auch im
-Elternhause um Auskunft drängen?
-
-Sie sah das nun alles ganz, ganz anders vor sich, als in der
-vergangenen Nacht, wo die schmerzliche Sehnsucht nach der Heimat sie
-ergriffen hatte. Sie hörte das Fragen, sie fühlte das Forschen der
-Ihren und wußte, daß keine Antwort sie befriedigen würde. Wem konnte,
-sollte sie sagen: ich bin geflohen -- vor ihm!
-
-Eine: eine war vielleicht im Elternhause, die sie ganz verstehen
-konnte. Vielleicht?
-
-Nun schimmerte schon der rote, hohe Schornstein der Dampfmühle über das
-Schneefeld. Und wie sie das sah, da fiel ihr noch ein rein Äußerliches
-auf die Seele. Sie sah im Geiste auch das ganz deutlich: die Jungen an
-der Chaussee, die Posttasche abzuholen, den Hauslehrer dabei --
-
-Mit einem plötzlichen Entschluß sprang sie auf und pochte vorn an die
-kleine Wagenscheibe. Der Kondukteur sah sich um, öffnete, fragte. Sie
-wolle hier aussteigen. Jawohl -- hier! Und das Gepäck? Das Gepäck
-sollte in Rohlbeck abgegeben werden, bei denen, die die Posttasche für
-das Dominium holten.
-
-Die Chaise hielt. Der dicke Wollhändler wachte auf und machte brummend
-Platz, so wenig, als zum Aussteigen gerade unumgänglich nötig war. Der
-Kondukteur war abgestiegen, stand am Schlag: „Es ist aber tiefer
-Schnee --“
-
-Aus ihrem kleinen Portemonnaie holte Helene das letzte
-Zehngroschenstück für ihn hervor.
-
-Und dann bog sie in den Feldweg ein, der von der Dampfmühle nach dem
-Gutshof führte.
-
-Es war wirklich tiefer Schnee und kein Fußweg ausgetreten. Anfangs
-hastete Helene, dann wurde ihr das Ausschreiten schwer und immer
-schwerer. Sie fühlte, daß ihr der Schweiß ausbrach vor körperlicher
-Anstrengung, und dabei schüttelte sie der Frost.
-
-Schwerer und schwerer wurde der Weg -- und schwerer und schwerer wurde
-ihr das Herz.
-
-Welch ein Wiedersehen!
-
-Nun war sie am Kreuzweg, dicht hinter dem Garten. Wie ein
-phantastischer Gedankenblitz fuhr ihr durch den Sinn: vor diesem
-Kreuzweg hatte sie sich als Kind immer gefürchtet; die alte Beate,
-die Kindermuhme, erzählte so gruselige Geschichten vom Kreuzweg zur
-Nachtzeit.
-
-Und jetzt kannte sie den anderen Kreuzweg; den Kreuzweg des Lebens, der
-in die Nacht führte ...
-
-Das Dach des Elternhauses leuchtete über die kahlen Baumgipfel.
-
-Da flog Helene, die letzten Kräfte anspannend, durch den Garten. Zum
-Seiteneingang hin, zu den Wirtschaftsräumen im Souterrain. Auch die
-Bettler pochten hier an -- auch die Bettler.
-
-Hochaufatmend stand sie unten im kalten, halbdunklen Flur. Die Tür zur
-Leuteküche war nicht ganz geschlossen, ein dichter, heißer Brodem kroch
-aus ihr hervor.
-
-Hochaufatmend stand sie, vom schnellen Lauf erschöpft. Die Hände preßte
-sie gegen die Brust: ‚Lieber Gott, gib mir eine gnädige Aufnahme --‘
-
-Mit einem Male ging ganz hinten im Flur die Tür zur Milchkammer.
-
-Helene stürzte vorwärts, umklammerte die Schwägerin, legte den Kopf an
-ihre Brust, bat nur immer wieder: „Martha ... Martha ... hilf mir!“
-
-Und Martha half in ihrer stillen, schlichten, resoluten Weise. Ohne
-viel Worte, ohne Fragen und Drängen, ohne forschende Augen.
-
-„Wie sich das gut trifft“, sagte sie. „Dein Zimmer ist geheizt. Wir
-erwarteten nämlich Margaret Zieldorf. Komme nur --“ Und wie eine, die
-alles errät, fügte sie hinzu: „Den Eltern bring ich’s nachher bei,
-damit sie nicht erschrecken.“ Fragte auch gleich nach dem Gepäck, rief
-eine Magd. „Gut, daß die Jungens Arbeitsstunde haben.“ An alles dachte
-sie.
-
-Oben brachte sie Helene zu Bett. „Nun ruh dich nur. Ich besorg dir
-gleich etwas Warmes. Still! Erst ruhen und eine warme Tasse Brühe.“ Zog
-die Decke fest um Helene, beugte sich herab, küßte sie auf beide Wangen.
-
-Mit weit offenen Augen lag Helene. Nun erst fühlte sie die Abspannung
-nach der Fahrt, nach dem Gang durch den Schnee und die kalte Starrheit
-aller Glieder. Manchmal schüttelte der Körper zusammen vor Frost.
-Aber langsam, allmählich kam doch die wohlige Wärme. Der große,
-braune Kachelofen sprühte, ab und an gab’s ein heimliches Knastern in
-den Buchenscheiten. Dann kam Martha zurück, setzte sich aufs Bett:
-„Natürlich hatte die Köchin keine Brühe, aber ich hab dir schnell ein
-Warmbier gemacht. Hier -- so -- und nun trinkst du. Still! Nicht reden.
-Morgen ist auch noch ein Tag.“
-
-„... die Eltern ...“
-
-„Ja doch, laß mich nur sorgen. Vorläufig bist du mal krank. Nein ...
-ich will gar nichts wissen. Trink noch einmal. Übrigens, Vater liegt
-auch zu Bett.“
-
-„Vater?“
-
-„Du brauchst nicht zu erschrecken, er ist kerngesund. Aber er sollte
-doch nach Berlin reisen, zum Jubiläum der Befreiungsveteranen, und das
-paßt ihm nicht.“
-
-Martha lachte ganz leise, streichelte Helenes Hand und erzählte weiter,
-wie man einem Kind erzählt, um es auf andere Gedanken zu bringen.
-„Nämlich, wie Papa die große Einladungskarte bekommt, stutzt er und
-sagt bloß: ‚Das heißt‘ ... wird ganz rot, steckt die Einladung ein
-und geht aus dem Zimmer. Den ganzen Tag gestern haben wir ihn kaum zu
-Gesicht bekommen, und gegen Abend wurde er ‚krank‘ -- ‚das heißt‘,
-meinte er ‚nach Berlin kann ich nun nicht‘. Wir hatten wirklich etwas
-Sorge. Aber dann kam der Pastor, und da erfuhren wir’s: unser guter
-Papa ist nämlich gar nicht Rittmeister. Premierleutnant ist er, und
-die Einladung war an den Premierleutnant von Hackentin gerichtet, wie
-das wohl in den Listen steht. Die Leute haben ihn nur zum Rittmeister
-ernannt, und allmählich hat er’s selber geglaubt. Nun nimmt er’s
-gewaltig krumm, liegt im Bett, schimpft mit Diana und sagt, wenn einer
-von uns hereinkommt, immer wieder: ‚Das heißt, nach Berlin kriegt ihr
-mich nicht. Ich bin krank.‘ Aber das Essen schmeckt ihm, Gott sei Dank.“
-
-„Der arme Papa --“
-
-„Laß nur gut sein. Es ist doch mehr komisch als tragisch. Aber nun will
-ich mal nach meinen Rangen sehen.“
-
-Sie war schon bis an die Tür, da rief Helene sie zurück. Mit leiser,
-ängstlicher Stimme. Wie ein Flehen klang’s. Und als sie noch einmal an
-das Bett trat, richtete Helene sich auf und klammerte sich fest an ihr:
-„Geh nicht fort ... ich muß mein Herz erleichtern ... ich muß dir alles
-erzählen ...“
-
-Und so sagte sie’s.
-
-Martha saß bei ihr, hatte ihre beiden Hände genommen, unterbrach nicht,
-fragte nicht. Und als Helene zu Ende kam, hastend bald, bald stockend,
-unter heißen Tränen, da küßte sie ihr die von den Wangen. Hielt die
-Bebende sanft umschlungen und sagte leise: „Es ist kein Menschenherz,
-dem nicht Kampf beschieden wurde. Auch du wirst darüber hinfortkommen,
-liebe Lene. Es ist gut, daß du nun heimgekehrt bist.“
-
-„Ich war so leichtgläubig! Ich war so leichtsinnig!“
-
-„Du hast an ihn geglaubt, denn du hast ihn geliebt. Schilt dich nicht,
-Helene. Deine Liebe entsühnt dich ... Und nun gebe dir der liebe Gott
-Ruhe für dein armes Herz. Hier im Elternhause!“
-
-Als Helene am nächsten Morgen erwachte, staunte sie: wie hatte sie nur
-so fest und gut schlafen können!
-
-Wie eine Fremde sah sie sich im Zimmer um. Das war also das enge
-Zimmerchen, aus dem sie hinausgeflüchtet war, vor drei Monaten erst, in
-das sie nun wieder zurückflüchtete.
-
-Der große Kachelofen bullerte bereits; ganz leise mußte die Trine in
-der Frühe geheizt haben. Durch die blaugestärkten steifen Gardinen
-brach die Morgensonne. Drüben stand der schmale, hohe Kleiderschrank
-aus Birkenholz, hüben der kleine Waschtisch mit gehäkelten Spitzen
-und am Fenster ihr winziger, birkener Mädchenschreibtisch mit den
-geschweiften Füßen. Alles wie ehedem. Gerade, als ob das Zimmerchen nur
-auf sie gewartet hätte.
-
-Dann glitt ihr Blick die Wand entlang. Und da fiel er drüben auf eine
-eingerahmte Perlenstickerei. Richtig -- das war ja die Arbeit der
-verstorbenen Tante Melanie. Merkwürdig, in all den Jahren, in denen
-sie das Zimmer als ihr kleines, eigenstes Heiligtum betrachtet, hatte
-sie diese kunstvolle Perlenstickerei eigentlich gar nicht beachtet.
-Sie wußte nicht einmal mehr, wie der Spruch lautete, der da in bunten
-Perlen auf weißem Seidengrund stand. Nie hatte sie ihn bewußt gelesen.
-
-Nun las sie:
-
- „Im Lieben wohnt Betrüben
- Und kann nie anders seyn.“
-
-Und sie wandte sich ab. Die Tränen stiegen ihr in die Augen. --
-
-Es war Sonntag.
-
-Die Kirchenglocke läutete zum ersten Male, als Helene die Treppe
-hinunterstieg.
-
-Unten am Frühstückstisch saßen nur Martha und Mutter. Gerade mußten sie
-miteinander gesprochen haben: von ihr. „Lene,“ sagte Mutter und hatte
-ein Tränchen, „da haben wir dich also wieder. Komm, laß schauen, wie du
-aussiehst.“ Küßte sie und fuhr fort: „Schmalbäckig bist du geworden,
-aber ich seh schon, es ist nichts Ernstes. Wir wollen dich schon wieder
-herausfuttern.“
-
-Dann ging Helene zu Vater hinüber. Der lag wirklich auch heut im Bett,
-hatte einen Teller mit Reinetten vor sich, schälte sich gerade einen
-Apfel. „Lene, Kind, ei, sieh mal! Martha hat mir schon erzählt. Ja --
-das heißt, eigentlich siehst du gar nicht so elend aus. Ganz gewiß hat
-die Oschitzen nicht gut für dich gesorgt. Ruhig, Diana ... willst du
-wohl die Lene in Frieden lassen. Ja, das heißt, ich bin selber krank.
-Wollte ja auch nach eurem großmächtigen Berlin, ja, das heißt, wollte,
-aber da hat mir der Hexenschuß ’nen Strich in die Rechnung gemacht.“
-
-Merkwürdig, merkwürdig: die Welt stürzte gar nicht ein darüber, daß
-Helene Hackentin ins Elternhaus zurückgeflüchtet war. Merkwürdig,
-merkwürdig: sie lasen ihr nicht vom Gesicht ab, was sie erlebt und
-erlitten hatte und immer noch litt.
-
-Die Jungens umtollten sie wie früher; der Hauslehrer machte seine
-verliebten Rollaugen wie früher. Und als es zum zweiten Male läutete,
-stand Mutter auf der Veranda in ihrem schwarzen Kirchenkleide, mit der
-schwarzen Seidenhaube auf dem Kopf, das goldgeränderte Gesangbuch in
-der Hand: „Jetzt müssen wir gehen, Lene. Ich bin nur neugierig, was der
-Heckstein wieder mal für einen alten Bock schlachten wird.“
-
-Zwischen Mutter und Martha saß sie dann im Herrschaftsgestühl.
-
-Oben vor der Orgel stand der alte Flehr.
-
-Der hatte das gnädige Fräulein gleich gesehen, und während er die
-Register zog, dachte er bewegt: ‚Wie sie nun wohl singen wird, unser
-Fräulein Helene, nun sie auf der hohen Schule war. Das wird wie eine
-~vox angelica~ klingen.‘
-
-Aber als die erste Strophe aufklang, lauschte und lauschte er
-vergebens: die große, helle Stimme fehlte im Chor. Und als er sich
-verstohlen umwandte, sah er, wie Helene starr vor sich hinblickte --
-mit festverschlossenen Lippen.
-
-
-
-
-Achtes Kapitel
-
-
-Wieder lag der Schnee über der Rohlbecker Flur, und die Buchenscheite
-knatterten in den Kachelöfen. Der alte Rittmeister -- das war
-er geblieben, wenn er auch in den Listen der Veteranen nur als
-Premierleutnant figurierte -- der Rittmeister war trotz der schlechten
-Ernte des letzten Jahres in gehobener Stimmung. Donnerten doch
-endlich einmal wieder die preußischen Kanonen: gerade vor acht Tagen
-hatten die Preußen und Österreicher die Dänen aus Schleswig-Holstein
-herausgeworfen, so daß die nur noch in Düppel und auf Alsen saßen.
-Man denke: Preußen und Österreicher! Fast wie Anno 1813/14 war das,
-und wenn der Rittmeister auch manchmal über die Strategie der
-Bundesgenossen von damals bedenklich den Kopf geschüttelt hatte, auf
-die österreichische Tapferkeit ließ er nichts kommen. Sogar die alte
-Gnädige nahm Interesse an den Vorgängen „da oben“. Recht genau verstand
-sie die Zusammenhänge nicht, aber wenn Vater aus der „Kreuzzeitung“
-vorlas, dann klangen auch einzelne Reminiszenzen aus vergangenen Tagen
-in die Gegenwart hinüber: einen Rittmeister von Gablentz hatte sie im
-Jahre achtzehnhundertfünfunddreißig, oder war’s sechsunddreißig, oder
-war’s siebenunddreißig, in Karlsbad kennengelernt, sicher denselben,
-der „da oben“ nun als Feldmarschalleutnant kommandierte; und dann der
-alte Wrangel: der hatte ihr ja schon, als sie ein blutjunges Komteßchen
-war, in die Backe gekniffen -- damals, als er gerade Stabsrittmeister
-bei den ostpreußischen Kürassieren geworden war.
-
-Wenn der Herr von Hackentin am runden Tisch in der großen Stube, auf
-dem immer noch keine Petroleumlampe leuchten durfte, aus der ersten
-Seite der „Kreuzzeitung“ die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz
-vorlas, dann flammten seine Augen auf und zu den beiden Enkeln hinüber:
-„Ja, Jungens, die Preußen und die Österreicher! Die Alliierten von
-dreizehn! Schade, daß ihr nicht dabei seid! Das heißt -- hm! -- es hat
-ja auch so seine zwei Seiten mit dem Krieg. Aber ’n Lump, der nicht
-kommt, wenn der König ruft!“ Sobald er jedoch auf die zweite Seite der
-Zeitung kam, wurde er verdrießlich. „Der Deubel sollte sie holen, diese
-Demokraten! Das heißt: ich will nicht fluchen. Aber da haben sie im
-Abgeordnetenhause rundweg die Kriegsanleihe abgelehnt. Natürlich bloß
-aus Opposition! Und der große Schulze-Delitzsch erklärt feierlichst:
-‚Preußen mißbraucht seine Großmachtstellung.‘ Na, natürlich unser
-roter Kreisrichter wird wohl auch in dasselbe Horn blasen.“ Nur er
-durfte im Hause noch den Namen des zweiten Sohnes nennen und tat’s
-stets mit größter Erbitterung: „roter Kreisrichter“ war noch eine
-sanfte Bezeichnung. Und dann bekam, zum Schluß, immer der Hauslehrer
-seine Pille: „Na, Herr Doktor, ich hab immer noch nichts von Ihrem
-Beitritt zu unserem guten Preußischen Volksverein gehört! Sind wohl
-auch heimlicher Nationalvereinler? Ja, und denken auch so: preußischer
-Großmachtskitzel. Wie? Das heißt ... natürlich ... haben ja noch kein
-Pulver gerochen!“
-
-Martha und Helene saßen dazwischen und zupften Scharpie. Kleinen
-Hügeln gleich bauten sich vor ihnen die weißen losen Fäden auf,
-und wöchentlich einmal nahm die Botenfrau den Packen mit nach
-Stellberg, wo in der Apotheke eine Sammelstelle errichtet war. Sobald
-Vater aber seine Zeitung zusammengefaltet und das Beiblatt mit den
-Familienanzeigen an Mutter abgegeben hatte, damit die „ihren Honig
-daraus sauge“, fing er an, Kriegsgeschichten zu erzählen. Dann schoben
-die Jungens ihre Schmöker beiseite und lauschten. So schön wie
-Großvater erzählte, so schön stand’s doch nicht in den Büchern.
-
-Manchmal aber, wenn die Posttasche entleert wurde, schob Vater auch
-Helene einen Brief zu. Neuerdings immer mit einem gewissen Respekt,
-denn die Briefe trugen den Feldpoststempel „von da oben“.
-
-Bekam Helene solch einen Brief, so tauschte sie mit der Schwägerin
-einen Blick des Einverständnisses und ging hinauf in ihr Zimmer, um
-den Brief in der Einsamkeit zu lesen. Vater murrte dann manchmal:
-„Natürlich wieder vom Harro. Als ob sie die Epistel von dem Jungen
-nicht auch hier lesen könnte. Das heißt, Junge darf man eigentlich
-nicht mehr sagen, seit er’s Portepee hat ... der Oschitz.“ Gegen
-Neujahr war Harro beim vierten Garde-Regiment als Junker eingetreten.
-
-Wenn Helene vor einem der frischen fröhlichen Feldzugsbriefe saß, aus
-dem so viel junger Mut und so viel Freude am Drauflosgehen sprach,
-dann dachte sie jedesmal an den ersten Brief zurück, den sie von ihm
-erhalten hatte. Ein Brief war’s eigentlich nicht gewesen, sondern nur
-ein doppelter Aufschrei: „Das hier für Dich. Es wurde abgegeben und
-ich hab’s ergattert, damit’s nicht in unrechte Hände kommt. Schicken
-mußt ich’s Dir ja wohl. Ach, liebe Helene, ich bin so traurig. Ich habe
-solche Sehnsucht nach Dir!“
-
-„Das hier“ war ein eingelegter Brief von Alfred Schwarz.
-
-Sie hielt das verschlossene Kuvert lange in der bebenden Hand. Dann
-ging sie, schwer und langsam, bis zum Ofen und warf den Brief in die
-Flammen.
-
-Nicht lange darauf war Tante Marie aus Rackow heruntergekommen,
-unerwartet und unangesagt, zur Kaffeestunde. Hatte unten ein wenig
-paradiert in ihrem fußfreien perlgrauen Popelinekleide mit der
-braunroten Tunika darüber und dem Pelzbesatz um den Hals: „Denkt euch,
-ja, man darf’s endlich wieder zeigen, wenn man ein hübsches Füßchen
-hat, und die Krinoline wird kleiner und immer kleiner --“; hatte diese
-kleinen Füßchen in den Lackstiefeln und, unerhört, ein Stückchen eines
-rotgezwickelten Strumpfes sehen lassen, sowie ihren neuen „Pagenhut“;
-hatte lachend erzählt, daß Ernst endlich einen guten Käufer für das
-Vorwerk Grunow gefunden hätte, und hatte dann Helene unter den Arm
-gefaßt: „Mignonne, Liebes, jetzt komm’ ich auf einen Stipps mit dir
-hinauf.“
-
-Oben setzte sie sich vor den kleinen Schreibtisch, wippte hin und her,
-lächelte ein wenig verlegen, ein wenig verschmitzt, sprang wieder auf,
-küßte in der alten Herzlichkeit Lene auf beide Wangen und fragte dann
-plötzlich: „Nun, Mignonne, was hast du eigentlich mit unserem Freunde
-Schwarz gehabt?“
-
-Vom Augenblick an, da der Rackower Schlitten einfuhr, hatte Helene
-geahnt, was da kommen würde; sie wußte ja, daß die Rackowschen in
-Berlin gewesen waren.
-
-Nun stand sie doch vor der Tante, wie mit Blut übergossen. Aber auch
-innerlich gefaßt genug, um antworten zu können: „Sei nicht böse, Tante
-Marie. Ich muß das mit mir allein abmachen.“
-
-„Ja, doch! Ich bin ja gar nicht so neugierig, Kind. Nur -- der Arme ist
-so unglücklich. Du hast sein Herz gebrochen, du grausame kleine Person.“
-
-Da lachte Helene auf: „Sein Herz!“
-
-Es klang sehr bitter, und auf Helenes Gesicht lag wohl ein so
-schmerzlicher Ernst, daß Marie Hackentin verstummte.
-
-Erst nach einer Weile sagte sie mitleidig: „~Pauvre enfant!~ Ja
-... die Männer. Ich ahne ...“
-
-Aber gleich war wieder ein Lächeln in dem kleinen, liebenswürdigen,
-häßlichen Gamingesicht. „Ah, ihr jungen Mädchen von heute, wie nehmt
-ihr doch alles gleich tragisch. Eine Episode, Mignonne, eine Episode!
-Was hätte es denn anders sein können? Heiraten konntet ihr euch doch
-nicht. Eine Hackentin und unser guter Freund Schwarz!“
-
-„Euer guter Freund, Tante Marie --“
-
-„Nun ja. Aber doch nicht mehr.“
-
-Helene schwieg. Was sollte sie antworten?!
-
-Tante Marie hatte sich wieder gesetzt, wippte auf dem Stühlchen, besah
-sich durch das Lorgnon die Wände. Und Helene stand vor ihr und sah mit
-brennenden Augen zum Fenster hinaus auf das schneebedeckte Scheunendach.
-
-„Willst du nicht einmal zu uns kommen? Auf ein paar Tage? Dir wird eine
-Abwechslung gut tun. In nächster Woche haben wir einige Gäste. Auch der
-nette Neuchateller, weißt du: Merivaux, wird dabei sein.“
-
-„Ich danke dir sehr. Aber -- jetzt -- noch nicht.“
-
-Das Lorgnon sank herab, und Tante Marie fragte, nun wieder ganz
-mitleidsvoll: „Tat es denn so sehr weh, Mignonne?“
-
-„Es tat wohl weh. Aber ich komme schon darüber hinweg.“
-
-„Ja, man kommt wohl schließlich darüber hinweg ...“, sagte Tante Marie,
-ganz anders als sie sonst sprach, langsam und schwer. „Wer von uns
-hätte nicht ähnliches durchgemacht.“ Und dann war sie gegangen.
-
-‚... ja ... man kommt wohl darüber hinweg.‘
-
-Das dachte Helene jetzt noch, nach Jahresfrist, immer aufs neue. Und
-immer aufs neue ergänzte sie: ‚im Frieden des Elternhauses ... Dank
-meiner lieben, lieben Martha!‘
-
-Man kommt darüber hinweg. Die Wunde schließt sich. Aber die Narbe
-bleibt, und von Zeit zu Zeit brechen aus ihr die Schmerzen doch wieder
-hervor. Nicht mehr brennend und heiß, aber mit leisem, mahnendem
-Zucken. Gestalten steigen dann auf, und Träume kommen.
-
-Wie hatte doch Martha damals gesagt: „Arbeit, Helene -- Arbeit!“
-
-Es war wirklich wie ein Allheilmittel. Keine schwanke Bootsplanke,
-an die sich der Ertrinkende in seiner Not anklammert, sondern ein
-sicherer Port. Immer wieder fühlte Helene das, wenn die Erinnerung
-heraufschleichen wollte mit all ihrer Süße, mit der verborgenen
-Sehnsucht, mit dem bitteren Leid.
-
-Und gottlob, es gab zu tun im Hause, in der Wirtschaft. Dafür sorgte
-Martha, die ja selber nie ruhte noch rastete.
-
-Die Eltern merkten es kaum, wie die Tochter nun mit angriff. Mutter
-lebte ihr halbes Traumleben, und Vater hatte höchstens einmal ein
-flüchtiges Wort: „Ei, sieh mal, Lenchen! Das heißt, wirklich, das freut
-mich!“ Aber an jedem Abend, wenn Helene todmüde lag, empfand sie den
-befreienden Segen der Arbeit, der Geist und Körper zur Ruhe zwang und
-die Träume scheuchte. Und manchmal dachte sie ganz verwundert: ‚was hab
-ich doch früher ein Drohnenleben geführt! Darum erschien mir auch alles
-so eng und klein, was mir nun eine Welt für sich geworden ist.‘
-
-Aber das eine Allheilmittel, das ihr Martha gegeben, tat es doch
-nicht allein. Es gab ein stilles Sichverstehen mit der Schwägerin,
-ein wortloses gegenseitiges Mitleidsempfinden, das ihnen beiden wohl
-tat und sie immer näher zueinander brachte. Beide trugen sie Bürden.
-Oft fragte Helene sich, trägt Martha nicht die schwerere? Und wie
-trägt sie ihre Last und ihren Kummer! Und dann dachte sie an den
-Bruder, der immer die heiße Liebe zu den Seinen, zu Weib und Kind,
-zur Heimatsscholle auf den Lippen trug, der ein Tränchen hatte bei
-jedem Wiedersehen und bei jedem Abschiednehmen, um ein anderer zu
-sein, sobald eine Wegstrecke von ein paar Stunden zwischen ihm lag und
-Rohlbeck. „Wilhelm hat mich bei Ewest noch zum Abschied eingeladen am
-Abend, ehe wir nach Hamburg fuhren“, hatte Harro geschrieben. „Die
-Champagnerpropfen flogen, es war höchst fidel.“ Die Champagnerpropfen
-flogen -- und daheim sparte Martha Pfennig zum Pfennig. Der Mann
-vergaß, sobald ihn die Großstadtluft wieder umwehte; die Frau trug ihre
-Last und ihre Sehnsucht schweigend und klaglos weiter und sagte sich
-selber, was sie Helene gesagt hatte: „Arbeit! Arbeit!“
-
-Etwas Wunderbares war es um die Arbeit. Und doch empfand Helene, je
-weiter die Zeit ins Land ging, eine klaffende Lücke.
-
-Manchmal, wenn sie bei irgendeiner hausfraulichen Tätigkeit neben
-Martha saß, sprang es jäh in ihr auf: ‚bei aller innigen Liebe, bei
-allem Verstehen -- wir sind doch ganz verschieden!‘ Manchmal, in
-stillen Stunden, wenn sie allein war, überrann sie, schmerzlich fast,
-das Gefühl: ‚Ich trag’s nicht so wie sie. Ich müßte mich wehren!
-Wehren!‘
-
-Das waren dieselben Stunden, in denen, allmählich, aber stärker und
-immer stärker, der andere Schmerz in ihr wach wurde: und nun hast du
-auch deine Kunst zu Grabe getragen ...
-
-In den ersten Wochen nach ihrer Heimkehr war es ihr unmöglich gewesen,
-zu singen; wurde sie gebeten, so wich sie aus. Unmöglich: denn jeder
-Ton verwundete ihre Seele.
-
-Dann kamen wohl Tage, an denen sie sich zwang, zwingen konnte, wenn
-Vater abends bat, wie einst: „Nun Lene, wie ist’s? Das heißt ... wenn
-du dich disponiert fühlst.“ Sie sang dann eins oder das andere ihrer
-alten Liedchen. Aber sie war jedesmal mit sich selber unzufrieden,
-fühlte einen fremden Klang aus ihrem Gesang heraus, etwas Erzwungenes.
-Und bisweilen meinte Vater selber: „Ich weiß nicht -- ich weiß nicht.
-Hast du wirklich in Berlin Fortschritte gemacht?“ Einmal nahm sie auch
-der alte Heckstein ins Gebet: „Hör’ mal, Jungfer Lene, warum singst du
-nie in der Kirche mit? Man ist doch neugierig, und unser guter Flehr
--- gut ist er nämlich, obwohl der Rittmeister in ihm den Demokraten
-wittert -- unser guter Flehr ist einfach unglücklich.“ Da hatte sie,
-ohne ihn anzusehen, erwidert: „Ich kann nicht, Onkel Pastor.“ -- „Ich
-kann nicht! Weißt du, Lene, das ist so die bequeme Ausrede von allen
-denen, die nicht wollen. Hast du deine Stimme verloren? Nein -- sonst
-würdest du’s sagen. Also willst du nicht. Kind, in meiner Art liegt’s
-nicht, mich um ungelegte Eier zu kümmern. Gelegte sind besser. Ich
-dränge mich auch in niemandes Vertrauen. Aber das kann ich dir sagen:
-ein bissel Zwang, den der Mensch sich selber auferlegt, ist etwas sehr
-Gutes. Der brave Zschokke, von dem freilich unsere Heutigen nicht viel
-wissen wollen, hat mal in seinen Stunden der Andacht gesagt: ‚Der
-Mensch vermag unglaublich viel über sich, wenn er ernst will.‘ Das
-solltest du dir auch hinter deine allerliebsten Öhrchen schreiben.“
-
-‚... wenn er ernst will ...‘
-
-Nein, sie wollte nicht. Noch nicht. Sie ging dem Schmerz aus dem Wege,
-der jedesmal neu brannte, wenn sie sich zwang.
-
-Aber allmählich erwachte doch der Wille, erwachte und erstarkte. Der
-innere Drang weckte ihn, die große Lücke in ihrem Leben auszufüllen,
-die bloße körperliche Arbeit nicht schließen konnte; und dann kam
-die stolze Sehnsucht: geh nicht ganz unter in der Alltäglichkeit.
-Du brauchst nicht unterzugehen, denn deine Kunst kann dich über sie
-erheben.
-
-In der Schreibmappe, oben auf dem kleinen Tischchen am Fenster, lag
-noch der Brief von Frau Harriers-Wippern.
-
-„Wie bedauere ich, daß Sie den Unterricht aufgeben. Gerade Sie, liebes
-Fräulein, die zu so Großem prädestiniert schienen. Wie ist das nur
-möglich?“ Und daneben lag der Brouillon der Antwort, zwanzig Male neu
-begonnen, immer wieder verworfen: „Zwingende äußerliche Ursachen ...
-leider unüberwindliche Hindernisse.“ Mein Gott, mein Gott, wie armselig
--- und wie unwahr!
-
-Wochen und Monate waren vergangen, ehe Wille und Kraft stark genug
-waren, das neue Ringen aufzunehmen. Ganz langsam waren sie erstarkt,
-aber plötzlich wurden sie zur Tat. Am ersten Pfingstfeiertage war’s
-gewesen, daß der alte Flehr verwundert vor seiner Orgel auflauschte:
-da war sie ja, die ~vox angelica~, süß und schön und stark, die
-sich in seinen geliebten Chor mischte, ihn trug und über ihm sieghaft
-emporstieg:
-
- „Schmückt das Fest mit Maien,
- Lasset Blumen streuen,
- Zündet Opfer an:
- Denn der Geist der Gnaden
- Hat sich eingeladen,
- Macht ihm die Bahn,
- Nehmt ihn ein, so wird sein Schein
- Euch mit Licht und Heil erfüllen
- Und den Kummer stillen --“
-
-„Ich singe wieder, Harro!“ hatte sie damals geschrieben. „Denk Dir
-doch, lieber Harro, ich kann wieder singen. Auch das war in mir
-erstorben und ist nun, zu Pfingsten, auferstanden. Leicht macht’s mich
-und froh, Du wirst das schon verstehen. Sie sind alle, alle zu mir
-in der schweren Zeit so rührend gut gewesen. Am rührendsten Martha,
-Wilhelms Frau, die Du leider noch nicht kennst. Sie hat mich gestützt,
-mich getragen, mir geholfen in meinen Nöten. Aber schließlich kann
-jeder Mensch sich ganz nur selber helfen. Siehst Du, Harro, nun weiß
-ich endlich, wodurch ich mir helfen kann. Meine Kunst ist’s, die mich
-wieder frei machen wird. Es ist freilich anders wie früher. Ich denke
-nicht mehr an äußere Erfolge, nicht an den Konzertsaal und den Beifall,
-von dem ich einst träumte. Für mich und für die, die mich liebhaben,
-will ich singen, meine Gabe pflegen und weiterbilden. Ich bin so froh,
-Harro. Ich wollte, Du wärst hier, und ich könnte Dir das zeigen, wie
-froh ich bin. Hinausgehen würde ich mit Dir aufs Feld, wir beide
-allein, und mit den Lerchen möcht ich dann um die Wette singen.“
-
-Am zweiten Pfingstfeiertag, nach dem Schluß des Gottesdienstes, lernte
-Helene Herrn von Holfen kennen, den Käufer des Rackower Vorwerks.
-
-Sie hatte ihn schon in der Kirche bemerkt und sich flüchtig gefragt,
-wer der junge fremde Mann drüben auf der anderen Empore wäre; ein
-Forsteleve vielleicht, hatte sie gedacht, und sich nicht weiter in
-ihrer Aufmerksamkeit stören lassen.
-
-Nun stand er vor der Kirchentür, stellte sich Vater vor, bat, ihn mit
-den Damen bekannt zu machen, und entschuldigte sich zugleich, daß er in
-Rohlbeck noch nicht seinen Besuch abgestattet; die Übernahme und die
-erste Einrichtung hätten ihn völlig in Anspruch genommen. Er sagte das
-alles sehr ruhig, durchaus weltmännisch, bescheiden und doch sicher.
-
-Der alte Rittmeister, kein Freund besonderer Förmlichkeiten, forderte
-ihn freundnachbarlich auf, „mit hinüber zukommen zu einem einfachen
-Frühstück und einem Willkommensglase“. Holfen warf einen fragenden
-Blick auf die alte Gnädige, und da diese die Aufforderung wiederholte,
-nahm er an.
-
-Seitdem war er ein ziemlich häufiger Gast im Herrenhause. Das Vorwerk
-Grunow lag näher an Rohlbeck wie an Rackow, war auch dort eingepfarrt;
-Ernst Hackentin hatte daher einen hübschen Vorwand gehabt, die „schwer
-zu bewirtschaftende Enklave abzustoßen“. Nun kam Holfen bald mit
-dieser, bald mit jener Anfrage und kleinen Bitte. Unverheiratet, hatte
-er allerlei Nöte bei seiner Etablierung, die ihm Anlaß gaben, sich
-bei dem Rittmeister oder noch mehr bei Martha Rat zu holen. Und sie
-alle hatten ihn gern. Mutter fand bald heraus, daß einer von den
-pommerschen Holfens eine Baer zur Frau gehabt hätte, deren Mutter
-wieder eine Komteß Grucker gewesen, und er hörte dem umständlichen
-Nachweis dieser Verwandtschaft „durch sieben Scheffel Erbsen“ äußerst
-artig zu. Mit Vater hatte er kleine anregende militärische Diskurse;
-er war erst vor anderthalb Jahren aus seinem Regiment, den Pasewalker
-Kürassieren, geschieden. Mit Martha gewann er bald besonders viel
-Berührungspunkte, denn sein wirtschaftlicher Eifer und eine gewisse
-frische naive Art, gerade sie immer aufs neue um Rat anzugehen, machten
-ihr Freude. Die Jungens schwärmten für ihn. Es kam ihm gar nicht
-darauf an, gelegentlich mit ihnen einen Wettlauf durch den Garten zu
-riskieren, und außerdem verstand er allerlei kleine Künste, die ihnen
-riesig imponierten, fabrizierte köstliche Flöten und ausgezeichnete
-Meisenkästen.
-
-Gegen Helene war er äußerst zurückhaltend, und sie wieder war
-vielleicht die einzige im Herrenhause, die wenig auf ihn achtete.
-Höchstens, daß sie manchmal die Schwägerin ein wenig mit ihm neckte.
-Merkwürdigerweise hatte die stille Martha Verständnis für einen
-harmlosen Neckton und ging nicht ungern auf ihn ein. „Dein Courmacher
-kommt!“ hieß es einmal, und: „Gesteh’s nur, Martha, du hast heut wieder
-ein zartes Zwiegespräch mit deinem Verehrer gehabt!“ hieß es ein
-andermal. Und Martha nickte: „Hatten wir auch -- über die beste Art der
-Putenfütterung nämlich. Das ist doch gewiß ein zartes Thema.“
-
-„Ist er wirklich so nett?“
-
-Dann wurde Martha gleich wieder ein bißchen ernst: „Nett? Ich weiß
-nicht. Aber ein ordentlicher, strebsamer, fleißiger Mann ist er.“
-
-Das war sicher richtig. Helene hörte es von allen Seiten bestätigen. Es
-hieß auch, daß er das Vorwerk nur gekauft hätte, um sich als angehender
-Landwirt nicht von vornherein zu stark zu engagieren; er sei recht
-wohlhabend.
-
-Übrigens war er nicht ohne höhere Interessen. Dann und wann kam es doch
-vor, daß Helene und er auf kürzere Augenblicke allein waren, und fast
-regelmäßig schlug er dann ein Thema an, das sie fesselte. Einmal fand
-er sie auf der Veranda über dem kleinen Geibel-Band, den ihr Harro
-geschenkt hatte. Da zitierte er:
-
- „Wir können’s kaum erwarten:
- Wann wird die Eiche grün?
- Wann wird im Deutschen Garten
- Die Kaiserkrone blühn?“ -- --
-
-„Sie kennen Geibel?“
-
-„Ich kenne und ich liebe ihn.“
-
-„Und warum zitierten Sie gerade aus der ‚Ungeduld‘?“
-
-„Weil mir da Geibel besonders aus dem Herzen spricht.“
-
-Sie saßen sich gegenüber. Helene hatte den Band vor sich, blätterte ein
-wenig darin, sah dann auf.
-
-„Es ist eigentlich ein politisches Lied. Ich hörte Sie aber neulich
-doch einmal sagen, Herr von Holfen, daß Sie der Politik gern fern
-blieben.“
-
-Er lächelte, und sie gestand sich, daß dies Lächeln sein etwas eckiges
-Gesicht verschönte. Klug sah er aus.
-
-„Ist es ein politisches Lied, gnädiges Fräulein? Dann laß ich
-diese Politik gelten. Ich mag mich nur nicht Hals über Kopf in das
-Parteigetriebe des Tages stürzen, bei dem wohl hüben und drüben
-übertrieben und gesündigt wird. Aber den großen Traum der deutschen
-Einheit, den Geibel hier aufklingen läßt, den träume ich auch mit; und
-ich denke und hoffe, er wird noch Wirklichkeit werden. Wenn wir das
-vielleicht auch nicht erleben.“
-
-Ein andermal war er am Nachmittag gekommen und hatte, ohne daß sie
-davon wußte, mit den Eltern in der großen Stube gesessen, während sie
-nebenan mit einer Handarbeit beschäftigt war.
-
-Sie war gerade an diesem Tage in einer besonders gehobenen Stimmung,
-die sie jetzt nicht selten, wie in einer Art von Reaktion, überkam.
-Die Arbeit hatte sie sinken lassen, am Fenster hatte sie gestanden,
-lange Zeit, und über die grünen Wiesen hinweggeschaut, auf denen die
-Augustsonne lag. Dann war sie an den Flügel getreten und, recht aus
-ihrer Augenblicksstimmung heraus, sang sie Goethes „Auf dem See“.
-
- „Und frische Nahrung, neues Blut
- Saug ich aus freier Welt.
- Wie ist Natur so hold und gut,
- Die mich am Busen hält.“
-
-Warum war sie gerade auf dieses Lied gekommen? Sie wußte es selber
-nicht. Aber sie fühlte, daß es sie emporhob, gleich wie auf Schwingen.
-Etwas Erhabenes, Befreiendes lag in den schlicht schönen Strophen --
-
- „Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder?
- Goldne Träume, kommt ihr wieder?
- Weg, du Traum! so gold du bist;
- Hier auch Lieb und Leben ist.“
-
-Sie sang nicht weiter. In einem stillen Wohlgefühl saß sie noch eine
-Weile, die Hände auf den Tasten, ging dann wieder ans Fenster, öffnete
-die Flügel weit, atmete die würzige Luft. Und die Schlußstrophe klang
-leise in ihr nach: „Weg, o Traum! so gold du bist -- Hier auch Lieb und
-Leben ist.“
-
-Vom Felde kamen die Erntewagen. Ein paar Schnitter gingen nebenher,
-eine Frau, in der einen Hand ein Kind, in der anderen eine kleine Garbe
-aufgelesener Halme. Und blau stand der Himmel darüber.
-
-Nachher erschrak sie ein wenig, als Holfen sie begrüßte: „Ich habe
-schon häufiger in der Kirche Ihre schöne Stimme bewundert. Aber ich
-hörte Sie noch nie im Hause singen. Darf ich Ihnen danken?“
-
-Beinahe feindselig sah sie ihn zuerst an. Was sie gesungen hatte, wie
-sie es gesungen hatte, war so ganz ihr Eigenes gewesen.
-
-Fast schien es, als ob er Ähnliches in ihrem Gesicht lese. Er wurde
-ein wenig verlegen, faßte sich dann aber: „Etwas Merkwürdiges ist’s um
-Goethes Lyrik. Sie ist selber Musik. Aber wie herrlich hat sich gerade
-Schubert den Empfindungen Goethes angepaßt, so daß beides, Ton und
-Wort, nun doch ein Ganzes scheinen. Und nun muß ich doch eins sagen:
-ich habe das Lied zum letzten Male von Amalie Weiß gehört. Sie werden
-wissen, die Wiener Sängerin, die kürzlich den großen Geigenvirtuosen
-Joachim geheiratet hat. Aber wenn ich ehrlich sein soll: vielleicht war
-Frau Weiß die größere Künstlerin -- mehr Seele lag in Ihrem Gesang.“
-
-Es war so selten, daß Helene Hackentin über ihre Kunst sprechen hörte.
-Und wenn sie auch die übertriebene Bewunderung ablehnte, sie freute
-sich doch ein wenig.
-
-Einmal -- nicht viel später -- meinte Martha neckend: „Hör’, Lene, du
-machst mir aber jetzt meinen getreuen Courmacher abspenstig.“
-
-Da blickte sie ganz erstaunt auf, fand sich nicht gleich in den
-scherzenden Ton und antwortete beinahe ernst: „Holfen? Wir sprechen ja
-fast nie miteinander.“
-
-Sie waren beim Wäscheaufhängen auf der Wiese hinter dem Hause, und
-Martha kämpfte einen kleinen Kampf mit dem Wind, der ihr ein großes
-Tischtuch fortreißen wollte. Sie hatte gerade eine Holzklammer zwischen
-den Lippen und konnte nicht eher weitersprechen, als bis die auf
-Leinwand und Leine untergebracht war.
-
-„So -- ihr sprecht fast nie miteinander? Als ob das nötig wäre. Ich bin
-jedenfalls brennend eifersüchtig.“
-
-„Du Ärmste! Das tut mir aber furchtbar leid.“
-
-„Spotte du nur! Nein, dieser infame Wind! Bitte, hilf mal halten, Lene.
-Ja ... was ich sagen wollte: warum mag Holfen noch nicht geheiratet
-haben?“
-
-Helene hatte soeben ihren kleinen Korb wieder mit Klammern gefüllt, und
-hielt ihn im linken Arm, während sie mit der rechten Hand Klammer neben
-Klammer auf die Leine steckte.
-
-„Wir hätten uns auch nicht gerade diesen windigen Nachmittag
-auszusuchen brauchen. Ja so ... dein Holfen. Ich denke, er hat die
-Rechte noch nicht gefunden. Oder vielleicht hat er sie auch schon
-gefunden, und sie zieht nächstens in Grunow ein.“
-
-„Wenn +du+ das nun sein solltest --“
-
-Plötzlich lag der ganze Korbinhalt auf dem Rasen. Ganz erschrocken war
-Helene, aber dann lachte sie doch. „Was redest du heute für Unsinn,
-Martha. Das ist wirklich ein schlechter Scherz ... Nun hilf wenigstens
-auflesen.“
-
-Sie knieten beide nieder, um die Klammern aufzusuchen. Und da sagte
-Martha leise und ernst: „Wenn es nun aber kein Scherz wäre?“
-
-„Ach geh! Holfen denkt ja gar nicht daran.“
-
-„Wer weiß?“
-
-Nun wurde Helene auch ernst: „Aber das wäre ja schrecklich.“
-
-„Warum, Lene? Er ist wirklich ein Ehrenmann und würde seine Frau auf
-Händen tragen. Außerdem: Ihr paßt zusammen, finde ich. Ist er dir denn
-unsympathisch?“
-
-Die Klammern waren im Körbchen gesammelt. Sie standen auf -- aber der
-Korb blieb zwischen ihnen im Grünen stehen.
-
-Einen Augenblick stand Helene stumm. Die schmale Falte erschien, tief
-eingegraben, zwischen ihren Augenbrauen. Dann sagte sie hastig: „Ich
-bitte dich, Martha, wenn du irgend etwas dazu tun kannst, erspare mir
-und ihm das. Er mag ein vortrefflicher Mensch sein, aber ich empfinde
-auch nicht das Geringste für ihn.“
-
-Die Schwägerin hatte den Korb schon aufgenommen und wieder mit ihrer
-Arbeit begonnen: „Du solltest nicht so schnell entscheiden, liebe
-Lene“, sprach sie ein wenig schwer. „Weißt du: ich kenne Ehen, in die
-die Frau mit heißem, hoffnungsfrohem Herzen trat, und die ihr nachher
-Bitternis auf Bitternis brachten. Und ich kenne andere Ehen, für die
-der Verstand der Frau allein das entscheidende Wort sprach, und die
-sehr, sehr glücklich wurden!“
-
-Helene schüttelte den Kopf.
-
-Was wollte Martha eigentlich? Da war wieder einmal der
-Temperamentsunterschied zwischen ihnen, das Trennende bei aller
-Übereinstimmung ihres Fühlens. Vielleicht auch ein Etwas, dachte
-Helene weiter, das Wilhelms Verhalten wenn nicht entschuldbar, so doch
-erklärlicher, begreiflicher erscheinen ließ: ein Gran Nüchternheit.
-Das bleibt meist auf dem Untergrund. Aber dann und wann tritt es doch
-zutage, so wundervoll sonst alle Wesenseinheiten in der lieben Martha
-gemischt sind. Vielleicht hat Natur das gerade gut gemeint. Vielleicht
-könnte sie sonst nicht tragen, wie sie trägt.
-
-Sie vollendeten schweigend ihre Arbeit. Erst als sie durch den Garten
-wieder dem Hause zugingen, sagte Helene: „Ich hoffe immer noch, du hast
-vorhin gescherzt. Wenn das aber nicht der Fall ist, und du kannst mir’s
-ersparen -- ich bitte dich, liebe Martha, tu’s.“
-
-„Wie sollte ich das? Holfen hat kein Wort zu mir gesprochen, es waren
-nur Vermutungen. Aber ich glaube freilich, nicht unberechtigte. Ich
-meinte es gut, Lene, ich wollte dich ein wenig vorbereiten. Und ich
-meine auch jetzt noch: überleg dir’s, handle nicht unbedacht.“
-
-Helene schüttelte wieder nur den Kopf.
-
-Aber in ihrer Seele war durch das Zwiegespräch nun doch die alte, kaum
-vernarbte Wunde angerührt worden, daß sie neu schmerzte. Wieder kamen
-die Erinnerungen, und es kam der Vergleich: in Leid und Weh hatte ihre
-Liebe sie gerissen, bis dicht an den Abgrund; aber die Seligkeiten,
-die sie ihr gebracht, die waren unvergeßlich, würden ewig unvergeßlich
-bleiben. Es waren doch Augenblicke -- gelebt im Paradiese. Und daneben
-stand die Prosa: ein Ehrenmann, hatte Martha gesagt, der seine Frau auf
-Händen tragen wird. Und wenn der andere -- der andere als ein Schuft
-an dir gehandelt hat: gleichviel -- in uns strömte doch die große, die
-göttliche Leidenschaft. Und wenn der Ehrenmann dir wirklich die Hände
-unter die Füße breiten würde, dein ganzes Leben hindurch: dies Leben
-würde dir zur Hölle werden, wenn du die Liebe nicht hättest.
-
-Nein! Nein! Und tausendmal Nein!
-
-Sie wurde noch vorsichtiger Herrn von Holfen gegenüber, wich ihm aus,
-wo sie nur konnte.
-
-Aber sie fand, daß er sich stets gleichblieb. Er war immer gleich
-respektvoll, sehr artig -- nicht mehr. Martha mußte sich doch wohl
-getäuscht haben; vielleicht, dachte Helene bisweilen, neigt sie auch
-ein wenig dazu, Ehen stiften zu wollen.
-
-So schlummerte allmählich ihr Mißtrauen ein.
-
-Darüber war der Sommer vergangen, der Herbst war gekommen.
-
-Und in dieser Zeit, wo der Landwirt etwas mehr Muße hat, lud Holfen
-die Rohlbecker ein, sich einmal anzuschauen, wie er sich in Grunow
-eingerichtet hatte. Zum ersten Male. Bisher hatte er immer lachend
-gebeten, ihn zu entschuldigen: es wäre bei ihm noch die reine Wüstenei.
-
-Es war eine kleine Gesellschaft; die Rackowschen, auch Grucker,
-dessen ältester Sohn bei den Pasewalker Kürassieren stand, Artenau,
-der Stickereimajor und Bowlenkünstler, mit seiner semmelblonden Frau
-und der semmelblonden Tochter. Man kam augenscheinlich, sich über die
-Junggesellenhäuslichkeit des Neulings im Kreise ein wenig zu amüsieren,
-und war überrascht, wie hübsch sich Holfen „etabliert“ hatte, um mit
-Tante Marie zu reden, die das alte Verwalterhaus kaum wiedererkannte
-und staunend, mit dem langstieligen Lorgnon vor den Augen, von einem
-Zimmer zum andern ging.
-
-„Aber wirklich, mein lieber Herr von Holfen, Sie haben Wunder
-geschaffen. Ganz deliziös. Fehlt nur noch, daß Sie eine liebenswürdige
-Hausfrau in das fertige Nestchen setzen.“
-
-Nur der Garten hatte noch nicht ganz ihren Beifall. Als man draußen
-unter der großen Linde beim Kaffee saß, zeichnete sie mit der Spitze
-ihres Sonnenschirms in den Kies einen ganzen Plan, nach dem der Garten
-freilich fast zu einem Park wurde.
-
-„Meine Hochachtung!“ rief Graf Grucker. „Marie, du bist und bleibst
-sublim! Verwandle doch gleich das ganze Vorwerkchen in einen Jardin!
-Die geborene Depensière bist du!“
-
-Tante Marie zog die Achseln hoch: „Was du nicht weißt, mein Lieber!
-Aber dein Französisch ist mäßig. Falls du mich wirklich als
-Verschwenderin bezeichnen wolltest, hättest du besser Dissipatrice
-gesagt. Depensière hat so eine dumme Nebenbedeutung.“
-
-„Meine Hochachtung! Welche denn?“
-
-Während sie das zum Gaudium des kleinen Kreises auseinandersetzte, daß
-nämlich die Speisemeisterin in den französischen Klöstern Depensière
-genannt würde, sah ihr Mann sie etwas kummervoll unter seinem Einglas
-um die Ecke an. Er dachte wahrscheinlich daran, welche Wege sein
-hübsches Vorwerk gewandelt war. Überhaupt, er war still und in sich
-gekehrt, Ernst Hackentin. Sogar dem harmlosen Artenau fiel das auf,
-so daß er den Vetter einmal leise anstieß: „Was hast du denn nur,
-Dickerchen?“ Er bekam nur eine knurrige Antwort: „Ach, laß mich.
-Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“
-
-Holfen war der liebenswürdigste Wirt. Aber er war wie von einer leisen,
-ihm sonst ganz fremden Unruhe erfüllt. Vielleicht gerade, weil er zum
-erstenmal Gäste bei sich sah und ihm die Hausfrau fehlte. Martha machte
-zwar auf seine Bitte die Honneurs, aber auch sie wußte ja nicht recht
-Bescheid. So hastete er ein wenig zu viel umher.
-
-Nach Tisch setzten sich die Herren zu ihrem unvermeidlichen Whist.
-Die Damen blieben im Vorderzimmer. Die alte Gnädige saß, ein
-wenig träumend, auf dem Sofa. Tante Marie führte fast allein die
-Unterhaltung. Sie amüsierte sich. Die beiden Semmelblonden aus
-Stellberg machten immer so furchtbar dumme Gesichter, wenn sie
-irgendeine ihrer kleinen Pikanterien erzählte; wie auf Kommando
-sperrten Mutter und Tochter die Mäulchen auf und klappten sie wieder
-zu. Es war ja aber auch toll. Da sollte eine Duchesse sich ein Kleid
-von kristallisierter Gaze haben machen lassen, vier Röcke übereinander,
-das oberste mit acht Volants, und zu dem Ganzen hatte Laferriere, der
-große Modeschneider, nicht weniger als elfhundert Ellen Zeug gebraucht.
-Aber alle Pariser Damen waren freilich nicht so verschwenderisch mit
-dem Stoff. Es gab sogar sehr sparsame. Die Gräfin Castiglione --
-„Ihr wißt ja, man sagt, daß sie die Nebenbuhlerin der Kaiserin ist“
--- die Gräfin Castiglione ist im vorigen Jahr auf einem Ball des
-Marineministers als Salambo erschienen -- „Ihr kennt doch jedenfalls
-den Roman von Flaubert, der von der schönen Karthagerin handelt --“,
-als Salambo also und war in einem Kostüm, das nur aus dem wunderbaren
-Schmuck bestand, den der Kaiser ihr heimlich geschenkt hat.
-
-Die Tür zum Hinterzimmer stand halb offen. Dann und dann dröhnte
-Gruckers mächtige Stimme: „Himmel, hast du keine Flinte! Meine
-Hochachtung, Artenau. Karten hat der Mensch -- Karten!“ Whist sollte
-Schweigen heißen. Aber davon hielten die Herren nichts.
-
-Helene langweilte sich. Vor solchen Geschichtchen, wie Tante Marie sie
-heut liebte, hatte sie einen Abscheu. Sie stahl sich leise fort. Sah
-auf einen Augenblick ins Herrenzimmer, aber da war ein Zigarrenrauch,
-den man mit dem Messer hätte durchschneiden können. So trat sie auf
-die kleine Veranda, die nach dem Garten hinaus neu angebaut war. Ein
-winziges Ding, gerade vier Personen hätten darauf Platz finden können.
-Aber die Aussicht war entzückend. Der Garten fiel ziemlich steil
-ab. Unten lag der Grunower See, von dunklen Fichten umkränzt. Der
-Mondschein lag darauf, silbrig leuchtete das Wasser.
-
-Sie lehnte an der Brüstung, schaute hinab und dachte: Unsere Mark ist
-doch schön.
-
-Mit einem Male stand Holfen seitwärts hinter ihr. Hier, wo das
-Mondlicht nicht hinkam, im Dachschatten, war es fast ganz dunkel. Sie
-fühlte Holfen mehr als sie ihn sah. Und sie erschrak.
-
-Dann hörte sie seine Stimme: „Ganz allein, gnädiges Fräulein?“
-
-„Ich wollte ein wenig Luft schöpfen.“
-
-„Ist das nicht hübsch, der Ausblick auf den See? Hier ist mein
-Lieblingsplatz. Fast jeden Abend sitz ich hier und träume nach des
-Tages Arbeit ein wenig.“
-
-Er sprach ruhig. Aber Helene fühlte, in der Ruhe lag etwas
-Beherrschtes. Sie wäre gern ausgewichen, in das Zimmer zurückgetreten.
-Aber er stand vor der Eingangstür. Und dann -- es war wohl doch nur
-Einbildung --
-
-„Der Platz ist wirklich sehr hübsch. Ich habe oft bedauert, daß wir in
-Rohlbeck so wenig Wasser haben.“
-
-„Gefällt Ihnen Grunow auch sonst in seiner neuen Gestalt, gnädiges
-Fräulein?“
-
-Er war ein wenig nach vorn getreten, und seine Stimme vibrierte nun
-trotz aller Beherrschung leise. Jetzt fühlte sie deutlich, daß ihre
-erste Befürchtung nicht falsch gewesen war. Und sie dachte nur: wie
-ersparst du’s ihm und dir? Aber es war kaum noch möglich. Denn er
-wartete ihre Antwort gar nicht ab, sprach gleich weiter: „Man hat mir
-heut mehrfach gesagt, ernst der eine, neckend die andere, es wäre fast,
-als ob ich dies Haus hier schon für seine zukünftige Herrin vorbereitet
-hätte. Niemand hat wohl geahnt, daß dem wirklich so ist, daß ich seit
-Monaten täglich, stündlich an diese Herrin gedacht habe.“
-
-Nein -- er durfte nicht vollenden! Sie mußte dem lieben Menschen die
-Beschämung ersparen.
-
-So fiel sie schnell ein: „Das freut mich, Herr von Holfen. Wir alle
-werden uns sehr freuen, wenn Sie heiraten.“ Aber indem sie sprach,
-erschrak sie vor ihren eigenen Worten. Wenn er die nun falsch auffaßte?
-Wie man nur so ungeschickt sein konnte! Hastig fuhr sie fort: „Sehen
-Sie, jetzt geht der Mond hinter dem Walde unter. Der See liegt im
-Dunkeln. Es wird plötzlich recht kühl. Ich will doch lieber --“
-
-Da stand er schon dicht neben ihr, beugte sich ganz vor und bat:
-„Würden Sie hier als Herrin einziehen mögen -- als meine Herrin?
-Fräulein Helene ... ich habe Sie so sehr lieb. Fast vom ersten Sehen an
-wußt’ ich es --“
-
-Seine Hand fühlte sie neben der ihren tastend auf dem Geländer. Fühlte,
-wie sein Auge durch die Dunkelheit sie suchte.
-
-Sie wich seitwärts aus. Ganz schmal machte sie sich, drückte sich gegen
-die Wand.
-
-„Fräulein Helene ...“
-
-Tief schöpfte sie Atem.
-
-„Herr von Holfen ... bitte ... sprechen Sie nicht weiter ...“ Mühsam,
-stockend nur brachte sie es heraus. „Ich darf Sie nicht hören ...“
-
-Sie wagte nicht aufzusehen. Dachte nur, jetzt wird er gehen. Und so
-leid tat er ihr, so unsagbar leid.
-
-Aber er ging nicht. Einen Augenblick schwieg er. Dann hörte sie wieder
-seine Stimme, bittend, beschwörend: „Weisen Sie mich nicht so ab. Sie
-kennen mich ja kaum. Vielleicht war das mein Fehler. Ich verstehe
-mich wenig auf das Werben um ein Mädchenherz. Aber Liebe soll ja doch
-Gegenliebe wecken. Ich will geduldig sein, will warten, ausharren. Ich
-hab Sie ja so lieb, Fräulein Helene --“ Und dann, als keine Antwort
-kam, fragte er heiß: „Ist Ihr Herz nicht frei?“
-
-Es war für sie wie ein Schlag. Denn mit einem Male wußte sie: nein,
-dein Herz ist nicht frei. Du hast es dir selber nur vorgetäuscht.
-Du hast vielleicht überwunden, aber nicht vergessen. Mit einem Male
-standen die Erinnerungen wieder vor ihr, die seligen Erinnerungen,
-und die qualvoll durchwachten Nächte, die lodernden Sehnsuchten,
-die sie in die Kissen hineingeweint hatte, Glück und Leid, all das
-Himmelhochjauchzende, all das zu Tode Betrübte.
-
-Nein, ihr Herz war noch nicht frei. Überwunden mochte es haben,
-vergessen konnte es nicht.
-
-Sie kämpfte mit Tränen. Und mit tränenerstickter Stimme bat sie: „Bitte
-... lassen Sie mich ...“
-
-Da trat er zurück. Es war ja auch eine Antwort.
-
-Ganz schmal machte sie sich, glitt am Geländer entlang, zur Tür dann,
-trat in den Salon. Wie das helle Kerzenlicht den Augen weh tat nach der
-Dunkelheit draußen --
-
-Tante Marie war noch immer in Paris. Sie erzählte gerade von einer
-Soiree bei der Fürstin Pauline Metternich, der österreichischen
-Botschafterin, und daß da Hortense Schneider -- „Ihr wißt, die die
-‚Schöne Helena‘ kreiert hat“ -- anwesend gewesen wäre, und Madame
-Térésa von Alcazar d’Eté hätte ihre famosen Gassenhauer gesungen:
-„~Rien n’est sacré pour un sapeur!~“ Die beiden semmelblonden
-Artenaus sperrten die Mäulchen auf. Mutter nickte ein wenig in ihrer
-Sofaecke und sagte nur einmal aus ihrem Halbtraum heraus: „Ja ... die
-Pauline Metternich, das ist eine geborene Sandor ... eine Ungarin.“
-Dann polterte Onkel Grucker herein: „Meine Hochachtung! Der Rittmeister
-hat uns heut aber ordentlich belehrt. ’n Daler acht Groschen! I ... und
-da ist ja unser Leneken ... Mädel ... ’n Schmatz! Aber ’n ordentlichen,
-nich so’n vulgären Onkel-Nichten-Kuß, bei dem man nicht weiß, wie und
-warum!“
-
-Und dann fuhr man hinaus in die dunkle Nacht.
-
- * *
- *
-
-In den nächsten Wochen ließ sich Holfen nicht in Rohlbeck sehen. Die
-Rackower erzählten, er wäre in Berlin. „Das heißt,“ meinte Vater, „der
-Mann kann sich schon mal ’ne Erholung leisten. Was der den Sommer über
-auf seiner Klitsche geleistet hat, geht auf keine Kuhhaut.“ Martha sah
-bisweilen, wenn von ihm die Rede war, ein wenig vorwurfsvoll zu Helene
-hinüber. Aber sie fragte nicht.
-
-Erst als der Schnee schon lag, sah Helene Holfen wieder. Er kam nun
-wieder nach Rohlbeck, nicht so häufig vielleicht wie früher, aber
-scheinbar ganz der alte. Immer liebenswürdig, bei allen beliebt; hatte
-seine kleinen wirtschaftlichen Anfragen bei Martha, nahm, wenn er
-einmal zum Abend blieb, den Jungens eine Partie Mühle nach der andern
-ab. Helene und er begegneten sich, als wäre nichts zwischen ihnen
-vorgefallen. Und sie war ihm dankbar, daß er ihr das ermöglichte.
-
-Sie hatte an jener Abendstunde auf der kleinen Veranda doch schwer
-gelitten. Nicht nur um Holfens willen, so leid er ihr tat. Sie mußte
-von neuem einsargen, was damals lebendig geworden, auferstanden war.
-
-Wieder waren ihr Arbeit und Kunst getreue Helferinnen. Zumal ihre
-Kunst. Harro mußte ihr Noten über Noten senden: Mendelssohn, Schumann,
-Schubert. Ein paar Opernpartien studierte sie: aus dem „Waffenschmied“,
-aus dem „Feldlager in Schlesien“. Dann wagte sie sich, zögernd, an
-die Elsa. Aber da dachte sie sehnsüchtig an ihre Lehrerin zurück,
-fühlte das Fehlen der verständnisvollen Anleitung, des ermunternden
-Zuspruchs. Richard Wagner stand noch vor ihr wie ein Koloß. Etwas
-Erbarmungsloses, fand sie bisweilen, lag in seinen Ansprüchen. Einmal
-war sie in ihren Nöten zum alten Flehr geflüchtet. Doch der schüttelte
-nur das graue Haupt, ließ die Hand verlegen um die ewigen Stoppeln auf
-seinem Kinn gleiten und sagte schmerzlich: „Da kann ich nicht mit,
-gnädiges Fräulein.“ Beugte sich, immer die lange Pfeife im Munde,
-mit seinen kurzsichtigen Augen tief auf die Noten, versuchte auf
-seinem Klimperkasten ein paar Sätze -- ging dann plötzlich zu seinem
-geliebten Mozart über, schlug die blauen Augen auf, daß sie ordentlich
-leuchteten: „Das ist doch noch Musik!“
-
-... man mußte sich schon selber helfen ...
-
-Jetzt schickte Harro keine Noten mehr.
-
-Aber dafür seine frohen, übermütigen Briefe von „da oben“ her. Und
-Vater beorderte dann und wann Helene ans Klavier, daß sie ihm das
-Chemnitzsche Lied sänge:
-
- „Schleswig-Holstein, meerumschlungen,
- Deutscher Sitte hohe Wacht,
- Wahre treu, was schwer errungen,
- Bis ein schön’rer Morgen tagt!
- Schleswig-Holstein, stammverwandt,
- Wanke nicht, mein Vaterland!“
-
-Manchmal mußte Helene auch aus Harros Briefen vorlesen. Die Garde stand
-jetzt schon oben auf jütischem Boden, bei Kolding. Ein wenig neidisch
-schrieb der tatendurstige Junker von den Kameraden, denen vor den
-Düppeler Schanzen größere Lorbeeren winkten. Aber kleinere Gefechte
-gab’s bei ihnen auch, und lustige Geschichtchen wußte er immer zu
-erzählen. Gestern hatte „Einer von meinem Regiment“ einen flüchtenden
-Dänen angeschossen, ihn dann eingeholt, triumphierend zurückgebracht:
-„Das ist +mein Däne+!“ und ihn durchaus selber gesund pflegen
-wollen. Vater schmunzelte oder lachte auch hell auf. Als Harro
-beschrieb, wie wunderschön drollig jetzt die Posten aussähen: im großen
-weißen neugelieferten Schafpelz mit dem Helm dazu auf dem Kopfe, meinte
-er: „So sahen unsere Kerle im Winter Anno achtzehnhundertundzwölf auch
-aus, oben in Kurland, beim alten Yorck. Das heißt, geliefert waren uns
-die Pelze nicht. Die hatten wir -- gestohlen. Aber Helme hatten wir
-noch nicht, und unsere alten Hüte waren immer so steifgefroren, daß man
-Suppe draus hätte löffeln können.“
-
-Dann, Ende März, kam ein förmlicher Jubelruf: „Hurra, nun kommen wir
-doch noch vor Düppel. Unsere neuformierten Garde-Regimenter sollen
-beweisen, daß sie hinter den alten nicht zurückstehen. Wir wollen’s den
-Dannemanns schon zeigen! Und wenn der „Rolf Krake“ angeschwommen kommt,
-dann stecken wir den mitsamt seinen dicken Panzerplatten in die Tasche.
-Halt mir den Daumen, liebe, liebe Lene! Wenn alles gut geht und ich
-kann mich ein bissel auszeichnen, bin ich vielleicht in vier Wochen
-Offizier.“
-
-Helene mußte lächeln. Hinter Harros Zeilen stand immer noch etwas
-Besonderes, etwas Heimliches, nur für sie Bestimmtes. Er schrieb nie
-von seiner anbetenden Liebe. Manchmal hatte sie geglaubt, daß er die
-mit der Schulmappe und der Jungensmütze abgestreift, daß sie sich ihm
-und ihr wirklich in gute Kameradschaft gewandelt hätte. Aber dann kamen
-wieder Wendungen, die sie anders deuten mußte. „Wir haben gestern
-nacht die dritte Parallele ausgehoben. Ganz dicht vor den Schanzen.
-Sternenklar war die Nacht. Da hab ich hinaufgeschaut zu den blitzenden
-Sternen, und ich hab immerfort an Dich denken müssen.“
-
-Vater war sehr unruhig in diesen Tagen. Nie konnte er die Posttasche
-erwarten. Und wenn er aus der „Kreuzzeitung“ das Neueste vom
-Kriegsschauplatz vorlas, dann kramte er aus dem kleinen Schatz
-seiner kriegsgeschichtlichen Erinnerungen allerlei Ergänzungen,
-Erläuterungen hervor. Der Sturm auf die Düppeler Schanzen stand ja
-bevor. „Wird viel Blut kosten, das heißt, die Artillerie hat natürlich
-mächtig vorgearbeitet. Aber so ein sturmfreies Werk, mit Graben und
-Bastionen -- keine Kleinigkeit das!“ Ganz aus dem Häuschen waren die
-Jungens. Papier und Bleistift schleppten sie heran, Großvater mußte
-ihnen aufzeichnen, wie das eigentlich war: ein sturmfreies Werk und
-Parallelen und Laufgräben. Eine ganz wunderliche Zeichnung kam dabei
-heraus. Am Sonntag betete Heckstein von der Kanzel für unsere Tapferen
-in Schleswig-Holstein.
-
-Und Helene betete herzinnig mit. Nicht daß sie sich um Harro sorgte.
-Wie hätte dem frischen lieben Harro etwas geschehen sollen? Das schien
-ihr ganz ausgeschlossen, sie dachte gar nicht daran. Aber die Hände
-schloß sie doch und bat um Sieg und flocht auch Harro dabei im stillen
-einen Lorbeerkranz.
-
-Am 18., in der Dämmerstunde, ritt eine Estafette in Rohlbeck ein, ein
-Stellberger Postillion. Artenau hatte einmal eine vernünftige Idee
-gehabt und an den ungeduldigen alten Rittmeister gedacht, sich’s zwei
-blanke Taler kosten lassen.
-
-Mit zitternden Händen riß Vater die Depesche auf. Sie umdrängten
-ihn alle auf der Veranda, sogar Mutter war herausgekommen, als der
-Postillion am Tor ins Horn gestoßen hatte.
-
-„Düppel heut vormittag glorreich erstürmt. Schwere Verluste. General
-Raven tödlich verwundet.“
-
-Der alte Rittmeister hatte sein Käppchen abgenommen.
-
-Sie sahen alle zu ihm empor. Er las noch einmal. Und dann setzte er
-hinzu, mit bebender Stimme: „Unsere brave Armee! Endlich wieder einmal
-ein preußischer General für König und Vaterland geblutet. Der erste
-nach fünfzig Jahren. Jungens, nun lauft! Zum Kantor. Läuten soll er --
-läuten!“
-
-Eine Stunde später war die Posttasche da. Die „Kreuzzeitung“ wußte
-noch nichts. Und auch die vom nächsten Tage brachte nur die erste
-Siegesdepesche und einen einzigen Zusatz: siebzig Offiziere tot und
-verwundet, gegen tausend Mann. Aber ein kurzer Brief Wilhelms an Martha
-war dabei: „Ich komme morgen. Lauter gute Nachrichten. Berlin schwimmt
-in Begeisterung und Jubel.“
-
-Mit Extrapost kam er, ein paar Stunden früher, als erwartet. Die
-Jungens hatten oben von ihrem Fenster aus mit ihren Luchsaugen die
-Postchaise schon erspäht, als sie noch bei der Dampfmühle war, und
-hatten das ganze Haus alarmiert. Wieder standen alle auf der Veranda.
-
-Als er aus dem Wagen sprang, rief er: „Martha, Vater -- ich hab die
-Konzession. Die Eisenbahn ist durch!“
-
-Er stürmte die Stufen hinauf, umhalste einen nach dem andern, sagte,
-rief immer wieder: „Ich hab die Konzession. Es ist alles in Ordnung.
-Vater, ich hab vierzigtausend Taler dabei verdient. So freut euch doch!
-Freut euch doch!“
-
-Sie freuten sich ja auch alle. Aber die große Spannung war in so
-ganz anderer Weise gelöst, als sie es erwartet hatten. Er mußte es
-endlich merken. Er lachte: „Ja, so -- natürlich, ihr habt alle Düppel
-im Kopf! Ihr wißt wohl gar nichts Näheres? Großartig! Berlin hättet
-ihr vorgestern abend sehen sollen. Wie toll zogen die Massen durch die
-Straßen. Alle Häuser waren illuminiert. Da haben die Berliner nun auf
-die Soldateska geschimpft und geschimpft, und jetzt sind sie auf einmal
-Feuer und Flamme. Der König bekam die Depesche von der Erstürmung der
-ersten sechs Schanzen auf dem Tempelhofer Felde, als er gerade die
-Franzer besichtigte. Er fuhr gleich nach dem Palais. Da standen schon
-Hunderte und Tausende und sangen das Preußenlied. Er soll Tränen in den
-Augen gehabt haben.“
-
-Wilhelm hatte sehr schnell gesprochen. Nun holte er Atem und fuhr
-langsam fort: „Freilich -- schwere Verluste. Daß General von Raven
-schwer verwundet ist, wißt ihr wohl schon. Ja, und unsere arme Tante
-Oschitz ... Harro ist vor Schanze VI gefallen --“
-
-Da schrie Helene auf.
-
-
-
-
-Neuntes Kapitel
-
-
-Die alten Herrschaften saßen allein auf Rohlbeck.
-
-Wilhelm hatte gleich erklärt: jetzt müßte es ein Ende haben mit der
-ewigen Trennung. Er sehne sich, Weib und Kind bei sich zu haben. Die
-Jungens sollten auch aufs Gymnasium. Das letztere war vielleicht für
-Martha das Ausschlaggebende. Denn sie schied schmerzenden Herzens von
-der Scholle, die ihr so lieb geworden war, als hätte ihre eigene Wiege
-darauf gestanden. Und sie fürchtete sich vor Berlin.
-
-Helene war mit Wilhelms im Herbst übergesiedelt. Zuerst nur, um bei
-dem Umzug und bei der Neueinrichtung zu helfen. Dann blieb sie, auf
-Vaters ausdrücklichen Wunsch. Sie war so still und ohne rechte Frische
-gewesen in all der letzten Zeit; seit der Nachricht von Harros Tode,
-hätte man beinahe sagen können. Ein wunderliches Mädel, fand der alte
-Rittmeister. Ja, ja doch, es war ja sehr traurig. Aber, du mein Gott,
-der Junge hatte doch einen so herrlichen Tod gehabt, für König und
-Vaterland. Und ohne Schmerzen, gleich dahin. Daß Lene das so naheging!
-Das heißt, sie hatte wirklich immer an dem Harro gehangen, fast wie
-eine Schwester. Aber nun das schmale, blasse Gesichtchen. Nun, sie
-mußte mal ordentlich heraus. Sollte auch wieder Unterricht nehmen, daß
-sie auf andere Gedanken käme. Nicht einen Ton hatte sie gesungen seit
-dem letzten Male in der Kirche, wo Heckstein der toten Sieger gedachte.
-
-Sie wollte nicht nach Berlin. Wollte nicht -- wollte auch die alten
-Eltern nicht allein lassen. Da sprach der Rittmeister ein Machtwort.
-„Und überhaupt, das heißt, so alt sind wir denn doch noch nicht! Das
-bißchen Wirtschaften hier! Für immer und ewig brauchst du ja nicht
-fortzubleiben, und wenn erst die Eisenbahn fertig ist, dann ist das ja
-nur ein Katzensprung.“
-
-Wilhelm hatte vor dem Halleschen Tor gemietet. In einem ganz neuen
-Hause, das die spottsüchtigen Berliner „Neu-Amerika“ getauft hatten,
-weil es so weit draußen lag und weil es so sehr groß war. Ein
-Riesenkasten, aber schön gelegen. Von der Vorderfront sah man über die
-Kanalbrücke auf den Belleallianceplatz mit der Rauchschen Viktoria;
-die andere Front der Wohnung ging nach der breiten Bellealliancestraße
-hinaus, und jenseits lag das große Rothersche Stift inmitten eines
-gewaltigen Gartens. So hatte man doch den Blick auf grüne Bäume. Und
-die Jungens jubelten: fast an jedem Morgen wurden sie durch lustige
-Militärmusik mit Piefkes Düppelmarsch geweckt, und wenn sie dann ans
-Fenster stürzten, dann sahen sie unten die langen, bunten Kolonnen, die
-durch die Bellealliancestraße dem Kreuzberg zuzogen.
-
-Martha lebte sich anfangs sehr schwer ein. Die Wohnung war gewiß für
-Berliner Verhältnisse recht geräumig, aber sie empfand überall ihre
-Enge gegenüber dem Rohlbecker Hause; litt überhaupt unter der Enge der
-großen Stadt nach den langen Jahren des Landlebens, fand sich auch
-nicht leicht in die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse, hatte
-für ihre emsigen Hände zu wenig zu tun. Aber sie war doch glücklich,
-mit ihrem Manne vereint zu sein. Und allmählich gewöhnte sie sich
-mehr und mehr, hatte ihr kleines Vergnügen an einem Bummel durch die
-Leipziger Straße, suchte überall nach den billigsten Quellen und kam
-jedesmal stolz vom Wochenmarkt auf dem Belleallianceplatz zurück;
-besonders stolz, wenn sie in einem kleinen Preisdisput mit einem der
-groben Marktweiber glorreich obgesiegt hatte. Allmählich gewann sie
-Berlin fast lieb.
-
-Auf Helene wirkte dies Berlin ganz anders als vor zwei Jahren. Sie
-war gleichgültig geworden gegen die große Stadt. Es interessierte sie
-nichts mehr, es reizte sie nichts mehr: nichts zum Staunen, nichts zur
-Bewunderung, nichts zum Widerspruch. Und auch die Erinnerungen glitten
-nun, wenn sie kamen, an ihr ab wie etwas Fremdgewordenes. Mit Ausnahme
-der einen, um die der Tod frischen Lorbeer gewunden hatte.
-
-Ihr erster Gang hatte der einsamen Insel gegolten. Sie fand die Tante
-merkwürdig gefaßt. Ganz schmal und durchsichtig zart war das kleine
-Gesicht unter der Trauerhaube, aber aufrecht und ruhig: „Der Herr hatte
-ihn mir gegeben, der Herr hat ihn mir genommen,“ sagte sie fast wie
-Hiob, „der Name des Herrn sei gelobt.“ Es lag etwas Tiefergreifendes in
-ihrer Ergebenheit. In Helene lebte der Schmerz anders; sie hätte ihn
-klagend gen Himmel schreien mögen.
-
-In sein kleines Stübchen führte Tante Marianne sie. Da stand und lag
-noch alles, wie er es verlassen. An dem letzten Tage vor dem Ausmarsch
-war er noch darin gewesen.
-
-Tante Marianne setzte sich vor seinen Schreibtisch, ließ die Bücher,
-die auf dem Tisch lagen, langsam durch ihre Hände gleiten, rückte an
-dem Tintenfaß. Helene hatte sich ein Korbsesselchen herangezogen,
-stützte den Kopf in beide Hände und weinte. Sprechen konnte sie nicht.
-
-Auch die Tante saß lange schweigend, nun mit gefalteten Händen auf der
-Schreibmappe.
-
-Dann sagte sie ganz langsam: „Er hat dich sehr lieb gehabt, Helene.
-Mehr vielleicht, als er sollte. Ich hab das auch erst gemerkt, als du
-fort warst.“
-
-‚Mehr vielleicht, als er sollte.‘ Helene hörte eigentlich nur das.
-Konnte man denn einen Menschen mehr liebhaben, als man sollte?
-
-Aber sie durfte ja nicht mit der Mutter rechten. Und Tante Marianne
-würde auch nimmer verstanden haben, wenn sie ihr von dieser reinen
-und heißen Jünglingsliebe gesprochen hätte und von dem, was ihr Harro
-gewesen und geworden war in der Zeit ihrer Not. Vielleicht meinte Tante
-Marianne auch nur ‚Er hat dich sehr liebgehabt -- mehr als mich.‘
-
-Nur eins mußte sie sagen. Und es mochte wohl wie ein Auftrotzen
-klingen: „Ich hab ihn auch sehr liebgehabt.“ Wie ein Auftrotzen, und
-war doch großer Schmerz.
-
-Tante Marianne sah auf und senkte den Kopf wieder. Vielleicht hatte
-sie auch das nicht recht verstanden, daß man jemand liebhaben kann in
-reinster Freundschaft. Vielleicht lebte auch in ihren Gedanken ihr
-Harro nur noch als Knabe; vielleicht hatte sie nie ganz begriffen, daß
-aus dem Knaben ein Jüngling geworden war, mit all der Lust und all dem
-Leid des Jünglingsherzens.
-
-Sie stiegen wieder herunter und saßen im düsteren Wohnzimmer einander
-gegenüber.
-
-Die Tante fragte nach Rohlbeck, nach den Eltern, nach Wilhelms. Helene
-gab Antwort. Und beider Gedanken waren doch nur bei ihm. Er stand für
-sie drüben an der Tür, er saß für sie in der tiefen Fensternische, er
-ging draußen vorüber unter den blühenden Kastanien.
-
-Plötzlich sagte Tante Marianne, und nun klang doch der ganze Schmerz
-des Mutterherzens durch all ihre Ergebung hindurch: „Warum mußte er
-Soldat werden! Ich wollte es nicht. Fast auf den Knien hab ich ihn
-gebeten --“
-
-Und wieder saß Helene wortlos. Was sollte sie sagen? Auch das würde
-Tante Marianne nicht verstehen: daß der Tod auf dem Schlachtfelde der
-schönste Tod ist und daß mit Harro Hunderte und aber Hunderte, arm und
-reich, hoch und gering, in den Tod gegangen waren -- mit Gott, für
-König und Vaterland.
-
-Mit Gott! Den Kopf hätte Tante Marianne geschüttelt: ‚Du sollst nicht
-töten!‘
-
-Und dabei fühlte sie, wie wieder der fragende, vorwurfsvolle Blick auf
-ihr ruhte. Fast als ob er zu ihr spräche: Du bist schuld daran, daß er
-so früh eintrat! Daß er ein Mann sein wollte, wo er noch ein Knabe war!
-
-Es fröstelte sie in dem düsteren Zimmer.
-
-Schwer stand sie auf. Küßte der Tante die Hand. „Ich muß nun wohl
-gehen --“
-
-Tante Marianne blieb auf dem steiflehnigen Sofa sitzen, sagte nur müde:
-„Grüße Wilhelm und Martha.“
-
-Aber dann plötzlich, als Helene schon an der Tür war, kam die Tante
-hinter ihr drein, umschlang sie mit beiden Armen, drückte sie an sich
-und rief unter Schluchzen: „Er hat dich so liebgehabt. Er hat dich ja
-so liebgehabt!“
-
-Und da weinten sie beide, Wange an Wange. Weinten um den, der in ihren
-Herzen nie sterben würde: um den Knaben, um den Jüngling, um den jungen
-Helden, der mit einem Lächeln in den Tod gegangen war.
-
-Seitdem ging Helene häufig nach der einsamen Insel. Mehr und mehr
-lernte sie Tante Marianne verstehen und schätzen. Auch lieben. Aber
-diese Liebe rankte sich doch fast nur um die Erinnerung an Harro. Bei
-allem Verstehen und aller Verehrung, auch in aller Zuneigung blieb
-etwas Fremdes. Und manchmal dachte Helene: ‚Es ist nicht anders wie
-in deinem Verhältnis zu Martha. Wir haben uns gefunden, und sind doch
-nicht ganz eins geworden.‘
-
-Bisweilen, wenn sie von der einsamen Insel kam, ging sie auch an der
-kleinen Konditorei in der Bendlerstraße vorüber. Einmal stand sogar
-das alte Kuchenfräulein vor der Tür und sah in den lachenden Frühling
-hinaus, knixte und machte große Augen. Da grüßte Helene mit einem
-leichten Kopfneigen und lächelte, indem sie weiterschritt. Wirklich,
-sie konnte lächeln. Wunderte sich selber darüber, wie fern ihr nun
-diese Episode lag, und daß sie ihr aus einem großen Erleben zu einer
-Episode hatte werden können. Aber sie wußte auch: die emsige Arbeit
-und ihre Kunst hatten das erste und vielleicht das Beste an ihr getan,
-und doch nicht alles; es mußte die Zeit helfen, sie das Überwinden
-zu lehren, und es mußte Harros Tod kommen, um das Überwinden zur Tat
-werden zu lassen. Wie denn der eine Schmerz so oft den andern löst.
-
-Monat auf Monat war verstrichen, und der Sommer stand schon vor
-der Tür, da raffte sich Helene endlich auch zu dem Besuch bei Frau
-Harriers-Wippern auf. Immer wieder hatte sie ihn hinausgeschoben. Nun
-drängten Vaters Briefe; es drängte auch das eigene Gewissen. Denn sie
-wußte, Mitte Juni ging die Sängerin meist in die Ferien.
-
-Das Herz klopfte ihr doch, als sie die teppichbelegten Stufen zur
-Wohnung hinaufstieg und die Klingel zog. Sie fühlte sich schuldbewußt
-der gütigen Meisterin, schuldbewußt auch ihrer eigenen Kunst gegenüber.
-Die Worte klangen in ihr auf, die die Lehrerin nach der ersten Prüfung
-gesprochen hatte: von der Heiligkeit der Gabe, die ihr verliehen, und
-wie man sie hegen und pflegen müsse. Sie aber kam ja eigentlich auch
-jetzt nicht, um sich in ganzer Hingebung wieder der Kunst zu widmen.
-Fast gezwungen kam sie, unlustig, wie sie in all diesen Wochen gewesen
-war.
-
-Sie mußte ein wenig warten. Es war alles wie früher. Unter den großen
-Blattgewächsen saß sie im Salon, die wohlbekannten Bilder blickten von
-den Wänden auf sie herab. Aus dem Zimmer nebenan klangen halblaute
-Worte, dann einzelne Töne, eine Halbkadenz, ein paar Anschläge auf dem
-Flügel. Wie sie das alles kannte! Frau Harriers sang mit halblauter
-Stimme. Glockenhell aber. Nun die Schülerin. Hilf Himmel -- meine arme
-Lehrerin! Solch eine Stümperei! Wie gequält, wie mühsam -- schlecht,
-einfach schlecht. Was sollte das sein? Heiliger Mozart, wie man sich
-so an dir versündigen kann! Wenn das unser alter, guter Kantor hören
-müßte --
-
-Seit Wochen, seit zwei Monaten hatte Helene nicht gesungen, keine Musik
-gehört. Nun, ganz plötzlich, regte es sich wieder in ihr. Waren es
-Erinnerungen, war’s die Atmosphäre dieses Hauses, waren es die Töne,
-die, gedämpft durch Tür und Vorhang, zu ihr drangen? Das Blut wallte.
-Sie sprang auf, hastete ein paar Male durch das Zimmer, blieb wieder
-stehen, horchte, lauschte.
-
-Dann ging die Tür. Ein schmächtiges junges Ding, elegant, im lichten
-Sommerkleid mit ungeheuerlichen Pagodeärmeln, huschte vorüber. Aber
-gleich hinter ihr trat Frau Harriers-Wippern in den Salon. Blieb an der
-Schwelle stehen, schlug die Hände zusammen: „Fräulein von Hackentin!“
--- kam dann auf Helene zu, faßte sie um den Gürtel: „Sind Sie’s, oder
-ist’s Ihr Geist?“ -- lachte ihr altes, helles Lachen: „Nein, ich
-fühl’s, sie ist es selber, die Ungetreue, Ungetreueste! Die einzige
-Ungetreue, der ich je nachtrauerte! Helene Hackentin! Wie ich mich
-freue! Wie ich mich freue!“
-
-Es stand ihr auf dem schönen Gesicht geschrieben, daß sie sich wirklich
-freute. Das war nicht mehr die ernste, gemessene Lehrerin, als die
-Helene sie kannte; fast übermütig war sie: „Da muß man sich nun mit
-solch einer Demoiselle Stern quälen, die keine Stimme hat, kein Talent,
-nicht einmal Gehör, nichts, nichts, als einen reichen Vater, muß sich
-quälen und ärgern und läßt eine Helene Hackentin warten! Warum haben
-Sie’s mich nicht wissen lassen, daß Sie’s sind -- hinausgeworfen hätt’
-ich das Modepüppchen aus dem Tempel! Aber nun lassen Sie sich mal
-ordentlich anschauen --“
-
-Dann wurde sie doch ernst, las wohl in Helenens Zügen das Leid. Sie
-schob die Hand vertraulich unter ihren Arm: „Kommen Sie fort aus
-dieser kalten Pracht. Ich hab hinten, nach den Gärten hinaus, ein
-Privatzimmerchen, in dem wir gemütlicher plaudern können.“
-
-So saßen sie denn in dem kleinen Raum, in den die grünen Baumwipfel
-hineinwinkten und durch dessen weitgeöffnetes Fenster die laue
-Sommerluft wehte. Saßen nebeneinander auf der winzigen Couchette wie
-zwei gute Freundinnen. Doch das Plaudern wollte nicht recht gelingen.
-Luise Harriers mochte nicht fragen, und Helene Hackentin waren die
-Lippen geschlossen. Auch in ihr war herzliche Freude über den Empfang.
-Aber sie konnte doch nicht sprechen über das, was sie erlebt hatte,
-von dem sie zu niemand gesprochen hatte, außer in den Stunden ihrer
-größten Herzensangst zu Martha. Nur Harros Tod berührte sie kurz. Und
-dann war da noch etwas, was ihr die Lippen schloß. Frau Harriers hatte
-gleich anfangs gesagt, leichthin: „Sie waren ja wohl mit Alfred Schwarz
-bekannt? Wissen Sie, daß er sich im Winter mit der Theresa Carena
-verheiratet hat?“
-
-Es schmerzte ja nicht --
-
-Schmerzte es wirklich nicht? Ein dumpfes Wehgefühl hob es aus, eine
-jähe Leere, als ob das Blut stockte im Kreislauf, auf einen Augenblick
-im Herzen stehen blieb, nicht mehr zum Gehirn emporsteigen wollte. Auf
-einen Augenblick nur. Dann konnte Helene ruhig entgegnen: „Ich wußte
-nichts davon.“
-
-„Er war wieder in Petersburg. Wie ich neulich hörte, soll er jetzt in
-Paris leben. Er ist ja immer einer von den unsteten Kollegen gewesen,
-die nirgendwo festen Fuß fassen können oder wollen.“
-
-Helene saß still, mit geneigtem Kopf. Sie mußte doch nachsinnen: ja,
-ein Unsteter, der nirgend festen Fuß fassen kann. Auch nicht will.
-Therese Carena? Noch nie hatte sie den Namen gehört. Fragen mochte sie
-nicht. Es war ja auch gleichgültig. Nur -- nur -- ob er wohl glücklich
-war?
-
-Die Unterhaltung versiegte.
-
-Bis dann Frau Harriers, frisch zugreifend, fragte: „Aber Sie, Fräulein
-von Hackentin? Ich kann doch nicht länger damit hinter dem Berge
-halten: was macht die Kunst?“
-
-Da raffte sich Helene auf.
-
-Stockend, ein wenig verlegen begann sie. Mit der kleinen Münze der
-Erklärungen, Entschuldigungen, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte.
-
-„War denn alles still in Ihnen? Ich kann’s nicht glauben. Wem ein Gott
-Gaben lieh, wie Ihnen, dem ist Musik ja der Wundertröster in der Not,
-die helle Sonne im Glück.“
-
-„Sie war mir beides, Sonne und Trost. Dann ist eine Zeit gekommen, in
-der nichts mehr in mir klang.“
-
-„Das sind Unglücksstunden, armes Kind, über die der Wille hinwegtragen
-muß. Wer hätte solche Stunden, Tage, Wochen nicht? Ich kenne sie auch.
-Doch dann modle ich mir den Goethevers auf meine Art um. ‚Gebt ihr euch
-einmal für Poeten, so kommandiert die Poesie!‘ Das heißt -- ich singe.
-Ich singe mich frei. Aber nun lassen Sie einmal hören, was haben Sie
-getrieben, was haben Sie studiert, ehe diese bösen Stunden kamen.“
-
-Da berichtete denn Helene. Zagend erst, lebhafter dann. Das Wachwerden,
-das vorhin im Salon über sie gekommen war, ganz jäh und unerwartet,
-kam ihr in den Sinn. Sie erzählte von ihrem vergeblichen Gang ins
-Kantorhaus, wie der alte Flehr über die Elsa-Partie den grauen Kopf
-geschüttelt hatte. Frau Harriers fand das entzückend: der Kantor,
-die lange Pfeife im Munde, auf seinem Spinett sich abmühend über die
-Wagnerschen Noten, zu Zerlinens Lied übergehend, die blauen Augen
-verzückt gen Himmel gerichtet: „Das ist doch noch Musik!“
-
-„Den Braven möcht ich kennen lernen. Aber Ihnen möchte ich helfen,
-Fräulein Helene! Doppelt helfen -- Sie verstehen mich schon. Ich bleibe
-zum Glück noch ein paar Wochen hier und hab wenig zu tun. Von morgen an
-kommen Sie zu mir. Wir studieren die Elsa. Hier meine Hand -- schlagen
-Sie ein!“
-
-Vielleicht war es zuerst ein wenig Zwang. Blieb noch eine Weile
-Selbstzucht. Aber dann wachte die Freude wieder auf in dem starken
-Streben, im Ringen und im Gelingen. Denn es war ein Ringen und es war
-ein Gelingen an der neuen großen Aufgabe. Langsam nur, aber stetig
-ging es bergauf. Eins kam zum andern. Zu den Stunden bei Frau Harriers
-kam italienischer Unterricht bei Signora Marchesi, der kleinen,
-quirligen Toskanerin, die für die neue Freiheit ihres Vaterlandes
-schwärmte und die Namen Vittore Emanuele und Cavour in jeden dritten
-Satz einzuflechten suchte; die die Österreicher so wundervoll haßte,
-über den Heiligen Vater so köstlich lächelte, die Priester ihrer Kirche
-ironisierte, aber jeden Morgen zur Messe nach der Hedwigskirche ging.
-
-Tötend langsam waren die ersten Wochen in Berlin hingeflossen, nun
-flogen die Tage.
-
-Ein herrlicher Frühsommer war es, fruchtbar und reich. Vater schrieb
-immer wieder, wie prächtig die Ernteaussichten, „das heißt, mehr Regen
-könnten wir brauchen. Für unseren märkischen Sand ist bis Johanni jeder
-Regenschauer ein Säckchen Dukaten wert.“ Wenn solch ein Brief, meist an
-sie gerichtet, kam, so faßte Martha immer die Sehnsucht nach Rohlbeck,
-nach grüner Wiese, nach duftendem Flieder, nach einem Kirschbaum im
-Blütenschnee. Ganz plötzlich sagte sie dann bei Tisch: „Jungens, wann
-kommt ihr heut aus der Schule zurück? Um halb fünf. Gut -- wir müssen
-ins Freie. Du auch, Lene.“ Und sie packte ein Körbchen mit Butterbroten
-und zog mit ihnen hinaus, die Bellealliancestraße hinauf zum Kreuzberg,
-und lagerte sich mit ihrer Schar irgendwo in der kleinen Wildnis um das
-ragende Denkmal; oder es ging noch weiter hinaus auf der Chaussee, quer
-über den riesigen, sonnigen Exerzierplatz bis nach Tempelhof, in den
-schattigen Garten von Kreideweiß. Manchmal, selten, hatte auch Wilhelm
-ein Gelüste nach etwas Familiensimpelei. Dann schlug er aber eine
-etwas höhere Nüance an. Er lud die Seinen -- „Jungens, wascht euch die
-Pfoten!“ -- zu Kaffee und Stippe bei Mielenz an der Potsdamer Brücke
-ein, wo der elegante Spießer auf schön getürmten Terrassen saß, oder
-führte sie gar am Abend nach dem „Albrechtshof“ oder nach „Moritzhof“
-am Tiergarten. Das war ein besonderer Jubeltag für die Söhne. Denn
-erstens bekam jeder ein richtiges Seidel bayerisches Bier und eine
-Schinkenstulle, und dann konzertierte der alte Generalmusikdirektor
-Wiepprecht dort. Am Schluß stieg der jedesmal auf einen Tisch und
-dirigierte ein grandioses Schlachtenfurioso mit großem Trommel-
-und Paukengetöse. Die Jungens und auch Martha fanden das über alle
-Beschreibung schön. Helene freilich hielt sich lachend die Ohren zu.
-
-Einmal, im Juni, kam Bruder Fritz angereist und logierte bei Wilhelms.
-Der „rote Kreisrichter“ war ein wenig bedrückt. Der Zwist mit dem
-Vater lag ihm auf dem guten Herzen, er fühlte sich auch mehr und mehr
-isoliert in Stellberg, und dann hatte er dienstlich Unannehmlichkeiten.
-Der neue Justizminister Graf Lippe zog schärfere Saiten gegen die
-fortschrittlich gesinnten Beamten auf. Es gab gleich am ersten
-Vormittag eine lange Beratung zwischen den Brüdern, ohne daß viel dabei
-herauskam. Denn Wilhelm sprach als ein Mann der Kompromisse emsig
-zum Guten, fürchtete auch persönlich Unbequemlichkeiten für seine
-geschäftlichen Beziehungen. Fritz aber redete sich schnell wieder in
-seine „Überzeugungstreue“ hinein, wollte lieber gemaßregelt sein, als
-nachgeben. Schließlich brach in beiden die Hackentinsche Art durch, sie
-lagen sich, nach scharfen Worten, versöhnt in den Armen und schwatzten
-davon, wie man sich am besten in Berlin amüsieren könnte.
-
-„Ohne daß es viel kostet --“ meinte der Stellberger, aber Wilhelm
-erklärte: „Ach was! Man sieht sich so selten. Ich lade dich zu Hiller
-ein. Die Weiber kommen auch mit. Und am Abend gehen wir zu Kroll.
-Martha, Lene -- macht euch so schön, als es möglich ist. Ehre wollen
-wir mit euch einlegen.“
-
-Er konnte zufrieden sein, und er schmunzelte auch, als der kleine
-Karl Hiller, der frühere Oberkellner von Ewest, der erst vor kurzem
-das eigene Geschäft Unter den Linden eröffnet hatte, ihn zu dem
-reservierten Tisch geführt hatte: Martha und Helene sahen vorzüglich
-aus. Martha in ihrer schlichten Frauenhaftigkeit, die Schwester
-rassig, eigenartig -- „Donnerwetter, Mädel, als ob du alles Lackzeug
-frisch gestrichen hättest.“ Rosigster Stimmung war er: er hatte gleich
-gemerkt, wie sich in dem trotz des Sommers überfüllten Lokal, das rasch
-in Mode gekommen war, alle Augen auf die schönen Frauenerscheinungen
-richteten. Auch mit den Toiletten war er zufrieden: etwas übertrieben
-einfach, aber sie kamen mit, die beiden. Wirklich, sie kamen mit, fand
-er. Besonders Helene in ihrem Batistkleidchen mit der rosa Tunika über
-dem Rock. Zum Erstaunen! Das Mädel wußte aus nichts etwas zu machen.
-Und dann ihr wundervolles Haar, vorn in leichten Wellen gescheitelt, im
-Nacken der neumodische Chignon, der die rostbraune Flut kaum bändigen
-konnte.
-
-Rosigster Stimmung war er. An jedem dritten Tisch im Saal hatte er
-Bekannte, grüßte, nickte, winkte, nannte für die Seinen die Namen:
-„Da der Prinz von Schwarzburg! ... Graf Dönhoff ... drüben der große
-Theateragent Röder mit seiner schönen Tochter Mila ... in der Ecke
-sitzt Strousberg ... siehst du ihn, den kleinen Juden ... und da sitzt
-der Oberstleutnant Prinz Hohenlohe, Flügeladjutant des Königs ...
-Du, Martha, da kannst du auch die göttliche Anna Schramm sehen mit
-dem Rittmeister von Brescius ... und am Nebentisch der schmächtige
-Zietenhusar, das ist Graf Haeseler ...“
-
-Er grüßte, winkte, bestellte seine Lieblingsmarke, Ruinart, spöttelte
-mit dem Bruder, der ein wenig steifleinen zwischen Schwester und
-Schwägerin saß, aß wie ein Gourmet, schlürfte den Champagner mit
-Kennermiene: „Aber die nächste Bouteille, mein lieber Hiller, etwas
-kälter.“
-
-Helene war zuerst ein wenig befangen. Dann taute auch sie auf,
-plauderte drauflos, neckte Martha, die, wie sie behauptete, neuerdings
-eine kleine Passion für die Berliner Weiße hätte und die Berliner
-Schrippe und frische Blut- und Leberwurst; die überhaupt auf dem besten
-Wege wäre, richtig zu verberlinern. Dann saß sie wieder ein Weilchen
-stumm, dachte reuig: ‚Was bist du doch für ein Weltkind!‘ trank hastig
-ein Spitzglas Champagner, lachte sich über die veränderte Stimmung
-fort: ‚Gott, man ist doch nur einmal jung!‘ -- fühlte, wie diese
-Atmosphäre von Luxus und Wohlleben ihr wohltat, diese Spiegelwände,
-die weichen, roten Teppiche, der glänzend weiße Damast, die
-Kristallschalen, das diskrete Plaudern und Lachen, der leise, leichte
-Duft von Parfüm, Speisen, Zigarrenrauch.
-
-Plötzlich rief Wilhelm: „Merivaux ... suchen Sie einen Platz? Kommen
-Sie hierher. Wir rücken ein wenig zusammen.“
-
-Da erst sah Helene den Gardeschützen, der mitten im Saal stand, mit dem
-Oberkellner unterhandelte. Jetzt stutzte er, zögerte einen Augenblick,
-trat dann an den Tisch heran. „~Bonjour, mes dames et messieurs!~
-Sehr freundlich, Herr von ’ackentin. Wenn Sie erlauben --“
-
-Er sprach noch immer mit leichtem Akzent, kämpfte noch immer ein
-wenig mit dem H, mischte noch immer dann und wann einen französischen
-Brocken ein. Aber zugelernt hatte er entschieden „in die swere Sprack“
-während der zwei Jahre. Wahrhaftig, länger als zwei Jahre hatte Helene
-den Neuchateller nicht gesehen! Und indem sie das mit leisem Staunen
-konstatierte, glitt durch ihre Erinnerung doch auch jener Spaziergang,
-im Rackower Park, die Begegnung mit Alfred Schwarz, ihr Gesang im Salon
-von Tante Marie --
-
-Merivaux widmete sich zuerst fast ausschließlich Martha, sprach mit
-den Herren, erzählte, daß er im Winter vierundsechzig -- „da wir
-ja leider nicht mobil wurden“ -- auf einige Wochen in der Heimat
-gewesen wäre: „Schlechte Zeiten für meine Eltern, für unseren ganzen
-Adel.“ Die Demokraten obenauf, die Royalisten ganz, ganz unten; und
-allmählich werde auch so mancher von den Guten untreu. Im Vaterhause
-aber erhebe der alte Herr immer noch sein Glas, gefüllt mit blutrotem
-Cortaillard: „~Vive le roi!~“ Und am 22. März hätte auch diesmal
-die schwarzweiße Hohenzollernfahne über Schloß Merivaux geflattert.
-
-Helene hörte gerne zu, wie er so sprach. Ein romantischer Zug klang
-daraus, der Widerklang in ihr fand. Dies treue Ausharren auf verlorenem
-Posten, dieser trotzige Sinn der alten Royalisten im fernen Lande: das
-war wirklich einmal etwas Eigenes in der Alltäglichkeit des Lebens.
-Es lag fast greifbar deutlich vor ihr; das altersgraue Schloß mit
-dem dräuenden Turm und der Zollernflagge, und tief unten der blaue
-Neuchateller See, wie Merivaux ihn einst ihr geschildert, von grünen
-Wiesenhalden umkränzt und blütenreichen Hängen, die schneebedeckten
-Alpenhäupter im Hintergrunde.
-
-Einmal mußte sie unwillkürlich zu Merivaux hinübersehen. Und
-da begegneten sich ihre Augen. Sie wunderte sich: es war etwas
-Träumerisches in seinem Blick -- etwas Fremdes -- und doch wieder etwas
-seltsam Vertrautes.
-
-Dann wandte er sich gleich an seinen Tischnachbar. Das Gespräch ging
-weiter. Fritz konnte sich eine etwas unpassende Bemerkung nicht
-versagen, daß Neuchatel doch eben nur seinen natürlichen Anschluß an
-die anderen Schweizer Kantone gefunden hätte, wurde aber von Merivaux
-ziemlich scharf zurückgewiesen. Dann, um weiterer Peinlichkeit zu
-entgehen, fragte Wilhelm recht unvermittelt nach dem neuen Modell der
-Jägerbüchse, das die Gardeschützen führten. Und Merivaux sang das Lob
-der Zündnadel -- „sie schösse töter als tot“. Er war zur Abnahme in
-Sömmerda kommandiert gewesen und hatte den alten Dreyse kennen gelernt,
-den der König kürzlich geadelt, der aber noch immer wie ein richtiger
-Schlossermeister von Werkstatt zu Werkstatt ginge, um allenthalben
-nach dem Rechten zu sehen. Wilhelm erzählte dagegen wieder von dem
-alten Krupp in Essen und den gezogenen Gußstahlgeschützen und was sich
-die Herren von der Bombe davon versprächen. Wozu der rote Landrichter
-gähnte. Eigentlich ärgerte sich Helene über Bruder Fritz: der hatte
-doch auch einmal des Königs Rock getragen, und nun war ihm das
-gleichgültig, was selbst sie und Martha interessierte: wie „da oben“
-bei Lundby die Zündnadel die erste Ernstprobe auf ihre Brauchbarkeit
-abgelegt hätte.
-
-Endlich brach man auf. Merivaux ging mit hinaus zu Kroll.
-
-Es dämmerte schon leicht, und der Krollsche Garten glänzte in
-seiner neuen feenhaften Beleuchtung durch Zehntausende von bunten
-Gasflämmchen, die alle Rabatten und Bosketts umsäumten, überall
-aus den grünen Büschen herausschimmerten, von hohen Kandelabern
-herunterstrahlten. „Etwas Ähnliches gibt es nur noch in Paris, in den
-Champs Elysées“, behauptete Wilhelm. „Aber was die Pariser nicht haben,
-ist unser Engel.“ Dieser Engel stand vor seinem Orchester, ein kleines
-altes Männchen mit kohlschwarzer Perücke, dirigierte ‚mit die Hände
-und die Füß’‘ und hatte dabei noch Zeit, jede vorüberwandelnde hübsche
-Frauengestalt mit verliebten Blicken zu verfolgen. An hübschen Frauen
-aber fehlte es im Krollschen Etablissement nie. Und außer Herrn Engel,
-fand Helene, gab es recht viele Herren hier, die unverschämte Augen
-machten.
-
-Man promenierte langsam zwischen den Beeten auf und ab, die so
-wunderlich von bunten Blechblumen, mit Gasflämmchen in den Kelchen,
-eingefaßt waren. Und da schob sich Merivaux neben Helene.
-
-Er fragte nach ihrem Gesang, und sie gab ein wenig spitz zurück: „Ich
-hätte gar nicht geglaubt, daß Sie dafür Interesse haben ...“
-
-„Dann irrten Sie, gnädiges Fräulein“, meinte er.
-
-Sie behielt noch immer ihren etwas ironischen Ton bei: „Also muß
-ich mich bedanken, daß Sie sich so gütig für mein bißchen Kunst
-interessieren?“
-
-„O nein -- warum bedanken?“ Er blieb ganz ruhig. „Aber ich darf gewiß
-sagen, daß ich sehr, sehr oft daran dachte, wie schön Sie in Rackow
-sangen. Ich ’ab es nicht vergessen: ‚... auf der Welle blinken --
-tausend schwebende Sterne ...‘ Vielleicht glauben Sie es mir nicht: ich
-liebe die Musik überhaupt sehr.“
-
-Es klang ihr so naiv, so furchtbar naiv. Sie mußte lächeln, und das sah
-gewiß wieder ein wenig überlegen, ein wenig spöttisch aus.
-
-„Da haben wir’s! Sie lachen mich einfach aus.“
-
-„Aber, Herr von Merivaux ...“
-
-„Ich nehm es ja gar nicht übel. Wie soll ich? Ich weiß ja doch, Sie
-können kaum anders, und, gewiß, es scheint vielleicht eine seltene
-Sache, daß sich ein Offizier stark für Kunst, gerade für Musik
-interessiert. Aber es kommt doch vor. ~Par exemple~: wir haben
-hier in Berlin einen Offizier-Musik-Verein, und ich spiele die zweite
-Violine.“
-
-Sie machten gerade kehrt, fügten sich von neuem in die Reihen der
-Promenierenden ein. Dabei konnte sie ihm unauffällig ins Gesicht sehen.
-Ein wenig im Glauben, er habe den Spieß umgedreht und scherze nun
-seinerseits. Aber er blickte ganz ernst. Es mußte doch wahr sein, was
-er sagte.
-
-Und er sprach schon weiter: „Sie sind wieder Schülerin von Frau
-Harriers-Wippern?“
-
-Da mußte sie doch erstaunt zurücksagen: „Woher wissen Sie das?“
-
-‚„~Mon Dieu~ ... Berlin ist so klein. Ich verkehre bei Professor
-Taubert, und zu den näheren Freunden des ’auses gehört auch Frau
-Harriers. Sie sprach bisweilen von Ihnen, gnädiges Fräulein, und ’at
-sehr geklagt, daß Sie gegangen sind auf und davon. Damals! Und weil sie
-wußte, daß ich die Ehre ’ab, Sie zu kennen, erzählte sie mir neulich,
-sehr froh, von Ihrem Wiederkommen.“
-
-„Aber davon ahnte ich ja gar nichts.“
-
-Er lachte. „Man kann doch nicht alles ahnen.“
-
-„Weshalb haben Sie mit mir in Rackow nie von Ihrer Liebe zur Musik
-gesprochen?“ Fast vorwurfsvoll, ein wenig schmollend, sagte sie es.
-
-„Ja -- weshalb nicht? Vielleicht ist mein Interesse erst später recht
-erwacht.“ Merivaux ging einige Schritte schweigend weiter. „Vielleicht
-sprach ich auch aus Trotz nicht. Ich weiß nicht recht.“
-
-„Das verstehe ich nicht.“
-
-„Vielleicht ... nun, vielleicht wollte der Dilettant die Konkurrenz mit
-dem ... wie sagt man doch -- mit dem Mann von Beruf nicht aufnehmen.“
-
-Er hatte das letzte zögernd gesprochen, fast wie widerwillig. Und es
-schien ihm sofort leid zu tun. Denn er sah wohl, wie Helene Hackentin
-ablehnend den Nacken straffte, daß sie starr geradeaus blickte und
-ihren Schritt beschleunigte.
-
-Sie ärgerte sich. Eigentlich traf’s ja doch den Kern der Sache, war’s
-ganz richtig, was Merivaux eben gesagt hatte: der Dilettant tritt immer
-vor dem Berufskünstler zurück.
-
-Nun war er wieder an ihrer Seite.
-
-„Was studieren Sie jetzt mit Frau Harriers, wenn ich fragen darf?“
-
-Noch immer konnte sie sich nicht ganz überwinden. Ganz kurz gab sie
-zurück: „Die Partie der Elsa ...“
-
-„Eine schöne ... eine sehr schwere Aufgabe. Schwer wie fast alles von
-diesem Maestro Wagner. Man muß sich ganz in ihn hineinleben, wenn man
-ihn recht verstehen will. Ich ’ab es versucht, aber es will nicht ganz
-glücken. Vielleicht muß man ganz ein Deutscher sein dazu?“
-
-„Warum das, Herr von Merivaux? Die Musik, die Kunst überhaupt ist doch
-wohl international?“
-
-„O nein! Nein doch, gnädiges Fräulein. Das sagt man wohl so, das ist
-aber nicht wahr. Man empfindet wohl nach, aber man empfindet nicht
-ganz. Es gibt Differenzen. Man kann Mozart überall verstehen und kann
-Auber überall verstehen. Aber Wagner nicht. Oder doch nicht gleich.
-Gerade weil er so ganz deutsch ist.“
-
-„Aber Wagner hat doch auch in Paris viele Bewunderer.“
-
-„Wenige, glaub ich. Man wollte ihn in Mode bringen, aber es ist nicht
-geglückt, trotz der Fürstin Metternich. Sie sollten nur sehen, wie sich
-die Karikatur über ihn lustig macht. Gavarni und Cham und Noël. Wie man
-spottet ...“
-
-„Das ist sehr häßlich.“
-
-„~Sans doute.~ Aber der Pariser liebt das so. Und das ’indert
-nicht, daß Wagner sich vielleicht doch Bahn machen wird, langsam,
-langsam --“
-
-Da waren sie wieder am Ende der Promenade angelangt, und Wilhelm
-unterbrach ihr Gespräch. Er hatte einen freien Tisch unter einer der
-Hallen erspäht und behauptete, einen unendlichen Durst zu haben.
-
-Man kam sehr spät nach Hause. Weit nach Mitternacht. Aber Helene lag
-noch lange, ohne Schlaf finden zu können. Eigentlich klang immer nur
-das eine Wort, das Merivaux gesprochen, in ihr nach, das Wort von dem
-Dilettanten und dem „Mann des Berufs“ -- dem Künstler, hätte er sagen
-sollen. Ja, dem Künstler! Die Gestalt Alfreds stieg wieder auf, aber es
-war nur noch ein Schatten. Nur daß sie daran dachte: merkwürdig, daß er
-in all den Stunden, die wir zusammen waren, fast nie ernst über seine,
-über unsere Kunst gesprochen hat. Immer glitt er darüber hin, berührte
-höchstens das Persönliche, soweit es ihn und vielleicht noch mich
-anging ... nie gab er mehr ...
-
-Es war ja auch nichts Tiefgründiges, was sie mit Merivaux gesprochen
-hatte. Gewiß nicht. Aber es war ihr so überraschend gekommen, weil sie
-den Neuchateller so ganz anders eingeschätzt hatte, lediglich als den
-lustigen, flotten Leutnant. Wie man sich doch im Menschen irren kann,
-dachte sie. Und dachte auch flüchtig an Holfen. Auch bei ihm hatte sie
-Interessen gefunden, die sie nicht erwartete. Aber es war doch wieder
-ein Unterschied dabei: Holfen war gewiß ein gescheiter, liebenswürdiger
-Mann, aber er hatte kein Temperament. Und bei Merivaux verriet
-sich das überall und immer. Merkwürdig, auch in Äußerlichkeiten. Er
-war anders als die meisten. Wie eigen er ihr beim Abschied die Hand
-gedrückt hatte, so gar nicht konventionell. Sehr frei und frank, und
-doch sehr ehrerbietig.
-
-Am nächsten Morgen dachte sie nicht mehr an ihn. --
-
-Eine Woche später begannen für die Jungens die Großen Ferien, und es
-ging nach Rohlbeck; nur Wilhelm blieb, mit einem lachenden und einem
-weinenden Auge, zurück.
-
-Und wieder eine Woche später fuhr Helene, einer dringenden Einladung
-von Tante Marie folgend, auf einige Tage nach Rackow.
-
-Als sie, in ziemlich früher Vormittagsstunde, durch das Parktor bog,
-sah sie dicht vor ihrem Wagen, fast schon an der Veranda, einen im
-ganzen Kreise wohlbekannten und gefürchteten Mann: Herrn Wilke aus
-Stellberg. Sie hatte zwar seine persönliche Bekanntschaft noch nicht
-gemacht, aber ihn doch schon, auch in Rohlbeck, gesehen, wenn er bei
-einem der Kleinbauern oder bei dem Krämer sich als unwillkommenster
-aller Gäste einfand. Und sie dachte verwundert: ‚Mann des Gesetzes, wie
-kommst du hierher?‘
-
-Aber da stand schon Onkel Ernst, vergnügt lachend, neben seinem
-diskret grinsenden Höhne auf der Veranda und begrüßte sie beide fast
-gleichzeitig: „Tag, Leneken! Herzlich willkommen. Nimm die Sachen vom
-gnädigen Fräulein, Höhne. Tante ist im Gartensalon, Kind ... Ja, und da
-sind Sie ja mal wieder, lieber Wilke. Freut mich, Sie von Angesicht zu
-Angesicht zu sehen. Aber Sie sollen doch nicht mit der Dienstmütze auf
-den Hof kommen! Das macht einen schlechten Eindruck, mein Lieber.“
-
-Der lange Labammel stand militärisch stramm: „Vorschrift, Herr Baron.“
-
-„Ach was, Vorschrift! Na, spazieren Sie nur herauf. Was gibt es denn
-Schönes?“
-
-„Sechstausend vierhundert Taler, Herrn Baron zu dienen, und einhundert
-achtundsechzig Taler fünf Groschen Kosten.“
-
-„I, sieh mal einer an. Ja, wissen Sie, Wilke, da gehen Sie nur morgen
-mit der Chose zu Ephraim Herz. Der wird’s bezahlen.“
-
-„Unmöglich, Herr Baron. Wie der Lateiner sagt: ~Hinc Rhodus, hinc
-saltus!~“
-
-„Ihr Latein ist schwach, Wilke. So, nun setzen Sie sich erst mal.
-Höllisch heiß heut. Was? Erst ’ne kleine Stärkung. Höhne, besorgen
-Sie ein Frühstück und eine Flasche Burgunder. Unser Herr Wilke ist
-ein Kenner. Bringen Sie aber auch einen guten Korn mit herauf. Na, so
-setzen Sie sich doch, Wilke.“
-
-Der lange Mann stand noch immer, hatte das rote Schnupftuch
-herausgezogen, wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und von
-der großen roten Nase, die es mit der berühmten Koralle des Doktor
-Tiburtius aufnehmen konnte. Er zögerte sichtlich. „Gnädigster Herr
-Baron,“ meinte er, „so geht das nicht. Erst der Dienst. ~Officinum
-ante omnia.~ Ja, Herr Baron, das vom vorigen Male -- das passiert
-mir nicht wieder. Da können der Herr Baron Gift drauf nehmen.“
-
-„Aber wo werd ich denn, Wilke. So, hier setzen Sie sich, alter Freund
-und Bogenschütze, und heben Sie erst einen Kleinen. Alles der Reihe
-nach.“
-
-Helene hatte das wunderliche Gespräch, etwas neugierig, etwas
-ängstlich, aus dem halbdunklen kühlen Korridor mit angehört. Dann war
-sie zu Tante Marie geflitzt, die in einem hellblauen Batistkleide, das
-über und über mit weißen Spitzen besäumt war, im Gartensalon auf der
-Chaiselongue lag und in dem neuen Roman von Fanny Lewald blätterte;
-hatte Grüße von den Eltern gebracht, war auf ihrem Stübchen, diesmal
-der „Bärenhöhle“, gewesen, hatte sich ein wenig eingerichtet. Als
-sie wieder herunterkam und auf die Veranda hinauslugte, saß da immer
-noch Onkel Ernst, und ihm gegenüber saß Herr Wilke; zwischen ihnen
-standen die Reste eines stattlichen Frühstücks und einige dickbäuchige
-Flaschen. Onkel Ernsts Vollmond glänzte eitel Wonne, und Wilkes Nase
-glänzte in dem alten Unteroffiziersgesicht wie Purpur.
-
-„Ja, ja, mein lieber alter Wilke, man hat seine Not“, klang Onkel
-Ernsts sanfte, einschmeichelnde Stimme. „Aber man muß sich die Laune
-nicht verderben lassen. Erst noch ein Schlückchen Burgunder. Das ist
-1848er Romané, mein Bester, so was kriegen Sie nicht alle Tage. He?“
-
-„Hab ich mein Leblang noch nicht getrunken, Herr Baron. ~Nullum vinum
-nisit franciscum.~ Aber man soll des Guten nicht zu viel tun. Der
-Dienst, gnädigster Herr Baron --“ Er knöpfte an seinem Rock und zerrte
-eine dicke Brieftasche heraus. „Sechstausend vierhundert --“
-
-„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst noch ein
-Gläschen. Prosit! -- Ach, da bist du ja, Leneken. Komm, setz dich ein
-bissel zu uns. Wilke, Sie kennen doch das Rohlbecker gnädige Fräulein?“
-
-„Wo werd ich denn nich?“ Herr Wilke erhob sich etwas schwer und
-umständlich, schwenkte ein weniges mit dem langen Oberkörper. „Ich war
-schon mal beim gnädigen Herrn in Rohlbeck, als das gnädige Fräulein
-noch in die Windeln lagen, mit Respektus zu melden.“
-
-„Ja, Ihr segensreiches Wirken, mein lieber Wilke, geht durch
-Generationen. Wir wissen es. Immer im Dienst voran. Immer die Pflicht
-über alles. Der Mensch braucht Stärkung, um für Dienst und Pflicht die
-rechte Kraft zu finden. Prost, mein lieber alter Wilke.“
-
-„Danke, Herr Baron, danke untertänigst. Ein wunderbares Weinchen, das
-der Herr Baron im Kellerchen haben. Ist ja auch berühmt, der Rackower
-Keller. Aber nu müssen wir doch wohl --“
-
-„Nachher, lieber Wilke. Alles zu seiner Zeit. Erst das Vergnügen und
-dann die Pflicht. Ja, alter Wilke, wie lange kennen wir uns eigentlich?
-Aber so trinken Sie doch. Das ist ja geradezu beleidigend, Sie so
-sitzen zu sehen, so trocken.“
-
-„Na, gnädigster Herr Baron, das wird woll sohner Jahre zwanzig her
-sein. Vor dem Einzug von der gnädigsten Frau. Damals liefen immer die
-Wechsel von Hartwich Stern aus Frankfurt!“
-
-„Sieh mal einer an, was Sie für ein Gedächtnis haben. Den wackeren
-Geschäftsfreund deckt nun auch schon die kühle Erde. Aber wir beide
-wollen auf sein Gedächtnis mal gleich ein stilles Glas trinken.“
-
-Helene Hackentin saß an der Querseite des Tisches und wußte nicht
-recht, ob sie sich schämen oder ob sie lachen sollte. Doch wohl lieber
-lachen. Um etwas Wichtiges konnte es sich ja nicht handeln. Onkel Ernst
-lachte ja auch sein ganz leises, fast unhörbares Lachen, bei dem sich
-die beiden Mundwinkel so seltsam nach unten zogen. Dann und wann sah
-er unter seinem Einglas, das wie angemauert vor dem Auge lag, „um die
-Ecke“ und nickte Lene zu.
-
-Sicher: das Ganze war ein Witz. Sonst wäre Tante Marie ja auch nicht
-so ruhig gewesen. Sie hatte vorhin sogar zu Höhne gesagt: „Sorgt nur
-dafür, daß der alte Wilke sein ordentliches Maß bekommt.“
-
-Und jetzt gab Onkel Ernst dem Höhne ein geheimnisvolles Zeichen.
-Der stellte neue Gläser und eine Flasche Champagner auf den Tisch.
-Worauf Herr Wilke die Hände spreizte: „~Apage Satanum!~ Nee, Herr
-Baron, das geht wirklich nicht. Über allem der Dienst. Sechstausend
-vierhundert --“
-
-„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst werden wir
-mal dieser Pulle nähertreten. Leneken, du trinkst auch ein Schlückchen
-mit.“ Der Korken fuhr gegen das Verandadach. „Veuve Cliquot, braver
-Wilke. Die edelste aller Witwen soll leben! Na, Witwe? Da haben Sie’s
-anders gemacht -- was? Seit wann sind Sie denn Witwer?“
-
-„Seit acht Jahren, Herrn Baron zu dienen.“
-
-„Also, das nächste stille Glas der teuren Verewigten. Schlimm, was? --
-So als einsamer Witmann.“
-
-„Es geht, Herr Baron, es geht. Man muß sich trösten.“
-
-„Da haben Sie ganz recht, guter Wilke. Und ein stattlicher Mann wie Sie
-findet schon Trost. Darauf müssen Sie mal trinken.“
-
-Es wurde allmählich Helene zu bunt. Sie schlich sich fort, ging
-hinunter zu den Beeten am See, wo Tante Marie vom Mai bis in den Herbst
-hinein Erdbeeren zur Reife zu bringen wußte. Es gab da heut etwas
-Besonderes zu sehen. Quer über die Senke hinweg steckten Arbeiter mit
-langen Stangen eine schnurgerade Linie ab; drüben am Hang stand eine
-kleine Gruppe Männer um ein dreibeiniges Gestell, das ein Etwas, fast
-wie ein Fernrohr, trug. „Unse Isenbahn!“ erklärte der alte Gärtner mit
-Stolz.
-
-Unsere Eisenbahn: Wilhelms Eisenbahn! In zwei Jahren mochte sich hier
-ein hoher Damm über das Tal spannen, und die Lokomotive schnob pustend
-und fauchend darüber hin, hinter ihr drein polterte und ratterte der
-Zug, und eine endlose graue Rauchwolke zog sich bis drüben zum Waldsaum
-hin.
-
-„Da wer’n se noch ihre liebe Not mit han“, meinte Marhenke, der
-Gärtner. „Des is allens Sumpf, man bloß ’n bißken Sand druf. Wenn sie
-hier Boden ruff karrn, schlingt der Sumpf allens runter. Das geiht so
-nich, wie se sich dat denken. Dat weeß ich beter.“
-
-Helene lächelte. Sie wußte es erst recht besser: der Ingenieur fand
-schon Abhilfe. Und wenn der Sumpf wirklich den einen Damm fraß, dann
-türmte man den zweiten auf ihn; und wenn der unersättliche Grund
-auch den verschlang, legte die Technik den dritten von Hang zu Hang
-oder warf eine Eisenbrücke über die Senke. Die Eisenbahn war der
-Fortschritt, und der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten.
-
-Langsam schlenderte sie zwischen den schmalen Beeten des Gemüsegartens
-hin. Ihr kam Bruder Fritz, der rote Kreisrichter, in den Sinn. Da
-hatte sie ja eben dessen Schlagwort nachgebetet: Der Fortschritt läßt
-sich nicht aufhalten. Du lieber Gott, war das nicht am Ende auch nur
-ein +Wort+? Solch ein Wort, das nur den Weg in ödes Land wies,
-wenn man es verallgemeinerte. Ein an sich gutes Wort, das zur Phrase
-geworden war in einem unfruchtbaren Kampf.
-
-Der Bruder tat ihr leid, und Vater erst recht. Zwischen beiden hatte
-das eine Wort Zwietracht gesät. Da half kein Brückenschlagen. Der große
-Sumpf, Politik geheißen, verschlang jeden Versuch der Verständigung.
-Als Martha, die immer versöhnen wollte, gestern von Fritzens Besuch
-in Berlin erzählte, hatte Vater bloß gesagt: „Laßt mich mit dem roten
-Kreisrichter zufrieden. Das heißt, die Stunde wird ja wohl noch kommen,
-wo er sein Unrecht einsieht.“
-
-Die Sonne stand hoch am Himmel. Es mußte fast Mittag sein. Nun hatte
-wohl auch endlich der lange Wilke das Feld geräumt.
-
-Aber als Helene wieder vor der Veranda stand, saß der gestrenge Beamte,
-der Schrecken dreier Städtchen und von zehn Dörfern, immer noch auf
-seinem Stuhl. Saß freilich ganz in sich zusammengesunken, mit vornüber
-geneigtem roten Kopf, aber immer noch die Hand am Glase.
-
-„Prosit, Wilkechen!“ sagte Onkel Ernst gerade. „Nun noch ein
-Schlückchen auf die Konstitution. Ich meine natürlich Ihre
-vortreffliche Konstitution!“
-
-„Jawoll ... Herr Baron ... die Konstitution ...“ Es war nur noch ein
-Lallen. „Sechstausend vierhundert ...“
-
-„Legen Sie’s nur dahin, Wilke“, meinte Onkel Ernst. „So, Leneken, nun
-könntest du eigentlich mal zum Großknecht laufen, der Ochsenwagen
-soll kommen.“ Dabei sah er prüfend unter dem Einglas um die Ecke,
-diesmal auf Herrn Exekutor Wilke, und lächelte zufrieden. Der hatte
-jetzt die Augen geschlossen und schnarchte wie das Vollgatter einer
-Schneidemühle, wenn die Sägen solch recht dicken Knorren im Stamm
-anfassen.
-
-Dann kam der Leiterwagen, mit zwei Ochsen bespannt. Der Amtmann
-Schmidhals schritt höchstselbst daneben her und half den Schlafenden
-aufladen. Wie ein Toter lag er da. Onkel Ernst legte ihm die Mütze und
-das dicke Taschenbuch auf den Bauch und faltete ihm die Hände darüber,
-schob ihm auch noch den Kopf recht bequem auf dem Strohbündel zurecht.
-
-„So --“ meinte er dann. „Christian, du fährst hübsch langsam nach
-Stellberg und ladst Wilken vor seinem Hause ab. Und sagst dem ältesten
-Jungen, der Vater sollte morgen zu Ephraim Herz gehen, der brächte
-alles in Ordnung. Pascholl, Christian!“
-
-Und da war plötzlich auch Tante Marie, besah sich von der Veranda aus
-durch ihr Lorgnon das Schauspiel und lachte über das ganze kleine
-Gamingesicht. „Eigentlich scheußlich“ sagte sie dabei, „~... un
-ivrogne! Fi donc!~“ Und lachte wieder.
-
-Die Ochsen zogen an. Schwer rüttelte der Leiterwagen. Das Vollgatter
-rasselte dazwischen.
-
-Onkel Ernst kam langsam die Treppe hinauf, legte zärtlich seinen
-dicken Arm um die dünne Taille seiner Frau, die neben ihm wie ein
-winziges, zierliches Püppchen aussah, und meinte: „Können wir nicht
-bald essen, Mariechen? Das hat mir Hunger gemacht. Und einen Durst
-habe ich -- einen Durst! Komm, Leneken ... wir wollen uns ein kleines
-Erdbeerböwlchen brauen ...“
-
-Am liebsten wäre Helene Hackentin schon am nächsten Tage nach Rohlbeck
-zurückgefahren. Sie konnte einen leisen Ekel nicht überwinden. Das
-elegante Rackow übte auch nicht mehr den früheren Reiz auf sie aus.
-Jetzt, plötzlich, empfand sie, wie schal und inhaltlos doch das Leben
-hier war, wie ganz auf das Äußere gestellt, ein Leben völlig in den Tag
-hinein. Und zum erstenmal hatte sie einen Blick hinter die Kulissen
-getan: der Glanz hier war auch nur Schein, mühsam genug vielleicht
-aufrechterhalten.
-
-Ganz wunderliche Gedanken kamen ihr, ganz revolutionäre Gedanken. Da
-waren die Rackower: jetzt wußte sie, schwer verschuldet waren sie,
-hatten ihren Reichtum vergeudet. Da saßen die Eltern in Rohlbeck:
-die hatten immer sparsam gelebt und doch so schlecht gewirtschaftet,
-daß sie nun arm waren wie die Kirchenmäuse, wenn man’s klipp und klar
-heraussagen wollte. Nicht viel anders stand es wohl, mit Ausnahme
-vielleicht von Onkel Grucker, der auf seinem schönen Majorat saß, mit
-den anderen Verwandten und Nachbaren im Kreise.
-
-Hatte da Bruder Wilhelm nicht recht, wenn er hinausgegangen war von
-der Klitsche in die Großstadt, um sich neue Erwerbsmöglichkeiten zu
-erschließen?! Aber freilich: er hatte das Hackentinsche Blut mit
-hinübergenommen. Auch er verstand das Zusammenhalten nicht. Das
-Geld zerrann ihm unter den Händen. Gerade jetzt wieder. Eigentlich
-trieb er’s mit seinem Gewinn aus der Bahnkonzession auch nicht viel
-anders, wie es die Eltern getrieben hatten, als ihnen die letzte große
-Erbschaft ins Haus gebracht worden war und sie die Geldtönnchen unters
-Bett gestellt und aus ihnen geschöpft hatten, bis das letzte Goldstück
-fort war.
-
-Das Hackentinsche Blut! Vielleicht, gewiß war’s nicht nur das
-Hackentinsche. Ganz ähnlich, ganz gleich mochte das Blut in den Adern
-der anderen Verwandten und Nachbaren rollen. Wer wirtschaftete denn
-hier im Kreise wirklich erfolgreich? Die einen verschwendeten, die
-andern darbten fast und kamen doch auf keinen grünen Zweig, zehrten
-auch nur vom Ererbten und mehrten es nicht.
-
-Einer machte vielleicht eine Ausnahme: Holfen. Aber der gehörte eben
-schon einer neuen Generation an.
-
-Lag bei dieser neuen Generation wohl die Zukunft?
-
-Helene mußte an die Jungens denken, an Wilhelms Söhne, Hans und Thedi.
-Und dabei wieder an Martha. Vielleicht schlug in ihnen Marthas Blut
-durch. Vielleicht erbten sie von ihr die Gabe des Festhaltens, den
-gesunden, aufs Praktische gerichteten Sinn.
-
-Eigentlich waren ihr die Jungens fremd geblieben. Wie einem wohl oft
-das Nächste am fremdsten bleibt. Als unartige Bengels, die oft lästig
-wurden, hatte sie sie meist empfunden. Nun grübelte sie ihnen nach.
-Der Älteste hatte doch viel von der Mutter, einen nachdenklichen Sinn;
-ein Bücherwurm war er. Thedi war äußerlich ganz hackentinsch, war auch
-Vaters Liebling. Glänzend begabt, hieß es; es flog ihm alles zu, was
-der Hans mühsam erobern mußte. Aber er hielt nichts recht fest. Um ihn
-konnte man Sorge haben.
-
-Eine ordentliche Sehnsucht nach den Jungens überkam Helene, fast als
-wäre sie seit Wochen von ihnen getrennt. Auch das zog sie wieder nach
-Rohlbeck zurück.
-
-Aber aus Rackow kam man nicht so leicht fort. Onkel Ernst und Tante
-Marie waren von einer Güte und Liebenswürdigkeit, der man gar nicht
-widerstehen konnte. Mochten sie sonst sein wie sie wollten: sie übten
-geradezu einen Zauber aus in ihrer grenzenlosen Gastlichkeit.
-
-Jetzt war auch das Haus wieder voll. Die kleine, mollig runde Grete
-Waldegg wohnte im „Alpenröschen“; Vetter Mollard, der gerade von
-Florenz zurückgekommen war, wo er zwei Jahre lang Attaché gespielt
-hatte, war in der „Bleikammer“ einquartiert, und Merivaux, der sich
-plötzlich angesagt hatte, war gestern abend in den „Pfau“ eingezogen.
-In der „Nachtigall“ aber hauste Bernhard Rose, ein mittelloser junger
-Student, der nun schon zum zweiten Male ein paar Sommermonate in Rackow
-zubringen durfte, um sich ein wenig herauszufüttern. Helene kannte ihn
-bereits. Im vorigen Sommer war er mit hohlen, blassen Wangen gekommen
-und wesentlich erholt abgereist. Das war auch etwas, was immer wieder
-mit Tante Marie versöhnte: ihre Gutherzigkeit war so grenzenlos wie
-ihre Gastlichkeit -- beide freilich gaben sich oft nach Laune und
-fragten nicht viel nach wie und warum.
-
-Das junge Volk war sehr fidel, und Onkel Ernst und Tante Marie taten
-mit. Immer stand etwas Neues auf dem Tagesprogramm. Einmal fuhr die
-ganze Gesellschaft nach dem Walde hinaus, in die Haselberge, auf zwei
-mächtigen Leiterwagen, um draußen herumzutollen; ein andermal gab’s
-eine festliche Krocketpartie, in der die Sieger mit Rosenkränzen
-belohnt wurden; im Dorfwirtshaus wurde ein Preiskegeln veranstaltet,
-oder es ging nach Nugow, um den alten Grafen Delkowitz, Edlen von
-Kastricz, in seiner grauen Johanniterburg zu überfallen, seine
-Segelboote mit Beschlag zu belegen und ein paar Schläge über den großen
-Nugower See zu machen.
-
-An den Abenden wurde oft musiziert.
-
-Der kleine, blasse Student war ein ganz tüchtiger Klavierspieler,
-der sogar vor schwereren Aufgaben nicht zurückzuschrecken brauchte.
-Aribert Mollard klimperte schlecht und recht die Gitarre, und die
-rundliche, mollige Grete Waldegg sang dazu mit offenbarem Wohlgefallen,
-mehr schlecht als recht, irgendwelche Liedchen. Merivaux hatte sein
-Instrument mitgebracht.
-
-Helene war begierig, ihn zu hören. Geradeso begierig, wie sie
-überrascht gewesen war, als er ihr davon erzählte, daß er Violine
-spiele.
-
-Nun: er war kein Meister. Sie hörte es sofort heraus. Aber er war auch
-kein Stümper, und sein Spiel hatte eine angenehme persönliche Note. Es
-war so frisch, so natürlich und so anspruchslos, wie sein ganzes Wesen.
-Sie konnte nicht anders: sie mußte ihm nach seinem Vortrag ein paar
-freundliche Worte sagen.
-
-Er legte gerade sein Instrument in den Kasten zurück, sah auf,
-lächelte, fast ein wenig trübe: „Der gute Wille ist das beste an meinem
-Spiel, glaub ich ...“ und setzte dann rasch hinzu: „Aber ich bin sehr
-glücklich, wenn es Ihnen wenigstens nicht mißfiel!“
-
-Da wurde Helene gerufen. Fast immer mußte sie ja zum Schluß singen.
-Onkel Ernst steckte jedesmal eine komisch-feierliche Miene auf, wenn er
-sie dazu aufforderte: er zwang seinen ungeheuerlichen Körper zu einigen
-tänzelnden Schritten, machte ihr eine großartige Verbeugung, sprach in
-seinem weichsten Tonfall von der Gnade, die die erhabene Künstlerin
-seiner niederen Hütte antue --, und stellte ein fürstliches Honorar in
-Aussicht. Unter tausend Louisdor tat er es nicht.
-
-Als sie zum erstenmal im roten Damastsalon an den Flügel getreten war,
-kam ein leises Beben über sie. Die Erinnerung wurde wach an jenen
-Abend, da sie hier, hier vor Schwarz gesungen hatte. Aber eine kleine
-Willensanspannung genügte, und sie war darüber hinweg. Und war froh,
-daß es nicht schwerer gewesen.
-
-Heut sang sie den Schubertschen „Erlkönig“.
-
-Während sie sang, freute sie sich nur des verständnisvollen Begleiters,
-des kleinen Studenten. Aber auch das und alles andere, das Äußerliche,
-versank wie immer vor ihrer Seele.
-
-Sie versetzte, versenkte sich ganz in die Dichtung. In die
-Märchenstimmung. Sie fühlte mit dem Vater, der mit seinem Kinde durch
-Nacht und Wind reitet; sie empfand die angstvollen Fragen des Kleinen
-mit. Sie kämpfte mit dem Reiter gegen das Phantom, sie erlebte mit
-ihm die wilde, rasende Flucht und daß sie umsonst blieb gegen die
-Naturwelt. Und ihr selbst war’s wunderbar, wie sie nun gelernt hatte,
-all das im Gesang auszudrücken. Frage und Antwort von Kind und Vater,
-die Lockungen des Erlkönigs, den ganzen Stimmungsgehalt des Liedes.
-
-Sie dachte, während sie sang, an nichts als an ihre Kunst. Am wenigsten
-dachte sie an Merivaux.
-
-Aber als sie geendet hatte und sich umsah, sah sie zuerst ihn. Der
-Zufall wollte, daß er genau an der Stelle stand, wo an jenem Abend
-Schwarz gestanden: hinter all den fröhlichen Beifallsspendern, allein,
-an der Tür. Er klatschte auch nicht, wie die anderen. Still stand er,
-mit leichtgesenktem Kopf. Er kam auch nachher nicht zu ihr, um ihr
-irgendeine Liebenswürdigkeit zu sagen, ein Wort der Anerkennung.
-
-Ein wenig verdroß es sie doch. Sie wußte ja, daß sie gut gesungen
-hatte. Gar so schweigsam, gar so zurückhaltend brauchte er auch nicht
-zu sein.
-
-Recht zur Besinnung darüber kam sie nicht. Denn Onkel Ernst schlug,
-nachdem „sich der Beifall ausgetost“, wie er meinte, noch einen
-Mondscheinspaziergang vor. „Und am Brockenhäuschen soll unsere
-~Primadonna assoluta~ ihr fürstliches Douceur erhalten.“
-
-Es war herrlich im Park. Der Mond stand hoch am sternhellen Horizont,
-die Taxushecken, die Baumgruppen warfen lange Schatten auf die
-bekiesten Wege. Auf den heißen Julitag war die abendliche Abkühlung
-gefolgt. Ganz im Westen, auf Rohlbeck zu, wetterleuchtete es.
-
-Das junge Volk tollte um das Rackowsche Ehepaar herum, das Arm in Arm,
-im langsamsten Tempo, den leichten Hang zum Brockenhäuschen hinaufging.
-Es war ein ewiges leises Kichern, Plaudern, Raunen, Flüstern.
-
-Oben, unter dem Brockenhäuschen, stand Höhne, ein Tablett in der
-Hand, auf dem ein geheimnisvolles Etwas unter der Serviette lag. Auf
-dem Tisch neben ihm stand eine Bowle in Eis. Ein paar Windlichter
-leuchteten. Und Onkel Ernst hielt eine kleine Rede, an deren Schluß
-er das geheimnisvolle Etwas gleich einem Denkmal enthüllte: „Unserer
-Primadonna, unserer Rohlbecker Helene!“
-
-Es war eine Torte. Eine große Torte mit Marzipanguß, der einen Kranz
-von lauter Goldfüchsen darstellte: „Das Süße der Süßesten“, verkündete
-Onkel Ernst und füllte die Gläser. „Aber nun gleich anschneiden!
-Vorwärts, Höhne! Die ersten beiden Stücke müssen zwei um die Wette
-essen: Grete und Aribert! Keinen Widerspruch. Hier, Grete, hier stellst
-du dich hin, dort, Mollard, du ... und nun soll Lene zählen: eins,
-zwei, drei!“
-
-Da standen sie nun wirklich, wie zwei gehorsame Kinder, hatten jedes
-ihr Tellerchen in der Hand mit einem Stück Torte darauf, und Helene
-zählte: eins -- zwei -- drei --
-
-Aber sie hatten kaum zum erstenmal hineingebissen, so gab es ein
-ungeheures Spucken, Prusten und Husten. Die mollige Grete ließ den
-Teller zur Erde fallen, Mollard schluckte verzweifelt und rollte die
-Augen wie ein Erstickender. Onkel Ernst und Tante Marie wollten sich
-totlachen.
-
-Die Torte, dies Meisterwerk von Monsieur Bombourdon, war aus Sägespänen
-gebacken. Aus richtigen holzigen, kienigen, märkischen Sägespänen, die
-sich wie Harz an die Zähne der unglücklichen Opferlämmer festsetzten,
-die wie Leimbrocken an Lippen und Zunge klebten. Bis Höhne jedem als
-Erlösungstrank einen Becher Bowle brachte.
-
-Es war wieder einer jener Momente, in denen Helene nicht recht
-mitkonnte. Sie sah und hörte, wie alle lachten und kicherten, bald
-Grete und Aribert am meisten. Aber sie stand ein wenig abseits, ein
-wenig verlegen. Und plötzlich bemerkte sie, daß auch Merivaux sich
-abgesondert hatte. Der Neuchateller schien gleich ihr für diesen
-märkischen Junkerscherz kein rechtes Verständnis zu haben.
-
-Die Bowle war schnell geleert, und wieder unter Plaudern und Lachen
-ging es durch die Mondscheinnacht dem Schlosse zu. Höhne hatte die
-Gitarre holen müssen, Mollard sang sinnig-minnig: „Guter Mond -- du
-goldne Zwiebel --“ und die mollige Grete machte schwärmerische Augen.
-
-Es war wohl Zufall, daß Helene Hackentin und Merivaux ein wenig
-zurückblieben.
-
-Aber als Helene das fröhliche Kichern und Raunen da vorn hörte, in
-das sich manchmal Onkel Ernst mit einer seiner, im leisen Hofton
-vorgebrachten drolligen Bemerkungen mischte, überkam auch sie etwas wie
-Übermut. Eine jugendliche, unbezwingbare Lust, den Neuchateller ein
-wenig aus seiner Verschlossenheit herauszuwerfen.
-
-„Sie sind heute wirklich gar nicht nett, Herr von Merivaux --“ sagte
-sie schmollend.
-
-Er zuckte zusammen, wie aus einem Traum aufgestört.
-
-„Wodurch ’ab ich mir die Ungnad zugezogen?“ fragte er dann.
-
-„Der einzige waren Sie, der mir kein Wort über meinen Gesang gesagt hat
-...“
-
-Da sah er sie voll an: „Legten Sie Wert darauf, gnädiges Fräulein?“
-
-Eine leichte Verlegenheit mußte sie doch überwinden: „Ich würde es
-sonst nicht bemerkt haben ...“ Helene wollte die Worte ein wenig kokett
-herausbringen, aber es gelang ihr nicht recht. Sie klangen ziemlich
-ernst. Und sie fügte schnell hinzu: „Schon deshalb muß ich Wert auf
-Ihr Urteil legen, weil Sie der einzige hier sind, der wirkliches
-Verständnis für Musik hat.“
-
-„Sie vergessen mindestens unseren kleinen Studenten.“
-
-„Nein, nein! Herr Rose hat, wie wohl alles, auch sein Klavierspiel nur
-durch eisernen Fleiß errungen. Musik aber muß man fühlen.“
-
-„Und wenn ich nun gerade deshalb nicht in den lauten Beifall einstimmen
-konnte?“
-
-Helene erschrak. Sie blieb stehen. „Hab ich denn schlecht gesungen?“
-
-Nun blieb auch er stehen. „Nicht doch! ~Au contraire.~ Wie Sie das
-nur annehmen können. Gerade weil Sie sangen so schön, so wunderschön,
-gerade deshalb konnt’ ich nicht applaudieren wie die anderen. Ich
-konnte nicht.“
-
-Er hatte sehr schnell gesprochen: wie dann immer, wieder mit seinem
-leichten Akzent. Helene freute sich aufrichtig. Hundertmal mehr als
-über den ganzen Beifall im Damastsalon. Freute sich, und zugleich wurde
-der Übermut wieder in ihr lebendig. Wieder meinte sie schmollend, ein
-wenig kokett: „Aber ein freundliches Wort hätten Sie doch für mich
-haben können. Sie sind doch sonst nicht verlegen um Worte, Herr von
-Merivaux.“
-
-Wie sie das gesagt hatte, fühlte sie plötzlich, daß sie beide allein
-waren. Die anderen waren weitergegangen, schon hinter den Taxushecken
-verschwunden. Ganz leise nur klang noch das Kichern zurück, dann
-und wann ein schwacher Ton der Gitarre. Ganz allein standen sie im
-Mondenschein, der so hell leuchtete, daß sie jede Bewegung seines
-Gesichtes erkennen konnte. Und sie sah, daß es in diesem schönen,
-offenen Gesicht arbeitete.
-
-„Wir müssen gehen,“ brachte sie beklommen hervor.
-
-Er schüttelte den Kopf. „Bitte -- nein!“ sagte er heiß. „Ich muß Ihnen
-erklären, Fräulein ’elene, warum ich nicht sprechen konnte vorhin.
-Erklären, was auf mir gelegen hat seit Jahr und Tag. Warum ich Ihnen
-ausgewichen bin. Ja, ausgewichen! Bis dann der Zufall mich wieder mit
-Ihnen zusammenführte. Neulich! ~Une chance heureuse~ -- wer weiß
-es? -- vielleicht das Unglück meines Lebens.“
-
-„Herr von Merivaux ... bitte ...“
-
-Da stand er vor ihr, die Hände auf der Brust, mit zuckendem Gesicht,
-sah sie mit seinen großen, ehrlichen Augen an, fragend, forschend,
-flehend: „Ein paar arme Minuten nur schenken Sie mir ...“
-
-Und sie konnte nicht nein sagen, er zwang sie. Sein Wille zwang sie.
-
-„Wie ich da stand heut abend im Salon, und Sie sangen so wunderschön,
-da mußt ich denken an einen anderen Abend. Sie ’aben damals gesungen
-nicht ’alb so vollendet, aber ich hab schon gespürt die Seele in Ihrem
-Gesang. Vielleicht, weil ich Sie liebte. Damals schon. Aber da war der
-andere. Und ich fühlte ganz deutlich, daß Ihre Gedanken nur bei ihm
-waren. All Ihre Gedanken. Und ich muß Sie fragen. Um die Gnade Gottes:
-Sie liebten ihn?“
-
-Daß sie hätte fliehen können! Weit weg -- weit weg! Aber da stand er
-vor ihr, mit seinem zuckenden Gesicht und den großen ehrlichen Augen,
-in denen es feucht schimmerte, hatte die Hände erhoben --
-
-Sie neigte nur leise den Kopf.
-
-Er blickte starr auf sie hin. Fragend, forschend, flehend. Mit
-zusammengepreßten Lippen. Auf eines Atemzugs Länge.
-
-„Und nun? Nun ist das vorbei?“ stieß er hervor.
-
-„Ja -- ganz vorbei --“ Es war nur ein Hauch. Aber es zwang sie, es
-zwang sie: sie mußte aufsehen, mußte ihn ansehen.
-
-Und wie sie ihn ansah, im hellen Mondlicht in sein Gesicht sah,
-da wußte sie mit einem Male: es sind Harros Augen, die dir
-entgegenleuchteten, Harros ehrliche, offene Augen, die dir sagen: ‚Ich
-liebe dich!‘
-
-Es war ein jähes Erstaunen in ihr, daß sie die Ähnlichkeit nie vorher
-bemerkt hatte, ein jähes Erschrecken: wie Merivaux wäre Harro
-geworden, wenn der Schnitter Tod ihn nicht hinweggerafft hätte -- wie
-Harro mußte Merivaux gewesen sein, als er ein Kind, ein Jüngling war.
-
-Gleich einem Traumbild war’s, das plötzlich vor ihrer Seele emporstieg,
-das in ihrem Herzen noch einmal eine Saite aufklingen ließ, die sie für
-immer zersprungen wähnte.
-
-Sie standen und sahen sich in die Augen.
-
-Die Saite klang und hallte leise, rief wehmütig weiches Empfinden wach.
-Schmerzliches Erinnern und sanfte Zärtlichkeit. Ein Neues strömte
-auf sie ein, fremd und doch wohlvertraut. Das Glück vielleicht --
-vielleicht --
-
-Und da hatte er sie schon in seine Arme geschlossen, fest und innig ans
-Herz genommen, küßte sie und küßte sie wieder.
-
-Sie hatte die Augen geschlossen, wehrte ihm nicht, lag an seiner Brust.
-
-Seine Lippen fühlte sie, seine Wange an ihrer Wange, sein Atem ging
-über ihr Gesicht. Liebesworte hörte sie dicht an ihrem Ohr, zärtlich,
-flehend. Und ihr Blut pulste und rauschte. Immer enger umschloß sie
-sein Arm, seine Hand glitt sanft über ihren Nacken, über ihr Haar. Ihr
-Herz pochte. Pochte lauter und lauter. „Küsse mich!“ bat er. „Küsse
-mich!“
-
-Und sie küßte ihn. --
-
-Plötzlich schraken sie auseinander.
-
-Laute Stimmen kamen, hastige Schritte, wie im Lauf.
-
-Höhne mit einer Blendlaterne und einem Blatt Papier in der Hand.
-Unmittelbar hinter ihm Onkel Ernst, keuchend: „Helene! Helene!“
-
-Hand in Hand standen sie. Hand in Hand gingen sie ein paar Schritte ihm
-entgegen.
-
-Merivaux wollte sprechen, erklären.
-
-Aber Onkel Ernst warf nur einen flüchtigen Blick auf sie. Nun er dicht
-heran war, sahen sie sein erschrockenes Gesicht.
-
-Er keuchte noch immer. Mühsam nur brachte er es heraus: „Erschrick
-nicht, Helene ... wo hast du denn den Brief, Höhne ... Helene, liebes
-Kind -- der alte Rittmeister -- dein guter Vater -- ist plötzlich
-schwer -- sehr schwer erkrankt --“
-
-Nach Onkel Ernsts Hand griff Helene, griff dann nach dem Brief. Höhne
-hob die Blendlaterne hoch, leuchtete --
-
-Der kleine Bogen flatterte auf den Kies.
-
-Einmal, ein einziges Mal schluchzte Helene auf und sank in Merivaux’
-Arme.
-
-
-
-
-Zehntes Kapitel
-
-
-Als Helene nach Rohlbeck kam, war Vater bereits seit zwei Stunden
-verschieden. Ohne schweren Todeskampf war der alte Rittmeister
-hinübergegangen zu den ewigen Heerscharen. Martha führte die Schwägerin
-zu ihm. Er lag wie ein Schlafender auf seinem schmalen Bett. Auf dem
-Nachttisch standen zwei Lichter. Das Fenster des Sterbezimmers war
-geöffnet, nach altem märkischem Brauch. Die Kerzenflammen flackerten
-leicht in der Zugluft, und der wechselnde Reflex gab dem stillen
-Greisengesicht dann und wann den Schein des Lebens.
-
-Helene warf sich am Bett auf die Knie, griff nach Vaters Hand, schrie
-auf, drückte den Kopf neben Vaters Haupt in das Kissen, schluchzte
-und weinte. Sie wollte nicht glauben, daß Vater tot wäre. Sie konnte
-überhaupt keinen Gedanken fassen. Zum erstenmal in ihrem Leben stand
-das große ewige Rätsel des Vergehens vor ihr, und ihr war’s, als müßten
-ihr Schmerz und ihr Flehen den Vater erwecken können, als müßte Gott
-sich erbarmen und ein Wunder tun.
-
-Nicht fassen und nicht begreifen konnte sie auch dann, als Martha sie
-mit sanfter Gewalt emporhob, als der alte Heckstein kam und, selber mit
-tränenden Augen, tief ergriffen, ihr milden Trost zuzusprechen suchte.
-
-Nicht fassen und nicht begreifen konnte ihre leidenschaftliche Seele,
-daß es einen Trost geben sollte für solchen Schmerz. Nicht fassen und
-nicht begreifen auch, wie ruhig und still die anderen waren. Mutter
-sogar. Die saß zwar am Fußende des Bettes, weinte dann und wann leise
-vor sich hin, aber sie fand doch Worte. Worte! Fragte, ob Wilhelm
-und Fritz benachrichtigt wären, ob das Läuten schon bestellt sei.
-Und Martha schaltete und waltete, dachte an alles, wollte Helene gar
-nachher drüben an den Kaffeetisch zwingen. Gott im Himmel! Hatten sie
-alle denn Vater so wenig lieb gehabt?
-
-Die Jungens standen scheu, verstört, mit roten Augen. Sie riß sie an
-sich -- die mußten doch mit ihr fühlen! Ja, die Tränen saßen ihnen
-locker. Aber nachher schlichen sie auf den Zehenspitzen zu ihren
-Kaffeetassen. Und drüben lag Vater, Großvater, der sie so sehr geliebt
-hatte!
-
-„Martha! Martha, wie ist es denn nur möglich! Wie ist’s denn nur
-gekommen?“
-
-„Du mußt ruhiger sein, Lene. Ehre Gottes Willen! Er hat unserem lieben
-Vater doch ein so langes Leben und einen so sanften Tod geschenkt!“
-
-„Vater war so rüstig! Vater hätte noch zehn, zwanzig Jahre leben
-können. Martha, wie ist es gekommen?“
-
-Da sagte es Martha.
-
-Vater war ganz munter gewesen, hatte noch mit beiden Jungens selber die
-Posttasche geholt. Dann hatten sie um den runden Tisch gesessen, Vater
-bei der Zeitung --
-
-Martha stockte ein wenig. Aber es war nur wie ein zögerndes Atemholen.
-„Vater hat sich vielleicht über etwas in der Zeitung geärgert, hat auch
-geschimpft. Aber dann ist er aufgestanden und ist auf und ab gegangen
--- du weißt ja, wie alle Tage. Mutter hatte die Familiennachrichten
-vor sich. Ich häkelte. Siehst du -- und da kommt Vater mit einem
-Male zu Mamachen, beugt sich ein wenig über sie und sagt: ‚Ich weiß
-nicht, Elisabeth, ich weiß nicht, mir ist so komisch, das heißt --‘
-und da fällt er auch schon vornüber. Grad, daß ich ihn noch auffangen
-konnte. Wir haben ihn gleich zu Bett gebracht. Der Hans ist zum
-Pastor gelaufen. Vater hat noch ein paar undeutliche Worte gesprochen,
-lag dann still. Da schrieb ich schnell an dich und hab an Wilhelm
-depeschiert und einen reitenden Boten nach Stellberg geschickt zu Fritz
-und zum Doktor --“
-
-„Ja -- ja -- du hast an alles gedacht!“
-
-„Das mußte ich doch, Helene. Wer sollte es denn sonst? Und dann ist
-Papa sanft hinübergeschlafen. Ich war zuletzt allein bei ihm und hab
-ihm die Lider zugedrückt.“
-
-Helene hatte keine Träne mehr. Heiß brannten ihre Augen, aber der
-Tränenquell war versiegt. Sie starrte vor sich hin. Ja, sie waren alle
-so ruhig, waren alle so überlegt, so gefaßt. Als ob nur gerade ein
-Licht ausgelöscht wäre. Als ob nicht eine Lücke gerissen wäre in ihrer
-aller Leben, die sich nie, nie wieder füllen konnte. Nie -- nie --
-nie --
-
-In den nächsten Tagen, bis zur Beerdigung, ging sie umher wie eine
-Träumende. Und nur wie durch einen Schleier sah sie alles, was um sie
-her geschah.
-
-Die Brüder kamen, standen mit gefalteten Händen an Vaters Bahre, hatten
-Tränen in den Augen, sprachen leise und gedämpft, saßen beieinander,
-küßten Mutter, beredeten allerlei mit Martha und Heckstein und Flehr.
-Martha brachte ein Trauerkleid: „Helene, du mußt verständig sein. Man
-darf sich auch dem tiefsten Schmerz nicht so leidenschaftlich hingeben.“
-
-Onkel Ernst kam und mit ihm Merivaux. Er drückte ihr die Hände, sprach
-sanft und lieb, wollte sie küssen. Sie schrak zusammen und entwand sich
-ihm. Sah ihn an fast wie einen Fremden, neigte dann den Kopf, ließ es
-sich gefallen, daß er ihre Hände hielt --
-
-Sie sah einen Wagen vorfahren, sah, wie der schwarze, florbespannte
-Sarg heruntergehoben wurde, und lief hinauf in ihr Zimmerchen, lief in
-dem hin und her, von einer Wand zur anderen, wohl eine Stunde lang.
-
-So fand sie Wilhelm. Er fragte, ob sie denn Vater nicht noch einmal
-sehen wollte, ehe der Sarg geschlossen würde.
-
-‚... ehe der Sarg geschlossen wird ...‘, klang es in ihr nach. Schrill
-und schneidend. Aber sie nickte, und da nahm sie der Bruder unter den
-Arm, stützte sie, sagte auch wie Martha: „Helene, du mußt verständig
-sein. Wir trauern doch alle um unseren guten Papa. Aber das Leben
-fordert seine Rechte. Man muß darüber hinfortzukommen suchen, und wenn
-es noch so schwer ist.“
-
-Sie nickte wieder, aber verstanden hatte sie kaum, was Wilhelm sagte.
-
-Dann, als sie draußen an der Treppe standen, begann er noch einmal,
-leise: „Sei gut zu Fritz. Der trägt’s am schwersten.“
-
-Verständnislos sah sie ihn an, bewegte die Lippen. Er mochte es für
-eine Frage nehmen.
-
-„Nun -- er muß doch denken, daß Vater sich so aufgeregt hat, weil er
-sich bei der Ersatzwahl für den Kreis als fortschrittlicher Kandidat
-hat aufstellen lassen. Das hat Vater zuletzt in der Zeitung gelesen.
-Sei gut zu dem armen Fritz --“
-
-Sie hauchte ein Ja, aber recht verstanden hatte sie das auch nicht.
-Vater! Vater! Sie haben ja alle nichts als Worte.
-
-Und dann stand sie am offenen Sarge. Wie versteint zuerst. Sah auf das
-stille Greisengesicht, das ganz klein geworden schien, sah auf die
-weißen Locken, sah auf die wachsweißen Hände, zwischen die Martha ein
-Kreuzchen und einen kleinen Strauß blauer Vergißmeinnicht gelegt hatte.
-
-Sah dann langsam im Kreise herum, auf die Ihren, die um den Sarg
-standen. Und sie sah zum ersten Male in all den Gesichtern den heiligen
-Ernst und den tiefen Schmerz, erkannte zum erstenmal, daß sie alle von
-der selben Trauer erfüllt waren, wie sie.
-
-Ganz sacht ging sie zur Mutter hinüber, legte den Arm um ihre Schulter,
-küßte ihre Stirn. Trat an den Sarg -- und da endlich kamen die Tränen.
-Sie lösten sich sanft, und sie konnte leise ein stilles Gebet sprechen.
-
-Auch Heckstein stand am Sarge seines alten Freundes.
-
-Als sie hinausgingen, lag Diana vor der Tür und winselte. Der Pfarrer
-beugte sich und klopfte dem Tier leise auf den Kopf, fast zärtlich:
-„Da reden die klugen dummen Menschen von der unverständigen Kreatur“,
-meinte er wehmütig und streichelte den Hund. „Kusch, Diana. Er hat dich
-auch lieb gehabt.“
-
-Dann schob er seine Hand unter Helenes Arm: „Komm, Kind, wir wollen
-einmal durch den Garten gehen.“
-
-Schweigend gingen sie bis zu den großen Kastanien, unter deren Schatten
-er mit dem alten Rittmeister so oft gewandelt war. Da bog er ein,
-drückte Helenes Arm: „Kind, sie haben mir erzählt, daß du wie von
-Sinnen bist. Das ist nicht recht von dir. Sieh mal, ich will dir nicht
-mit billigen Trostworten kommen und auch nicht mit Vorwürfen. Aber
-ich hab dich getauft und konfirmiert, da hab ich schon ein Recht, mit
-dir ein paar ernste Worte zu sprechen. Die Juden stellten Klageweiber
-an und zerrissen ihr Gewand und streuten Asche auf ihre Häupter. Wir
-Christen müssen und sollen den Tod anders anschauen. Er darf keinen
-Schrecken für uns haben. Uns ist er ja nichts als der Übergang aus der
-Weltlichkeit in die Ewigkeit. Und was könnten wir Schöneres wissen von
-einem geliebten Toten, denn: ihm ist wohl.“
-
-Sie schritt neben ihm, mit tief gesenktem Kopf.
-
-„Ich kenne dich ja, Helene“, sprach er weiter. „So warst du von klein
-auf: immer kochte es bei dir über, in der Freude und im Schmerz. Das
-Leben aber fordert ein Maßhalten. Du mußt dich beherrschen, auch grade
-jetzt. Denk’ nur daran, Kind, daß dein guter Vater nun nicht mehr ist.
-Denk’ mehr daran, wie lieb er dich gehabt hat. Ich kann’s dir sagen:
-du warst sein besonderer Liebling. Noch in den letzten Tagen hat er
-mit mir so manches über dich gesprochen, in Zärtlichkeit und auch in
-Sorgen. Aber die Sorgen hab ich ihm ausgeredet, und dann leuchteten
-seine schönen blauen Augen: ‚Mein Spätling!‘ sagte er.“
-
-Ihre Hand bebte auf seinem Arm. „Onkel Pastor“, sagte sie ganz leise.
-„Ich hab Vater ja so sehr, so sehr liebgehabt. Ich kann gar nicht
-sagen, wie sehr. Aber nun quält mich der Vorwurf: ich bin nicht gut
-genug gegen ihn gewesen, ich bin nicht dankbar genug gewesen, ich --
-ich hab auch nicht das volle rechte Vertrauen zu ihm gehabt.“
-
-„Kind, so mußt du nicht denken. Denk’ nur daran, daß du ihn liebgehabt
-hast. Das ist genug und ist alles. Das andere: liebes Kind, es ist wohl
-aller Eltern Los, daß ihnen ihre Liebe nie ganz vergolten wird. Ein
-Kind +kann+ vielleicht Elternliebe und Elternsorgen nicht ganz
-vergelten, denn beide sind zu groß und zu unendlich. Aber danach fragen
-Elternherzen gar nicht. Die wollen nur wissen und fühlen, daß die
-Kinder sie liebhaben und gut tun in ihrem Sinn.“
-
-Wieder sagte sie: „Ich hätte doch mehr Vertrauen zu Vater haben sollen.“
-
-„Wenn Kinder groß werden, Helene, so gehen sie ihre eigenen Wege. Das
-ist nicht anders in der Welt und so vom lieben Gott gefügt. Es ist
-nicht nötig, daß sie dann jedesmal zu den Eltern kommen und fragen: bin
-ich auf dem rechten Pfad. Die Hauptsache ist, daß es vor ihrem eigenen
-Gewissen der rechte Weg ist.“
-
-Schweigend gingen sie ein Stück weiter, wandten sich und schritten
-langsam zurück. Da begann Heckstein wieder: „Der Rackower war gestern
-bei mir, Helene. Deinetwegen. Du weißt schon, weshalb?“
-
-„Ja, Onkel Pastor“, gab sie leise zurück.
-
-„Es ist jetzt eigentlich nicht die Stunde, um dir Glück zu wünschen,
-mein Töchterchen. Aber ich denke, ich kann’s doch. Gerade in Vaters
-Sinn, denn er hat sich nichts sehnlicher für dich ersehnt, als einen
-guten braven Mann. Daß er’s erlebt hätte! Du hast ihn gewiß sehr lieb,
-deinen Neuchateller!“
-
-Da blieb Helene stehen. Sie sah zu Boden. Zwischen ihren Brauen grub
-sich die kleine schmale Falte ein.
-
-„Onkel Heckstein --“ sagte sie dann zögernd. „Ich weiß es nicht --“
-
-„Aber, liebe Helene!“
-
-In diesen letzten zwei Tagen war die Erinnerung an Merivaux, die
-Erinnerung an jene flüchtigen Minuten im Rackower Park wohl bisweilen
-durch ihren Sinn geglitten. Aber sie hatte das abgewehrt, wie sie sich
-ihm selber entzogen hatte. Nicht einmal abgewehrt vielleicht; es war
-aufgetaucht und untergegangen in ihrem leidenschaftlichen Schmerz, wie
-einzelne Regentropfen in einem Seespiegel verschwinden, ohne Spuren zu
-hinterlassen.
-
-„Aber, Helene!“ wiederholte Heckstein.
-
-Da richtete sie den Kopf hoch und sah ihn an. Ganz tief eingeschnitten
-stand die Falte zwischen den Brauen in dem gequälten, übernächtigten
-Gesicht. Aber in ihrer müden Stimme lag doch etwas wie Trotz.
-
-„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte sie noch einmal. „Laßt mir Zeit.“
-Und sie schluchzte kurz auf. Nur einmal. Dann kämpfte sie es herunter,
-griff nach den beiden Händen Hecksteins, drückte sie krampfhaft: „Dank,
-Onkel Pastor. Du hast mir doch wohlgetan! Dank!“
-
- *
-
-Das märkische Kirchlein, der kleine Friedhof hatte eine solche
-Trauerversammlung noch nicht aufgenommen. Nun erst erwies es sich,
-wieviel Liebe der alte Rittmeister, der schlichte Mann, im ganzen
-Kreise und darüber hinaus besessen hatte. Heckstein hatte recht, wenn
-er in seiner einfachen Rede betonte: er ist heimgegangen zum ewigen
-Frieden und hinterläßt auf Erden keinen Feind.
-
-Von weit her kam der Landadel. Aber es kamen auch die Bauern und
-Kossäten aus den nächsten Dörfern mit Weib und Kind. An diesem Tage
-ließen sie die Arbeit allenthalben ruhen, um dem Herrn auf Rohlbeck
-die letzte Ehre zu erweisen. Und aus den kleinen Städten kam von den
-Beamten und den Gewerbetreibenden, wer immer mit den Hackentins in
-Verbindung gestanden hatte.
-
-In der Mitte der Kirche stand, von dem reichen Segen der sommerlichen
-Gärten verhüllt, der schwarze Sarg. Obenauf lagen die wenigen Orden.
-Die kostbarsten obenan: das Eiserne Kreuz und das russische St.
-Georgskreuz, das Hackentin sich bei Kulm Anno dreizehn erkämpft hatte.
-
-Kurz und kernig sprach der Pfarrer, die eigene Ergriffenheit
-niederringend, vom Altar aus. Er zeichnete das Charakterbild des
-Verewigten: ein rechter und echter märkischer Edelmann, getreu seinem
-König, treu der Scholle, die ihn trug; herzensgut und hilfsbereit, ein
-guter Gatte, ein guter Vater, ein guter Patron, seinen Leuten allezeit
-ein guter Herr; tapfer im Kriege, bescheiden im Frieden. Gott vor Augen
-und im Herzen. „Manche werden vielleicht sagen und sprechen: es war
-kein reiches Leben. Die Toren! Gewiß, es war kein Leben, erfüllt mit
-äußeren Ehren. Es war kein Leben, emporgetragen durch großes Streben.
-Es war kein Leben voll Prunk und Glanz. Klein war der Kreis, in dem
-er wirkte, er, den ich durch nun fünfunddreißig Jahre meinen liebsten
-Freund nennen durfte. Aber er füllte diesen engen kleinen Kreis durch
-die Liebe seines großen, grundgütigen Herzens. Darum trauern wir alle
-so tief um ihn, darum will uns die Lücke, die Gottes unerforschlicher
-Ratschluß riß, als nimmer ausfüllbar erscheinen. Ich sage euch: es
-war ein reiches, gesegnetes Leben, und in reichem Segen bleibt uns
-sein Gedächtnis. Unser Herr und Gott, der dem lieben Verewigten dies
-Leben schenkte bis in das Greisenalter hinein, ohne daß des Alters
-Beschwerden an ihn herantraten, gab ihm auch einen gnädigen schnellen
-Tod sonder Schmerzen, und er hat ihn in Gnaden aufgenommen in sein
-himmlisches Reich. Amen.“
-
-Die Orgel setzte ein. Und über den heut hundertstimmigen Chor hinaus
-sang die Tochter dem Vater das Lied von Ernst Moritz Arndt, das er sich
-schon vor Jahren von seinem Freunde Heckstein für diesen Tag erbeten
-hatte:
-
- „Geht nun hin und grabt mein Grab,
- Denn ich bin des Wanderns müde.
- Von der Erde schied ich ab,
- Denn mir ruft des Himmels Friede,
- Denn mir ruft die süße Ruh’
- Von den Engeln droben zu --“
-
-Dann segnete der Pfarrer den Sarg ein. Sechs alte Soldaten, märkische
-Bauern, trugen ihn hinaus unter den breitästigen Maulbeerbaum, der
-einst auf Befehl Friedrichs des Einzigen gepflanzt worden war,
-hinaus zu der langen Reihe der Gräber, die sich um das kleine uralte
-Erbbegräbnis scharten.
-
-Nur wenige Worte konnte Heckstein hier sprechen. Dann brach ihm, der
-sich so tapfer gehalten, die Stimme. Langsam sank der Sarg in die Gruft.
-
-Wie eine schwarze Mauer stand dichtgedrängt die Masse der
-Leidtragenden. Ein kurzes Schluchzen, ein verhaltenes Weinen und wieder
-tiefe, tiefe, ehrfurchtsvolle Stille.
-
-Als Erste dann wankte die gebeugte Greisin am Arm des ältesten Sohnes
-an das offene Grab, warf drei Hände Heimaterde in die Gruft. Und sie
-folgten alle -- alle -- zum letzten Abschiedsgruß.
-
-Bis dann die Landwehrmänner, einer noch mit dem Kreuz von Eisen, drei
-mit dem Düppelkreuz auf den langen schwarzen Bauernröcken, herantraten,
-die Jagdflinte in der Hand, und dem Kameraden die drei Ehrensalven über
-das Grab schossen.
-
-Als die letzte Salve verhallt war, sprach Graf Grucker, der neben dem
-Pfarrer stand und ihm liebevoll die Hand gereicht hatte: „Mir ist’s,
-als hätten wir mit unserem guten Hackentin die alte Zeit begraben. Nun
-kommt wohl eine neue herauf. Daß sie nur gut wird -- meine Hochachtung
--- die neue Zeit!“
-
-Heckstein sah zu ihm empor mit schimmernden Augen: „Das walte Gott!“
-
- *
-
-Helene hatte ihre eigene Schwäche gefürchtet und die Leidenschaft ihres
-Schmerzes. Daß sie zusammenbrechen würde oder aufschreien, mitten im
-Gotteshause, an der offenen Gruft. Und doch war sie ganz gefaßt, ganz
-ruhig gewesen unter der Heiligkeit von Ort und Stunde. Der wehe Schmerz
-war zur sanften Trauer gewandelt, und als sie in das kleine Kirchlein
-trat, hob sie die Weihe des Augenblicks über alles Irdische empor. Die
-Orgel klang, und fest setzte ihre Stimme ein, dem geliebten Vater zur
-letzten Ehre.
-
-Es tat ihr wohl, daß sie alle gekommen waren, unendlich wohl die Liebe
-und Verehrung, die ihm galt. Eine stille wehmutsvolle Freude war in
-ihr, daß durch die Kirchenfenster die strahlend helle Sonne leuchtete.
-Als ob Gott es mit Vater noch heut besonders gut meinte.
-
-Ganz ruhig, ganz gefaßt war sie in all ihrer Ergriffenheit.
-
-Einmal nur wollte ihre Kraft schwinden. Als der Sarg langsam in die
-Gruft glitt. Vielleicht sah man’s ihr an, vielleicht schwankte sie. In
-dem Augenblick suchte eine feste Hand die ihre, und sie war wie eine
-gute Stütze. Nur ganz dunkel empfand sie, daß Merivaux neben ihr stand,
-mitten unter ihren Nächsten, daß er es war, der ihre Hand ergriffen
-wie mit wortlosem Zuspruch. Aber sie ließ sie ihm, trat mit ihm an
-die Gruft, und so gaben sie gemeinschaftlich dem Vater den letzten
-Erdengruß.
-
-Während sie langsam, inmitten der Trauerversammlung, über den Dorfanger
-schritten, drückte er noch einmal innig ihre Hand, und dankbar empfand
-sie, daß er nicht zu ihr sprach. Daß er nicht unter denen blieb,
-die von weit her gekommen waren und nun nach ländlichem Brauch mit
-hinübergingen in das Elternhaus.
-
-Weit denen voraus floh sie in ihr kleines Zimmer unter dem Dach -- --
-
-Und nun war alles vorüber, das Leben pochte wieder an die Tür mit
-seinen alltäglichen Forderungen und seinen Rechten.
-
-Es gab vielerlei zu ordnen und zu besprechen, wie immer, wenn der
-Tod das Haupt einer Familie abberufen hat. Die beiden Brüder saßen
-zusammen über Büchern und Papieren, rechneten und rechneten mit heißen
-Köpfen. Dann wurden Martha und Helene hinzugezogen. Das Resultat war
-bedrückend. Von Jahr zu Jahr waren die Erträge von Rohlbeck geringer
-geworden; wenn man die Hypothekenschuld abzog, blieb nur ein kleiner
-Überschuß. Der sollte, dafür hatte vor allem Fritz gesorgt, für Helene
-gesichert werden. Nicht viel mehr war’s, als einmal eine knappe
-Ausstattung.
-
-Rohlbeck war kein Lehngut. Deshalb hatte Wilhelm dafür gesprochen, den
-Besitz zu verkaufen. Aber da war es wieder Fritz, der sich dagegen
-ereiferte. Merkwürdigerweise.
-
-In all den Tagen seit Vaters Tod war der Kreisrichter sehr still und
-in sich gekehrt gewesen. Er mochte nicht loskommen können von der
-schmerzlichen Empfindung, daß sein politisches Auftreten Vater in
-dessen letzten Stunden zum mindesten sehr stark erregt hatte. Zwar
-sprach niemand mit ihm, und auch er sprach mit niemand darüber. Aber
-in seinem Herzen lebte wohl die starke Empfindung, daß er gegen die
-Geschwister doppelt gut sein müßte.
-
-So verzichtete er sofort auf jedes Erbteil und auch auf die kleine
-Zulage, die er bisher von Vater erhalten hatte. Als Wilhelm dann die
-Frage des Verkaufs aufs Tapet brachte, erklärte er sich dagegen: „Ich
-weiß ja, ihr werdet erstaunt sein. Ich weiß ja, wie ihr über meine
-politische Richtung denkt, daß ihr mich bisweilen vielleicht als einen
-Renegaten, als ein verlorenes Glied der Familie Hackentin angesehen
-habt. Still -- Wilhelm, wir wollen daran nicht weiter rühren. Aber das
-sage ich euch: in mir lebt ein starker Familiensinn, und in mir lebt
-auch die Treue zur Heimaterde. Mit meiner Zustimmung wird Rohlbeck
-nicht verkauft, sondern für euren Ältesten erhalten.“
-
-Martha war zu Tränen gerührt. Ganz in ihrem Sinne hatte Fritz
-gesprochen. Sie streckte dem Schwager die Hand hin: „Dank, Fritz,
-vielen, vielen Dank!“
-
-Also nicht verkaufen, aber verpachten: das allein blieb schließlich
-übrig. Und Omama sollte mit Wilhelms nach Berlin ziehen.
-
-Die alte Gnädige saß nun längst wieder auf ihrem Traumplatz am
-Fenster der großen Stube. Man merkte ihr vielleicht am wenigsten an,
-welches Leid über dies Haus gekommen war. Manchmal schien sie ganz
-interesselos, murmelte undeutlich vor sich hin; dann schien es, als ob
-sie nur Sinn für Äußerliches hätte: „Also Adolf Grucker war da? Und der
-Landrat? Artenaus auch -- so -- haben sie denn auch alle ordentlich
-zu essen bekommen, liebe Martha?“ Oder: „Heckstein wird recht alt.
-Er hätte wirklich mehr von Papachens Kriegstaten einflechten sollen,
-Anno dreizehn und so.“ Oder: „Helene steht die Trauer recht gut.
-Hatte Mariechen eigentlich Crêpe de Chine an?“ Manchmal aber rief sie
-plötzlich Diana zu sich ans Fenster und sprach mit dem Hunde fast wie
-mit einem Menschen. „Ja, Diana, das Herrchen! Ich weiß ja, manchmal war
-er hart zu dir. Zu mir auch. Aber geliebt haben wir ihn beide. Nicht
-wahr?“ Dann saß Diana dicht am Nähtisch, hatte den klugen Kopf weit
-vorgestreckt und winselte leise.
-
-Sie hatten sich alle davor gefürchtet, Omama das Resultat ihrer
-Beratungen mitzuteilen; kam es ihnen doch wie ein Wagnis vor, dies
-Verpflanzen der Greisin nach Berlin. Merkwürdigerweise nahm sie alles
-ganz gelassen auf. „Tut nur, was notwendig ist. Auf mich nehmt keine
-Rücksicht“, sagte sie zuerst. Aber ein paar Stunden später winkte sie
-Martha zu sich und begann von Berlin zu sprechen. Von dem Berlin vor
-vierzig Jahren freilich: von König Friedrich Wilhelm dem Dritten und
-von seiner schönen Schwester Charlotte, der Kaiserin von Rußland.
-Ob man mit der Post bis zur Königstraße führe? Ob Jagor noch das
-erste Restaurant sei? Damals hätten sie immer im „Roten Adler“ in der
-Kurstraße gewohnt. Und ob Spontini noch lebte -- das müßte Helene doch
-wissen. Den hätte sie einmal seinen „Nurmahal“ dirigieren sehen ...
-Helene mußte wirklich kommen, und Mutter redete von Iffland und von
-der Stich und dann von der Henriette Sonntag -- immer fast, als ob sie
-gestern die gesehen hätte, und ob Kotzebues „Johanna von Montfaucon“
-noch gegeben würde? Fast, als wäre die Gegenwart ausgelöscht in ihrem
-Gedächtnis, und als lebte sie nur noch der Erinnerung an längst
-vergangene Tage.
-
-Wilhelm fühlte sich jetzt ein wenig als Haupt der Familie.
-
-Als solcher sprach er auch mit der Schwester über Merivaux.
-
-Zum ersten Male bei der Erörterung über ihr Erbteil. Ganz nebenbei:
-„Gottlob, daß dein Bräutigam in einer so guten Assiette ist, Helene.“
-Da war sie hochgefahren, das Blut schoß ihr in das Gesicht, und sie
-sagte nur, scharf und knapp: „Das, bitte, laßt jetzt!“
-
-Aber ein paar Stunden darauf kam Wilhelm auf ihr Zimmer. Etwas
-feierlich, etwas väterlich und ein wenig verlegen: „Ich muß doch
-mit dir reden, liebe Helene. Möchte dir vor allem, ganz im stillen,
-herzlich gratulieren. Merivaux ist ein Prachtmensch, ich hab ihn immer
-sehr gern gehabt. Nun -- und ich kann’s ja wohl sagen -- früher hatten
-wir auch so manchmal heimlich gedacht -- ja! -- die Rackower hatten uns
-so Andeutungen gemacht. Wir hatten’s dann aufgegeben. Desto besser, daß
-es nun doch wahr geworden ist. Es ist ja ein trauriges Zusammentreffen
-mit Papas Tod -- zu traurig für euch beide. Aber überlegt muß das doch
-nun werden, ob eure Verlobung jetzt offiziell werden soll.“
-
-Sie stand am Fenster und sah auf den Wirtschaftshof hinaus und das
-Winkelchen Garten, das sich rechts anschloß. Wandte dem Bruder das
-Gesicht nicht zu -- wozu sollte er sehen, wie das Blut darin kam und
-ging! -- und antwortete nicht.
-
-Er sprach auch gleich weiter: „Ich weiß selber nicht recht, ob es nicht
-taktvoller wäre, wenn ihr damit mindestens ein paar Wochen wartet? Ist
-es dir recht, wenn ich mit Merivaux darüber spreche? Er hat sich zu
-heut nachmittag bei mir ansagen lassen.“
-
-Da schrak sie zusammen und entgegnete fast heftig: „Bitte -- nein! Ich
-muß selber mit -- mit ihm sprechen.“
-
-Wilhelm lachte leise: „Wie aufgeregt du bist! Natürlich sollst du
-selber mit ihm sprechen. Wer sollte dir denn das wehren?“ Und nach
-einer Weile: „Du bist doch ein wunderliches Menschenkind, Lene. Läßt
-mich hier stehen und reden und siehst mich nicht an. Ich könnte fast
-glauben, du hast etwas gegen mich.“
-
-Nun endlich wandte sie sich langsam um, immer noch wortlos. Und da trat
-er dicht zu ihr, legte seine Hände auf ihre Schultern: „Aber wie siehst
-du denn aus, Lene? Sieht so eine glückliche Braut aus!“
-
-„Glücklich --“, sagte sie schwer.
-
-Er verstand es falsch. „Ja, freilich! Armes Kind! Sei nicht böse. Man
-vergißt manchmal auf Momente ...“
-
-Dann war er gegangen.
-
-Und Helene begann wieder ihre stumme Wanderung durch das kleine Zimmer,
-von einer Wand zur anderen. Immer tiefer grub sich dabei die Falte
-zwischen ihre Brauen ein. Immer trüber und schmerzlicher wurde der
-Ausdruck ihres Gesichts. Aber auch immer entschlossener.
-
-Bis sie hinunter ging, um Merivaux zu empfangen.
-
-Sie bat Martha, es so einzurichten, daß sie ihn gleich allein sprechen
-könnte. Die Schwägerin sah ihr erschrocken ins Gesicht. „Aber ...
-Helene ...“ Da sagte sie: „Bitte, liebe Martha, quäle mich nicht. Ich
-habe schwer genug zu leiden.“ Und der Ton ihrer Worte war wohl so
-bestimmt, daß Martha nur leise aufseufzte: „Ich meinte es gut. Geh in
-Vaters Zimmer. Ich werde Merivaux zu dir führen.“
-
-Wohl eine Viertelstunde mußte sie in dem kleinen Raum warten, den Vater
-als sein eigentliches Heiligtum betrachtet hatte. Die Kinder, die Enkel
-hatten ihn selten betreten dürfen. In ihrer Stimmung aber empfand
-Helene doppelt eindringlich das Persönliche in diesem Zimmer. Die fast
-spartanische Einfachheit seiner Ausstattung, die vom Dorftischler
-gefertigten birkenen Stühle, das steife Roßhaarsofa, der gewaltige
-Schreibtisch, den Vater seiner Größe halber immer die „Kossätenscheune“
-genannt hatte: das alles erinnerte sie an ihn, stimmte sie wehmütig.
-An der Wand hingen ein paar Familienbilder. Einmal, als sie noch ein
-Kind war, hatte er ihr die erklärt: „Das da war mein Herr Vater, Helene
--- das heißt, wir mußten ja damals zu unseren Eltern Sie sagen und
-Herr Vater und Frau Mutter. War auch ein gestrenger Herr, gegen uns
-Kinder, gegen alle Leute. Ich hab’s noch mitansehen müssen, daß er
-einen Knecht peitschen ließ, bis der ganze Rücken blutig war, und uns
-hat er auch oft genug mit der Karbatsche gezüchtigt. Ein gestrenger,
-ein harter Herr -- das heißt, mit allem Respekt zu sagen. Aber es ist
-doch besser, wenn der Mensch ein weiches Herz hat. Man soll seinem
-Mitmenschen nichts zuleide tun, wenn man es vermeiden kann. Man soll
-auch mal ein Opfer bringen können deshalb. Merke dir das, mein Kind.“
-Und da hing auch die Silhouette der schönen Tante Charlotte, die sie in
-der Familie das Bild ohne Gnade hießen -- Tante Charlotte Hackentin,
-die um die Wende des Jahrhunderts Hofdame bei der Prinzessin Wilhelm
-gewesen war und von der die Sage ging, daß sich ihrethalben der Graf
-Hoym erschossen hätte.
-
-Eine Weile stand Helene vor den Bildern.
-
-Dann wandte sie sich ab und schüttelte den Kopf. Nein -- es war
-töricht, Vergleiche und Folgerungen ziehen zu wollen. Töricht, kindisch
-war’s. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich. Das war es, nichts
-anderes.
-
-Und da trat auch schon Merivaux ins Zimmer, kam auf sie zu, faßte ihre
-beiden Hände, sah ihr tief in die Augen: „Liebe ’elene, liebe Helene,“
-sagte er, „wie schwer hast du gelitten! Ich hab immerzu -- immerzu nur
-an dich gedacht. Liebe Helene --“
-
-Er küßte ihre Hände. Er wollte sie an sich ziehen.
-
-Da bog sie sich weit zurück.
-
-„Helene“, rief er. Erstaunt, erschrocken. Aber dann kam ein Lächeln auf
-sein Gesicht, ein kleines, zärtliches, schmerzliches Lächeln. Er küßte
-ihr noch einmal die Hand. „Arme, liebe ’elene“, sagte er wieder. „Oh,
-ich weiß, wenn ich meinen alten Papa hätte begraben müssen, ich würde
-auch nicht zu trösten gewesen sein ...“
-
-Er suchte ihren Blick. Sie wandte das Gesicht zur Seite.
-
-„... aber wenn dein Papa auf uns herabsieht ... ganz gewiß, Helene ...
-er würde uns segnen.“ Und nach einer Weile: „Sieh mich doch nur einmal
-an. Ich hab solch eine große Sehnsucht gehabt nach dir ... solch eine
-Sehnsucht. Ich hab dich ja so lieb!“
-
-Immer noch hielt er ihre beiden Hände.
-
-Zuerst hatte er Deutsch gesprochen. Nun strömten ihm, unbewußt wohl,
-die Laute seiner Muttersprache über die Lippen. „Manchmal denk ich,
-wie ich nur hab leben können ohne dich? All die Zeit, diese langen
-zwei Jahre! Lange, schwere Jahre, Helene! Und dann, endlich, endlich,
-neulich das Glück. Kaum getraut hab ich mich noch zu hoffen. Aber da
-war es mit einem Male, ein Geschenk des Himmels, dein Geschenk, Helene.
-Das Glück, das Glück, -- deine Liebe!“
-
-Und mit einem Male sprach er wieder Deutsch. „Sag’ einmal, einmal nur:
-ich hab dich lieb, Gaston ... Gaston ... hörst du ... Gaston, ich hab
-dich lieb ...“
-
-Was hatte sie ihm nicht alles sagen wollen?! Wie hatte sie sich das
-alles überlegt! Ruhig, verständig: ‚Es war ein Rausch, Herr von
-Merivaux, der Rausch eines Augenblicks. So sehr ich mich schäme, ich
-muß es Ihnen gestehen. Um Ihretwillen; ich bin es Ihnen schuldig. Ich
-habe eine aufrichtige Zuneigung zu Ihnen, aber nicht mehr. Das langt
-nicht für das Leben. Wenn Sie mir zürnen, muß ich es tragen als die
-Schuldige. Nur verachten Sie mich nicht.‘ Das alles hatte sie ihm sagen
-wollen, und noch viel mehr. Ruhig, verständig, gewissenhaft. Ganz
-scharf hatte sie es sich überlegt und erwogen.
-
-Und nun brachte sie kein Wort über die Lippen.
-
-Seine zartfühlende Art lähmte sie. Die innige Liebe, die aus seinen
-Worten, aus seinem Wesen sprach, lähmte sie. Ihr Wille schmolz dahin.
-Und sie dachte nur das eine: ‚Mein Gott, wie soll das werden?‘ Dachte
-in tiefster Herzensangst: ‚Du kannst ja nicht nein sagen! Du hast ja
-nicht die Kraft, ihm diesen Schmerz zuzufügen.‘
-
-Dann hörte sie wieder: „Ansehen sollst du mich, liebe Helene. Nur
-einmal ansehen!“
-
-‚... Du hast nicht die Kraft, du hast wohl auch nicht das Recht! Was
-kommt es denn auf dich an? Denke nicht an dich, denke an ihn! An seine
-große Liebe!‘
-
-„Sag’ einmal: Gaston, ich ’ab dich lieb ...“
-
-Es klang so rührend, es klang so gut! Und sie war doch nun einmal die
-Schuldige, die Schuldige geworden vor fünf Tagen, oben im Rackower
-Park, im Mondenschein. Damals hätte sie sich wehren müssen, fliehen,
-flüchten. Nun war es zu spät. Nein sagen, jetzt: es wäre eine
-Unbarmherzigkeit gewesen und ein Unrecht. Er hätte sie verachten müssen
--- oder es hätte ihn in die Verzweiflung gestürzt. Aus Mitleid mit ihm
-schon durfte sie nicht nein sagen ...
-
-„Einmal nur: Gaston, ich ’ab dich lieb ...“
-
-Ganz langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu.
-
-Und stammelnd, wie ein Kind, sprach sie: „Ich, ich hab dich lieb ...“
-
-„Sag’: Gaston!“
-
-„... Gaston ...“
-
-Da nahm er sie in die Arme und küßte ihr die Tränen aus den Augen.
-
-Acht Wochen später gingen die Verlobungsanzeigen ins Land.
-
-Wilhelms waren nun längst wieder in Berlin, Omama und Helene mit ihnen.
-
-Man hatte sich etwas stark einschachteln müssen in der Wohnung. Helene
-mußte mit der Mutter ein Zimmer teilen; der Flügel war in Wilhelms
-Arbeitszimmer untergebracht worden. Eng war es, aber Martha wußte für
-alles Rat. Sie freute sich der Omama wie eines lieben Vermächtnisses,
-betreute und verhätschelte sie und wurde nur, dann und wann, ein
-wenig ungnädig, wenn sie die Jungens gar zu sehr verzog, ihnen zur
-unrechten Stunde eines ihrer unzähligen Hausmittelchen eindoktern
-wollte, oder wenn Omama sich an ihrer Nähmaschine zu tun machte. Denn
-diese Nähmaschine, die ihr Wilhelm kürzlich geschenkt hatte, war ihr
-etwas wie ein Heiligtum. Sie kostete freilich auch fast genau hundert
-Taler, und alle bekannten Damen kamen, um das neue Wunder anzustaunen,
-das die Singer-Kompanie gerade erst in Preußen einzuführen begonnen
-hatte. Omama konnte wohl ein Viertelstündchen dem Spiel des blanken
-Schiffchens zusehen; dann aber ging sie meist, kopfschüttelnd, zu
-ihrem Sorgenstuhl an das andere Fenster und schaute auf den Platz vor
-der Halleschen Brücke hinaus; wenn dort zwei Omnibusse hielten, drei
-Torwagen ihres Wegs zogen und ein halbes Dutzend Menschlein hasteten,
-dann sagte sie: „Liebes Kind, welch eine Cohue! Welch eine Cohue!“ Und
-sie schüttelte dabei die ewig kohlschwarzen, an jedem Morgen mit dem
-Tolleisen gebrannten Locken, die zu zwei und zwei rechts und links an
-ihren Schläfen wie Perpendikel hin und her schwangen.
-
- * *
- *
-
-Einige Tage nach der Ankunft in Berlin war der alte Herr von Merivaux
-gekommen, um die Braut seines Sohnes zu begrüßen. Ein stattlicher,
-vornehmer Herr, mit einem rosigen Gesicht, langem, weißem Schnurrbart
-und weißem Henriquatre; im Knopfloch seines schwarzen Gehrocks trug er
-ostentativ das Bändchen des Roten Adlerordens.
-
-Er war herzlich zu Helene, ein wenig zurückhaltend Wilhelms gegenüber.
-Helene hatte die Empfindung, als ob er bisweilen seine Augen etwas
-erstaunt, etwas enttäuscht über die einfache Einrichtung schweifen
-ließe, und sie straffte sofort den Nacken: sollte ich ihm vielleicht
-nicht gut genug sein, hat er eine reiche Schwiegertochter erwartet?
-Aber sie mußte bald erkennen, daß sie sich getäuscht hatte. Der alte
-Herr entwickelte eine herzgewinnende natürliche Liebenswürdigkeit.
-Er sagte ihr die reizendsten Artigkeiten, erklärte, daß er sehr
-erfreut wäre, eine preußische Aristokratin, eine Tochter aus so alter
-märkischer Familie, zur Schwiegertochter zu erhalten -- fügte lächelnd
-hinzu: „Daß mein neues Töchterchen +so+ schön ist, konnte ich
-freilich trotz Gastons Enthusiasmus nicht ahnen.“ Und dann kam die
-Frage, die sie gefürchtet hatte. Wieder mit einem leichten Lächeln:
-„Junge Leute haben es immer eilig, und sie haben recht. Man kann nicht
-früh genug ganz glücklich werden. So darf ich gewiß fragen, ob Sie
-schon den Termin der Hochzeit festgesetzt haben?“
-
-Sie schöpfte tief Atem. „Keinesfalls -- vor Ablauf des Trauerjahres“,
-sprach sie dann rasch und entschieden. Im gleichen Augenblick sah
-sie, wie Gaston errötete, daß Wilhelm, der der französisch geführten
-Unterhaltung nur mühsam folgen konnte, wie abwehrend die Hand hob.
-
-Aber da verbeugte der alte Herr sich schon gegen sie: „Pardon ...
-ich muß wirklich sehr um Verzeihung bitten. Ihr Entschluß ehrt Ihre
-Gesinnung, liebe Tochter. Eine gute Tochter wird stets auch eine gute
-Frau. Sie haben durchaus recht. Gaston wird sich bescheiden müssen, so
-schwer das seiner Liebe gewiß ist.“
-
-Gaston mußte sich bescheiden --
-
-Er mußte sich überhaupt bescheiden: Helene war eine sehr spröde, eine
-herbe Braut. Sie war zu verständig, seiner Zärtlichkeit zu wehren, aber
-sie erwiderte sie nicht. Ein Dulden war’s, nie ein Geben. Und dann und
-wann kamen Stunden, in denen sie sich ihm ganz zu entziehen suchte, wo
-ihre Herbheit zur Härte wurde, ihre Kühle zur eisigen Kälte.
-
-Einmal sagte ihr Martha: „Nimm mir’s nicht übel, Lene, aber ich muß
-dir die Leviten lesen. Du bist eine merkwürdige Braut! Hast du denn
-Fischblut in den Adern? Oder ist es ein kokettes Spiel, das du mit
-Gaston treibst? Ich an seiner Stelle ... ich ließe mir das einfach
-nicht gefallen.“
-
-Merivaux hatte den Abend bei Wilhelm zugebracht. Als er aufbrach,
-geleitete Helene ihn gerade bis an die Zimmertür. Er stand wartend,
-ihre Hand in der seinen, mit einem bittenden Lächeln: „Nun ... du
-kommst doch noch einen Moment mit hinaus, ’elene?“ Da hatte sie den
-Kopf geschüttelt: „Geh nur! Gute Nacht!“
-
-Jetzt saß sie in dem alten Ohrenwangenstuhl, der von Rohlbeck aus
-mitgewandert war, den Kopf ganz in die eine Ecke gedrückt, und Martha
-stand vor ihr, im sonst so ruhigen Gesicht den ehrlichen Zorn.
-
-„Nein, ich ließe es mir wahrhaftig nicht gefallen! Ein so lieber Mensch
-ist Gaston. Immer gleich artig, immer aufmerksam. Und immer aufs neue
-sieht man, wie er dich liebt. Und du -- wenn ich’s nicht besser wüßte,
-möchte ich sagen: ein Eisblock bist du. Wenn er nur mal ordentlich
-aufbrausen wollte! Dir deinen Kopf zurechtsetzen! Ich gönnte es dir!“
-
-Ganz fest drückte Helene den Kopf gegen das harte Polster. Die Augen
-hatte sie geschlossen.
-
-„Manchmal möchte man wahrhaftig glauben, du hättest Gaston nicht lieb!“
-
-Die beiden Hände preßte Helene auf die Armlehne. Die schmale Falte
-zwischen ihren Brauen grub sich tief ein.
-
-Und dann stand sie plötzlich auf, legte ihre Hände auf Marthas
-Schultern: „Quäle mich nicht! Ich bin so müde!“ sagte sie. „Schlaf
-wohl -- wenn du kannst!“ und ging hinaus. Ging in ihr Zimmer, das
-sie mit Omama teilen mußte. Die lag schon im Bett, konnte aber nie
-einschlafen, ehe die Tochter kam, und redete dann immer noch allerlei.
-Halb waren’s Monologe, halb war’s an Helene gerichtet.
-
-„Dein Gaston ... ja ... dein Gaston! Anno dreißig oder einunddreißig
-war ich in Karlsbad. Da lernte ich einen jungen Grafen Meerwedt
-kennen. Auch so chevaleresk wie dein lieber Gaston. Da haben wir
-einmal eine Partie in den Wald gemacht. Der Herr von Auerswald hatte
-die entrepreniert ...“ Dann kam ein halblautes Lachen ... „und da war
-eine junge Komteß Adelau, und mit einem Male war der Meerwedt und sie
-verschwunden, und dann fanden wir sie, gerade als er sie embrassierte
-... Ja, die Jugend!“
-
-Nun hatte sie schon Mutter gute Nacht gesagt und das Licht gelöscht.
-Da fing Omama noch einmal an, kicherte ein wenig und sagte: „Hörst du
-noch, Lenchen? Ich wollt nur sagen: vor dem guten Papa durft ich ja nie
-davon reden. Der war ja immer so komisch, wenn ich von Körner erzählte.
-Ja, wie war das doch nur? Ich find’s wohl nicht mehr recht zusammen.
-Wie war das doch nur?“
-
-Ein Weilchen schwieg Omama. „Richtig, Lene, jetzt hab ich’s. Hörst
-du? Es ist so hübsch, was der Theodor sagt: Drum leb’, wer das Küssen
-und Lieben erdacht ... ja ... wer das Küssen erdacht ... Ich war auch
-einmal jung ... Küßt du ihn gern, deinen lieben Gaston?“
-
-Ein leises Kichern wieder, ein halblautes: „Ja ... die Jugend ...“ Bald
-kamen die tiefen, ruhigen Atemzüge. Omama schlief. Gewiß lag auf ihrem
-guten Antlitz zwischen all den Runzeln und Fältchen ein Lächeln der
-Erinnerung.
-
-Aber Helene fand und fand keinen Schlaf, bis der Morgen graute. Auf ihr
-lastete die Gegenwart, und sie fürchtete sich vor der Zukunft.
-
-Wie sie alles jetzt hinausschob, hinauszögerte, als erwartete sie, daß
-irgendein kommender Tag ihr eine Befreiung bringen könnte, so hatte sie
-auch die nötigsten Besuche hinausgeschoben. Schließlich sah sie selber
-ein, es mußte der Pflicht genügt werden.
-
-Es waren der Besuche ja auch nicht viel zu erledigen. Von den Kameraden
-Merivaux’ waren nur wenige verheiratet.
-
-Aber auch Tante Marianne Oschitz stand auf der kleinen Liste. Es
-herbstete schon stark, als das Brautpaar vor der einsamen Insel
-vorfuhr; und als Helene am Arm Merivaux’ durch den Vorgarten schritt,
-dachte sie unwillkürlich: ‚nun sind es drei Jahre, seit du hier
-einzogst. Erst drei Jahre -- schon drei Jahre! Die dir mehr Erleben
-gebracht haben, mehr als alle anderen. Und kein Glück ...‘
-
-Sie dachte noch daran, als sie vor Tante Marianne stand. Es mochte wohl
-nicht so glücküberströmend klingen, wie das gleiche Wort aus anderem
-Mädchenmunde: „Mein Bräutigam, liebe Tante.“
-
-Die kleine alte Frau machte einen hinfälligen Eindruck. Sie hatte sich
-bei dem Eintritt der beiden mühsam erhoben, kam ihnen auf dem Stock mit
-schwerer Elfenbeinkrücke gestützt entgegen, sagte freundlich mit ihrer
-leisen, sanften Stimme: „Ich freue mich herzlich. Der Segen Gottes möge
-mit eurem Bunde sein --“, und dann stutzte sie plötzlich.
-
-Es war nur auf einen Moment, sie nötigte gleich zum Sitzen.
-Immerhin war es so auffallend, daß es Helene nicht entging. Sie sah
-auf Merivaux, wie eine Erklärung suchend. Aber der stand gerade
-aufgerichtet, nach seiner Gewohnheit Tante Marianne mit seinen großen,
-blauen Augen hell ansehend. Immer sah er allen Leuten so ins Gesicht,
-so offen und zuversichtlich.
-
-Tante Marianne war heut sehr weich und gütig, zeigte ein lebhafteres
-Interesse, als sonst ihre Art war, erkundigte sich nach Merivaux’
-Heimat, nach seinen Plänen für die Zukunft; schien sich zu freuen, als
-er frisch und fröhlich antwortete: „Ich ’ab nur einen Plan für die
-Zukunft, meine Frau recht glücklich zu machen.“ Sie lächelte, nickte
-und hatte gleich eines ihrer alten Sprüchlein: „Wer glücklich ist, kann
-immer glücklich machen! ... Sie haben so zuversichtlich glückliche
-Augen, lieber Herr von Merivaux.“
-
-„Ich ... glückliche Augen, gnädige Frau?“
-
-„Jawohl, glückliche Augen. Sorge nur, Helene, daß ihnen jeder trübe
-Schatten erspart bleibt.“
-
-Sie sprachen noch dies und das. Dann war es Zeit, aufzubrechen. Aber
-als sie sich schon empfohlen hatten, hielt Tante Marianne Helene noch
-einmal zurück. Ihre Stimme bebte ein wenig, und in ihrem kleinen,
-blassen Gesicht lag ein Zug des Ergriffenseins. „Ist dir das auch schon
-aufgefallen,“ flüsterte sie hastig, „daß dein lieber Gaston die Augen
-von meinem Harro hat? Ganz Harros Augen.“ Und sie hob sich plötzlich
-auf den Zehenspitzen und küßte die Nichte zärtlich: „Lang mögen sie dir
-leuchten ... lang ...“
-
-Draußen, im Vorgarten, fragte Merivaux: „Was hatte deine Frau Tante dir
-noch anzuvertrauen?“
-
-Sie schüttelte den Kopf. „Nichts Besonderes, Gaston --“ und ging mit
-gesenktem Kopf neben ihm weiter bis zum Wagen. ‚Ja, Harros Augen‘,
-dachte sie. ‚Seine Augen, Harros Augen ... die haben es mir damals
-angetan, im Rackower Park ... --‘
-
-Eine verhaltene Bitterkeit, fast etwas wie ein Vorwurf, lag in dem
-Gedanken. Sie fühlte es selber, empfand es als ein Unrecht. Fühlte sich
-ihm gegenüber ja so oft im Unrecht. Als sie im Wagen saßen, war es ihr,
-als müßte sie etwas gutmachen ihm gegenüber. Sie zwang sich, auf seine
-lebhafte Unterhaltung einzugehen, mit ihm zu plaudern. Und sie fand
-plötzlich, daß das gar nicht so schwer war. Er erzählte so anregend, er
-hatte so viele Interessen.
-
-Einmal sagte sie, ein wenig nachdenklich: „Ich finde eigentlich,
-Gaston, daß du dich in den letzten Jahren recht verändert hast.“
-
-„~Mon Dieu~ ...“ gab er halb im Scherz, halb wirklich erschrocken
-zurück ... „Zu meinem Nachteil?“
-
-„Nein, Gaston. Als ich dich kennen lernte, konnte ich in dir nicht mehr
-sehen als einen flotten, jungen Offizier.“
-
-„Und nun?“
-
-„Jetzt bin ich bisweilen erstaunt, wieviel du weißt. Daß dich Literatur
-und Kunst so stark interessieren.“
-
-Er scherzte wieder: „Also gewiß ... du hast mich damals unterschätzt.“
-Dann wurde er ernst: „Es liegen drei Jahre dazwischen, Helene. Drei
-Jahre bedeuten viel im Menschenleben. Oder richtiger, sie können
-viel bedeuten. Mir haben sie jedenfalls manch innere Wandlung
-gebracht. Aber ich könnte dir zurückgeben, was du mir sagst. Als ich
-dich kennen lernte, warst du auch nur ein wunderschönes charmantes
-Mädchen, dem eine gütige Fee die herrliche Stimme geschenkt hatte --
-eine Zufallsgabe schließlich. In den drei Jahren bist du eine andere
-geworden --“
-
-Da hielt der Wagen. Sie mußten aussteigen, um bei Frau von Gélieu die
-Karten abzugeben und zu erfahren, daß die gnädige Frau ausgegangen wäre.
-
-Als sie dann wieder im Wagen saßen, war Helene es, die den abgerissenen
-Faden der Unterhaltung neu aufnahm.
-
-„Du sagtest, ich wäre eine andere geworden. Ich wünschte dir, ich wäre
-das junge Mädchen geblieben, das ich damals war.“
-
-„Helene!“ rief er.
-
-„Du würdest glücklicher sein.“
-
-Es war ein Zwang in ihr, ihn anzusehen, als sie das sagte. Aber sie sah
-in so leuchtende Augen, daß sie den Blick senken mußte.
-
-„Ich kann nur noch glücklicher werden!“ sagte er dann heiß. Schwieg
-einen Moment, schöpfte tief Atem und fuhr fort, nun sehr ernst. „Es
-ist wirklich nicht anders, liebe Helene: ich kann nur noch glücklicher
-werden. Ich weiß, daß wir es beide werden. Da du davon angefangen hast,
-will ich es dir gestehen: ich leide gewiß oft unter deinem harten
-Wesen. Wie könnte es anders sein! Aber sieh: mein Vater ist ein sehr
-kluger Mann. Als wir drei neulich zum letztenmal beisammen waren, ging
-ich mit ihm den weiten Weg bis zu seinem Hotel. Wir sprachen natürlich
-von dir -- nur von dir. Er ist sehr empfänglich für Frauenschönheit.
-So war er bezaubert von deiner Erscheinung. Dann schwieg er eine ganze
-Weile und sagte endlich: ‚Weißt du auch, Gaston, daß du dir deine Braut
-erst erobern mußt? Ihre Seele ist noch nicht bei dir.‘ Die Hand hab ich
-ihm gegeben: ‚Ich weiß es, Papa. Aber ich werde um sie werben, nimmer
-müde, bis sie ganz mein ist. Denn ich habe sie lieb über alles in der
-Welt.‘“
-
-Sie saß wieder mit gesenktem Kopf, sprach kein Wort.
-
-Mit einem Male hörte sie neben sich sein frisches, fröhliches Lachen,
-das so seltsam klang nach seinen ernsten Worten und doch in diesem
-Augenblick so wohltuend und befreiend war.
-
-Er deutete zum Fenster hinaus: „Hier wohnte einst mein Landsmann
-Merveilleux. Kennst du seine Geschichte mit dem Droschkenkutscher?
-Also wir Schützen sind doch nun mal lebenslustige Leutchen. Zwei von
-uns, Merveilleux und Pfuel, waren es ganz besonders. Abend für Abend
-tollten sie in Berlin herum, und oft graute der Morgen, ehe sie daran
-dachten, in unser Quartier, hier weit draußen, an der Köpenicker
-Landstraße, zurückzukehren. So waren sie der Schrecken der biederen
-Droschkenkutscher geworden. Die fürchteten die Fahrt nach der Kaserne
-wie das höllische Feuer. Geht eines Abends Pfuel allein aus. Es wird
-wieder peinlich spät oder früh, ist außerdem ein schreckliches Wetter
--- ~gressillement~, wie wir’s nennen. Mein Pfuel will also
-fahren, erwischt auch eine ~voiture~. Kaum aber sieht ihn der
-Droschkenkutscher -- sie kannten ihn alle -- so haut er auf sein Pferd
-ein und ruft nur noch: ‚Adieu, Pfuel, ... grüßen Sie Murmeljahn!‘ Fort
-war er. Und jetzt sind wir bei unserer Kommandeuse --“
-
-Seine ernsten Worte -- sein frohes Lachen tönten in ihr nach. Sie
-fühlte sich frischer und freier. ‚Man muß ihn gern haben‘, dachte
-sie. ‚Ich müßte ihn liebhaben.‘ Und sie dachte weiter: ‚Vielleicht --
-vielleicht werde ich ihn liebhaben.‘
-
-In dieser Stimmung ging sie auch endlich zu Frau Harriers-Wippern.
-Nicht zuletzt auch auf seinen Wunsch. Er hatte schon so oft gebeten,
-daß sie den Unterricht wieder aufnehmen sollte.
-
-Die Lehrerin kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. „Ich hab
-ja schon gratuliert, aber ich möchte meinen Glückwunsch gern noch
-einmal mündlich und recht innig wiederholen. Ich habe mich so sehr
-gefreut, liebes Fräulein Helene! Nicht zuletzt, weil unser Merivaux der
-Glückliche ist.“
-
-‚Unser Merivaux‘ ... es klang Helene Hackentin ganz eigen.
-
-Sie saßen wieder beieinander in dem kleinen Gartenzimmer der Sängerin,
-und Helene hörte, doch mit einiger Verwunderung, wie beliebt und
-geschätzt ihr Bräutigam in den engeren musikalischen Kreisen war.
-„Es ist merkwürdig, wie viele Offiziere gerade in Berlin wirklich
-verständnisvolle Musikfreunde sind. Aber unser Merivaux steht da in
-erster Reihe. Ich meine natürlich nicht als ausübender Künstler --
-darauf kommt es ja auch gar nicht an. Aber er hat die rechte Liebe,
-hat Verständnis, hat Urteil ... und hat seine besondere, so unendlich
-liebenswürdige Gabe, das alles zum Ausdruck zu bringen.“ Frau Harriers
-hielt immer noch Helenes Hand und drückte sie herzlich: „Mein erster
-Gedanke, als ich die Anzeige las, war ein Gedanke der Freude: sie
-beide passen so trefflich zueinander. Eine kleine Spur Selbstsucht war
-auch dabei, daß ich’s nur gestehe: so geht Helenens Kunst doch nicht
-verloren!“
-
-Helene war wortkarg, war in tiefem Sinnen. Sie hatte in den letzten
-drei Monaten so wenig an ihren Gesang gedacht. Manchmal, wenn Merivaux
-bat, wenn er sie zum Flügel führen wollte, hatte sie abgewehrt -- wie
-sie immer abwehrte. Ein-, zweimal hatte er seine Geige mitgebracht: sie
-hatte auch ihn nicht gebeten, zu musizieren. Nun fühlte sie auch hier
-ein Unrecht. Und empfand seinen Zartsinn, der nie ungeduldig wurde, nie
-drängte, nie einen Vorwurf hatte, als besondere Güte.
-
-„Ich hoffe, Fräulein Helene, Sie bringen mir ihn bald. Vielleicht
-musizieren wir dann einmal zusammen. Wie aber steht’s mit uns beiden?
-Sie nehmen doch die Stunden wieder auf?“ Frau Harriers schrak ein wenig
-zusammen, sie bemerkte wohl erst jetzt, daß die Braut ganz in Schwarz
-gekleidet war. „Ja so, Sie armes Kind! Aber ich meine, Musik, gute
-edle Musik eint sich auch mit der tiefsten Trauer. Sie trägt uns ja
-himmelan, über alles Irdische hinweg.“
-
-„Die ‚Elsa‘ möchte ich jetzt ruhen lassen ...“ sagte Helene gepreßt.
-„Ich kann nicht ...“
-
-„Das verstehe ich. Lassen Sie mich nur sorgen. Wir halten unsere alte
-Zeiteinteilung fest -- nicht wahr? Und grüßen Sie mir Ihren lieben
-Gardeschützen, der so gut in Ihr Herz zu treffen wußte.“
-
-Daß er nur besser in das Herz getroffen hätte ...
-
-Daß dies herbe spröde Herz sich gar nicht regen wollte ...
-
-Überall, wo Helene hinkam, hörte sie Merivaux rühmen, hörte sie sein
-Lob. In den verschiedensten Schattierungen. Wilhelms liebten ihn
-schon jetzt wie einen Bruder; er hatte Tante Mariannens so schwer
-zu erringendes Wohlgefallen gewonnen; die Frauen der verheirateten
-Kameraden hatten sie ein wenig geneckt, daß sie den charmantesten aller
-Junggesellen im Bataillon in Amors Fesseln geschlagen; der Kommandeur
-hatte Wilhelm gegenüber Merivaux einen der begabtesten Offiziere
-genannt und einen unübertrefflichen Kameraden.
-
-Manchmal hatte sie gedacht, sich zum schwachen Troste: ja doch ... er
-ist ein liebenswürdiger Charmeur! Nun hörte und erkannte sie selber
-alle Tage mehr, daß das doch nur die Außenseite seines Wesens war. Daß
-die glänzende Hülle auch einen schönen edlen Kern barg. Daß er gut,
-vornehm denkend, daran hatte sie nie gezweifelt. Jetzt aber wußte sie,
-daß er auch ein grundgescheiter, ein vielseitig gebildeter Mann war.
-Und vor allem sah und fühlte sie immer tiefer, wie innig und heiß er
-sie liebte.
-
-Immer wieder sagte sie sich: man muß ihn gern haben ... ich müßte ihn
-liebhaben ...
-
-Nur: ihr Herz wußte nichts von ihm.
-
-Es kamen Augenblicke, Stunden, in denen es in ihr schrie: wenn er
-dich doch einmal recht schlecht behandeln wollte! Wenn er dich doch
-einmal fühlen lassen wollte, wie kalt und schlecht du gegen ihn bist!
-Vielleicht verlangt die Hackentinsche Brut die Peitsche, anstatt des
-Zuckerbrots!
-
-Aber er blieb immer der Geduldige, Nachsichtige, Rücksichtvolle;
-dankbar für die geringste Freundlichkeit, für das kleinste
-Entgegenkommen, für ein gutes Wort, für ein Lächeln.
-
-Dabei fühlte sie hinter all der Geduld und Nachsicht sein heißes Blut,
-sein starkes Temperament, sein Begehren, fühlte, wie er sich zwang und
-wie er litt. Sie fühlte es, sie sah es. Es war ihr eine eigene Qual,
-wenn er manchmal, auf kurze Momente, die Lider sinken ließ, verstummte.
-Nur um sie gleich wieder mit hellen, guten Augen anzusehen, wie ein
-Bittender. Wie einer, der da weiß: ich werde um sie werben, nimmer
-müde, bis sie mein ist.
-
-Und dann empörte sie wieder diese Zuversicht, dies Vertrauen und
-Selbstvertrauen. Empörte sie gleich einem Zwang: als ob er ihren Willen
-beugen, sie knechten wollte in alle Zukunft hinein. Scharf wurde sie
-dann und bitter. Bis sie sich doch wieder sagte, es ist ja nur seine
-große, große Liebe, die auf Gegenliebe hofft und wartet.
-
-Wenn er litt, ohne zu klagen, so litt sie nicht minder, und auch sie
-hatte niemand, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Ganz genau wußte
-sie: es würde sie niemand verstehen.
-
-Es gab Tage, in denen eine wehrlose, wohltuende Müdigkeit über ihr lag.
-Dann war sie sanft, nachgiebig auch zu ihm; duldete seine Zärtlichkeit,
-hatte sogar eine leise Freude, einen stillen Genuß manchmal an einem
-guten Gespräch mit ihm; hörte ihn spielen, ging vielleicht selbst an
-den Flügel, sang irgendein schwermütiges Lied. Aber gerade der Moment
-war meist der Gipfelpunkt. Wenn sie ihn dann hinter sich stehend wußte,
-seinen Atem fühlte, seine Hand sah, wie sie sich nach dem Notenblatt
-ausstreckte, um es zu wenden, kam der Rückschlag. Sie brach jäh ab,
-sprang auf -- und es kamen Augenblicke, in denen es ihr eine boshafte
-Freude war, ihm wehe zu tun. Eine Freude, die sie tiefste Qualen und
-schmerzhafteste Scham kostete.
-
-Das waren die Augenblicke, in denen sie darauf wartete: jetzt muß
-er doch gehen, um nie wiederzukommen. Und doch erschauerte: wenn er
-aber nie wiederkäme? Das waren dieselben Augenblicke, in denen sie
-vom wehsten Mitleid erfüllt war für ihn und in denen sie sich selber
-ganz als Schuldige fühlte. Frau Harriers war wenig zufrieden mit ihrer
-Schülerin in diesem Winter.
-
-Wilhelm kümmerte sich fast gar nicht um das Brautpaar; Martha sah
-schließlich doch nur die Oberfläche, dachte höchstens, sagte es
-vielleicht: „Du bist eine recht unausstehliche Braut.“ Mutter führte
-ihr Traumleben weiter, verschmolz sich Gegenwart und Vergangenheit,
-verwechselte Merivaux gelegentlich mit einem ihrer Söhne und legte
-neuerdings Rouge auf. Wohl Berlin zu Ehren. Wobei es vorkam, daß nur
-die eine Wange rosig leuchtete, die andere vergaß sie.
-
-Ganz verlassen und vereinsamt fühlte sich Helene oft. Grenzenlos unnütz
-dabei. Den Haushalt in der Stadtwohnung hielt Martha allein wie am
-Schnürchen. So war sie zur Untätigkeit verurteilt, spürte auch so wenig
-Neigung, sich wirtschaftlich zu betätigen. Und selbst ihre Kunst dünkte
-sie oft ein Zwang.
-
-Nur mit den Jungens beschäftigte sie sich mehr als früher.
-
-Den äußeren Anlaß gab, daß Hans ein paar Male mit einem französischen
-~exercice~ hilfesuchend zu ihr kam: „Hilf, Tante Helene. Du hast
-ja einen Bräutigam, der solch halber Gallier ist.“ Da sie in der Tat
-fertig Französisch sprach und schrieb, konnte sie helfen. Und sie half
-so gern -- es war ihr eine wahre Wohltat, irgend jemand helfen zu
-können. Bald kam auch Thede mit dem einen oder dem anderen Anliegen.
-Richtiger: wenn der Ältere bat, forderte der Jüngere. Aber er tat’s
-mit einer so drollig unverschämten Miene, daß man ihm nicht böse sein
-konnte.
-
-Manchmal war es ihr, als lernte sie die beiden Neffen erst jetzt recht
-kennen. Und auch dann hatte sie wieder ihre stille Freude. Hans war
-nun fast sechzehn Jahre, ein langaufgeschossener, ein wenig ungelenker
-Jüngling, der seine junge Sekundanerwürde mit einigem Selbstbewußtsein
-trug; ein Bücherwurm und Grundtoffel, fleißig und hübsch besinnlich.
-Thede war viel lebhafter, renommierte gern einmal ein wenig, lernte
-spielend, was der Ältere sich mühsamer erobern mußte. Bisweilen malte
-Helene sich im stillen den Lebenslauf der beiden aus, horchte sie
-wohl auch daraufhin aus. Hans wollte Architekt werden oder Techniker,
-Eisenbahningenieur, Maschinenkonstrukteur; Thede schwärmte für den
-bunten Rock, den ja alle Hackentins getragen hatten. Aber er hatte auch
-seine besonderen Gedanken dabei: die junge preußische Flotte reizte
-ihn, Kapitän Jachmann von der „Arcona“, der den Dänen bei Jasmund so
-wacker die Zähne gezeigt, war sein Held und Vorbild.
-
-Das war sicher: die Jungens gingen einmal andere Wege, als die
-Hackentins bisher, Generation auf Generation, gegangen waren. In ihnen
-war noch genug von dem feurigen guten Blut des alten Geschlechts, aber
-das Blut der Mutter hatte sich eingemischt, drang kräftig durch; mehr
-noch bei dem Älteren, aber doch auch bei Thede. Sie fanden sich gewiß
-einmal gut mit dem Leben ab und in ihm zurecht. Wurden vielleicht
-endlich einmal wieder Mehrer, nicht Verzehrer.
-
-Helene dachte oft: die Hackentins können es brauchen! Gerade in diesem
-Winter kam ihr das recht klar zum Bewußtsein.
-
-Daß es in Rackow kriselte, hatte sie schon im Sommer erkannt. Einmal
-erzählte Wilhelm, Ernst sei nur mit vieler List an der Schuldhaft
-vorbeigekommen. Nun erfuhr man, daß die Gläubiger das Sequester
-eingeleitet hatten. Dann kam Onkel Ernst nach Berlin. Aber wenn Helene
-gemeint hätte, daß er niedergeschlagen sein müsse, so hatte sie sich
-getäuscht. „Ja, ja, meine liebe Martha,“ meinte er mit seinem leisen
-behaglichen Lachen, „wir wären also glücklich pleite. Klingt sehr
-häßlich, nicht wahr? Ist aber gar nicht so schlimm. Ein paar Jahre, und
-wir sind wieder obenauf. Außerdem aber -- wozu hat man seine hübschen
-kleinen Konnexionen -- außerdem hab ich für die Karenzzeit ein Pöstchen
-als Kurdirektor in Ems erobert. Man kann auch so leben, meine Lieben.“
-Dabei sah er unter seinem Einglas um die Ecke auf Tante Marie hin.
-Deren kleines Gamingesichtchen war freilich ein wenig spitzer geworden,
-aber sie trug den Nacken noch steifer als sonst. „~Enfin~, ich
-freue mich auf Ems. In der Saison haben wir da die Creme der ganzen
-europäischen Gesellschaft. Lauer hat gesagt, Majestät müßten im Sommer
-unbedingt hin. Mignonne, ich lade dich ein, wir wollen ein bissel Staat
-mit dir machen. Aber dann bist du wohl schon ein glückliches kleines
-Frauchen, und Merivaux wird sich nicht von dir trennen wollen.“
-
-Als sie gegangen waren, lachte Wilhelm hinter ihnen her: „Ernst ist wie
-eine Katze, er fällt schließlich immer wieder auf die Füße. Vielleicht
-haben wir Hackentins alle etwas von der glücklichen Eigenschaft.
-Manchmal denk ich, unser Leichtsinn ist wie ein Schwimmgürtel, der
-in der Gefahr die besten Dienste tut ... Martha, ich bitt’ dich,
-mach’ nicht solch mechantes Gesicht. Und du, Lene ... na, du siehst
-ja jetzt oft aus wie eine betrübte Lohgerberswitwe, der alle Felle
-fortgeschwommen sind ... komisches Mädel ... nur daß dir auch das gut
-steht!“
-
-Ja, es mußte ihr wohl gut stehen, daß ihr Gesicht so viel schmaler, daß
-sein Ausdruck so viel ernster geworden war.
-
-Sie war nicht eitel, aber sie war doch ein junges Mädchen und ging
-dem Spiegel nicht aus dem Wege. Und wenn er es ihr nicht gesagt hätte,
-würden es ihr die Männeraugen verraten haben, die ihr überall folgten,
-bis zur Peinlichkeit.
-
-Einmal sagte sie zu Merivaux: „Ich hab heute nacht geträumt, daß ich
-die Pocken bekommen hätte. Furchtbar häßlich war ich geworden, und als
-du kamst, hast du dich mit Abscheu von mir gewendet.“
-
-„Aber, Helene, wie kann man nur solch törichtes Zeug träumen?“
-
-„Es ist gar nicht so töricht. Im Gegenteil, es beschäftigt mich
-sehr. Nimm einmal an, der Traum wäre Wahrheit, ich wäre plötzlich
-sehr häßlich geworden. Dann würde deine Liebe zu mir sehr schnell
-zerstieben. Das ist mir ganz sicher. Gib’s nur ehrlich zu -- ich nehme
-es dir nicht übel.“
-
-Sie sah ihm scharf in die Augen, wartete ungeduldig. Denn das wußte
-sie, er sprach immer die Wahrheit.
-
-Da wurde er ernst. „Es tut mir weh, daß du so klein von mir denkst.“
-
-„Ich denke gar nicht klein von dir. Es wäre ja nur natürlich, wenn du
-mich dann nicht mehr liebtest.“
-
-„Nein: es wäre sehr unnatürlich, Helene. Um der Wahrheit die Ehre zu
-geben: vielleicht würde ich mich in Helene Hackentin nicht verliebt
-haben, wenn sie nicht so wunderschön wäre. Aber verliebt sein und
-lieben ist doch zweierlei. Jetzt liebe ich dich! Und wahrhaftig: ich
-liebe doch nicht nur deine Schönheit, ich liebe dich um all deiner
-Eigenschaften willen. Ich lieb deine Stimme, ich lieb dein Herz und
-deine Seele, ich lieb dich, wenn du sonnig dreinschaust, und ich lieb
-dich, wenn die Schatten über deinen schönen Augen liegen. Glaub’ es mir
-nur: und wenn du heut häßlich würdest wie die Nacht, ich würde dich
-lieben, lieben -- lieben!“
-
-Er hatte seinen Arm um sie gelegt, er zog sie sanft an sich, enger
-dann, immer fester. Ihren Kopf bog er sacht zu sich, bis ihr Widerstand
-nachgab: „Ich liebe dich! Deine Seele liebe ich!“ Und er küßte sie auf
-die geschlossenen Lider, er küßte die geschlossenen Lippen. -- --
-
-Das waren wieder Augenblicke, in denen es in ihr Herz einzog, wie
-träumendes Glücksempfinden: „Ich werde ihn lieben ... ich liebe ihn
-schon ... vielleicht ... vielleicht lieb ich ihn wirklich ...“
-
-Dann folgten Stunden, Tage, in denen sie ruhiger wurde, glauben lernte,
-sich zurecht fand, sich zwang und besiegte. Um das Weihnachtsfest spann
-sich solche Zeit freieren, froheren Aufatmens für sie. Ein wohliges
-Gefühl des Zusammengehörens überkam sie, eigentlich zum ersten Male.
-Sie gingen miteinander durch die menschenüberfüllten Straßen, ihre
-kleinen Einkäufe zu besorgen. Mit den frohlockenden Jungens zogen
-sie im rieselnden Schnee auf den Weihnachtsmarkt, der rund um das
-alte Zollernschloß an der Spree aufgebaut war, traktierten sie bei
-Josty an der Stechbahn, dem großen Süßigkeitsmann, mit Schokolade und
-Pfannkuchen; Helene erzählte von Onkel Grucker und Tante Hufnagel, und
-Gaston erzählte, wie er in Berlin erst den Christbaum kennen gelernt
-und deutsches Weihnachten. Gemeinsam mit Martha schmückten sie die
-Tanne. Dann kam der heilige Abend selber mit seinem heimeligen Zauber,
-mit Fichtennadelduft und Kerzenweihrauch. So liebevoll hatte Gaston an
-sie und an alle gedacht, so herzlich freute er sich über ihre kleinen
-Gaben. Von einem zum andern ging er, küßte der Omama die Hand, ließ
-sich von ihr streicheln, wie ein Kind; stand dann mit der Braut unter
-dem leuchtenden Christbaum, sah sie mit seinen blauen zärtlichen Augen
-an, fragte leise, bittend: „Hast du mich lieb?“ Da drückte sie ihm die
-Hand und sagte hochaufatmend: „Ich hab dich lieb, Gaston.“ Sagte es,
-wie befreit, und war gewiß, daß sie die Wahrheit sprach.
-
-Durch die ganze frohe Festzeit hielt die schöne Stimmung an. Am
-Silvesterabend hatte Wilhelm nach den polnischen Karpfen einen Punsch
-gebraut. Rechte Fröhlichkeit wollte freilich nicht aufkommen; eine
-leise Wehmut lag auf dem kleinen Kreise, die Erinnerung an Vater, der
-am letzten Abend des Jahres immer seine kleinen Scherze getrieben
-hatte mit Schiffchenschwimmen und Bleigießen und groß gewesen war im
-Ausdeuten mit seinem „das heißt“. Unwillkürlich knüpfte sich manch
-anderer Rückblick auf das schwindende Jahr an. Wilhelm stöhnte ein
-wenig: es war geschäftlich ein schlechtes Jahr gewesen; der Zwist
-zwischen Regierung und Abgeordnetenhaus wollte nicht enden, und
-haarscharf nur war Preußen am Zerwürfnis mit seinem Bundesgenossen
-von Schleswig-Holstein her, mit Österreich, vorübergekommen. „Wie
-Blei lastet die Politik auf jeder Unternehmungslust“, meinte er. „Wer
-mag denn sein Geld riskieren, wenn vielleicht schon die nächsten
-Monate Krieg bringen können. Krieg mit Österreich -- es ist gar nicht
-auszudenken. Wenn Vater das erlebt hätte, der immer auf Österreich
-geschworen hat!“
-
-„Wir Soldaten -- wir sehnen natürlich solch frischen fröhlichen Krieg
-herbei“, warf Gaston dazwischen.
-
-Da schrak Helene zusammen: „Sag’ das nicht!“ bat sie leise. „Sag’ das
-nicht!“
-
-„Ich wär ein schlechter Soldat, wollt’ ich’s nicht sagen. Als
-Offizier Seiner Majestät ... nun ja, und es regt sich wohl auch das
-Landsknechtsblut meiner Ahnen. Damit mußt du dich schon abfinden,
-Helene.“
-
-„Krieg -- es ist etwas Schreckliches um den Krieg.“
-
-Omama saß am anderen Ende des Tisches, hatte ein kleines Nickerchen
-gemacht, aber die letzten Worte doch verstanden: „Kind,“ sagte sie, „es
-kann auch etwas Heiliges sein. Anno achtzehnhundertdreizehn ... ja ...
-und da haben die armen Frauen, die nichts anderes hatten, ihre goldenen
-Trauringe gegen eiserne vertauscht ...“
-
-„Leicht würde unser allergnädigster Herr gewiß den Mobilmachungsbefehl
-nicht unterschreiben“, meinte Wilhelm. „Krieg gegen Österreich -- und
-mit Österreich vielleicht ganz Deutschland gegen uns ... es bleibt ein
-Wagnis. Ich hoffe immer noch, Bismarck findet einen anderen Ausweg,
-obwohl oft behauptet wird, er triebe uns dem Kriege zu.“
-
-„... ja ... und Fräulein von Schmettau ließ sich ihr schönes Haar
-abschneiden ... hat’s an den Coiffeur verkauft und das Geld fürs
-Vaterland hingegeben ...“
-
-„Daß der Herr von Bismarck den Krieg will, glaube ich nicht. Aber er
-weiß wohl, daß der Krieg oft eine Notwendigkeit ist, um aus verrotteten
-Zuständen herauszukommen, und er kennt keine Furcht. Solche Politik
-treibt er sicher nicht, wie die, die uns arme treue Neuchateller elend
-im Stich ließ.“
-
-„... ja ... und da hielt ich das kleine Bändchen von Körner in der Hand
-... ‚Leyer und Schwert‘ stand darauf ...“
-
-Ganz still saß Helene.
-
-Sie dachte eigentlich nicht an Gaston, daß der mit hinausziehen
-müßte ins Feld. Es war nur eine unklare, unheimliche Angst in ihr.
-Harro tauchte vor ihr auf, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte: die
-Primanermütze keck auf dem lockigen Blondhaar. Und Tante Marianne in
-den schwarzen Trauerkleidern, mit dem blassen Gesicht, das kleiner und
-immer kleiner zu werden schien. Wie unzählige trauerten gleich ihr, und
-wie kurz war der Feldzug gegen Dänemark gewesen, wie gewaltig mußte ein
-Krieg gegen das mächtige Österreich werden. Wie gewaltig, wie blutig.
-
-Plötzlich brausten von der Straße her die lauten Neujahrsrufe. Die
-Glocken klangen.
-
-„Auf ein glückliches neues Jahr!“ rief Wilhelm. Merivaux stand vor
-seiner Braut, sah ihr in die Augen. „Ein glückliches neues Jahr,
-’elene,“ sagte auch er, und sie wußte, wie er das meinte und verstand.
-Beide Hände streckte sie ihm hin: „Viel Glück wünsch ich dir, Gaston --
-all das reiche Glück, das du verdienst!“
-
-Da kamen auch schon die Jungens hereingesprungen, halb angezogen nur,
-trotz des Verbots. Thede brüllte sein „Prosit Neujahr!“, Hans ging
-reihherum, seinen Glückwunsch zu sagen. Ganz zuletzt kam er zu Helene
-und Merivaux, machte ein etwas verlegenes Gesicht und einen etwas
-linkischen Kratzfuß und begann:
-
- „Das alte Jahr ist nun verschwunden,
- In dem ihr beide euch gefunden.
- +Du+ kamst aus stolzem Bergesland,
- +Du+ stammtest aus dem märkischen Sand:
- Es gibt der Berg und Talesgrund
- Ganz sicher einen guten Bund!“
-
-„Hallo!“ rief Wilhelm lachend. „Das sind ja Verse -- es reimt sich
-wenigstens.“
-
-Hans wurde rot wie ein Puter, aber er fuhr tapfer fort:
-
- „So lang ihr lebt, wird dieses Jahr
- Euch immer scheinen wunderbar.
- Und seid ihr alt wie Omama,
- Sagt sicher ihr: wie schön war’s da!
- Doch wünschen wir, die hier vereint,
- Daß euch die Sonn’ noch heller scheint,
- Daß ihr seid wieder übers Jahr
- Ein glückumstrahltes Ehepaar!“
-
-„Der Junge, der Junge!“ Wilhelm hatte sich in einen Sessel fallen
-lassen und klatschte in die Hände: „Was sagst du dazu, Martha? Na,
-Mamachen, das hat er sicher von dir!“
-
-Gaston hatte Hans rechts und links einen festen Kuß auf die roten
-Wangen gedrückt. Er war gerührt und wiederholte immer aufs neue:
-„Scharmant -- scharmant! Nicht wahr, Helene? Scharmant: ‚Daß ihr seid
-übers Jahr -- ein glückumstrahltes Ehepaar.‘“
-
-„Ja, Gaston“, sagte Helene leise. Und nahm Hansens Kopf zwischen ihre
-beiden Hände: „Du guter Junge ... ich danke dir ...“
-
-Omama hatte, während Hans sein Poem deklamierte, aufgemerkt, und, die
-Lippen bewegend, still mitskandiert; einmal den Kopf geschüttelt, dann
-so lebhaft zustimmend genickt, daß die schwarzen Schläfenlocken weit
-vornüberfielen. Nun wollte sie aufstehen. Martha sprang hinzu, stützte
-sie. So ging sie langsam um den Tisch herum, legte dem Enkel ihre Hand
-auf den Scheitel, machte vor dem Brautpaar einen kleinen graziösen
-Knix, und es schien, als wollte auch sie irgendein eigenes Verslein
-sprechen. Aber sie fand wohl die Worte nicht, murmelte ein Weniges, was
-niemand recht verstehen konnte, und sagte dann endlich: „Ja ... ja ...
-ihr Kinder ... übers Jahr ... ein glückumstrahltes Ehepaar ...“ -- --
-
-Am Neujahrstag war Helene in der Garnisonkirche gewesen, auf Merivaux’
-besonderen Wunsch, denn sonst ging sie meist mit Martha zu Büchsel in
-die Matthäikirche. Aber Gaston wollte, daß sie einmal Strauß predigen
-hören sollte -- und Gaston selber war heut in die Garnisonkirche
-kommandiert. Sie hatten sich freilich nur flüchtig begrüßen können.
-Aber er hatte ihr doch nach dem Gottesdienst vor der Tür die Hand
-geküßt, und sie hatte ihm dann noch nachgeschaut, während er seine
-Gardeschützen die Alte Friedrichstraße heraufführte, zurück zur Kaserne.
-
-So herrlich hatte Strauß gesprochen. Über die Unruhe der Zeit und den
-Frieden im eigenen Herzen. Der alte König hatte in der Loge gesessen,
-mitten unter seinen Kriegern, ehrwürdig und sichtlich ergriffen.
-
-An die Predigt dachte Helene und an den königlichen Greis, während
-sie langsam über die Spreebrücke schritt, am Museum vorbei, durch den
-Lustgarten. An die Unruhe der Zeit und den inneren Frieden, den Frieden
-des Herzens. Auch ihre Zeit war voll Unruhe gewesen, aber nun zog
-allmählich der Friede in ihr Herz. „Wir müssen um ihn kämpfen, auf daß
-er uns gegeben werde!“ hatte der Prediger gesagt. Auch sie hatte um ihn
-gerungen, nach ihren Kräften, und nun fühlte sie ihn in ihrer Brust.
-Nicht freilich als ein berauschendes Glück. Aber der Friede nach dem
-Kampf war wohl nimmer solch ein ganzes, volles Glück, denn das Weh der
-Kämpfe mußte noch lange, lange nachklingen. Und doch ein Glück! Eine
-wohlige Ruhe, ein friedvoller Ausblick aus der Gegenwart in die Zukunft
--- das war es!
-
-Über die Schloßbrücke ging Helene, am Kronprinzenpalais und dem
-Opernhaus vorüber; blieb ein paar Augenblicke am Denkmal des Großen
-Friedrich stehen, sah zu dem Eckfenster des Palais empor, an dem sich,
-wie sie gehört hatte, der König häufig zeigte, wenn die Wache aufzog.
-Aber es war wohl noch zu früh. Langsam ging sie weiter, die Linden
-entlang.
-
-Gerade wollte sie die Charlottenstraße überschreiten, da erschrak sie
-heftig. Es war wie ein Schlag. Das Herzblut stand ihr still ...
-
-Drüben, vom Gendarmenmarkt her, kam ein Paar.
-
-Eine elegante, nein -- eine aufgeputzte Dame, sehr groß, sehr robust,
-mit flatternden Hutbändern um das volle Gesicht, das gewiß einst schön
-gewesen war --
-
-Und neben ihr -- neben ihr -- Alfred Schwarz --
-
-Fliehen wollte Helene, fliehen. Aber ihr Fuß stand wie gebannt.
-
-Mühsam trat sie endlich ein paar Schritte zurück, trat in einen
-Hauseingang. Er sollte sie nicht sehen, durfte sie nicht erkennen.
-
-Doch dann fühlte sie: er erkannte sie nimmer.
-
-Alles sah sie, nichts entging ihr, während sie tief in den Hauseingang
-gedrückt stand und das ungleiche Paar drüben vorüberging, so nah, daß
-sie die laute Stimme der Frau hören konnte. Nicht die einzelnen Worte,
-aber den unfreundlichen, schneidenden Ton.
-
-Alles sah sie. Er war noch immer sehr elegant angezogen, aber die
-Kleider schlotterten um seine Glieder. Die Frau -- seine Frau sprach
-auf ihn ein. Da kam ein spöttisches Lächeln in seine Züge. Dann schlich
-er weiter. Sein Stock stieß schwer auf die Steine. Jetzt bogen sie in
-die Linden ein -- -- --
-
-Helene stand noch immer in der Flurnische und rührte sich nicht. Sie
-starrte auf die Stelle, wo er soeben drüben Halt gemacht hatte, um Atem
-zu schöpfen, wo er spöttisch gelächelt hatte, wie jemand lächelt, der da
-denkt: was verschlägt’s?! Der Vorhang fällt, die Komödie ist aus -- --
-
-Das Herz krampfte sich ihr zusammen.
-
-Das also war die Frau, um derentwillen er sie betrogen hatte und
-gedemütigt! Kaum zweihundert Schritte von hier, damals, als sie in der
-Winternacht vor seinen Fenstern stand, als hinter den blauen Vorhängen
-die Lichter aufflammten und die Silhouetten sich scharf abzeichneten:
-er und sie --
-
-Wie die Erinnerungen kamen! Da hatte man geglaubt, sie seien eingesargt
-für immer. Und nun stiegen sie empor, lebten ein neues Leben, bohrten
-sich ins Herz.
-
-Die Erinnerungen kamen und der Zorn und die Scham. Und dann über alles
-hinweg das große, große Mitleid.
-
-Es war nicht mehr Liebe. Aber es war doch das Mitleid, das aus der
-Liebe geboren war. Die war tot, war tot -- und lebte doch weiter
-in diesem alles durchdringenden Mitleid. Sie lebte weiter in den
-Erinnerungen, die längst eingesargt waren, und die doch wieder
-auferstanden, wühlten und schmerzten. Die immer wieder auferstehen
-würden, über die nichts hinwegtrug -- nichts --
-
-Und alles andere war Betrug und Selbstbetrug. Betrug war und Einbildung
-der erkämpfte Frieden. Betrug war, daß dies Herz je, jemals einen
-anderen lieben könnte. Betrug war jeder Kuß, den diese Lippen gaben,
-Betrug jedes Wort der Zärtlichkeit, Betrug jede Hoffnung auf ein
-zukünftiges Glück. -- --
-
-Zu Hause waren sie im Festtagskleide und in Festtagsstimmung. „Schade
-nur, schade, daß der gute Gaston heut nicht kommen konnte, daß er
-Kasernendienst hatte. Gerade heute, armes Bräutchen ...“ meinte
-Wilhelm. „Bissel elend sieht die Helene aus. Hat wohl ein kleines
-Silvesterkäterchen.“
-
-Sie scherzten und lachten. Sie konnten scherzen und lachen und das neue
-Jahr in Gedanken und Wünschen mit Rosengirlanden umwinden -- -- --
-
-Dann saß Helene in der Enge ihres Zimmers und schrieb, während Omama
-dicht neben ihr auf dem Kanapee träumte, Bogen auf Bogen an Gaston;
-zerriß Bogen auf Bogen, kämpfte ihre Tränen und ihr Schluchzen
-herunter, daß Omama nichts merke, setzte wieder an, fand nicht Anfang
-und nicht Ende.
-
-Was sollte sie schreiben?!
-
-Bis sie dann endlich, in angstvoller Verzweiflung, ein paar Worte fand:
-
-„Ich flehe Dich an, Gaston, gib mich frei. Wenn Du mich lieb hast,
-und ich weiß, Du hast mich sehr lieb, so gib mich frei. Ich bin sehr
-schlecht. Ich habe Dich betrogen und belogen. Ich kann nicht vergessen,
-und von Dir weiß mein Herz nichts. Sei Du barmherzig zu mir, wie Du
-immer gütig warst: gib mich frei. Deine unglückliche Helene.“
-
-Sie überlas gar nicht, was sie geschrieben hatte, kuvertierte, schrieb
-die Adresse, huschte die Treppe hinunter zum nächsten Briefkasten, warf
-den Brief ein. Und wäre fast zusammengebrochen, als der kleine Deckel
-mit leisem Rascheln zuschlug -- hinter dem Briefe, der ihr Schicksal
-barg.
-
-In fliegender Hast, wie gepeitscht, war sie auf die Straße geeilt.
-Schwer und langsam stieg sie die Treppe hinauf. Und suchte sich einen
-stillen Winkel, um sich auszuweinen. Zu weinen um den einen und um den
-anderen. -- --
-
-In all ihrer Verzweiflung stand ihr eins klar vor der Seele: daß
-Gaston sie nicht ohne Kampf aufgeben würde. Sie wußte, er kam gewiß.
-Sie wartete darauf mit angstvollem Herzen, suchte ihre armen schwachen
-Waffen der Abwehr zu schmieden. Rechnete sich aus: in aller Frühe
-hat er deinen Brief; der Dienst wird ihn noch ein paar Stunden
-festhalten, aber dann -- dann kommt er -- und er wird vor dir stehen
-und Rechenschaft fordern.
-
-Er kam. Noch früher, als sie erwartet, schon gegen zehn Uhr.
-
-Sie hörte die Flurschelle, hörte seine Stimme. Er sprach mit Martha:
-„Wo ist Helene?“ -- „Guten Morgen, lieber Gaston. Entschuldige meine
-Toilette. Helene? Drinnen bei Omama --“ Dann kamen seine festen Tritte
-durch das Wohnzimmer, dann ging die Tür --
-
-Helene saß neben ihrer Mutter am Fenster, zum erstenmal wohl im Leben
-wie bei Omama Schutz suchend. Saß mit dem Rücken gegen die Tür, wagte
-nicht aufzustehen, nicht aufzusehen.
-
-Er kam gerade auf beide los, küßte Omama die Hand, sagte: „Ich muß
-Helene allein sprechen. Du erlaubst wohl.“ Nahm Helene an der Hand,
-zwang sie mit sanftem Druck. Willenlos folgte sie. In das Nebenzimmer
-führte er sie, bis zum Sofa. Und als sie dann saß, faßte er wieder ihre
-Hand und sagte: „Meine liebe arme Helene!“
-
-Sie bebte, und die Tränen kamen ihr, als sie seine warme Stimme hörte,
-den zärtlichen Druck seiner Hände fühlte.
-
-„Wollen wir deinen Brief nicht als ungeschrieben betrachten?“ fragte
-er. „Du hast das in der Erregung geschrieben, unter irgendeinem fremden
-Einfluß. Es ist am besten, Helene, wir vergessen es beide.“
-
-Sie schüttelte nur langsam den Kopf.
-
-„Liebe Helene, du bist sehr sensibel, läßt dich von Stimmungen
-beeinflussen. So war es sicher auch gestern. Ich glaube nicht, daß du
-mit Überlegung geschrieben hast. Vielleicht weißt du heut gar nicht
-mehr, was du schriebst. Sag’ mir, daß es dir leid tut. Ein Wort von
-dir, und es ist alles wieder gut.“
-
-Er sprach ganz ruhig. Aber sie fühlte aus dem Unterton seiner Stimme,
-wie traurig er war.
-
-Wieder konnte sie nur den Kopf schütteln. Doch dann machte sie
-plötzlich ihre Hand frei, hob sie vor die Brust und bat mit einer
-letzten starken Willensanspannung: „Ich bitte dich ... laß mich frei!“
-
-Es war ein Schweigen zwischen ihnen.
-
-„Wenn ich dich nicht so heiß liebte, Helene,“ sagte er dann, „würde
-ich nun gehen. Wenn ich dich nicht so sehr liebte, wäre ich gar nicht
-gekommen. So aber ... Du mußt mich hören. Gerade in der letzten Zeit
-fühlte ich deutlich, daß alles anders, besser zwischen uns wurde. Ich
-war so beglückt darüber. Und nun ... nun dein jäher Entschluß.“
-
-Er wartete. Aber sie schwieg, hatte immer noch beide Hände vor die
-Brust gedrückt, sah starr zu Boden.
-
-„Helene, das weißt du: du hast in mir den treusten Freund.“
-
-Sie nickte ein paar Male, schluchzte leise auf.
-
-„Würde es dein armes wundes Herz nicht erleichtern, wenn du dem
-treuen Freunde Vertrauen schenktest? Vielleicht kann er dich trösten,
-vielleicht könnte er dir raten und helfen.“
-
-Da sah sie auf und ihn an. Wie durch einen Flor von Tränen sah sie sein
-trauriges Gesicht und seine gütigen Augen.
-
-Er nahm wieder ihre eiskalten Hände in die seinen.
-
-„Sprich dich aus, Helene“, bat er. „Du wirst Verständnis bei mir
-finden. Denn das, was du schreibst: ich mag es gar nicht wiederholen --
-das ist ja alles nur Traum und Selbstquälerei. Sprich nur, Helene, sag’
-mir alles ...“
-
-Da begann sie.
-
-Aber sie stockte gleich wieder. Hub wieder an --, sagte ganz leise:
-„Ich kann nicht, Gaston ...“
-
-„Versuche es nur. Nicht um meinetwillen ... denk’ nur immer daran: hier
-sitzt dein bester Freund, der dir gern beistehen möchte in deiner Not.“
-
-So sagte sie ihm alles. Ihr jubelndes Glück und ihr tiefstes Leid und
-wie sie sich langsam aufgerichtet hätte und gestern, gestern noch froh
-und glücklich gewesen wäre, bis sie ihm begegnet war. Ihm! Wie da alles
-wieder in ihr aufgelebt wäre, plötzlich, in tausend Schmerzen --
-
-In kleinen Bruchstücken nur kam es über ihre Lippen. Sie mußte sich oft
-zwingen. Sie weinte leise. Fand wieder ein paar Worte, mühsam, hastete
-dann in ihrer Rede wie im Fieber. Ihre Hände zitterten in den seinen,
-krampften sich zusammen, streckten sich wieder --
-
-Und endlich schloß sie: „Ich bin sehr schlecht gewesen zu dir. Ich hab
-dich belogen und betrogen, damals im Park ... und immer ... immer. Ich
-kann ja nicht vergessen ... es ist ja gar nicht aus in mir ... es wird
-ewig leben ... und nun geh, lieber Gaston, geh ... vergiß du mich ...
-wenn du kannst, verachte mich nicht ...“
-
-Sie konnte nicht weiter. Tief sank der Kopf auf die Brust. Schluchzen
-erstickte die letzten Worte und ward zum stillen Weinen.
-
-Aber in diesem Weinen keimte allmählich ein Verwundern in ihr auf:
-warum hält er immer noch meine Hände? Und warum tut mir das so wohl ...
-
-Dazwischen hörte sie seine Stimme: „Weine dich nur aus, Helene“, und
-nach einer Weile: „Kannst du mich jetzt hören?“
-
-„Ich danke dir viel, vielmal für dein Vertrauen, Helene“, begann
-er dann. „Nichts ist, als daß deine Nerven dir einen bösen Streich
-gespielt haben. Still, Helene, höre nur weiter. Niemand von uns
-vergißt wohl je ganz eine große Freude, ein großes Leid. Das mag tief
-untertauchen im Gedächtnis, aber plötzlich ist es wieder auf der
-Oberfläche. Vergessen können wir alle nicht, wir können nur überwinden.
-Darauf kommt es an. Du aber hast ja längst überwunden.“
-
-Sie schüttelte wieder schwer den Kopf.
-
-„Du hast es, glaub’ es mir. Die Erschütterung riß nur den Schmerz
-wieder auf. Laß einige Tage dahingehen, und auch das ist überwunden.
-Seh ich aus wie einer, der sich betrogen und belogen fühlt. Sieh doch:
-ich lächele schon wieder.“
-
-Sie sah immer noch wie durch einen Schleier von Tränen. Aber sie sah,
-daß er wirklich lächelte, ihr wie ermutigend zulächelte aus seinen
-guten Augen. Und lächelnd fuhr er fort:
-
-„Ja, Helene, sieh mich nur an! Mit deinen lieben, zagen, zweifelnden
-Augen. Es wird nicht in Trümmer gehen, ich halte es, mein Glück! Ich
-lasse dich nicht, Helene! Ich halte dich, ich zwinge dich. Man zwingt
-nicht nur mit Gewalt: Liebe und Geduld, Geduld und Liebe sind meine
-Waffen. Und ich werde siegen!“
-
-
-
-
-Elftes Kapitel
-
-
-Martha und Merivaux saßen im Wohnzimmer sich gegenüber.
-
-Es war Ende März, und draußen meldete sich der erste Frühling. Zag
-noch, wie verschämt, aber ausnahmsweise kalendermäßig. Auch die
-Truppen hatten bereits Frühling gemacht, zogen fleißig auf den
-Kreuzberg, früher als sonst; es lag ja außer dem milden Frühlingswehen
-auch allerlei Unruhe in der Luft. Österreich, hieß es, mobilisierte
-insgeheim. Man erzählte wieder einmal von scharfen diplomatischen Noten
-über die Regelung der Verhältnisse in Schleswig-Holstein, über die
-Erbansprüche des Augustenburgers, denen Bismarck im Interesse Preußens
-widerstrebte; man erzählte, wie hinter diesen Noten das Verlangen nach
-einer neuen Ordnung des deutschen Bundes stehe.
-
-Darüber sprachen auch Martha und Gaston.
-
-Er war von einer Truppenübung gekommen, hatte am Halleschen Tor sein
-Pferd dem Burschen übergeben und war heraufgesprungen, um Helene guten
-Morgen zu sagen. Aber sie war ausgegangen. Martha meinte, sie müsse
-bald heimkehren. Da bat er um ein Butterbrot.
-
-Und so saßen sie sich gegenüber; er frühstückte und erzählte allerlei,
-was die Zeitungen in den letzten Tagen gebracht und was er sonst
-erfahren hatte. Er sprach sehr lebhaft und war sehr entrüstet über die
-laue Stimmung in Berlin.
-
-Martha hörte lächelnd zu, bis er plötzlich schwieg und, nun auch
-lächelnd, meinte: „Ich glaube, beste aller Schwägerinnen, du lachst
-ganz veritabel über deinen untertänigsten Diener.“
-
-„Das nun gerade nicht, Gaston. Eigentlich freu ich mich nur über dich.
-Aber, weißt du, merkwürdig kommt’s mir schon vor, wie du dich verändert
-hast.“
-
-„Ich? Wieso denn?“
-
-„Ja, so leicht ist das nicht zu sagen. Einmal rein äußerlich. Wenn ich
-so denke, wie du radebrechtest, fast radebrechtest, als ich dich kennen
-lernte, und wie gut du jetzt unsre swere Sprak’ sprichst -- das ist
-doch schon erstaunlich. Sogar über das H kommst du ganz glatt hinweg.“
-
-„Das macht die Übung, Martha. Gerade des H! Denk’ doch nur, wenn man
-alle Augenblicke Helene sagen möchte, wenn man sogar Helene laut denkt,
-alle Tage, alle Stunden, alle Minuten --“
-
-„Sei so gut und laß wenigstens die Sekunden aus. Obwohl ich dir das
-auch zutrauen würde. Die Sprache ist doch nur ein Äußerliches. Du hast
-dich aber in den letzten Jahren auch zum Preußen umgedacht.“
-
-„Umgedacht -- das ist ein neues Wort, das ich mir merken werde. -- Ich
-bin doch Offizier Seiner Majestät des Königs von Preußen.“
-
-Sie schob ihm den Teller mit den Brötchen näher und schenkte ihm sein
-Glas wieder voll.
-
-„Das warst du früher auch. Aber du warst es, sozusagen, als
-Neuchateller. Jetzt aber merke ich, daß du ganz Preuße geworden bist.
-Fast möchte ich sagen: Märker. Wie du vorhin auf die Demokraten
-geschimpft hast, mußte ich an meinen guten seligen Schwiegerpapa
-denken. Viel besser konnte das der alte Rittmeister auch nicht.“
-
-Martha hatte bisweilen im Gesicht einen Ausdruck von Schelmerei, der
-ihr allerliebst stand. So auch jetzt. Gaston machte ihr eine kleine
-Verbeugung: „Ich muß dich öfter zum Lächeln bringen,“ meinte er, „du
-hast dann zwei Grübchen in der Wange, die ganz reizend sind. Pardon
-für die Abschweifung. Ja ... du hast recht,“ fuhr er fort, „als ich
-eintrat, war mir Preußen eigentlich völlig Nebensache. Aber es ist wohl
-so: wenn man mit Leib und Seele Soldat ist, schließt man sich eben an
-das große Ganze immer enger an. Und dies Preußen hat überhaupt eine
-merkwürdige Assimilationskraft. Eure Mark noch besonders. Erst hab ich
-riesengroße Sehnsucht nach meinen Bergen gehabt und euren Sand fast
-gehaßt. Nun lieb ich ihn.“
-
-„Es blüht freilich ein gewisses schönes Röslein auf diesem Sande -- ein
-schönes Röslein, wenn es auch Dornen hat.“
-
-„Laß nur die Dornen, ~ma belle-sœur~ -- Die sind gar nicht so bös
-mehr ... Aber es scheint, da kommt Helene --“
-
-Er war, als die Flurglocke klang, sofort aufgesprungen und ging seiner
-Braut entgegen. Die Tür blieb offen. Martha konnte von ihrem Platz
-aus gerade sehen, wie sie sich begrüßten. Sie lächelte wieder, aber
-diesmal fehlte die Schelmerei in ihrem Gesicht. Sie wunderte sich nur,
-sie ärgerte sich ein wenig, und sie dachte daran, wie sie einst ihrem
-Wilhelm bei jedem Wiedersehen, und wenn es nach einer Trennung von
-wenigen Stunden gewesen, an den Hals geflogen war.
-
-Diese beiden da blieben ewig und immer zeremoniös. Gaston küßte
-Helene die Hand, sie hielt ihm, wenn es hoch kam, die Wange hin; dann
-schüttelten sie sich die Hände wie zwei gute Freunde; er nahm ihr den
-Mantel ab, und sie sprachen miteinander wieder wie gute Kameraden. Sie
-hörte es: „Du hier, Gaston!“ -- „Ja, Helene, auf einen Sprung, gerade
-vom Kreuzberg. Verzeih den Dienstanzug.“ -- „Aber ich bitt dich.“ --
-„Wo warst du denn, wenn ich fragen darf?“ -- „Bei Frau Harriers.“ --
-„Das freut mich --“
-
-Früher, vor zwei, drei Monaten noch, war zwischen den beiden dort
-häufig etwas wie ein Kampfzustand gewesen, ein heimliches Ringen, das
-auch dem Unbeteiligten nicht verborgen bleiben konnte. Jetzt schienen
-sie sich in einem schönen Gleichmaß gefunden zu haben. Schön? War
-dies Gleichmaß wirklich schön? Ja ... wenn man nicht beiden doch
-immer angemerkt hätte, daß es nur auf ein Beherrschen herauskam. Wenn
-man nicht das starke Temperament gekannt hätte, das in den beiden
-steckte. Auch in der Lene. Gerade in der Lene! Man brauchte ja nur
-zurückzudenken --
-
-Sie kamen herein. Helene nickte der Schwägerin zu. „Kann ich von
-Gastons Frühstück mit profitieren?“
-
-„Du wirst dem hungrigen Kriegsmann doch nicht seine paar kümmerlichen
-Brötchen fortessen. Wart’, ich hol’ dir was.“
-
-Hinaus war sie. Aber hinter der Tür blieb sie stehen. ‚Die Welt wird
-nicht umstürzen, wenn ich einmal lausche. Ob sie sich jetzt wenigstens
-einen ordentlichen Kuß gaben?‘
-
-Sie horchte vergeblich. Die da drinnen sprachen wie zwei gute Freunde.
-Von Musik natürlich wieder. Musik ist ja eine schöne Sache -- ohne
-Zweifel. Aber ein Brautpaar hat doch eigentlich etwas Besseres zu tun.
-„Wir haben die Elsa wieder aufgenommen ...“ „Ich hätte mir den Schritt
-vom belcanto zu Wagner doch nicht so schwer gedacht ...“ „Alles kommt
-darauf an, den Charakter herauszuarbeiten, der Persönlichkeit gerecht
-zu werden.“ ‚Du mein Gott, werdet euch doch selber gerecht, ihr beiden
-lieben Narren. Wenn ihr wüßtet, wie kurz selbst eine lange Brautzeit
-ist und daß sie so nie wiederkehrt. Ihr Narren -- ihr Narren!‘
-
-Ärgerlich gab sie den Lauscherposten auf, ging in die Küche, machte
-eigenhändig eine Schrippe zurecht, benutzte die Gelegenheit, ihrer
-Minna nach bewährtem Rohlbecker Rezept gründlich den Kopf zu waschen,
-weil gestern abend ein baumlanger Grenadier vor der Küchentür gestanden
-hatte -- „anständige Mädchen sind nicht so verliebt wie du dumme
-Trine!“ -- und ging ins Wohnzimmer zurück.
-
-Da saßen die beiden immer noch in ansehnlicher Distanz und sprachen
-immer noch kluge Worte. Diesmal hatten sie die Literatur beim Wickel.
-Natürlich -- Lene schmökerte ja neuerdings in jeder freien Stunde,
-anstatt mal in der Küche nach dem Rechten zu sehen, was für eine
-angehende Hausfrau jedenfalls wichtiger wäre. Und wovon schnackten sie?
-Von dem neuen Roman, von dem jetzt alle Welt redete, der „Ägyptischen
-Königstochter“. Hilf, Himmel ... wann spielte die Geschichte? Im
-sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt? Wenn es noch der herrliche
-Roman gewesen wäre, der jetzt gerade in der „Gartenlaube“ erschien:
-„Goldelse“ hieß er ja wohl. Aber das alte Ägypten!
-
-Da saßen sie und redeten Bücher, und die Schrippe rührte Helene auch
-nicht an. Redeten und redeten -- und machten sich selber nur was
-vor. Man brauchte sie ja nur anzusehen: Gaston sprach ganz ruhig,
-in seinem allerschönsten Deutsch, aber in seinen Augen lohte das
-verhaltene Feuer. Die Marlitt, oder wie die Verfasserin des Romans in
-der „Gartenlaube“ hieß, hätte leidenschaftliche Augen nicht besser
-beschreiben können, als man sie hier sah. Und Lene saß da, sprach
-ebenso ruhig, sah aber gar nicht auf. Nun, man kannte ja ihre Augen. In
-denen lag jetzt immer ein eigner feuchter Schimmer. Man kannte sie --
-aber klug wurde man aus ihnen nicht und aus Helene überhaupt nicht. Nur
-daß das Gesicht immer blasser und immer schmaler wurde, das sah man,
-aber dabei wurde das Mädel auch immer hübscher. Zum Verwundern war’s.
-
-Endlich schien sich Gaston an Marthas Anwesenheit zu erinnern.
-
-„Wo ist Wilhelm eigentlich, liebe Martha?“
-
-„In Warschau. Es schwebt da ein Projekt wegen der Verlängerung der Bahn
-über die russische Grenze hinaus.“
-
-„Der gute Wilhelm muß viel auf der Eisenbahn liegen.“
-
-„Ja -- leider --“
-
-Dann sprachen die beiden schon wieder miteinander. „Wir müssen
-nächstens in die Ausstellung am Kantianplatz, Helene. Es ist ein
-wunderschöner Richter dort.“
-
-‚Wofür die sich auch alles interessierten? Musik -- Literatur --
-Malerei -- und waren Braut und Bräutigam und saßen da wie die Ölgötzen.
-
-Mochten sie! Was hatte Gaston gesagt? Der gute Wilhelm! Ja ... leicht
-hatte er’s ja nicht. Aber man hatte es auch nicht leicht, so viel
-allein mit den großen Jungens, die Vaters Hand noch so sehr bedurften.
-So viel allein! Beinahe so viel allein, wie früher in Rohlbeck. Aber es
-ging wohl nicht anders. Zuerst war der Verdienst an der Bahnkonzession
-wie unerschöpflich erschienen. Du mein Gott! Nachher war er zum
-größten Teil vorgegessenes Brot gewesen. Als Tante Marianne bezahlt war
-und die vielen Wechsel eingelöst waren, da blieb nicht arg viel. Sparen
-konnte Wilhelm ja nicht -- leider --‘
-
-‚Leider --‘
-
-Und da ging die Tür, und Omama kam herein, auf ihren Stock gestützt.
-Die schwarzen Locken pendelten rechts und links von den Schläfen, und
-sie hatte wieder nur auf einer Wange Rouge aufgelegt. Aber sie lachte
-vergnügt: „Ich muß doch einmal nach unserem lieben Brautpärchen sehen
-... Was das Lenchen heut wieder für verliebte Augen macht ...“ -- --
-
-Gaston hätte wohl vor Glück gejauchzt, wenn aus Helenes Augen ihm
-einmal die Liebe entgegengeleuchtet haben würde. Aber sie blieb
-gemessen und kühl. Sie wehrte sich nicht mehr, sie trotzte nicht mehr,
-sie weinte nicht mehr. Sie schien ganz ruhig geworden nach dem einen
-letzten großen Sturm um die Jahreswende.
-
-Er wartete.
-
-Es gab wohl Stunden, in denen er verzweifeln wollte, in denen er
-meinte: es geht so nicht weiter, du trägst es nicht mehr! Du pochst
-gegen einen Stein, der nie Funken sprühen wird.
-
-Aber er zwang sich immer wieder.
-
-Sie waren wirklich gute Freunde geworden. Martha sah ganz recht.
-
-Manchmal dachte Helene: es ist ja nicht anders als früher, wir waren
-ja immer gute Kameraden. Manchmal dachte sie: wir werden immer gute
-Freunde bleiben, ohne Streit und Zwist; was könnte ich mir Besseres
-wünschen; wie viele Ehen mögen selbst dieser Freundschaft entbehren.
-Aber oft, oft, in einsamen Stunden schrie es auch in ihr: soll es nun
-immer, immer so weitergehen! Und wenn du’s erträgst, kann er es denn
-ertragen, soll er darben ein ganzes langes Leben hindurch! Denn sie
-fühlte, daß hinter seinem beherrschten Wesen die Leidenschaft wachte,
-daß er wartete von Tag zu Tag. Und je vertrauter sie miteinander
-wurden, desto mehr litt sie um ihn, und konnte ihm doch nicht helfen.
-
-‚Gib mich frei!‘ hatte sie ihn noch einmal gebeten. Er hatte nur
-den Kopf geschüttelt. In seinem Gesicht aber stand dabei ein fast
-fanatischer Ausdruck, wie sie ihn einst auf alten Märtyrerbildern
-gesehen hatte: ein Ausdruck des Leidens und des Glücks im Leiden.
-Dann war das Gesicht weich geworden. ‚Niemals!‘ hatte er gesagt. ‚Du
-kannst mir verbieten, dich zu sehen. Dich zu lieben kannst du mir nicht
-verbieten.‘
-
-Oft dachte sie an seine Worte: ‚Wir alle können nicht vergessen, aber
-wir können überwinden. Und du hast längst überwunden.‘
-
-Sie hatte nicht daran geglaubt, damals, als die Begegnung mit Schwarz
-ihr das Herz zerrissen. Nun wußte sie, daß er doch recht gehabt.
-
-Wenige Tage später sprach Frau Harriers-Wippern plötzlich von Schwarz.
-Achselzuckend, mitleidig: „Sie kannten ihn ja. Er war immer ein Bruder
-Leichtsinn, der seine Gaben verschleuderte wie sein Geld. Jetzt war
-er hier, ohne Engagement. Zu mir ist er nicht gekommen, er schämte
-sich wohl. Aber ich hörte, daß es ihm schlecht geht, und daß er sehr
-unglücklich mit seiner Frau lebt. Röder hat ihnen beiden schließlich
-ein Engagement nach Odessa besorgt, aber mit einer Gage, die wohl
-gerade nur das Leben fristet.“ Sie seufzte leise. „Einer von vielen.
-Wer in unserem Beruf nicht Charakter hat und starken Willen, der leidet
-leicht Schiffbruch.“
-
-Sie hatte es geahnt, und das Mitleid preßte ihre Seele, als sie es
-nun hörte. Die heiße Erregung jedoch, welche die Begegnung in ihr jäh
-wachgerufen, zitterte nicht mehr in ihr. Es war so, wie Gaston gesagt:
-überwunden hatte sie. Nur das Mitleid blieb. Und vielleicht nur ein
-dumpfes Weh: Die Leidenschaft für ihn hat all deine Kraft zur Liebe so
-ausgeschöpft, daß dein Herz arm geworden ist und arm bleiben wird für
-immer.
-
-Gaston sprach zu ihr nie von dem Termin der Hochzeit.
-
-Aber sie hörte, daß er mit den Geschwistern davon gesprochen, daß er
-den Frühherbst in Aussicht genommen hatte. Dann und wann kam auch die
-praktische Martha mit einer Anfrage wegen der Aussteuer. Sie hatte
-schon Leinen eingekauft und die Näherin im Hause, als könnte es gar
-nicht anders sein. Als ganz selbstverständlich, als Pflicht nahm sie es
-an, daß sie für Mutter eintrat.
-
-Zuerst war Helene zusammengezuckt, als Martha von all dem sprach. Aber
-dann hatte sie lächeln können. „Du ordnest das gewiß am besten -- ich
-danke dir.“ Und sie wunderte sich selber: ihr graute nicht vor der
-Entscheidung, ganz ruhig nahm sie sie hin. Wieder mit dem Empfinden:
-wie wenigen Mädchen mag die Erfüllung der höchsten Wünsche vergönnt
-sein, wie unendlich viele müssen sich bescheiden. Du hast es immer noch
-gut: Du hast Gaston sehr gern, du schätzt ihn, ihr seid eins in so
-vielem, so vielem. Unglücklich mit ihm kannst du nie werden. Nur ob du
-ihn glücklich machen wirst ...?
-
-Sie war ruhig und gefaßt.
-
-„Meine liebe Hackentin“, sagte einmal Frau Harriers etwas unzufrieden.
-„Sie sind ein wunderliches Menschenkind. Ich habe bei meinen
-Schülerinnen doch schon so manches erlebt, aber solche Wandlungen noch
-nie wie bei Ihnen.“
-
-Helene wurde rot. Sie hatte immer noch diesen jähen Farbenwechsel, ja
-er war wohl noch auffallender, seit ihr Gesicht blaß und durchsichtig
-geworden war. „Was hab ich denn verbrochen?“ fragte sie etwas kleinlaut.
-
-„Gar nichts. Sie schreiten in der Technik unaufhaltsam fort, ich werde
-Ihnen bald nichts mehr zu geben wissen. Aber die Technik ist doch nicht
-alles. Du lieber Gott! Das Organ gab Ihnen die gütige Natur, und wer
-die Stimme hat, kann schließlich bei dem nötigen Fleiß all das dazu
-lernen, was die Kunst zu lehren vermag. An Fleiß fehlt’s bei Ihnen auch
-nicht. Aber ich habe mit Ihnen Zeiten von so schwankender Stimmung
-durchgemacht, daß ich manchmal vor Rätseln stehe. Wie oft hab ich
-zügeln müssen, wenn das Temperament mit Ihnen durchgehen wollte --“
-
-Sie standen vor dem Flügel. Die Stunde war beendet, im Vorzimmer
-wartete wohl schon eine andere Schülerin, oder der Herr Baumeister, der
-Gatte der Sängerin, wartete gar mit dem Mittagessen. Frau Harriers war
-ein wenig ungeduldig. Sie schloß den Flügel.
-
-„Ja ... und soll ich Ihnen sagen, wie jetzt Ihre Stimme klingt?
-Apathisch klingt sie. Nach Resignation klingt sie! Alles schön, rund,
-tadellos, ein wahrer Genuß, diese Atemökonomie! Aber manchmal singen
-Sie ... wie drück’ ich’s nur aus? ... nun, wie aus Pflichtgefühl, aus
-einem müden Pflichtgefühl heraus. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie ein
-glückliches Bräutchen sind und einen der besten Männer bekommen, würde
-ich mir allerlei Gedanken machen. So -- nun ist’s heraus, und nun
-machen Sie, daß Sie fort kommen. Merivaux steht doch schon drüben und
-wartet auf Sie.“
-
-... aus Pflichtgefühl ...
-
-So also sang sie? Handelte sie auch so? Nur aus Pflichtgefühl? Und
-würde sie, nur aus Pflichtgefühl, Gaston eine gute Gattin werden? Alles
-nur aus armseligem Pflichtgefühl! Als ob sie sich treiben ließ auf
-einem der großen Bettelsuppenströme des Lebens!
-
-Der Gedanke empörte sie. Denn sie hatte Gaston doch gern! Sehr gern
-sogar!
-
-Ihr war es, als müßte sie sich selber aufrütteln. Sich herausreißen aus
-dem Sich-gehen-lassen, aus dem stumpfen Gleichmaß. Kämpfen gegen sich
-selber.
-
-Unten, drüben auf dem Trottoir, ging wirklich Gaston auf und ab.
-
-Ein paar Augenblicke blieb sie im Hausflur stehen, sah zu ihm hinüber.
-Die schmale Falte zwischen ihren Brauen grub sich tief ein.
-
-Dann schritt sie schnell über die Straße, nickte, lächelte, hing sich
-in seinen Arm.
-
-„Guten Morgen, lieber Gaston. Ich freue mich, daß du kommen konntest.
-Hast du Zeit? Können wir einen kleinen Bummel durch den Tiergarten
-machen?“
-
-Er bejahte eifrig, sichtlich erfreut. Und sie gingen die Querallee
-hinauf, bogen zum Goldfischteich ein.
-
-In den ersten Maitagen war es. Der Tiergarten stand im duftigen jungen
-Grün. Die Lenzsonne lag warm auf Weg und Steg. In den dichten Büschen
-zwitscherten die Amseln. Die Welt war schön geworden, fast über Nacht,
-denn plötzlich war der Frühling in die Mark gekommen.
-
-Um diese Stunde war der Tiergarten wenig belebt. Am Rande der Wege ein
-paar Kinderwagen, aus denen rosige Babygesichter zur Sonne lachten;
-einige Spreewälderinnen in ihren bunten Röcken, dann und wann eine
-Matrone, die einsam Luft schöpfen ging, ein pensionierter alter Herr,
-der seinen Gesundheitsmarsch machte. Es verlor sich in der Weite.
-
-Sie plauderten dies und das, wie gute Freunde plaudern, bunt
-durcheinander: von Marthas Wirtschaftlichkeit, von Wilhelms nie
-rastenden Plänen, von der Omama; von der Charlotte Wolter, der
-großen jungen Tragödin, von der Erhardt, der schönen Künstlerin des
-Schauspielhauses, und von der Lucca, die jüngst als Julia unerhört
-gefeiert worden war; und daß der Krollsche Garten nächstens wieder
-eröffnet werden würde, in noch feenhafterer Beleuchtung als je zuvor.
-
-Es war wie immer zwischen ihnen. Und doch anders. Er empfand es,
-wie lebhafter heute Helene war, angeregter, daß ihr Ton wärmer war.
-Manchmal fühlte er den leichten Druck ihrer Hand auf seinem Arm.
-Federnden Schrittes ging sie an seiner Seite, und einmal sagte sie:
-„Ist das schön heut! Ich möchte stundenlang so gehen. Womöglich ganz
-allein mit dir durch einen weiten, weiten Wald.“
-
-Er sah sie an, und auf ihrem Gesicht war ein Lächeln.
-
-Sie nickte ihm zu, ganz leise nur. „Der Frühling --“
-
-Da sagte er schnell: „Und bald kommt der Sommer, und dann -- dann
-reisen wir beide nach meiner Heimat.“
-
-Nebeneinander standen sie am Teich. Lustig huschten die goldschuppigen
-Fische, die grünen Wipfel spiegelten sich im Wasser. Weit und breit war
-kein Mensch außer ihnen.
-
-Immer noch sah er ihr in das liebe schöne Gesicht, in dem langsam ein
-feines Rot emporstieg. Seine Hand hatte er um ihren Gürtel gelegt. „Ich
-freue mich ja so darauf, dir meine Heimat zu zeigen, unseren herrlichen
-See, unsere Berge. Anfang August, denk ich, reisen wir -- gleich nach
-unserer Hochzeit.“
-
-Ein leichtes Beben ging durch ihre Glieder. Aber sie nickte wieder.
-
-„Es ist dir recht so?“
-
-„Ja, Gaston.“
-
-Dann gingen sie langsam weiter und um das Wasser herum. Mit dem
-leichten Plaudern war’s freilich vorbei. Er hatte ihre Hand wieder in
-seinen Arm gezogen, sprach von seinem alten Vater, sprach dann davon,
-daß er nun eine Wohnung mieten wollte. „Ich hab immer noch gezögert,
-denn man hat mir angedeutet, daß ich Adjutant bei der Inspektion
-werden soll. Dann brauchten wir nicht so weit hinaus zu ziehen, in die
-häßlichste Gegend Berlins. Ich möchte dich so gern in ein recht, recht
-hübsches Heim führen, Helene.“
-
-Plötzlich blieb sie wieder stehen, sah zu Boden, sah dann auf: „Du bist
-ein rechter Wagehals?“
-
-„Wieso denn?“
-
-„Daß du es mit mir wirklich versuchen willst. So unliebenswürdig wie
-ich bin, so apathisch oft ...“
-
-Er lachte. „Ach geh doch! Was sind denn das für Dummheiten. Laß nur den
-Sommer kommen. Laß uns nur erst auf meiner lieben kleinen Terrasse am
-See sitzen, wir beide ganz allein. Oder im Boot auf der blauen Flut.
-Oder in die Berge fahren, höher, immer höher! Wenn ich dich nur erst
-ganz für mich habe! Ich will dir schon die Falte da aus der Stirn
-küssen -- die da!“
-
-Und mit einem Male hatte er sie umfaßt, die Hutkrempe weit
-zurückgebogen und küßte sie wirklich gerade zwischen die Brauen. Ganz
-wenig nur wehrte sie sich, gar nicht fast. Da küßte er sie auch auf
-die Lippen, und heut hielt sie still. „Der Frühling --“, sagte er und
-lachte ihr in die Augen.
-
-Wieder gingen sie weiter, den schmalen Fußweg zur Rousseauinsel.
-
-„Also Anfang August!“ meinte er froh. „Dann müssen wir in den ersten
-Septembertagen zurück sein. Das Manöver schenkt der König von Preußen
-auch den glücklichsten Leuten nicht. Alles freilich nur, wenn es nicht
-Krieg gibt.“
-
-„Krieg ... was ihr alle immer von Krieg redet. Wilhelm hat auch weiter
-nichts im Sinn.“
-
-„Bedenklich genug sieht’s aus, Helene. Gestern hieß es bei uns schon,
-die Reserven sollten eingezogen werden. Nachher war’s nur ein Gerücht.“
-
-„Krieg mit Österreich --“
-
-„Vielleicht nicht nur das. In der „Kreuzzeitung“ stand, daß Sachsen und
-Hannover auch schon rüsten.“
-
-„Sind wir Preußen denn so böse, daß man uns durchaus an den Kragen
-will?“
-
-„Du Kind! Aber ich bin nicht viel besser als du, höchstens daß ich
-weiß: die Preußinnen können reizend sein! Ist mir auch wichtiger als
-die ganze Politik. Und nun laß gut sein. Ich bin so froh heut, so froh
--- --“
-
-Als Helene daheim die Treppe hinaufstieg, tönte es in ihr, wie ferner,
-ferner Glockenklang: Du hast heut einen lieben Menschen sehr, sehr
-glücklich gemacht! Und sie war froh darüber.
-
-Sie war so froh, daß sie oben Martha umarmte, dann zur alten Mutter
-lief, die am geöffneten Fenster in den Frühling hinausträumte, sie
-leise umfaßte: „Ich muß es dir doch sagen, Mama, Anfang August ist
-unsere Hochzeit.“
-
-Omama sah auf, schüttelte verwundert den Kopf, nickte dann: „So ...
-so! Ja! Ja! Anfang August. Wir haben auch im August geheiratet. Ja
-... warte einmal, Lenchen ... und Grucker auch. Damals ... also den
-lieben Gaston ... ich weiß ja ... ich weiß alles. Aber so blaß darfst
-du zur Hochzeit nicht aussehen, Lenchen ... und wir trugen damals
-den Brautschleier hinten fest in die Coiffüre gesteckt und ~par
-devant~ ein ganz schmales Myrtenkränzchen ...“ Sie kicherte leise
-und sang mit ihrer matten Stimme vor sich hin: „Wir winden dir den
-Jungfernkranz -- mit veilchenblauer Seide! Ja, ja, mein Lenchen ... wir
-winden dir den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide ...“
-
-Da kamen die Jungens hereingestürmt, erregt, mit roten Gesichtern. Sie
-schrien durcheinander, wollten sich nicht zu Worte kommen lassen. „Wißt
-ihr’s schon? Wie wir aus der Schule kamen, wurden die Extrablätter
-ausgerufen. Auf Bismarck ist geschossen worden! Unter den Linden. Er
-soll tot sein. Nein, schwer verwundet. Den Mörder haben sie gleich
-aufgeknüpft. Nein, Bismarck hat ihm selber noch die Pistole aus der
-Hand geschlagen --“
-
-Es ging wirr durcheinander. Und dann war plötzlich Wilhelm da, auch
-er mit rotem Kopf. Er wußte alles ganz genau, hatte gerade bei Hiller
-gefrühstückt, nicht weit vom Schauplatz des Attentats. Nein, gottlob,
-Bismarck war nicht einmal verwundet, trotzdem der Mörder -- Blind
-sollte er heißen und ein fanatischer Demokrat sein -- aus nächster
-Nähe fünf Schüsse auf ihn abgefeuert hatte. Auf dem Wege zum König war
-Bismarck gewesen, zum Vortrag bei Seiner Majestät.
-
-Wilhelm lief kreuz und quer durch die Stube, fast wie Vater es getan
-hatte, wenn er sehr erregt war. „Was für Zeiten, Martha, was für
-Zeiten! Heut morgen erst die Nachrichten aus Österreich und Italien.
-Überall Rüstungen, Mobilmachung. Dann die Börse -- reine Kriegspanik.
-Was für Zeiten! Man mag es gar nicht ausdenken: wir dicht vor einem
-Kriege mit Österreich. Stellt euch das nur vor: mit Österreich, unserem
-Bundesgenossen seit achtzehnhundertdreizehn! Womöglich noch Krieg mit
-Sachsen, Hannover, Bayern, mit all den anderen deutschen Staaten!
-Wir allein! Dabei den Hader im Innern. Die Demokraten auf Bismarck
-spinnefeind -- weg mit Bismarck, heißt’s hier, diesem Ministerium
-keinen Groschen! heißt’s da. Und unsere guten Konservativen -- nun,
-weiß Gott, zum Verwundern ist’s nicht, daß sie den Bruch mit der
-österreichischen Freundschaft bitter beklagen. Wenn wir wirklich Krieg
-bekommen, ist’s ein schrecklicher Bruderkrieg. Wenn das Vater erlebt
-hätte! Unser armes Preußen!“
-
-Nun stand er in der Mitte des Zimmers: „Jungens, glotzt mich nicht so
-dumm an. Wenn ihr älter seid, werdet ihr’s begreifen, was das heißt,
-Deutsche gegen Deutsche! Das Herz könnte sich einem im Leibe umdrehen.
-Und dabei geht’s um die Existenz, einfach um Sein oder Nichtsein.
-Wenn wir geschlagen werden -- und wer kann im voraus wissen, wie die
-Würfel fallen -- wenn wir geschlagen werden, hat Preußen aufgehört,
-eine Großmacht zu sein. Sie wollen uns ja längst den Großmachtkitzel
-austreiben. Lieber Gott, wie mag unserem König zumute sein vor der
-Entscheidung!“
-
-Helene war noch immer bei der Mutter am geöffneten Fenster, durch das
-die milde Frühlingsluft hereinströmte.
-
-Sie verstand das alles nur halb, was der Bruder in seiner Erregung
-heraussprudelte. Verstand es so wenig, wie sie früher Vaters politische
-Erörterungen verstanden hatte. Nur das eine verstand sie: Krieg --
-Deutsche gegen Deutsche! Und sie schauerte leise zusammen. Krieg -- da
-zog dann auch Gaston hinaus --
-
-„Aber Wilhelm, du sprichst ja, als ob das schon so gewiß wäre -- das
-mit dem Krieg“, sagte Martha zag dazwischen.
-
-„Sicher? Wer weiß das. Man hofft ja immer noch auf Frieden. Hofft?
-Heut war der Prinz Hohenlohe bei Hiller. Der hat Verwandte in der
-österreichischen Armee -- die brennen alle auf unsere Demütigung.
-Freunde haben wir nirgendwo. Was heißt da hoffen? Zu Kreuze kriechen
-wir Preußen nicht. Wenn’s nicht anders sein kann, muß eben das Schwert
-entscheiden!“
-
-Mit einem Male hob Omama wieder an: „Ja ... ja. Das Schwert ...“ Und
-sie sang leise vor sich hin: „Nun laßt das Liebchen singen -- daß
-helle Funken springen -- Der Hochzeitsmorgen graut --“
-
-Da fielen die Jungens ein, wie auf Kommando: „Der Hochzeitsmorgen graut
--- Hurra, du Eisenbraut!“
-
-Wenn in den nächsten Tagen Wilhelm nach Haus kam, war’s jedesmal mit
-umwölkter Stirn. Immer wieder stöhnte er: „Die Zeiten! Die Zeiten!“
-Immer neue Nachrichten brachte er mit: Der König hatte nach langem
-Zögern die Mobilmachung von vier Armeekorps befohlen; Napoleon mischte
-sich in den Streit ein, bot seine Vermittlung an -- natürlich um im
-Trüben zu fischen. Dann wußte er von Friedenspetitionen zu erzählen,
-die aus einzelnen Provinzen an Seine Majestät abgegangen wären, von
-schmachvollen Äußerungen einzelner demokratischer Führer: ‚Lieber
-die Kroaten in Berlin, als Bismarck noch länger am Staatsruder!‘
-Dann wieder von patriotischen Regungen, wie wacker sich die zunächst
-bedrohten Schlesier hielten: ‚Wir wollen keinen schlechten Frieden!‘
-hieß es gerade in ihrer Adresse. Aber immer waren seine letzten Worte:
-„Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“
-
-Merivaux konnte nicht so viel kommen wie bisher. Der Dienst nahm ihn
-stark in Anspruch. Aber jedesmal, wenn er kam, war’s, als ob ein paar
-Sonnenstrahlen ins Haus glitten. Die Jungens, in denen eine gewaltige
-romantische Kriegslust erwacht war, jubelten ihm entgegen, Omama
-wachte, sobald er ins Zimmer trat, aus ihrem Traumleben auf, mit Martha
-und Wilhelm tauschte er Neuigkeiten. Und immer war er selber froh,
-heiter, zuversichtlich. Es lag etwas eigen Beruhigendes in seiner
-männlichen Frische, das auch auf Helene wirkte. Solange er bei ihr war,
-blieb sie ruhig. Sobald er gegangen, klang immer wieder in ihr auf: der
-Krieg -- der Krieg! Einst hatte sie nur an Harros Tod gedacht, wenn
-vom Kriege die Rede war: nun bebte sie in Sorge um den lieben Freund,
-dessen Ring sie am Finger trug.
-
-„Unruhige Zeiten! Schlechte Zeiten!“ Heut der Schimmer einer
-Friedenshoffnung. Morgen die sichere Erwartung: der Krieg ist
-unvermeidlich. Auf den Straßen die eingezogenen Rekruten und
-Landwehrleute in langen Zügen. An jedem Morgen endlose Kolonnen,
-die mit schmetternder Musik die Bellealliancestraße hinaufzogen zum
-Kreuzberg. Dann regelmäßig der König, der hinausfuhr, seine Garden noch
-einmal zu besichtigen.
-
-Es war doch merkwürdig, es fiel auch Helene auf, wenn sie vom
-Eckfenster aus den schlichten Wagen des greisen Kriegsherrn schon
-von weitem sah: von Tag zu Tag fast steigerte sich der Jubel, der
-ihn umrauschte. Manchmal ging ihr durch den Sinn, wie sie ihn zuerst
-gesehen hatte, am Brandenburger Tor, vor nun drei Jahren, daß ihn
-damals nur wenige grüßten. Und heut standen die Bürgersteige voll
-wartender Menschen, vom Belleallianceplatz her hob es an und pflanzte
-sich fort, das dröhnende Hurra! Es war, als ob die Preußenherzen
-erwachten. Wenn das Vater erlebt hätte!
-
-Dann war eines Tages Fritz da, der rote Kreisrichter. Ganz plötzlich
-und unerwartet, in aller Morgenfrühe, als unten gerade die Alexandriner
-mit klingendem Spiel vorüberzogen.
-
-„Wilhelm, ich trag’s nicht länger. Ich habe aus lauterer Überzeugung
-gehandelt. Ich kann auch jetzt noch nicht mit Bismarck gehen, ich
-verurteile seine Stellung gegen den Augustenburger. Aber ich fühl’s,
-daß nun der innere Zwist schweigen muß. Wenn Preußen in Gefahr ist,
-müssen wir alle einig sein. Daß du’s nur weißt: ich bin gestern auf dem
-Generalkommando gewesen und hab mich zum Diensteintritt gemeldet.“
-
-Wenn das Vater erlebt hätte! Wenn das Vater erlebt hätte!
-
-Unruhige Zeiten! Das Abgeordnetenhaus, das jede Kriegsanleihe
-verweigert hätte, aufgelöst; Darlehnskassenscheine mußten ausgegeben
-werden, um die nötigsten Millionen zu schaffen, und konnten oft nur
-schwer untergebracht werden. Heut hieß es: die Österreicher rücken
-unter Benedeck in Schlesien ein. Morgen verlautete, Preußen hätte mit
-Italien einen Bündnisvertrag geschlossen, und in Venetien seien schon
-die ersten Kanonenschüsse gefallen. Noch nie seit fünfzig Jahren war
-der Kurs der preußischen Staatspapiere so tief gesunken wie in diesen
-Tagen.
-
-Nun hatte auch Wilhelm die Uniform wieder angezogen, führte eine
-Ersatzkompagnie beim Franz-Regiment und war nicht wenig stolz
-im Schmuck der Waffen, war wieder ganz Soldat. Jetzt sprach er
-plötzlich nicht mehr von den „Schlechten Zeiten!“ Er sprach nur
-noch von +seiner+ Kompagnie, von +seinen+ Offizieren, von
-+seinem+ Feldwebel. Und wenn er in den Dienst ging, bürstete
-Martha an ihm herum und sah ihm verliebt nach.
-
-Eines Morgens hatte Helene eine kleine Besorgung am Belleallianceplatz
-gemacht. Als sie zurückkam, stand auf der Halleschen Brücke ein
-baumlanger Bauer, zog seine graue Kappe und greinte über das ganze
-braune Gesicht.
-
-„Metschke! Metschke, wie kommen Sie denn hierher?“
-
-„Jo, gnä’ Frölen, mei Willem steht doch bei de Franzer. Un ik wollt
-ihm doch noch mal sehn tun, e’ er ’n Krieg muß. Von wegen, deß ich ihm
-sag: tu du deine Schuldigkeit, mein Sohn, daß werr keene Schande an der
-ha’n. Na, gnä’ Frölen, er hätt’s jo och so getan, der Willem.“
-
-„Das glaub ich, Metschke. Wollen Sie nicht mit heraufkommen? Da drüben
-an der Ecke wohnen wir.“
-
-„Nee, gnä’ Frölen, ich wart hier, bis der oll König ’rückkommt. ’s isch
-man jutt, daß der oll klug König die Suldaten nich abgeschafft hätt.
-Un denn muß ick widder zur Kaserne. Morjen rücken se aus, die Franzer.
-Aberscht scheen Gruß soll ick vertellen vom Herrn Kantohr und von
-Herrn Pastohr. Min Jott, sein dis Zeiten! Aberscht passen Se uff, gnä’
-Frölen, wie wer se vertobacken wer’n, wir Preußen! Wenn dat der gnä’je
-Herr Rittmeister erlebt hätt!“
-
-Die blauen Märkeraugen glänzten, wie der Metschke das sagte.
-
-Oben saß Gaston schon am Fenster und wartete.
-
-Sie sah’s ihm gleich an, heut war auch er erregt.
-
-„Helene, morgen rücken wir aus. Erschrick nicht: zunächst nur in
-Kantonnements bei Kottbus.“
-
-Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. „Morgen --“ sagte sie tonlos.
-Aber er nahm ihre beiden Hände: „Ich habe mit dir zu sprechen. Eine
-große, große Bitte hab ich.“ Sie sah ihn an, sah ihm in die Augen, und
-wußte nur ein: ‚um was er auch bitten mag, ich werde nicht nein sagen‘.
-
-„Immer wieder ist mir in diesen unruhigen Tagen durch die Seele
-gegangen, wie du nun allein zurückbleibst. Ich denke nicht an den Tod.
-Gott bewahr’ mich. Aber niemand kann wissen, was der Krieg bringt.
-Helene, der Gedanke quält mich, daß ich nicht für dich sorgen kann --
-auf alle Fälle. Ich würde keinen Moment Ruhe haben -- draußen. Und
-dann ... ich habe Sehnsucht, dich mein zu wissen. Ich bitte dich: laß
-übermorgen unseren Hochzeitstag sein.“
-
-Sie bebte. Immer größer waren ihre Augen geworden. Das Herzblut
-stockte, dann pulste es aufwärts, daß ihr die Sinne schwinden wollten.
-
-Sie fühlte den Druck seiner Hände, und sie sah die fiebrige Erregung in
-seinem Gesicht, die heiße, sehnsuchtsvolle Erwartung.
-
-So sagte sie: „Ja ... Gaston ... ja!“
-
-Dann kam ihr jäh, irgendwoher aus dem Untergrund der Seele, der Gedanke
-eines Ausweichens noch in letzter Minute. „Gaston, der Konsens ... so
-schnell kannst du den Konsens des Königs doch nicht erhalten.“ Indem
-sie es aussprach, überflutete sie die Scham: ‚Wünscht du denn wirklich
-eine Verzögerung? Kannst du ihm das antun?‘
-
-Er aber fand den Einwand nur begreiflich: „Für solche Zeiten gelten
-Ausnahmebestimmungen. Laß das nur meine Sorge sein.“ Sein Gesicht
-strahlte vor Freude und Dankbarkeit. „In drei Tagen, Helene! In drei
-Tagen! Ich kann’s noch gar nicht fassen. In drei Tagen bist du mein!“
-Etwas wie toller Übermut packte ihn. Er legte den Arm um Helene, er
-wirbelte mit ihr, eh sie sich’s versah, im Walzertakt durch das Zimmer:
-„In drei Tagen, Helene, in drei Tagen --“
-
-Es war wohl gut, daß die drängenden Vorbereitungen Helene so wenig
-Zeit zur Besinnung ließen. Daß in die Unruhe der Zeit sich die Unruhe
-im Hause mischte. Martha schlug die Hände über dem Kopf zusammen:
-„Wie soll denn das gemacht werden? Wo willst du denn ein Brautkleid
-herbekommen? Wie denkt sich Merivaux das alles!“ Und dann war sie es
-doch, die für alles Rat schaffte, zu allem Rat wußte. Die freilich
-auch Helene in einen großen Trubel des Überlegens, der Besorgungen mit
-hineinriß.
-
-Es war gut so. Die Stunden gingen im Fluge. Helene kam kaum zu klarem
-Überlegen. Am späten Abend, abgehetzt, todmüde, dachte sie nur: es muß
-wohl eine Fügung sein. Und es war dann wie erlösender Friede in ihr.
-
-In der Nacht zum Mittwoch, ihrem Hochzeitstage, aber fuhr sie aus
-dem Schlafe auf. Der Junimorgen dämmerte schon durch die Fenster.
-Sie konnte sich in den ersten Augenblicken gar nicht zurechtfinden.
-Das Herz pochte jäh, sie richtete sich empor, eine rätselhafte Angst
-schüttelte sie. Ja so ... da schlief Mutter und atmete ruhig ... und
-das dort war die Tür zum Nebenzimmer ... und da lag ausgebreitet
-ihr Brautstaat. Geträumt mußte sie haben, irgend etwas Furchtbares,
-Unfaßbares. Was war es nur gewesen? Gaston hatte vor ihr gestanden, mit
-einem Gesicht wie von Stein, und hatte sie an den Schultern gepackt:
-„Du liebst mich ja nicht! Du liebst mich ja nicht!“
-
-Jetzt sah sie das Traumbild wieder deutlich vor sich, sah sein
-schmerzverzerrtes Gesicht, hörte seinen gellenden Ruf. Wußte, es war
-nur ein Traum gewesen, und durchlebte ihn noch einmal wie Wirklichkeit.
-Frostschauer überrann sie und dann glühende Hitze, eine beklemmende
-Angst, als ob sie aufspringen müßte, drüben an Mutters Bett hinknien,
-flehen: ‚Hilf mir doch! Hilf mir doch! Ich kann nicht mit einer Lüge
-vor den Altar treten!‘
-
-Aber ihr konnte ja niemand helfen. Mutter nicht. Und wenn sie sich vor
-Wilhelm und Martha hinwerfen wollte, sie würden nur den Kopf schütteln
-und sie nicht verstehen.
-
-Gaston -- --
-
-Wenn sie jetzt noch seine Füße umklammerte: ‚Ich kann nicht! Erbarme
-dich meiner!‘
-
-Aber Gaston war bei seiner Truppe, kam erst morgen, eine Stunde vor der
-Trauung, aus dem Kantonnement zurück. Kam glückstrahlend, mit seiner
-hoffenden Liebe, mit jubelnder Seele, in seiner glaubensstarken festen
-Zuversicht -- kam, um sie zum Altar zu führen, und dann hinauszugehen
-in den Krieg -- -- --
-
-Nein! Nein! Und wenn sie es heute beschloß und stünde morgen vor ihm
-... sie würde es nicht über die Lippen bringen.
-
-Fröstelnd hüllte sie sich in ihre Decke und starrte durch das Fenster
-auf den grauen Morgen.
-
-Noch einmal zogen in dieser schweren Stunde die inneren Erlebnisse der
-letzten Jahre durch ihre Seele. Wie ein Phantom tauchte Alfred auf,
-tauchte empor und verschwand. Harro kam mit seinen jungen leuchtenden
-Augen. Sie sah sich noch einmal im Park von Rackow beim Mondenlicht,
-fühlte noch einmal den ersten Kuß von Gastons heißen Lippen: Da hatte
-die Lüge angefangen! Die Lüge! Lieber Gott im Himmel ... war es denn
-eine Lüge gewesen, eine Lüge, die so harte Strafe verdiente! Und wie
-hatte sie gekämpft und war doch nicht freigekommen! Aus Schwäche ....
-ja, aus feiger Schwäche. Und aus Mitleid ... ja, aus Mitleid. Aus dem
-Empfinden heraus, ihm nicht den einen großen Schmerz antun zu wollen.
-Und dann, weil sie ihn gern hatte ... weil ein unnennbares Gefühl sie
-immer wieder zu ihm zog ...
-
-Aber aus all dem Schwankenden, Unklaren ließ sich doch keine Brücke
-bauen.
-
-Und nun gab es keine Flucht mehr und kein Entrinnen --
-
-... als den Tod ...
-
-Ihr Tod -- was hätte er ihm genützt! Ihr Tod hätte ihm den größten
-Schmerz des Lebens zugefügt, und nie würde er ihn überwinden können.
-
-Aufrecht saß Helene, mit pochenden Pulsen, die Augen starr auf das
-Fenster gerichtet. Langsam aus der Dämmerung erhob sich der Tag. Ihr
-Hochzeitstag.
-
-Der Tod! Nein -- dagegen schrie doch auch ihre blühende Jugend, ihr
-gesundes Blut empörte sich. Wenn du eine Schuld auf dich geladen hast,
-so trage sie bis zum Ende!
-
-Und sie sah ihn wieder im Geiste vor sich, wie sie ihn morgen sehen
-würde. Mit den glücklichen Augen, aus denen die Liebe lachte. Sie hörte
-seine Stimme, die so männlich und so zärtlich klang: ‚Meine Helene!
-Meine Helene!‘
-
-Es war eine Fügung. Alles ist Fügung, muß als Fügung genommen werden.
-
-Das Herz wurde ruhiger. Eine stille Ergebung kam über sie. Leise sprach
-sie vor sich hin: ‚Ich hab ihn gern ... ich möchte ihn recht liebhaben.
-Ich will immer gut zu ihm sein. Immer gut und dankbar für seine große
-Liebe ...‘
-
-Sie sah geradeaus zum Fenster, hinter dem es nun hell geworden war. Ein
-einzelner Sonnenstrahl kam. Schmal nur, aber goldig leuchtend glitt er
-ins Zimmer, bis zu ihr hin, wie der erste Gruß des jungen Tages. Ihres
-Hochzeitstages.
-
-Nur ein kleiner Kreis war bei der Feier zugegen. Gastons Vater war
-durch die Sperrung der süddeutschen Bahnen am Kommen verhindert. Er
-war nur bis Basel gelangt und konnte nur von dort aus telegraphisch
-seine Glück- und Segenswünsche senden. Aber daß ein anderer sich unter
-den wenigen Gästen befand, rührte Helene tief. Der alte Heckstein war
-von Frankfurt aus mit der Extrapost gekommen. Sie sah ihn erst, als
-sie am Arm ihres Mannes aus der Kirche schritt. Unter Tränen lächelte
-er ihr zu: „Leneken, ich mußte dir doch für unser ganzes Rohlbeck die
-Glückwünsche bringen. Gottes Segen sei mit dir und mit deinem Mann.“
-
-Eine stille blasse Braut war sie. Doch laut und fest hatte ihr Ja durch
-das Gotteshaus geklungen.
-
-Als sie aus der Kirche traten, sah Gaston sie glücklich an: „Meine
-Helene! Wie danke ich dir.“
-
-Und als der kleine Kreis dann bei dem einfachen Festmahl saß, das
-Martha gerüstet hatte, sagte Tante Oschitz leise zu Wilhelm: „Daß
-Helene schön ist, hab ich immer gewußt. Daß sie so schön aussehen
-könnte wie heut mit dem Myrtenkranz -- das hätt’ ich doch nicht
-geglaubt. Wenn mein armer lieber Harro sie so gesehen hätte.“
-
-Ruhig und rührend sanft erschien Helene.
-
-Nur als Gaston ihr ein leises Zeichen gab, zuckte sie ein wenig
-zusammen. Aber sie erhob sich sofort.
-
-Gaston hatte das mit Wilhelms besprochen: „Ich muß heut abend in das
-Kantonnement zurück. Laßt sie mir ein paar kurze Stunden und macht kein
-Aufhebens, wenn wir aufbrechen.“
-
-So nahmen sich alle zusammen. Selbst die Jungens. Die lauschten
-freilich gerade auf den lebhaften Disput, der sich zwischen Tante
-Marianne und dem Onkel Pastor angeknüpft hatte über die Gottlosigkeit
-des Krieges. Onkel Pastor war doch ein streitbarer Mann.
-
-Martha ging mit dem jungen Paar hinaus, half Helene beim Umkleiden.
-Und dann kam Omama noch auf einen Augenblick auf den Flur, küßte die
-Tochter, tätschelte mit ihrer welken Hand Gastons Wange: „Seid gut
-miteinander ... und kommt recht gesund von der Hochzeitsreise zurück,
-ihr Kinder.“ Sie hatte längst vergessen, daß Merivaux in den Krieg
-ging, hatte es wohl nie recht begriffen. --
-
-Es war spät am Abend, als Helene heimkam.
-
-Bis vor die Tür hatte sie Gaston gebracht. Im Hausflur umarmte er sie
-noch einmal, küßte sie leidenschaftlich. „Meine geliebte Frau!“ Ein
-paar Augenblicke ruhte sie weinend an seiner Brust. „Gott schütze dich,
-Gaston!“
-
-Dann riß er sich los.
-
-Langsam stieg sie die Treppe hinauf; schloß die Tür auf.
-
-Martha, die an alles dachte, alles überlegte, hatte auch das so
-gewollt: es sollte niemand auf die junge Frau warten. Sie hatte es
-auch eingerichtet, daß Helene nun ihr Zimmer für sich bewohnte.
-
-Auf dem Flur brannte die Lampe. Sie nahm sie, ging in ihr Zimmer,
-stellte sie beiseite.
-
-Da lag noch ihr Brautkleid und all der bräutliche Schmuck.
-
-Lange stand sie davor, in tiefem Sinnen, mit gefalteten Händen. Es war
-ihr alles wie ein Traum.
-
-Sie nahm den Myrtenkranz, ließ ihn langsam, zärtlich durch die Finger
-gleiten. Leise sprach sie ihren Hochzeitsspruch vor sich hin: „... und
-hättet der Liebe nicht.“ -- „Gott schütze dich, Gaston.“
-
-Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen!
-
-Der Conte war in Berlin, Graf Grucker. Kam auch zu Wilhelms oder
-eigentlich zu der jungen Frau, die immer sein Liebling gewesen war. In
-Johanniteruniform, gestiefelt und gespornt, feldzugsgemäß, aber mit
-einem Riesenstrauß in der Rechten und einer massigen silbernen Bowle
-unter dem linken Arm. „Meine Hochachtung, Leneken. Da, nimm mal erst.
-Und nu’n Schmatz. Hast du brav gemacht. Na, wer war nur der Prophete?
-Wer hat dir gesagt: Leneken, der Neuchateller! Besinn dich man:
-zwischen der Schnapstheke und Madame Hufnagel. Da ... die Blumen vor’s
-Herz un den Kübel für’n Hausstand. Der Artenau, der Stickereimajor, die
-Dusche, kann euch die Rezepte dazu geben.“
-
-Schwer ließ er sich in den nächsten Stuhl fallen. „Sind das Zeiten!
-Was, Wilhelm? Da ist der Manteuffel in Holstein eingerückt, und der
-Gablentz hat mit seinen Österreichern das Feld geräumt. Na, schön ...
-aber weißt du’s Neueste? Österreich hat gestern die Bundesexekution
-gegen Preußen beantragt. Scheußliche Geschichte! Wenn man so denkt, der
-janze deutsche Bund gegen Preußen! Bruderkrieg! Bruderkrieg!“
-
-Weit streckte er die Riesenstiefel von sich: „Und, Wilhelm, unsre
-Alliance mit den italienischen Revolutionären von Mazzinis Gnaden ...
-brrr ... ’s geht einem doch höllisch ~contre cœur~. Da hat man nu
-fünfzig Jahre und so die Fahne hochgehalten gegen den Umsturz ... ja
-... und nu soll man sich mit ’n Male umkrempeln. Immer hat man’s mit
-Österreich gehalten, auch wenn se uns mal schlecht behandelt haben --
-das haben se manchmal -- und nu heißt’s: linksum kehrt! Wenn das der
-alte Rittmeister erlebt hätte!“
-
-Mit einem Male stand er wieder auf den Beinen, straff, zog den
-Uniformrock herunter. „Der König hat’s befohlen. Wird wohl nicht anders
-gegangen sein. Und gut ist’s schon, daß die Schwadronneure ’mal ’s Maul
-halten müssen. Ich sage euch, draußen in der Mark gilt wieder der alte
-Preußenruf: Mit Gott, für König und Vaterland! Na, Leneken, Mädel ...
-pardon! ... junge Frau, was machst du denn für’n ernstes Gesicht?“
-
-„Ach -- Onkel Grucker --“
-
-„Paperlapapp! Warst doch immer ’n tapferes Frauenzimmerchen. Jede
-Kugel, die trifft ja nicht. Un was so’n richtiges märkisches Mädel ist,
-das beißt die Zähne zusammen, wenn der Herzallerliebste in’n Krieg muß.
-Pflicht -- einfach Pflicht! Ich muß ja auch auf’n Kriegsschauplatz. Na
-wart ’mal, wenn ich deinem Mann begegne, werd’ ich ’n grüßen. Weißt
-du, was ich ’m sage: ~Monsieur de Merivaux.~ Sie sein ein janz
-verfluchtigter Schwerenöter. Aber Sie haben einen janz exzellenten
-Geschmack! Hol mich dieser und jener -- meine Hochachtung!“ -- --
-
-Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen!
-
-‚Was geht mich die Politik an? Was geht mich die Zeitung an?‘ hatte
-Helene sonst gedacht. Nun harrte und wartete sie, mit den Jungens,
-die ganz rabiat geworden waren, um die Wette auf die alte verhuzelte
-Zeitungsfrau, kämpfte mit Hans und Thede jedesmal einen kleinen Kampf
-um das erste Blatt.
-
-Die Preußen in Hannover. Die Preußen in Dresden. Der alte deutsche
-Bund nach Preußens Erklärung aufgelöst. Und dann der herrliche Aufruf
-des Königs „An mein Volk“ -- ganz wie Vater so oft von Anno dreizehn
-erzählt hatte -- mit den verheißungsvollen Schlußworten: „Verleiht
-uns Gott den Sieg, dann werden wir auch stark genug sein, das lose
-Band, welches die deutschen Lande mehr dem Namen als der Tat nach
-zusammenhielt, in anderer Gestalt fester und heilvoller zu erneuern!“
-
-Spärlich kamen die Nachrichten von Gaston. Er hatte es vorausgesagt:
-„Ich werde so oft schreiben, wie ich kann. Aber sorge dich nicht, wenn
-einmal die Briefe ausbleiben.“
-
-Spärlich kamen die Briefe, und sie waren kurz. Aber immer wieder stand
-es in ihnen: „Meine geliebte Frau!“
-
-Als sie das zum ersten Male las, war ihr das Blut jäh in die Wangen
-gestiegen. Und jedesmal, wenn wieder ein Brief kam, flüchtete sie in
-irgendeine stille Ecke der Wohnung, daß niemand sie beobachten konnte.
-Und jedesmal sann und sann sie, lange, über dem Brief -- und über sich
-selber.
-
-Zum Altar war sie geschritten mit mühsam errungener Selbstbeherrschung;
-aufrecht gehalten durch den Gedanken an seine große, geduldige,
-nachsichtige Liebe, und doch mit quälendem Vorwurf im Herzen.
-
-Nun war das alles ganz anders --
-
-Der Sturmesrausch, den sie einst erträumt, der freilich war nicht
-gekommen. Nicht das Gefühl höchster Seligkeit, nicht die Wonne und Glut
-der Leidenschaft. Aber eine sanfte dankbare Zärtlichkeit füllte ihr
-Herz.
-
-Hans und Thede hatten eine große Karte des Kriegsschauplatzes
-mitgebracht. Da verfolgten sie zu dritt nach den Zeitungsnachrichten
-und auch nach Gastons Briefen die Stellung der Truppen, so gut es eben
-ging, und nicht zuletzt suchten die Jungens nach jedem Quartier der
-Gardeschützen.
-
-Sein letzter Brief kam aus Haindorf, dicht an der böhmischen Grenze:
-„Heut ritt der Kronprinz an uns vorüber. Die Schützen jubelten ihm
-zu. Übermorgen geht’s, hoffen wir, nach Österreich hinein. Sorge
-Dich nicht, meine geliebte Frau. Gott wird mich schützen. ~Vive le
-roi!~“
-
-Mit der Morgenpost war der Brief gekommen. Gegen Mittag stürzte
-Wilhelm die Treppe hinauf. Er hatte die Wache aufziehen lassen, war in
-Paradeuniform. Kaum im Zimmer, riß er die Schärpe herunter: „Martha,
-wir haben eine große Schlacht verloren!“ Die hellen Tränen liefen ihm
-über die Wangen. „Man weiß noch nichts Näheres. Aber es ist Tatsache.
-Eine große Schlacht! Die arme Armee! Der arme König!“
-
-Er war in völliger Verzweiflung, aufgelöst, fast besinnungslos. Rannte
-im Zimmer auf und ab. „Eine große Schlacht verloren! Wie wird das nun
-werden! Wenn das Vater erlebt hätte.“ Vergeblich suchte Martha ihn zu
-beruhigen. „Gut, daß die Jungens noch nicht größer sind. Daß sie noch
-nicht ganz verstehen können, was wir verspielt haben.“
-
-Auf Helene achteten sie nicht.
-
-Sie stand an der Wand, mußte sich fest anlehnen, hatte die Hände vor
-die Brust gepreßt, und alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen.
-
-Sie dachte nicht an die verlorene Schlacht, sie hörte nicht mehr, was
-der Bruder in seiner maßlosen Erregung sagte. Nur an Gaston dachte sie.
-Und plötzlich kam aus Angst und Sorge die Sehnsucht über sie.
-
-Sie sah ihn vor sich in Not und Gefahr. Sie meinte ihn stürzen zu
-sehen, von Blut überströmt -- die Feinde brachen über ihn herein, er
-lag unter Rossehufen --
-
-Da schrie sie jäh auf: „Gaston!“ -- --
-
-Es war ein böser Abend, der Abend des 28. Juni. Wilhelm ging noch
-einmal in die Stadt, um Nachrichten einzuholen. Aber niemand wußte
-etwas Bestimmtes. Nur unklare Gerüchte schwirrten. Vergeblich umlagerte
-die Masse die Zeitungsredaktionen. Im Kriegsministerium zuckte man
-die Achseln. Ein höherer Offizier, den Wilhelm traf, lachte ihn aus:
-„Unsinn! Wir haben die besten Nachrichten. Der Kronprinz hat die
-böhmischen Pässe schon überschritten.“ Ein anderer sprach von einem
-unentschiedenen Gefecht gegen die hannöversche Armee, die sich nach
-dem Süden durchschlagen wollte.
-
-Als er endlich heimkam, war Helene ruhiger geworden. Aber ihre Augen
-schienen von seinen Lippen ablesen zu wollen, was er für Nachricht
-brächte. Er hatte sich nun schon selber bezwungen, ärgerte sich über
-sein hitziges Temperament, das ihn immer alles pechschwarz oder
-rosenrot sehen ließ, versuchte zu scherzen. Aber da bat sie, mit
-erhobenen Händen: „Bitte -- bitte -- nein!“
-
- * *
- *
-
-Am nächsten Vormittag lachte die Siegessonne über Berlin. Die Glocken
-läuteten. Die Jungens kamen glückstrahlend heim: die Schule war
-geschlossen worden auf die Siegeskunde von allen Seiten: von Nachod
-und Soor und Alt-Rognitz und Königinhof. Genug des Triumphes, um die
-übertriebenen Gerüchte von gestern, die die Schläge von Trautenau und
-Langensalza zu schweren Niederlagen gestempelt, vergessen zu machen.
-
-Die Siegessonne lachte über Berlin.
-
-Helene stand am Fenster und sah, wie auf allen Häusern die
-schwarzweißen Fahnen aufstiegen. Drüben am Rotherschen Stift vor
-der Anschlagsäule drängte sich das Volk um die Depeschen. An der
-Brücke stand ein langer Tisch, ein paar Bürger dahinter, mit großen
-schwarzweißen Kokarden an den Zylinderhüten und Sammelbüchsen in den
-Händen: „Für unsere tapferen Krieger.“
-
-Die Siegessonne leuchtete über Berlin. Wie Jauchzen und Jubeln klang es
-von fern her. Und dann und wann, wenn wieder ein Packen Extrablätter
-unter die Masse vor der Litfaßsäule flog, brach dort ein brausendes
-Hurrarufen aus.
-
-Die Siegessonne lachte über ganz Preußen. Auch über die
-Hunderttausende, die sich um Vater, Mann oder Kind härmten.
-
-An Vater dachte Helene, an den alten Rittmeister, und was der ihr wohl
-gesagt hätte: ‚... das heißt, mein Lenchen, in solchen Stunden kann
-die Frau erst zeigen, was sie wert ist. Fünf Brüder gingen wir Anno
-dreizehn ins Feld, zwei kamen wir nur zurück. Aber meine Mutter hat
-nicht gejammert und geflennt. Wenn sie von den Brüdern sprach, hat sie
-immer nur gesagt: Sie starben für König und Vaterland den Heldentod.‘
--- --
-
-Unruhige Zeiten! Glückliche Zeiten!
-
-Wieder klangen die Glocken. Die hannöversche Armee war zur Kapitulation
-gezwungen, und während der König auf den Kriegsschauplatz eilte, brach
-Prinz Friedrich Karl den heldenmütigen Widerstand der Österreicher und
-Sachsen bei Gitschin.
-
-Wieder jubelte Berlin. Und wieder harrten und härmten sich
-Hunderttausende um Väter, Gatten, Brüder, Söhne.
-
-Eine kurze Zeile nur hatte Helene erhalten, mit Bleistift beim
-Biwakfeuer geschrieben: „Bin gesund und denke Dein in Liebe und
-Sehnsucht. Gaston.“ In unaussprechlichem Dankgefühl schlossen sich ihre
-Hände um das kleine Blatt. -- -- --
-
-„Der Gouverneur soll Viktoria schießen.“
-
-Die Schlacht bei Königgrätz war geschlagen. Das tapfere österreichische
-Heer im vollen Rückzug.
-
-Und fast zugleich trafen die ersten Verlustlisten ein. Vereinzelte
-Zeitungsnachrichten zuerst, vereinzelte Anzeigen der Regimenter,
-und dann, dann die große Liste, Truppenteil an Truppenteil, Name an
-Name gereiht. Lang, endlos lang war sie und trug die Trauer über das
-jubelnde Land.
-
-Auf den Bahnhöfen kamen die ersten Verwundeten an. In die hellen
-Sommerkleider auf den Straßen mischte sich das Schwarz. Neben die
-siegesfrohen Gesichter traten die tränendurchfurchten.
-
-Wieder wie achtzehnhundertvierundsechzig ging Martha an den
-Leinenschrank, saß und zupfte Scharpie, Fädchen auf Fädchen. Und
-Helene saß dabei, die Linnenstreifen in der untätigen Hand, zwang
-sich, geduldig zu scheinen und ruhig, und bebte doch in harrender
-Erregung. Dann brachten die Jungens Zeitungsblätter, und sie durchflog
-Spalte um Spalte mit fiebrigen Augen. Wilhelm kam von vergeblichen
-Erkundigungsgängen heim, war selber beunruhigt; auch um Fritz, der
-bei den Fünfunddreißigern mitgekämpft hatte. Schlecht und ungeschickt
-verbarg er die eigene Sorge.
-
-Es konnte ja nur ein gutes Anzeichen sein, daß keine Nachricht da war.
-Ja, doch! Ja, doch! Es konnte --
-
-Man muß Geduld haben. Es geht Zehntausenden nicht anders als uns. Ja,
-doch! Ja, doch! Aber sie härmen sich auch wie wir --
-
-„Du mußt bedenken, liebe Helene, wie schlecht die Verbindungen in
-solchen Tagen sind.“ -- „Ja, doch -- ja, doch --“
-
-Dann schellte es draußen im Flur. Der Briefträger --
-
-Und wieder, wieder brachte er keine Nachricht. Drucksachen, Umschläge
-mit gleichgültigen Geschäftsadressen -- keinen Feldpostbrief!
-
-Der dritte, der vierte Tag, nachdem die Geschütze mit donnerndem Salut
-den großen Sieg gekündet -- und keine Nachricht!
-
-‚Ich will eine tapfere Soldatenfrau sein!‘ rief Helene sich immer
-wieder zu. Aber dann versagte plötzlich die Kraft, der Kopf sank
-vornüber, sie schluchzte auf.
-
-Martha legte den Leinwandstreifen zur Seite, beugte sich zärtlich
-über sie, strich sanft über das rostbraune Haar: „Mein Schwesterchen!
-Morgen! Morgen gewiß! Nur Gottvertrauen und Mut! ... Siehst du, wie
-lieb du deinen Gaston hast!“
-
-Mit todtraurigen Augen schaute Helene auf: „Vielleicht liegt er hilflos
-irgendwo ... in einer elenden Hütte ... und ich kann nicht bei ihm sein
-... kann ihm nichts sein! Die erbarmungslose Untätigkeit! Martha, ich
-ertrag’s nicht!“
-
-Und Martha nahm ihre Hände, sprach ihr gut zu, fühlte, wie vergeblich
-Worte waren, und dachte doch immer: ‚wie lieb sie ihn nun hat ... wie
-lieb sie ihn nun hat ...‘
-
-Am Abend saß Omama an ihrem Traumfenster, sah auf den mondüberströmten
-Rotherschen Garten hinaus und sprach sich mit ihrer zittrigen Stimme
-ein Lied von Anno dreizehn vor, wie sie nun eins nach dem andern in
-diesen Tagen in ihr aufstiegen: „... wie glühen dann die Herzen -- so
-froh und stark und weich! Wer fällt, der kann’s verschmerzen -- Der hat
-das Himmelreich!“
-
-Plötzlich kniete Helene neben ihr, umklammerte ihre Knie, bat: „Hör
-auf, Mutter, hör’ auf!“
-
-Die Greisin schüttelte verwundert den Kopf. „Aber Kind ... es ist doch
-ein sehr schönes, gutes Gedicht ... ‚Der hat das Himmelreich!‘“
-
-„Ach, Mutter --“ und Helene warf den Kopf in Omamas Schoß. „Ich kann’s
-nicht hören!“
-
-Endlos die bangen Nächte.
-
-Helene lag und rang die Hände: „Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn
-mir!“ Übersann, wieder und wieder, jede Stunde des Zusammenseins mit
-ihm: wie gut, wie geduldig er immer gewesen, wie er nimmer ermüdend um
-ihre Liebe geworben. Sie sah seine traurigen Augen, sah seine Augen im
-Glück, fühlte seine Lippen auf ihrem Munde.
-
-„Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn mir!“
-
-An jene Nacht vor der Hochzeit dachte sie zurück, an ihre Kämpfe, an
-ihre Verzweiflung. Und nun stand das alles vor ihr, als ob sie schlecht
-gewesen wäre. Undankbar gegen ihn und ungerecht! Gefallsüchtig heut --
-kalt und herzlos morgen! Gespielt hatte sie mit ihm! Nicht Vertrauen
-mit Vertrauen vergolten!
-
-„Allmächtiger Gott, erbarm dich, laß ihn mir! Daß ich gut machen kann!“
--- -- --
-
-Wieder kam der Tag.
-
-Da stürmte plötzlich Hans herauf, jubelte, schwenkte einen Brief in der
-Hand: „Tante Helene! Tante Helene!“
-
-Das Herz wollte ihr stillstehen. Ein einziger Laut rang sich von ihren
-Lippen.
-
-Und sie riß den Brief an sich, barg ihn zwischen den Händen, küßte ihn
-unter heißen Glückstränen.
-
-Der große Junge stand daneben, wischte sich die Augen, wartete eine
-lange Weile, wehrte sich gegen die eigene Rührung, ließ dann die Tränen
-kullern, wie sie wollten, räusperte sich. Bis er endlich doch bat: „So
-lies doch, Tante Helene.“
-
-Da sah sie ihn an mit feuchten Augen, schlang den Arm um ihn, küßte ihn
-zärtlich --
-
-... und dann las sie.
-
-Wie ein Kind fast, zusammengekauert, saß sie auf dem Sessel, hielt den
-einen Briefbogen zwischen den Händen, die noch immer bebten, hatte den
-zweiten auf dem Schoß. Las mit fliegender Hast und überlas dann jede
-Seite gleich noch einmal. Das Blut kam und ging in dem schönen Gesicht.
-
-Einmal gleich im Anfang sagte sie, hochaufatmend, aber ohne aufzusehen,
-sehr eilig: „Gesund, Hans --“ Las wieder ein paar der eng mit Bleistift
-beschriebenen Seiten weiter, blätterte zurück: „Am 3. abends -- Herr
-Gott, wie langsam der Brief ging!“ Sah auf einen kurzen Moment auf,
-nickte Hans mit glückstrahlenden Augen zu, nahm den zweiten Bogen auf.
-
-„Das muß ich dir aber doch vorlesen, Hans --“
-
-„... wir wollten -- so gegen vier Uhr -- die jenseits Leipa eroberte
-Batterie verlassen, da kam der König mit seiner Suite angeritten,
-Bismarck und Moltke waren auch dabei. Alles brach in lauten Jubel aus,
-unsere Schützen waren gar nicht mehr zu halten. Wir stürzten auf den
-König los, wer zunächst war, faßte seine Hand und küßte sie. Stell
-Dir das vor, ~ma chérie~, noch mitten im Kanonendonner, unter
-Hurrarufen, das gar nicht enden wollte. Seine Majestät sahen sehr ernst
-aus, aber so mild, so gütig. Und denk’ Dir, plötzlich erkannte er mich.
-Er winkte mir zu und grüßte: „~Bonjour~, Merivaux.“ Da hab ich in
-den Kanonendonner hinein, recht aus voller Brust, gejubelt: „~Vive
-le roi! Vive le roi!~“ Wie ich’s als Kind von meinem Vater gelernt
-hatte. Da lächelte der König ...“
-
-Weiter las sie, blätterte zurück, las wieder.
-
-Las dann noch einmal halblaut: „Jetzt liegen wir im ~bivouac~. Ich
-schreib dies schon in der Dämmerung. Gerade klang die Retraite über
-das Schlachtfeld und der Choral ‚Nun danket alle Gott‘. Wir alle haben
-mitgesungen.“
-
-Und dann verstummte sie. Das brauchte der Junge doch nicht zu hören,
-all die Zärtlichkeit, die Liebesworte der letzten Zeilen, all die
-Sehnsucht, die ihr entgegenklang -- -- --
-
-Aber sie sprang auf, lief durch die ganze Wohnung. Nun sollten es alle
-wissen. Von einem lief sie zum andern, küßte Omama, umhalste Martha.
-Immer wie ein jubelndes Kind und immer mit Glückstränen in den Wimpern.
-
-Am Nachmittag ließ sich Frau Harriers-Wippern melden.
-
-Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf Helene zu: „Ich brauch’ ja nicht
-zu fragen! Das Glück steht Ihnen auf dem Gesicht geschrieben, Frau von
-Merivaux. Aber gratulieren will ich -- recht von Herzen! Sie haben
-sicher die besten Nachrichten.“ Und sie küßte Helene auf beide Wangen.
-
-Dann wurde sie rot: „Übrigens muß ich gestehen, ich komme eigentlich
-nicht nur, um zu gratulieren. Ich komme mit einer Bitte ... Was Sie
-immer für sonderbare Augen machen können, Frau von Merivaux! Ganz
-andere Augen als andere Menschen. Ja, also, um mit der Tür ins Haus zu
-fallen: Sie sollen mit mir in einem Konzert singen.“
-
-Helene erschrak. Aber Frau Harriers ließ sie gar nicht zu Worte kommen:
-„In einem Konzert zum Besten unserer Tapfern, unserer Verwundeten! Da
-können Sie doch gar nicht nein sagen! ... Aber da stehen in Ihren Augen
-schon wieder alle möglichen Fragen -- immer kann man’s in Ihren Augen
-lesen, was Sie denken. Warum ich gerade zu Ihnen komme? Erstens weil
-ich so ziemlich die einzige Sängerin von einigem Renommee bin, die
-in Berlin geblieben ist, die sogenannten ersten Kräfte also mangeln.
-Hauptsächlich aber -- werden Sie nur ganz nach Belieben rot! -- weil
-ich Sie wenigstens einmal herausbringen möchte. Also aus reiner elender
-Lehrerinneneitelkeit.“ Sie lachte fröhlich. „Nun?“
-
-„Es ist ... es kommt so plötzlich ...“
-
-„Das Gute kommt meist plötzlich. Übrigens hab ich alles vorbedacht.
-Wir haben acht Tage Zeit. Ihre Hand, liebe Helene, was zögern Sie?
-Nicht wahr, Sie wollen?“
-
-Da sagte Helene rasch: „Ja, ich will!“
-
-Nachher gereute es sie ein wenig. Hatte sie nicht zu schnell zugesagt?
-Ob es Gaston auch recht sein würde? Es war ja für die Verwundeten! Ob
-sie’s auch gut machen würde?
-
-Aber all die Bedenken gingen unter in dem großen Glücksempfinden, das
-sie heut erfüllte.
-
-Das Konzert -- nun dachte sie kaum noch an das Konzert und an ihre
-Zusage. Sie saß und schrieb einen langen Brief an Gaston. Ganz anders,
-als sie bisher an ihn geschrieben. Ohne die Worte zu überlegen, ohne zu
-wägen. Nur wissen sollte er, wie selig sie war, wissen, wie sie sich
-nach ihm sehnte, wissen -- wissen, daß sie ihn liebte!
-
-Selbst trug sie den Brief zur Post. ‚Nein! Ich trag ihn lieber zum
-Anhalter Bahnhof -- dann kommt er schneller in Gastons Hände.‘ Und
-sie ging zum ersten Male seit Tagen durch die Straßen, die noch im
-Siegesschmuck lagen. Immer hatte sie ja zu Haus gesessen -- gewartet --
-gewartet --
-
-Alles sah sie erst jetzt. Die Fahnen und die Girlanden. An der
-altersgrauen Stadtmauer ging sie entlang und mußte lachen. Da hatten
-die Berliner Rangen winzig kleine Löcher durch die zermürbten Steine
-gestoßen, und darum stand: „Hier zieht Benedeck in Berlin ein!!!“ Stand
-in Kreideschrift im Halbkreis herum mit drei Ausrufungszeichen dahinter.
-
-Plötzlich fiel ihr ein: ‚Tante Oschitz! Jetzt gehst du noch zu Tante
-Marianne. Die muß doch Nachricht haben.‘ Aller Welt hätte sie zujubeln
-mögen, wie glücklich sie war.
-
-Und sie ging weiter, über den Potsdamer Platz, durch die
-Bellevuestraße, am Tiergartensaum entlang. Dachte: da drüben am
-Goldfischteich hat Gaston zum erstenmal von unserem Hochzeitstag
-gesprochen. Lachte in sich hinein, wie hilflos sie damals gewesen.
-Lief wie ein Kind durch den Vorgarten der Stillen Insel, fiel Tante
-Marianne um den Hals: „Ich hab einen Brief. Mein Gaston ist gesund!“
-War glücklich, daß die Greisin sich mit ihr freute. Weinte wie Kinder
-weinen, als Tante Marianne sie vor das große Bild Harros führte, das
-sie von Professor Richter hatte malen lassen. „Ach, Harro -- unser
-guter lieber Harro!“ Und hatte, als sie die Stille Insel verlassen,
-doch nur wieder das eine Glücksgefühl im Herzen und nur den einen
-Gedanken an Gaston.
-
- * *
- *
-
-Das Konzert fand in der Singakademie statt. Frau Harriers-Wippern hatte
-nachträglich noch zwei, trotz der Ferien zufällig in Berlin anwesende
-Mitglieder des Königlichen Opernhauses gewonnen, den Bassisten Salomon
-und Fräulein Horina. Für Helene waren drei Nummern reserviert.
-
-Ein wenig befangen war Helene doch.
-
-Als am Morgen die Jungens jubelten: „Tante Helene steht an den
-Litfaßsäulen! Tante Helene steht in der ‚Kreuzzeitung‘!“ war sie rot
-wie ein Schulmädchen geworden. Und als sie mit Martha zur Singakademie
-fuhr, hatte sie eine unheimliche Empfindung im Kehlkopf: ‚Du wirst ja
-keinen Ton herausbringen können.‘ Auch der Zuspruch von Frau Harriers
-half nicht viel. Einmal lugte sie in den überfüllten Zuschauerraum: sie
-sah nur eine Masse Menschen die wie ins Dunkle getaucht schien.
-
-Schon klang die Ouvertüre zu „Struensee“ auf.
-
-Im Konversationszimmer stand der Baumeister Harriers neben Helene,
-hatte eine halbe Flasche Champagner in der Hand und sagte gutmütig
-lächelnd: „Ich kenn’ das von meiner Frau. Die hat heut noch manchmal
-Lampenfieber. Dann hilft nur ein Glas Champagner.“ Sie wehrte wortlos
-ab -- und dann stürzte sie doch ein Glas herunter.
-
-Draußen sang gerade Fräulein Horina ...
-
-Dann hieß es: „Die vierte Nummer! Frau von Merivaux -- bitte!“
-
-Helene stand auf dem Podium. Im hellen Licht.
-
-Sie mußte überraschend schön wirken in ihrem Brautkleid, zu dem sie
-ein paar mattblaue Schleifen genommen hatte und einen Kranz von weißen
-Rosen in das rostbraune Haar. Vielleicht hatte es sich herumgesprochen,
-daß die neue Erscheinung, die Schülerin der gefeierten Frau Harriers,
-die jungvermählte Gattin eines Offiziers sei, der im Felde stand.
-Vielleicht war’s auch nur Neugier. Es ging ein leises Rauschen durch
-den Zuschauerraum.
-
-Einen Moment stand sie noch in Verwirrung. Verneigte sich tief.
-
-Nun klangen die ersten Akkorde --
-
-Da war ihre Befangenheit plötzlich verschwunden, mit einem Male. Sie
-setzte ein.
-
-Das Uhlandsche Lied sang sie, nach der Komposition von Franz Schubert:
-
- „Die linden Lüfte sind erwacht,
- Sie säuseln und weben Tag und Nacht --“
-
-Es war merkwürdig, sie staunte selbst. Noch nie vielleicht war sie so
-gut disponiert gewesen wie im diesen Augenblicken. Sie fühlte, wie
-sie ihr Organ meisterte, wie es sich ihrem Willen fügte gleich einem
-gehorsamen Instrument. Fühlte, wie sie von Atemzug zu Atemzug freier
-wurde, wie ihre Stimme sich immer weiter entfaltete --
-
- „Es blüht das tiefste, tiefste Tal,
- Nun armes Herz vergiß der Qual,
- Nun muß sich alles, alles wenden.“
-
-Rauschender Beifall tönte herauf, als sie geendet. Und plötzlich,
-während sie sich verneigte, kam wieder die große Verwirrung über sie.
-Keine Angst, aber etwas Beschämung.
-
-Noch immer wollte der Beifall nicht aufhören. Noch einmal mußte sie
-sich verneigen.
-
-Aber als sie sich nun wieder aufrichtete und sich zurückziehen wollte,
-unterschied sie zum ersten Male in der vordersten Reihe ein paar
-bekannte Gesichter. Omama neben Wilhelm -- Martha --
-
-Aber wer war denn das? Zwischen Mutter und der Schwägerin?
-
-Kantor Flehr saß da mit den gefalteten Händen im Schoß, die blauen
-Augen leuchteten aus dem lederfarbenen Gesicht wie in Entzückung zu ihr
-hinüber --
-
-Das war sicher Marthas Werk! Keine größere Freude hätte sie ihr an
-diesem Abend bereiten können! Und sie neigte sich zum drittenmal und
-nickte ihm zu, nur ihm unter all den Hunderten.
-
-„Das haben Sie brav gemacht, Helene“, meinte dann Frau Harriers. „Brav
-ist eigentlich zu wenig. Es soll auch nur den Zoll für Ihre Tapferkeit
-ausdrücken. Wenn ich so an mein erstes Debüt zurückdenke -- wie eine
-Heldin haben Sie sich benommen! Aber sagen Sie, wer ist denn der alte
-wunderliche Mann neben Ihrer Frau Schwägerin, der Sie angestaunt hat
-wie ein Wunder --“
-
-„Mein erster Lehrer --“
-
-„Der alte Kantor, von dem Sie mir so oft erzählt haben? Den muß ich
-kennen lernen. Den bringen Sie mir morgen, und ich will ihm ganz allein
-alles aus seinem geliebten Mozart vorsingen, was er nur hören mag.“
-
-Es war eine seltsam frohe Stimmung über Helene gekommen, seit sie den
-Alten gesehen und erkannt hatte. Wie ein lieber Grußbringer aus der
-märkischen Heimat erschien er ihr. Sie dachte zurück an ihre ersten
-Versuche bei ihm, dachte dankbar zurück an die entscheidende Stunde, in
-der er, der Schüchterne, so tapfer vor Vater um ihre Kunst gestritten
-hatte.
-
-Und dann flogen ihre Gedanken wieder weit weg, nach dem
-Kriegsschauplatz, zu Gaston. Daß der heut hier fehlte! Wenn er unten
-gesessen hätte, sie gehört und den Beifall! Sie gehört und gesehen in
-dem weißen Kleide, das sie nun zum zweiten Male trug, mit so ganz, ganz
-anderen Empfindungen im Herzen, als damals -- als damals --
-
-„Frau von Merivaux!“
-
-Sie sang das Lied der Prascovia aus Meyerbeers „Feldlager“. Wieder
-tönte der Beifall. Und ein großes Blumenarrangement stand plötzlich vor
-ihr auf dem Podium, ein mächtiger Korb mit Rosen, den die Kameraden
-von der Ersatzkompagnie der Gardeschützen geschickt hatten. Nun sah
-sie auch die wohlbekannten Uniformen unter den Zuschauern, und wieder
-dachte sie an den fernen Geliebten.
-
-Noch einmal mußte sie auf das Podium.
-
-Frau Harriers hatte darauf bestanden, daß sie das Mignonlied singen
-sollte. Sie hatte sich ein wenig gesträubt.
-
-Jetzt, während sie das Lied sang, kam ihr die beseligende Empfindung:
-‚Du singst es ja für Gaston‘ --
-
- „Dahin! Dahin!
- Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehen.
- Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
- Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg ...“
-
-Ihr war’s, als zöge sie mit ihm in sein Heimatland. Und ihre Stimme
-gewann, ihr ganz unbewußt, noch einen besonderen Klang, einen
-schwermutsvollen süßen Zauber.
-
-Sie mußte das Lied wiederholen --
-
- „Kennst du des Land, wo die Zitronen blühn,
- Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
- Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
- Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
- Kennst du es wohl!
- Dahin! Dahin!
- Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehen!“
-
-Dann stand draußen, während im Saal die Eroica-Sinfonie aufklang, die
-kleine Künstlerschar und umringte Helene. Frau Harriers schloß sie in
-die Arme: „Ich habe eben Taubert gesprochen. Er ist ganz hingerissen.
-Liebe Helene -- vergessen Sie die Kunst nicht in Ihrem Glück.“
-
-Fast dasselbe aber sagte nachher in seiner schüchternen, schlichten und
-doch ein wenig überschwenglichen Art der alte Kantor. Er faßte beide
-Hände Helenens, hielt sie andächtig in den seinen: „Daß ich das erlebe!
-Liebe, liebe gnädige Frau ... Wenn Sie so recht glücklich sind, dann
-denken Sie immer daran, daß Ihre Kunst das schönste Glück erhöhen und
-krönen kann ...“
-
- * *
- *
-
-Eine Woche noch, und es tauchten Gerüchte auf, daß im Hauptquartier des
-Königs, in Nikolsburg, über den Frieden verhandelt würde.
-
-Gerade an dem Tage, an dem Helene die erste Zeitungsnotiz darüber las,
-schrieb Gaston aus Holleschin: „Auf dem Marsch gegen Wien.“ Es war die
-Antwort auf Helenes Brief. Er rechnete noch fest auf die Fortsetzung
-des Feldzuges, aber er schrieb kaum von Gefahren und Strapazen: immer
-wieder nur schrieb er von der Seligkeit, die Helenes Brief in ihm
-erweckt: „Das ist mein schönster Siegespreis!“
-
-Friede!
-
-Helene hatte bis zur letzten Minute nicht fest an ihn zu glauben
-gewagt. Sie hatte ihn erhofft, jede Nachricht mit zitternder Spannung
-verfolgt und doch immer wieder gezagt. Nun jauchzte ihr Herz.
-
-Manchmal in diesen Tagen kam sie sich als recht schlechte Patriotin
-vor --
-
-Bruder Fritz war bei Königgrätz leicht verwundet und als Rekonvaleszent
-zurückgekehrt, mußte noch liegen, hatte sich bei Wilhelms einquartiert,
-um seine völlige Herstellung abzuwarten. Denn dem groben Doktor
-Tiburtius in Stellberg traute er keine besonderen chirurgischen Künste
-zu.
-
-Die Brüder saßen viel zusammen. Wilhelm war ein wenig stolz auf den
-verwundeten Bruder, klagte, daß er selbst beim Ersatz geblieben war,
-tat sich etwas darauf zugute, Fritz bei sich zu pflegen und zu hegen;
-ihm das Beste vorzusetzen, was der Keller hergab, und für seine
-Unterhaltung zu sorgen. Bis zur Stunde, wo Wilhelm aus dem Dienst kam,
-las Fritz sämtliche Berliner Zeitungen und war dann vollgesogen wie
-ein Schwamm. Sein sonnengebräuntes Gesicht lachte, wenn er Wilhelm und
-möglichst die ganze Familie an seinem Schmerzenslager versammelt sah.
-
-Da hörte denn auch Helene, was Großes geschehen, welch Größeres in
-Aussicht stand für Preußen, für das deutsche Vaterland.
-
-Fritz war noch immer der Mann der Politik. Aber der ‚rote Kreisrichter‘
-war er nicht mehr. „Wir haben uns geirrt. Die besten von uns gestehen
-es offen ein. Wir haben vor allem Bismarck unrecht getan -- und dem
-König. Wir haben uns geirrt -- im ehrlichen Glauben. Aber nun heißt’s
-für uns, auch ehrlich die dargebotene Hand zu ergreifen. Der Konflikt
-muß begraben sein. Gottlob!“
-
-Und er sprach weiter vom neuen Norddeutschen Bunde, und wie der nur
-die Vorstufe sei zu einem einigen Deutschland. Er sprach wehmütig
-vom Ausscheiden Österreichs aus dem Kreise der deutschen Staaten und
-von Bismarcks politischer Weisheit, die dem Donaustaat allzu schwere
-Opfer erspare; wohl in der Hoffnung, daß es dereinst auch mit ihm zu
-einer Versöhnung kommen möge. „Denn wir sind und bleiben deutsche
-Brüder!“ Und er sprach stolz von Preußens Machtzuwachs, daß nun
-die beiden Hälften der Monarchie verbunden seien, das Preußen mit
-Schleswig-Holstein den besten deutschen Kriegshafen gewonnen habe.
-
-Helene hörte das alles: Sie freute sich auch darüber. Zumal, wenn es
-immer wieder hieß: „Wenn doch unser guter Vater das erlebt hätte!“
-
-Aber sie schämte sich auch. Nein, eine gute Patriotin war sie nicht!
-Ihr Herz war so voll von dem einen, daß sich für alles andere nur wenig
-Raum fand. Beim besten Willen: der Norddeutsche Bund und die deutsche
-Einheit, die ließen sie im letzten Grunde gleichgültig. Sie hörte das
-alles, und sie dachte doch nur an Gaston.
-
-Dann legte wohl Martha den Arm um den Nacken der jungen Frau und küßte
-sie wortlos auf die Stirn. Oder die alte Omama kam auf ihren Krückstock
-gestützt vom Fensterplatz herüber, schüttelte den Kopf, daß die
-schwarzen Schläfenlocken pendelten, und meinte: „Unsre Lene war eben
-immer ein kurioses Menschenkind ... ja ... aber ihr müßt wissen ...
-~C’est l’amour! C’est l’amour!~ Ja, der Flehr ... übrigens etwas
-deplaciert kam ich mir doch neben ihm vor, neulich im Konzert ... ja,
-der Kantor hat auch gesagt: gelernt hätt’ die Lene wohl unglaublich
-viel, aber das allein tät’s doch nicht.“ Ganz leise kicherte sie noch
-einmal vor sich hin: „~C’est l’amour! C’est l’amour.~“ Und Helene
-wurde rot wie ein junges Mädchen. -- -- --
-
-Wilhelm schmiedete schon neue Geschäftspläne. Er wollte mit einem
-Konsortium die Waffen der früheren hannöverschen und hessischen Truppen
-kaufen. „Ich stehe in Unterhandlung mit chilenischen und argentinischen
-Emissären -- für Südamerika sind die alten Flinten noch wunderbar
-schön.“ Dabei rechnete er auf Heller und Pfennig heraus, daß er den
-Seinen ein riesiges Vermögen bei dem Geschäft gewinnen müsse. „Sobald
-ich entlassen bin, geh ich nach London, um abzuschließen!“
-
-‚Arme Martha! Er ist und bleibt der unverbesserliche Phantast und
-Optimist.‘ Aber wenn Helene ihm in sein schönes, immer heiteres Gesicht
-sah, sein liebenswürdiges Lachen hörte, sagte sie sich wieder: ‚Bös
-kann man ihm doch nicht sein. Auch Martha nicht, wenn sie auch manchmal
-nicht leicht trägt. Im Grunde: die beiden passen trefflich zueinander.‘
-
-Dann träumte sie weiter: ‚Wie werden wir beide wohl miteinander sein?‘
-Und sie preßte die Hände aneinander, als ob sie etwas recht, recht fest
-halten wollte.
-
-Oft dachte sie zurück an ihr innerstes Erleben. Nichts hätte sie missen
-mögen. Sie wußte nun: Durch Schmerz und Leid führte mein Weg zum Glück!
-Und sie wußte auch: ein Schößling, der schnell aufschießt, hält der
-Zeit selten stand; der langsam wachsende Baum aber wird stark und
-kräftig. So war ihre Liebe -- -- --
-
-Berlin rüstete sich zum Empfang der Sieger.
-
-Die Einzugsstraße Unter den Linden schmückten als schönste Zier die
-zweihundertneun eroberten Geschütze, von Viktorien unterbrochen, die
-auf goldenen Schildern die Namen der Schlachten und Gefechte trugen.
-Viktorien leiteten zur Schloßbrücke. Auf dem Lustgarten erhob sich der
-Altar mit der riesenhaften Borussia dahinter, umgeben von den Statuen
-der Hohenzollernherrscher. Flatternde Fahnen, Girlanden, Blumenschmuck
-allerorten --
-
-Wilhelm hatte einige Fensterplätze im Zeughaus erhalten.
-
-Hier stand Helene und sah über die wogenden Massen hinüber, auf die
-breite freie Straße, die die Sieger vom Brandenburger Tor her kommen
-mußten.
-
-Von fernher klang der Jubel der Hunderttausende, kam näher, schwoll,
-wie Sturmesbrausen.
-
-Der Zug nahte. Vorn die Generale, Bismarck und Moltke.
-
-Der König dann, mit ihm der Kronprinz, Prinz Friedrich Karl, die
-Heerführer.
-
-Drüben am Palais nahm der König Aufstellung, um seine Tapferen an sich
-vorüberziehen zu lassen.
-
-Hochaufgerichtet saß der Kriegsherr im Sattel.
-
-Und wie Helene ihn so sah, umbraust von Jubel, der sich immer und immer
-erneute, der nicht enden wollte und nicht enden konnte, da tauchte noch
-einmal ein seltsames Erinnerungsbild vor ihrer Seele auf.
-
-Vor vier Jahren hatte sie ihn zum ersten Male gesehen, den greisen
-König, im Wagen, am Brandenburger Tor. Fast die einzige war sie
-damals gewesen, die sich vor ihm zum Gruß beugte. Als ob er die Liebe
-seines Volkes verloren hätte. Ernst hatte sein gütiges Auge über alle
-hinweggesehen, ernst und milde. Ja, auch er hatte sich die Liebe
-erobern müssen, in schwerem Ringen! Aber nun hielt er dort drüben,
-bei seinem großen Ahn, Friedrich dem Einzigen, und ein dankbares Volk
-jubelte ihm zu. Nun hatte er dieses Volkes Liebe für alle Zeiten --
-
-Das Herz pochte, und in ihr war der große Jubel: Heil, König dir!
-
-Mit einem Male, plötzlich, war sie wieder ganz die Tochter des alten
-Rittmeisters, die echte Märkerin, die leidenschaftliche Patriotin:
-‚Heil, König dir!‘
-
-Unten zogen die eroberten Fahnen durch die Ruhmesstraße.
-
-Dann folgten, im endlos langen Zuge, die siegreichen Truppen. Die
-Musikchöre spielten. Immer aufs neue setzte der Jubel ein. Im
-Feldanzug kamen die Regimenter, mit Blumen bekränzt die Gewehre,
-die zerschossenen Helme. Im festen Tritt marschierten sie an dem
-Kriegsherrn vorüber --
-
-Und nun spähte Helene mit Falkenblick. Schon von weitem sah sie die
-schwarzen Käppis der Schützen. Sah dann vor seinem Zuge ihn, Gaston.
-Sah ihn vor dem Könige salutierend den Degen senken, sah, wie sein
-Blick sich wandte, suchend, forschend, bis er sie fand. Und da erst
-dachte sie daran, daß neben ihr ein alter Herr stand, mit dem Roten
-Adlerorden im Aufschlag des schwarzen Rockes, ein alter Herr, der von
-weither gekommen war, den Sohn an diesem Tage zu grüßen und dem König
-sein „~Vive le roi!~“ zuzujubeln. Sie faßte seine Hand und sagte:
-„Vater -- sieh -- Gaston --“
-
-Unten zogen die Truppen weiter. Regiment auf Regiment, Schwadron auf
-Schwadron, Batterie auf Batterie. Zogen über die Schloßbrücke zum
-Altar, der zu Füßen der Borussia errichtet war.
-
-„Ein anderer wird morgen die Kompagnie zur Kaserne führen“, hatte
-Gaston gestern geschrieben. Aus dem letzten Quartier.
-
-So wußte Helene, daß er kommen und sie finden würde.
-
-Sie trat zurück vom Fenster, aus der Enge der Zuschauer, in den Saal.
-Niemand achtete auf sie. Unten zogen noch immer die Regimenter vorüber.
-Triumphmusik klang herauf und der brausende Jubel der Menge.
-
-Sie wartete --
-
-Und ihr Herz wurde weit. In ihr tönte der Text ihres Brautspruches
-wieder, und es war wie ein glückseliger Sphärenklang ... „Und hättet
-der Liebe nicht ...“
-
-Am Eingang des Saales stand er, seine Augen suchten sie.
-
-Da ging sie ihm entgegen -- -- --
-
-
- ————————————————
-
-*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUF MÄRKISCHER ERDE ***
-
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-<p style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of <span lang='de' xml:lang='de'>Auf märkischer Erde</span>, by Hanns von Zobeltitz</p>
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-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: <span lang='de' xml:lang='de'>Auf märkischer Erde</span></p>
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Hanns von Zobeltitz</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: October 11, 2022 [eBook #69133]</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net</p>
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>AUF MÄRKISCHER ERDE</span> ***</div>
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-<div class="transnote mbot3 break-before">
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-<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
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-<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von
-1910 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
-Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
-nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
-unverändert. Fremdsprachliche und regional gefärbte Ausdrucksweisen
-wurden unverändert übernommen.</p>
-
-<p class="p0">Die Buchversion wurde in Frakturschrift gesetzt;
-Antiquaschrift wird hier <span class="antiqua">kursiv</span>
-dargestellt. <span class="nohtml">Abhängig von der im jeweiligen Lesegerät installierten
-Schriftart können die im Original <em class="gesperrt">gesperrt</em>
-gedruckten Passagen gesperrt, in serifenloser Schrift, oder aber sowohl
-serifenlos als auch gesperrt erscheinen.</span></p>
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-</div>
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-<div class="titelei">
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-<p class="s2 center padtop3 break-before">Auf märkischer Erde</p>
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-<p class="s3 center padtop1 mtop3 break-before"><i><span class="antiqua">HANNS
-VON ZOBELTITZ</span></i></p>
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-<hr class="r65" />
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-<h1> Auf märkischer Erde</h1>
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-<p class="s3 center">Roman</p>
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-<div class="figcenter illowe4" id="signet">
- <img class="w100 padtop5" src="images/signet.png" alt="Verlagssignet" />
-</div>
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-<hr class="full" />
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-<p class="s3 center"><span class="antiqua">NEUFELD &amp; HENIUS / VERLAG
-/ BERLIN</span></p>
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-<p class="center padtop5 break-before"><em class="gesperrt">Alle Rechte
-vorbehalten</em></p>
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-<p class="center"><span class="antiqua">Copyright 1910 by Egon Fleischel
-&amp; Co., Berlin</span></p>
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-<p class="s5 center padtop5">Gedruckt bei A. Heine, G. m. b. H.,
-Gräfenhainichen</p>
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-</div>
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-<div class="chapter">
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-<p><span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span></p>
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-<h2 class="nobreak" id="Erstes_Kapitel">Erstes Kapitel</h2>
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-</div>
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-<p class="p0"><span class="dc">D</span>ie Rackowschen waren soeben fortgefahren. Im großen Zimmer räumte
-Helene mit dem Stubenmädchen den Kaffeetisch ab. Ihr feines Näschen
-schnoberte, wie’s der Vater nannte, dem leisen, süßen Duft von Waffeln
-und Pariser Parfüm nach, der noch im Raum lag. Immer hinterließ Tante
-Marie diesen Veilchengeruch mit dem Moschusakzent, und immer rief er in
-Helenens erregbarer Phantasie unklare Vorstellungen wach von unerhörtem
-Luxus, von rauschenden Seidenkleidern, kostbaren indischen Schals,
-koketten Kapotthütchen, von funkelnden Brillanten und Perlenreihen,
-die sich um tiefentblößte weiße Nacken schmeichelten. Ganz merkwürdig:
-immer war dann auch das Bild der schönen Kaiserin Eugenie da, von der
-die Rackowschen vorhin wieder erzählt hatten. Tante Marie von ihrer
-Anmut und Eleganz, von den Kleidern, die sie auf der Brunnenpromenade
-in Ems getragen, und wie groß der Umfang ihrer Krinoline gewesen wäre;
-Onkel Ernst mit zugespitzten dicken Lippen von ihrer Schönheit, ihrem
-üppigen rotblonden Haar, ihrem blendenden Teint. Und daß und wie der
-General Fleury immer um sie gewesen wäre. Da hatten die Herren gelacht,
-aber Tante Marie und Martha hatten verstohlene Blicke gewechselt.</p>
-
-<p>Die Tassen klirrten leise unter ihren Händen. Sie fühlte, wie ihr das
-Blut in die Wangen stieg.</p>
-
-<p>Der Rittmeister schritt schweigend auf dem hausgewirkten Läufer
-entlang, der in der Diagonale des großen Zimmers<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> lag, von der
-Korridortür bis zur Tür der Vorratskammer. Straff aufrecht ging er,
-die Hände auf dem Rücken, den Kopf mit dem weißen, ein wenig gelockten
-Haar etwas vorgebeugt, seine gewohnten zwölf Schrittchen hin, zwölf
-Schrittchen zurück. Jedesmal, wenn er kehrt machte, sah er zärtlich
-zu seinem Spätling hinüber. Aber seine Gedanken waren nicht um Helene
-beschäftigt. Auch sie gingen nach Paris. Immer, wenn der Name Paris
-fiel, dachte er an seine große Zeit zurück, an die Tage, an denen er
-sich das Kreuz von Eisen gewonnen hatte, an seinen geliebten Marschall
-Vorwärts und an den anderen Napoleon, den er heut noch haßte wie Anno
-13. Ebenso haßte, wie er den Neffen verachtete, ihn und das ganze
-Getriebe um ihn her. Ein ehrlicher und kritikloser Haß war’s, und eine
-ehrliche und kritiklose Verachtung, ganz im altpreußischen Zuschnitt.</p>
-
-<p>An dem letzten der drei Fenster saß Mutter. Mutter — Omama genannt,
-seit die Kinder von Bruder Wilhelm im Hause waren und heranwuchsen.
-Selbst Helene vergaß sich manchmal und sagte Omama zu ihrer Mutter. Vor
-dem birkenen Nähtisch saß sie und träumte mit ihren großen blauen Augen
-ins Freie, in die grünen Fliederbüsche des Gartens hinaus. Die Hände im
-Schoß und die Lippen in leiser, stummer Bewegung. Vielleicht skandierte
-sie wieder einmal. Schrieb’s wohl auch am Abend heimlich auf und
-legte es heimlich in das Glaskästchen mit den blauen Bändern, wo ihr
-Allerheiligstes und Allerheimlichstes war, ihr Reliquienschrein. Der
-alte Rittmeister nannte ihn spottend den Körnersarg. Denn ganz unten
-lagen ein paar vertrocknete Veilchen, die der Sänger einst der Omama
-verehrt hatte. Lang, lang war’s her, und aus der jungen Komteß Grucker
-war ein verhutzeltes altes Frauchen geworden, aus der gefeierten
-Schönheit, der reichen Erbin eine kleine, greise märkische Edelfrau.
-Aber sie konnten’s beide nicht vergessen: Omama nicht die eine
-Begegnung, die eine Stunde unter der Eiche im Park, und der Rittmeister
-nicht seine rasende Eifersucht. Trotzdem die schleichende Zeit sonst so
-vieles ertötet und begraben hatte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p>
-
-<p>Es war totenstill im großen Zimmer. Nur das Ticken der Kuckucksuhr
-klang, und bisweilen schnappte Diana, die am Ofen lag, nach einer
-verspäteten Fliege. Dann blitzte der alte Herr aus seinen scharfen
-Augen mißbilligend hinüber und machte halblaut: Kusch. Gleich legte der
-Köter gehorsam den feinen Kopf zwischen die Pfoten. Einen höllischen
-Respekt hatten die Hunde. Der Rittmeister dressierte sie selber; noch
-nach der alten Methode, mit Peitsche und Korallenhalsband.</p>
-
-<p>Der Kaffeetisch war längst abgeräumt. Das Mädchen hatte das Damasttuch
-mit hinausgenommen, Helene breitete die braune Plüschdecke über den
-Tisch. Wie immer verdroß sie dabei der große runde Fleck, auf dem am
-Abend die Lampe stand. Sie strich von rechts drüber hin und von links.
-Es half nichts. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren.
-Abgeschabt und ärmlich. Altmodisch und ärmlich. Wo sie auch hinsah,
-alles im Zimmer abgeschabt, altmodisch und ärmlich. Die Tapete mit den
-kleinen Vierecken und den bunten Sträußchen in jedem Quadrat voller
-Flecken; der Sofateppich mit dem Rosenmuster dünn; die Zimmerdecke
-grau verblakt; das eckige, steiflehnige Kanapee eingesessen. Und sie
-dachte wieder an das elegante Rackow und an die elegante Tante Marie,
-die so häßlich war wie die Nacht und doch alle Welt bezauberte, dachte
-darüber hinaus wieder an Paris und an die Toiletten der Imperatrice,
-an funkelnde Diamanten und an Perlenketten, die sich um tiefentblößte
-weiße Nacken schmeichelten. Und an die Große Oper dachte sie, von der
-die Rackower erzählt hatten. An die erste Aufführung des „Tannhäuser“,
-der die im vorigen Jahr in Paris beigewohnt hatten, dachte sie, und was
-das für eine kuriose Musik gewesen sein sollte, von einem Deutschen
-namens Wagner, einem Revolutionsmann von 48 — und dann dachte sie an
-die Desirée Artôt und an die kleine Pauline Lucca, die in Berlin seit
-dem vorigen Jahr alle Herzen entflammte. Bruder Wilhelm konnte ja nicht
-genug Wesens von ihr machen.</p>
-
-<p>Helene war an den Ofen getreten. Fast wie im Trotz<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> lehnte sie sich
-fest an ihn und fühlte dabei, daß ihre Hände fiebrig heiß auf den
-kalten Kacheln lagen.</p>
-
-<p>Immer noch machte Vater seinen eintönigen Marsch in der Diagonale.
-Immer noch träumte Mutter zum Fenster hinaus. Immer noch — immer noch.
-Die Luft war so drückend, und es schien, als senkte sich die graue
-Zimmerdecke langsam immer tiefer.</p>
-
-<p>„Ich geh’ hinaus auf die Veranda“, sagte sie plötzlich scharf in die
-Stille hinein. Und wunderte sich, daß sie’s überhaupt sagte.</p>
-
-<p>Der alte Rittmeister unterbrach seinen Marsch nicht, nickte nur,
-lächelte ihr zu. Mutter sah flüchtig auf. „Nimm mein Tuch um, Lenchen.
-Es wird schon kalt gegen Abend.“</p>
-
-<p>„Mich friert nicht. Ich geh’ zur Post mit den Jungens. Oder ich geh’ zu
-Pastors.“</p>
-
-<p>Eigentlich hätte sie sagen mögen: ich geh’ in die weite Welt hinaus.
-Und wußte doch, daß ihre Welt drüben an der neuen Chaussee, an der
-schnurgeraden Pappelreihe ihr Ende hatte. Aber vielleicht sah, faßte
-sie dort wirklich die Post, die von Frankfurt kam ... und hinter
-Frankfurt lag Berlin ... zwei Stunden nur mit der Eisenbahn, und der
-wundervolle köstliche Dampfwagen raste von Berlin weiter hinaus in die
-Weite, in diese köstliche, wundervolle Weite ..</p>
-
-<p>Aber dann, als die schwere eichene Haustür hinter ihr ins Schloß
-gefallen war, blieb sie doch auf der Veranda stehen.</p>
-
-<p>Denn da saß Martha, hatte eine gewaltige irdene Schüssel im Schoß und
-schnipselte Bohnen. Fleißig wie immer. Grad daß sie über das bessere
-Kleid, das sie den Rackowern zu Ehren in der Eile angetan, die große
-Küchenschürze gebunden hatte.</p>
-
-<p>Als Helene sie so sah, wurde wieder etwas wie Trotz in ihr wach, eine
-Auflehnung gegen das Bild der Alltäglichkeit. Sie fragte hastig: „Warum
-quälst du dich selber, Martha? Laß das doch Mamsell machen.“ Und sie
-wurde rot dabei, denn sie liebte die junge Schwägerin in ihrem heißen
-Herzen, hegte eine unwillige Bewunderung für sie.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p>
-
-<p>Martha Hackentin sah nur einen Augenblick auf. „Ich kann doch nicht
-müßig sein. Mamsell hat in der Leuteküche zu tun.“ Da lief Helene
-zurück an den Schrank im Flur, holte sich ein Küchenmesser, zog sich
-einen Stuhl heran und griff in die irdene Schüssel. Es ging ihr gut von
-der Hand, wenn sie irgendeine Arbeit begann, aber sie hatte keinerlei
-Neigung zur wirtschaftlichen Betätigung und erlahmte schnell.</p>
-
-<p>Auch jetzt lehnte sie sich bald zurück und sah der Schwägerin zu. Sah
-auf den glatten dunklen Scheitel und die weiße, etwas niedrige Stirn,
-die tief über das Gefäß gesenkt war. Sah auf die Hände, die, so gut sie
-gehalten waren, die stark tätige Hausfrau verrieten.</p>
-
-<p>„Sehnst du dich nie nach der Stadt?“ fragte sie plötzlich.</p>
-
-<p>„Wie sollte ich, Helene? Ich bin ja gern in Rohlbeck. Ich bin doch
-hier zu Hause.“ Martha hatte auf einen Moment die klaren grauen Augen
-gehoben, hatte ein wenig mit dem Kopf geschüttelt: Helene tat oft gar
-zu merkwürdige Fragen.</p>
-
-<p>„Nun ... du bist doch aus der Stadt. Du bist doch kein Landkind.“</p>
-
-<p>„Aber ich hab’ hier meine Heimat gefunden. Meine liebe zweite Heimat.“
-Sie schwieg einen Augenblick. „Ich hab’ meine Kinder hier und meine
-Arbeit.“</p>
-
-<p>„Ja. Freilich! Arbeit hast du, von früh bis spät. Die erste im Hause
-auf und die letzte in den Federn. Man müßte sich eigentlich schämen vor
-dir. Man müßte&#160;—“</p>
-
-<p>„Du Närrin! Mir ist’s noch nie zu viel geworden.“</p>
-
-<p>Eine Weile war’s stille zwischen ihnen. Auch Helene hatte wieder in die
-Schüssel gegriffen, aber sie zog die Bohnen nur spielend durch ihre
-feingliedrigen langen Hände. Es war wieder, wie es oft war. Sie hätte
-der Schwägerin nicht weh tun wollen — um alles in der Welt nicht. Aber
-sie einmal ein wenig aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, an
-ihrem ewig gleichen, schönen Maßhalten zu rütteln: das reizte sie wie
-eine verbotene Frucht.</p>
-
-<p>„Wilhelm bleibt diesmal fürchterlich lange in Berlin.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span></p>
-
-<p>„Er muß wohl.“</p>
-
-<p>„Wenn ich an deiner Stelle wär’, Martha — ich stürbe vor Sehnsucht.“</p>
-
-<p>„Es stirbt sich nicht so leicht, du Kind.“</p>
-
-<p>Noch immer klang die Stimme gleich gelassen. Aber die Hände ruhten doch
-auf eines Atemzugs Länge am Rande der Schlüssel, und die weiße, schmale
-Stirn hatte sich noch ein wenig tiefer geneigt.</p>
-
-<p>„Du sagst das so: Wilhelm muß! Meine brüderliche Liebe hat an unserer
-Öde hier nie besonderen Gout gefunden.“</p>
-
-<p>Diesmal sah Martha voll auf. Eine leichte Röte stieg in ihr weiches
-Gesicht, flutete über den klaren Teint, der vielleicht das Schönste an
-ihr war, und ebbte gleich wieder ab.</p>
-
-<p>„Das war nicht hübsch von dir, Helene“, sagte sie dann bestimmt. „Du
-weißt es doch: die kleine Klitsche kann nicht zwei Familien ernähren,
-und Wilhelm war nicht so ... nicht so vorsichtig, sich eine reiche Frau
-zu nehmen. Da muß er eben Geld verdienen ... und hat’s gewiß dabei oft
-schwer genug.“</p>
-
-<p>„Das elende Geld!“ rief Helene. „Das herrliche, das wunderherrliche
-Geld. Ach Martha ... einmal so recht in Friedrichsdore wühlen können!
-Scheffelweise möcht’ ich’s haben. So reich sein wie die Rackower, ein
-großes, glänzendes Haus machen, reisen, die Welt sehen&#160;...“</p>
-
-<p>„Und glaubst du, daß das glücklich macht?“</p>
-
-<p>„Ja! Ja! Mich gewiß. So wie ich nun mal bin. Sieh mich nur strafend an,
-nenn’ mich nur schlecht! Ich kann mich nicht ändern. Ihr alle könnt
-mich nicht ändern!“ Heiß hatte sie’s herausgestoßen, mit halblauter,
-mühsam verhaltener Stimme. Den rostbraunen Haarschopf warf sie zurück,
-strich sich mit beiden Händen über die Schläfen. Und dann kam gleich
-der Rückschlag. Die Hände sanken in den Schoß. „Aber wir sind ja hier
-alle arm wie die Kirchenmäuse. Die ganze Sippe: die Golziner, die
-Steckschen, die Buckschen. Grad nur die Rackower machen eine<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> Ausnahme,
-weil die Tante Marquise die Millionen hat. Sonst ... es ist ein Jammer
-um den elenden märkischen Sand!“</p>
-
-<p>Martha war aufgestanden. Sie setzte die große Schüssel auf den eichenen
-Tisch. Nun siegte der Unwille doch über ihre Gelassenheit. „Du bist
-ein rechtes Kind, Helene“, sagte sie ziemlich scharf. „Schäm’ dich,
-unsere liebe Scholle zu schelten. Die ist treu, wenn sie auch karg
-sein mag. Und wir müssen Treue um Treue vergelten. Geh hinüber auf den
-Kirchhof, schau’ dir die alten Gräber an. Da liegen deine Vorfahren,
-Reihe um Reihe, seit dreihundert Jahren. Seit dreihundert Jahren hat
-das gegolten: Treue um Treue. Daß dir das die Städterin sagen muß, dir,
-Helene! Schäme dich!“</p>
-
-<p>Eine Sekunde stand Helene noch im Trotz. Dann flog sie der Schwägerin
-jäh um den Hals und küßte sie rechts und links auf die Wangen. „Du
-Gute! Du Liebe! Du Allerbeste&#160;...“</p>
-
-<p>Da trat gerade der alte Herr aus der Haustür, und als er seinen
-Spätling und die Schwiegertochter in der engen Umarmung sah, lachte er
-froh: „So hab’ ich euch gern. Das heißt“ — er legte den gekrümmten
-rechten Zeigefinger um den Nasenrücken — „das heißt ... die
-Überschwenglichkeit stammt natürlich von der Helene. Hat sie von der
-guten Mama. Die war auch so ... gleich aus dem Häuschen ... das heißt,
-damals, als wir noch jung waren. Lieber Gott ... ja ... und ist das
-heut nicht ein schöner Septemberabend?“</p>
-
-<p>Das letzte sagte er schon, sich umwendend, auf der Mitte der
-tief ausgetretenen Treppenstufen, die von der Veranda in den
-Garten hinabführten. Und ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er
-weiter hinunter, den breiten sandigen Fahrweg entlang, der, von
-sonnverbrannten kümmerlichen Rasenbeeten umsäumt, am Tore in den
-Dorfanger mündete.</p>
-
-<p>Es war die Stunde, zu der er sich seit Jahrzehnten, Sommer und Winter,
-dort am Torweg mit dem Pastor <span class="antiqua">loci</span><span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> traf. Das Wetter mußte schon
-sehr schlecht sein, wenn der alte Rittmeister und Pastor Heckstein ihr
-Rendezvous in die große Stube des Schlosses, wie das herrschaftliche
-Haus trotz aller Einfachheit von alters her genannt wurde, oder in
-das verräucherte Studierzimmer des Pfarrhauses verlegten. Wetterfeste
-Greise, die sie waren. Dem Rittmeister verschlug’s nichts, mit seinen
-fast siebzig Jahren bei strengster Kälte ein paar Kesseltreiben
-mitzumachen, und Heckstein, der nur wenige Jahre jünger war, fuhr im
-Winter regelmäßig im offenen Wägelchen ohne Pelz nach seinen beiden
-Filialdörfern, Dommelt und Rackow, stand im dünnen Talar in der
-ungeheizten Kirche auf der Kanzel und lachte nachher vor der Kirchtür
-seinen anderen Freund und Patron Ernst Hackentin aus, wenn der
-schimpfend die gewaltige Kugel seines Korpus in kostbaren Zobelpelz aus
-dem gutsherrlichen Gestühl herausrollte.</p>
-
-<p>Auch heut kam er pünktlich des Wegs vom Pfarrhause her, der kleine
-hagere Mann im schwarzen Düffelrock mit dem schwarzen breitkrämpigen
-weichen Filzhut über dem scharfkantigen bartlosen Gesicht, aus dessen
-brauner Lederhaut die großen Augen hell und gutmütig, aber auch eigen
-lustig und listig herausleuchteten. Er stapfte mit gemächlichen
-Schritten, hob hier seinen dicken Knotenstock drollig drohend gegen den
-halbwüchsigen Christian Metzger, der in der letzten Konfirmandenstunde
-gedöst haben mochte und nun schleunigst Reißaus nahm; blieb dort
-stehen, um einer Gänseherde, die in wohlgeordneter Marschordnung
-über den Anger zog, wohlgefällig nachzuschauen, und fragte die
-Frau Kantorin, die am Zaun stand, wie ihre berühmten Gravensteiner
-heuer zu geraten versprächen. Da gerade die hübsche Anna Flehr, die
-Kantorstochter, am selbigen Zaun Maulaffen feilhielt, so kniff er ihr
-im Vorübergehen fest in die runde, rosige Backe. Für ein hübsches
-Menschenkind hatte er das gleiche Verständnis wie für einen guten
-Apfel, wobei ihm aber ein frisches Mädel lieber war als ein Bube und
-ein duftender Gravensteiner lieber als eine schrumpliche Reinette.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p>
-
-<p>Vor ihm her trottelte Waldmann, rastete, machte einen Bogen, lief
-wieder ein Stückchen voraus, kam zurück, schlenkerte mit dem langen
-Behang — kurz, benahm sich höchst willkürlich. Ganz im Gegensatz zur
-Diana, die haarscharf hinter dem linken Fuß ihres gestrengen Herrn
-blieb, mit der feinen Nase dicht an dessen grauem Beinkleid. Und die
-grundsätzlich nie von dem pastoralen Dackel Notiz nahm.</p>
-
-<p>Schon von weitem grüßten sich die beiden alten Herren. Der Rittmeister
-hob militärisch zwei Finger an sein Käppchen; der Pastor berührte
-flüchtig die Hutkrempe.</p>
-
-<p>„N’Abend, Hackentin. Wie geht’s? Wie steht’s?“</p>
-
-<p>„N’Abend, Pastor. Alles gut zu Wege bei dir?“</p>
-
-<p>Sie nannten sich seit achtunddreißig Jahren du; seit Heckstein den
-Wilhelm getauft hatte. Mit dem stand er nun auch schon zwölf Jahre
-auf du und du, seit dem Tauftage seines Ältesten. Und dem hatte
-Heckstein neulich mit einem freundschaftlichen Jagdhieb eröffnet: „Na,
-Junker Hans, wenn ich deinen Erstgeborenen taufe, machen wir beide
-Brüderschaft. Sput’ dich nur ’n bissel, daß ich nicht zu lange warten
-brauch’.“</p>
-
-<p>Ein paar Augenblicke blieben die alten Freunde zwischen den Pfosten
-des Torwegs stehen, zwei vierkantig behauenen, schwarzgeteerten
-Eichenstämmen, jeder mit einer Vollkugel gekrönt, die gelegentlich auf
-der Feldmark gefunden worden waren; Kantor Flehr, der ein Bücherwurm
-war, hatte damals eine gelehrte Untersuchung angestellt, nach der sie
-russischer Providenz sein sollten und aus den Julitagen 1759 stammten,
-in denen General Wedel sich vor Soltykow über die Oder zurückziehen
-mußte.</p>
-
-<p>Der Pastor sah auf die frische Radspur. „Die Rackower waren hier. Wie
-waren sie denn, Hackentin?“</p>
-
-<p>„Ernst ist noch ’n bissel dicker geworden, denk’ ich. Das heißt
-— wenn’s möglich ist. Mariechen war herablassend wie immer, ganz
-Marquise, hatte ein Monstrum von Krinoline an, ein Kleid mit verrückt
-vielen Volants und dazu einen neuen Sonnenschirm, blaue Seide mit
-Spitzen, der wohl wieder die Weiber auf zehn Meilen im Umkreis<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span>
-verdreht machen wird. Das heißt — sie nannte das Ding natürlich nicht
-Schirm, sondern <span class="antiqua">ombrelle</span>. Auf der Rechnung nimmt sich das
-übrigens tout-egal aus, und bezahlt wird die doch sobald nicht.“</p>
-
-<p>Sie zwinkerten sich, verständnisvoll lächelnd, mit den Augen zu
-und bogen in die Allee von hochstämmigen Kastanien ein, die sich
-längs des Gartenzauns hinzog. Langsam, behaglich schritten sie
-nebeneinander her; Diana immer mit der Nasenspitze am linken Bein des
-Rittmeisters, Waldmann bald voraus, bald zurück, bald stehen bleibend
-und die schlanke Engländerin mit klugen Augen, halb neidisch, halb
-mißachtungsvoll anschauend.</p>
-
-<p>„Ja, und Ernst hat eine neue Delikatesse erfunden. <span class="antiqua">Crêpes à la
-Suzette</span>, glaub’ ich, nennt er das Deubelszeug. Das heißt — es sind
-Eierkuchen mit irgend ’ner Soße aus Likören, wenn ich recht verstanden
-hab’. Du kannst dir ja das Rezept von ihm geben lassen. Die Pastorin
-wird sich schon darauf verstehen.“</p>
-
-<p>„Nee, Hackentin. Ich bleibe bei Speckeierkuchen. Wenn’s dazu langt,
-will ich schon froh sein. Denn was so unsere Bauern sind — du kennst
-sie ja — wenn die uns die Eier abliefern, wundert sich meine Guste
-immer, daß Hühner überhaupt so kleine Eier legen können. Was hat Ernst
-denn sonst noch erzählt?“</p>
-
-<p>Der alte Rittmeister schnellte mit dem Fuß ein Steinchen zur Seite.
-„Sie sind auf der Durchreise von Ems ein paar Tage in Berlin gewesen,
-haben auch Wilhelm gesprochen, der wieder mal große Rosinen im Kopf
-haben soll. Das heißt — von wegen der Eisenbahnkonzession — du
-weißt ja. Die Rosinen kenne ich nachgerade, aber den Kuchen, in dem
-sie gebacken werden sollen, den werd’ ich wohl nicht erleben. Na, ich
-will mich nicht ärgern. Was Ernst sonst erzählte? Politik, Politik und
-nochmal Politik. Unser herrlicher Landtag — daß ihn der Deibel hole —
-treibt sein Spielchen weiter, Hohenlohe macht Bücklinge, und Majestät
-können zusehen, ob schließlich ’n paar Kröten von der Kammer bewilligt
-werden. Das heißt — wahrscheinlich<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> nicht mal das. Schlechte Zeiten,
-Heckstein ... hundsmiserable Zeiten. Ein altes Preußenherz möcht’ sich
-am liebsten umdrehen bei dem Skandal.“</p>
-
-<p>Oft zitierte der Pastor nicht Bibelworte. Die sparte er sich für
-den Sonntag auf. Aber manchmal glitt ihm doch eins über die Lippen.
-„Hoffnung läßt nicht zuschanden werden“, meinte er.</p>
-
-<p>„Jawohl, Heckstein, ich weiß. Steht Römer fünf. Aber im Hiob steht
-auch: der Menschen Hoffnung ist verloren. Siehst du ... so steht’s
-um meine Hoffnung. Das heißt — um die Armee geht’s, und wenn unser
-Allergnädigster Herr nur wollte! Bloß dem Wrangel ’nen Wink geben, und
-der fegte wie Anno achtundvierzig den ganzen liberalen Schwindel zum
-Tempel raus. Gegen Demokraten helfen nur Soldaten. So aber frißt das
-Geschwür weiter ... bis in unsere eigenen Familien hinein!“</p>
-
-<p>Das war ein Punkt, auf den der Pastor das Gespräch nur ungern
-lossteuern sah. Denn das ging auf Fritz Hackentin, des Rittmeisters
-Zweiten, der erst Leutnant bei den Franzern gewesen war, dann zur
-Themis geschworen hatte und nun als Kreisrichter in Stellberg saß. Ein
-guter Junge, aber ein unruhiger Kopf. Etwas unruhiges Blut hatten die
-Rohlbecker Hackentine ja alle. Das kam von den Gruckers herüber, in
-denen nun mal der romantische Zug lag. Wenn man so daran dachte: als
-die alte Gnädige jung gewesen war, als sie noch vierelang fuhr und
-selber kutschierte&#160;—</p>
-
-<p>Aber auf den Fritz durfte Hackentin nicht zu sprechen kommen. Das wurde
-sonst ungemütlich, und dazu war der Abend zu schön.</p>
-
-<p>Zum Glück waren sie gerade unter der letzten Kastanie angelangt. Drüben
-stand der Kantor in seiner Haustür, der lange Labammel, dürr wie die
-endlose Pfeife, aus der er qualmte. Kaum, daß er sie aus den Zähnen
-zog, um seinen Gruß anzubringen.</p>
-
-<p>„Na, Flehr, was macht der Bakel?“ rief Hackentin über die beiden Zäune
-hinüber.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span></p>
-
-<p>„Danke, Herr Rittmeister. Wie das Sprichwort sagt: Wer den Stock
-fürchtet, kann nur mit dem Stock regiert werden. Man braucht ihn eben.“</p>
-
-<p>„Ja, Kantor, vielleicht waren’s bessere Zeiten, als man ihn mehr
-brauchte. Das heißt — nicht bloß in der Schulstube.“</p>
-
-<p>„Ich weiß nicht, Herr Rittmeister, ob das bessere Zeiten waren.“</p>
-
-<p>„Vielleicht erfahren Sie’s noch.“ Hackentin wandte sich. Halblaut,
-etwas unwirsch meinte er zu seinem alten Freunde: „Der ist auch schon
-angesteckt, liest mit dem Grunowschen Müller zusammen die ‚Tribüne‘. Du
-solltest ihm mal feste den Daumen aufs Auge drücken, Heckstein&#160;—“</p>
-
-<p>„Er ist nicht der Schlechteste. Seine Bengels hält er stramm in
-Ordnung, mit und ohne Rohrstöckchen, je nachdem. Sie lernen bei ihm
-gerade richtig: nicht zu viel und nicht zu wenig. Und solchen Chor in
-der Kirche, wie er ihn zurechtgebracht hat, wirst du im ganzen Kreise
-vergeblich suchen. Von der Musika versteht er was. ‚Meine Hochachtung‘,
-würde dein Schwager Grucker sagen. Na, und was die politische Gesinnung
-anbetrifft, ... du kennst ja meine Ansicht: das kommt und geht. Wenn
-wir ein paar Jährchen weiter sind mit Gottes Hilfe, lachen wir beide
-wohl über die Aufregung von heute. Denn, weißt du, im Grunde ist alles,
-was brandenburgisch ist, doch loyal bis auf die Knochen.“</p>
-
-<p>Der Alte grollte: „Das haben wir achtundvierzig gesehn&#160;...“</p>
-
-<p>„Ach was! Was war denn da außer Berlin los? Berlin aber ist gar
-nicht brandenburgisch, wenn’s auch zufällig mitten in unserer lieben
-Sandstreubüchse liegt. Berlin ist Berlin. Da muß immer gestänkert
-werden. Aber sonst? Der Flehr da ist typisch. Mal gelegentlich ’n
-bissel das Maul vollnehmen, mal recht klug schnacken, mal sich recht
-gebildet fühlen und mal recht schön liberal wählen, wenn’s hoch kommt.
-Mehr aber nicht.“</p>
-
-<p>„Ist gerade genug. Order muß pariert werden.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span></p>
-
-<p>„Wird auch ... Da kommt ja die Lene. He, Leneken, wohin denn so eilig?“</p>
-
-<p>Mit ihren schnellen Schritten kam sie vom Schlosse her. Einen Hut
-hatte sie nicht aufgesetzt; in der leisen Dämmerung, die schon
-anhob, spielten ihre Haarwellen ins Goldig-Rote. Ein Tuch hatte sie
-umgenommen; fest lag das dünne Gewebe um die Schultern, umspannte knapp
-die jugendliche Büste und war hinten in der Taille zusammengeknotet.</p>
-
-<p>„Ich will der Post auflauern, Onkel Pastor.“</p>
-
-<p>„Denkst wohl, der Schwager Postillion bringt dir’n Schatz mit, Lene?“</p>
-
-<p>„Der könnte mir grad’ fehlen, Onkel Pastor. Willst du — Waldmann, du
-Frechdachs! Sieh dir mal Diana an, wie die artig ist.“</p>
-
-<p>„Im Pfarrhaus gibt’s frischen Pflaumenkuchen, Leneken.“</p>
-
-<p>„Ich hasch’ mir beim Zurückkommen ein Stück.“</p>
-
-<p>Sie nickte dem Vater zu, sie winkte von weitem zum Kantor hinüber und
-huschte weiter, durch das Tor, den Anger entlang.</p>
-
-<p>Die beiden Alten sahen ihr wohlgefällig nach. Es war immer, als
-schwebte sie über dem Boden. Ganz eigen zierlich setzte sie unter
-dem weitbauschigen Rock, der grad nur die modische Krinolinenform
-andeutete, die Füßchen. Schuster Freyer in Logow war sonst kein Held in
-seinem Fach, aber für das gnädige Fräulein auf Rohlbeck tat er immer
-sein Bestes.</p>
-
-<p>„Ein Mordsmädel, deine Lene!“ meinte der Pastor schmunzelnd.</p>
-
-<p>Der Rittmeister nickte. „Ein gutes Kind. Das heißt — es ist noch
-junger Most. Das gärt und gärt und will manchmal überschäumen. Man muß
-die Lene ein bißchen straff im Zügel halten.“</p>
-
-<p>Heckstein lächelte verstohlen. Er wußte am besten, daß die Kinder im
-Schloß nie recht im Zügel gehalten worden waren. Nicht gleichmäßig
-wenigstens. Mal hatten die Zügel am Boden geschleift, mal waren sie
-wieder gewaltsam angezogen worden; und wenn Hackentin am rechten<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span>
-Zügelende zog, zerrte die alte Gnädige vielleicht gerade am linken.
-Aber das tat am Ende nicht viel. Es war ein guter Kern in den Kindern.</p>
-
-<p>Wie er das überdachte, während sie langsam wieder unter dem grünen
-Dach der Kastanien hinschlenderten, fiel ihm ein, daß die Gelegenheit
-vielleicht günstig wäre, für den Kantor noch ein gutes Wort einzulegen.</p>
-
-<p>„Sieh mal, Hackentin,“ begann er aufs neue, „da hast du eben auf den
-Flehr geschimpft. Hast aber ganz vergessen, was der Mann sich für eine
-Mühe mit der Lene gegeben hat und noch gibt. Ich meine von wegen ihres
-Gesanges.“</p>
-
-<p>„Wird ihm doch auch bezahlt.“</p>
-
-<p>„Na hör’ mal: die paar Dittchen für die Stunde! Du kannst froh sein,
-daß wir solch einen musikalischen Kantor hier haben, der dafür sorgt,
-daß Lenes schöne Stimme nicht verkommt. Aber neulich hat er mir selber
-gestanden, daß er am Rande seiner Kunst ist.“</p>
-
-<p>„Jawohl — jawohl — ich weiß schon. Das heißt — daß Lene in die Stadt
-müsse, einen anderen, besseren Lehrer bekommen. Die Litanei hat er mir
-auch schon vorgebetet. Unsinn, Pastor. Dazu langt’s nicht mehr. Und ich
-will auch nicht. Will nicht, daß der Lene alle möglichen Fladusen in
-den Kopf gesetzt werden. Damit darfst du mir nicht kommen&#160;...“</p>
-
-<p>Der Rittmeister rückte sein Käppchen plötzlich ganz weit nach rückwärts
-auf die weißen lockigen Nackenhaare, wandte sich kurz um, und da Diana
-der Kehrtwendung nicht schnell genug folgte, vielmehr mit fragendem
-Blick aufsah, kriegte sie einen sanften Hieb&#160;—</p>
-
-<p>„Und im übrigen ist der Kantor doch ein Demokrat.“</p>
-
-<p>Helene war indessen den Dorfanger entlang gegangen, hatte ein paar
-Worte mit der Frau Kantorin gewechselt, die immer aussah wie ein
-scheues, in der Gefangenschaft gehaltenes Reh, wenn jemand vom
-Schloß sie ansprach, und die um so scheuer und demütiger wurde, je
-freundlicher die<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> Worte waren, die man an sie richtete. Dann hatte
-Lene bei Meister Winkel, dem lobesamen Schneider des Dorfes und dessen
-Krämer, eine Bestellung der Schwägerin ausgerichtet, die sich auf
-ein Paar Hosen ihres Neffen Hans bezog, und dann war sie am Kirchhof
-ein paar Augenblicke stehengeblieben. Da lag, seitlich der kleinen
-Backsteinkirche, die noch immer des richtigen Geläuts entbehrte,
-weil weder Patron noch Gemeinde die Mittel aufbrachten, das alte
-Erbbegräbnis. Es mochte noch in besseren Zeiten gebaut sein, vor
-hundert oder hundertfünfzig Jahren vielleicht: die eisenbeschlagene Tür
-war sogar von ein paar Säulen eingerahmt, wirklichen Sandsteinsäulen,
-mit einem Giebelchen darüber, in dem das Hackentinsche Wappen mit den
-drei Hecken als Sandsteinrelief eingelassen war. Aber der Zahn der
-Zeit hatte den Bau angefressen. Die Säulen waren zermürbt, das Wappen
-war kaum noch erkennbar, das Ziegeldach schadhaft — gut, daß der
-dicht wuchernde Efeu das Schlimmste zudeckte. Das Erbbegräbnis hatte
-auch schon lange nicht mehr zugereicht; links und rechts daneben lagen
-Hackentinsche Gräber. Schlichte Gräber, die sich wenig von denen der
-wohlhabenden Bauern unterschieden. Höchstens, daß sie ein wenig mehr
-gepflegt waren, und auch das nur, weil die junge Gnädige eine besondere
-Vorliebe für den Kirchhof hatte.</p>
-
-<p>Ein paar Minuten stand Helene am Zaun. Ihr lagen Marthas Worte im Sinn
-von der Treue um Treue. Die hatten sie vorhin gepackt und klangen noch
-in ihr nach. Aber wie sie so auf die Gräber sah, über denen sich zwei
-große Maulbeerbäume mit weitgespannten Ästen breiteten, die noch auf
-des großen Friedrichs Befehl gepflanzt worden waren, fing sie plötzlich
-an zu frösteln.</p>
-
-<p>Neulich in Rackow hatte sie in einem Bande Gedichte geblättert.
-Eigentlich nur, weil Tante Marie so viel Wesens von dem großen
-Franzosen Victor Hugo machte. Jetzt fiel ihr mit einem Male ein Satz
-daraus ein: „<span class="antiqua">Gloire, jeunesse, orgueil, biens que la tombe
-emporte ...</span>“</p>
-
-<p>Ruhm und Jugend und Stolz&#160;—</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span></p>
-
-<p>Nein! Nein! Für sie hatten die Gräber nichts Erhebendes! Sie konnte
-sich nur vor ihnen fürchten. Wie Moderluft wehte es aus ihnen. Ein
-Schauer überrann sie. Und sie zog das dünne Tuch fester um die
-Schultern und eilte rasch weiter, am Krug vorüber und an der Schmiede,
-der neuen Chaussee zu, die dicht am Dorfausgang die schmale Wintze
-überbrückte.</p>
-
-<p>Da stand schon der Doktor Hemming mit den beiden Junkern. Oder vielmehr
-er stand, seitlich der Brücke, an eine dicke Weide gelehnt und himmelte
-über das Stoppelfeld zum Horizont hinüber. Die Jungens aber saßen
-auf der Steinbrüstung der Brücke; der langaufgeschossene Hans schien
-es seinem Hauslehrer nachmachen zu wollen, er starrte träumend mit
-gesenktem Kopf auf das rinnende Wasser, während Thede — Theodor —
-irgendeine Bohnenstange aufgegabelt hatte, die dreimal so lang war wie
-der Knirps, und mit ihr ebenso kräftig wie zwecklos in den zerwühlten
-Uferrändern umherstakte. Vielleicht dachte er in seiner wallenden
-Phantasie, auf diese bequeme Art ein paar der berühmten Wintze-Krebse
-zu fangen und Mutter in die Küche liefern zu können.</p>
-
-<p>Alle drei achteten nicht auf die Nahende. Und Helene war das ganz
-recht. Denn der Hauslehrer mit seinen wasserblauen Schmachtaugen
-langweilte sie immer; außerdem konnte sie ihn nicht leiden, weil er
-immer ja sagte, auch wenn ihm der Widerspruch auf der sommersprossigen
-Stirn geschrieben stand. Und die Jungens — die Jungens waren eben
-dumme Gören mit hundert unnützen Fragen, dazu mit unfehlbar schmutzigen
-Pfoten, die überall hinklatschten, wo sie nichts zu suchen hatten.</p>
-
-<p>Aber das war es nicht allein. Die Equipage, die vor dem Kruge hielt und
-augenscheinlich auch auf die Post wartete, beschäftigte ihre Gedanken.
-Sie hatte die Rackower Schimmel sofort erkannt und den dicken Jochen,
-den zweiten Herrschaftskutscher. Es war überhaupt zweite Garnitur,
-Wagen, Pferde und Kutscher. Wen ließen die Rackower nur abholen? Sie
-hatten ja nichts davon erzählt, daß sie<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> einen Gast erwarteten. Aber
-sie hatten freilich fast immer Gäste im Haus. Ob es jemand von den
-Leibern aus Frankfurt a.&#160;O. war? Einer von den jagdlustigen Herren
-vom Leibregiment, der noch ein paar Rebhühner knallen wollte? Oder
-ein Ulan aus Züllichau? Oder kam nur Onkel Artenau aus Stellberg, um
-der Marquise seine neueste Pracht- und Prunkstickerei vorzuführen?
-Pfui Spinne ... solch ein Mann, der sich Königlich Preußischer Major
-schimpfen ließ, und den halben Tag am Stickrahmen saß wie eine alte
-Jungfer.</p>
-
-<p>Mit einem Male hatte Junker Thede doch die Tante erspäht. Er schmiß
-die Bohnenstange ins Wasser, daß es hoch aufspritzte, schwang seine
-kurzen Beinchen mit einem Wuppdich über die Brüstung, stieß ein
-Indianergeheul aus, kam im Galopp angejagt und — richtig — da wollten
-auch schon seine Pfoten mit den Farbenklexen von Tinte, Flußmoder und
-Tuschkastenresten an ihren Rock aus geblümter Indienne. „Tante Lene,
-Tante Lene, weißt du schon das Allerneueste?“</p>
-
-<p>„Finger weg, Thede! Himmel, wie der Junge wieder aussieht!?“ Und da
-gerade Doktor Hemming sich umschaute, den Strohhut, den er immer bis
-in den November hinein trug, lüftete und anstatt auf den harmlosen
-Horizont zu ihr himmelte, mochte der auch gleich sein Teil abbekommen.
-„Nein, wie Sie den Bengel mit solchen Händen herumlaufen lassen
-können?! Unsere Ferkelchen sind ja reinlicher als er.“ Und dann kam
-doch die Neugier ihrer jungen Jahre: „Das Allerneueste? Na, das wird
-wieder mal was Feines sein?“</p>
-
-<p>„Ein Russe kommt nach Rackow. Ein wirklicher, leibhaftiger Russe.“</p>
-
-<p>„Woher hast du denn dein großes Wissen, Thede?“</p>
-
-<p>„Na ... von dem Rackower Jochen ... natürlich.“</p>
-
-<p>Inzwischen hatte auch der Hans sich von der Brückenmauer herabbequemt.
-Im Vollgefühl seiner höheren Weisheit höhnte er: „Ja — und Thede
-stellt sich den Russen mit<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> einer Bärenfellmütze und einem <em class="gesperrt">so</em>
-langen Bart vor. So wie er in der Fibel abgemalt ist.“</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Der Russe lebt in Eis und Schnee,</div>
- <div class="verse indent0">Säuft vielen Schnaps und noch mehr Tee,“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>gab der Hauslehrer einen Fibelvers eigener Erfindung zum besten
-und wartete, ob sein Witzchen nicht ein Lächeln auf dem schönen
-Mädchengesicht heraufzaubern würde.</p>
-
-<p>Aber er wartete vergeblich. „Ach Unsinn —“ meinte Helene nur und
-schlenderte langsam über die Brücke auf die Chaussee. Ach Unsinn —
-sagte sie, und doch beschäftigte sie der Russe gewaltig. Ein Russe, ein
-leibhaftiger Moskowiter! Wo den die Rackower nur aufgegabelt hatten?
-Und warum die heut nachmittag nichts von ihm erzählt hatten? Gewiß,
-weil er wieder einmal eine Überraschung für den ganzen Kreis sein
-sollte. Sicher irgendein Großfürst oder einer der millionenschweren
-Bojaren. Oder mindestens ein Diplomat. Aber dann hätten sie doch nicht
-die zweite Garnitur, Pferde, Wagen und Jochen, zum Abholen geschickt&#160;...</p>
-
-<p>Da kam sie aber wirklich, die Post.</p>
-
-<p>Auf dem Stellberger Berge, wo sich die Chaussee in den Wald verlor,
-wirbelte eine kleine Staubwolke auf, wälzte sich näher und näher den
-Hang hinunter. Bald wurden dahinter, in kleinen Abständen, noch zwei
-Wölkchen sichtbar — die Beichaisen. Der Verkehr von Frankfurt a.&#160;O.
-nach Posen mußte lebhaft sein, jetzt im Frühherbst.</p>
-
-<p>Nun unterschied man schon Wagen und Pferde. Und als die Hauptpost
-draußen an der Schneidemühle vorüberrollte, setzte der Postillion sein
-Horn an die Lippen. Es klang deutlich, getragen und langsam, herüber:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt’ ich auf mein Grab,</div>
- <div class="verse indent0">Da kam ein stolzer Reiter und brach sie ab ...“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Der Hauslehrer stand wieder neben Helene. Er fühlte das
-unwiderstehliche Bedürfnis, geistreich und sinnig zu sein: „Wie lange
-noch, und wir hören den guten Schwager zum letzten Male. Wenn der Herr
-Baron erst die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen bauen wird, verödet
-die Chaussee,<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> und dann heißt es auch für Rohlbeck, was der Dichter
-Scherenberg klagt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Mit Totenschnelle geht es fort,</div>
- <div class="verse indent0">Kein Schwager knallt hinein,</div>
- <div class="verse indent0">Kein Wegesgruß, kein schelmisch Wort,</div>
- <div class="verse indent0">Kein Posthorn weckt den müden Ort</div>
- <div class="verse indent0">Und klingt zum Träumen ein.</div>
- <div class="verse indent0">O Eisenbahn, was bist du kommen,</div>
- <div class="verse indent0">Hast unser Posthorn uns genommen!“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Ich denke, Sie wollen ein Mann des Fortschritts sein, Herr Doktor?“
-warf Helene schnippisch ein.</p>
-
-<p>„Am rechten Ort, gnädiges Fräulein. Immer am rechten Ort. Aber die
-Poesie darf darüber nicht verkümmern. Hören Sie doch nur: ‚Ach
-Reitersmann, ach Reitersmann, laß doch die Lilien stehn. Sie soll ja
-mein fein’s Liebchen noch einmal sehn ...‘ Ist das nicht schön? ...
-‚Dann begraben mich die Leute ums Morgen ... rot ...‘“</p>
-
-<p>„Schade nur, Herr Doktor, daß der Postillion so schauderhaft falsch
-bläst —“ meinte sie spitz und ärgerte sich, daß sie es sagte. Denn
-eigentlich hatte der Postillion gar nicht falsch geblasen, und sie
-selber lauschte solchem Volkslied über alle Welt gern. Und sie
-dachte daran, wie sie bisweilen in dem stillen Abendfrieden ins Feld
-hinausgewandert war, ganz allein, sich auf einen Grenzstein gesetzt
-hatte, den Kopf in beide Hände vergraben, um dem Klang des Posthorns zu
-lauschen, der ihr immer wie ein Gruß aus weiter, weiter Welt erschien.</p>
-
-<p>Doch da hielt schon die Hauptpost dicht an der Brücke.</p>
-
-<p>Die beiden Junker stürmten mit Geheul voran; teils, um die lederne
-Posttasche aufzufangen, die der Schwager im kunstvollen Bogen vom
-hohen Bock herabschleuderte; teils, um den erwarteten „Moskowiter“ mit
-eigenen Augen zu schauen.</p>
-
-<p>Recht enttäuscht waren sie. Denn der Herr, der ausstieg, hatte gar
-nichts Besonderes an sich. In ihren Augen zumal.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p>
-
-<p>Es war ein schlanker, junger Mann in grauem Reiseanzug, der lange
-Rock eng in der Taille, die Pantalons sehr weit. Das brünette Gesicht
-bildhübsch, etwas scharf und ganz glatt rasiert. Auf dem braunen Haar
-trug er einen gewaltigen Kalabreser, und um seinen hohen Kragen war
-kunstvoll eine bunte Krawatte geschlungen, in der ein großer Brillant
-funkelte.</p>
-
-<p>Als er ausgestiegen war und die kleine Gruppe — Helene, Doktor Hemming
-und die beiden Junker — sah, stutzte er und zog den Hut. Aber Helene
-fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß, ärgerte sich wieder und
-machte kehrt. So mochte der Fremde merken, daß die junge Dame ihn
-nicht erwartete. Und da kam auch schon Jochen, meldete sich, wies auf
-seinen Wagen und half den Koffer aus dem hinteren Verschlag der Post
-herausheben. Es mußte sehr schnell gehen, denn der Kutscher der ersten
-Beichaise drängte und drohte weiterzufahren.</p>
-
-<p>„Habt ihr die Posttasche?“ fragte Hemming. „Nun denn — marsch!
-Großvater wartet.“ Und er ging den Jungens, die um ihr Leben gern sich
-den Koffer des Fremden noch näher angesehen hätten, voraus, um Helene
-einzuholen. Aber sie hatte sich beeilt, und er wollte nicht auffällig
-hasten. So kam er erst dicht vor dem herrschaftlichen Tor wieder an
-ihre Seite, und im gleichen Augenblick überholte sie auch die Rackower
-Equipage. Der „Russe“ saß weit zurückgelehnt, in etwas theatralischer
-Pose, die Beine vorgestreckt, im Fond und lüftete noch einmal mit einer
-gewissen Grandezza seinen Heckerhut.</p>
-
-<p>Der Doktor grüßte zurück, während Helene den Nacken straffte. Sie sagte
-sogar: „Warum grüßen Sie denn?“</p>
-
-<p>„Aber ... der Herr ist doch Gast der Rackower Herrschaften. Ich kann
-doch nicht unhöflich sein.“</p>
-
-<p>„Ich weiß nicht, wie der Mann dazu kommt, mich zu grüßen. Er ist mir
-doch nicht vorgestellt.“</p>
-
-<p>Sie fühlte selbst, daß sie ungerecht und unlogisch war. Man nahm es
-sonst auf dem Lande nicht so genau. Es war aber etwas wie das Gefühl
-in ihr: du mußt dich<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> wehren! Ohne daß sie recht wußte, weshalb und
-wogegen. Sie war jäh aus dem Gleichgewicht geworfen. Am liebsten hätte
-sie sich mit Herrn Hemming gezankt, nur um eine Ablenkung zu finden.
-Sie spitzte schon das Mäulchen, um ihm irgendeine Sottise zu sagen.
-Doch dann besann sie sich: es lohnte nicht. Es blieb immer einseitig,
-das Streiten mit diesem weichen Menschen, diesem Ja- und Amensager,
-dieser Qualle, die auswich, sobald man fest zugriff.</p>
-
-<p>So faßte sie lieber die Jungens, die herangekommen waren, an den
-Achseln, Hans rechts, Thede links, und jagte mit ihnen den Weg entlang,
-daß die Posttasche am langen Lederriemen sich wie eine Sturmfahne um
-ihre Köpfe schwang. Jagte die Verandatreppe hinauf, durch den dunklen
-Flur in die große Stube, warf die Tasche auf den Tisch: „Da habt ihr
-sie&#160;—“</p>
-
-<p>Mutter saß noch immer an ihrem Traumfenster, schrak aber auf: „Kind,
-Helene, wie kann man so laut sein. So laut und so wild.“ Vater stand am
-Ofen, kramte in der Tasche nach dem Brillenfutteral: „Steck’ die Lampe
-an, Lene.“</p>
-
-<p>Wie alle Abend, wenn die Dämmerung heranschlich. Und wie alle Abend
-stand nun schon die große, hohe Moderateurlampe mitten auf dem
-Tisch, auf dem runden, abgeschabten Fleck der braunen Plüschdecke.
-Wie alle Abend pumpte Helene das Öl auf, horchte auf das leise
-„Gluck-Gluck-Gluck“, nahm Glocke und Zylinder ab, strich mit ihren
-hastenden Händen ein Vierteldutzend Schwefelhölzer vergeblich auf dem
-scharfgeritzten Deckel des Porzellanbehälters an, bis endlich eins
-zündete.</p>
-
-<p>Mit einem Male war plötzlich in ihr alle Aufregung erloschen.
-Gluck-Gluck-Gluck machte das Öl in der Lampe, und ihr klang’s wie: alle
-Abend — alle Abend — alle Abend&#160;...</p>
-
-<p>Nun leuchtete die Lampe auf, warf ihren milden Lichtkreis gerade über
-den runden Tisch, indes das übrige Zimmer in der Dämmerung blieb. Vater
-holte vom<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> Schreibtisch den kleinen Schlüssel, schloß die Posttasche
-auf, wie alle Abend. Und wie alle Abend sammelte sich um den Tisch für
-das große Ereignis das ganze Haus. Mutter kam von ihrem Traumplatz,
-Martha kam; der Hauslehrer war plötzlich da, und die Jungens boxten und
-knufften sich schweigend am Ofen. Wie alle Abend. Vater faßte tief in
-die Tasche hinein, legte den kleinen Pack Briefe und Zeitungen sorgsam
-vor sich hin, setzte umständlich die Brille auf und begann zu sortieren.</p>
-
-<p>„Da, Herr Doktor —“ Das war auch derselbe Ton und dieselbe Bewegung
-an jedem Abend, ein widerwilliger Ton und ein verächtliches Schnippsen
-der Finger, die dem Hauslehrer seine Zeitung hinüberschnellten. Die
-Volkszeitung! Jeden Abend aufs neue empörte sich der alte Herr darüber,
-daß in seinem Hause dies verfl— Demokratenblatt gehalten werden durfte.</p>
-
-<p>„Da, liebe Martha ... von Wilhelm&#160;...“</p>
-
-<p>Ein paar Briefe, die schon äußerlich einen geschäftlichen Charakter
-zeigten, den blauen Firmenstempel etwa von Moses Conitzer in Stellberg,
-schob er zur Seite. Dann endlich setzte er sich und faltete fast
-feierlich die Kreuzzeitung auseinander. Und regelmäßig sagte dabei
-Mutter aus ihrem hochlehnigen Ohrenstuhl heraus: „Hackentin, mir die
-Familiennachrichten.“</p>
-
-<p>Eigentlich gab er nur sehr ungern ein Stück Zeitung ab, ehe er sie
-selber, langsam und gewissenhaft, von Anfang bis zu Ende studiert
-hatte. Wenn sie keine Beilage brachte, knurrte er wohl auch ein
-langgezogenes ‚Neee ... nachher ...‘ oder er lachte: ‚Erfährst schon
-noch früh genug, wer wieder mal in die Mariage geraten ist oder wer’n
-Kind gekriegt hat.‘ Heut gab es eine Beilage: „Da ... Elisabeth&#160;...“</p>
-
-<p>Und dann wurde es still im Bannkreis der Lampe, an der Runde des großen
-Tisches.</p>
-
-<p>Der Rittmeister und Hemming entfalteten ihre Zeitungen; Martha las,
-Zeile für Zeile, den Brief ihres Mannes; die alte Gnädige vertiefte
-sich in die Familiennachrichten; die<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> beiden Jungens wußten, daß sie
-das Maul und die streitbaren Hände stille zu halten hatten, holten ihre
-Lieblingsschmöker, Hans einen Band der Beckerschen Weltgeschichte,
-Thede sein „Gumal und Lina“, und steckten die Nasen hinein.</p>
-
-<p>Ganz stille war’s, bis auf das Knistern des Papiers.</p>
-
-<p>Der Stuhl zwischen Martha und Mutter blieb leer — Helenens Stuhl. Sie
-stickte sonst um diese Stunde oder häkelte Frivolitäten. Heut mochte
-sie’s nicht. Auf leisen Sohlen schlich sie ins dunkle Nebenzimmer,
-setzte sich an den geöffneten Flügel und träumte vor sich hin.</p>
-
-<p>Manchmal glitt ihre Linke über die Klaviatur, ohne daß sie eine Taste
-niederdrückte ... manchmal zitterte wohl auch ein ganz leiser Klang aus
-den Saiten, ein Hauch nur.</p>
-
-<p>Von links her kam dann und wann ein gedämpftes Tellerklirren. Auguste
-deckte im Saal den Abendtisch. Und mitten in ihre Träumerei hinein
-dachte Helene: ‚Was es wohl geben wird? Speckbratkartoffeln natürlich
-und saure Milch ...‘</p>
-
-<p>Langsam kroch drüben über den Wiesen der Mond hinauf. Jetzt legte sich
-ein Streif blauweißes Licht über das Fensterbrett, nun zog er schon bis
-zum Flügelende hin.</p>
-
-<p>Einmal sagte Mutter: „Da zeigt Graf Schulenburg von den Alexandern
-seine Verlobung an ... mit der Witwe seines Bruders ... Meta, geborene
-Freiin von Eckardstein. Er lag mal ein Manöver hier. Eckardstein ...
-Eckardstein? Das ist ganz junger Adel ... nicht wahr, Karl?“</p>
-
-<p>„Natürlich, Elisabeth ... das heißt, vom Alten Fritz her, glaub ich,
-oder so ... Aber nun laßt mich zufrieden mit Hinz und Kunz. Da soll man
-noch Sinn dafür haben ... schlechte Zeiten ... Schandzeiten&#160;...“</p>
-
-<p>‚Was er wohl antworten wird?‘ dachte Helene. ‚Ja bei den Zeiten. Was,
-Herr Doktor, bewegte Zeiten ... sagen ... selbstverständlich. Die
-Qualle hat grad noch den Mut, sich ihre liberale Zeitung zu halten.
-Weiter langt’s nicht.‘</p>
-
-<p>Richtig&#160;...</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span></p>
-
-<p>„Jawohl, Herr Rittmeister, bewegte Zeiten.“</p>
-
-<p>„<em class="gesperrt">Schand</em>zeiten, sag’ ich Ihnen, Doktor. Da haben wir’s: in der
-Schlußsitzung des Abgeordnetenhauses der Militäretat abgelehnt — das
-heißt, grad noch zehn Abgeordnete haben dafür gestimmt!“</p>
-
-<p>Helene interessierte die Politik gar nicht. Langweilte sie geradezu.
-Knapp, daß sie wußte, wie nun schon zwei Jahre oder darüber der Streit
-um die Armee zwischen Landtag und König sich hinzog, daß sich der
-Konflikt immer schärfer und schärfer zuspitzte. Merkwürdig, wie sich
-die Männer über solche Dinge ereifern konnten. Vater nun gar. Manchmal
-bebte seine gute alte Stimme förmlich vor Erregung, wenn er von den
-verfl— Demokraten sprach, die alles besser wissen wollten.</p>
-
-<p>„So ... so ... das sind doch noch brave Leute. Vorgestern war eine
-Deputation aus dem Kreise Bromberg beim König auf Schloß Babelsberg,
-um Majestät ihre Ergebenheit und die Stimmung des Kreises zugunsten
-der Militär-Reorganisation auszusprechen. Der Treskow auf Grocholin
-... übrigens ein Treskow ohne c ... hm ..., der Pfarrer Ehrlich auf
-Groß-Murzyno, der Lehrer Stieff aus Raczkowerdorf ... Also auch mal ’n
-Lehrer ... merkwürdig&#160;...“</p>
-
-<p>Das war wieder eine Spitze. Aber die Qualle regte sich nicht.</p>
-
-<p>Es wurde wieder ganz stille.</p>
-
-<p>Plötzlich fragte Vater: „Na, Doktor, was meint denn Ihr Blättchen? Das
-heißt — eigentlich gelüstet es mich nicht nach der Weisheit.“</p>
-
-<p>„Es ist wohl noch alles unentschieden, Herr Rittmeister.“ Wie das Gluck
-... Gluck in der Lampe kam es heraus. „Das Ministerium wird wohl gehen
-müssen.“</p>
-
-<p>„So ... meinen Sie? Auf das Ministerium kommt’s übrigens spottwenig an.
-Das heißt: in Preußen muß der König regieren. Punktum.“</p>
-
-<p>Wieder las Vater. Die Zeitung knisterte und knisterte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span></p>
-
-<p>Einmal sprach Martha mit ihrer sanften Stimme: „Wilhelm kommt am
-Sonntag.“ Es klang so viel Glück aus dem Wort und frohe Erwartung. Aber
-es achtete niemand darauf, nur gerade daß die Jungens aufschauten. In
-deren Augen war ja doch die Neugier: was bringt Papa uns mit?</p>
-
-<p>Mit einem Male schlug Vater mit der flachen Hand auf das Papier.
-Und seine Stimme bebte wieder. „Da haben wir’s. Hört mal. Hier,
-ganz versteckt, steht es: ‚Der bisherige Gesandte am französischen
-Hofe, Herr von Bismarck-Schönhausen, ist gestern abend von des
-Königs Majestät zum Staatsminister und interimistischen Vorsitzenden
-des Staatsministeriums ernannt worden.‘ Das heißt also: Da haben
-wir den Mann des königlichen Vertrauens. Bismarck-Schönhausen ...
-Bismarck-Schönhausen ... war der nicht Gesandter in Petersburg,
-Elisabeth?“</p>
-
-<p>„Ja, ich glaube ... warte einmal ... er hat eine Puttkamer zur Frau ...
-ich entsinne mich ... von den pommerschen Puttkamers ... Viertlum oder
-so hieß das Gut.“</p>
-
-<p>„So ... so! Was du nicht immer alles weißt.“</p>
-
-<p>Vater war ganz aufgeregt. Als sich Helene umwandte, sah sie, daß er
-aufgestanden war und schneller als sonst seinen Lieblingsgang auf dem
-Läufer in der Diagonale des Zimmers machte. Alle Augenblicke erschien
-seine Silhouette vor dem hellen Türrahmen. Die Zeitung flatterte in
-seiner Hand, und er sprach in abgerissenen Worten, halb für sich,
-halb für die anderen: „Bismarck ... Bismarck-Schönhausen. Das muß der
-Bismarck sein, der Anno achtundvierzig den Demokraten ordentlich die
-Wahrheit gezeigt hat. Das heißt: im Vereinigten Landtag ... damals. So
-... und ’n Puttkamer aus Viertlum. Hm ... das heißt: eigentlich mag ich
-diese Herrschaften da nicht, die Blankenburgs und Theddens, die mit
-dem lieben Gott immer ’n Privatabkommen haben wollen, fast wie Tante
-Marianne ... ja ... aber wackere, feste Leute sind’s schon, loyal bis
-in die Knochen, als ob’s Märker wären, die<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> Pommern. Ja ... und was
-sagen Sie nun eigentlich dazu, Doktor?“</p>
-
-<p>Ganz leise stand Helene auf. Das mußte sie sehen, was die Qualle für
-ein Gesicht machen würde.</p>
-
-<p>Aber sie kam nicht auf ihre Rechnung. Der Hauslehrer schien aus allen
-Wolken gefallen. Er sah aus seiner Zeitung hoch, mit himmelnden Augen:</p>
-
-<p>„Verzeihung, Herr Rittmeister, ich habe hier gerade eine Rezension
-gelesen ... über ein paar neue Stücke im Wallnertheater. ‚Verplefft‘
-von Herrn von Moser ... es soll sehr amüsant gewesen sein.“</p>
-
-<p>„Herr von Moser?“ sagte Mama sofort dazwischen. „Das ist auch ein
-früherer Offizier. Bei den Gardeschützen stand er, den Neuchatellern.
-Wer jetzt nicht alles schreibt?“</p>
-
-<p>Vater sah erst den Doktor, dann Mutter an, schüttelte den Kopf und
-lachte. Lachte, daß die Stube dröhnte.</p>
-
-<p>„Na, wenn’s wahr ist und Sie haben gar nicht zugehört, Herr Doktor ...
-dann ist’s schon ’ne kuriose Geschichte. Wozu halten Sie sich denn
-justement das Blatt? Das heißt: wenn Sie so wenig Interesse für die
-Politik haben? Kreuzdonnerwetter&#160;...“</p>
-
-<p>Da ging zum Glück die Tür zum Saal. Auguste kam herein, gluckste: „Es
-ist angerichtet.“ Ein Duft nach gebratenem Speck umwehte sie. Natürlich
-... es gab wieder Speckbratkartoffeln und saure Milch ... wie an jedem
-Abend. Saure Milch mit Torf, dachte Helene und sah schon im Geiste
-die Schüssel vor sich, mit dem geriebenen Schwarzbrot, das sie „Torf“
-nannten, schüttelte sich und hatte den Herrn von Bismarck-Schönhausen
-vergessen samt der ganzen Politik.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Zweites_Kapitel">Zweites Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>In Stellberg war Herbstmarkt.</p>
-
-<p>Es war eigentlich nicht viel los. Nur die Pferdejuden hatten zu
-tun. Mancher Bauer schlug jetzt billig einen<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> Gaul los, den er zur
-Winterbestellung nicht mehr zu brauchen meinte und nicht bis zum
-Frühjahr durchfuttern wollte. Vor dem „König von Preußen“ trottelte
-alle Augenblick eine Schindmähre, am Halfter geführt, in mehr oder
-minder widerwilligem Trab vorbei, und Moritz Cohn aus Ziebingen,
-Hartwig Kantorowicz aus Meseritz, Ephraim Hentschel aus Zielenzig
-standen in ihren langen, dunklen Kaftanen, den hohen, glänzend
-gewichsten Stiefeln, unter der Mütze die Löckchen über die Schläfen
-fallend, dabei und machten die Gäule herunter. Bis dann der eine oder
-der andere doch den Bauer in die Schankstube winkte.</p>
-
-<p>Auf dem Marktplatz waren in zwei Reihen die Buden aufgeschlagen, Zelt-
-und Bretterwerk. Kleinkram lag darin, Schnittwaren, Hausgerät, allerlei
-Tand. Von den Stangen wehten die bunten Taschentücher, die der Bauer
-liebt, mit schönen Bildern darauf: das Königspaar, die Krönung, auch
-noch die Völkerschlacht bei Leipzig. Dicke wollene, blaue und rote
-Unterröcke baumelten daneben und weiße Schürzen. In der einen Bude
-gab’s Peitschen aller Art und Regenschirme, in der nächsten lockten die
-neuesten Bilderbogen von Gustav Kühn aus Neu-Ruppin. Die schönste Bude
-aber hatte Tante Hufnagel, die dicke Konditorsfrau. Sie hatte auch den
-meisten Zulauf. Mit ihren zwei Mamsellen stand sie hinter dem langen
-Tisch, und sie lächelten alle drei so süß, wie ihre Ware war: Berge von
-Streuselkuchen und Brezeln, Düten mit Bonbons, vor allem jedoch Stöße
-von Pfefferkuchen; die „Mehlweißchen“ von Tante Hufnagel waren berühmt
-bis über Frankfurt hinaus, und auf den Lebkuchenkerzen hatte keine
-Konkurrenz so schöne Verslein wie sie.</p>
-
-<p>Das große, immer umlagerte Konditorzelt stand gerade gegenüber der
-Apotheke „Zum Mohren“.</p>
-
-<p>Auch in der Apotheke gab’s heute mächtig viel Arbeit. Die Gelegenheit
-des Marktes mußte benutzt werden, allerlei Bedarf an Medizin für Mensch
-und Vieh einzukaufen. Außerdem war der humpelnde Provisor ein halber
-oder drei Viertel Doktor, nur daß er seine Verordnungen ohne<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> Rezept
-und umsonst lieferte, sogar mit einem derben Witzlein dazu. Auch gab es
-in der Apotheke manche schöne Dinge, die nicht zur Heilkunst gehörten,
-aber in hohem Ansehen standen: allerlei Wohlriechendes, Lederzucker,
-buntschillernde süße Magenmorsaille mit merkwürdig viel Gewürzen,
-und vor allem einen Apothekerschnaps, bitter wie Galle, scharf wie
-Schwefelsäure und wärmend wie ein gutgeheizter Kachelofen — einen
-herrlichen Apothekerschnaps, der „Doktor“ hieß, aber ein Dutzend
-Doktoren wert war und doch nur einen Silbergroschen kostete.</p>
-
-<p>Der Provisor Dingeldey hatte an solchen großen Tagen alle Hände voll
-zu tun. Denn sein Chef, Herr Herr, war durch andere Obliegenheiten
-vollauf in Anspruch genommen. Höchstens, daß er mal ein eiliges Rezept
-zusammenbrauen half, was selten genug vorkam, denn an Markttagen
-verschrieb Doktor Tiburtius wenig oder gar nichts. Da saß der auch an
-dem großen braunen Tisch im Nebenzimmer der Offizin und trank seinen
-gezehrten Oberungar, den er für das bekömmlichste Getränk der Welt
-erklärte. Er trank ihn — und nicht zu knapp. Wie eine ungeheure
-Koralle stand ihm die Nase im Gesicht, und zweimal im Jahr hatte er
-das Zipperlein. Das merkten jedesmal seine Patienten im ganzen Kreise
-am eignen Leibe: denn in diesen schlimmen Perioden verordnete er fast
-ausschließlich Rizinusöl, abwechselnd mit Kurella. Über Land fahren,
-zu seinen Kranken, konnte er freilich nicht, wenn er die Füße in den
-dicksten Strümpfen immer am Ofen halten mußte. So beschränkte er
-sich darauf, die Mägen auszufegen, wie er es nannte. Und gerade in
-diesen Zeiten, hieß es, machte er die glänzendsten Kuren. Wenn er dann
-wieder gesund war, half er mit Grobheit nach. Er konnte furchtbar grob
-sein, der Doktor Tiburtius. Bei den Bauern hielt er’s für geradezu
-unentbehrlich; auf den Gutshöfen war er nur wenig höflicher.</p>
-
-<p>Herr Apotheker Herr persönlich widmete sich an den Markttagen fast
-ausschließlich den Gästen im Nebenzimmer der Offizin. Er wäre sehr
-entrüstet gewesen, wenn ihm jemand<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> gesagt hätte, er unterhielte da
-eine Weinstube. Empört wäre er gewesen, wenn jemand geäußert hätte,
-er bediente seine Gäste. Die Tatsache stand trotzdem fest, daß man im
-braunen Zimmer Getränke erhielt, die nicht aus der lateinischen Küche
-stammten. Man mußte freilich zu den Honoratioren zählen, man durfte
-auch nicht bezahlen. Aber die Eingeweihten wußten, daß jede Flasche
-unweigerlich einen Taler kostete, nur der Champagner — Grüneberger
-Landkarte war’s von Foerster &amp; Grempler und trug auf der Etikette einen
-Plan der gesegneten Gemarkung — nur die Pulle Champagner kostete
-zwei Taler. Den Obolus legte man beim Abschied schweigend auf den
-Tabakskasten am Fenster; vergaß es einmal ein Gast, so kam’s auf die
-Jahresrechnung der Apotheke. Im übrigen wurde Herr Herr durchaus als
-Herr behandelt. Er saß mitten unter seinen Gästen, wenn er nicht gerade
-unterwegs war nach dem Keller, und wenn er besonders gut aufgelegt
-war, so pfiff er ihnen etwas vor. In der ganzen Provinz Brandenburg
-einschließlich Berlin pfiff anerkanntermaßen niemand so künstlerisch
-schön als Herr Herr.</p>
-
-<p>Es war noch früh am Tage, gegen elf Uhr, und die Tafelrunde noch klein.
-Obenan saß der Doktor Tiburtius vor seinem Oberungar. Neben ihm links
-der Kreisrichter, Fritz von Hackentin und der Herr des Hauses bei
-einer Flasche Pontac; ihnen gegenüber Major a.&#160;D. von Artenau, ein
-Hüne von Gestalt mit einem riesigen Schnauzbart und buschigen grauen
-Brauen über den vom ewigen Sticken entzündeten Augen. Er hatte noch
-um kein Getränk gebeten, wartete vielmehr auf einen Partner für eine
-„Landkarte“ oder noch lieber für ein kleines Böwlchen; denn abgesehen
-von seiner grandiosen Stickkunst war er auch der anerkannte Meister im
-Bowlenbrauen.</p>
-
-<p>Das Gespräch ging langsam. Der Doktor schimpfte auf den Schäfer Knorr
-in Lobitten, der wieder einmal gegen Gesetz und Kleiderordnung einem
-alten Weibe das ausgefallene Schultergelenk eingerenkt hätte, und
-auf die Themis mit den verbundenen Augen, die die allerdummsten und<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span>
-allertollsten Kurpfuschereien dulde, wobei der Kreisrichter einen
-bitterbösen Seitenblick abbekam.</p>
-
-<p>Fritz Hackentin hörte sich das lächelnd an. Er hielt die schlanke
-rechte Hand um sein Glas gelegt, drehte es langsam hin und her, hatte
-sein gewöhnliches ironisches Zwinkern um die klugen grauen Augen und
-empfand ein kleines Vergnügen darüber, wie der Doktor sich mehr und
-mehr in die Wut hineinsteigerte. Und erst als der schließlich mit
-einem „Himmelkreuzdonnerwetter, wozu hat unsereiner denn eigentlich
-studiert!“ schloß, fragte er trocken: „Ja, hat Meister Knorr denn das
-Gelenk wirklich wieder in Ordnung gebracht?“</p>
-
-<p>„Was geht denn in drei Deibels Namen mich das an? Ob die olle Gillerten
-ein Krüppel bleibt oder nicht! Verdient hätte sie’s schon. Was, Herr
-Herr, hab’ ich recht?“</p>
-
-<p>„Hat der Schäfer Geld für die Kur genommen?“</p>
-
-<p>„Den Geier wird er getan haben. Dazu sind die Kanaille viel zu schlau.
-Das wird gelegentlich auf andere Weise abgemacht. Heimlich und
-heimtückisch.“</p>
-
-<p>„Ja, lieber Doktor, wenn der Mann sich nicht hat bezahlen lassen, dann
-kann die Justiz auch nichts machen.“</p>
-
-<p>„Das ist eben der Skandal. Aber ich faß den Knorr schon noch. Der Kerl
-muß sitzen! Der Kerl muß&#160;...“</p>
-
-<p>Weiter kam er nicht. Denn Artenau hatte den Hals gereckt, rief
-dazwischen: „Da kommt der Conte aus Sodelzig ...“ und sie sahen alle
-auf.</p>
-
-<p>Das Gespann des Grafen Grucker war auch sehenswert. Vor dem Wagen zwei
-edle Pferde, wie immer naß und mit Schaumflocken übersät, denn der alte
-Graf fuhr wie ein Toller; das Geschirr arg desolat, hier und dort mit
-Stricken und Bindfaden geflickt; der Wagen selber aber, die im ganzen
-Kreise berühmte „Wurst“, bestand aus nicht viel mehr als aus einem
-langen gepolsterten Brett, das über die Achsen gelegt war. Im Reitsitz
-saß der Graf darauf, und ganz hinten hockte in einer Art Korb der
-Kutscher.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span></p>
-
-<p>Man hörte schon von der Straße aus die dröhnende Stimme: „Meine
-Hochachtung! Daß du mir die Schinder ordentlich abreibst!“</p>
-
-<p>Dann klang’s aus der Offizin: „Meine Hochachtung! Na, Herr Provisor,
-erst mal’n Doktor. Aberst gut vermengeliert. So, danke&#160;—“</p>
-
-<p>Dann flog die Tür auf, und der untersetzte starke Mann krachte ins
-Zimmer: „Meine Hochachtung! Da wär’n wer ja. ’n Tag allinsgesamt.
-Artenau, ich seh’s dir an deiner schönen Nasenspitze an, du hast
-auf mich gewartet. Also mansch uns man ’n Röhrenwasser. Puh —“ und
-er setzte sich auf einen Stuhl, daß es krachte, reichte jedem über
-den Tisch die Rechte hin und drückte die verschiedenen Hände, bis
-die Besitzer „au“ sagten. Mit der Linken aber krabbelte er aus der
-Joppentasche ein halbes Dutzend Zigarren heraus, lang, dick und schwarz
-wie die Nacht, legte sie vor sich auf den Tisch, zündete sich die erste
-an und meinte, „Kindersch, ich muß euch ’ne Geschichte erzählen.“</p>
-
-<p>„Nämlich, wie ich zum Frühjahrsmarkt hier nach Stellberg fahre, sagt
-die Gräfin: ‚Otto,‘ sagt sie, ‚du mußt so gut sein und die Mamsell
-mitnehmen.‘ ‚Wozu denn?‘ frag ich. ‚Sie muß Geschirr für die Leutküche
-kaufen.‘ Also Mamsell wird auf die Wurst gepackt, hinten auf ’n
-Kutschersitz, und der Karl muß hinter mir reiten. Man soll ja nun mal
-den Weibern nichts abschlagen. Alles geht auch ganz gut, bloß daß der
-Artenau da ’ne recht längliche Bowle gebraut hatte und wir längelicht
-hier sitzen blieben. Um dreie läßt die Mamsell gehorsamst fragen, ob
-der Herr Graf nicht bald abführe, und um viere läßt sie wieder fragen.
-Da kann doch der geduldigste Mensch ein Wüterich werden. Aber ich bin
-ganz stille, und Abend gegen neune fahren wir wirklich los. Wie der
-Hausknecht vom ‚König von Preußen‘ am Wagen leuchtet, seh ich die
-Mamsell mit ’nem großen Korbe auf dem jungfräulichen Schoß und mit
-großen, dicken Tränen auf den Backen. Pimperlings rennen die runter.
-Ich kann alles, aber heulen kann ich<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> nicht sehen. Warum heult das
-Frauenzimmer: bloß weil sie ’n paar Stündeken hat warten müssen. Als
-ob ich im Leben nicht schon manchmal viel länger hätt warten müssen,
-wenn <span class="antiqua">par exemple</span> zum Beispiel die Gräfin nicht mit der Toilette
-fertig wurde. Na also, ich denke: das Heulen mußt du der Mamsell
-abgewöhnen. Fahr also drauflos, gleich furioso über das Pflaster, und
-das Frauenzimmer schreit, als ob es am Spieße steckt. Dann das Stück
-Chaussee und dann ... na, ihr kennt ja den Waldweg über Ebersvorwerk,
-schön ist er nicht. Und die Mamsell schreit und schreit. Laß sie man
-schreien, denk ich, sie sitzt ja dahinten wie in Abrahams Schoß. Sie
-wird schon stille werden. Wird sie auch, so etwa von Doberow an. Mal
-dreh ich mich um. ‚Mamsellken‘, ruf ich. Keine Antwort. ‚Karl, ist
-denn Mamsell noch da?‘ ‚Jawohl, Herr Jraf.‘ Na also. Ich fahr also
-wieder zu, nicht schlecht, die Füchse hatten lange gestanden. Da sind
-wir denn endlich. Ich steig ab, die Mamsell steigt ab. Nicht ’ne Träne
-mehr, aber ’n Gesicht, wie siebzehn Tage Regenwetter. Kein Ton. Aber
-wie ich frag: ‚Na, Mamsellken?‘ da reißt sie ’s Tuch vom Korb und weist
-so mit der Hand darauf hin, als wie wenn sie sagen möchte: Da hast du
-die Bescherung! ’s waren nämlich man bloß noch Scherben drin, blaue,
-braune, graue und weiße, keiner größer wie ’n Dalerstück. Und wie ich
-lache: ‚Mamsellken, lassen Sie das man nich die Frau Gräfin sehen, daß
-Sie so schlecht verpackt haben‘, da schmeißt sie mir den ganzen Zauber
-vor die Beine: ‚Un zu Johanni zieh ick, Herr Jraf!‘“</p>
-
-<p>Er lachte, daß die Wände dröhnten, und alle lachten mit, so ansteckend
-war dies tiefe Lachen aus voller Brust. Man mußte immer mit ihm lachen,
-wenn auch seine Geschichten selten eine richtige Pointe hatten. Er
-lachte selber, bis er nicht mehr konnte. Dann zog er ein rotseidenes
-Taschentuch, so groß, daß man damit den halben Tisch hätte zudecken
-können, und wischte sich die Augen aus. „Na, Artenau, du alter
-Stickereimajor, biste fertig? Laß mal schmecken. Heut wird aber nich so
-lange gepichelt. Ich<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> wollte eigentlich nur den Rittmeister sprechen.
-Kommt Vater nicht, Fritze?“</p>
-
-<p>„Ich denk doch, Onkel Grucker. Wilhelm ist in Rohlbeck und wollte mit
-Papa kommen.“</p>
-
-<p>„So, der Wilhelm. Na, der wird uns wohl die Eisenbahn in der Tasche
-mitbringen. Ich pfeife übrigens auf die Eisenbahn, mir ist meine
-Wurscht lieber.“</p>
-
-<p>„Ich pfeife auch auf die Eisenbahn“, warf Doktor Tiburtius dazwischen.
-„Stellberg kriegt ja doch keinen Bahnhof, und dann sitzen wir ganz in
-der Bredouille. Das bißchen Verkehr, was wir hier haben, geht auch
-noch in die Wicken. Die Chaussee ja: die war gut. Aber die Eisenbahn?
-Das ist man dummes Zeug. Ist gar kein Bedarf dazu da. Zwischen Berlin
-und Hamburg, oder zwischen Berlin und Leipzig und so, das laß ich mir
-gefallen. Aber bei uns? Na, Ihrem Bruder Wilhelm mag sie schon helfen,
-Herr von Hackentin, uns hilft sie sicher nichts — die Eisenbahn!“</p>
-
-<p>Der Kreisrichter hatte wieder sein überlegenes ironisches Lächeln.
-„Gegen einen Kulturfortschritt soll man sich nie sträuben.“</p>
-
-<p>„Laß uns bloß mit deiner Kultur und dem Fortschritt zufrieden,
-mein Junge“, rief der Graf. „Wir haben schon genug Kultur, und den
-sogenannten Fortschritt hab ich noch von achtundvierzig her im Magen.
-Aber ich will mich nicht ärgern. Und da hätten wir ja übrigens den
-Rackower ... meine Hochachtung, wen bringt denn der mit?“</p>
-
-<p>Vor der Tür hielt der Rackower Viererzug. Rappen, in glänzender
-Kondition mit Silbergeschirren; ein elegantes Coupé dahinter.</p>
-
-<p>„Meine Hochachtung, Dicker!“ schrie Grucker dem Eintretenden entgegen.</p>
-
-<p>„<span class="antiqua">Bonjour, messieurs!</span>“ Ernst Hackentin machte eine seriöse
-Handbewegung „Erlauben Sie ... gestattet, daß ich unseren lieben Gast
-vorstelle, Herr Alfred Schwarz, Kaiserlich Russischer Hofopernsänger.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span></p>
-
-<p>Man rückte zusammen. Unwillkürlich schob man sich immer zusammen,
-sobald der Rackower an einem Tisch erschien; auch dann, wenn mehr als
-genügend Raum vorhanden war. Er war wirklich übermenschlich dick, der
-kleine Mann. Eine Fettkugel war er mit ganz kurzen Beinchen und ganz
-kurzen Armen; der Kopf darüber glich einer zweiten Kugel; glattrasiert,
-bartlos, mit einer ungeheuerlichen Glatze, die nur im Nacken ein
-schmaler, graumelierter Haarkranz abschloß; im faltenlosen Gesicht lag
-stets ein Zug ungemessenster Sorglosigkeit, schrankenlosen Behagens,
-und dazu blitzten und blinkerten die kleinen Augen wohlwollend und
-listig zugleich.</p>
-
-<p>Schwer ließ er sich nieder. In gemessenem Abstand von der Tischkante,
-die ja nicht, wie an der Rackower Tafel, den im ganzen Kreis bekannten
-ovalen Ausschnitt trug.</p>
-
-<p>„Hier, mein lieber Schwarz, hier, bitte ...“ Er nannte die Namen.
-„Mein verehrter Herr Herr, dürfen wir uns bei Ihnen zu einer Flasche
-Pontac invitieren? Vielleicht ein wenig temperiert, wenn es Ihnen keine
-besondere Mühe macht. Wie geht es der verehrten Gräfin, lieber Grucker?
-Ah ... gut ... freut mich riesig. Danke, Marie ist auch gut zu Wege.
-Famöses Herbstwetter, nicht wahr? Ich bin sehr froh, daß es unser
-lieber Gast so gut trifft.“</p>
-
-<p>Der Rackower sprach mit ganz sanftem Tonfall, deutlich akzentuiert,
-aber leise. Immer, auch bei Nichtigkeiten, als wenn ihm ungeheuer daran
-läge, zu überzeugen. Grucker nannte seine Art zu reden manchmal den
-Hofpredigerton. Er sprach auch gern und langatmig, mit ausgesuchter
-Höflichkeit, in jeder Einzelwendung. Dazwischen mußte seine silberne
-Schnupftabakdose, mit dem Namenszug in farbigen Steinen auf dem Deckel,
-die Runde machen, wenn es irgend anging.</p>
-
-<p>Sonst fesselte seine Redegabe meist auch die Widerstrebenden. Er hatte
-ja immer den Sack voll Neuigkeiten, schon aus den Pariser Zeitungen,
-die er sich hielt. Aber heut konzentrierte sich das Interesse doch mehr
-auf seinen Gast als auf ihn. Ein russischer Hofopernsänger? Etwas<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span>
-noch nicht Dagewesenes im Kreise. Erstens schon an sich: ein Sänger.
-Zweitens: ein Opernsänger. Drittens: ein russischer! Warum den die
-Rackower eingeladen hatten? Doppelt merkwürdig, weil Marie Hackentin
-sonst ja immer die Exklusive markierte. Denn auch ein Hofopernsänger
-blieb doch immerhin ein Komödiant.</p>
-
-<p>Herr Alfred Schwarz saß zwischen den Herren wie ein Mann, der gewohnt
-ist, das allgemeine Interesse zu erregen. Schweigsam zuerst, aber
-mit dem Ausdruck artigsten Zuhörens in dem jugendlichen schönen
-Gesicht. Dann allmählich auftauend, weltgewandt in das allgemeine
-Gespräch eingreifend, jede Frage mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit
-beantwortend. Er saß in sehr legerer Haltung, die schlanken Beine
-übereinander geschlagen, so daß auf dem einen Fuß das Streifchen eines
-seidenen Strumpfes sichtbar wurde, und drehte sich aus dem Etui, das
-auf seinem Schoß lag, eine Zigarette nach der anderen.</p>
-
-<p>Grucker, der leidenschaftliche Kettenraucher, schnoperte eine ganze
-Weile nach dem starken süßen Duft, bis er fragte: „Schmeckt denn das
-Deubelszeug eigentlich?“</p>
-
-<p>„Wollen Sie nicht einmal selbst versuchen, Herr Graf?“ Die flinken,
-schlanken Hände hatten sofort eine Papyros gedreht. „Bitte, wollen Sie
-hier anfeuchten&#160;...“</p>
-
-<p>„Lecken soll ich?“ Alle lachten, denn Grucker machte die Sache mit
-seiner dicken, schweren Zunge möglichst ungeschickt. Die erste
-Zigarette zerkrümelte, mit der zweiten ging es besser, und dann
-schmunzelte der Konte: „Weiß Gott, nicht übel, so zwischen durch. Ein
-famöser Tabak das muß ihm der Neid lassen.“</p>
-
-<p>„Die Großfürstin Maria Constantinowna hatte die Gnade, mir ein paar
-Pfund zu senden.“</p>
-
-<p>„Sie waren lange in Petersburg?“ fragte Fritz Hackentin über den Tisch
-herüber.</p>
-
-<p>„Vier Saisons. Ich kam ein Jahr nach der Beendigung des Krimkrieges an
-die Newa.“</p>
-
-<p>„Schlimme Tage für Rußland&#160;—“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span></p>
-
-<p>„Bah! Man merkte davon in Petersburg wenig. Der Russe trägt nicht
-schwer. Das Land mochte erschöpft sein, aber es war doch durch die
-Lieferungen sehr viel Geld verdient worden, und der Rubel rollte. Wir
-hatten fast immer das Haus zum Brechen voll.“</p>
-
-<p>Artenau war längst fasziniert von dem auffallend schönen Brillanten,
-den der Sänger in der Krawatte trug. Schließlich zwang er sich nicht
-länger, beugte sich weit vor und meinte mit seiner stockenden Stimme:
-„Sie haben da einen wunderschönen Solitär&#160;...“</p>
-
-<p>„Seine Majestät der Zar ließen mir die Nadel nach einer Vorstellung
-des „Fra Diavolo“ überreichen. Übrigens —“ er lachte gleichmütig —
-„nachträglich hab ich erfahren, daß Seine Majestät mir einen weit
-kostbareren Stein bestimmt hatten. Aber das geht in Rußland nun einmal
-so: auf dem Wege von Seiner Majestät bis zu mir wurde der Brillant
-immer kleiner.“</p>
-
-<p>„Schweinebande!“ rief Doktor Tiburtius dazwischen. „An den Galgen
-sollte die Gesellschaft.“</p>
-
-<p>„Es ist in der Welt nicht anders. Die kleinen Diebe hängt man, die
-großen läßt man laufen.“</p>
-
-<p>„Oho! Oho, Herr Schwarz! Bei uns ist’s doch anders. In Preußen gibt’s
-noch Richter. Bei uns gilt gleiches Recht für jedermann, und wenn
-wir auf etwas stolz sein dürfen, dann ist’s die Ehrlichkeit unserer
-gesamten Beamtenschaft.“</p>
-
-<p>Der Sänger verbeugte sich verbindlich: „Ich bin ja selber preußischer
-Untertan, wenn auch aus einem entlegenen Winkel des Königreichs.“</p>
-
-<p>„Nämlich, wenn man fragen darf?“</p>
-
-<p>„Ich bin dicht an der französischen Grenze geboren, in einem kleinen
-Ort nahe Saarbrücken.“</p>
-
-<p>Plötzlich fuhr Graf Grucker in die Höhe: „Die Rohlbecker! Und die Lene
-ist auch mit. Donnerwetter, da muß ich doch ...“ Er stülpte seine Kappe
-auf und hastete zur Tür hinaus.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p>
-
-<p>Draußen half Wilhelm Hackentin seinem Vater aus dem Wagen.</p>
-
-<p>Vater und Sohn waren sehr verschieden. Wilhelm überragte den
-Rittmeister fast um Haupteslänge, und sein Gesicht zeigte nicht die
-Hackentinschen Züge, sondern die Gruckerschen, mit dem ausgeprägten
-Kinn, der kühn geschwungenen Nase. Er hieß nicht umsonst der „schöne“
-Wilhelm. Und man sah ihm an, er hielt auf sein Äußeres. Während der
-Vater einen grauen, ausgedienten Flausrock trug, war er sehr elegant
-und sehr geschmackvoll gekleidet, in einem langen hellen Redingote,
-unter dem weite, gestreifte Beinkleider mit breiten, schwarzen Galons
-hervorsahen; und während der Rittmeister Handschuhe grundsätzlich
-verschmähte, außer beim Kirchgang, deckten seine auffallend kleinen
-Hände weiche gelbe Lederhandschuhe; der alte Herr trug eine Jagdkappe,
-abgetragen wie sein Überrock, der Sohn eine seidene schwarze Reisemütze
-von fast kokettem Schnitt.</p>
-
-<p>„Meine Hochachtung!“ rief der Graf schon auf der obersten Stufe zur
-Apothekentür, und dann hatte er den Rittmeister umhalst und küßte
-ihn schallend erst auf die rechte, dann auf die linke Backe. „Tag,
-Schwager. Tag, Wilhelm!“ Auch der bekam seine Küsse, und dann hob
-Grucker die Nichte mit seinen mächtigen Armen aus dem Wagen, schwenkte
-sie einmal im Kreis, daß die Röcke flogen, setzte sie nieder, und
-gleich hatte auch sie ihr Teil: diesmal aber traf’s nicht die Wangen,
-sondern die Lippen. Lene hielt übrigens ganz stille. Hätte sich ja auch
-nicht rühren können, so fest hielt der Onkel. Wollte sich auch nicht
-rühren: denn Onkel Grucker war eben Onkel Grucker. Und ihr Pate dazu.</p>
-
-<p>Er schnalzte mit der Zunge und lachte: „Meine Hochachtung! Geht man
-hinein und sorgt, daß mir der Artenau das Röhrenwasser nicht aussauft.
-Ich muß mit der Lene erst ... na, Puttchen, he? — was müssen wir denn?“</p>
-
-<p>Sie hatte bei ihm schon eingehakt: „... zu Tante Hufnagel gehen&#160;...“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span></p>
-
-<p>„Na natürlich. Und wenn’s ’n Daler kost’.“</p>
-
-<p>Das war immer so. Wenn der Graf auf den Jahrmärkten einer seiner
-Nichten habhaft wurde — und manchmal waren’s auch nur Wahlnichten,
-aber jung und hübsch mußten sie sein —, dann zog er mit ihnen zu
-Tante Hufnagel. Und gewöhnlich hatten sie dabei einen Kometenschweif
-hinter sich: die liebe Jugend des Städtchens. Denn die wußte, daß es
-dem Sodelziger Herrn, so sparsam der sonst war, auf ein paar Hände voll
-Pfeffernüsse nicht ankam. Manchmal auch nicht auf eine Handvoll blanker
-Dreier. Gerad wie dem alten Wrangel in Berlin.</p>
-
-<p>„Na, Puttchen, was macht das Herz?“ scherzte er, während sie über die
-Straße gingen.</p>
-
-<p>„Onkel Grucker, ich hab keins.“</p>
-
-<p>„Meine Hochachtung! ’n Mädel ohne Herz. So was läßt der liebe Gott ja
-gar nicht zu. Na hör mal, Deern, ... und ich dachte doch, der hübsche
-Gardeschütze, der dich immer mit so großen Gucklöchern ansah, bei uns,
-bei dem Manöverdiner ... der Neuchateller ... wie hieß das Luderchen
-doch&#160;...“</p>
-
-<p>„Merivaux, Onkel Grucker. Das ist aber auch das Einzige, was ich von
-ihm weiß.“</p>
-
-<p>„Merivaux — so! Der Deixel soll die französischen Namen behalten. Sind
-aber brave Kerle, die Neuchateller. Haben sich als gute Royalisten
-gezeigt, als die da unten Revolution machten. Anno sechsundfünfzig und
-so. Ja — Tag, Tante Hufnagel. Meine Hochachtung!“</p>
-
-<p>Madame Hufnagel knixte ganz tief, die beiden Mamsellen knixten noch
-tiefer, und alle drei lächelten so süß, wie ihre Waren waren.</p>
-
-<p>„Na, nu greif mal zu, Puttchen.“</p>
-
-<p>Helene Hackentin zierte sich nicht. Wie hätte man sich denn auch
-vor der Bude von Tante Hufnagel zieren können. Sie stopfte ein paar
-Pralinees ins Kröpfchen und steckte sich die Taschen voll. Rechts ein
-Paket Schokoladenpfefferkuchen und links den kleinen Karton mit einem
-Königsberger Marzipanherz. „Siehst du, Onkel Grucker, nu hab<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> ich ’n
-Herz!“ Famos übrigens, daß die Pelerine links und rechts ordentliche
-Taschen hatte.</p>
-
-<p>Brrr — brrr schmiß der Graf eine Handvoll Pfeffernüsse über die
-blonden, braunen, schwarzen Köpfe hin. Es summte in der Luft wie ein
-Schrotschuß Und die liebe Jugend jagte hinterher, stolperte, schubste
-sich, balgte sich, lag auf den Pflastersteinen und jauchzte. Grucker
-aber hatte gerad noch einen Blondkopf an den langen Zöpfen erwischt.
-„Bist du nicht eine kleine Tiburtia? Die Nas’ kenn’ ich doch! Sperr’s
-Maul auf und mach die Augen zu. So ... da ...“ Unbarmherzig schob er
-einen wahren Riesenkloß Mehlweißchen in den aufgerissenen Schlund und
-wollte sich totlachen, wie das Unglückswurm zwischen Lachen und Greinen
-biß und schluckte.</p>
-
-<p>„So, Tante Hufnagel ... Schluß. Was kost’t der Kitt? ’n Daler zwanzig
-... hier! Bist fertig, Puttchen? Na, denn woll’n wir mal. ’n Abend ...
-’n Abend&#160;...“</p>
-
-<p>Und wieder knixte Madame Hufnagel ganz tief, beide Mamsellen knixten
-noch tiefer, alle drei lächelten so süß wie Marzipan. Helene hakte
-wieder ein, aber dann besann sie sich und meinte, ein wenig zögernd:
-„Nun muß ich zu Tante Artenau&#160;...“</p>
-
-<p>„Meine Hochachtung! Nee aber — was willst du denn da? Etwa zusehen,
-wie die semmelblonde Julie das Kunststück fertig bringt, ein Hühnerei
-in der Achselhöhle auszubrüten? Pfui Spinne. Komm du man mit zu uns
-ordentlichen Leuten.“</p>
-
-<p>Es stand ihr auf dem Gesicht geschrieben: ihr war das auch lieber. Aber
-sie zögerte noch immer, griff in die linke Manteltasche — gut doch,
-daß der Mantel so schöne Taschen hatte! — krabbelte sich ein Stückchen
-Pfefferkuchen heraus und steckte es zwischen die Zähne. Gerad noch so
-viel Platz blieb, daß sie fragen konnte: „Wer ist denn drin, Onkel
-Grucker?“</p>
-
-<p>„Wer wird denn drin sein, Mademoiselle Neugier? Artenau und Tiburtius
-und Fritze, dein Bruder Demokrat ... na, und Ernst mit seinem
-Moskowiter Sänger.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p>
-
-<p>Es war gut, daß sie nicht über den Straßendamm konnten. Gerad kam
-nämlich von der Kirche her ein Haufen Menschen mit einer „Moritat“ in
-der Mitte, und der Mann mit der Schauleinewand pflanzte sich just vor
-der Apotheke auf. So etwas mußte Grucker sich immer in der Nähe ansehen
-und anhören, blieb also stehen, sagte lachend: „Meine Hochachtung ...
-wunderschön!“ und merkte gar nicht, wie Helene aus eigenem Antrieb
-den Schritt hemmte und daß sie trotzig den Nacken steifte. Bis der
-Leierkasten sein Lied abgespielt und der Mann das Epos von dem
-siebenfachen Mord vorgetragen hatte&#160;—</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Und so hat in einer Nacht</div>
- <div class="verse indent0">Er sieben Christen umgebracht“ —</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Währenddessen konnte Helene sich besinnen. Sie knabberte dabei langsam
-ihren Pfefferkuchen auf. Da wären wir ja beinah’ recht albern gewesen,
-dachte sie. Warum denn nicht? Was geht mich dieser ... dieser Russe
-an. Nun gerade! Und als Grucker sein Dittchen auf den Sammelteller
-geworfen hatte und sich wieder in Bewegung setzte, fragte sie: „Also
-der Rackower Gast? Was ist denn das für ein Menschenkind?“</p>
-
-<p>„Biste neugierig, Puttchen?“</p>
-
-<p>„Bewahre. Ich frag nur so&#160;...“</p>
-
-<p>„Na also, wenn du nur so fragst: er trägt seidne Strümpfe und ’ne
-Krawattennadel, die ihm der Kaiser aller Reußen geschenkt haben soll.
-Sonst ’n ganz manierliches Kerlchen, scheint’s. Schmokt auch ’n ganz
-wundervollen Toback. Meine Hochachtung — wirklich! Weiter weiß meines
-Vaters Sohn nichts von ihm.“</p>
-
-<p>Da waren sie auch schon in der Offizin.</p>
-
-<p>Aber nun zögerte Helene doch wieder. Es war sehr laut im Nebenzimmer.
-Auch der Graf horchte auf. „Die scheinen ja ’n bissel scharf aneinander
-geraten. Hör’ mal, Lene&#160;...“</p>
-
-<p>„Ich möchte doch lieber&#160;...“</p>
-
-<p>„Na, du wirst dich doch nicht fürchten! Was sich zankt, liebt sich,
-Leneken.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span></p>
-
-<p>Er stieß die Türe auf, stapfte mit seinem lauten „Meine Hochachtung!“
-über die Schwelle, stieß aber direkt auf seinen Neffen Fritz Hackentin,
-der — mit dem Hut in der Hand — hinauswollte, rot im Gesicht und vor
-Erregung zitternd. Der Bruder stand daneben, suchte ihm den Hut zu
-entwinden.</p>
-
-<p>„Hallo, mein Junge!“ rief Grucker. „Hier wird nicht desertiert.“ Er
-faßte ihn mit beiden Händen um den Leib, hob ihn hoch, wie man ein Kind
-hochhebt, drehte ihn um und schob ihn, ohne loszulassen, wieder zum
-Tisch hin. „Komm, Lene, Mädel, streichle mal ’n bißken. Kreuzdonnerstag
-und Freitag, man wird doch hier in Ruh’ sein Glas Wein trinken können!“</p>
-
-<p>„Laß mich, Onkel Grucker ... laß mich!“</p>
-
-<p>Aber die eisernen Fäuste hielten fest. „Nee, Fritz. So kommst du nicht
-los. Erst ’n Versöhnungsschluck. Habt wieder mal hohe Politik getrieben
-— he? Verflucht und zugenäht! Na, was gab’s denn?“</p>
-
-<p>Drüben saß der alte Rittmeister. Er war so blaß im Gesicht, wie der
-Sohn rot war, und die Hand, die er am Glas hielt, zitterte auch. Aber
-er zwang sich. „Wenn du’s wissen willst, Schwager. Das heißt, daß mein
-Sohn Fritz uns gerad erzählt hat, daß er Mitglied vom Nationalverein
-ist. Und da hab ich ihm meine Meinung gesagt. Das heißt, über die ganze
-Schreierei und über den vielgeliebten Schützenherzog in Gotha dazu. Und
-das kann er nicht vertragen.“</p>
-
-<p>„Deshalb ist es besser, ich gehe!“ stieß der Kreisrichter hervor.
-„Meine Überzeugung lasse ich nicht antasten, auch von dir nicht, Papa.“</p>
-
-<p>Der Graf hatte ein Lachen, das oft geradezu erlösend wirken konnte.
-So lachte er jetzt. Und es paßte in dies Lachen hinein, was er
-zwischendurch in einzelnen Brocken vorbrachte: „Brat mir einer
-’n Storch ... kriegen sich Vater und Sohn wegen Herzog Ernst von
-Sachsen-Koburg-Gotha, Durchlaucht und so, an den Kragen ... aber
-den Storch recht knusperig, bitte! Kinderkens, seid gut ...<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> lieber
-Artenau, du oller Stickereimajor, nu aber schnell ’ne neue Mischung ...
-was Besänftigendes. Heut wird nicht mehr Politik gemacht ... hier setzt
-du dich, Fritze ... so ... na, und da hab ich euch die Lene mitgebracht
-... Lene ... Puttchen ... komm her. Es frißt dich keiner&#160;...“</p>
-
-<p>Sie war an der Tür stehengeblieben.</p>
-
-<p>Daß sich Vater und Bruder stritten, war ihr nichts Neues. Das ging
-nun schon seit Jahren, man hatte sich nachgerade daran gewöhnt: Vater
-und Fritz vertrugen sich schließlich immer wieder, und Onkel Grucker
-brachte das gewiß heute schnell zuwege. Er verstand das Leimen.</p>
-
-<p>Aber diesmal war’s ihr peinlich. Weil der Fremde dabei war. Der Russe,
-gegen den sie vom ersten Sehen an etwas wie instinktive Abneigung
-empfunden hatte.</p>
-
-<p>Das Zimmer war mit Tabaksrauch gefüllt. Mehr noch als Onkel Pastors
-Arbeitsstube am Sonnabend. Mit dem Messer hätte man den Qualm
-durchschneiden können, und die Augen taten einem weh; kaum, daß man die
-Herren am Tisch unterscheiden konnte: den Doktor, der bei Lene noch von
-früher her immer einen Lebertrangeschmack auf der Zunge hervorrief, den
-lustigen Herrn Herr, Artenau, Onkel Ernst&#160;...</p>
-
-<p>Ja ... und da stand der Russe am Fenster.</p>
-
-<p>Fast wie sie an der Tür. Vielleicht hatte er auch den gleichen Gedanken
-wie sie: ich wollte, ich wäre nicht hier. Zu verwundern wär’s nicht.</p>
-
-<p>Das Gespräch am Tisch ging noch ein paar Augenblicke weiter. Schon
-gemäßigter. Sie hörte nur einzelne Worte ... „Das deutsche Vaterland
-...“ sagte Fritz. „Nee, unser altes Preußen ...“ sagte Vater, und Onkel
-Grucker: „Nu laßt’s mal endlich&#160;...“</p>
-
-<p>Da war auch schon der Rackower aufgestanden, dem jeder politische
-Streit unbequem war, hatte das Monokel ins Auge geklemmt und ihr
-zugenickt, war zu seinem Gast ans Fenster getreten. Und der wandte ihr
-im nächsten Moment das Gesicht zu, verbeugte sich.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span></p>
-
-<p>Zu dumm, zu kindisch, daß man immer noch rot wurde wie ein Backfisch&#160;...</p>
-
-<p>„Na, Leneken, wo steckst du denn?“ rief der Graf schon zum drittenmal.
-„So komm doch! ’s ist wieder Friede im Lande.“</p>
-
-<p>Langsam ging sie an den Tisch, nickte, reichte die Hand. Und nun walzte
-sich Onkel Ernst heran, stellte ihr den Russen vor. Jäh überflutete
-sie wieder die alberne Röte. Aber sie überwand sie diesmal schnell;
-vielleicht, weil es ihr so komisch vorkam, daß er Schwarz hieß, einfach
-Schwarz, während sie irgendeinen Namen auf off oder itsch erwartet
-hatte.</p>
-
-<p>Der Friede schien wirklich geschlossen, die Gläser wurden neu gefüllt,
-Grucker hatte schon wieder eine seiner langen dicken Zigarren in Brand.
-Dann hieß es plötzlich, wie zur Besiegelung des Friedens: „Lieber Herr
-Herr, pfeifen Sie uns eins“, und der Apotheker ließ sich nicht lange
-bitten. Er spitzte die Lippen und pfiff. Erst von Schumann: „Wohlauf,
-noch getrunken, den funkelnden Wein ...“ und dann sein Glanzstück aus
-„Fra Diavolo“.</p>
-
-<p>Eigentlich liebte Helene dies Kunstpfeifen wenig. Es hatte für ihr
-empfindliches Ohr immer ein wenig Schrilles. Aber das mußte sie
-zugeben: Herr Herr machte seine Sache gut, und es war <em class="gesperrt">doch</em>
-Musik. Stets, wenn ein Lied erklang, wurde ihre Seele wach.</p>
-
-<p>Und dann war sie mit einem Male, sie wußte selbst nicht, wie es
-eigentlich gekommen war, in einem Gespräch mit dem Russen. Sie nannte
-ihn im stillen immer den Russen, wenn er auch Schwarz hieß.</p>
-
-<p>Er hatte an die Produktion des Apothekers angeknüpft, aber sie waren
-im Nu darüber hinaus. Von der Musik im allgemeinen sprach er, von den
-neuesten Opern dann, von Spontini, von Donizetti, von Lortzing und vor
-allem von Meyerbeer. Eigen erfreut schien er, daß sie gut Bescheid
-wußte. Einmal sagte er: „Ich hätte nie geahnt, daß man hier, in der
-Landeinsamkeit, Musik so liebt.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p>
-
-<p>„Gerade, wenn man so einsam lebt, meine ich, muß man sie doppelt
-lieben.“</p>
-
-<p>„Sie ist die große Herzenströsterin.“ Er sprach es mit Emphase, aber
-das entging ihr.</p>
-
-<p>„Ich finde, daß sie immer neue Sehnsucht weckt“, erwiderte sie.</p>
-
-<p>Als ob er sie nicht ganz verstanden hätte, so schaute er sie an.
-Er wiegte den schönen Kopf: „Gewiß, sie weckt Sehnsuchten, aber
-nur, um sie wieder zu stillen.“ Und dann: „Sie üben selber Musik,
-gnädiges Fräulein? Aber was frage ich — wer sich so stark für Musik
-interessiert, muß auch versuchen, dem inneren Drang zum Leben zu
-verhelfen.“</p>
-
-<p>„Ich singe ... ein wenig.“ Erst als sie es gesagt hatte, fiel ihr ein,
-daß Onkel Grucker vorhin von Herrn Schwarz als dem „Moskowiter Sänger“
-gesprochen hatte. Es war aber nur eine ganz unklare Vorstellung in ihr,
-was der Onkel eigentlich damit gemeint hatte, und sie war nun doch
-neugierig: „Sie singen auch — nicht wahr?“ fragte sie, und es mochte
-wohl sehr naiv klingen. Denn er lachte ganz leise, verneigte sich ein
-wenig: „Es ist ja mein Beruf, gnädiges Fräulein. Ich bin Opernsänger.“</p>
-
-<p>Das war ihr eine kleine Enttäuschung. Er hatte so weltmännisch
-geplaudert; für einen Diplomaten würde sie ihn gehalten haben,
-vielleicht auch für einen Offizier in Zivil. Opernsänger ... Komödiant
-... das hätte sie nicht gedacht. Aber es interessierte sie gewaltig,
-und aus dem Untergrund ihres Bewußtseins stiegen zugleich Erinnerungen
-an eigene heiße, tolle Träume empor, in denen sie sich selber gefeiert
-gesehen hatte, wie die Jenny Lind gefeiert worden, wie jetzt die Lucca
-in Berlin. So daß sie sich der ersten Empfindung schämte und lebhaft,
-doppelt liebenswürdig meinte: „Jetzt verstehe ich erst. Nicht wahr,
-Herr Schwarz, Sie waren in Petersburg engagiert und daher“ ... nun
-überkam sie wieder eine leichte Verlegenheit ... „daher hieß es auch,
-daß Sie Russe<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> wären? Wo haben Sie eigentlich meine Verwandten kennen
-gelernt?“</p>
-
-<p>„In Ems, gnädiges Fräulein. Wir gebrauchten zur gleichen Zeit die
-Kur. Das russische Klima hatte bei mir eine kleine Halsaffektion
-hervorgerufen. Man muß vorsichtig sein in meinem Beruf.“</p>
-
-<p>Sie hatten ganz ungestört miteinander sprechen können, denn die übrige
-Tafelrunde war völlig durch Herrn Herr in Anspruch genommen. Der mochte
-wohl von dem Wunsch beseelt sein, ein politisches Gespräch nicht neu
-aufkommen zu lassen. Hatte erzählt, daß er von Frankfurt eine von den
-neuen merkwürdigen Lampen mitgebracht hätte, die mit Petroleum gespeist
-würden, einem Öl, das in Amerika aus der Erde fließe. Der und jener
-hatte davon schon gehört, der Rackower und Wilhelm Hackentin hatten
-die Lampen auch in Berlin gesehen. Doktor Tiburtius wollte wissen, daß
-man Erdöl schon im Altertum zur Beleuchtung gebraucht hätte; Ben Akiba
-habe nun einmal recht: es gebe nichts Neues unter der Sonne. Im übrigen
-wäre das ein gefährliches Zeug, stinke wie die Pest und explodiere wie
-Schießpulver. Als der Apotheker schließlich das Lämplein holte und
-umständlich anzündete, rückten die Herren wirklich vorsichtig ihre
-Stühle rückwärts, am weitesten Artenau.</p>
-
-<p>„Meine Hochachtung“, rief Grucker und klatschte sich auf die
-Oberschenkel.</p>
-
-<p>Da blickte Helene auf und sah durch die dichten schweren Tabakswolken
-die helle, gelbliche Flamme über dem gläsernen Bassin. Und mit einem
-Male kam es ihr vor, als wäre sie emporgeflogen, weit hinauf, und nun
-wieder jäh auf die Erde zurückgeworfen. Die Lampe im großen Zimmer zu
-Rohlbeck stand plötzlich vor ihr, sie hörte das Gluck-Gluck, und sie
-sah den häßlichen Fleck, den das schwere Gestell in die alte, braune
-Plüschdecke gedrückt hatte.</p>
-
-<p>Sie mochte nicht weiter sprechen, und nur wie von fernher hörte sie,
-was die andern sagten. Bruder Wilhelm natürlich schon von Plänen und
-Spekulationen, die man in Berlin an das Erdöl knüpfe. Du lieber Gott,
-das war auch<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> solch Phantast, der gute Wilhelm. Immer wollte er in
-den Himmel fliegen, und immer setzte ihn das Schicksal hart auf den
-Rohlbecker Sand zurück. Dann sprach ja wohl Fritz davon, daß das
-Petroleum, wenn die Zeitungen recht berichteten, sehr billig werden
-würde, daß es das Licht der Armen werden könnte; die Quellen in
-Nordamerika sollten schier unerschöpflich sein. Und da mischte sich
-Vater ein. Was für ein Unsinn, meinte der. Billig — bei den hohen
-Transportkosten übers Weltmeer. Die armen Leute übrigens — die armen
-Leute! Erstens gibt’s, gottlob, auf dem Lande keine wirklich armen
-Leute, das heißt, die Rohlbecker Herrschaft ausgenommen. Und zweitens
-sollten die armen Leute nur ihre Talglichter weiter ziehen, das heißt,
-der Kienspan sei auch nicht zu verachten. Und drittens käme die ganze
-Geschichte doch nur auf eine Konkurrenz für den Landwirt heraus, das
-heißt, dem guten Rüböl sollte der Garaus gemacht werden. Viertens und
-letztens aber: in sein Haus käme die neumodsche Sache nicht hinein, das
-heißt, er hätte nicht Lust, in die Luft gesprengt zu werden. Einmal,
-in der Schlacht von Leipzig, wär’s schon nahe daran gewesen, und daran
-hätte er noch genug. Worauf Artenau dringend bat: „Lieber Herr Herr,
-bitte, nehmen Sie das Ding fort. Aber erst auslöschen, erst auslöschen
-...“ und alle lachten.</p>
-
-<p>Nein, alle lachten nicht. Ihr selber war die Kehle wie zugeschnürt,
-und Herr Schwarz hatte nur ein Lächeln. Ein kleines, feines Lächeln,
-das etwa sagen mochte: Liebe Leute, was seid ihr für wunderliche
-Menschenkinder, und wie eng muß euch der Horizont gezogen sein.</p>
-
-<p>Der gelbe Lichtschein über dem gläsernen Behälter war erloschen, der
-Tabaksschwaden strich wieder über den Tisch. Die Lampe aber wanderte
-den Tisch entlang. Jeder tastete und fühlte an dem neuen Lichtspender
-herum, und jeder gab seinen Senf dazu.</p>
-
-<p>Ganz still saß Helene. Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken, und
-die Hände hatte sie im Schoß verschränkt; fest preßten sich die Finger
-ineinander.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span></p>
-
-<p>„Ich muß Sie singen hören, gnädiges Fräulein“, hörte sie neben sich.</p>
-
-<p>Da kam der alte Trotz über sie. Sie zog die Achsel hoch. „Wozu? Es
-lohnt nicht!“ gab sie kurz, fast bitter zurück.</p>
-
-<p>„Das können Sie selber nicht wissen. Und ... Sie haben einen Timbre in
-der Stimme, der meine Erwartung hochspannt.“</p>
-
-<p>Sie sah ihn an. War das eben eine Phrase gewesen? Aber er hielt stand.
-„Glauben Sie’s mir nur, gnädiges Fräulein.“ Er beugte sich ein wenig
-vor und sprach leise weiter, in seinem weichen, einschmeichelnden
-Tonfall: „Es muß doch wohl so etwas geben wie Vorbedeutungen? Als
-ich vor drei Tagen durch den märkischen Sand rollte, in der Enge der
-Postchaise, ehrlich gestanden, mit ein wenig gemischten Gefühlen: warum
-hast du eigentlich die Einladung angenommen? Du hättest doch lieber in
-Berlin bleiben oder du hättest nach Paris gehen sollen — sehen Sie,
-da überkam mich plötzlich die Empfindung: du wirst hier etwas erleben.
-Eine ganz sichere Empfindung. Es ist mir früher schon ähnlich ergangen,
-und ich habe mich nie getäuscht. Als ich dann ausstieg, da fiel mein
-erster Blick auf eine junge Dame. Darf ich es aussprechen, auf eine
-sehr schöne junge Dame. Und ich wußte sofort: dein Erlebnis beginnt.
-Ich wußte, daß ich Sie wiedersehen würde.“</p>
-
-<p>Er schwieg.</p>
-
-<p>Ihr war das Blut ins Gesicht gewallt. Aber sie straffte den Nacken.
-Was fiel dem Herrn ein? Wie konnte er so zu ihr sprechen? Ihre Finger
-schoben sich noch fester ineinander. Starr sah sie geradeaus, mit einem
-hochmütigen Blick.</p>
-
-<p>„Hätte ich das nicht sagen dürfen?“ hörte sie wieder die weiche
-Flüsterstimme. „Dann müssen Sie mir verzeihen. Ich bin ein Fremder
-hier und vielleicht nicht gewöhnt, die Worte auf die Goldwage zu
-legen. Wir Künstler dünken uns ja allzu leicht freier als der
-Alltäglichkeitsmensch ...<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> Sind Sie zornig auf mich? Ich will mich
-bessern ... und dennoch, ich muß es Ihnen sagen: Ihr Unwille macht Sie
-nur noch reizvoller.“</p>
-
-<p>Sie war empört. Sie antwortete nicht, sie bewegte sich nicht. Sie war
-empört, und doch lauschte sie: wird er nicht weiter sprechen? Und doch
-baute sie sich schon eine goldene Brücke: bin ich nicht am Ende ein
-rechtes Kind? Da draußen in der weiten, weiten Welt mag man noch ganz
-andere Worte wagen und sagen, und niemand nimmt Anstoß daran.</p>
-
-<p>„Ich muß Sie singen hören!“ wiederholte er. „Ich muß!“</p>
-
-<p>Er wartete. Bis er sich dann plötzlich zu dem Rackower umwandte. „Herr
-von Hackentin, wissen Sie, daß Sie eigentlich recht grausam gegen Ihren
-Gast waren?“</p>
-
-<p>„Eheu!“ machte der Dicke. Er war zwar anscheinend während der letzten
-Minuten aufmerksam dem Gespräch der Herren gefolgt, in dem die Geister
-wieder aufeinander zu platzen schienen: einem Gespräch über den neuen
-Ministerpräsidenten Herrn von Bismarck-Schönhausen — aber er hatte
-dabei kein Auge von dem jungen Mädchen gewandt. Konnte er doch, wie
-Grucker immer behauptete, unter seinem Monokel „um die Ecke gucken“.</p>
-
-<p>„Eheu!“ sagte er noch einmal. „Wie meinen Sie das, mein lieber Schwarz?
-Ich bin desolat“ — und sah dabei sehr vergnügt darein.</p>
-
-<p>„Sie haben mir noch nicht dazu verholfen, das gnädige Fräulein singen
-zu hören.“</p>
-
-<p>Der Rackower schlug sich vor die Stirn. „Beim Zeus! Nein — bei Apoll
-und allen Musen! Ich bin ganz desolat. Aber wissen Sie, mein lieber
-Schwarz, ein vorsichtiger Gastfreund spielt nicht all seine Atouts
-gleich aus. Wir hatten unsere liebe Helene natürlich auf dem Programm.“
-Er sah wieder einmal um die Ecke nach der Nichte hin und nickte:
-„Nun, schöne Helene? Du wirst Tante Marie und uns doch die Freude
-machen, recht bald einmal zu uns zu kommen? Oder willst du, daß wir
-dich feierlich invitieren: <span class="antiqua">Madame la Baronne et Monsieur le Baron
-Ernest</span> usw.?<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> Ist doch sonst nicht zwischen Rohlbeck und Rackow
-Sitte gewesen.“</p>
-
-<p>Er hatte es langsam, in seinem zierlichen, leisen Hofton gesagt, und so
-gewann Helene etwas Zeit. Eine Galgenfrist, schien ihr. Zuerst hatte
-ihr ein kräftiges, trotziges Landmädel-Nein auf der Zunge gelegen. Dann
-hatte sie sagen wollen: ‚Ich komme schon, aber erst, wenn dieser Herr
-abgereist ist.‘ Nein, das ging ja nicht. Also: ‚Ich komme schon, aber
-ich singe nicht.‘ Nun sprach sie: „Ja, danke, Onkel Ernst ... gern!“
-Wurde wieder einmal rot dabei und dachte: ‚Wartet nur! Stockheiser werd
-ich sein. Heiser, wie eure Primadonnen sein sollen, wenn sie nicht
-singen wollen.‘ Und wußte dabei doch: ‚Du wirst singen ...‘</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Drittes_Kapitel">Drittes Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>Im Kreise Stellberg gab es kaum ein wirkliches Schloß. Helene Hackentin
-hatte nicht unrecht: sie waren ja alle arm wie die Kirchenmäuse,
-die Golziner, die Steckschen, die Brunowschen; gerade daß sie sich
-durchschlugen auf dem kargen Boden. Grucker hätte vielleicht bauen
-können, sprach wohl auch seit Jahrzehnten davon, war aber zu bequem
-und war ein zu guter Wirt. Fleißig und sparsam, wie sie fast alle, nur
-nicht so der Not gehorchend, mehr der Gewohnheit nach. Ein wirkliches
-Schloß gab es freilich, aber das war mehr Burg als Schloß: der riesige
-Kasten in Nugow, in dem der alte böhmische Graf wie ein halber
-Einsiedler hauste, Graf Delkowitz, Edler von Kastricz. Das war aber
-ein Fremder im Kreise, und die Ansässigen kamen selten in die uralte
-Johanniterburg, deren gewaltiger Turm wie ein Wahrzeichen vergangener
-Zeiten ins Land ragte.</p>
-
-<p>Auch das Rackower Herrenhaus war kein Schloß. Immerhin war’s ein
-stattlicher Bau, langgestreckt, einstöckig, mit ein paar in das hohe
-Dach eingefügten Mansarden und einem neueren rückwärtigen Flügel, den
-Ernst<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> Hackentin angebaut hatte, als er die hannöversche Erbtochter
-heimführte. Die Freiin von Lastrop sollte ja entsetzt gewesen sein,
-als sie mit ihren Eltern zum ersten Male nach Rackow gekommen war, um
-sich ihren zukünftigen Wohnsitz anzuschauen. Der Anbau war geradezu
-Bedingung gewesen; aber mit dem Ausbau waren Ernst Hackentin und Frau
-Marie, die Marquise, wie sie im Kreise mit gutmütigem Spott genannt
-wurde, eigentlich bis auf den heutigen Tag nicht fertig geworden.</p>
-
-<p>Daß sie nicht niedergerissen und ganz neu gebaut, hatte oft
-Verwunderung erregt. Einmal, als der alte Lastrop das Zeitliche
-gesegnet, war’s auch nahe daran gewesen. Der berühmte Landesbaurat
-Schinkel war in seinem letzten Lebensjahr in Rackow zu Gaste, und
-Ernst Hackentin sagte bisweilen: „Ja, wenn unser großer Schinkel nicht
-darüber hinweggestorben wäre.“ Aber die Mittel hatten doch wohl nicht
-gereicht. Sie saßen ja in einer brillanten Assiette, die Rackower, hieß
-es; aber sie führten einen riesigen Train, reisten viel, gingen im
-Winter zu Hofe. Manchmal lachte man im Kreise: Isaak Böhm aus Frankfurt
-oder gar der kleine Jakob Friedländer aus Zielenzig sollten plötzlich
-neben anderen illustren Gästen in Rackow gesehen worden sein. Nun —
-augenblickliche Verlegenheiten kann schließlich jeder haben. Man weiß
-das ja. Es ging auch niemand etwas an, zumal die Rackower kinderlos
-waren. Und dann: ein so liebenswürdiges Haus, so liebenswürdige Wirte
-wie sie gab es auf zwanzig Meilen in der Runde nicht. Wennschon die
-„Marquise“ bisweilen sehr herablassend sein konnte. War da jüngst
-der Amtsrat Weese auf Neu-Bukerow nobilitiert worden, ein Mann, mit
-dem der ganze Adel des Kreises seit Menschengedenken als mit einem
-Standesgenossen verkehrt hatte. Was tut die Marquise, als sie zum
-ersten Male wieder mit ihm zusammenkommt? Sie reicht ihm die Hand zum
-Kuß: „Ich freue mich unsäglich, Herr von Weese, Sie nun endlich ganz
-als einen der Unseren begrüßen zu können.“ Du lieber Himmel, der alte
-Mann hatte nachher selber herzlich darüber gelacht.<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> Böse sein konnte
-man der Marquise ja nicht. Sie war so herzensgut. Und Stil hatte sie
-doch auch in ihrer Art.</p>
-
-<p>Gastfrei war das Rackower Haus wie kein anderes im ganzen Kreise, und
-auch die Art der Gastfreundschaft hatte Stil. Hannöverschen Stil —
-englischen Stil.</p>
-
-<p>Ein paar junge Mädchen, ein paar junge Herren waren meist zu Gaste
-in Rackow; Hausherr und Hausfrau liebten die Jugend. Die Mädchen
-logierten im Anbau, die Herren oben in den Mansarden, wo jedes der
-kleinen Zimmer seinen originellen Namen hatte: da gab es ein „Pompeji“,
-so genannt nach der roten Tapete, ein „Handtuch“, weil das Zimmer
-sehr schmal und lang war, eine „Bärenhöhle“, weil hier jahrelang ein
-Leutnant von Baer während seines Sommerurlaubs gehaust hatte, und eine
-„Bleikammer“, sintemalen dieses Zimmer der lieben Sonne besonders
-ausgesetzt war. Unten im Anbau waren die Namen poetischer: es gab den
-„Pfau“, die „Nachtigall“ und das „Alpenröschen“; es gab sogar eine
-„Sehnsuchtskammer“, als das letzte Zimmer der Reihe.</p>
-
-<p>In der Sehnsuchtskammer wohnte diesmal Helene Hackentin.</p>
-
-<p>Am Tage nach dem Markt war Tante Marie nach Rohlbeck gekommen.
-Unangemeldet, auf ihrem Selbstkutschierer mit den Ponys. Hatte sich die
-liebe <span class="antiqua">petite-nièce</span> auf acht Tage ausgebeten: „Du kommst gleich
-mit mir, <span class="antiqua">mignonne</span>. Pack’ deine Siebensachen. Vergiß auch ein
-helles Fähnchen nicht. Vielleicht macht es sich, daß wir ein Tänzchen
-riskieren.“</p>
-
-<p>Der alte Rittmeister hatte ein wenig geflucht. Mama barmte: „Du bist
-recht grausam, Marie, uns das Kind zu entführen. Denkst gar nicht an
-uns Alte!“ Aber die Marquise lachte: „Es ist nur um das Gewöhnen,
-liebe Elisabeth. Ihr sollt euch dran gewöhnen, daß Helene euch früher
-oder später, besser früher als später, ganz entführt wird. Seid keine
-Egoisten. Ihr habt ja Martha, Wilhelm ist jetzt auch da — und dann
-eure Enkel. Gönnt anderen auch etwas.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span></p>
-
-<p>„Das heißt —“ begann der Rittmeister brummig. Aber er kam nicht
-weiter. Bei der Rackowerin kam man nie weiter, wenn sie sich
-vorgenommen hatte, zu persuadieren. Zudem: es war ein Axiom, daß die
-jungen Mädchen sich in Rackow bewegen lernten, sich abschliffen,
-gleichsam einen Blick in die große Welt taten. Dem widerstrebten Eltern
-nur in den seltensten Fällen.</p>
-
-<p>Die aber, die es zunächst anging, stand am unschlüssigsten. Immer
-war sie leidenschaftlich gern in Rackow gewesen. Nun stand sie und
-stand, steif und unbeholfen, und drehte an dem Schürzenzipfel wie ein
-Backfisch.</p>
-
-<p>„Vielen Dank, liebe Tante ... aber&#160;...“</p>
-
-<p>Die Marquise lachte wieder. Ihr goldiges Lachen, das das häßliche
-Gamingesicht so seltsam verschönen konnte: „Aber ... aber! Aber ich
-habe nichts anzuziehen. Nicht wahr? Mignonne, du hast deine Jugend,
-hast deine blanken Augen. Mein Herz, was willst du noch mehr! <span class="antiqua">En
-avant</span> ... <span class="antiqua">en avant</span> ... in einer Viertelstunde muß dein
-Köfferchen gepackt sein.“</p>
-
-<p>Noch einen Moment stand Helene. Dann flog sie plötzlich aus der Tür und
-die Treppe hinauf.</p>
-
-<p>Frau Marie hatte sich in den großen Lehnstuhl mit den mächtigen
-Ohrenwangen gesetzt. Das zierliche Figürchen verschwand fast in dem
-Ungeheuer, die Krinoline mußte sie gewaltsam zusammendrücken, und dabei
-bauschte sie sich erst recht unförmlich auf. Es sah eigentlich komisch
-aus. Aber die kleine Persönlichkeit beherrschte doch das ganze Zimmer.
-Sie hielt auch hier Cercle und hatte für jeden eine liebenswürdige
-Bemerkung. Der Rittmeister bekam eine Anerkennung, wie artig seine
-Hunde seien; der alten Gnädigen sagte sie ein heiteres Wort, wie
-Mignonne hübscher würde von Tag zu Tag und daß sie ganz die Augen der
-Mama hätte. Martha, die ihr eine Limonade brachte, erhielt ein Lob
-für die vortreffliche Mischung, die Mamsell in Rackow nie erzielte,
-und Wilhelm mußte über die Fortschritte des Bahnprojekts berichten.
-Dabei wurde er immer Feuer und Flamme. Sein schönes Gesicht<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> leuchtete
-auf, er zwirbelte den koketten Spitzbart mit den wohlgepflegten weißen
-Fingern — und immer hatte er die bestimmteste Zusage von Exzellenz
-Itzenplitz, die Konzession schon „in der Tasche“ ... gerade daß noch
-einige kleine Schwierigkeiten zu überwinden waren. Er stöhnte freilich
-auch immer: „Mein liebes Rohlbeck! Weib und Kind muß ich allein
-lassen ... aber was soll man tun?“ Ein klein bissel malitiös konnte
-die Marquise manchmal doch sein: „Nun, Wilhelm, Berlin ist auch ganz
-pläsierlich“, meinte sie und kicherte. Doch da sie Martha, die sie
-besonders gern hatte, nicht weh tun wollte, fügte sie gleich hinzu:
-„Leicht hast du’s allerdings nicht in Berlin, ich weiß das, Wilhelm. Es
-ist ja jetzt ein großes Wettrennen um die Bahnkonzessionen. Graf Redern
-erzählte uns davon. Aber es wird doch auch enorm verdient. Wie heißt
-doch der Mann, der die erste Geige spielt? Richtig: Stroußberg ... ein
-Jude ... natürlich. Der soll ja bei der Bahn oben in Preußen ein großes
-Vermögen machen. Wilhelm, Wilhelm ... ich seh dich schon als Millionär!
-Nun: <span class="antiqua">à tous seigneurs, tous honneurs</span>!“</p>
-
-<p>Dann kam Helene herunter. Hinauf war sie gestürmt, ganz langsam schlich
-sie nun ins Zimmer, und es klang eigen kleinlaut, als sie sagte: „Ich
-bin fertig, Tante Marie.“</p>
-
-<p>Etwas Unsicheres, Sprunghaftes lag auch jetzt noch in ihrem Wesen. Sie
-war in den beiden Tagen, die sie in Rackow war, ihrer selbst nicht froh
-geworden.</p>
-
-<p>Und es war doch so schön hier. Der Oktober meinte es diesmal besonders
-gut. Wenn der Amtmann Schmidthals, der seit einem Menschenalter Rackow
-ziemlich oder ganz selbständig verwaltete, — Graf Grucker legte,
-sobald auf die Verwaltung seitens des alten „Mistikers“ die Rede
-kam, den Akzent immer auf die erste Silbe — wenn Schmidthals bei
-der Veranda vorüberkam und die graue Kappe von dem grauen Haar zog,
-schmunzelte er jedesmal: „So ahnen Herbst haben wir noch nie gehabbt.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span></p>
-
-<p>Die Rackower waren Spätaufsteher. Onkel Ernst erhob sich erst gegen
-zehn Uhr aus seinem Riesenbett, und Tante Marie wurde überhaupt erst
-gegen Mittag sichtbar. Bis zur Mittagsstunde blieben die Gäste sich
-selber überlassen. Doch auch sie kamen in Rackow bald ins selige
-Faulenzen hinein. Helene aber war von Hause aus an frühes Aufstehen
-gewöhnt, denn der alte Rittmeister verlangte ihre Gegenwart bei seiner
-Morgensuppe, die unweigerlich aus Brotschnittchen mit heißem Wasser
-aufgebrüht bestand.</p>
-
-<p>So war sie auch hier schon gegen sieben Uhr am Frühstückstisch auf der
-Veranda.</p>
-
-<p>Gestern hatte sie den Herrlichkeiten dieses Rackower Frühstückstisches
-ganz allein gegenübergesessen: der großen silbernen Kaffeemaschine, dem
-silbernen Brotröster, den vielen kalten Platten. Allein mit Höhne, dem
-Leibdiener Onkel Ernsts, der geräuschlos seines Amtes waltete, immer
-mit einer diskreten Gönnermiene, wie man sie armen Verwandten gegenüber
-hat.</p>
-
-<p>Heut erschien, zu ihrer Überraschung, fast gleichzeitig mit ihr der
-Neuchateller: Leutnant de Merivaux von den Gardeschützen. In hohen
-Stiefeln, mit der Jagdjoppe; das frische Gesicht zartrosig, trotz
-des eben überstandenen Manövers, den kleinen Schnurrbart lustig
-aufgedreht. Lustig war das ganze Kerlchen. Kerlchen — pardon! —
-nein: der schlanke junge Herr. Aber lustig war er doch, mit seinen
-leuchtenden blauen Augen und dem gegen alle militärische Vorschrift
-kurz geschorenen schwarzen Haar, mit seinen raschen Bewegungen und dem
-leisen Radebrechen in der Sprache, von dem man nie recht wußte, war es
-echt, war es ein wenig gemacht.</p>
-
-<p>„<span class="antiqua">Bonjour</span>, gnädiges Fräulein!“ rief er gleich und streckte ihr
-beide Hände entgegen. „Ein so schöner Morgen, ein wonniger Morgen.
-Wie kann man nur so lange liegen in den Federn, wenn die Sonne so
-wunderschön scheint und Fräulein von ’ackentin auf der Veranda sitzt.
-Oh, was sind das hier für faule Menschen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span></p>
-
-<p>Dann saß er auch schon. „Mein lieber ’öhne, eine Tasse Mokka. Aber
-recht stark. So ... und recht viel Milch. Danke: Milch, keine Sahne.
-Mein gnädiges Fräulein, und Sie schmieren mir ein Brot. Ah ... hier
-bekommt man doch richtiges weißes Brot ... Semmel ... nicht immer
-<span class="antiqua">pain bis</span>. Ich kann nicht vertragen dies schwarze Brot. Ich hab
-so ein gar sehr schwachen Magen ... ein Magen wie ein schwächliches
-Kind.“ Wobei er sich eine Scheibe Schinken auf den Teller legte, die
-für zwei starke Männer ausgereicht hätte. „<span class="antiqua">Grand merci</span>, gnädiges
-Fräulein. <span class="antiqua">Je vous en fais mes remerciments!</span> Sie sind sehr gütig.
-Noch ein Ei, <span class="antiqua">mon chèr</span> ’öhne ... bitte sehr&#160;...“</p>
-
-<p>Man konnte ihm nicht böse sein. Eigentlich wäre sie lieber allein
-geblieben wie gestern, diese einzig ruhige Stunde in dem geräuschvollen
-Rackower Leben. Aber mit den Wölfen mußte man nun einmal heulen.</p>
-
-<p>Er trank seinen Kaffee in ganz kleinen Schlückchen, zerpflückte sein
-geliebtes <span class="antiqua">pain blanc</span>, ließ seine blauen Augen leuchten, erzählte
-von Berlin und von seiner Kaserne, ganz draußen, weit draußen, fast
-bei Treptow, wo „sich die Fuchs sagen gut’ Nacht“. Und dann fragte
-er plötzlich: „Warum ’aben Sie gestern nicht wollen singen, gnädiges
-Fräulein! Wo wir doch alle so sehr gebeten ’aben.“</p>
-
-<p>„Ich war nicht disponiert, Herr von Merivaux.“</p>
-
-<p>„Ah! Das haben Sie gestern auch gesagt. Aber es ist doch nicht wahr&#160;...“</p>
-
-<p>„Bitte sehr, Herr von Merivaux!“</p>
-
-<p>„Pardon, gnädiges Fräulein. Aber wenn eine Sängerin nicht disponiert
-ist, hört man es an ihrer Sprache. Sie sind doch nicht heiser. Werden
-Sie heut singen?“</p>
-
-<p>„Ich weiß es nicht. Ich glaube kaum.“</p>
-
-<p>„Ich ’abe nicht vergessen, wie Sie ’aben gesungen auf Soldelzig, bei
-Comte Grucker.“</p>
-
-<p>„Verstehen Sie denn etwas von Gesang?“</p>
-
-<p>„<span class="antiqua">Si peu que rien!</span> Leider. Aber ich lieb’ die Musik über alles,
-und besonders hab’ ich Sie hören gern singen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span></p>
-
-<p>Helene mußte lachen. Es kam zu komisch heraus, wie er das sagte. Und
-dabei machte er so eigne Augen. Fast verliebte Augen. Gut, daß man
-wußte, man brauchte ihn nicht seriös zu nehmen.</p>
-
-<p>„Etwa so gern, wie Sie nach einem guten Diner eine Zigarre rauchen.
-Nicht wahr, Herr von Merivaux.“</p>
-
-<p>„Ja! Ganz gewiß. Ungefähr so. Ah, eine gute Zigarre. <span class="antiqua">Mon cher</span>
-’öhne ... Sie wissen gewiß, wo der Herr Baron hat stehen seine guten
-Zigarren. Sie sehen ganz aus, als ob Sie auch rauchten gern eine gute
-Zigarre.“ Er gab dem Diener einen kleinen freundschaftlichen Klaps.
-„Also wie eine sehr, sehr gute Zigarre, gnädiges Fräulein. <span class="antiqua">Mais, mon
-dieu</span>, ... Sie dürfen das nicht übelnehmen.“</p>
-
-<p>„Ich denke gar nicht daran. Ich fühle mich sogar sehr geehrt!“</p>
-
-<p>Höhne hatte inzwischen wirklich eine Kiste Importen gebracht. Merivaux
-zündete sich umständlich eine Zigarre an, und tat liebevoll den ersten
-Zug. „Bei einer guten Zigarre kommen immer gute Gedanken. Bei Ihrem
-Gesang, gnädiges Fräulein, denk ich, kann man auch nur ’aben gute
-Gedanken. Als Sie in Sodelzig haben gesungen das Lied von der Baronin
-Rothschild — ‚<span class="antiqua">si vous n’avez rien à me dire</span>‘ — hab ich immerzu
-denken müssen an meine liebe Heimat, an unsere schönen Berge, an den
-blauen See ... ja ... und an meine gute <span class="antiqua">maman</span>&#160;...“</p>
-
-<p>Er war aufgestanden. Er blies schnell hintereinander ein paar
-kunstvolle Ringe und lachte: der erste Ring hatte sich zur Decke
-erhoben, war langsam gesunken und lag nun, für einen Augenblick, gleich
-einem Kränzlein just um Helenens weißes Morgenhäubchen.</p>
-
-<p>Merivaux lachte, sah auf sie herab, und sie wurde böse: „Was lachen Sie
-eigentlich, Herr von Merivaux! Über mich?“</p>
-
-<p>Da sagte er: „Schade ... nämlich, er ist jetzt fort. Ja so,
-gnädiges Fräulein, Sie wissen ja nichts davon. Ich hatte Ihnen
-eine <span class="antiqua">auréole</span> aufgesetzt ... aus Tabaksrauch<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> ... und ist
-ein Sonnenstrahl dazu gekommen. Wenn Sie wüßten, wie scharmant das
-ausgesehen ’at!“</p>
-
-<p>Unwillkürlich faßte sie nach dem Haar.</p>
-
-<p>Aber er schüttelte den Kopf. „Nein, nun ist das fort: <span class="antiqua">auréole</span>
-und Sonnenstrahl. Aber ... scharmant sieht das immer noch aus ... das&#160;...“</p>
-
-<p>Ein wenig verwirrt war sie doch, ein wenig verlegen. „Was Sie immer für
-törichtes Zeug reden, Herr von Merivaux!“</p>
-
-<p>„Ich? Aber nein doch ... Sind Sie fertig mit dem Dejeuner, gnädiges
-Fräulein? Wollen wir ein wenig in den Garten?“</p>
-
-<p>Sie war schon aufgestanden und nickte.</p>
-
-<p>Langsam schritten sie die kleine Treppe hinunter.</p>
-
-<p>Frau Marie war eine Gartenkünstlerin. Sie hatte eine Wüstenei
-vorgefunden und ein kleines Paradies geschaffen. Vor dem Hause lag
-ein großes Rosenparterre; gutgehaltene, kurzgeschorene, manneshohe
-Taxushecken schlossen es seitlich ab; breite Einschnitte, die gewölbten
-grünen Toren glichen, führten von hier in den eigentlichen Park, der
-sich weit hinzog und allmählich in Wiesen und Waldpartien überging.
-Nicht so ausgedehnt war das Ganze, wie der Park von Muskau, den der
-Graf Pückler angelegt hatte, aber einzelne Teile konnten an Schönheit
-doch mit dem Meisterwerk des alten Semilasso wetteifern.</p>
-
-<p>Man war stolz im ganzen Kreise auf den Park von Rackow, und auch Helene
-war es. Sie führte Merivaux von einem Ausblick zum andern; an dem
-Borkenhäuschen vorüber, in dem im Hochsommer meist der Kaffee genommen
-wurde, zum schilfumstandenen Teich; von dort zur Höhe, von der man die
-schönste Aussicht auf das Dorf Rackow hatte und darüber hinweg zu dem
-Hügelzuge, an dem Rohlbeck lag.</p>
-
-<p>„Da, sehen Sie, Herr von Merivaux. Da bin ich zu Hause&#160;...“</p>
-
-<p>Indem sie das sagte, fühlte sie: es war wirklich schön. Der
-Herbstzauber ruhte auf dem Landschaftsbilde; die<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Sonne malte ihre
-farbigen Reflexe; das Dörfchen unten mit dem hohen altersgrauen
-Kirchturm war wie eingebettet in Grün, Rot und Gold; weite Felder
-dann, und dahinter der Höhenzug mit den festgeschlossenen geradlinigen
-dunklen Kieferforsten.</p>
-
-<p>Aufmerksam schaute der junge Offizier in die Weite. Eine Weile schwieg
-er. Aber dann begann er von seiner Heimat zu sprechen, von dem ewig
-blauen See, von ragenden Felsen, von schneegekrönten Häuptern. Er
-sprach von den Weinhängen, auf denen jetzt die feurigen Trauben
-reiften, von der üppigen Vegetation am Gestade des Neuchateller
-Sees mit den Wäldern von echten Kastanien, von den Magnolien und
-Mandelbäumen im Garten von Schloß Merivaux.</p>
-
-<p>Er konnte also auch ernst sprechen. Sieh einmal an. Ernst und schön.
-Sie mußte das zugeben. Aber es reizte sie. Sie, die sich immer in
-die Weite sehnte, lehnte sich plötzlich dagegen auf, daß man ihr die
-Schönheit der Fremde rühmte, wo sie die Schönheit der eigenen Heimat
-gelobt wissen wollte.</p>
-
-<p>„Warum sagen Sie mir das alles?“ fragte sie scharf dazwischen.</p>
-
-<p>„Weil ich wohl möchte, daß Sie es kennen lernten, gnädiges Fräulein.“</p>
-
-<p>„So finden Sie es schöner ... schöner als bei uns?“</p>
-
-<p>Er lächelte überlegen. „Das hier ist wie eine Oase. Aber sonst, <span class="antiqua">mon
-dieu</span> ... nicht so böse Augen machen, bitte ... sonst ist die Mark
-Brandenbourg ein armes Land.“</p>
-
-<p>„Warum sind Sie denn aber hergekommen?“</p>
-
-<p>„Oh ... warum? Wie können Sie fragen? Weil wir sind Royalisten. Man hat
-uns geknechtet daheim, die Demagogen haben gesiegt. Aber wir ’alten
-treu zu unserem Fürsten, zu unserem König. Wir wollen ihm weiterdienen.
-<span class="antiqua">Vive le roi!</span>“</p>
-
-<p>Sie waren weitergegangen, den breiten Weg zurück. Jetzt blieb Merivaux
-plötzlich stehen. Er griff mit einer<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> seiner heftigen Bewegungen in die
-Fliederbüsche, knickte ein paar Zweiglein. „Mein Vater haben sie in
-<span class="antiqua">prison</span> geworfen, die Revolutionäre, als der Aufstand kam. Dann
-hat uns Preußen im Stich gelassen ... Politik ... Politik ... was weiß
-ich. Aber wir bleiben treu ... treu bis zum Tod. Verstehen Sie das,
-gnädiges Fräulein?“</p>
-
-<p>Helene nickte. Sie fühlte: das war jetzt nicht mehr der kleine lustige
-Leutnant, der zu ihr sprach. Es war ein Mann, der einer Überzeugung
-diente. Es stieg heiß in ihr auf. Sie begriff vielleicht nicht ganz.
-Aber sie empfand: ein Mann, der seine schöne Heimat verläßt, die er
-über alles liebt, um in der Fremde dem Herrscher mit Blut und Leben zu
-dienen, dem die Vasallentreue gebührte! Alles um der Treue willen!</p>
-
-<p>Wieder gingen sie ein Stück weiter, schweigend nun.</p>
-
-<p>Da kam ihnen bei der Wegbiegung Herr Schwarz entgegen. Im langen
-braunen Rock, auf dem Kopf ein winziges Hütchen, in der Hand einen
-leichten Stock mit goldener Krücke, um den hohen Hemdkragen ein
-seidenes Cachenez.</p>
-
-<p>Helene sah ihn — und mit einem Male fühlte sie, jäh erschreckend, wie
-plötzlich all die Sympathie für den jungen, frischen Menschen neben
-ihr verblich, wie sich all ihre Gedanken widerstrebend dem Sänger
-zuwandten. Dabei trotzte es in ihr auf: ich will nichts von ihm wissen,
-ich will nicht — will nicht! Und sie straffte sich, setzte ihre
-hochmütigste Miene auf.</p>
-
-<p>Herr Schwarz ignorierte beides: die kühle Gleichgültigkeit in dem
-schönen Mädchengesicht und Abwehr und Verdruß in den Zügen des jungen
-Offiziers. Der hatte sich schnell eine Gerte aus dem Busch gebrochen
-und schwippte damit durch die Luft, schlug sich an die Stiefelschäfte.</p>
-
-<p>Vollständig fast ignorierte Herr Schwarz den Neuchateller; gerade
-nur die notwendigste Höflichkeit lag in seinem Gruß. Er wandte sich
-ausschließlich an Helene.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p>
-
-<p>„Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen? Aber was frage ich! Ich
-bin ja nicht mit Blindheit geschlagen.“</p>
-
-<p>„Fragen Sie doch lieber. Oder soll ich Ihnen sagen: Fräulein von
-Hackentin ’at mir gerad eben gesagt, daß sie ist stock’eiser.
-Stock’eiser, Monsieur Schwarz&#160;—“</p>
-
-<p>Der Sänger lachte. „Dann wird das gnädige Fräulein einen Scherz gemacht
-haben. Als ich vor einer Stunde etwa mein Fenster öffnete, hörte ich
-ein paar halblaute Töne, eine Kadenz nur ... unter mir mußte man auch
-das Fenster aufgetan haben — nun, kurz und gut, ich wußte sofort, daß
-diese Stimme nur die von Fräulein von Hackentin sein konnte. Ich wußte,
-heut ist das gnädige Fräulein nicht mehr indisponiert, heut wird sie
-singen.“</p>
-
-<p>„Sie wird nicht singen —“ sagte Helene und setzte den Kopf noch
-gerader auf den Nacken.</p>
-
-<p>Er nahm seinen Stock zwischen beide Hände vor die Brust, daß die
-goldene Krücke unter das Kinn zu liegen kam, lächelte wieder, überlegen
-und fast ein wenig ironisch: „Sie wird doch singen, wenn der Kollege
-sehr bittet.“</p>
-
-<p>„Der Kollege? Welcher Kollege, Herr Schwarz?“</p>
-
-<p>„Nur meine Wenigkeit, gnädiges Fräulein. Sie müssen das Wort schon mit
-in den Kauf nehmen: wir huldigen ja derselben Kunst, der göttlichen
-...“ Plötzlich brach er ab. „Ist das nicht übrigens ein wonniger
-Oktobermorgen? So warm wie im Hochsommer.“</p>
-
-<p>Merivaux machte eine Bewegung mit dem Zeigefinger um den Hals: „Aber
-Sie ’aben gepummelt das Cachenez um die Kehle.“</p>
-
-<p>„Vorsicht ist zu allen guten Dingen nutze, Herr Leutnant. Diese ‚Kehle‘
-hier aber ist ein gut Ding. Nicht für mich nur, sondern für die Welt,
-in der man den <span class="antiqua">bel canto</span> zu schätzen weiß.“</p>
-
-<p>Sie waren weitergegangen und standen vor dem kleinen chinesischen
-Pavillon, der die Fernsicht nach der anderen Seite bot: nicht auf
-Rohlbeck, sondern nach Stellberg hin. Fast das gleiche Bild, nur daß
-das Dorf im Vordergrunde fehlte. Und da sagte Schwarz: „Wie schön doch
-diese Mark<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> Brandenburg ist. Ich hätte es nie für möglich gehalten. Man
-hatte mir so viel erzählt von ihrem öden Sande, daß ich in eine Wüste
-zu kommen fürchtete. Aber nun kann ich mich gar nicht satt sehen an
-diesen weiten Blicken auf die geraden schlichten Linien der Landschaft.
-Ich kenne doch ein großes Stück Welt, kenne romantischere, äußerlich
-reizvollere Gegenden. So gepackt aber hat’s mich selten wie hier. Wie
-das alles zusammenstimmt: Landschaft und Menschen. Alles so offen, so
-einfach, ohne Kompliziertheit, immer zum Herzen sprechend. Sprechend?
-Nein, klingend, tönend. Man muß es lieben, beides, Land und Leute.“</p>
-
-<p>Helene schwieg, trotzdem er zu ihr sprach. Nur zu ihr. Sie wollte nicht
-antworten. Aber hindern konnte sie doch nicht, daß sich die Worte
-wieder in ihre Seele schmeichelten, die Worte und der Klang dieser
-Stimme.</p>
-
-<p>„Ist doch ein armselig Land!“ sagte Merivaux dazwischen. Wie aus Trotz
-heraus.</p>
-
-<p>„Wie Sie das nur behaupten können! Es gibt gewiß reichere Erdenflecken.
-Länder, in denen wirklich Milch und Honig fließt, Gegenden, die auch
-auf das äußere Auge stärker wirken. Die Mark spricht, für mich, zur
-Seele. Und nun die Menschen! Merkwürdige Menschen. Schlendere ich
-gestern abend durch das Dorf. Ganz allein. An einem Zaun steht ein
-alter Bauer, ich fang ein Gespräch mit ihm an. Wortkarg gibt er Rede
-und Antwort. Und dann hat er — ich sprach vom Wetter — fast genau
-Hamlets Wort: es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde&#160;...“</p>
-
-<p>Merivaux schlug sich wieder mit seiner Gerte auf den Stiefelschaft, daß
-es klatschte: „Da ’aben Sie dazu gedichtert, Monsieur Schwarz. Einfach
-hineingedichtert. Der Bauer ist Bauer, und Bauer bleibt Bauer.“</p>
-
-<p>Der Sänger zog die Achseln hoch und sah zu Helene hinüber, als
-erwartete er einen Einwurf, eine Parteinahme für sich. Aber die blieb
-aus. Ihre Gedanken waren eine andere Straße gezogen. In ihr klangen nur
-seine Worte über das Landschaftsbild. Zuerst hatte sie sich darüber<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span>
-gefreut, gerade weil sie im Gegensatz zu Merivaux’ Urteil standen. Nun
-schienen sie ihr doch ein wenig phrasenhaft, ein wenig gekünstelt. Was
-hatte der Neuchateller eben gesagt? Hineingedichtert&#160;...</p>
-
-<p>Da sagte Schwarz, und sie horchte wieder auf seine weiche,
-einschmeichelnde Stimme: „Wir wollen nicht streiten. Der Morgen ist
-wirklich zu schön dazu. Kommen wir nicht auf diesem Wege zur Fasanerie,
-gnädiges Fräulein?“</p>
-
-<p>Sie nickte, und sie gingen weiter.</p>
-
-<p>Erst zu dreien, dann blieb Merivaux ein paar Schritte zurück. Einmal
-sah sie sich nach ihm um; flüchtig, eigentlich nur aus Höflichkeit,
-als Verwandte des Hauses, dessen Gast auch er war. Aber er stand an
-den Büschen, hatte die Zweige auseinandergebogen, spähte vielleicht
-nach einem Vogelnest. Das mochte ihn mehr interessieren als alles, was
-der Russe — immer noch nannte sie ihn in Gedanken so — erzählte. Der
-hatte schnell wieder den Übergang gefunden vom märkischen Bauer zur
-großen Welt. Aus der Enge in die Weite, schien es ihr. Er sprach von
-Petersburg, von Paris, von Wien, vom geselligen Leben, vom Theater. Es
-war ihr so fremd, es war ihr so neu — fast alles, was er sagte. Man
-mochte wollen oder nicht: man mußte lauschen. Auch dem, was er über
-sich einfließen ließ: von dem unwiderstehlichen Drang, der ihn, den
-Sohn eines Bergwerkdirektors, zur Kunst getrieben hätte; wie er schon
-auf dem Gymnasium durch seine Stimme Aufsehen erregt, welche Kämpfe er
-zu durchringen gehabt, wie dann das Glück über ihn gekommen wäre. Und
-nun sei er auf der Höhe&#160;—</p>
-
-<p>„Auf der Höhe ... ja ... und doch nimmer befriedigt&#160;...“</p>
-
-<p>Es klang so weich, es klang so schmerzlich: nimmer befriedigt.</p>
-
-<p>Ein Geständnis war es. Es schlug eine Saite in ihrer eigenen Seele an.
-Sie <em class="gesperrt">mußte</em> fragen: „Nimmer befriedigt? Sie? Und warum?“ Ganz
-zögernd nur, scheu kam das letzte Wort.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p>
-
-<p>„Ja ... warum? Wer kann das eigentlich sagen? Da ist der heiße Wunsch,
-immer Reiferes, immer Vollkommneres zu leisten, das große Streben, das
-den Künstler bis zum letzten Atemzuge nicht verlassen darf. Und daneben
-steht die unendliche Leere.“</p>
-
-<p>Es zwang sie, ihn anzusehen. Fast schien es, als glänzten seine Augen
-feucht.</p>
-
-<p>Sie schüttelte zaghaft den Kopf. „Die Leere?“</p>
-
-<p>„So ist es, mein gnädiges Fräulein. Nicht anders. Streben und
-Beifallslohn ... wunderbar schön sind sie, bezaubernd, berauschend.
-Aber der Rausch verfliegt, der Zauber erlischt. Es bleibt nur der
-graue Alltag, in den keine Sonne hineinleuchtet. Manchmal glaubt man
-freilich, einen freundlichen Sonnenstrahl festhalten zu können ... aber&#160;...“</p>
-
-<p>Er brach ab.</p>
-
-<p>Schweigend gingen sie noch ein paar Schritte weiter, blieben dann
-stehen. Helene war’s, als stockte ihr der Atem.</p>
-
-<p>Da fragte er: „Werden Sie heut singen?“</p>
-
-<p>Sie neigte den Kopf, ohne ein Wort. Aber es war doch eine Bejahung.</p>
-
-<p>Und dann war mit einem Male Merivaux neben ihnen und noch ein anderer,
-den er unterwegs aufgelesen haben mußte.</p>
-
-<p>Merivaux hatte wieder ein fröhliches Lachen, das ihr geradezu weh tat
-in diesem Augenblick. „Also, Monsieur Schwarz, also hier ’ab ich einen
-ganz Sachverständigen. Also, Monsieur Smithals, also was ’alten Sie von
-die märkischen Bauer?“</p>
-
-<p>Worauf der stämmige Alte auch lachte: „Unse Pauern? Verfluchtigte
-Sakarmenter sind’s, Herr Leutnant.“</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p>Helene war unter den Fröhlichen sehr still gewesen.</p>
-
-<p>Man war bei Tisch immer fröhlich in Rackow. Die Tafelrunde hatte
-hier ihre besondere Weihe. Onkel Ernst<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> war ein Schlemmer. Er nannte
-sich einen Gourmet, aber er war beides: Gourmet und Gourmand; er aß
-möglichst erlesen und aß — wie ein Scheunendrescher. Wenn er am
-eigenen Tisch vor seinem berühmten ovalen Ausschnitt präsidierte, in
-den sein Bäuchelchen gerade hineinpaßte, glänzte sein Gesicht vor
-Behagen und Wonne: „Nun, Mariechen, was gibt’s denn heut?“ fragte
-er noch vor der Suppe, obwohl er das Menü schon vorher mit Monsieur
-Bombourdan, dem Chef, eingehend erwogen hatte. Und Tante Marie, die
-selber aß wie ein Piepmatz, aber noch eine weit feinere Zunge hatte als
-der Rackower, lächelte gnädig: „Du wirst schon zufrieden sein.“ Dann
-sah Onkel Ernst regelmäßig unter seinem Monokel „um die Ecke“, musterte
-der Reihe nach seine Gäste und freute sich, wenn er auch bei ihnen
-einiges Verständnis erhoffen konnte.</p>
-
-<p>Heut mochte das angehen. Die Rohlbecker waren heraufgekommen. Die
-Rohlbecker Damen — mit denen war zwar in bezug auf kulinarische
-Genüsse nicht viel anzufangen; der alte Rittmeister würdigte eigentlich
-nur eine Delikatesse, im Juni den Matjeshering, von dem er sich
-regelmäßig einmal im Jahr ein kleines Tönnchen aus Hamburg kommen ließ.
-Aber Wilhelm Hackentin hatte sich in Berlin neuerdings zu einem kleinen
-Schlecker ausgebildet, der eine Holsteiner Auster von einer Native mit
-geschlossenen Augen zu unterscheiden wußte. Der lustige Merivaux kannte
-sich auch aus; französisches Blut! Neulich hatte der davon gesprochen,
-daß man Hammelkoteletten eigentlich nur in einer Pfanne braten sollte,
-die mit einer Zwiebel ganz, ganz leicht ausgestrichen wäre — „grad
-nur ein ’auch“. Nicht übel. Und Alfred Schwarz war geradezu ein Mann
-nach Onkel Ernsts Herzen. Das Bürschlein hatte schon in Ems eine Zunge
-bewiesen, die der Nachbarschaft seiner berühmten Stimmbänder nichts
-nachgab. Eine Bordeauxzunge, die Lage und Jahrgang geradezu erstaunlich
-zu beurteilen wußte, im Handumdrehen, und die auch beim Champagner
-nicht versagte. Petersburger Schule, so lächerlich das war. Das Volk
-soff Wuttki,<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> Wuttki und nochmals Wuttki, aber dafür aßen und tranken
-die oberen Zehntausend desto besser.</p>
-
-<p>Man war wie immer sehr fröhlich am Rackower Tisch.</p>
-
-<p>Nicht laut indessen. Selbst die heitersten Scherzworte flogen in
-gedämpftem Ton herüber und hinüber. Gerade, daß die kleine, mollig
-runde Grete Waldegg, die Tochter vom Stockschen Oberstleutnant,
-manchmal aufkicherte, wenn ihr Tischherr, der rote Fritze Hackentin,
-ein bissel mit ihr zu schäkern versuchte.</p>
-
-<p>Helene war unter den Fröhlichen sehr still.</p>
-
-<p>Merivaux hatte sie geführt und gab sich umsonst redlichste Mühe, ein
-Lächeln auf dem heut so eigen ernsten Gesicht heraufzulocken. Auf ihrer
-anderen Seite saß ihr Bruder Wilhelm. Der wußte, so gesprächig er
-war, auch nichts mit ihr anzufangen. Sie saß mit gesenkten Augen und
-berührte die Speisen kaum. Nur ein Glas roten Champagners, Spezialität
-des Rackower Kellers, Marke Ruinart &amp; Cie. in Reims — trank sie hastig
-leer.</p>
-
-<p>Ihr gegenüber hatte, zwischen Martha Hackentin und Tante Marie, der
-Russe seinen Platz.</p>
-
-<p>Manchmal, auf den Bruchteil einer Sekunde, sah Helene zu ihm hinüber.
-Wie unter einem Zwang. So lebhaft er sich unterhielt: jedesmal trafen
-sich doch ihre Blicke. Und immer senkte Helene, erschrocken, die Augen
-wieder auf ihren Teller.</p>
-
-<p>Der Kaffee wurde im Damast-Salon genommen. Nicht um den großen
-runden Tisch, wie in Rohlbeck und in den anderen Gutshäusern, wo der
-Nachmittagskaffee mit „Stippe“ eine besondere Rolle spielte. Frau
-Marie wußte in ihrem roten Salon die Gäste unaufdringlich in einzelne
-Gruppen zu gliedern, Altersklassen und Interessensphären geschickt
-zusammenzuschieben.</p>
-
-<p>Auch ihr Salon hatte Stil. An den damastbespannten Wänden ein paar
-gute Bilder, ein Aquarell von Hildebrand mit aller Farbenpracht der
-Tropen, ein treffliches Porträt von Franz Krüger, das Onkel Ernst noch
-in seiner Jugend<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> Maienblüte, als schlanken Jüngling, darstellte,
-ein großer Stich nach Guido Reni. Zwischen den Möbeln, wo es irgend
-anging, Blattpflanzen und blühende Blumen, die der Gärtner täglich
-erneuern mußte, und neben dem Kamin eine ziemlich große Voliere,
-hinter deren vergoldeten Stäben ein Dutzend winzig kleiner Tropenvögel
-das kurze Leben verträumte. Das kurze Leben: denn diese bunten
-Kinder einer südlicheren Sonne starben dahin wie die Fliegen, trotz
-der liebevollsten Pflege, und der Berliner Händler mußte alle paar
-Wochen Nachschub senden. War Tante Marie aber besonders in Stimmung,
-so öffnete sie die Tür der Voliere, lockte die Tierchen heraus, bis
-sie frei im Salon umherflatterten. Es gab dann immer lautes Jubeln,
-viel „Ahs“ und „Ohs“. Nur dem alten Rittmeister war die „Unzucht“
-ein Greuel. Er huldigte Frau Marie mit einem Respekt, in dem sich
-chevalereskes Wesen und derbes Landjunkertum eigen mischten. Aber
-ihre Behandlung der Tropenfremdlinge nannte er, dem sonst jede
-Humanitätsduselei weltenfern lag, Tierquälerei.</p>
-
-<p>Unter dem Stich nach Guido Reni stand der wunderschöne Bechsteinflügel
-in gläsernen Untersätzen auf dem dunkelroten Teppich.</p>
-
-<p>Helene und die mollig runde Grete Waldegg waren von der Hausfrau an dem
-Tischchen beschäftigt worden, auf dem die silberne Kaffeemaschine mit
-all ihrem Zubehör prunkte. Das war in Rackow immer das Amt der jungen
-Mädchen: sie hatten den Mokka zu bereiten, Herrn Höhne zu assistieren,
-den älteren Damen persönlich das Meißener Schälchen mit einem artigen
-Knicks zu überreichen. Tante Marie sah dem gern zu, durch die scharfen
-Gläser ihrer langstieligen Lorgnette, und manchmal gab’s nachher eine
-kleine Instruktionsstunde: „Cherie, so faßt man aber eine Tasse nicht
-an“ ... „Mignonne, vor einer Greisin könntest du dich wirklich ein
-wenig tiefer beugen“ ... „Mein liebes Kind, man macht bei solcher
-Gelegenheit kein <span class="antiqua">air moussade</span> ... lächeln mußt du, liebenswürdig
-lächeln&#160;...“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p>
-
-<p>Ihr eigenes kleines spitzes Gamingesicht hatte ja meist auch solch ein
-liebenswürdiges, komplisantes Lächeln. Auch jetzt, wo sie — nachdem
-der Kaffee genommen war — einen Blick der Aufforderung zu Herrn
-Schwarz hinübersandte. Der stand an der Tür zur Bibliothek, der einzige
-Gast in Frack und weißer Battistbinde, mit ein paar Orden im Knopfloch,
-das Täßchen noch in der Hand. Ziemlich vereinsamt. Aber er zeigte es
-nicht, daß er sich vereinsamt fühlte. Seine Blicke waren all die Zeit
-im Zimmer umhergewandert, um schließlich immer wieder auf Helenens
-rostbraunem Haar, das in hundert winzigen Löckchen sich gegen den
-glatten Scheitel sträubte, haften zu bleiben.</p>
-
-<p>Er verstand den Blick der Hausherrin sofort. Vielleicht hatte er darauf
-gewartet. Ganz leicht verbeugte er sich, setzte die Schale beiseite,
-ging auf den Flügel zu, öffnete die Klaviatur. Höhne eilte diensteifrig
-herbei, schob den Stuhl zurecht.</p>
-
-<p>Helene hatte sich mit Molly und Bruder Fritz ins Schmollwinkelchen
-neben der Voliere geflüchtet. Ganz tief zurückgelehnt saß sie, hatte
-die Hände im Schoß verschränkt. Und um ihre roten Lippen spielte ein
-etwas spöttischer Zug. Sie fand, daß der Russe keine gute Figur machte.
-Es war immer wie eine Pose; sein Stehen an der Tür, sein gleitendes
-Schreiten, die Art, wie er jetzt am Flügel Platz nahm, einen Moment
-nachzusinnen schien. Eine kleine Schadenfreude war in ihr und doch auch
-eine große Erwartung.</p>
-
-<p>Doch nun klangen die ersten Töne auf. Schwarz schlug ein paar Akkorde
-an, dann setzte er ein.</p>
-
-<p>Er sang die große Arie aus „Zar und Zimmermann“: „Einst spielt ich mit
-Zepter und Krone und Stern&#160;...“</p>
-
-<p>Es wurde still im Raum.</p>
-
-<p>Der spöttelnde Zug erlosch in Helenens Gesicht. Es spannte sich. Sie
-richtete sich auf, und dann beugte sich ihr schlanker Körper mehr und
-mehr nach vorn. Und die Hände hoben sich aus dem Schoß, preßten sich
-gegen die Brust, eng verschlungen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span></p>
-
-<p>Großer Gott ... war das denn möglich? Gab es das? Solch eine Stimme!
-Solchen Wohlklang, solche Kraft ... und solche Kunst! Eine Himmelsgabe,
-köstlich und wunderbar, gemeistert in edelster Schule! Ein Vortrag, der
-aus tiefstem Empfinden kommen mußte, der zu dem Herzen sprach, daß es
-jubeln mußte. Nein, nicht jubeln: stumm lauschen, stumm genießen, in
-Demut genießen!</p>
-
-<p>Gleich Perlen auf Goldschnur gereiht, so war es, Ton auf Ton. Klar,
-rein ... erhaben ... groß ... herrlich!</p>
-
-<p>Sie dachte nur: der erste wahrhafte Künstler, den du hörst. Welch eine
-Gnade&#160;...</p>
-
-<p>Der letzte Ton verklang.</p>
-
-<p>Der Beifall brach los.</p>
-
-<p>Sie hörte ihn kaum. Sie sah nicht, wie Vater klatschte, wie selbst die
-stille Martha die Hände rührte. Sah nicht, wie Ernst Hackentin sein
-Bäuchlein trommelte; nicht, wie der Garde-Schütze, der neben Wilhelm
-hinter dem Stuhl der Mutter stand, die Hände hob, um sie dann gleich
-sinken zu lassen. Sah auch nicht, wie Tante Marie quer durch den Saal
-schwebte, trippelnd, raschelnd und lächelnd, am Flügel stehenblieb, dem
-Sänger zuflüsterte.</p>
-
-<p>Tief in Träumen befangen saß Helene. In Träumen, die vor ihr die
-Pforten einer neuen Welt weit auftaten&#160;...</p>
-
-<p>Dann horchte sie doch auf, erschreckt zuerst.</p>
-
-<p>Von neuem hob es an. Sie fühlte sogleich, daß eine andere Hand den
-Flügel meisterte. Als sie den Blick hob, sah sie, daß Tante Marie vor
-dem Instrument saß, daß der Russe neben ihr stand.</p>
-
-<p>„Letzte Rose“ sang er.</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Letzte Rose ... o wie einsam magst du hier verblühen&#160;...</div>
- <div class="verse indent0">Deine andern freundlichen schönen Schwestern sind ja längst, ja längst dahin ...“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Es war anders als vorhin. Vielleicht war es noch schöner. Seine Stimme
-klang gleich kräftig, aber weicher, einschmeichelnder. Wie ein ewiges
-Locken war es, ein süßes, verführerisches Bitten, Flehen, Werben&#160;...</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p>
-
-<p>Wieder saß sie weit vornübergebeugt, die Hände gegen die hochatmende
-Brust gepreßt. Und nun die Augen auf ihn gerichtet. Sie sah nur
-sein Profil, die scharf geschnittenen Linien des schönen Gesichts.
-Gleich einer Silhouette hob sich das ab von dem Hintergrund der roten
-Damasttapete, hell beleuchtet von den vielen Kerzen des Kronleuchters.
-Die kleine Gestalt von Tante Marie war nur wie ein helles Fleckchen vor
-dem Flügel. Über ihr Köpfchen blickte er hinweg auf die Notenblätter.
-Zwei — dreimal griff seine Hand nach vorn, um sie zu wenden.</p>
-
-<p>Dann plötzlich, ganz zuletzt, wandte er den Kopf. Sein Blick streifte
-durch den Raum, wie suchend, blieb auf Helene haften. Ein Lächeln kam
-zu ihr hinüber: war’s recht so? Ein siegesgewisses Lächeln: nicht wahr
-... es ist schön gewesen!</p>
-
-<p>Noch eine glänzende Perlenkette von Tönen, sieghaft wie jenes Lächeln,
-mühelos quellend wie im Triumph des großen Könnens. Und er schwieg.</p>
-
-<p>Wieder der starke Beifall. Ganz leicht neigte er den Kopf zum Dank.
-Vater, Wilhelm waren schon neben ihm, schüttelten ihm die Hand, Onkel
-Ernst hob sich aus seinem Sorgenstuhl, rollte sich zum Flügel. Tante
-Marie hatte den Drehsessel umgewendet, lachte zu ihm in die Höhe.</p>
-
-<p>Aber plötzlich löste er sich aus der Plaudergruppe. Mit raschen
-Schritten ging er quer durch das Zimmer, blieb vor Helene stehen und
-bat, ehe sie noch recht zur Besinnung kommen konnte: „Jetzt werden Sie
-singen, gnädiges Fräulein!“ Bat — und es war doch fast wie ein Befehl.
-Sie schrak heftig zusammen, aber sie stand auf. Schüttelte den Kopf,
-hob die Hände zur Abwehr. So stark war sie erschrocken, daß sie nicht
-sprechen konnte. Nicht einmal das eine: ‚Jetzt — nimmermehr.‘</p>
-
-<p>„Darf ich Sie zum Flügel führen?“ hörte sie seine Stimme. Und zugleich
-neben sich ein leises, etwas spöttisches Kichern der molligen
-rundlichen Molly. Es klang ihr auch wie: ‚Jetzt singen ... wie sollte
-die Lene das riskieren.‘ Aber es peitschte ihren Trotz auf. Sie legte<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span>
-mit einem plötzlichen Entschluß ihre Hand in seinen Arm, ging ein paar
-Schritte, blieb dann doch wieder stehen: „Ich kann jetzt nicht singen
-... nach Ihnen!“</p>
-
-<p>„Gnädiges Fräulein&#160;...“</p>
-
-<p>Sie standen mitten im Zimmer, gerade unter dem Kronleuchter, und nun
-nicht mehr allein. Tante Marie war herangetreten: „Aber, Mignonne!“
-Vater kam und erklärte im Rittmeisterton: „Ziere dich nicht. Das ist
-ridicül. Das heißt: Sing, so gut du kannst. Mehr verlangt keiner.“</p>
-
-<p>‚Ich kann nicht —‘ wollte sie noch einmal sagen. Aber sie fühlte sich
-von Schwarz unwiderstehlich weitergezogen, mit einem ganz sachten
-Druck seines Armes, stand schon am Flügel und wußte gar nicht, wie sie
-dorthin gekommen war.</p>
-
-<p>„Was werden Sie uns singen?“ fragte Schwarz. Und zum dritten Male
-wollte sie entgegnen: ‚Gar nicht singen will ich‘ und hatte doch schon
-die Hand nach dem Notenschränkchen neben dem Instrument ausgestreckt.
-Er griff gleichzeitig zu. Die Blätter raschelten. Auf einen Augenblick
-berührte ihre heiße Stirn fast seine Wange. Wieder schrak sie zusammen,
-richtete sich hastig auf, schüttelte den Kopf. Wortlos&#160;...</p>
-
-<p>‚Warum quälen sie mich!‘ schrie es in ihr. ‚Warum quälen sie mich? Ich
-kann ja doch gar nichts. Kann ja nicht singen ... hier nicht ... heut
-nicht ...‘</p>
-
-<p>„Mendelssohn liegt Ihnen gewiß, gnädiges Fräulein?“</p>
-
-<p>Er hatte ein Blatt herausgesucht, wies es ihr hin. Und in heller
-Verzweiflung neigte sie den Kopf.</p>
-
-<p>„Soll ich akkompagnieren?“</p>
-
-<p>Endlich fand sie die Sprache wieder: „Nein — nein! Ich begleite mich
-immer selber ...“ Der Gedanke, hinter ihm zu stehen, ihm folgen zu
-müssen, war ihr unerträglich.</p>
-
-<p>Dann war plötzlich Bruder Wilhelm neben ihr. Sie mochte ihm leid tun.
-Er schob ihr den Stuhl zurecht, raunte ihr ein paar liebe Worte zu&#160;—</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p>
-
-<p>Und nun saß sie, hatte die Hände auf den Tasten, sah auf das Notenblatt
-und meinte, keinen Finger rühren, keinen Ton herausbringen zu können.
-Die Stimme stickte ihr ja im Halse, die Kehle war so trocken, war wie
-zugeschnürt. Weinen hätte sie mögen.</p>
-
-<p>Aber mit einem Male, ganz jäh, war das alles anders.</p>
-
-<p>Mit einem Male kam es wie eine große Befreiung über sie. Unerklärlich,
-wie das geschah. Ganz plötzlich hatte sie das Empfinden: ‚Du mußt
-singen! Du kannst es! Du wirst es gut machen, wirst ihm beweisen, daß
-du keine elende Stümperin bist. Daß auch dir Gott die Gabe verlieh ...‘</p>
-
-<p>Noch sah sie wie durch einen Tränenschleier die Noten. Aber gleich
-darauf ward es helle vor ihr. Das leise, unsichere Beben der Finger,
-das sie vorhin gespürt, verschwand. Sie fühlte, wie die Stimme frei
-wurde ... ganz frei&#160;—</p>
-
-<p>Und so sang sie&#160;—</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Wie ist Natur so hold, so gut!“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Das Goethesche Lied hatte er für sie gewählt.</p>
-
-<p>Während sie sang, wurde sie froh. Das war ja fast immer so; aber heut
-doch anders wie sonst; eine wahre Lust, hinauszujubeln, erwachte in ihr.</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Auf der Welle blinken</div>
- <div class="verse indent0">Tausend schwebende Sterne,</div>
- <div class="verse indent0">Weiche Nebel trinken</div>
- <div class="verse indent0">Rings die türmende Ferne ...“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Es war wie ein Rausch. Ein holder, beseligender, traumhafter Rausch.
-Sie fühlte wohl, daß es ihr glückte, daß sie gut sang, besser als je.
-Aber sie gab, was sie gab, doch völlig unbewußt. Die Töne quollen in
-ihr empor, ohne daß sie suchte.</p>
-
-<p>Und dann war alles aus. Mit dem letzten Ton entschwanden ihr Wille und
-Kraft, die Begeisterung erlosch, die Spannung der Seele ließ nach. Müd
-und matt wie<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> ein Vögelchen, das aus Wolkenhöhen zu Boden geschmettert
-wurde, hockte sie vor dem Instrument, die Hände waren von den Tasten
-gesunken und lagen im Schoß. Sie hörte nur undeutlich den Beifall,
-dachte nur: ‚ach ... es war ja doch nichts, du kannst ja gar nichts;
-und wenn sie klatschen ... was verstehen sie!‘ Ein Schluchzen stieg auf
-in ihr. Sie biß die Zähne aufeinander, preßte die Lippen zusammen; tief
-herab glitt ihr Kopf, und die Stirn schmerzte.</p>
-
-<p>Mehr sollte sie singen. Die Stimmen schwirrten durcheinander. Man
-bat, machte Vorschläge: eines der Taubertschen Kinderlieder, das
-Rothschild-Liedchen: <span class="antiqua">Si vous n’avez rien à me dire</span>&#160;...</p>
-
-<p>Nein! Nein! Nein!</p>
-
-<p>Dann stand sie jäh auf. Mit dem plötzlichen Entschluß: ‚jetzt willst du
-das letzte wissen ... sein Urteil ... und wenn es dein Todesurteil wäre
-...‘</p>
-
-<p>Sie wandte sich kurz um.</p>
-
-<p>Und da sah sie ihn. Er stand nicht in der Gruppe der Verwandten am
-Instrument. Er war zurückgetreten, lehnte wie vorhin, ehe er gesungen,
-an der Tür zur Bibliothek.</p>
-
-<p>Sie sah ihn und sah, daß seine Augen zu ihr herüberleuchteten. Und
-nun kam er, faßte ihre beiden Hände, unbekümmert um alle, die um sie
-waren, und sprach: „Sie werden eine große Sängerin werden! Eine von den
-ganz großen, vor denen sich Könige und Fürsten neigen. Ich preise mich
-glücklich, daß ich als Erster Ihnen das sagen darf.“</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Viertes_Kapitel">Viertes Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>Kantor Flehr schob mit gesenktem Haupt langsam über die Dorfaue. Man
-konnte es ihm ansehen, daß er Sorgen hatte, die ganze Hucke voll, und
-zwar, trotzdem Kartoffelferien waren und die liebe Jugend ihm daher den
-Schädel nicht heiß machte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span></p>
-
-<p>Sorgen hatte Kantor Flehr zwar eigentlich immer. Ein
-Dorfschulmeisterlein im Königreich Preußen und keine Sorgen: das gab’s
-ja einfach nicht. Gerade daß man vor dem Verhungern geschützt war —
-bei der Herde Kinder, die sich so nach und nach einfand. Recht machen
-konnte man es auch niemand: dem Herrn Patron nicht; dem Herrn Pastor
-nicht, obwohl beide noch nicht die schlimmsten waren, im Gegenteil. Den
-Bauern und Kätnern, dem lumpigsten Tagelöhner erst recht nicht. Und
-deren Ehegesponsten nun schon gar nicht. Denn im Grunde genommen: den
-Weibsen wär’s am liebsten gewesen, wenn sie ihre Rangen gar nicht in
-die Schule zu schicken brauchten, oder wenn er den Nürnberger Trichter
-besäße, um Bub und Mädel in einem einzigen Viertelstündchen- alles
-einzutrichtern, was sie fürs Leben gebrauchten. Damit besagte Rangen
-den besagten Eltern in Feld und Wirtschaft helfen könnten, von früh bis
-spät. Von der Bildung hielt das Volk verflucht wenig. Aber man selber
-hatte doch nun mal sein Pflichtgefühl und seine Ideale. Hatte man, und
-konnte, durfte man nicht preisgeben. Wenn schon das ganze Dasein immer
-wieder die elendsten Kompromisse verlangte.</p>
-
-<p>Sorgen also hatte Kantor Flehr eigentlich immer, und sie hatten
-ihm wohl auch die tausend Runzeln und Fältchen in das alte Gesicht
-gegraben. Aber an diese alltäglichen Sorgen gewöhnte man sich
-allgemach, wie man sich daran gewöhnt hatte, daß Quetschkartoffeln
-mit einem Brocken Speck gar kein so übles Essen waren, oder daran,
-daß man immer wieder einen Pflock zurückstecken mußte, was die eigene
-geistige Fortbildung anbetraf, oder daran, daß Goethe und Schiller nur
-an Sonntagsnachmittagen vom kleinen Bücherbord heruntergenommen werden
-konnten; auch daran, daß das alte Klavier von Jahr zu Jahr dünner im
-Ton wurde.</p>
-
-<p>Es mußte schon einiges Besondere zusammenkommen, wenn Kantor Flehr
-den Kopf so tief auf der Brust trug<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> wie heute, den schmalen, langen
-Oberkörper so vornübergeneigt hielt.</p>
-
-<p>So war es aber auch. Der Tag verdiente drei Kreuze im Kalender.</p>
-
-<p>Erst hatte man vom alten Heckstein wieder einmal eine kleine
-Vorlesung entgegennehmen müssen über den Geist der „Regulative
-—“. Selbstverständlich, das wußte man ja, kam die Salbaderei dem
-guten Heckstein selber nicht recht aus dem Herzen; war ein viel zu
-aufgeklärter Mann dazu, um vom Geist dieser Regulative überhaupt
-aus Überzeugung sprechen zu können, dieser Einschnürungs- und
-Verdummungsparagraphen. Aber ein Keil drückte da eben den andern. Und
-das war schließlich dem Pastor doch wohl aus dem Herzen gekommen,
-daß er sagte: „Überhaupt, Herr Kantor, Sie sind mir zu liberal!“ Ja
-... hm ... was sollte man darauf erwidern, wenn der Alte so seinen
-gichtgekrümmten Zeigefinger hob? Zu liberal! Du mein Gottchen! Man
-hatte doch eben seine Ideale. Und wer die nicht, innerlich mindestens,
-hochzuhalten wußte in dieser Zeit, wo die Reaktion wieder mal umging,
-als ob sie die letzten paar Säulchen untergraben wollte, auf die sich
-noch die Freiheit des Staatsbürgers stützen konnte ... ja, wer sich
-seine bißchen Ideale nicht zu wahren wußte, der ging eben moralisch vor
-die Hunde. Nicht mehr Staatsbürger, sondern Staatsknecht war man dann&#160;...</p>
-
-<p>Nun ja ... und eine Stunde darauf war der Schulze gekommen, Christian
-Lehmpuhl. Hatte wieder mal solch ein Schreiben vom Herrn Landrat,
-Hochwohlgeboren. Wenn man nur die Handschrift des hochmögenden
-allmächtigen Kreissekretärs sah, konnte einem die Galle überlaufen; es
-roch ordentlich nach Bureaukratie daraus. „Es wird darauf aufmerksam
-gemacht ...“ fing es immer an. „Wonach zu richten“ oder „Es wird mit
-Bestimmtheit erwartet ...“ schloß es. Diesmal auch. Und dazwischen
-gab’s Donner und Blitz gegen die „auf Untergrabung der Königlichen
-Autorität abzielenden Bestrebungen“; gegen die<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> „schlechten,
-staatsfeindlichen Zeitungen“, die den „Geist der Auflehnung zu
-verbreiten suchen“; gab’s eine Lobrede auf das Kreisblatt. Das
-Kreisblatt! Das Käseblatt! Da stand nun Christian Lehmpuhl und wußte
-sich nicht Rat. Was sollte man ihm raten? Gegen den Herrn Landrat?!
-Der Wind und Wetter machen oder die Sonne scheinen lassen konnte über
-Gerechte und Ungerechte. Zumal, wo man doch genau wußte, daß die Bauern
-weder eine vernünftige Zeitung <em class="gesperrt">noch</em> das Kreisblatt lasen. Was
-lasen die denn überhaupt! Na ja ... schließlich war’s denn wieder auf
-aller Weisheit Schluß herausgekommen: „Da wer’ ik woll die Krakulle
-rumschicken müssen“, hatte der Schulze beschlossen. Schön ... schön:
-also morgen ging das berühmte gebogene Holzstück von Haus zu Haus, und
-daran flatterte das Schreiben des Landrats wie ein Fähnchen. Aber der
-Bauer wandte es ja doch nur rechts und drehte es links; es las keiner,
-oder wenn es einer las, verstand er’s nicht. Und das war noch das
-Beste&#160;...</p>
-
-<p>Ja ... und dann war der Herr Doktor Hemming aus dem Schloß
-herübergekommen. Der Mann wußte ja eminent viel, alles was wahr
-ist; ein tüchtiger Pädagoge sollte er auch sein, und die Junker
-lernten mächtig, hieß es. Aber ein unausstehlicher Mensch blieb er
-mit seinem hochmütig-herablassenden: „Herr Kollege“. Immer klang
-das wie schneidende Ironie. Und immer hatte er gleich die Politik
-beim Wickel. Immer in seiner herausfordernden Art. „Es rührt sich
-endlich, Herr Kollege. Es rührt sich. Haben Sie das neueste Flugblatt
-des Deutschen Nationalvereins gelesen? Großzügig — famos! Und unser
-Landtag! Da ist doch noch mal Wille und Kraft. Waldeck und Twesten
-und die anderen. Alle — ganze Männer! Nicht wahr? Wenn die Regierung
-ihre Sache auf die Spitze treiben will, sie soll’s nur wagen. Dieser
-Ansturm des Militarismus wird am festen Willen des Volkes zerschellen,
-ist eigentlich schon zerschellt, und auch diese neue Größe, dieser
-Herr von Bismarck, wird daran nichts ändern. Sagen Sie selber, Herr
-Kollege, soll unsere<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> Nation verbluten unter der Last der Armee? Dieses
-unproduktiven Heeres, das kein Volksheer mehr ist, sondern nur noch ein
-dynastisches Werkzeug? Wer könnte das leugnen? Glauben Sie mir nur,
-Herr Kollege, die Überzeugung wächst in immer weitere Kreise hinein,
-daß es auf diesem Wege nicht mehr weitergehen kann. Selbst in die
-Kreise des Junkertums. Fragen Sie mal bei Herrn Fritz von Hackentin an,
-wie der über die gegenwärtige Situation denkt.“</p>
-
-<p>Eine Viertelstunde war das so weitergegangen. Eigentlich ganz
-interessant. Man sprach ja gern mal mit einem gebildeten Mann über
-politische Dinge, wo man so ganz vereinsamt lebte. Wenn nur nicht
-dieser entsetzliche Hochmut in dem Doktor Hemming gesessen hätte.
-Sprach man denn überhaupt mit ihm? Er sprach ja allein.</p>
-
-<p>Ja, und dann kam’s zum Schluß: „Übrigens läßt der Rittmeister Ihnen
-sagen, Herr Kollege, daß er mit Ihnen zu reden hätte. Sie möchten doch
-gegen Mittag mal im Schloß vorsprechen.“</p>
-
-<p>Na ja ... und das war vielleicht das Ärgerlichste. Das dickste Ende kam
-nach. Denn der alte Rittmeister war zwar ein lieber, prächtiger Mann,
-aber gut Kirschenessen war unter Umständen mit ihm nicht. Im Grunde war
-und blieb er doch immer der Junker, der keine Überzeugung neben der
-eigenen dulden konnte. Der König von Rohlbeck! Du mein Gottchen! Ein
-armseliges Königreich. Nur daß man doch darin leben mußte, daß man es
-unmöglich mit dem alten Herrn verderben durfte. Mit ihm nicht, mit der
-Herrschaft überhaupt nicht. Es gab da doch zu viel Fäden, die man nicht
-zerreißen konnte.</p>
-
-<p>Was der Herr Rittmeister nur wollte? Natürlich betraf’s auch wieder die
-Politik. Man hörte das ja ordentlich im voraus: „Das heißt, Kantor, ich
-muß sagen&#160;...“</p>
-
-<p>Ja, Kantor Flehr hatte heute seine dreifach gesiebten Sorgen. Das graue
-Haupt sank immer tiefer auf die schmale Brust herab, je näher er den
-beiden schwarzen<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> Stämmen mit den Kanonenkugeln darauf kam, die den
-Eingang zum Schloßgarten flankierten.</p>
-
-<p>Aber dicht vor dem dräuenden Tor hatte er noch eine Begegnung. Von der
-anderen Seite kam der Großbauer Metschke, Adolf Metschke, und hielt ihn
-fest. War sonst eigentlich ein ordentlicher Mann, der Metschke, hatte
-außerdem eine prächtige Stimme, die manchmal den ganzen Kirchenchor
-zusammenhielt. Aber wen er einmal festhielt, der kam nicht so leicht
-los.</p>
-
-<p>„Gut, dat ik Ihnen treffe, Herr Kantohr. Ik wollt zundersch mit Ihnen
-reden. Is das denn die Wahrheit, daß se de Soldaten abschaffn wolln?“</p>
-
-<p>„Aber Metschke&#160;—“</p>
-
-<p>„Jestern ist Sie da nämlich ’n Schlosser aus Ziebinge im Krug gewesen.
-Der hat’s vertellt. Vor janz jewiß. Nu muß Se mein Willem zur Stellung.
-Sähen Se, Herr Kantohr, da mächt ik doch jerne wissen, ob’s wirklich
-seine Richtigkeit haben tut?“</p>
-
-<p>Flehr schüttelte den Kopf. „Metschke, woher soll ich das wissen. Man
-spricht ja so allerlei. Aber abschaffen ... ganz abschaffen ... daran
-ist nicht zu denken. Mein ich.“</p>
-
-<p>„Se müßten’s doch eberscht wissen, Herr Kantohr. ’s soll doch schon in
-die Blätter stehn.“</p>
-
-<p>„Da wird viel geschrieben, lieber Metschke.“</p>
-
-<p>Adolf Metschke ließ endlich den Westenknopf frei, aber er stellte
-sich dafür in Positur gerade vor den Eingang. Kraute mit dem linken
-Zeigefinger hinter dem Ohr in seinem flachsblonden Schopf, spuckte
-aus und meinte: „Dat kann woll stimmen. ’s wär ja och janz scheen,
-aber ik kann Se nich dran glauben, Herr Kantohr. Ick bin Se selwst
-Suldat ’wesen. Franzer, Se wissen schon. Na, un so was muß woll sin.
-Min Willem soll och zu de Franzer, wenn’s so bliewt. Un ’s wird woll
-so bliewn. Nämlich wie sollt das der Keenig denn machen, wenn die
-Franzosen kommen und er keine Suldaten nich hat?“</p>
-
-<p>Im allgemeinen beschränkte der brave Flehr sein Bildungsbemühen
-pflichtgemäß auf die Jugend; bei den<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> Alten war, das hatte die
-Erfahrung ihn gelehrt, doch Hopfen und Malz verloren. Aber manchmal
-wandelte ihn doch das Bedürfnis an, auch ihnen gegenüber aufklärend zu
-wirken.</p>
-
-<p>„Ich sagte Ihnen ja schon, Metschke, an die Abschaffung der Armee denkt
-niemand im Ernst. Aber es wird wohl von Freunden des Volks erwogen, ob
-man nicht mit weniger Soldaten auskommen kann oder ob man die Soldaten
-nicht nur ganz kurze Zeit bei der Fahne behalten braucht.“</p>
-
-<p>Metschke kraute sich weiter hinter dem Ohr. Er sann nach. „’s wäre
-woll janz scheen so“, meinte er. „Wenn der Willem nich so lang aus de
-Wirtschaft müßte.“ Pause. „Aber, Herr Kantohr, des jeeht och nich mit
-sohne kurze Zeit. Des ist man bloß Jerede. Ik bin doch selwst beis
-Kommiß jewesen, Franzer, Herr Kantohr. Un so aus ’m Pauern, was noch
-jrün und naß hinter de Ohren is, ’n orndlichen Suldaten machen, das is
-nich so haste nicht, kannste nich. Da is der langsame Schritt und da is
-’s Jewehr un ’s Schieße un die Instruxon un so&#160;...“</p>
-
-<p>Es schien, der brave Metschke hatte starke Lust, seine militärischen
-Erinnerungen noch lang auszuspinnen. Doch der Kantor wurde ungeduldig.
-Er zog die große silberne Zwiebel aus der Tasche. „Lieber Metschke, ich
-muß zum Herrn Rittmeister&#160;...“</p>
-
-<p>„So ... zum ollen gnä’gen Herrn. Den sullt’ man mal fragen. Der weiß
-Bescheid. De hat die Franzosen aus’m Lande mit rausgeschmissen, un ’s
-Eiserne Kreuz hätt’ er ...“ Damit gab er endlich den Eingang frei.
-„Scheen Dank ock, Herr Kantohr ... ick meen, et jeeht nich&#160;...“</p>
-
-<p>Langsam ging Flehr weiter, den geraden breiten Weg entlang, der zur
-Verandatreppe führte. Zuerst mit einem Lächeln im runzligen Gesicht und
-mit einem Kopfschütteln über diesen Bauern, über die Bauern überhaupt:
-die wurden innerlich doch nicht frei, die klebten, klebten wie an ihrer
-Scholle so an allem, was alt hergebracht war.<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> Und wer weiß: wenn der
-Schlosser aus Ziebingen etwa wieder im Krug seine neuen Weisheiten zum
-besten gab, ob ihm dann nicht Adolf Metschke als alter Franzer das Fell
-tüchtig vollgerbte. Womit vielleicht nicht mal ein Unglück geschah.
-Denn man mochte noch so liberal denken, ... hm ... daß solche Schwätzer
-zu wühlen versuchten ... hm ... das konnte man doch nicht billigen.</p>
-
-<p>Allmählich erstarb das Lächeln zwischen den Runzeln und Falten, aus
-denen das zweimal wöchentlich angesetzte Rasiermesser die grauen
-Stoppeln nie ordentlich herausbekam.</p>
-
-<p>Was eigentlich der alte Rittmeister nur wollte?</p>
-
-<p>Es war so gar nicht seine Art, jemand zu sich zu bescheiden. Hochmütig
-war er wahrhaftig nicht. Er ging in die ärmste Hütte, und im
-Kantorhause hatte er oft genug, fast freundnachbarlich, vorgesprochen.</p>
-
-<p>Was er nur wollte?</p>
-
-<p>Und da saß ja auch schon die alte Gnädige an ihrem Fenster, mit
-ihrem verschleierten Blick, und nickte auf seinen Gruß ganz eigen
-— schon von weitem. Die alte Gnädige! Ja ... als man nach Rohlbeck
-gekommen war, da war sie noch jung gewesen und schön und lustig. War
-vierelang gefahren, mit dem Diener auf dem Bock. Die Zeiten hatten
-sich geändert; besser waren sie nicht geworden, auch nicht für die
-Herrschaft. Eigentlich zum Gotterbarmen. Wirklich verschwendet hatten
-die Hackentins nie, aber das schöne Vermögen zerrann ihnen doch unter
-den Händen. Wirtschaften konnten sie nicht. Freilich — ein Armer
-klopfte auch heut noch nicht vergebens im Schloß an. Und wenn man’s
-recht überlegte: auch im Kantorhause hatten sie oft genug geholfen&#160;...</p>
-
-<p>Was nur der alte Rittmeister wollte?</p>
-
-<p>„Herein!“</p>
-
-<p>Das kam ganz in Rittmeisterton aus der großen Stube.</p>
-
-<p>„Na, da wären wir ja also, Herr Kantor&#160;...“</p>
-
-<p>Dem Rittmeister stak immer noch das „Er“ zwischen den Lippen.
-Natürlich, er wußte, das ging nicht mehr in der<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> neuen Zeit, Anno 1862.
-Selbst zum kleinsten Kossäten mußte man „Sie“ sagen. Aber das „Sie“
-wollte bisweilen nicht recht über die Lippen, und dann kamen allerlei
-wunderliche Umschreibungen heraus.</p>
-
-<p>„Also, da wären wir ja, Herr Kantor“, wiederholte er. „Guten Tag auch.
-Das heißt, ob es ein guter Tag ist heut, wer will das wissen?“</p>
-
-<p>Er stand in der Mitte der Stube. Am Fenster saß die alte Gnädige,
-am Ofen saß Wilhelm Hackentin, und beide nickten dem Kantor zu. Der
-dienerte, wobei seine endlos lange Gestalt fast zu einem rechten Winkel
-zusammenknickte, und dann rieb er sich, verlegen wartend, die knochigen
-Hände.</p>
-
-<p>„Wir wollen uns lieber setzen, Herr Kantor,“ begann der Rittmeister
-wieder, blieb aber stehen, um nach einem Weilchen fortzufahren: „Aber
-warum setzt man sich denn nicht? Da ... bitte&#160;...“</p>
-
-<p>Herr Flehr setzte sich wirklich; aber nur auf die Kante des nächsten
-Stuhls, und er dachte noch immer: ‚was der Rittmeister nur will?‘</p>
-
-<p>„Also ... nämlich ... das heißt, wir müssen ein ernstes Wort
-miteinander reden, Herr Kantor.“ Damit begann der alte Herr seine
-gewohnte Wanderung auf der Diagonale des Zimmers. Es wurde ihm
-leichter, während des Gehens zu sprechen. Auch jetzt. Freilich in
-wohlkonstruierten Sätzen kam die Rede nicht heraus:</p>
-
-<p>„Also ... nämlich ... das heißt, gestern in Rackow. Da war ein
-Sachverständiger, das heißt, man sagt es. Ein kaiserlich russischer
-Hofopernsänger. Das heißt, manchmal denk ich, er ist ein Luftikus. Da
-hat das gnädige Fräulein gesungen, Helene. Und der Monsieur Schwarz
-oder Weiß — Namen kann ich nie behalten —, der hat ein großes
-Wesen davon gemacht. Mag ja auch sein ... das heißt, ich habe selber
-gefunden, Lene sang sehr schön. Aber was versteh ich davon?! Also der
-Mann hat allerlei Fladusen vorgebracht: eine unvergleichlich schöne
-Stimme, eine Wunderstimme und so, wie sie nur alle hundert Jahre
-vorkommt.<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> Und daß es ’ne Sünde und ’ne Schande wär, wenn solch eine
-Stimme nicht an die Öffentlichkeit käme. Öffentlichkeit — schrecklich!
-Ja ... und sie haben alle auf mich eingeredet, das heißt, der Sänger
-voran und dann die Rackower und da der Wilhelm auch, Helene müßte nach
-Berlin. Das heißt ... nämlich ... da liegt der Haken! Ihre Kunst in
-Ehren, mein lieber Kantor, aber mit der Schule, oder wie man’s nennt,
-da hapert es noch. So das Tippelchen auf ’m i. Also nach Berlin, zu
-irgendeiner ganz großen Lehrerin. In Berlin gibt’s natürlich so was.
-Was gibt’s denn am Ende in Berlin nicht? Nämlich aber: das kostet ein
-riesiges Geld. Die Berliner nehmen’s von den Lebendigen und den Toten.
-Und da ... das heißt, da möcht ich erst mal den Kantor Flehr fragen,
-auf Ehre und Gewissen, ob er nach seinen Kenntnissen meint ... das
-heißt, ob er wirklich und wahrhaftig glaubt, daß es mit der Stimme von
-dem gnädigen Fräulein so etwas ganz Besonderes auf sich hat?“</p>
-
-<p>Der alte Rittmeister hatte sich heiß geredet. Ganz fließend hatte er
-schließlich gesprochen, während er dreimal die Diagonale des Zimmers
-durchmaß. Jetzt erst sah er auf und zu dem Kantor hinüber. Und da stand
-er still und staunte.</p>
-
-<p>Es war wohl auch ein wunderliches Bild.</p>
-
-<p>Ruckweise, langsam hatte sich die lange Gestalt gestreckt und gehoben.
-Das Kinn zuerst, der Nacken dann; der immer gebeugte Rücken war gerade
-geworden, und nun stand der ganze Mann aufrecht da, ganz aufrecht,
-hatte die hageren Hände vor der Brust gefaltet, und aus seinen grauen
-Augen leuchtete es.</p>
-
-<p>Nichts sagte er als: „Lieber Gott, ich danke dir, daß ich das noch
-erlebe!“ Sagte es so rührend, daß die alte Gnädige am Fenster leise
-aufschluchzen mußte.</p>
-
-<p>Auch den Rittmeister mußte es wohl packen. Aber er knurrte nur ein paar
-ganz unverständliche Töne, und um seiner Bewegung Herr zu werden, fuhr
-er den Kantor an: „Das heißt, wir spielen doch hier nicht Komödie.<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> Man
-kann doch nie auf eine klare Frage eine deutliche Antwort bekommen —
-hol’ mich der Deubel!“</p>
-
-<p>Sonst hätte solch ein Ton Herrn Flehr gleich aus der Kontenance
-gebracht. Diesmal nicht. Mit erhobener Stirn gab er zurück: „Ja,
-Herr Rittmeister, die sollen Sie haben. Ich bin nur ein einfacher
-Dorfschulmeister, aber von Gesang versteh ich einiges mehr als die
-meisten meiner Kollegen. Das muß wohl angeboren sein. Darum kann ich
-auch, wie der Herr Rittmeister es verlangen, auf Ehre und Gewissen
-erklären: solch eine Stimme, wie die von dem gnädigen Fräulein, mag’s
-wirklich nur alle hundert Jahre einmal geben. Das hab’ ich dem Herrn
-Pastor schon vor Jahr und Tag gesagt und hab ihn gebeten&#160;—“</p>
-
-<p>„Ich weiß, ich weiß“, wehrte der alte Rittmeister ab, und dann begann
-er seine Wanderung von neuem, schweigend, mit immer schnelleren
-Schritten.</p>
-
-<p>„— und es ist wohl Pflicht, solch eine Gottesgabe zu schulen —“ wagte
-der Kantor noch einzuwerfen.</p>
-
-<p>„Pflicht! Pflicht!“ kam’s von dem Teppich herüber. „Ich weiß allein,
-was Pflicht ist. Das braucht man mir nicht zu sagen. Das heißt, ob’s
-für die Lene ein Glück ist, darauf kommt es an. Dem Mädel den Kopf
-verkeilen, ihr Rosinen in den Sinn setzen ... ja, und wenn Gott den
-Schaden besieht, wer hat etwas davon? Öffentlich auftreten — da müßt
-ich doch vorher in der Grube liegen! Soll eine Hackentin vielleicht als
-Komödiantin auf der Bühne stehen?!“</p>
-
-<p>Die müde Stimme der alten Gnädigen klang dazwischen: „Solch wirklich
-ganz große Sängerin ist doch eine Ausnahme, Hackentin. Denk’ an die
-Sonntag, die eine Gräfin Rossi wurde&#160;...“</p>
-
-<p>„Komödiantin bleibt Komödiantin.“</p>
-
-<p>„Aber Papa, es hat ja noch niemand ernstlich vom Theater
-gesprochen“, meinte Wilhelm. „Neben der Opernsängerin steht doch die
-Konzertsängerin.“</p>
-
-<p>„Die muß auch vor die Öffentlichkeit. Das heißt, die singt auch jedem
-Laffen für ’n preußischen Taler was vor!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span></p>
-
-<p>Da sprach Kantor Flehr noch einmal. Er war schon wieder in sich
-zusammengesunken, aber nun richtete er sich auf, rang ein wenig mit
-sich, straffte wie den äußeren auch den inneren Menschen:</p>
-
-<p>„Mit Verlaub, Herr Rittmeister“, begann er, und aus seiner sonst so
-gedrückten Stimme klang ein fester, warmer Ton. „Kommt es denn so
-auf das Äußere an, darauf, ob das gnädige Fräulein später einmal, so
-oder so, fremde Menschen entzücken, begeistern soll? Das ist gewiß
-auch etwas Herrliches, aber die Hauptsache, meine ich, ist es doch
-nicht. Die Hauptsache, mein’ ich, ist, daß das gnädige Fräulein
-<em class="gesperrt">für sich</em> lernt. Wenn der liebe Gott einem Menschen solch eine
-Wundergabe verleiht, begnadet er ihn dadurch vor Millionen, aber er
-legt ihm auch Pflichten dafür auf. Das wollt ich vorhin schon sagen:
-die Pflicht, in der Kunst das Höchste anzustreben. Und weil das der
-Einzelne nicht immer allein kann, müssen alle, die ihn liebhaben, dabei
-mithelfen. Das hilft nun mal nichts, Herr Rittmeister — mit Verlaub zu
-sagen. Denn wenn es nicht geschieht, verkümmert die Gottesgabe ... und
-dann verkümmert damit der ganze Mensch! Er hätte so groß werden können,
-aber er wird arm und klein. Unglücklich wird er, Herr Rittmeister ...
-und wenn ihm sonst das Leben mit allen Gütern dieser Welt überschüttet
-... er wird arm und klein und unglücklich&#160;...“</p>
-
-<p>Der Rittmeister war stehengeblieben. Er sah mit hellem Staunen zu
-seinem Kantor hinüber: daß der so sprechen konnte. Die alte Gnädige
-hatte sich erhoben, kam auf ihren Mann zu, bat leise: „Papachen&#160;...“</p>
-
-<p>Das Ticken der Kuckucksuhr hörte man, so still war es.</p>
-
-<p>Bis dann Hackentin plötzlich sagte: „Die Lene hat einen guten Anwalt an
-unserem Flehr ... hol’ mich dieser und jener.“ Er zauste einmal rechts
-und einmal links an seinem weißen Schnurrbart. „Das heißt, Herr Kantor,
-ich bin noch nicht beim Ja und Amen. Aber unglücklich ... unglücklich
-soll uns die Lene nicht werden&#160;...“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span></p>
-
-<p>Und so kam Helene Hackentin nach Berlin. Zuerst nur, damit Frau
-Harriers-Wippern, die Herr Schwarz als die erste der Berliner
-Gesangslehrerinnen namhaft gemacht hatte, ihre Stimme prüfe. Zu mehr
-wollte sich der alte Rittmeister nicht verstehen.</p>
-
-<p>Wilhelm mußte sowieso wieder nach der Hauptstadt; er sollte die
-Schwester unter seine Obhut nehmen.</p>
-
-<p>Es war die erste größere Reise für Helene; über Frankfurt a.&#160;O. war
-sie noch nie hinausgekommen. Und diese Reise, samt allem, was mit ihr
-zusammenhing, war für sie ein so großes Ereignis, daß dadurch manch
-inneres Erleben der letzten Tage in den Hintergrund geschoben wurde.
-Wohl zitterte es in ihr nach: im Wachen und im Träumen. Sie schrak
-bisweilen mitten in ihren kleinen Reisevorbereitungen zusammen, hörte
-plötzlich wieder die weiche, klingende Stimme, hörte die leise ihr
-zugeflüsterten Worte: „Ich hab heute ja nur für <em class="gesperrt">Sie</em> gesungen!“
-Aber das erlosch immer wieder. Sie lächelte wohl auch darüber: es
-war ja nicht mehr als eine artige Courmacherei, wie sie gewiß in der
-großen Welt da draußen üblich war und nicht viel bedeutete. Für sie
-sicher nicht viel bedeutete. Denn sie hatte ja nun ihre Kunst. Die
-große, himmlische Kunst. Die mußte ihr alles sein. Nur die herzliche
-Dankbarkeit gegen Schwarz blieb lebendig: er hatte den Bann gebrochen,
-er hatte den Weg geöffnet und gebahnt; ohne ihn wäre sie wohl ewig in
-der Enge geblieben. Und als er ihr in Rackow zum Abschied die Hand
-gereicht, sie noch einmal mit glänzenden Augen angesehen, da hatte sie
-standgehalten, den Druck seiner Hand ehrlich erwidert, hatte für sein
-„Auf Wiedersehen!“ ein herzliches „Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen so
-sehr!“ gehabt.</p>
-
-<p>Ihr junges Herz strömte überhaupt über vor Dankbarkeit. Wie gut und
-lieb nun alle zu ihr waren. Wieviel Opfer für sie gebracht wurden!</p>
-
-<p>Die Tränen flossen beim Abschied. Aber die Augen blickten schon wieder
-hell über die Herbstlandschaft, ehe die Post noch die Stellberger
-Fichten erreicht hatte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span></p>
-
-<p>Sie saßen allein in der Beichaise, Wilhelm und sie. Dem Bruder schien
-es ähnlich zu gehen wie ihr. Auch er, der immer ein wenig leicht am
-Wasser baute, hatte beim Abschied Frau und Kinder mit feuchten Augen
-umarmt; als die Post über die Grenze von Rohlbeck rollte, beugte er
-sich weit hinaus, sah noch einmal zurück: „Mein liebes altes Rohlbeck!“
-Dann saß er eine ganze Weile betrübt und bekümmert in seiner Ecke.
-Aber kurz vor Stellberg hatte er sich schon wieder aufgerichtet: „Nun,
-Kleinchen! So in Gedanken? Wart’ nur, was du für Augen machen wirst!“
-Er hatte fröhlich gelacht dabei und fing an, von Berlin zu erzählen.</p>
-
-<p>Merkwürdig schnell vergingen dabei die fünf Stunden Postfahrt. Es gab
-ja schon jetzt genug zu hören und zu sehen: bald kutschierte auf der
-Chaussee ein Bekannter vorüber und mußte mit Hallo begrüßt werden;
-bald hielt man zum Pferdewechsel auf einer Poststation, stieg aus,
-wanderte ein paar Schritte auf und ab, sie immer zärtlich bei dem
-Bruder eingehakt, trank in Stellberg Kaffee, aß in Reppen Mittagbrot.
-Spaßhaft, wie Bruder Wilhelm überall bekannt war. Auf jeder Station
-kamen Leute zu ihm: „Nun, Herr Baron, wieder einmal nach Berlin?“ —
-„Wie gehen die Geschäfte?“ — „Geht’s voran mit unserer Eisenbahn?“
-Und er schüttelte die Hände, gab Auskunft, lachte, lud den zu einem
-Schnäpschen und jenen zu einem Schoppen Bordeaux ein.</p>
-
-<p>Dann war mit einem Male die Oderbrücke da. Mächtig rauschte der Strom,
-und drüben breitete sich im Herbstsonnenlicht das Städtebild, Mauer an
-Mauer, Dach an Dach, turmüberragt.</p>
-
-<p>Frankfurt kannte Helene. Ein paar Male schon war sie hier gewesen,
-mit Vater oder Martha, um Einkäufe zu besorgen. Ihr war’s <em class="gesperrt">die</em>
-Großstadt. Das Auerbachsche Kleiderstoffgeschäft erschien ihr mit
-seinen mächtigen Schaufenstern als ein Riesenhaus, und die Rasenacksche
-Konditorei hatte schon in ihren Kindheitsträumen neben Tante Hufnagel
-eine Rolle gespielt.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span></p>
-
-<p>„Kleinchen,“ meinte der Bruder, „wir haben über zwei Stunden Zeit bis
-zur Abfahrt des Zuges, und ich habe Geschäfte zu erledigen. Du kennst
-dich ja hier aus in dem Nest.“ Nest sagte er. „Kannst mich in ’ner
-Stunde in der Weinstube von Lienau abholen.“</p>
-
-<p>Ihr war’s ganz recht so. Auch körperlich eine Wohltat, sich die Füße
-zu vertreten nach der langen Fahrt. Und so frank und frei durch die
-Straße zu bummeln, hier stehenzubleiben und dort, in ein Schaufenster
-hineinzugucken, dies zu bewundern und das anzustaunen. Wirklich:
-sie kam sogar bei Rasenack nicht vorbei. Eine Tasse Schokolade mit
-Schlagsahne wenigstens konnte sie sich leisten. Sie war ja so reich:
-von allen Seiten hatte man ihr noch etwas in das kleine Portemonnaie
-hineingesteckt, immer der eine, ohne daß der andere etwas davon wissen
-sollte; und am letzten Tage war gar Tante Marie in Rohlbeck gewesen,
-hatte sie zur Seite genommen und ihr etwas Raschelndes in die Hand
-gedrückt. „Da, Mignonne!“ Ein Zehntalerschein war’s, als sie ihn
-nachher besah. Zehn Taler — ein Vermögen!</p>
-
-<p>Knapp zur rechten Zeit kam man auf den Bahnhof. Der Breslauer Zug
-stand schon bereit, und Wilhelm Hackentin konnte gerade noch seine
-Schwester und sich in ein ziemlich überfülltes Coupé bringen. Helene
-war atemlos vom schnellen Gehen, aber auch von der Aufregung, zum
-ersten Male mit der Eisenbahn zu fahren. Sie hatte ein wenig die klare
-Besinnung verloren, der Bruder mußte sie dirigieren und schieben.
-Es läutete schon, als sie endlich saß — und da sah sie noch, wie
-Merivaux, der Gardeschütze, auf dem Perron entlanghastete. Im ersten
-Augenblicksempfinden wollte sie ihm zurufen: „Hier ist noch ein Platz!“
-Wollte winken — doch dann ließ sie die Hand gleich sinken und lehnte
-sich schweratmend zurück. Sie dachte: ‚Der ist böse auf dich. Schade.
-Nicht ein gutes Wort hatte er in Rackow mehr für dich. Weshalb nur? Du
-hast ihm doch nichts getan.‘</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span></p>
-
-<p>Da pfiff die Lokomotive, zog an, keuchend. Eine dichte Rauch- und
-Dampfwolke fauchte an dem Fenster vorüber, ein starker Stoß kam, ein
-rasselnder Ruck und noch einer. Helene griff erschrocken nach der Hand
-des Bruders: war ein Unglück geschehen? Doch der lächelte, hatte schon
-sein Zigarrenetui aus der Tasche gezogen. Und dann begann ein Gleiten,
-gleichmäßig, wie in immer neu atemholendem Rhythmus; draußen flogen die
-letzten Häuser vorüber, und die ersten Bäume tauchten auf, verschwanden
-wieder; da war noch ein Fabrikschornstein in der Ferne, kam näher,
-näher, jetzt stand er fast vor dem Fenster — nun lag er schon weit
-zurück; eine Schar Krähen flatterte auf und zerstob; auf der Straße
-drüben trabte ein Pferd wie im Versuch des Wettlaufs, wurde im Nu
-überholt, wurde kleiner und immer kleiner, war nur noch ein schwarzer
-Punkt und nun nicht mehr zu sehen.</p>
-
-<p>Weit vornübergebeugt saß Helene und spähte auf die ewig wechselnden
-Bilder, auf ihr Kommen und Gehen, ihr Auf- und Untertauchen, lauschte
-dem Klingen der Räder auf den Schienenstößen, fuhr zusammen, wenn der
-Pfiff der Lokomotive auftönte, wie ein greller Hilfeschrei, freute
-sich, sobald wieder eins der kleinen Bahnwärterhäuschen kam mit dem
-stramm stehenden Mann davor, der sein Fähnchen wie zum Salut in der
-Hand hielt, schrak auf, als gleich rasenden Gespensterwagen, donnernd
-und polternd, ein Zug auf dem Nebengeleise vorüberbrauste.</p>
-
-<p>Ganz langsam nur beruhigten sich ihre Nerven, und es kam ein
-wundervolles Empfinden über sie wie in einem Traum: so also ging es aus
-der Enge in die Weite, in die große herrliche Welt da draußen. Eine
-Zaubergewalt trug sie hinaus, hinein in das Leben. Dort vorn fauchte,
-schnob der feurige Riese in ihrem Dienst, spannte seine Kräfte, daß sie
-gleich Hunderten von starken Rossen dahin jagten, nimmermüde, — der
-gewaltige Feuerriese, der sie hinaustrug, hinauf, weiter und weiter,
-höher und immer höher, hinaus in die Welt, hinauf zum Ruhm&#160;...</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span></p>
-
-<p>Ein paar Male sah sie zu Bruder Wilhelm hinüber. Der saß in seiner
-Ecke, die Zigarre zwischen den Lippen, hatte sein Notizbuch
-vorgenommen; er mochte wohl wieder seine Geschäfte im Kopf haben.
-Da durfte sie nicht stören. Flüchtig glitt ihr Blick über die
-Mitreisenden. Wie gleichgültig die alle gegen das große Wunder waren!
-Der dicke Mann dort schlief; eine Dame drüben kramte gerade aus ihrer
-Reisetasche ein paar Butterbrote heraus, eine andere, jüngere, las in
-einem abgegriffenen Bande, schien schon bei den letzten Seiten zu sein,
-hatte einen zweiten Band bereits auf dem Schoß. Mit ihren scharfen
-Augen konnte Helene den Titel lesen. „Gutzkow, Der Zauberer von Rom“
-stand darauf. Und dann saß neben ihr ein junger Mann, der auf einer
-großen Karte, die er auf den Knien ausgebreitet hielt, herumstudierte;
-deutlich konnte sie erkennen, daß sein Zeigefinger schwarzen, starken
-Linien folgte: Berlin-Köln-Paris. Also nach Paris reiste er. Wundersam,
-wie diese Eisenbahn die Länder aneinanderzurücken schien. Und wie
-schnell das ging. Helene fiel ein, daß Mutter gelegentlich erzählt
-hatte, wie sie mit ihren Eltern im eigenen Wagen nach Karlsbad gefahren
-sei; damals, als Goethe dort zur Kur war. Vier Tage hatte die Reise
-gewährt. Jetzt brauchte man vielleicht einen Tag&#160;...</p>
-
-<p>Plötzlich wurde ein unwiderstehliches Mitteilungsgefühl in ihr
-lebendig. Sie legte ihre Hand auf des Bruders Arm. „Wir fliegen ja —“
-sagte sie fast beklommen.</p>
-
-<p>Wilhelm ließ sein Notizbuch sinken und lachte: „Fliegen, Lene? Mit
-dem elenden Bummelzug? Ach nein. Soweit sind wir in unserem guten
-Preußen noch nicht. Aber in England —“ und er fing an, ihr vom
-englischen Eisenbahnwesen zu erzählen, von dem großen Jagdzug, der
-seit Jahresfrist dort Süd und Nord, London und Edinburg verband. Er
-erzählte von den Schnellzügen zwischen Paris und Marseille, sprach
-von Nordamerika. Überall schien er Bescheid zu wissen, und seine
-blauen Augen leuchteten dabei. „Ja, mein Kleinchen, wir leben in einer
-großen Zeit. Wir stehen aber erst im Anfang der Entwicklung.<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> Wir
-sind vielleicht nur die Pioniere, die das Feld vorbereiten, die Saat
-aussäen, die unsere Kinder und Kindeskinder ernten sollen&#160;...“</p>
-
-<p>Er sprach lange und sprach gut. Alles verstand sie freilich nicht. Aber
-ihr Respekt vor dem Bruder wuchs. Nur daß sie dabei über ein leises
-Verwundern nicht hinauskam: zu Hause, in Rohlbeck, hatte Wilhelm oft
-fast etwas Gedrücktes. Es war, als fiele das mehr und mehr ab von ihm,
-je weiter er sich von der Heimat entfernte. Als atmete er freier, als
-wüchsen ihm die Gedanken. Aber schien sich nicht auch vor ihr die Welt
-zu weiten?</p>
-
-<p>Die Dämmerung sank herab. Der Abend kam.</p>
-
-<p>Als der Zug sich Berlin näherte, war es dunkel. Aus der Dunkelheit
-leuchteten, wie in einem neuen Wunder, blinkende Lichter auf.
-Vereinzelt erst, mehr und mehr dann; ganze Reihen schließlich.
-Als hätte die große Stadt sich Helene Hackentin zu Ehren in ein
-Lichtermeer getaucht. Überall flammte und glühte es. Aus den
-Fenstern, die vorüberhuschten, von den Straßenfronten herauf, und
-bunt und farbig, weiß, rot, grün aus den Weichenlaternen der rechts
-und links endlos wachsenden Schienengeleise. Bis der Zug in den
-Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof einrollte.</p>
-
-<p>Beängstigend dies Leben und Treiben, und doch wieder so wundervoll,
-so eigen berauschend. Die Scharen von Reisenden, die der Zug entlud,
-die hastend und drängend dem Ausgang zustrebten; die Gepäckträger, die
-sich durch die Menge schoben, die Karren mit Koffern und Ballen; ein
-Rufen, Schreien, Schwatzen, Fragen, Auskunftgeben, Willkommenheißen,
-Abschiednehmen ohne Ende. Dann auf einen Augenblick noch einen Gruß von
-Merivaux, im Vorüberschieben nur. Ein flüchtiges Wort zwischen Wilhelm
-und ihm: „Sind Sie mit demselben Zuge gekommen?“ — „Schade ... wir
-hätten zusammen fahren können.“ Schade — auch Helene dachte wieder
-flüchtig: ‚Schade —‘</p>
-
-<p>„Schnell, Kleinchen — sonst bekommen wir keine Droschke!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span></p>
-
-<p>Und nun die Fahrt durch Berlin. Nahm denn das gar kein Ende? „Sind wir
-noch nicht bald da, Wilhelm?“</p>
-
-<p>„Geduld, Lene. In Berlin muß man Geduld lernen.“</p>
-
-<p>Immer neue Straßen, breite und enge, immer neue Häusermassen. Immer
-mächtiger und höher, immer heller beleuchtet, immer reicher die
-Schaufenster, immer stärker der Verkehr.</p>
-
-<p>„Das ist der Dönhofsplatz, Lene. Sieh mal, das ist das Abgeordnetenhaus
-— da zerbrechen sich die angeblich Weisesten die Köpfe um das Wohl und
-Wehe des Landes. So — und nun kommt unsere gute ‚Stadt London‘.“</p>
-
-<p>Der Oberkellner, ein pikfeiner Herr im Frack und weißer Weste, stand am
-Eingang und dienerte: „Die Zimmer sind bereit, Herr Baron. Nr. 34 für
-das gnädigste Fräulein.“ Die teppichbelegte Treppe ging’s hinauf, eins,
-zwei Stockwerke hoch, daß einem der Atem fast versagte. „Hier, Lene
-— vorläufig nimm vorlieb“, sagte Bruder Wilhelm. „Dein Koffer kommt
-sofort. Mach’ dich recht schnell ein bissel zurecht, wir essen nachher
-unten.“</p>
-
-<p>Groß war das Zimmer Nr. 34 nicht, und schön war es auch nicht mit
-seiner schäbigen Hoteleleganz, dem schmalen Bett, dem kleinen
-Waschtisch und der Plüschgarnitur, an der die Quasten abgerissen waren.
-Aber Helene sah das alles nicht. Sie hatte nur einen Wunsch; ein paar
-Minuten ganz still und ruhig zu sitzen, dort auf dem Bettrand sich ein
-wenig sammeln zu dürfen, recht zum Bewußtsein zu kommen: du bist nun
-also wirklich in Berlin. Es war ja alles wie ein Traum.</p>
-
-<p>Lange freilich ließ ihr Wilhelm nicht Zeit. Nach knapp einer
-Viertelstunde schon pochte er: „Bist du fertig?“ Gerade daß sie noch
-den Reisestaub abschütteln konnte, das Haar ein wenig glattstreichen.
-Als sie heraustrat auf den schmalen Korridor, der ihr endlos erschien,
-wie eine ganze Straße, musterte der Bruder sie. „Na, es mag angehen
-für heut abend“, sagte er ein wenig von oben herab, aber mit seinem
-sonnigsten Lächeln.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span></p>
-
-<p>Dann saßen sie unten im Speisesaal, im strahlenden Licht der großen
-Gaskronen. Es war ja doch wohl Gaslicht, von dem sie schon so viel
-gehört hatte? Dies seltsam helle, eigen flackernde Licht, das von der
-Decke herableuchtete und aus vielarmigen Leuchtern an den weißen Wänden.</p>
-
-<p>Wilhelm bestellte eine Flasche Champagner und suchte ihr in der
-riesengroßen Speisekarte ein paar Gerichte aus. Aber sie konnte kaum
-essen. Es war zu überwältigend — das alles. Der große Saal, in Licht
-getaucht, die vielen Menschen an den Tischen, das Schwatzen und Lachen
-der Gäste, die hin und her gleitenden Kellner.</p>
-
-<p>„Prosit, Kleinchen. Was machst du denn für Augen? Fast, als ob du ins
-Paradies schautest. Ach Kind, gewöhn’ dir das ab. Es ist nicht gut,
-wenn man sich verwundert zeigt, und mit dem Wasser wird schließlich
-auch in Berlin gekocht. Da ... trink nur&#160;...“</p>
-
-<p>Und sie trank. Wie Feuer strömte es durch die Adern, stark und süß.</p>
-
-<p>„Ach ... Wilhelm ... lieber Wilhelm&#160;...“</p>
-
-<p>„Ja doch, du kleines Provinzschäfchen. Es ist schon anders wie in
-Rohlbeck. Was? Aber ob’s immer besser ist? Na, darüber wollen wir uns
-heut den Kopf nicht zerbrechen. Freuen wir uns der Stunde.“ Er nahm
-von der Fruchtschale ein paar Rosinen, warf sie in ihren Spitzkelch.
-„Siehst du, wie das perlt und perlt, wie der Schaum gleich wieder
-aufsteigt. So ist Berlin. Hier perlt das Leben immer aufs neue hoch,
-schäumt und schäumt. Trink aus, Lene, trink aus, ehe der Schaum
-verfliegt.“</p>
-
-<p>Es war wohl spät, als sie die Treppen wieder hinaufstiegen, eins, zwei
-hohe, steile Treppen. „Wir wohnen dem Himmel nahe, Lene“, scherzte der
-Bruder. „Schlaf wohl und träume etwas Schönes. Man sagt ja: was man in
-der ersten Nacht in einem fremden Hause träumt, geht unweigerlich in
-Erfüllung.“</p>
-
-<p>Die Augen wollten ihr zufallen vor Ermüdung. Aber der Schlaf wollte
-nicht kommen. Lange, lange nicht. Von<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> der Straße herauf drang es wie
-ein unaufhörliches Tosen. Wagenrollen auf hartem Pflaster, Hunderte von
-Menschenstimmen, ebbend jetzt, wieder anschwellend dann.</p>
-
-<p>Aus all dem Hasten dort unten stieg ihr ein Bild der großen Stadt
-empor, unklar und verworren, wie ein Kind es sich in Gedanken formt
-und aufbaut. Ein Labyrinth war’s schließlich mit tausend Wegen, die
-von himmelhohen Wänden eng umschlossen wurden, und sie lief und
-lief in ihnen umher, ohne ihr Ziel zu finden, immer schneller und
-immer hastender, stieß mit den Händen überall auf die kalten, öden,
-eisenharten Steinmauern, wußte nicht ein noch aus&#160;...</p>
-
-<p>Da kam einer, hatte eine hohe Pelzmütze auf, an der ein glitzernder
-Edelstein funkelte, nahm sie an der Hand, wollte sie führen. „Wir
-finden schon den Ausweg, Helene Hackentin“, sagte er mit seiner
-einschmeichelnden Stimme. „Ganz gewiß, wir finden ihn.“ Aber sie
-hasteten beide weiter und weiter, und immer wieder trafen sie aufs neue
-himmelhohe, kalte, öde Steinwände, aus denen es keinen Ausweg gab.</p>
-
-<p>Dann war sie, mit einem Male, in der kleinen Kirche von Rohlbeck.
-Die Orgel klang dünn, wie immer. Der alte Heckstein verließ eben die
-Kanzel; sie saß im Herrschaftsgestühl, links die Mama und rechts der
-Vater; auch Martha war da, mit ihrem lieben, glatten, ruhigen Gesicht,
-das ein wenig traurig aussah. Wilhelm war ja wieder in Berlin. „Das
-heißt,“ sagte Vater, „Heckstein hat heut schön gepredigt.“ „Nein,
-Papachen,“ gab Mama zurück, „er hat wieder einmal einen alten Bock
-geschlachtet.“ „Wenn schon,“ meinte der Vater darauf, „die Hauptsache
-ist, daß wir unser Kind wiederhaben.“ Und da setzte Kantor Flehr mit
-dem Schlußgesang ein.</p>
-
-<p>‚Natürlich, du träumst das alles —‘ sagte sich Helene dabei. ‚Träumst
-es und bist doch eigentlich ganz wach. Hörst ja den Lärm von der Straße
-und das Laufen auf der Treppe und das Zuschlagen der Türen. Merkwürdig
-ist das. Aber es ist so schön, dies Träumen. Gerade das<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> letzte, das
-von Rohlbeck. Und eigentlich hast du heut, den ganzen Tag, noch nicht
-einmal an Rohlbeck gedacht. An unser liebes altes Rohlbeck — und an
-Vater und Mutter ...‘</p>
-
-<p>Da faltete sie die Hände. Sie wollte wohl eines ihrer alten
-Kindergebete vor sich hersagen. Aber sie kam nicht dazu. Mit einem
-müden, frohen Lächeln schlief sie ein.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Fuenftes_Kapitel">Fünftes Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>Am nächsten Morgen brachte Wilhelm ein kleines Billett mit an den
-Frühstückstisch, hielt es der Schwester hin, daß sie gerade nur die
-Handschrift auf der Adreßseite sehen konnte, und fragte scherzend:
-„Rate! Von wem?“</p>
-
-<p>Helene hatte prächtig geschlafen und war in rosigster Laune. „Vom
-Kaiser von Rußland!“ gab sie lachend zurück.</p>
-
-<p>„Nicht ganz, aber beinahe. Von einem gewissen kaiserlich russischen
-Hofopernsänger wenigstens.“</p>
-
-<p>Er wartete wohl, daß sie heftig zugreifen würde. Doch er irrte. Ihre
-Hand hob sich zwar, sank aber gleich wieder zurück, und sie machte
-sich eifrig an ihrem Milchbrot zu tun. Daß ihre Hand dabei ein wenig
-zitterte, bemerkte er nicht, fragte nur wieder: „Bist du denn gar nicht
-neugierig?“</p>
-
-<p>„Du wirst mir ja schon sagen, was Herr Schwarz dir geschrieben hat.“</p>
-
-<p>„Sehr richtig bemerkt, Lene. Also laß mal dein Brötchen ruhen ...
-ist übrigens famos, das Berliner Gebäck, nicht wahr? Anders als die
-Wassersemmeln, die die Semmelmuhme von Lagow im Tragkorb bringt?“</p>
-
-<p>„Sehr fein ist’s. Also&#160;...“</p>
-
-<p>„Ja, also. Herr Schwarz scheint wirklich einer der liebenswürdigsten
-Tenore des neunzehnten Jahrhunderts. Er schreibt mir: ‚Sehr
-verehrter Herr von Hackentin! Gestern hatte ich Gelegenheit, Madame
-Harriers-Wippern zu sprechen. Sie ist erfreut über die Mitteilungen,
-die ich<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> ihr machen konnte, und gern bereit, das gnädige Fräulein
-zu prüfen. Da ich nach unserer Verabredung annehme, daß Sie gestern
-angekommen sind, habe ich Sie gleich für heut mittag 12&#189; Uhr
-angesagt. Meine gehorsamsten Empfehlungen an Fräulein Schwester und die
-Bitte, daß das gnädige Fräulein sich nicht wegen des Probesingens Sorge
-macht. Das könnte nur schaden und ist auch total unnötig: ich weiß, was
-ich gesagt habe, und übernehme jede Garantie. Hochachtungsvollst‘ und
-so weiter und so weiter&#160;...“</p>
-
-<p>Wilhelm faltete den Brief wieder zusammen: „Hoffentlich bist du gut
-disponiert, Helene&#160;...“</p>
-
-<p>Er bekam nicht gleich Antwort. Aber diesmal konnte Helene ihre Erregung
-nicht verbergen. Das Blut strömte ihr ins Gesicht, kam und ging. Das
-Messerchen, das sie noch in der Hand hielt, klirrte gegen den Teller.</p>
-
-<p>„Aber Helene!“ Er schüttelte den Kopf. „Bist doch sonst solch tapferes
-Mädel. Du wirst doch singen?“</p>
-
-<p>Sie fand noch immer kein Wort. Es wirbelte in ihrem Kopf. Sie wollte
-lachen und sagen: ‚Natürlich werd ich singen. Gut werd ich singen. Was
-denkst du denn eigentlich?!‘, aber ihr war es, als könnte sie nicht
-einen Ton herausbringen.</p>
-
-<p>Dann streckte sie endlich, immer noch schweigend, die Hand hin. Er gab
-ihr den Brief. Sie überlas einmal, zweimal die etwas flüchtigen Zeilen.
-Mechanisch zuerst, wie um Zeit zu gewinnen. Dann aufmerksamer, Wort
-für Wort. Dabei wurde sie ruhiger. Sie rückte gleichsam von der Probe
-auf ihr Können ab. Aber zugleich kam eine andere Überlegung: ‚Daß Herr
-Schwarz so großes Interesse an dir nimmt!‘ Es hatte etwas Peinliches
-für sie, es hatte zugleich etwas Wohltuendes. Es verdroß sie, setzte
-sie in Verlegenheit — und doch freute sie sich darüber. Und daß es sie
-freute, verdroß sie wieder. Dabei fühlte sie aufs neue das seltsame
-Prickeln in ihren Adern, das sie neulich abends in Rackow empfunden
-hatte, als er sich über sie beugte und ihr leise zuflüsterte mit seiner
-weichen,<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> einschmeichelnden Stimme: „Sie wissen doch, daß ich nur für
-Sie gesungen habe!“ Sie dachte: ‚Heut also wirst du ihn wiedersehn‘,
-und indem sie das dachte, sah sie im Geiste schon sein schmales feines
-Gesicht vor sich und seine Augen auf sich gerichtet.</p>
-
-<p>Wilhelm wurde ungeduldig. So raffte sie sich auf, mit einem jähen
-Entschluß: „Ich möchte aber nicht, daß Herr Schwarz bei Frau
-Harriers-Wippern ist, wenn ich singen soll&#160;—“</p>
-
-<p>„Ja ... gib mir doch noch mal den Brief. Er schreibt ja gar nichts
-davon&#160;...“</p>
-
-<p>„Er ... er wird doch dabei sein&#160;...“</p>
-
-<p>„Und wenn er’s ist, stört dich das?“</p>
-
-<p>„Ja ... es stört mich.“</p>
-
-<p>Der Bruder drehte den Brief in den Händen herum. „Nimm es mir nicht
-übel, Helene, das ist ein bissel kindisch“, sagte er ärgerlich. „Ist
-eigentlich auch undankbar. Ich kann dem Mann doch nicht schreiben:
-‚meine Schwester wünscht Ihre Gegenwart nicht‘. Übrigens weiß ich nicht
-einmal seine Adresse.“</p>
-
-<p>„Doch! Die steht ja auf dem Bogen. Hotel de Rome.“</p>
-
-<p>„So. Richtig. Der Herr Hofopernsänger wohnt etwas vornehmer als wir. Ja
-... aber was soll ich ihm denn schreiben?“</p>
-
-<p>Sie zog die Stirn kraus, bis eine kleine schmale Trotzfalte zwischen
-den Brauen stand. „Schreib, was du willst. Ich ... wir dankten ihm ...
-er möchte sich aber nicht bemühen. Lieber Gott, solch ein kluger Mann,
-wie du bist, wird doch eine passende Ausrede finden. Ich bitte dich
-recht sehr, Wilhelm, schreibe gleich ... schicke einen Boten!“</p>
-
-<p>Wilhelm Hackentin schüttelte den Kopf. „Es ist mir wirklich höchst
-fatal, Lene.“</p>
-
-<p>„Ich bitte dich! Tu es mir zuliebe. Ich ... ich würde sonst nicht
-singen können. Glaub’ es mir.“</p>
-
-<p>Er trank seinen Kaffee aus, ging dann hinüber nach dem Schreibtisch,
-der am Fenster stand. „Meinetwegen ...“ sagte er im Fortgehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span></p>
-
-<p>Sie sah, wie er sich drüben den Stuhl zurechtrückte, sich setzte, zur
-Feder griff.</p>
-
-<p>Ganz still saß sie, immer die Augen auf ihn gerichtet, immer noch mit
-der kleinen schmalen Trotzfalte zwischen den Augenbrauen. Sah auf den
-Bruder und sah doch über ihn hinweg.</p>
-
-<p>Wilhelm schrieb hastig, setzte einmal ab, fuhr fort, überlas, was er
-geschrieben hatte. Nun stand er auf, kam zurück. „Hier, Helene&#160;...“</p>
-
-<p>Da griff sie nach dem Bogen in seiner Hand und sagte jäh: „Ich hab es
-mir überlegt. Wir wollen den Brief nicht abschicken.“</p>
-
-<p>Er lachte laut auf. „Na, da hätten wir’s ja. Also eine Kaprice! Weiter
-nichts als Laune. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten.
-Das, scheint mir, trifft bei dir auch zu. Nun laß mich aber wenigstens
-in Ruhe eine zweite Tasse Kaffee trinken.“</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p>Frau Harriers-Wippern wohnte in der Viktoriastraße.</p>
-
-<p>Wilhelm hatte eine Droschke nehmen wollen, aber Helene bat, daß sie zu
-Fuß gehen dürfte. Ihr war es, als müßte und könnte sie sich einen Druck
-von der Seele fortlaufen, wie sie wohl in Rohlbeck weit hinaus, über
-die Felder nach dem Forst gelaufen war, wenn die Unruhe sie geschüttelt
-hatte.</p>
-
-<p>So gingen sie. Manchmal sah Wilhelm die Schwester heimlich von
-der Seite an. Er wurde nicht recht klug aus ihr. Ihr Gesicht
-zeigte eigentlich keine besondere Spannung. Aber ihre Gangart war
-eigen hastig. Manchmal lief sie fast, um dann wieder plötzlich
-stehenzubleiben, mit irgendeiner Ausrede, mit einem Blick in ein
-Schaufenster. Aber er sah wohl, daß dieser Blick nur flüchtig über
-die Auslagen hinglitt, viel flüchtiger, als er’s von dem Provinzmädel
-erwartet hätte. Ihre Gedanken mußten ganz wo anders sein.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p>
-
-<p>Einmal fragte er: „Hast wohl doch ein bissel Herzklopfen, Lene?“</p>
-
-<p>Da schüttelte sie den Kopf.</p>
-
-<p>Sie gingen durch die Leipziger Straße. Dann und wann machte er sie auf
-ein Gebäude, auf eine Sehenswürdigkeit aufmerksam. „Da hast du das
-Kriegsministerium.“ „Das ist das Denkmal vom Grafen Brandenburg ...
-weißt du, dem Sohn König Wilhelms des Zweiten und seiner morganatischen
-Gattin, der Gräfin Dönhoff“ — „Das sind die alten Torgebäude und
-dahinter steht die Stadtmauer, die um das ganze innere Berlin geht.“</p>
-
-<p>Sie nickte dann, aber er fühlte, sie hörte kaum, was er sagte.</p>
-
-<p>Am Tor mußten sie eine Weile warten. Auf der Verbindungsbahn kam durch
-die Hirschelstraße ein langer Güterzug angekrochen; die Maschine
-läutete, ein Beamter mit einer roten Fahne ging vor ihr her, um die
-Passanten abzuhalten. Er erklärte ihr das wieder: wie diese Bahn die
-einzelnen Bahnhöfe für den Güterverkehr miteinander in Verbindung
-setze, so daß also ein Frachtstück, das etwa von Stettin käme und nach
-Breslau bestimmt wäre, nicht umgeladen zu werden brauchte. „So?“ sagte
-sie und weiter nichts.</p>
-
-<p>„Dort drüben — der Potsdamer Bahnhof war der erste in Berlin. Die Bahn
-nach Potsdam war nämlich überhaupt die erste in Preußen, ist schon
-vor mehr als zwanzig Jahren gebaut worden. Du, Lene, da passierte
-eine komische Affäre. Der alte Nagler, der damals an der Spitze der
-Post stand, wollte nämlich von der Eisenbahn nichts wissen. Und um zu
-beweisen, daß sie ganz unnötig wäre, ließ er säuberlich konstatieren,
-daß der ganze Verkehr zwischen Potsdam und Berlin täglich mit drei
-Voitüren bewältigt würde. Wozu also eine Eisenbahn? Übrigens sind die
-Herren mit den langen Zöpfen heut noch nicht ausgestorben.“</p>
-
-<p>„So“, sagte sie wieder und weiter nichts.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span></p>
-
-<p>Inzwischen war der Güterzug vorübergepoltert, die Menschenmasse,
-die sich aufgestaut hatte, wälzte sich über den Platz und zog die
-Geschwister mit. Durch die stille Bellevuestraße gingen sie. „Das ist
-der Tiergarten,“ meinte Wilhelm und zeigte auf die entlaubten Bäume.
-„Fünf Minuten weiter wohnt Tante Oschitz, der wir heut nachmittag
-unsere Visite machen werden.“</p>
-
-<p>„So“, sagte sie zum dritten Male. Und da gab er es auf.</p>
-
-<p>Und nun waren sie in der Viktoriastraße. Wilhelm suchte die Hausnummern
-ab. „Hier ist’s.“</p>
-
-<p>Da sah er, zum ersten Male, daß aus dem Gesicht der Schwester jeder
-Blutstropfen gewichen war. Eigen glänzend standen die großen blauen
-Augen in dem weißen Antlitz. Nur die Lippen waren rot, rot wie
-Korallen. Und die Unterlippe hatte Helene ein klein wenig zwischen die
-Zähne gezogen.</p>
-
-<p>„Du hast ja doch Angst&#160;—“</p>
-
-<p>„Bewahre. Was denkst du dir denn.“</p>
-
-<p>Sie gingen die teppichbelegte Treppe hinauf, schellten. Ein Diener
-öffnete. Wilhelm reichte ihm seine Karte. Er verschwand, kam gleich
-zurück: „Die gnädige Frau läßt bitten.“</p>
-
-<p>Helene sah ihn nicht sofort, aber sie fühlte: <em class="gesperrt">er</em> ist hier.</p>
-
-<p>Sie sah zuerst nur die hohe schlanke Frau, die mit liebenswürdigem
-Lächeln auf sie zukam. Und sie sah auch, daß Frau Harriers-Wippern
-ein wenig stutzte, als sie dicht vor ihr stand, wie in einer leichten
-Überraschung. „Fräulein von Hackentin, ich freue mich, daß Sie sich mir
-anvertrauen wollen“, sagte sie. „Kollege Schwarz hat mir viel von Ihnen
-erzählt.“ Das Lächeln in dem jugendlichen Gesicht vertiefte sich ein
-wenig. „Aber er hat nicht übertrieben, wie ich soeben bemerke.“</p>
-
-<p>Da trat er auch schon hinter den großen Blattgewächsen, die den
-einen Teil des Salons abgrenzten, hervor: „Sie sind sehr indiskret,
-gnädige Frau“, scherzte er. „Ich gestehe aber, daß ich ein schlechter
-Schilderer war.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p>
-
-<p>Einen Augenblick hielt er Helenens Hand in der seinen. Auf einen
-Moment kreuzten sich ihre Augen. Ihre Hand war eiskalt, aber ihr Blick
-hielt dem seinen stand. Vielleicht sogar mit einem etwas feindseligen
-Ausdruck. Schwarz senkte das Auge zuerst, fast wie in leichter
-Verlegenheit. Er wandte sich schnell zu Wilhelm Hackentin, ihn zu
-begrüßen. Und da sagte Frau Harriers-Wippern auch schon, auf die Tür
-des Nebenzimmers deutend: „Jetzt, bitte, lassen die Herren uns allein.“</p>
-
-<p>Die Probe verlief ganz anders, als Helene erwartet hatte.</p>
-
-<p>Es war, als hätte die große Sängerin und Sangesmeisterin ihr die
-mühsam errungene Ruhe von den Augen abgelesen. Sie ließ ihr Zeit, bat
-zunächst, abzulegen, begann zu plaudern. Vom Alltäglichen, von der
-kleinen Reise, von den ersten Eindrücken in Berlin. Anfangs sprach
-sie fast allein. Dann, allmählich, brachte sie Helene zum Sprechen,
-lauschte, fragte nach dem bisherigen Unterricht. „Ein alter Kantor vom
-Lande. Sieh da! Das sind noch nicht die schlechtesten, und ich freue
-mich immer aufs neue, welche Liebe zur Musik in diesen Leuten steckt,
-von der leidigsten Schulmeisterei nicht zu töten.“ Fragte weiter, was
-Helene gesungen habe. Sprach dazwischen wieder von eigenem Erleben.</p>
-
-<p>Langsam wich die Starrheit aus dem Gesicht des jungen Mädchens, das
-Blut strömte in die Wangen zurück. Der <em class="gesperrt">eine</em> Gedanke, der
-den ganzen Morgen auf ihr gelastet, wurde von dem Zwang, zuhören,
-antworten, Auskunft geben zu müssen, verdrängt; von dem Interesse an
-der schönen liebenswürdigen Dame, von der Verwunderung: „Wird sie dich
-denn noch nicht zum Singen auffordern?“ Ihr Denken konzentrierte sich
-wieder mehr und mehr auf das Kommende. Es war auch dabei ein leises
-Sorgegefühl: ‚Wie wirst du bestehen?‘ Aber es lag nichts Drückendes,
-nichts Beengendes darin.</p>
-
-<p>Soeben hatte die Sängerin noch von ihrer Jugend geplaudert, daß sie im
-Kloster erzogen worden sei. Nun<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> stand sie plötzlich am Flügel, schlug
-ein paar Akkorde an: „Bitte, Fräulein von Hackentin, eine Skala&#160;...“</p>
-
-<p>Es war so überraschend, daß Helene gar nicht recht zur Besinnung kam.
-Aber indem sie sang, schmolz auch der letzte Rest des Angstempfindens.
-„Brav!“ hörte sie nur. „Und nun noch einmal. Ordentlich heraus aus dem
-Kehlchen&#160;...“</p>
-
-<p>„So. Und nun singen Sie mir mal etwas ganz Einfaches. Ganz ohne
-Begleitung. Vielleicht irgendein Volksliedchen. Ganz wie Ihnen der
-Schnabel gewachsen ist, mit Verlaub zu sagen. Soll ich helfen? Wie
-wär’s mit ‚Ein getreues Herze wissen, hat des höchsten Schatzes Preis
-...‘ Das kennen Sie doch — nicht wahr? Also nun los&#160;...“</p>
-
-<p>So sang sie.</p>
-
-<p>Frau Wippern nickte ihr zu, als die erste Strophe verklungen war. Sang
-dann die zweite, recht, als ob sie selber die größte Freude daran
-hätte, ließ Helene die dritte singen: saß am Flügel nieder, blätterte
-in einem Notenheft. „Wie ist’s? Nehmen wir etwas aus unseres guten Papa
-Webers „Freischütz“: ‚Kommt ein schlanker Bursch gegangen ...‘“</p>
-
-<p>„Brav! Brav!“ hieß es dann wieder. „Nun noch einmal ein paar
-Tonleitern. Geben Sie her, was Sie haben. Denken Sie, Sie stünden auf
-Bergeshöhe, ganz allein, und schmetterten die Töne in die freie weite
-Luft, mit den Lerchen um die Wette.“</p>
-
-<p>Und nun stand Frau Wippern wieder neben Helene. „Öffnen Sie, bitte,
-einmal den Mund, Sie kleine Lerche. Recht weit, bitte, daß ich
-ordentlich hineinsehen kann. Ohne Sorge: ich bin ja kein Dentist, und
-Ihre Beißerchen können sich außerdem sehen lassen. So ... nun mal
-tief Atem holen ... langsam ausstoßen. Sehr schön.“ Sie klopfte ihr
-zärtlich auf die Wange. „Sie sind ein mutiges Menschenkind! Seine
-helle Freude hat man daran.“ Sie lachte. „Wenn Sie wüßten, mit welchen
-Angstmeierkindern<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> ich manchmal zu tun habe!“ Dann wurde sie wieder
-ernst. „Aber nun lassen Sie sich sagen, was ich nach solch einer kurzen
-Probe sagen kann, sagen darf. Das Material ist einfach wundervoll, und
-Gott und Ihrem alten Kantor sei’s gedankt, den ich dafür im Geiste
-umarmen möchte: es ist unverbildet. Gesund ist’s, kerngesund! Eine
-Wonne für jeden Lehrer. Was daraus zu machen ist? Ich könnte wohl
-sagen: Großes ... das Größte! Aber, liebes Fräulein von Hackentin,
-prophezeien ist ein mißlich Ding. Das hat mir seinerzeit meine
-unvergeßliche Lehrerin, meine teure Franziska Cornes, auch vorgehalten,
-als ich so vor ihr stand, wie Sie heut vor mir. Eine Menschenstimme
-ist kein mechanisches Instrument. Sie ist hundert Zufälligkeiten, ist
-den mannigfachsten Anfechtungen unterworfen. Und der Lehrer allein
-tut’s auch nicht. Der Schüler muß die rechte Liebe haben, unermüdliche
-Geduld, einen nimmermüden Fleiß. Er darf nie vergessen, welch kostbares
-Gut ihm verliehen wurde, muß dies Gut pflegen und hegen wie ein
-Heiligtum&#160;—“</p>
-
-<p>Sie schwieg und sah Helene in das schöne Gesicht, aus dem die Erregung
-der Stunde leuchtete.</p>
-
-<p>„Nun, Fräulein von Hackentin, wie ist’s? Wollen wir’s daraufhin wagen?“</p>
-
-<p>Da schlug Helene in die dargebotene Hand ein und beugte sich zugleich
-im unwillkürlichen Impuls, diese Hand zu küssen. Aber Frau Wippern
-zog sie schnell fort: „Da haben wir’s.“ Sie lachte schon wieder ihr
-berühmtes silberhelles Lachen. „Als ob ich eine alte Dame wäre mit
-meinen sechsundzwanzig Jahren. Bloß, weil ich Lehrerin bin und so
-ernste Worte sprechen kann. Nicht wahr? Und jetzt können wir ja auch
-die Herren der Schöpfung erlösen.“</p>
-
-<p>Wilhelm war stark befangen, aber Schwarz kam gleich auf die Damen zu:
-„Nun, hab ich zuviel gesagt? Ich sehe es Ihnen beiden ja an: es war
-vortrefflich. Meinen Glückwunsch der Lehrerin und der Schülerin!“&#160;—</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span></p>
-
-<p>Dann gingen sie zu dritt die Viktoriastraße hinauf, durch die
-Lennéstraße dem Brandenburger Tor zu. Helene in der Mitte, Schwarz ihr
-zur Rechten, der Bruder links.</p>
-
-<p>In Helenens Seele zitterte das Erleben nach. Sie war über die Prüfung
-hinweggekommen, sie wußte selbst nicht wie. Nun klang es in ihr gleich
-Musik. Seltsam weich war sie gestimmt. Wie in einem leisen leichten
-wonnigen Rausch schritt sie dahin. Die Erde schien unter ihr zu federn.
-Aller Welt hätte sie ein Liebes tun mögen. Da war der Bruder, der
-gute Wilhelm! Ja ... und der andere, der war doch ein guter Kamerad.
-Wie dumm sie heut morgen gewesen war. Und so unfreundlich. Allerlei
-törichte Gedanken hatte sie in sich herumgewälzt.</p>
-
-<p>„Du, Lene, dort drüben wohnt Strousberg.“</p>
-
-<p>Am Morgen hatte sie über Wilhelms Worte hinweggehört, jetzt merkte sie
-auf. Vielleicht nur, um ihm eine kleine Freude damit zu erweisen.</p>
-
-<p>„Strousberg — wer ist das?“</p>
-
-<p>„Aber besinn dich doch. Ich hab ja so viel von ihm erzählt. Bethel
-Henry Strousberg, gestern noch ein unbekannter Journalist, heut
-ein Faiseur, der seine geschickten Finger in allen möglichen
-Eisenbahnunternehmungen hat. Er wird noch viel von sich reden machen.
-Denk’ an mich.“</p>
-
-<p>„Werd ich! Werd ich!“</p>
-
-<p>Und sie gingen weiter am Saume des Tiergartens entlang, durch die
-Schulgartenstraße, die altersgraue Stadtmauer zur Rechten. Schwarz
-hatte nur wenige Worte gesprochen seit seinen letzten im Musikzimmer.
-Und nun wunderte sie sich darüber, und sie wartete auf das, was
-er sagen würde. Er mußte, mußte ihr doch noch etwas sagen! Es war
-unmöglich, daß sie so weitergingen und sich dann trennten und ... und
-wer weiß, wann einmal wiedersahen ... niemals vielleicht&#160;...</p>
-
-<p>Oder wartete er darauf, daß sie ihm danken würde? Vielleicht hätte
-sie’s gemußt. Aber da war etwas in ihr,<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> das ihr die Zunge band. Das
-Danken mochte Wilhelm besorgen.</p>
-
-<p>Der hatte noch eine Weile von Strousberg weiter gesprochen, dem großen
-Finanzgenie, der scheinbar aus Papier Gold zu machen verstand. Doch nun
-fragte er, an der Schwester vorbei: „Wir wurden vorhin unterbrochen,
-Herr Schwarz. Was also haben Sie für den Winter vor?“</p>
-
-<p>„Ja, so, Herr von Hackentin — es schweben noch verschiedene
-Engagementsanträge. Eigentlich sollte ich wieder an die Newa. Aber das
-Klima bekommt mir auf die Dauer nicht. Dann hieß es Wien. Ließe ich mir
-schon eher gefallen. Die goldige Kaiserstadt an der Donau, wo der Spieß
-mit dem Backhändl dran sich allezeit dreht. Eine wirkliche Musikstadt
-zugleich. Freilich, am liebsten möchte ich mich für eine Saison gar
-nicht binden. Nur gastieren — mit einem <span class="antiqua">pied-à-terre</span> hier.
-Berlin hat es mir nun einmal angetan — neuerdings&#160;—“</p>
-
-<p>Wie er das letzte sagte, fühlte sie, daß sein Auge das ihre suchte.
-Und mit einem Male überkam sie wieder die Angst, die sie heute früh
-geschüttelt hatte. Glühend heiß und eiseskalt. Es war nicht mehr der
-gute Kamerad, der da neben ihr herschritt, dem man dankbar sein mußte:
-Es war das Schicksal.</p>
-
-<p>Starr sah sie geradeaus.</p>
-
-<p>„Wien ... ja ... eine herrliche Stadt“, hörte sie Wilhelm neben sich.
-„Ein bissel Phäakenstadt. Aber das reiche wunderbare Hinterland,
-Ungarn, der ganze Orient — da ist noch eine Zukunft. Da ist viel Geld
-zu verdienen. Und Sie würden doch lieber hierbleiben? Ist kein Platz
-für Sie an unserer Oper?“</p>
-
-<p>„Kaum, höchstens als Gast. Hier schwört man zu dem schönen Woworski —“
-er zog ein wenig die Achseln hoch — „dann soll ja auch Albert Niemann
-herkommen. Und schließlich: Exzellenz von Hülsen ist mir persönlich
-nicht allzu sympathisch. Er sieht mir sein Theaterreich zu sehr wie
-eine Kompagnie Soldaten an. Aber ich bleibe doch<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> wohl in Berlin. Ich
-kann mich, ich will mich jetzt hier nicht loslösen&#160;...“</p>
-
-<p>Wieder fühlte sie seinen Blick. Und wieder sah sie starr geradeaus.</p>
-
-<p>Da rief Wilhelm: „Lene, das Brandenburger Tor! Siehst du die Quadriga?
-Weißt du: Vater erzählt so gern davon, wie sie Napoleon geraubt hat und
-wie wir sie uns wiedergeholt haben! Anno achtzehnhundertvierzehn. Du
-... hör’ mal ... du hast Glück heute&#160;...“</p>
-
-<p>Von jenseits des Tores klang Trommelwirbel, von dem Wachthause her. Und
-dann rollte aus der mittelsten Toröffnung ein schlichter, zweispänniger
-offener Wagen. Ein Greis saß darin, mit weißem Bart, ausrasiert am
-Kinn. Gerade aufgerichtet saß er in seiner schmucklosen Uniform, dem
-geschlossenen Paletot, der hohen Mütze.</p>
-
-<p>„Der König&#160;—“</p>
-
-<p>Ganz dicht fuhr der Wagen an ihnen vorüber. Helene verneigte sich tief.
-Es durchschauerte sie: gar nicht tief genug konnte sie sich neigen vor
-des Königs Majestät. So war es ihr von klein auf gesagt und gelehrt
-worden.</p>
-
-<p>Ein paar Leute standen rechts, standen links. Nur wenige grüßten.</p>
-
-<p>Und dabei hatte der königliche Greis so huldreich an den Mützenschirm
-gefaßt; fast war es, als ob sein gutes klares Auge auf einen Moment auf
-der kleinen Gruppe geweilt hätte, als ob über das ernste Antlitz der
-Schein eines gütigen Lächelns geglitten wäre.</p>
-
-<p>„Warum grüßen denn die Leute nicht, Wilhelm?“ Jetzt endlich fand Helene
-die Sprache wieder, und in ihr klang ein Ton der Empörung. „Muß man den
-König denn nicht grüßen?“</p>
-
-<p>„Du Kind! Ja, man müßte. Aber man muß nicht. Dem Prinz-Regenten haben
-sie noch zugejubelt. Jetzt ist das anders. Seit ein paar Monaten
-besonders. Die Regierung ist unbeliebt, und der Berliner hält sich für
-verpflichtet,<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> das auch dem König zu markieren. Manchmal denk ich: gut,
-daß Vater still in Rohlbeck sitzt. Der würde seinen Zorn nicht bändigen
-können.“</p>
-
-<p>Sie waren durch das Tor geschritten. Die Wache war unter Gewehr. Es
-mußte soeben abgelöst worden sein. Die Gardeschützen waren aufgezogen.
-Über die grünen Röcke und die goldenen Knöpfe blitzte die Sonne. Und da
-— am Flügel seiner Mannschaft stand Merivaux, den Degen noch in der
-Hand.</p>
-
-<p>„<span class="antiqua">Bon jour, monsieur de Merivaux</span>“ rief Wilhelm über das Gitter.</p>
-
-<p>Der junge Offizier blickte überrascht auf, senkte den Degen zum Gruß.
-„Weggetreten“, kommandierte er mit heller Stimme. Die Büchsen klirrten
-gegen die Gewehrständer, es gab auf einen Moment ein Rasseln und
-Rauschen. Dann, so schien es, wollte der Neuchateller an das Gitter
-treten. Aber als ob er sich im letzten Augenblick besönne, grüßte er
-nur noch einmal und wandte sich nach der Säulenhalle, wo der Kamerad,
-den er abgelöst hatte, wartend stand.</p>
-
-<p>„<span class="antiqua">Monsieur de Merivaux</span> makte ja ein serr brummiges Gesicht.“
-Es klang etwas spöttisch, wie Schwarz das sagte. Es klang etwas
-komödienhaft mit der übertriebenen Nachahmung des Akzents. Und es sah
-spöttisch und herausfordernd zugleich aus, wie er dabei mit seinem
-dünnen Stöckchen gegen die Beinkleider klopfte.</p>
-
-<p>Drüben stand eine einsame Droschke.</p>
-
-<p>„Können wir nicht nach Hause fahren“, bat Helene plötzlich. „Ich bin so
-müde, Wilhelm.“</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p>Nun war Helene Hackentin bei der Tante Oschitz untergebracht. „Auf ein
-paar Wochen,“ hatte Vater geschrieben, „das heißt, wenn wir’s so lange
-ohne dich aushalten.“ „Ich behalte dich auch ein paar Monate,“ hatte
-Tante Marianne gesagt, „das heißt, wenn du keine Späne machst.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span></p>
-
-<p>Frau von Oschitz bewohnte dasselbe kleine Haus in der Tiergartenstraße,
-das der verstorbene Geheime Rat vor einem Vierteljahrhundert gekauft
-hatte. Rechts nach der Bendlerstraße zu war vor wenigen Jahren ein
-dreistöckiges Miethaus entstanden, links eine große Villa aufgeführt
-worden. Dazwischen stand das graue Häuslein, das noch aus der
-kurfürstlichen Zeit stammte und einst ein Lustschlößchen gewesen sein
-sollte; ein tiefer Vorgarten schied es von der Straße; dahinter dehnte
-sich ein noch größerer, wenig gepflegter Garten bis zum Landwehrgraben.
-„Meine Insel“ nannte Tante Oschitz ihren Besitz manchmal, und er
-war wirklich wie ein abgeschiedenes Stückchen Erde. Wenn Helene in
-der ungeheuerlich tiefen Fensternische stand, in der ein ganzer
-Schreibtisch Platz gefunden hatte, und in den Garten hinaussah, konnte
-sie denken, daß sie in Rohlbeck wäre. Der Lärm der Stadt drang nicht
-bis hierher, die weite, von hohen Bäumen umrahmte Rasenfläche glich
-einer Wiese, und sogar eine Stallung fehlte nicht. Die Pferde freilich
-hatte Tante Marianne bald nach dem Tode ihres Mannes abgeschafft. „Das
-Geld, das sie fressen, kann ich besser verwenden.“</p>
-
-<p>Die kleine, zarte Dame sollte einst eine Schönheit gewesen sein.
-Heut sah man wenig davon. Das Gesicht war mit Fältchen übersät, vor
-der Zeit gealtert. So hieß sie in der Familie die <em class="gesperrt">alte</em> Tante
-Oschitz und war doch noch gar nicht so sehr alt. Helene wußte das:
-Mutter, die immer gern den Jahren anderer nachrechnete, hatte oft
-genug davon erzählt: Marianne Hackentin war Hofdame bei der Prinzessin
-der Niederlande gewesen, hatte ungezählte Körbe ausgeteilt und erst
-mit dreißig und einigen Jahren, als sie „längst aus dem Schneider
-heraus war“, wie Mama das ausdrückte, den Geheimrat erhört — „Matthäi
-am letzten“. Der einzige Sohn aber, Harro, war siebzehn. Also hatte
-Tante Marianne etwa die Fünfzig erreicht. Helene kam sie vor wie eine
-Greisin. Und die kleine, schwächliche Frau wußte sich, bei aller<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span>
-Güte, auch den Respekt einer Greisin zu wahren. Selbst dann, wenn man
-manchmal gern über sie gelacht hätte.</p>
-
-<p>Einst, erzählte man in der Familie, sollte Tante Oschitz sehr
-lebenslustig gewesen sein. Mit ihrer Verheiratung war eine Veränderung
-ihres Wesens eingetreten, über die sogar der Rackower, ihr
-Jugendfreund, noch heute den Kopf schüttelte; seit sie Witwe war, lebte
-sie fast ganz weltabgeschieden. Nur ihrem Harro und ihren guten Werken;
-allenfalls noch ihrer Porzellansammlung, obwohl sie jeden Groschen, den
-sie dafür ausgab, eigentlich als Sünde betrachtete. Sie war sehr fromm.
-Die Landeskirche genügte ihr nicht, und sie hatte sich einem kleinen
-Kreise ähnlich gerichteter Seelen angeschlossen, die der Pastor Müller
-um sich versammelte. Ein Geistlicher, der auch aus der Landeskirche
-ausgeschieden war. „Tränen-Müller“ hieß er unter den Ketzern Berlins,
-denn in seinen Konventikeln sollten die Tränlein fließen wie Bächlein
-auf den Wiesen.</p>
-
-<p>Als Tante Oschitz zum letzten Male in Rohlbeck gewesen war, hatte sie
-ein gewaltiges Ringen mit dem alten Heckstein gehabt. Seitdem streckte
-der, sobald die Rede auf sie kam, immer abwehrend beide Hände aus:
-„Hackentin, verschone mich bloß mit der Oschitzen. Die ist mir über.“
-Und dazu lachte der „dreimal gesottene Rationalist“, — so hatte sie
-ihn genannt, bis er nicht mehr konnte.</p>
-
-<p>Übrigens mußte Helene dem „Tränen-Müller“ eigentlich dankbar sein.
-Das Zünglein, ob Tante Marianne sie auf längere Zeit aufnehmen wollte
-oder nicht, hatte anfangs ein wenig geschwankt, aber er hatte für sie
-entschieden. Der schöne Mann liebte die „Schönheit der Kreatur“, wie
-er es ausdrückte. Als der sich an einem der ersten Abende einfand,
-hatte Helene das Zimmer verlassen wollen, um nicht zu stören. Da war
-er auf sie zugekommen, hatte seine weißen, weichen Hände sanft auf
-ihre Schultern gelegt, sie auf den Stuhl niedergedrückt und mit seiner
-unendlich milden Stimme gesagt: „So bleiben Sie doch, liebes Kind. Ich
-sehe Sie so gern an.“ Und außerdem liebte<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> er die Musik, sogar die
-weltliche. Von ihm zuerst hörte sie vom trefflichen Grell, dem Direktor
-der Singakademie, und vom Sternschen Gesangverein.</p>
-
-<p>Es war sehr still auf der einsamen Insel. Tante Marianne liebte die
-tiefste Ruhe um sich her. Die Dienstboten schlichen auf Filzsohlen und
-flüsterten nur. Sogar Harro war auf diese Stille hin erzogen, er sprach
-im Hause immer vorsichtig und gedämpft. Und doch sprühte dem blonden
-Gymnasiasten das helle Leben, ja der Übermut aus den blauen, glänzenden
-Augen. Manchmal, wenn er mit Helene im hinteren Garten spazieren ging,
-rief er plötzlich laut: „Laß uns laufen! Um die Wette laufen! Bis
-uns der Atem ausgeht!“ Das taten sie dann. Sie rasten an den hohen
-Taxushecken entlang bis zum Landwehrgraben und wieder zurück, bis sie
-wirklich nicht mehr konnten und stehenbleiben mußten, mit roten Wangen
-und jagenden Pulsen. „Ah, war das schön! War das schön!“</p>
-
-<p>‚Ein Prachtjunge, der Harro! Man muß ihn gern haben!‘ dachte Helene
-dann. ‚Wer weiß, ob ich’s ohne ihn so gut aushielte auf der einsamen
-Insel?‘</p>
-
-<p>Denn Tante Oschitz hatte auch ihre „Mucken“. Sie tyrannisierte auf ihre
-milde Art das ganze Haus und alles, was darin war.</p>
-
-<p>„Nimm dich in acht vor Tante Marianne!“ hatte Wilhelm bei der
-Übersiedlung gesagt. „Es hat manchem nicht gut getan, mit ihr Kirschen
-essen zu wollen.“</p>
-
-<p>Dabei standen sich eigentlich gerade der Bruder und Tante Oschitz
-merkwürdig gut. Manchmal saß Wilhelm wohl eine Stunde und länger bei
-ihr allein. Manchmal hörte sie fast andächtig zu, wenn er von seinen
-Projekten sprach. Manchmal freilich strich sie ihm auch eine bittere
-Wahrheit fingerdick aufs Brot. Gleich in den ersten Tagen einmal. Da
-hatte er ihr im Auftrag von Vater von der Pension gesprochen, die der
-für Helene bezahlen wollte.</p>
-
-<p>„Nein, mein lieber Wilhelm, Geld nehme ich nicht. Der Rittmeister
-hat’s nicht dazu, wird schon seine Mühe haben, das sündhaft schwere
-Geld für den Unterricht aufzubringen.<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> In Rohlbeck konnte man ja nie
-rechnen, hat immer nur depensiert. So ist’s denn da immer weiter bergab
-gegangen.“ Sie sagte es, die Hände im Schoß gekreuzt, mit sanfter
-Stimme, die aber einen eigen bestimmten Klang hatte.</p>
-
-<p>„Sparsam genug haben Vater und Mutter, weiß Gott, gelebt.“</p>
-
-<p>„Laß doch den lieben Gott aus dem Spiel. Ja, sparsam haben sie gelebt,
-aber wirtschaften konnten sie nicht. Damit sind sie bei aufgepritschten
-Brotsuppen und Braunbier auf den Hund gekommen. Ich hab’s doch noch
-erlebt, als deine Mutter ihr letztes Väterliches ausgezahlt bekam.
-Dreißigtausend Taler waren es, und in zwei Goldtönnchen ist’s in
-Rohlbeck angekommen. Was haben sie damit gemacht? Die Tönnchen unter
-ihre Betten gestellt, und wenn jemand Geld brauchte, dann langte
-er hinein. Wenn ich’s nicht beschwören könnte, würde ich’s selber
-nicht glauben. Nicht zinstragend angelegt, nichts — nichts! Einfach
-aufgebraucht, bei Wassersuppen und Braunbier. Und dabei ist Heinersdorf
-verkauft worden, und Grunow mußte verkauft werden. Es ist eigentlich
-gar nicht auszudenken. Sünde ist’s — Sünde!“</p>
-
-<p>„Die alte Zeit, Tante Marianne. Mir wär’s auch lieber; die Eltern
-hätten besser gewirtschaftet und ich brauchte mich hier nicht zu
-schinden.“</p>
-
-<p>„Wie häßlich gesagt — schinden? Geldverdienen ist ehrliche Arbeit. So
-jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen, steht in der
-Heiligen Schrift. Ich laß es dir übrigens, du bist ein emsiger Mann, in
-deiner Art. Aber daneben steckt das Rohlbecker Blut in dir. Dem kann
-nicht genug gesteuert werden.“&#160;—</p>
-
-<p>Still und friedfertig floß das Leben dahin auf der einsamen Insel.</p>
-
-<p>Aber die Stille und der Friede des Hauses, denen sich Helene äußerlich
-anzupassen hatte, füllten ihr Herz nicht. Ihr Herz war unruhig und
-voller Unrast.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p>
-
-<p>In ihren Nöten war die Kunst ihr einziger Halt. Doch je weiter die Zeit
-ging, desto mehr fühlte sie, auch die Kunst war nur ein zerbrechlicher
-Stecken für sie. Der stärkste Fleiß half da nicht. Er mochte die
-Stunden töten. Daneben aber blieben andere Stunden, in denen ihre Kunst
-nur ihre Seele immer stärker aufpeitschte.</p>
-
-<p>Wohl war Frau Harriers-Wippern zufrieden. Fast immer gleich zufrieden.
-Helene sah es ihr mehr an, als daß sie es aussprach, denn sie war
-ziemlich karg mit Anerkennung und Lob und verlangte viel, was Helene
-zuerst ganz wunderlich vorkam: endlose Atemübungen, sorgsame Studien
-vor dem Spiegel, predigte immer wieder: „Langsam — langsam! Geduld,
-Fräulein von Hackentin!“ Bisweilen aber nannte sie sie doch ihre
-liebste Schülerin, bisweilen sprach sie doch von erstaunlich schnellen
-Fortschritten. Aber dann und wann, und nur immer häufiger, schüttelte
-sie auch den Kopf: „Sie dürfen sich nicht überanstrengen, liebes Kind.“</p>
-
-<p>„Es strengt mich nicht an. Nie! Nie!“</p>
-
-<p>„Sie wissen das selbst nicht. Mir kann das nicht entgehen. Ihr
-Temperament reißt Sie zu sehr fort. Es ist etwas Herrliches, gerade
-für unsere Kunst, um ein starkes Temperament. Nur müssen wir es straff
-im Zügel zu halten wissen. Bei Ihnen steigert’s sich manchmal bis zur
-Leidenschaftlichkeit.“</p>
-
-<p>Und Helene wußte: ja — bis zur Leidenschaft!</p>
-
-<p>Das war ihr Schicksal. Er war ihr Schicksal.</p>
-
-<p>Sie hatte sich dagegen gesträubt mit aller Kraft ihres Willens. Mit all
-ihrem Stolz. Es war stärker als sie.</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p>Alfred Schwarz war wirklich in Berlin geblieben. War wenigstens meist
-in Berlin. Ende Oktober gastierte er in der Friedrich-Wilhelmstadt;
-unmittelbar nach Theodor Wachtel und mit gleich großem Erfolge.</p>
-
-<p>Sie hatte ihn bis dahin nur wenige Male gesehen. Einmal traf
-sie ihn zufällig — war es zufällig? — im<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> Vorzimmer von Frau
-Harriers-Wippern. Einmal begegnete sie ihm auf dem Wege zu ihrer
-Lehrerin. Sie sprachen nur knappe Worte miteinander. Er erkundigte
-sich nach ihren Fortschritten, wie sie sich eingelebt hätte. Sie gab
-so kurz als möglich Auskunft, nur so viel, als die kargste Höflichkeit
-forderte. Kaum so viel: denn die Abwehr lohte in ihrer Seele.</p>
-
-<p>Aber sie mußte an ihn denken, Tag und Nacht. Im Zorn auf ihn und auf
-sich selber. In schmerzvoller Sehnsucht dann. Immer sah sie ihn vor
-sich, immer hörte sie seine Stimme. Mitten im Traum schrak sie auf:
-sie waren wieder in Rackow gewesen, er hatte wieder die „Letzte Rose“
-gesungen, er hatte wieder gesagt: nur für Sie — nur für dich! Sie
-schrak auf und biß vor Scham in ihr Kissen und weinte&#160;—</p>
-
-<p>Und nun gastierte er — Frau Harriers-Wippern hatte es beiläufig
-erzählt — in der Friedrich-Wilhelmstadt.</p>
-
-<p>Ein paar Male war sie in der Königlichen Oper gewesen. Auf Billetts
-ihrer Lehrerin. Das gehörte ja zu ihrer Ausbildung. Ein paar
-Male auch in Konzerten. Einmal hatte sie Tante Oschitz in eine
-Beethovensche Symphonie begleitet, ein andermal durfte Harro mit ihr
-in ein Stockhausensches Konzert. Der gute Junge! Fast hätte er laut
-aufgejubelt, und wie er den ritterlichen Kavalier spielte!</p>
-
-<p>Aber die Friedrich-Wilhelmstadt: Tante Marianne hätte nur die Achseln
-gezuckt. Und sie durfte doch auch nicht fragen, nicht bitten. Sie
-wollte ja auch gar nicht ... Nein! Nein! Nein!</p>
-
-<p>Da kam Wilhelm: „Lene, hier! Herr Schwarz hat mir zwei Billetts
-geschickt&#160;...“</p>
-
-<p>Nein! Nein! — Ja! Ja!</p>
-
-<p>Tante Oschitz machte eine bedenkliche Miene, aber Wilhelm streichelte
-sie mit klugen Worten.</p>
-
-<p>Er sang den Postillion.</p>
-
-<p>Und es war fast eine Enttäuschung. Er sang wundervoll, er spielte
-hinreißend. Das Haus jubelte ihm zu, wie es<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> kaum Wachtel zugejubelt
-hatte. Und dennoch war es eine Enttäuschung: sie mochte ihn nicht als
-Postillion. Es tat ihr weh, ihn mit der Peitsche knallen zu hören. Es
-war ihr wie eine Erniedrigung. Sie schalt mit sich selber — und sie
-war doch auch froh darüber; erleichtert fast.</p>
-
-<p>Zwei Tage darauf fuhren am Nachmittag die Rackower vor.</p>
-
-<p>Frau Marie und Frau Marianne liebten sich nicht und waren daher
-doppelt artig gegeneinander. Immer erkundigten sie sich nach ihren
-beiderseitigen Interessen, für die sie doch kein Interesse hatten.
-Tante Marie nach der Mission in Indien, Tante Oschitz nach den
-Winterplänen der Rackower. Immer mit kleinen Malicen zwischen allen
-Artigkeiten. Onkel Ernst gab Harro einen derben Klaps: „Nun, mein
-Junge, wann hast du denn endlich die gräßlichen Schulbänke hinter dir?“
-und tätschelte Helene beide Wangen: „Viele Grüße aus Rohlbeck. Sind
-alle gut zu Wege, bißchen fatigue siehst du aus, Leneken ...“ Dabei sah
-er schmunzelnd unter seinem Monokel um die Ecke auf die beiden Damen,
-die sich drüben am Kaffeetisch so eifrig und stimmungsvoll unterhielten.</p>
-
-<p>Und dann hieß es: „Heut abend entführen wir dir natürlich die Lene.
-Aber, liebste Kusine, das ist doch selbstverständlich. Mach’ bloß kein
-so böses Gesicht. Wir liefern dir unsere Lene auch pflichtschuldigst
-persönlich ab. Um den Hausschlüssel müssen wir freilich bitten.“</p>
-
-<p>Den Hausschlüssel bekam Helene nicht. Aber Urlaub bekam sie — „es wird
-auf dich gewartet werden.“</p>
-
-<p>Vom Theater kein Wort. Und doch wußte Helene: heut abend singt er in
-Flotows „Martha“. Heut abend höre ich wieder die „Letzte Rose“&#160;...</p>
-
-<p>Ganz still saß sie nachher im Wagen. Wußte nicht, ob sie sich freuen
-oder fürchten sollte. Würde es wieder eine Enttäuschung sein?
-Vielleicht konnte sie es überhaupt nicht vertragen, ihn auf der Bühne
-zu sehen, im Komödiantengewand, geschminkt und aufgeputzt. Vielleicht
-konnte sie den lärmenden Beifall nicht ertragen, der ihm zujauchzte.<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span>
-So schön wie in Rackow sang er auch gewiß nicht ... damals, als er nur
-für sie gesungen hatte&#160;...</p>
-
-<p>Dabei mußte sie Rede und Antwort stehen. Über ihren Unterricht, über
-Tante Marianne. Ja, und dann sprach Tante Marie wieder von Rohlbeck.
-Rohlbeck ... Rohlbeck ... was war das eigentlich? Wo lag das? Es war ja
-fast wie ausgelöscht in ihrer Erinnerung. Selten nur hatte sie in all
-der letzten Zeit an die Eltern gedacht, an Martha ... gerade nur die
-Pflichtbriefe hatte sie geschrieben. Sie verlangten ja auch nicht viel
-Nachricht daheim, das Porto war teuer. Ja ... und nun pochte das auch
-wieder an&#160;...</p>
-
-<p>„Der Rittmeister und Fritz haben sich gründlich brouilliert. Kein
-Wunder: Fritz ist dem liberalen Wahlverein beigetreten. Ein Hackentin.
-Eigentlich wirklich ein Skandal. Die Politik&#160;...“</p>
-
-<p>Ach, was ging sie die Politik an. Heut abend hörte sie die „Letzte
-Rose“&#160;...</p>
-
-<p>Sie saßen in der Fremdenloge. Vorn Tante Marie und Helene, dahinter
-Onkel Ernst. Und kaum hatte er die Bühne betreten, so wußte sie, daß er
-sie bemerkt hatte — wußte: heut singt er wieder nur für dich. Nur für
-dich. Mag das ganze Haus ihm zujubeln und toben: er singt nur für dich!
-Nur für dich!</p>
-
-<p>Es versank alles vor ihr. All der Firlefanz dort oben zwischen den
-gemalten Kulissen. Sie sah auch nicht darauf hin, sah auch kaum ihn.
-Nur hören — lauschen — lauschen&#160;—</p>
-
-<p>Heut zum ersten Male schmolz auch ihre Abwehr, schmolz ihr Stolz.
-Nichts war in ihr als ein läutendes reines Glücksklingen.</p>
-
-<p>Bis der Vorhang zum letzten Male fiel.</p>
-
-<p>„Na, kleine Enthusiastin! War’s schön?“ meinte Onkel Ernst, während der
-Logenschließer ihm in den Pelz half. „Mariechen, wir fahren gleich nach
-dem Hotel. Schwarz kann in einer Viertelstunde auch dort sein.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span></p>
-
-<p>Zuerst verstand sie nicht. Dann bäumte es sich in ihrem Herzen auf.
-Ihn wiedersehen! Heute noch ... nach diesen Stunden! Fast wie eine
-Unmöglichkeit erschien es ihr. Als ein Traum, als unfaßbares Glück,
-und doch bebte und zitterte sie vor der Minute, in der seine Augen den
-ihren begegnen, seine Hand die ihre fassen würde.</p>
-
-<p>„Wer kommt denn noch, Ernst?“</p>
-
-<p>Onkel Ernst nannte ein paar Namen, gleichgültige Namen. Offiziere
-wahrscheinlich, Diplomaten. „Merivaux hat abgeschrieben. Die
-Gardeschützen haben eine große Übung im Terrain.“</p>
-
-<p>Merivaux! Richtig ... der Neuchateller. Ja — so! Mein Gott, wie
-gleichgültig das alles war.</p>
-
-<p>Und dann, schon im Wagen, mußte sie es doch sagen: „Tante Oschitz wird
-ungehalten sein. Ich möchte lieber nach Hause.“ Sprach’s, wußte, daß es
-Lüge war und doch auch Wahrheit.</p>
-
-<p>Es war zu dunkel, als daß die Rackower die Blutwelle hätten sehen
-können, die ihre Wangen überflutete. Das Rollen des Wagens übertönte
-den angstvoll zitternden Ton ihrer Stimme. Onkel Ernst sagte nur: „Ach
-du Schäfchen&#160;...“</p>
-
-<p>Ein paar Minuten darauf stand sie im Salon des Hotel de Rome. Es wurden
-ihr ein paar Herren vorgestellt, sie hörte die Namen nicht. Man sagte
-ihr einige Artigkeiten, sie fand nur ein Lächeln. Das Herz klopfte ihr
-bis in den Hals hinauf.</p>
-
-<p>Dann war er mit einem Male da. In der Tür stand er, im Frack mit weißer
-Binde, sah sich um, suchte sie ... ja ... suchte sie&#160;...</p>
-
-<p>Sie las auf seinem Gesicht noch die Erregung der Bühne. Dann ein ganz
-leichtes, fast unmerkliches Kopfneigen zu ihr hinüber, ein frohes
-Lächeln: ‚Da bist du ja ... ich bin so glücklich, daß du hier bist ...‘
-und er trat zu Tante Marie, küßte ihr die Hand.</p>
-
-<p>Tante Marie hielt Cercle. Sie saß am Kamin, als einzige Dame; die
-Herren standen um sie herum, plauderten,<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> Deutsch und Französisch. Nun
-winkte sie mit dem Fächer: „Helene&#160;...“</p>
-
-<p>Wie schwer ihr die wenigen Schritte wurden. Als ob sie Blei an den
-Sohlen trüge; und sie hätte doch fliegen mögen.</p>
-
-<p>„Mignonne, Herr Schwarz wollte dich begrüßen.“</p>
-
-<p>Wortlos stand sie, knickste, unbewußt, was sie tat, fühlte seine Hand,
-empfand seinen Blick, wagte die Augen nicht zu erheben. Ihn nicht
-anzusehen. Denn sie fühlte: siehst du ihn an, jetzt an, so weiß er, daß
-du sein willenloses Geschöpf bist, für immer und ewig.</p>
-
-<p>Da öffneten sich auch schon die Flügeltüren. Der Oberkellner kam
-majestätisch auf Tante Marie zu: „<span class="antiqua">Madame, est servi.</span>“ Ein
-fremder Herr verbeugte sich: „Gnädiges Fräulein, ich habe die Ehre ...“
-Sie legte ihre Hand in seinen Arm. Einmal dachte sie, wie im Fluge:
-‚Ein Glück, daß er dich nicht führt.‘ Dann: ‚Wärst du doch weit von
-hier, bei Tante Oschitz und Harro, oder in Rohlbeck ...‘ Dann wieder:
-‚Wirst du ihn nachher noch sprechen?‘&#160;...</p>
-
-<p>Erst als sie saßen, als Graf Werther ein paar Worte zu ihr gesprochen
-hatte, bemerkte sie, daß Alfred Schwarz ihr zur Rechten saß. Wieder
-schrak sie zusammen, wieder wagte sie nicht, aufzusehen, nicht, ihn
-anzusehen. Und sehnte sich doch mit aller Leidenschaft ihrer Seele nach
-einem Blick aus seinen Augen, nach einem Wort von seinen Lippen.</p>
-
-<p>Dann fiel ihr mit einem Male ein, daß Vater wohl manchmal gesagt hatte:
-„Bist doch mein tapferes Mädel!“ Sie klammerte sich an das Wort. ‚Nein:
-nicht feige sein! Ankämpfen, ankämpfen! Um Gottes willen, was sollen
-denn diese fremden Menschen denken?‘</p>
-
-<p>Es war ihr immer noch, als säße sie in einem großen Schleier. Nur
-undeutlich sah sie drüben die weiße Feder auf dem Turban, den Tante
-Marie trug, und den blitzenden Crachat auf der Brust des Herrn neben
-ihr. Nur undeutlich hörte sie, was man sprach. Aber nun zwang sie
-sich.<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> ‚Bist doch mein tapferes Mädel!’ Nun kämpfte sie gegen sich an.
-Und langsam, ganz langsam sank der Schleier nieder. Der Wille kam ihr
-zurück. Sie nahm ein paar Bissen, sie trank hastig ein Glas Champagner.
-Sie konnte jetzt antworten. „Ja, ich bin noch nicht lange in Berlin.“
-— „Jawohl, es gefällt mir ausgezeichnet.“ ... „Bei meiner Tante
-Oschitz.“ — „Ganz richtig, mein verstorbener Onkel war Vortragender
-Rat im Kultusministerium.“</p>
-
-<p>Und dann hörte sie plötzlich auch seine Stimme neben sich. Leise
-flüsterte er: „Habe ich gut gesungen heut abend? Ich sang auch heut nur
-für ... nur für ein wunderschönes junges Mädchen, das rechts in der
-Fremdenloge saß. Ein wunderschönes Mädchen mit rostbraunem Haar, mit
-blauen, leuchtenden Augen&#160;...“</p>
-
-<p>Die ganze Tischrunde, meinte sie, müßte es gehört haben. Aber das
-schwirrte und schwirrte durcheinander.</p>
-
-<p>„Darf ich denn diese wunderschönen blauen Augen jetzt nicht
-wiedersehen?“</p>
-
-<p>Es zwang sie. Er zwang sie. Sie mußte sich ihm zuwenden. Dabei raffte
-sie noch einmal all ihren Willen, all ihre Kraft zusammen, rang um ein
-Lächeln, suchte nach einem abwehrenden leichten Scherz zur Antwort.
-Aber als sie ihn ansah, brachen Wille und Kraft zusammen.</p>
-
-<p>Vielleicht fühlte er es. Vielleicht stieg das Mitleid in ihm empor. Er
-sprach lauter, so daß es die Nächsten hören mußten: „Es war ein recht
-gutes Ensemble. Fanden Sie nicht auch, gnädiges Fräulein? Das Orchester
-ist sogar vortrefflich. Man darf ja nicht die Ansprüche stellen, die
-einer großen Oper gegenüber berechtigt sind. Aber immerhin, es ist mehr
-als Mittelmaß. Dazu dies dankbare Publikum!“</p>
-
-<p>Sie verstand seine Absicht, war ihm dankbar. Aber sie brachte nur mit
-Mühe ein „Es war sehr schön —“ über die Lippen. Ein Hauch war es nur,
-wohl ihm allein verständlich, und er mochte es deuten — in seinem
-Sinne. Er strahlte sie an. Und als ob sie nun seiner Stimmung Flügel
-verliehen hätte, riß er das Tischgespräch an sich.<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> In sprühender
-Laune erzählte er vom russischen Hofe, gab kleine Theateranekdoten,
-Kulissenscherze zum besten; sprach dann wieder ernster: von Richard
-Wagner, den er in Zürich kennen gelernt hatte, von dem greisen
-Meyerbeer, dem er in Paris nähergetreten war, von Rubinstein, in
-dessen Petersburger Heim er Gast gewesen. Er sprach vortrefflich,
-pointenreich. Daß er — immer er im Mittelpunkt aller Wendungen
-stand, was verschlug’s? Vielleicht gab gerade das Persönliche seiner
-Unterhaltungsgabe besonderen Reiz.</p>
-
-<p>Helene lauschte und lauschte. Manchmal senkte es sich wieder über sie
-gleich einem dichten Schleier, so daß sie nicht mehr die Worte, nur
-noch den Klang seiner Stimme wie im wohligen Traume hörte; dann kamen
-Momente, in denen sie mit einem heimlichen Jubel dachte: eigentlich
-spricht er nur zu dir, nur für dich allein. Und ein — zwei Male
-fühlte sie, wie, während er sprach, seine Hand unter der Tafel die
-ihre suchte. Dann schrak sie zusammen, rückte ab von ihm und konnte
-doch nicht wehren, daß er ihren Arm streifte, ganz leise, zärtlich,
-verstohlen.</p>
-
-<p>Tante Marie hob die Tafel auf.</p>
-
-<p>Im Salon nebenan wurde der Kaffee genommen. Und hier gewann Helene
-endlich die Selbstbeherrschung zurück. Sie stand, getrennt von ihm, in
-einem Kreise der jüngeren Herren, fand sich in dem leichten Plauderton
-zurecht. Es gab einige Anknüpfungspunkte. Der eine der Herren hatte
-in Sodelzig bei Onkel Grucker in Quartier gelegen, der andere kannte
-Fritz — „den sonderbaren Schwärmer, der ja unter die Demokraten
-gegangen sein soll“ — von der Universität her. Wilhelm kannten fast
-alle. „Warum ist Ihr Herr Bruder heut nicht hier?“ Graf Werther lachte:
-„Wilhelm Hackentin sitzt bei Ewest mit ein paar englischen Herren
-zusammen, die nach ungezählten Pfunden aussehen. Ich war vorhin auf
-einen Stipps drin und sah ihn zwischen wallenden grauen Bärten, ganz
-ehrwürdig vor lauter Wohlhabenheit.“</p>
-
-<p>Plötzlich war Schwarz wieder neben ihr, und wie er vorhin das Gespräch
-der ganzen Tafel beherrscht hatte, so<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> wußte er sie jetzt aus der
-Unterhaltung der anderen herauszureißen, sie für sich selber zu
-isolieren. Was er zuerst sagte, das durften, konnten sie alle noch
-hören. Nach ihren Studien fragte er. Ob sie sich zufrieden fühle bei
-der Kollegin Wippern? Wartete die Antwort nicht ab, sondern ergänzte
-selber: „Unsere treffliche Harriers-Wippern ist ja Ihres Lobes voll.
-Meine Lieblingsschülerin, sagt sie immer wieder. Aber eigentlich müßten
-Sie zur Viardot nach Baden-Baden. Das wäre die rechte Lehrerin für Sie.“</p>
-
-<p>Dann, als sie für ein paar Augenblicke allein standen, flüsterte er
-hastig: „Entsetzlich — diese Geselligkeit. Dieser Zwang! Nicht zwei
-Worte kann man unbeobachtet mit jemand sprechen, dem man so viel zu
-sagen hätte, so unendlich viel&#160;...“</p>
-
-<p>Sie sah scheu, erschrocken, fast verständnislos zu ihm auf, senkte
-gleich wieder den Blick. Ihr war’s ja, als hätten sie den ganzen Abend
-über miteinander gesprochen, zueinander, nur zueinander und füreinander.</p>
-
-<p>„... so unendlich viel zu sagen!“ wiederholte er heiß. „Es muß anders
-werden. Ah, jetzt nur einmal einen Spaziergang durch den Rackower Park,
-allein, ohne diese zudringlichen, neugierigen, fremden Gesichter.
-Allein ... wir beide ... wie schön müßte das sein!</p>
-
-<p>... So sprechen Sie doch! Nur ein paar Worte, ich beschwöre Sie. Morgen
-— nicht wahr? — Morgen gegen ein Uhr gehen Sie zur Wippern&#160;...“</p>
-
-<p>Sie konnte ja nicht sprechen. Ihre Stimme war erstickt. Vor Angst, vor
-Scham, vor fassungsloser Scheu. Aber der Stolz war von ihr abgefallen,
-verweht, dahin. Sie neigte willenlos den Kopf.</p>
-
-<p>„Ein Uhr ... Dank ...“ hörte sie noch. Und da kam Onkel Ernst
-angekugelt, quer durch den Salon: „Leneken, jetzt mußt du aber leider
-fort. Sonst kriegen wir’s mit Tante Oschitz zu tun, und ich bin kein
-Ritter Georg — das Drachentöten war nie meine Force.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span></p>
-
-<p>Er nahm sie an der Hand, schielte unter seinem Einglas um die Ecke
-auf Graf Werther hin und auf Schwarz, die plötzlich in ein angeregtes
-Gespräch verwickelt schienen, führte Helene zur Tante. Sie knixte,
-küßte die Hand, bekam einen kleinen zärtlichen Klaps mit dem Fächer,
-grüßte noch flüchtig nach rechts und links, mußte von Onkel Ernst
-einen dicken Schmatz auf die Stirn in den Kauf nehmen: „Fameus hast du
-ausgesehen, Lene. Trotz deines simplen Fähnchens. Tante Marie müßte
-eigentlich mal mit dir zu Bonwitt fahren .... Nacht, Kind. Grüße den
-Drachen.“</p>
-
-<p>Draußen stand Höhne mit dem diskret vertraulichen Domestikengesicht,
-das er armen Verwandten gegenüber immer hatte, geleitete sie, mit zwei
-Schritt Distanz, die Treppe hinunter zum Hotelwagen: „Untertänigst gute
-Nacht, gnädiges Fräulein.“</p>
-
-<p>Und dann huschte sie durch den Vorgarten, der im ersten Schnee lag,
-unter den bereiften Bäumen hin, in fliegender Eile. Schon von weitem
-sah sie, daß die Lampe im Zimmer von Tante Marianne noch leuchtete. Ein
-schmaler Lichtkegel fiel aus dem Fenster im Erdgeschoß quer über den
-weißen Rasen.</p>
-
-<p>Gleich, auf das erste leise Pochen, war Tante Marianne an der Tür. In
-ihr dickes Umschlagetuch ganz eingehüllt; das kleine, schmale Gesicht
-hob sich aus dem Schwarz wie ein Nonnenantlitz.</p>
-
-<p>Es sah so ernst und so streng aus, daß Helene zusammenbebte, als ob sie
-sich einer Schuld bewußt wäre. Aber Tante Marianne hatte kein tadelndes
-Wort. Sie nickte nur, und es klang höchstens ein wenig spöttisch: „War
-es sehr schön, Helene? Nun ja, natürlich. Die Rackowschen sind ja die
-berühmten Amüseurs. Da steht das Licht. Gute Nacht, mein Kind.“</p>
-
-<p>Nun war sie oben in ihrem Zimmerchen.</p>
-
-<p>Als sie den Leuchter auf den Nachttisch stellte, fiel ihr erster Blick
-auf ein kleines, altes Buch, das bisher nie dort<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> gelegen hatte. Ein
-Lesezeichen lag darin, in Kreuzesform geschnitten. Und als sie das Buch
-aufschlug, las sie:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Wer die Welt erkieset,</div>
- <div class="verse indent0">daß er Gott verlieset,</div>
- <div class="verse indent0">Wenn es geht ans Scheyden,</div>
- <div class="verse indent0">Verlieret er alle Beyden.“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Sechstes_Kapitel">Sechstes Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>‚... Wer die Welt erkieset ...‘</p>
-
-<p>An jenem Abend, als Helene den Spruch des alten Tauler zum ersten Male
-las, hatte er sie schwer getroffen.</p>
-
-<p>Nun lächelte sie darüber. Sie hatte ja gar nicht ‚die Welt erkieset‘.
-Nur einen einzigen, einen geliebten Mann hatte sie sich zu einem
-stillen, heimlichen Glück gewonnen. Sie hatte ja gar nicht Gott
-verlassen: der liebe Gott dort oben über den Wolken hatte ihr ja in
-seiner unergründlichen Güte diesen einzigen, den über alles geliebten
-Mann geschenkt!</p>
-
-<p>Ihr Herz war so voll. Ihr Glück war so groß. Und daß es so heimlich und
-verschwiegen, das war zu allem Herrlichen noch eine besondere Gnade. An
-jedem Abend lag sie mit gefalteten Händen und träumte offenen Auges ein
-Dankesgebet. Nun wußte sie es: er hatte sie geliebt vom ersten Sehen
-an; er würde sie lieben bis zu seines Herzens letztem Schlag. Und sie
-— sie! Ach, was kam es auf sie an?! Wenn sie auf dem Altar, den sie
-sich errichtet, zu Asche verglühte, was verschlug’s!</p>
-
-<p>Nein, nicht zu Asche verglühen. Immer aufs neue erglühen, leben und
-lieben! Jeden Augenblick festhalten, Hand in Hand mit dem Geliebten
-bitten, beten: verweile doch ... du bist so schön! Und über den
-Augenblick hinaus Pläne schmieden, Hand in Hand mit dem Geliebten. Aug’
-in Aug’ mit ihm goldene Pläne, Zukunftsschlösser bauen, Stein auf Stein
-zu wunderbaren Wölbungen zusammentragen<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> und zu festen Fundamenten.
-Die Zukunft — die Zukunft gehörte ja ihnen und ihrem Glück! Aber auch
-geduldig warten und ausharren wollte sie, sich biegen und beugen und
-arbeiten, studieren. Alles, alles, wie er es wünschte und wollte&#160;...</p>
-
-<p>Sie sahen sich täglich.</p>
-
-<p>Die Liebe machte sie beide erfinderisch. Manchmal mußte sie über ihn
-lächeln: wie unerschöpflich sein Register an Auskunftsmitteln war.
-Manchmal scherzte sie, sprach zu ihm Goethes Wort aus der „Iphigenie“:
-„Mir schien List und Klugheit nicht den Mann zu schänden —“. Manchmal
-erschrak sie vor seinen Anschlägen und stimmte doch jubelnd bei. Heut
-mußte der gute Wilhelm herhalten, den Elefanten spielen; morgen sahen
-sie sich in einem Konzert, in der Oper; dann begegneten sie sich bei
-der Harriers-Wippern; ein großer Spaziergang durch die verwachsenen,
-verschneiten Wege des Tiergartens, vom Goldfischteich bis zu Kroll,
-von Kroll bis zum Hofjäger, kreuz und quer, einte sie heut; morgen
-mußte sie Besorgungen in der Stadt vorschützen, und er führte sie durch
-die vergessenen kleinen Straßen Alt-Berlins, wo sie sicher waren,
-keinem Bekannten zu begegnen. Oder sie trafen sich im Alten Museum, in
-irgendeinem Teil, wo es für sie nichts zu sehen gab: bei den Ägyptern
-oder vor den Münzkästen. Da standen sie dann vor irgendeiner Mumie oder
-den Diadochenmünzen, drückten sich die Hände, flüsterten, raunten,
-scherzten — und blickten sich in die Augen. Und wenn der Aufseher
-gerade vorüberging, machten sie ernste, wichtige Gesichter und wiesen
-mit ausgestrecktem Zeigefinger: „Außerordentlich interessant ...
-Erstaunlich, diese Alten!“</p>
-
-<p>Wovon sie sprachen, worüber sie raunten und flüsterten? Über ihre
-Liebe, über ihr Glück. Wie das gekommen, wie das war, wie das bleiben
-sollte — in alle Ewigkeit. Nur über ihre Liebe, nur über ihr Glück.
-Oder doch fast nur. Denn er sprach auch bisweilen von seiner Tätigkeit,
-von seinen Erfolgen; auch wohl von den kleinen unberechenbaren
-Verdrießlichkeiten und Enttäuschungen, die keinem<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> Schaffenden erspart
-bleiben. Aber sie brauchte ihn dann nur hell anzusehen, seine Hand zu
-drücken, und die Schatten verflogen. Selten, sehr selten sprach er von
-ihrer Kunst. Das tat manchmal ein wenig weh. Aber es genügte ja, daß er
-wußte, sie schritt fort. Und wie schritt sie fort! Sagte das nicht auch
-Frau Harriers-Wippern: „Vor ein paar Wochen zeigten Sie nur das starke
-Temperament, jetzt fühle ich die Seele in Ihrer Stimme.“ Das tat die
-Liebe — auch das tat die Liebe!</p>
-
-<p>Ein paar Male mußte Alfred verreisen. Auf vier, fünf Tage, einmal
-auf eine ganze Woche. Nach Dresden, nach Köln, nach Hannover zu
-Gastspielen. Das waren trostlose Tage. Dann legte sich jedesmal die
-Stille der einsamen Insel mit Zentnerschwere auf Helene. Nicht als
-Frieden empfand sie die Ruhe, nur als Öde. Ihrem ganzen Leben fehlte
-der Inhalt; selbst die Kunst war keine Trösterin. Tante Mariannes
-leise, dünne Stimme tat ihr fast körperlich weh. Nichts interessierte
-sie. Was kümmerte es sie, wenn Tante Oschitz aus der „Kreuzzeitung“
-vorlas, daß Preußen an der Halsstarrigkeit der liberalen Abgeordneten
-zugrunde gehen würde, daß der König, Bismarck und Roon auch gegen diese
-verstockten Demokraten die Heeresreorganisation durchsetzen müßten; daß
-die Russen sich mit den Polen in den Haaren lägen? Was kümmerte es sie,
-wenn der Tränen-Müller im dämmrigen Salon schöne Worte über die Weihe
-der kommenden Weihnacht sprach, während ein halbes Dutzend alter Damen,
-um ihn gruppiert, Missionsstrümpfe strickte.</p>
-
-<p>Ja, wenn Harro noch der alte gewesen wäre, der junge, liebe, frische
-Kamerad. Aber um Harros Unbefangenheit war es geschehen. Anfangs hatte
-sie sich amüsiert, wie er ihr Ritterdienste leistete, daß er ein wenig
-verliebt in sie war, wie er das äußerte, mit verstohlenen Blicken,
-mit halben Worten. Nun war das anders. Er konnte sie schweigend eine
-Viertelstunde lang anstarren, fest zusammengepreßt die Lippen und
-düster die Augen. Manchmal war es zum Fürchten. Manchmal dachte sie:
-Er ahnt etwas von deinem<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> heimlichen Glück, er ist eifersüchtig, er
-quält sich und will dich quälen. Dann war’s wieder, als wollte er
-gutmachen. Sie fand plötzlich auf ihrem Zimmer ein paar Rosen. Rosen
-zur Winterszeit! Daß der Junge nur nicht sein ganzes Taschengeld für
-sie verpulverte. Oder er faßte plötzlich nach ihrer Hand und bat: „Du
-übst wohl viel, aber uns singst du gar nichts mehr vor. Tu’s wieder,
-liebe Helene.“ Sie mußte den Kopf schütteln. Was sie jetzt hätte singen
-können, wie sie’s hätte singen mögen, das paßte nicht für die einsame
-Insel, auch nicht für Harro&#160;—</p>
-
-<p>Schreckliche Tage, diese Tage, an denen Alfred fern war. Aber auch
-die Sehnsucht hatte ihre Süßigkeit. Und dann flogen ja die heimlichen
-Briefe herüber und hinüber, <span class="antiqua">Poste restante</span>-Briefe, die sie von
-der Hauptpost in der Spandauer Straße abholen mußte, jedesmal mit
-erneutem Herzklopfen. Ein kümmerlicher Ersatz freilich, solch ein
-Brief. Auch faßte Alfred sich immer so kurz. Kein Wunder zwar bei
-dieser aufreibenden Tätigkeit auf den Gastspielreisen, bei den langen
-Fahrten, den Proben, den vielen Verpflichtungen. Aber das Schreiben lag
-ihm wohl überhaupt nicht. Er berichtete nur, und Herz und Augen suchten
-in seinen Zeilen oft vergeblich nach den heißen Liebesworten.</p>
-
-<p>Was tat’s! Was verschlug’s?! Ein paar Tage, und er war wieder da! Sie
-sah ihn wieder, sie flüsterten und raunten, sie lachten und jubelten
-und waren glücklich.</p>
-
-<p>Dann setzte der Winter, der so lange gezögert hatte, mit voller Macht
-ein und erwies sich als ein arger Störenfried.</p>
-
-<p>Den richtigen deutschen Winter, wie er nun mit einem Male da war,
-fürchtete Alfred. Über das bißchen Schnee und ein, zwei Grad Kälte
-war er fortgekommen; als aber die Eisblumen an den Fenstern blühten,
-fühlte er im Geist schon den Katarrh, begann zu schelten, daß man an
-der Spree gegen Witterungsungunst schlechter geschützt sei als an der
-Newa, und ging trotz Pelzkragen und Schal nur ungern über die Straße.
-Mit den heimlichen<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> Wanderungen durch den Tiergarten oder durch das
-Gassengewirr vom Molkenmarkt zum Alexanderplatz war es vorbei. Das
-Landkind, das mit Vater bei achtzehn Grad Kälte im offenen Schlitten
-zu fahren gewohnt war, wollte das nicht recht begreifen. Aber da der
-geliebte Mann so empfindlich war, half’s ja nichts: sie mußte sich
-fügen.</p>
-
-<p>Sie ratschlagten.</p>
-
-<p>„Ich mache einfach bei deiner Tante Besuch“, meinte er. „Ich habe schon
-manchen Drachen gezähmt, um mit dem Rackower zu sprechen.“</p>
-
-<p>„Tante Marianne ist kein Drachen. Aber&#160;—“</p>
-
-<p>„Aber —“, fragte er heftig zurück. „Sollte ich ihr etwa deiner Meinung
-nach nicht vornehm genug sein?“</p>
-
-<p>Es kränkte sie ein wenig. Ihr ‚Aber‘ konnte sie doch nicht recht
-begründen. „Ich hab’s nur so in den Fingerspitzen, Fred ... es tut
-nicht gut.“</p>
-
-<p>„In den Fingerspitzen? Zeig’ doch mal her.“ Er lachte und küßte
-jeden einzelnen Finger einzeln auf die rosige Spitze. „In diesen
-allerliebsten Dingerchen hier können ja nur die allerschönsten Ideen
-hausen. Wenn in den Fingerspitzen überhaupt Ideen wohnen können.“</p>
-
-<p>Er machte seinen Besuch, wurde sogar angenommen; brachte zur Einführung
-eine Empfehlung der Rackowschen Herrschaften, sprach sehr zierlich über
-die reizende Lage der einsamen Insel, bewunderte das alte Berliner
-Porzellan in der Mahagoniservante, spielte, ganz beiläufig, darauf an,
-daß er eigentlich die wundervolle Stimme von Fräulein von Hackentin
-entdeckt hätte — und wurde, ehe er es sich noch versah, in Gnaden
-entlassen. Oder richtiger: nur entlassen.</p>
-
-<p>Helene war nicht anwesend gewesen. Als ihr aber Tante Oschitz von dem
-Besuch erzählte, setzte sie hinzu: „Dieser Herr Schwarz oder wie er
-heißt, paßt zu den Rackowschen. Er ist auch ein Fant!“</p>
-
-<p>Das Blut jagte über Helenens Wangen. Gut, daß es zwischen den tiefen
-Mauern immer so dämmerig war. „Ein Fant! Tante Marianne, wie kann man
-so hart<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> urteilen nach einmaligem Sehen!“ stieß sie heiß hervor. Empört
-war sie. Das war noch das mindeste, was sie der Tante sagen mußte.</p>
-
-<p>Die alte Dame schwieg eine Weile. „Vielleicht hast du recht, Kind,“
-meinte sie dann. „Wir sollen nicht allzu schnell urteilen. Ich erkenne
-auch an, daß dieser Herr dein Bestes gewollt hat. So magst du ihm wohl
-dankbar sein dürfen. Aber ungerecht war ich, glaube ich mindestens,
-doch nicht. Ich habe in den Gesichtern der Menschen lesen gelernt: in
-diesem hübschen glatten Gesicht sehe ich nichts als Oberflächlichkeit.“</p>
-
-<p>„Daß du ihn einmal singen hörtest, Tante!“</p>
-
-<p>„Ich bin wohl nicht musikalisch genug, um das würdigen zu können,
-Helene. Aber gesetzt, er sänge wie Orpheus, so würde mich das nicht
-beeinflussen. Kunst ist ein Kräutlein nicht für alle Leutlein, sagt
-ein altes Sprichwort. Bei seiner Kunst müßte ich immer an das Theater
-denken, und ich liebe diese Welt des Scheins und des Trugs nicht. Du
-weißt es.“</p>
-
-<p>Sie sprach das alles mit ihrer ruhigen, leisen, sanften Stimme. Daß
-diese Stimme doch so wehe tun konnte!</p>
-
-<p>„Herr Pastor Müller geht aber auch ins Theater.“</p>
-
-<p>„Das mag wohl sein, und er wird wissen, wie er es mit sich und Gott
-abmacht. Du mußt mich nicht falsch verstehen, Helene: ich richte nicht.
-Ich spreche nur ein subjektives Empfinden aus. Und nun ist’s wohl genug
-von diesem Herrn Schwarz&#160;—“</p>
-
-<p>„Deine Frau Tante ist <em class="gesperrt">doch</em> ein Drachen,“ sagte Alfred, als sie
-sich am Tage darauf trafen. „Sie hat mich kaum eines Wortes gewürdigt.
-Ja und Nein war ihre Rede, und es fehlte nur das Amen. Das wird wohl
-gefolgt sein, mit drei Kreuzen, als sich die Tür hinter mir geschlossen
-hatte.“</p>
-
-<p>Es klang sehr verletzt, und sie fand nicht den Mut, ihm ein Wort
-zugunsten von Tante Oschitz zu sagen.</p>
-
-<p>„Helene, Schönste, Liebste — könntest du nicht einmal zu mir kommen?
-Du kennst meine kleine Wohnung ja<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> gar nicht, weißt nicht, wie ich
-hause. Ich denke es mir so reizend, dir eine Tasse Tee zu bereiten, bei
-mir, echt russisch, auf einem riesigen Samowar.“</p>
-
-<p>Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf.</p>
-
-<p>„Sei nicht so klein, Helene&#160;...“</p>
-
-<p>Wieder schüttelte sie den Kopf.</p>
-
-<p>Er kannte das schon: sie gab eigentlich immer nach, aber bisweilen grub
-sich zwischen ihre Brauen ein Fältchen des Eigenwillens ein, dabei
-spannte sich ihr Nacken, sie schloß die Augen, als wollte sie ihn nicht
-ansehen — dann war jedes Wort vergeblich.</p>
-
-<p>„Liebste Närrin! Ich hab übrigens noch einen anderen Vorschlag. Eine
-Entdeckung hab ich neulich gemacht&#160;—“</p>
-
-<p>Seitdem trafen sie sich meist in einer winzig kleinen Konditorei in der
-Bendlerstraße. Nur ein Katzensprung war’s von der einsamen Insel, und
-doch waren sie hier sicher vor jeder Entdeckung. Denn die Konditorei
-war jetzt, im Winter, nur während der Mittagsstunden einigermaßen
-besucht, von den Eisläufern, die sich hier bei einem Glase Punsch ein
-wenig aufwärmen wollten.</p>
-
-<p>Einen schmalen Verkaufsraum gab’s dort und dahinter ein einziges
-Zimmerchen mit vier Tischchen. Ein verschossener brauner Plüschvorhang
-trennte beide Räume. Vorn saß hinter dem Ladentisch ein verrunzeltes
-Fräuleinchen, immer tief über einen Leihbibliotheksband gebeugt.
-„Versteinert, wie ihre Kuchen,“ meinte Alfred. Im Gastzimmer waren sie
-stets allein. Es kam wohl vor, daß die dünne Türklingel ging und Helene
-aufschrecken ließ. Aber es war dann immer nur irgendein Dienstbote, der
-etwas holte: ein Dutzend Pfannkuchen, ein paar Spritzkuchen, ein paar
-Windbeutel.</p>
-
-<p>Manchmal gab’s Anlaß zu einem Scherz. „Hörst du, Helene, Baisers!
-Baisers! Komm — komm, kleine süße Konditorin&#160;...“</p>
-
-<p>Zuerst hatten sie sich gegenüber gesessen an einem runden Tische mit
-fleckiger Marmorplatte. Aber es gab da an<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> der Wand ein uraltes Sofa.
-Zu dem hatte er sie in einer Dämmerungsstunde geführt.</p>
-
-<p>Ach, diese glückseligen Dämmerungsstunden, in denen sie sich am ehesten
-fortstehlen konnte. Tante las dann, und Harro saß über seinen dreimal
-gesegneten Schulaufgaben.</p>
-
-<p>Fräulein Minna — sie wußten schon, daß das Kuchenfräulein Minna hieß
-— kam jedesmal hereingetrippelt, wollte auf einen Stuhl steigen, um
-die eine Gasflamme anzuzünden.</p>
-
-<p>„Aber Fräulein Minna, Sie Verschwenderin! Es ist ja noch ganz
-hell!“ rief Fred empört. Und sie trippelte wieder fort, mit einem
-verständnisvollen Lächeln, trippelte zu ihrem Leihbibliotheksbande, in
-dem gewiß immer unendlich viel Liebe vorkam.</p>
-
-<p>Der ganze Raum war erfüllt von einem süßen Duft. Zuerst hatte der
-Helene angewidert. Nun wußte sie nichts mehr davon. So wenig wie
-davon, ob das Stückchen Kuchen, das sie pflichtschuldigst zerkrümelte,
-altbacken war oder nicht.</p>
-
-<p>O diese Dämmerungsstunden im Schutze des alten, lieben braunen
-Plüschvorhangs, auf dem tiefeingesessenen Sofa, wo sie zuerst allein
-gesessen hatte — und nun mit ihm saß. Eng aneinandergeschmiegt,
-plaudernd, raunend, flüsternd, Hand in Hand, wo sie träumten, sich
-Zukunftsschlösser bauten&#160;...</p>
-
-<p>Eifrig bauten sie jetzt Zukunftsschlösser. Er wußte, daß sie ein
-armes Mädchen war, arm wie eine märkische Kirchenmaus. Nichts brachte
-sie ihm als ihre Liebe, ihre große Liebe. Aber dafür hatten ja beide
-ihre Kunst. Ein Jahr noch, und sie möchte hinaustreten können auf die
-Bretter, die die Welt bedeuten. Ihre neue Welt! Ihr stand es nun fest,
-auch sie ging zur Bühne. Der Widerstand der Eltern würde schon zu
-besiegen sein. Daran zweifelten beide nicht. Zweifel? Es gab für sie
-überhaupt keine Zweifel: hell, sonnig lag die Zukunft vor ihnen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span></p>
-
-<p>Ein Jahr noch! Was war ein Jahr?! Wo jeder Tag, von einem Sehen zum
-andern, für Helene verrauschte wie ein Augenblick.</p>
-
-<p>In der kleinen Konditorei feierten sie auch ihr Weihnachten miteinander.</p>
-
-<p>Helene hatte nach Rohlbeck kommen sollen. Aber als Wilhelm sich wenige
-Tage vor dem Fest einfand, um alles zu verabreden, hatte sie ein
-Tuch um den Hals und klagte. Nein, bei dieser eisigen Kälte durfte
-sie ihre Stimme der Gefahr nicht aussetzen. Es ging wirklich nicht,
-Wilhelm sah das selber ein, auch Tante Oschitz riet ab. Schade ...
-die Eltern werden’s schmerzlich empfinden. Jawohl ... aber auch sie
-werden’s einsehen. Und Geld hätte es auch gekostet ... alles kostete
-so viel Geld, und Vater hatte erst vor kurzem geschrieben, mit den
-Kartoffelpreisen sei’s jammervoll, „das heißt, liebe Lene, du brauchst
-dir darüber keine Kopfschmerzen zu machen“.</p>
-
-<p>Als Bruder Wilhelm gegangen war, huschte Helene treppauf in ihr
-Zimmer, lachte wie ein Schulmädchen, das die französische Stunde
-geschwänzt hat, und kramte ganz unten aus dem Kommodenkasten die kleine
-Perlenstickerei heraus, an der sie so glückselig heimlich arbeitete,
-bei jeder Perle einen Wunsch für ihn hineinflechtend, ein ‚Sei
-glücklich! Behalt mich lieb!‘</p>
-
-<p>Tante Marianne hatte eine große Weihnachten. Sie bescherte vielen armen
-Kindern, meist aus dem Osten Berlins, wo dem Pastor Müller jüngst von
-seiner Gemeinde ein eignes Kapellchen gebaut worden war.</p>
-
-<p>Aber sie hatte auch Helene nicht vergessen. Unmittelbar neben Harros
-Aufbau stand ihr Gabentisch. Da lagen die Briefe und kleinen Geschenke
-aus Rohlbeck und von der Tante ein Pelzmuff und ein Buch mit Goldtitel
-und Goldschnitt: „Amaranth“ war’s, von Oskar von Redwitz. Daneben lag
-noch ein kleines Bändchen: „Neue Gedichte“ von Emanuel Geibel. Sie
-blätterte mit ungeduldiger Hand darin. Auf der ersten Seite stand in
-Harros steifer Handschrift: „Seiner lieben Kusine“ ... Als sie flüchtig
-aufsah ihm<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> einen Dank zuzuwinken, sah sie, daß er seinen Aufbau noch
-gar nicht beachtet hatte, daß seine Augen nicht von ihr ließen&#160;—</p>
-
-<p>Der gute dumme Junge! Wenn er wüßte, wenn er wüßte ...! Aber es tat ihr
-doch leid, daß sie so gar nicht an ihn gedacht hatte. An wen hatte sie
-denn überhaupt gedacht in all den letzten Wochen, als nur an den einen,
-den einen!</p>
-
-<p>Tante Marianne stand inmitten der Kinder, die scheu und verlegen ihre
-wollenen Jacken und Strümpfe, ihre Pfefferkuchen, Äpfel und Nüsse
-beschauten. Für jedes hatte Tante Marianne ein gütiges Wort.</p>
-
-<p>Jetzt war es an der Zeit&#160;—</p>
-
-<p>Helene huschte hinüber, zu dem großen Weihnachtsbaum, dankte, küßte die
-Hand: „Ich gehe nur auf ein paar Minuten zu Frau Harriers-Wippern.“</p>
-
-<p>‚Wie ich schon lügen kann,‘ fand sie selber und freute sich darüber.
-Lachen hätte sie mögen.</p>
-
-<p>Tante Marianne war vollauf beschäftigt. „Nimm aber den Pelzkragen,
-Kind!“ sagte sie nur zerstreut und hatte schon wieder einen kleinen
-Blondkopf beim Wickel, band ihm zur Probe ein paar feste wollene
-Ohrenklappen über das Flachshaar.</p>
-
-<p>Jetzt war es an der Zeit. Jede Minute war kostbar, jede Minute ein
-Weihnachtsgeschenk. Im Nu hatte sie den Mantel um, den Kapotthut auf,
-eilte die Treppe hinunter.</p>
-
-<p>Da stand Harro im Flur. Gerade vor der Haustür, breitbeinig, mit seinem
-finstersten Gesicht.</p>
-
-<p>„Du willst fort, Helene? Heut? Jetzt? Am Heiligen Abend?“</p>
-
-<p>„Nur zu Frau Harriers-Wippern.“</p>
-
-<p>Das Lügen war nicht so leicht wie vorhin. Der Junge hatte ein paar
-Augen, die dreinschauten, als wollten sie einen durchbohren.</p>
-
-<p>„Sie hat mich zur Bescherung gebeten. Ich komme gleich zurück, lieber
-Harro.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span></p>
-
-<p>„Ich bringe dich —“ Er griff schon nach dem Kleiderrahmen an der Wand.</p>
-
-<p>„Nein, das gebe ich nicht zu. Du darfst jetzt nicht von Tante fort.“</p>
-
-<p>„Wir kommen ja gleich zurück.“ Fast höhnisch klang’s, wie er das
-„gleich“ betonte.</p>
-
-<p>„Unter keinen Umständen, Harro. Laß nur, ich bitt’ dich!“</p>
-
-<p>Der Boden brannte ihr unter den Füßen. Wie nur den dummen, lieben,
-eifersüchtigen Jungen beruhigen, beseitigen?</p>
-
-<p>„Ich danke dir auch vielmals für das schöne Buch, Harro. Geibels
-Gedichte hatt’ ich mir schon lange gewünscht. Wie gut du das getroffen
-hast.“</p>
-
-<p>Er stand noch immer.</p>
-
-<p>Da kam ihr ein toller Einfall.</p>
-
-<p>Sie packte plötzlich den Kopf des Jungen mit beiden Händen und
-küßte ihn: „Dank, Harro!“ und noch einmal „Dank! Dank!“ Küßte ihn
-auf die zuckenden Lippen. Derb und herzlich. Und dann ließ sie ihn
-stehen, rannte zur Tür, rannte durch den Vorgarten, jagte die stille,
-menschenleere Straße entlang. Immer vor sich hin lachend. Ein Küßchen
-in Ehren ... da hatte sie einen Glücklichen gemacht, recht zum schönen
-Weihnachtsfeste. Ein Küßchen in Ehren ... weiß Gott in Ehren, denn
-solch Kuß zwischen Vetter und Kusine war ja nicht viel anders als
-zwischen Geschwistern ... aber was der Junge für Augen gemacht hatte!</p>
-
-<p>Das Lachen noch auf den Lippen, die Wangen vom schnellen Lauf in der
-kalten Luft gerötet, so kam sie in die Konditorei, nickte dem alten
-Fräulein zu, hob den Plüschvorhang — und wäre fast in ein lautes
-Jubeln ausgebrochen. Denn da stand Fred, hatte eine richtige kleine
-Weihnachtspyramide vor und zündete die gelben Wachslichterchen an.
-Gerade nur zwei Spannen hoch war das Gestellchen, streckte seine acht
-gradlinigen grünen Arme<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> steif von sich, vier größere unten, vier
-kleinere oben; auf der Spitze aber turnte ein goldenes Engelchen.</p>
-
-<p>Sie flog auf den Geliebten zu, sie flog ihm an den Hals:</p>
-
-<p>„Ach du ... du ... das hast du für mich ...?“</p>
-
-<p>„Selbst auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Schloß gekauft und
-höchsteigenhändig hertransportiert. Gibt’s etwas Lieberes,
-Scheußlicheres als solch eine Berliner Pyramide?“</p>
-
-<p>Und dann saßen sie nebeneinander auf dem Sofa, und erst mußte er die
-Augen zumachen, „aber fest, ganz fest“, und sie baute ihm unter der
-Pyramide den kleinen Tabaksbeutel auf, in dessen Perlenstickerei sie
-so unzählige gute Wünsche hineingearbeitet hatte. Und darauf hielt
-er ihr mit der Linken die Augen zu und kramte aus der Tasche heraus.
-Eine Brosche war’s mit gelben geschliffenen Topasen, zierlich in
-Goldfiligran gefaßt, ein rotes Juchtentäschchen für Visitenkarten,
-ein Fläschchen <span class="antiqua">Violet de Parme</span>. Und nun ging’s ans Sehen und
-Bewundern und Bedanken. Mit den kleinen Punschgläsern, die Fräulein
-Minna hereingebracht, stießen sie an; ein Schüsselchen mit süßem
-geriebenem Mohn stand daneben, dem Berliner Weihnachtsessen; davon
-steckte Helene ihm einen Löffel voll in den Mund und wollte sich
-totlachen, als er sich entsetzt schüttelte.</p>
-
-<p>Mit einem Male klang ein Klavier, dünn und fein, aber ganz deutlich. Es
-mußte wohl oben, über der Konditorei, beschert werden: „Stille Nacht
-... heilige Nacht&#160;...“</p>
-
-<p>Und da begann Helene mitzusingen. Ganz leise zuerst. Dann stimmte er
-ein, und nun sangen sie beide, laut und voll und jubelnd.</p>
-
-<p>Sie merkten es gar nicht: der Plüschvorhang hob sich verstohlen,
-zwischen den braunen Falten schob sich das alte verrunzelte Gesicht von
-Fräulein Minna hindurch. Ganz still stand sie, andachtsvoll lauschend,
-mit verklärter Miene.</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Stille Nacht, heilige Nacht,</div>
- <div class="verse indent0">Alles schläft, einsam wacht</div>
- <div class="verse indent0">Nur das traute, hochheilige Paar.</div>
- <div class="verse indent0">Holder Knabe im lockigen Haar —</div>
- <div class="verse indent0">Schlaf in himmlischer Ruh —“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-<p><span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span></p>
-<p>Der Gesang verhallte. Sie sahen sich an mit leuchtenden Augen und
-wußten beide, daß sie noch nie, nie so schön gesungen hatten, nie
-schöner singen würden, als eben.</p>
-
-<p>Langsam glitten die Falten des braunen Vorhangs wieder zusammen.</p>
-
-<p>„War das schön! War das schön!“ hauchte Helene. Und er küßte ihr die
-Tränen aus den Augen.</p>
-
-<p>Eine ganze Weile saßen sie still. Die winzigen gelben Wachslichterchen
-brannten herunter. Weihnachtsduft zog durch den Raum. Nun erlosch das
-letzte Licht&#160;—</p>
-
-<p>Da stand Helene auf. „Ich muß fort“, sprach sie leise und gepreßt. Es
-wurde ihr so schwer, so schwer.</p>
-
-<p>„Bleib doch noch!“ bat er. „Bleib doch&#160;—“</p>
-
-<p>Aber sie schüttelte den Kopf, faßte noch einmal seine beiden Hände:
-„Dank ... Dank für diese Stunde!“ Noch einmal umarmte sie ihn.</p>
-
-<p>Draußen an dem Kuchentisch mit den vielen Glasglocken und Flaschen
-stand Fräulein Minna. Sie knixte tief, als Helene vorüberkam: „Wie
-wunderschön haben die Herrschaften gesungen. Unser Domchor kann’s nicht
-schöner.“</p>
-
-<p>Sie hörte es nicht. Es war wie ein großer Rückschlag auf all die Freude
-und Seligkeit in ihr, eine herzbeklemmende Angst: Harros Augen standen
-vor ihrer Seele. Diese hellen Knabenaugen, die sie wie entgeistert
-angeschaut hatten.</p>
-
-<p>Und auf dem kurzen Weg nach Hause überschlich sie noch ein anderes
-Gefühl, zum erstenmal: die Scheu vor der Lüge. Bisher hatte die
-Heimlichkeit täglich neuen Reiz für sie gehabt, plötzlich, jäh,
-erschrak sie vor ihr. Weshalb jetzt, plötzlich — sie wußte es nicht.
-Vielleicht taten auch das die hellen Knabenaugen.</p>
-
-<p>Die Straße entlang hastete sie, aber als sie in den Vorgarten kam,
-wurden ihre Schritte langsamer und langsamer. Noch nie war ihr der Mut
-gesunken, jetzt lähmte eine dumpfe Zaghaftigkeit ihr die Glieder. Und
-trotzdem<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> wiederholte sie sich immer wieder: ‚es war doch so schön ...
-es war doch so schön‘ — und hätte weinen mögen.</p>
-
-<p>Der große Tannenbaum war schon erloschen. Tante Oschitz saß ermüdet
-in einem Lehnstuhl am Ofen, fragte nur flüchtig: „War’s schön?“ Ganz
-seltsam klang das Helene. Sie nickte stumm. Dann sah sie verstohlen
-auf Harro. Der saß an seinem Gabentisch, den Kopf ganz tief über ein
-Buch gebeugt. Leseratte, die er war. Es wurde Helene leichter ums Herz.
-Vielleicht — vielleicht hatte sie sich doch getäuscht. Er machte
-einen so kindlichen Eindruck, wie er dasaß, die Hände an den Schläfen,
-die Finger in das dichte blonde Haar gewühlt, versunken in sein
-Geschenkbuch. Nicht einmal aufgeblickt hatte er bei ihrem Kommen.</p>
-
-<p>Dann meldete auch schon der alte Diener, daß angerichtet wäre. Tante
-Marianne stand auf: „Kommt Kinder!“ Wie Harro nun den Kopf hob, da
-sah Helene die flammende Röte auf seiner Stirn, auf seinen Wangen und
-empfand, daß er ihren Blicken auswich. Und als er dann am zierlich
-gedeckten kleinen Tisch das Gebet sprechen sollte, wie alle Tage, da
-kamen die gewohnten Worte eigen zerstückt von seinen Lippen. Er sprach
-wie ein Träumender. So daß die Mutter sagte: „Aber Harro! Was hast du
-denn? Es ist ja wirklich, als ob du unseren Herrn Jesu über deinem
-neuen Band Grube vergessen könntest. Schäme dich!“</p>
-
-<p>Er schrak zusammen. Aber es war wie ein Trotz in ihm. Kein Wort der
-Entschuldigung sprach er, setzte sich, steckte sich mit seinen raschen
-knabenhaften Bewegungen die Serviette zurecht; immer ohne aufzusehen.
-Und die Bierkarpfen, von denen er gestern im voraus geschwärmt, rührte
-er kaum an.</p>
-
-<p>Recht schweigsam verlief das kleine Mahl. Eigentlich sprach nur Tante:
-von dem Jubel der Kinder vorhin, von der Freude des Schenkens, von
-der Weihe dieses Abends. Nur mit halber Aufmerksamkeit folgte Helene.
-Ihre Gedanken wanderten. Aber einmal schrak sie auf, wie aus einem
-Traum. Tante Marianne erzählte, daß man im Palais, als sie noch Hofdame
-gewesen, neben den Tannenbäumen<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> stets auch eine der alten Berliner
-Weihnachtspyramiden gehabt hätte ... „Du hast sicher solch ein Ding
-noch nie gesehen, Helene, solch eine Pyramide mit den steifen, gerade
-abstehenden Armen&#160;...“</p>
-
-<p>Bald nach Tisch brachte der Diener die Leuchter hinein, stellte sie auf
-den Tisch an der Tür, die Porzellankästchen mit den Schwefelhölzern
-daneben und auf jeden Leuchter die Lichtputzschere. Wie an jedem
-Abend. „Der gnädigen Herrschaft wünsche ich gute Nacht“, sagte er
-leise, wie immer. Das war wie an jedem Abend das Zeichen zum Aufbruch.
-Tante Marianne glitt, langsam und geräuschlos, zu dem Tisch an der
-Tür hinüber, zündete umständlich die drei Kerzenstümpfe an. „Gute
-Nacht, Kinder.“ Dann küßte sie den Sohn, legte auf einen Augenblick
-ihre Rechte in die Helenes, die sich tief über die kühle Matronenhand
-neigte. Und wie an jedem Abend stiegen die beiden gemeinsam die Treppe
-hinauf.</p>
-
-<p>Das war sonst oft, fast immer unter halblautem Lachen und Scherzen
-geschehen, und manchmal hatten sie, zumal in der ersten Zeit, noch ein
-paar Minuten auf der großen Truhe oben im Flur gesessen und geplaudert.</p>
-
-<p>Heut ging Harro stumm neben Helene her. So stumm — das Herz wurde ihr
-schwer und schwerer. ‚Wenn ich nur erst in meinem Zimmer wäre,‘ dachte
-sie beklommen.</p>
-
-<p>Nun war sie oben.</p>
-
-<p>„Gute Nacht, Harro“, sagte sie rasch. „Schlaf wohl!“ und reichte ihm
-die Hand hin.</p>
-
-<p>Da griff er, mit einem Ruck des Armes, zu, sah sie zum erstenmal heute
-abend an. Mit einem eigenen Blick, nicht mehr versteint, sondern
-forschend, vorwurfsvoll. Das Helle, Kindliche schien in den blauen
-Augen erloschen, ein dunkles, wissendes Leuchten war darin. Seine
-Hand bebte, wie sie so die ihre umfaßte. Um seine Lippen zuckte es.
-Plötzlich, ehe sie es hindern konnte, hatte er ihr die Hand geküßt. Sie
-fühlte eine schwere Träne auf dem Gelenk. Und dann lief er auch schon,
-wortlos, den Flur hinunter, seinem Zimmer zu.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Siebentes_Kapitel">Siebentes Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>Zwischen Weihnacht und Neujahr war Alfred verreist. Er gastierte in
-Frankfurt am Main, und seine Abwesenheit dehnte sich bis Anfang Januar
-aus, länger, als er Helene gesagt hatte. Es war eine öde, trübe Zeit
-für sie, zumal auch Frau Harriers-Wippern Ferien hielt. Die Stunden
-schlichen dahin und die Tage, und Helene kam in ein Grübeln hinein, das
-ihrem Wesen sonst ganz fremd war. Wie auf Wolken war sie gewandelt in
-all den letzten Wochen, wie in einem Rausch. Nun dünkte sie alles um
-sie her so nüchtern, so leer, ihr Dasein so schal, als wäre ihm jeder
-Inhalt genommen.</p>
-
-<p>Auch die einsame Insel drückte auf sie, die noch vertiefte Stille
-dieser Woche, die Tante Marianne so ganz als weihnachtlich empfand. An
-den Festtagen fuhr unweigerlich am frühen Vormittag die Mietkutsche
-vor. Tante Oschitz hätte jeden Zwang zum Besuch des Gottesdienstes
-verworfen, denn er entsprach so gar nicht ihren Anschauungen; aber
-sie sah es als selbstverständlich an, daß Helene und Harro sich ihr
-anschlossen. Eine Qual schon allein diese endlose Fahrt, den Vetter
-auf dem Rücksitz gegenüber! Das Kapellchen, dem die festliche Weihe
-fehlte; die Predigt, deren steten, sanften Druck auf die Tränendrüsen
-Helene instinktiv empfand; noch einmal die lange, lange Fahrt, während
-derer Tante mit Harro ein immer vergebliches Examen über das, was
-der Tränen-Müller soeben verkündet, anstellte. Trotz auf der einen,
-Verstimmung auf der andern Seite. Verstimmung, die eigentlich den
-ganzen Tag über anhielt, um sich erst gegen Abend in eine schmerzliche
-Mutterzärtlichkeit aufzulösen.</p>
-
-<p>Es war ja gut, daß Harro der Verstimmung wie der Zärtlichkeit auswich
-— und anderem. Er war tagsüber fast nie zu Hause, hatte tausend
-Ausreden. Oft genug fehlte er sogar bei den Mahlzeiten; bisweilen kam
-er erst spät in der Nacht zurück, heimlich, auf verbotenem Wege, mit
-falschen Schlüsseln. Vielleicht steckte er auch mit den<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> Dienstboten
-im Bunde. Jedenfalls hörte Helene in ihren unruhigen Nächten oft noch
-nach Mitternacht seinen leisen Schritt auf dem Korridor. Und es gab ihr
-jedesmal einen Stich ins Herz: auch daran war sie schuld. Ganz genau
-wußte sie das.</p>
-
-<p>Einmal, nachmittags, war Tante Marianne zu ihrem Bankier gefahren.
-Helene saß unten im Salon. Es dämmerte schon leicht, so daß sie ihr
-Buch aus der Hand legen mußte. Ein paar Male ging sie im Zimmer auf
-und nieder, setzte sich vor das Instrument, schlug ein paar Akkorde
-an. Wie eine halbe Ewigkeit erschienen ihr die Tage, in denen sie
-nicht geübt hatte. Sie dachte nach: wann hast du überhaupt zum letzten
-Male gesungen? Und da schoß ihr durch den Sinn: ‚Am heiligen Abend! Am
-heiligen Abend — mit ihm!‘ In jener Stunde, in der sie eigentlich zum
-letzten Male sich ganz, ganz glücklich gefühlt hatte&#160;—</p>
-
-<p>So deutlich ... so zum Greifen deutlich stand plötzlich wieder sein
-Bild vor ihrer Seele.</p>
-
-<p>Ob auch er wohl jetzt ihrer gedachte?</p>
-
-<p>Tiefer sanken die Schatten herab. Fast dunkel war es im Zimmer.</p>
-
-<p>Ganz leise und sacht fing sie an, gerade so, wie sie beide neulich —
-neulich angefangen hatten.</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Nur wer die Sehnsucht kennt,</div>
- <div class="verse indent0">Weiß, was ich leide!</div>
- <div class="verse indent0">Allein und abgetrennt</div>
- <div class="verse indent0">Von aller Freude —“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Sie wußte nicht, wie das Goethelied ihr ins Gedächtnis gekommen war.
-Nur das fühlte sie, daß es so ganz ihrer Stimmung entsprach. Und ihre
-Stimme hob sich, schwoll und schwoll&#160;—</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Ach, der mich liebt und kennt,</div>
- <div class="verse indent0">Ist in der Weite —“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-<p><span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span></p>
-<p>Einmal war es, als ginge eine Tür. Aber sie überhörte es. All ihre
-Seele war bei dem Gesang. Wie auf Flügeln trug es sie himmelan, als ob
-ihre Kunst das Herz läutere. Dies zuckende Herz&#160;—</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Nur wer die Sehnsucht kennt,</div>
- <div class="verse indent0">Weiß, was ich leide!“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Ein paar Atemzüge lang saß sie ganz still, die Hände noch auf den
-Tasten, mit geschlossenen Augen. Ihr war so wohl und war so weh&#160;—</p>
-
-<p>Da hörte sie deutlich nebenan, im Arbeitszimmer des Herrn von Oschitz,
-ein verhaltenes Schluchzen. Ein einziger kurzer Ton nur war’s. Fast nie
-betrat jemand dies düstere, kleine Gemach des Verstorbenen. Und noch
-einmal klang’s auf, so daß sie zusammenschauerte. Ein Wehlaut, wie mit
-Trotz unterdrückt.</p>
-
-<p>Fast im gleichen Moment aber sprach jemand nebenan. Des alten Dieners
-Stimme: „Die Lampe, junger Herr — Sie woll’n sich wohl die Augen ganz
-verderben.“ Und dann schlug wieder eine Tür heftig zu.</p>
-
-<p>‚Armer Harro! Lieber armer Junge! Auch dir muß ich weh tun, du dummer
-lieber Junge —‘</p>
-
-<p>Während des ganzen Abends, die halbe Nacht über wurde sie den Gedanken
-an ihn nicht los.</p>
-
-<p>Diese unruhigen Nächte!</p>
-
-<p>Da kamen die Gedanken, wanderten, erloschen und stiegen aufs neue
-empor. Und die Sehnsucht kam, krallte sich ein, wurde zum zehrenden
-Schmerz; wollte sich aufrichten, sich emporranken am Glückserinnern,
-wurde herabgezerrt vom zagenden Zweifel. Wie zerborsten, zertrümmert
-sah Helene bisweilen den stolzen, schönen Bau der Zukunft vor sich,
-den sie so froh, so siegesgewiß aufgerichtet hatten. Hindernisse
-auf Hindernisse, an die sie nie gedacht, türmten sich auf dem Wege,
-sperrten jede Aussicht.</p>
-
-<p>Er schrieb so selten, so furchtbar selten für ihre Sehnsucht. Seine
-Briefe waren so kurz und karg. Gierig suchte sie zwischen den Zeilen,
-was nicht in ihnen stand.<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> Immer nur von <em class="gesperrt">seinen</em> Erfolgen,
-Triumphen schrieb er, von <em class="gesperrt">seiner</em> Arbeit. Manchmal, wenn sie
-solch ein Billett mutlos in den Schoß sinken ließ, kam ihr ein
-häßlicher Gedanke: er <em class="gesperrt">spricht</em> eigentlich auch immer nur von
-sich. Aber sie schüttelte solch Empfinden ab wie einen Schmutztropfen.
-Sie schämte sich.</p>
-
-<p>Vor Jahren hatte sie in Rohlbeck einmal Goethes „Wahrheit und Dichtung“
-gelesen. Jetzt ging sie an Harros Bücherschrank, suchte sich den Band
-heraus, ließ Frankfurts Straßen und Gassen wieder vor sich aufsteigen,
-ging wie im Traum mit dem Geliebten zum alten Römer und in das Haus
-am Großen Hirschgraben. Von dem schönen Gretchen las sie, von Goethes
-Sekundanerliebe, und dachte an Harro. Dachte dann jäh auch: ‚die
-schönen Frankfurterinnen!‘ Es war wie der Blitz einer Eifersucht. Er
-traf und schmerzte. Aber gleich bat sie Alfred die Sünde ab — und
-dann lachte sie leise vor sich hin. Wie man so töricht werden kann vor
-Sehnsucht.</p>
-
-<p>Das Lachen erstarb, die Sehnsucht blieb.</p>
-
-<p>Tante Oschitz kümmerte sich nicht groß um Helene. Das hatte sie nach
-einigen Anläufen aufgegeben. In ihr lag es nicht, um Seelen zu kämpfen.
-Sie selber hatte sich durchringen müssen. Das mochten andere auch tun,
-und es gelang jedem, so Gott es wollte.</p>
-
-<p>Helene war ihr auch wesensfremd. Sie hatte sie gern, aber nicht mehr;
-es gab keine engeren Verbindungsglieder zwischen beiden, als die
-Verwandtschaft schlug. Und wenn sie doch einmal, selten, eine Brücke
-suchte, so schreckte ihre Herbheit Helene ab, vielleicht gerade weil
-diese herbe Art sich meist so eigen mit sanften Worten gab.</p>
-
-<p>Trotz allem konnte Tante Marianne die Veränderung in Helenens Wesen
-nicht entgehen.</p>
-
-<p>„Du siehst schlecht aus, Kind“, sagte sie eines Tages. „Ich glaube, du
-kommst zu wenig an die Luft.“</p>
-
-<p>„Ich bin ganz wohl.“</p>
-
-<p>Sie saßen sich in der tiefen Fensternische, unten im Salon, gegenüber;
-Tante Marianne mit einer ihrer Handarbeiten<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span> beschäftigt, die Harro
-früher bisweilen respektlos genug mit Penelopes Geweben verglichen
-hatte; Helene über ihrem Buch.</p>
-
-<p>„Man täuscht sich in der Jugend leicht über das eigene Befinden.
-Wirklich: dein Aussehen straft deine Versicherung Lügen.“</p>
-
-<p>„Ich bin ganz wohl“, wiederholte Helene hartnäckig.</p>
-
-<p>Tante Oschitz sah schärfer zu und schüttelte den Kopf. „Ich will Harro
-sagen, daß ihr morgen einen tüchtigen Spaziergang macht.“</p>
-
-<p>„Bitte — nein, Tante&#160;—“</p>
-
-<p>Es kam so heftig heraus, daß die alte Dame stutzig wurde. „Habt ihr
-euch entzweit, du und Harro?“ fragte sie erstaunt. „Ihr wart doch so
-gute Freunde.“</p>
-
-<p>„O ja ... o nein! Nur ... ich meine ... Harro hat so vieles andere vor
-jetzt. Er braucht auf mich keine Rücksichten zu nehmen.“</p>
-
-<p>„Viel zu viel hat der Schlingel vor. Ich bin auch nicht blind.“ Tante
-Marianne lächelte — für ihren Jungen hatte sie im letzten Grunde ihres
-Herzens immer Entschuldigungen bereit. „Aber es bleibt dabei. Morgen
-treibe ich euch beide aus dem Hause.“</p>
-
-<p>Es blieb wirklich dabei. Und es wurde ein qualvoller Spaziergang durch
-den verschneiten Tiergarten. Sie rasten im schnellsten Tempo ihren
-Gesundheitsmarsch ab. Immer dachte Helene: ‚das sind dieselben Wege,
-dieselben Wege, die er und ich gingen.‘ Immer dachte sie dazwischen:
-‚der arme Junge, der arme Junge!‘</p>
-
-<p>Die Querallee waren sie gegangen, zum Großen Stern, bogen nun wieder
-in das Weggewirr ein, das zur Rousseau-Insel zurückführte. Ohne ein
-Wort zu sprechen. Manchmal sah Helene scheu auf ihren Begleiter. Er
-hatte die Hände tief in die Manteltaschen gesteckt, zur Faust geballt;
-der schöngeformte Kopf war auf die Brust gesenkt; auf der Stirn
-unter der Pelzmütze lagen dichte Falten; die Lippen hatte er fest
-aufeinandergepreßt.</p>
-
-<p>Plötzlich, mitten in der Einsamkeit, blieb er stehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span></p>
-
-<p>„Helene —“ sagte er jäh, und dann stockte er wieder. Ganz tief, ganz
-alt hatte seine Stimme geklungen.</p>
-
-<p>Ein Beben überlief sie, eine unbestimmte Angst. Unwillkürlich war auch
-sie stehengeblieben und wäre doch am liebsten geflohen.</p>
-
-<p>Mit einem Male riß er die Fäuste aus den Taschen, die Tränen stiegen
-ihm in die Augen. Er faßte nach ihren Händen. Und nun hatte seine
-Stimme wieder den rührenden Ton der Jugend: „Liebe Helene, kann ich dir
-nicht helfen?“</p>
-
-<p>Sie empfand alles, was in seinem Herzen vorging. Durchlebte es mit ihm
-in einem Augenblick: seine ehrliche Jungenliebe, — sein Sehnen — der
-reine, schöne Wunsch, sich selber für sie zu opfern! Wußte, daß auch er
-sich einen Altar aufgebaut hatte, auf dem er sein eigenes Herz für sie
-in Rauch und Asche verbrennen wollte! Fühlte den heiligen Ernst, der in
-ihm glühte!</p>
-
-<p>Die Angst glitt ab von ihr. Aber weinen hätte sie mögen. Ans Herz hätte
-sie ihn nehmen mögen wie einen Bruder. Nein — mehr war er, als ihr je
-ein Bruder gewesen war, je sein würde!</p>
-
-<p>Lügen konnte sie nicht in diesen Augenblicken. Nicht lügen ... schrie
-es in ihr. Nicht einmal leugnen!</p>
-
-<p>Aber sie konnte auch nicht anders, als den Kopf schütteln. Ernst und
-schwer und nun auch mit tränenden Augen.</p>
-
-<p>„Ich hab dich gestern singen hören“, sprach er weiter. Ganz langsam
-kamen die Worte ihm von den Lippen. „Du sangst so wunderbar schön ...
-das Beethovensche Lied ... das Harfnerlied. So wunderbar schön, aber es
-war, als bräche dir das Herz darüber entzwei.“</p>
-
-<p>Sie neigte den Kopf. „Unsagbar wohl hat es mir doch getan“, sagte sie.
-Es waren ihre ersten Worte. Und wie sie sich selber sprechen hörte,
-kam ihr allmählich das Bewußtsein ihrer Überlegenheit wieder. Der
-Überlegenheit, die ihr bei fast gleichen Jahren ihr Geschlecht gab und
-ihr Erleben. Gerade nun empfand sie das: wie jung der liebe<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> Harro da
-neben ihr war, und auch das andere: wie sie selber in diesen letzten
-Monaten gereift war.</p>
-
-<p>Ihre Überlegenheit kam zurück, und damit ihre Sicherheit. Aber der
-innige Wunsch blieb, dies junge Herz zu schonen, ihm gut zu tun, wie
-sie nur konnte.</p>
-
-<p>Sie drückte ihm die Hände. „Ich danke dir, lieber Harro. Ich weiß, wie
-gut du es meinst. Ich will dir immer eine treue Freundin bleiben.“</p>
-
-<p>Er zuckte zusammen. „Helfen möchte ich dir!“</p>
-
-<p>„Wir Menschen können einander wohl nur selten helfen.“</p>
-
-<p>„Du sagst, du wolltest meine Freundin sein. Dann mußt du auch Vertrauen
-zu mir haben, Helene!“</p>
-
-<p>Da war schon wieder der Trotz in seiner Stimme, der rechte
-Jungenstrotz. Und das tat ihr wohl.</p>
-
-<p>Sie antwortete nicht gleich, sie begann auszuschreiten.</p>
-
-<p>„Es gibt Dinge, Harro, die man auch dem besten, liebsten Freunde nicht
-mitteilen darf. Stimmungen gibt es und Kämpfe, die man nur selber
-durchringen und überwinden kann.“</p>
-
-<p>Er nickte, rasch hintereinander, ein paar Male, als ob er gleich
-empfinde. Doch dann trotzte er wieder auf. „Das ist nicht die richtige
-Freundschaft!“</p>
-
-<p>„Wir wollen’s der Zeit überlassen, Harro.“</p>
-
-<p>Sie gingen schneller, und er merkte wohl, daß sie ihm auswich. Jetzt
-schwieg auch er. Biß wieder die Zähne aufeinander, stopfte beide Hände,
-zur Faust geballt, trotzend in die Manteltaschen, ließ den Kopf tief
-hängen, und unter der Pelzkappe zog sich das krause Faltengewirr über
-die Stirn. Einmal kam etwas wie ein bitterer Lachton zwischen den
-geschlossenen Lippen hervor.</p>
-
-<p>‚Nun ist er doch wieder ganz der törichte Junge‘, dachte sie. ‚Gottlob!
-Töricht und dabei so lieb, so lieb!‘</p>
-
-<p>Und da waren sie auch schon dicht an der Tiergartenstraße. Durch die
-Bäume schimmerte grau die einsame Insel mit dem roten Ziegeldach
-darüber.</p>
-
-<p>‚Ein gutes Wort mußt du ihm doch noch sagen ...‘</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span></p>
-
-<p>Die Hand streckte sie ihm hin. „Schlag ein, Harro! Also auf gute
-Freundschaft!“</p>
-
-<p>Er sah auf. Ganz dicht standen seine Brauen aneinander. Er zögerte,
-rang mit sich. Die Fäuste kämpften in den Manteltaschen: sollen wir
-oder sollen wir nicht? Die Oberzähne nagten an der Lippe.</p>
-
-<p>Plötzlich stieß er heraus: „Ja — du —!“ Machte kurz kehrte und rannte
-in den Tiergarten zurück.&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Nun aber, nun war Alfred endlich in Berlin. Sie sah ihn wieder, hörte
-seine Stimme, hielt seine Hand in der ihren, saß neben ihm in der
-lieben, kleinen Konditorei auf dem alten Sofa und bat ihm im geheimen
-all ihr Zagen und Sorgen, all ihren Kleinmut ab. Nicht im geheimen nur.
-Ganz offen, ganz ehrlich: „Ich war so töricht, Fred ... ich habe mich
-so geängstigt ... so hoffnungslos war ich. Ach, Fred, du darfst mich
-nicht so lange allein lassen. Ich ertrage das nicht. Die Sehnsucht ist
-zu groß.“</p>
-
-<p>„Ja, die Sehnsucht! Glaubst du denn, Helene, ich hätte nicht unter
-der Sehnsucht gelitten?“ Er legte den Arm um sie, zog sie an sich.
-„Aber ich weiß wohl, wir Männer kommen leichter darüber hinweg als
-ihr Frauen. Schon durch den Beruf. Was war das wieder für eine
-abscheuliche, anstrengende Sache, dieses ganze Gastspiel! Schon allein
-die Fahrt bei dieser Kälte. Man ist in Deutschland doch noch um ein
-Jahrzehnt zurück oder länger. Gerade daß immer alle fünf Stationen
-eine Fußflasche mit heißem Wasser ins Coupé geschoben wird, während
-es selbst in Rußland schon ordentlich geheizte Wagen gibt. Ridikül
-ist’s. Und der ungemütliche Aufenthalt im Frankfurter Hotel, und diese
-jammervollen Theaterverhältnisse in der lobesamen Freien Reichsstadt!“</p>
-
-<p>„Warst du am Großen Hirschgraben?“</p>
-
-<p>„Wo?“</p>
-
-<p>„Am Großen Hirschgraben ... wo der junge Goethe gewohnt hat.“</p>
-
-<p>Er lachte. „Ach, du liebe, liebe Närrin. Was ist mir der junge Goethe!
-Hat der am Großen Hirschgraben gewohnt?<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span> Ich weiß nicht einmal, wo der
-liegt. Aber den Tannhäuser hab ich gesungen: das war wenigstens ein
-Erfolg, der wohltun konnte.“ Und er erzählte von der Aufführung — lang
-und breit&#160;—</p>
-
-<p>Sie wußte selbst nicht, warum es ihr weh tat, daß er vom jungen Goethe
-nichts wußte, nichts wissen wollte. Es war ja auch ungerecht, daß
-sie’s mit einer leisen Bitterkeit empfand, sie gestand es sich ein.
-Und ungerechter noch, daß sie nicht mit der gewohnten Aufmerksamkeit
-zuhören konnte. Aber sie mußte sich geradezu anstrengen, ihm zu folgen.</p>
-
-<p>Nicht einmal fragte er: wie ist es dir denn ergangen in diesen langen,
-langen Tagen? Freilich, ein Mann hatte eben seinen Beruf, und es war
-wohl in der Ordnung, daß er ganz in ihm aufging. Aber weh tat es doch.
-Nun — auch sie würde ja einmal ihren Beruf haben.&#160;—</p>
-
-<p>Und wonnig, beseligend war es doch schon, ihn wieder zu haben. Seine
-Nähe zu fühlen, seine Hand zu halten. Was wollte sie denn mehr: er
-liebte sie — er liebte sie! Er sah ihr in die Augen, tief, tief, er
-suchte ihre Lippen&#160;—</p>
-
-<p>Was wollte sie mehr? Was wollte sie mehr! Nichts — nichts — nichts!</p>
-
-<p>Dann zog er ihr kleines Weihnachtsgeschenk heraus: „Das ist mein treuer
-Begleiter gewesen“, sagte er.</p>
-
-<p>Nun hatte sie ihm längst die Kunst abgelernt, zwischen spitzen Fingern
-eine Zigarette zu drehen. Er lachte jedesmal, wenn sie ihm die
-hinhielt, daß er sie anfeuchte. „Nein, daß mußt du tun — schmeckt
-besser so!“ Und sie lachte wieder, ließ die Zunge vorsichtig über den
-Papierrand gehen. „Jetzt rauche auch du ein paar Züge!“ Das konnte sie
-nicht, das lernte sie nicht. Versuchte es, ihm zuliebe, und erstickte
-fast. „Kleine Deutsche — du!“ spöttelte er. „Da waren meine russischen
-Freundinnen erfahrener.“ Sie zog ein Gesichtchen. „Aber Lene! <span class="antiqua">Tempi
-passati!</span> Du bist doch nicht eifersüchtig?“ — „Rasend eifersüchtig
-könnte ich sein.“ — „Ach geh! Das ist ja immer eine Dummheit.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span></p>
-
-<p>Ein paar Augenblicke sah sie wortlos vor sich hin. Dann schlang sie jäh
-die Arme um seinen Hals und küßte, küßte ihn.</p>
-
-<p>Fast täglich sahen sie sich nun. Aber meist nur wie im Fluge, auf
-karge Minuten. Seine Zeit war sehr knapp, er studierte ein paar neue
-Rollen, hatte mancherlei gesellige Verpflichtungen. Auch ging er nicht
-mehr so gern wie ehedem in die kleine Konditorei; er behauptete, das
-gute Kuchenfräulein fiele ihm auf die Nerven und der süße Dunst in
-dem winzigen Lokal wäre schier unerträglich jetzt im Winter, wo nie
-gelüftet würde.</p>
-
-<p>„Warum kommst du nicht endlich einmal zu mir? Ich habe dich so oft
-gebeten. Nachgerade — weißt du, Helene — empfinde ich es fast wie
-einen Mangel an Vertrauen.“</p>
-
-<p>Ein paar Male sagte er das. Aber sie antwortete nie. Immer straffte
-sich dann ihr Nacken, und sie bog den Kopf zurück mit dem ablehnenden,
-abwehrenden, eigensinnigen Ausdruck, den er schon kannte.</p>
-
-<p>Einmal hatten sie sich im Vorzimmer von Frau Harriers-Wippern
-verabredet. Er mußte ein wenig warten, die Unterrichtsstunde schien
-sich auszudehnen. Als Helene herauskam, sah er, daß sie geweint hatte.
-„Nun?“ fragte er. „Was hast du denn?“</p>
-
-<p>Erst wollte sie nicht recht mit der Sprache heraus. Endlich gestand
-sie, daß Frau Harriers mit ihr nicht mehr so zufrieden wäre wie früher,
-ihr leise Vorwürfe gemacht hätte: sie sei nicht aufmerksam genug, übe
-auch wohl nicht mehr so fleißig wie ehedem. Es schien Helene sehr
-nahegegangen zu sein.</p>
-
-<p>„Ach — bah!“ machte er. „Jeder Lehrer muß gelegentlich tadeln. Aber
-wenn sie schon recht hat: warum hat denn dein Eifer nachgelassen?“</p>
-
-<p>Sie sah ihn an: mußte er sich denn nicht selber sagen, woran das lag?
-Daß sie nur an ihn, nur an ihn denken konnte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p>
-
-<p>Eine Antwort wartete er nicht ab. „Übrigens, Helene, hab ich dir längst
-gesagt, daß die gute Harriers nicht mehr die rechte Lehrerin für
-dich ist.“ Er wurde eifriger. „Ich will dir einen Vorschlag machen:
-entschließe dich kurz und schnell und fahre zur Viardot!“</p>
-
-<p>„Aber du weißt doch, daß das nicht geht.“</p>
-
-<p>„Nicht geht? Warum denn nicht? Um des elenden Mammons willen? Ich hab
-genug verdient in den letzten Jahren. Ein Wort von dir, und wir sitzen
-morgen früh in der Bahn — wir beide, ganz allein, Helene&#160;—“</p>
-
-<p>Sie waren aus dem Hause getreten, gingen langsam die Viktoriastraße
-hinunter, dem Tiergarten zu.</p>
-
-<p>„Sei nicht so klein, Helene! Du bist doch Künstlerin. Du willst eines
-Künstlers Frau werden. Wir haben das Recht, freier, größer zu denken
-als andere Menschen. Wirf endlich einmal dein Philistertum hinter dich.
-Helene, Geliebte — wir beide, allein&#160;—“</p>
-
-<p>Wieder straffte sich ihr Nacken. Aber dann ließ sie den Kopf sinken.
-Glühend heiß stieg es in ihr empor.</p>
-
-<p>Sein leises Raunen klang so einschmeichelnd in ihr Ohr. „Wenn du mich
-wirklich lieb hast, Helene, wirst du ja sagen. Liebe muß Vertrauen
-haben, Liebe soll doch auch Opfer bringen können. Opfer? Ich will ja
-gar kein Opfer. Laß dir sagen, Helene: wir fahren nicht gleich nach
-Baden-Baden. Wir fahren erst nach Helgoland. Nach dem freien Stück
-englischen Bodens. In drei Tagen sind wir Mann und Frau. Helene,
-Geliebte, so kann es nicht weitergehen.“</p>
-
-<p>Ihre Hände krampften sich in der kleinen Muff zusammen. ‚Mann und
-Frau!‘ dachte sie. ‚Großer guter Gott, wäre denn das möglich?‘ Ein
-unsagbares Glücksempfinden war in ihr und eine herzbeklemmende Angst.
-‚Lieber Gott, hab Erbarmen —‘</p>
-
-<p>Da sah sie drüben, auf der anderen Seite der Straße, Harro gehen. Er
-kam aus der Schule, hatte die schwarze Mappe mit seinen Büchern unter
-dem Arm, ging hart an den Vorgärten entlang und spähte mit finsterer
-Miene zu<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> ihnen herüber. Sie sah es deutlich: seinen trotzigen Mund und
-das Faltengewirr auf der Stirn.</p>
-
-<p>Mit einem Male rief sie laut: „Harro! Harro!“</p>
-
-<p>Es war der Entschluß eines Augenblicks. Ein Entschluß, der über sie
-gekommen war, sie wußte selbst nicht wie. Ein Hilfeschrei vor sich
-selber vielleicht. Stehen blieb sie, als ob plötzlich Bleilasten an
-ihren Füßen hingen. Und kaum hatte sie gerufen, so brach es wie ein
-herzzerreißender Jammer über sie herein: ‚Du hast ja Alfred tödlich
-beleidigt. Das wird er dir nie verzeihen.‘</p>
-
-<p>Der Vetter kam mit hastigen Schritten quer über die Straße.</p>
-
-<p>Aber nun sah sie nicht mehr hin, nun sah sie nur Alfred. Sah erst
-das Schürzen seiner Lippen, dann das Auffunkeln in seinen Augen.
-Niederknien hätte sie mögen vor ihm: ‚Vergib mir, vergib! Bis ans Ende
-der Welt gehe ich mit dir ... allein mit dir ...‘</p>
-
-<p>Plötzlich dachte sie: ‚jetzt schlägt er dich, schlägt dich nieder. Und
-auch das wäre Seligkeit ...‘</p>
-
-<p>Und dann sah sie plötzlich, wie er sein Gesicht zwang. Ganz ruhig, ein
-wenig spöttisch sagte er: „Das ist ja wohl Ihr Herr Vetter, gnädiges
-Fräulein? Guten Tag, Herr von Oschitz.“</p>
-
-<p>Weiter gingen sie, nun zu dritt. Nein, sie ging nicht, sie schleppte
-sich vorwärts. Ketten hingen ihr an den Gliedern, Ketten umschnürten
-ihre Seele. Kaum zu atmen vermochte sie.</p>
-
-<p>Harro sprach kein Wort. Er hatte flüchtig seine Pelzkappe berührt, dann
-wieder beide Hände in die Manteltaschen gesteckt, ganz tief und zu
-Fäusten geballt. Rechts schritt er neben Helene her, den Kopf im Nacken.</p>
-
-<p>Aber Alfred sprach. Völlig beherrscht, angeregt sogar, heiter, etwas
-überlegen. Daß es doch ein glücklicher Zufall gewesen wäre, wie man
-sich bei der Harriers getroffen; vom Winterwetter und der Eisbahn; von
-seiner Schulbankzeit und wie erleichtert er aufgeatmet hätte, als er
-den Ranzen hinter sich geworfen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span></p>
-
-<p>Bis zur einsamen Insel ging er mit. „Hat mich sehr gefreut, Herr von
-Oschitz. Bitte, legen Sie mich der Frau Mama zu Füßen. — Addio,
-gnädiges Fräulein ...“ Und dann noch, ganz flüchtig scheinbar, nur ihr
-verständlich: „Ja so ... wir wurden vorher unterbrochen ... vielleicht
-überlegen Sie sich doch meinen Vorschlag. Die Viardot ist nun einmal
-die erste Lehrerin Europas. <span class="antiqua">Au revoir!</span>“</p>
-
-<p>Die eiserne Gartentür flog lautschallend ins Schloß, von Harro
-geschleudert.</p>
-
-<p>Nun noch der kleine Weg durch den Vorgarten.</p>
-
-<p>Da tat Harro endlich den Mund auf, fragte: „Warum hast du mich gerufen?“</p>
-
-<p>Sie hatte die Frage erwartet und erschrak doch vor ihr. Hatte sich die
-Antwort zurechtgelegt und brachte sie doch nur mühsam heraus: „Ich ...
-sah dich dort ... drüben&#160;...“</p>
-
-<p>„So? So! Es war also nur eine Begrüßung, quer über die Straße. Es klang
-auch ganz so ... so wie eine Begrüßung.“</p>
-
-<p>Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie war so matt, so zerschlagen,
-so widerstandslos.</p>
-
-<p>„Quäl’ mich nicht, Harro!“ bat sie.</p>
-
-<p>Er war stehengeblieben, sah zu Boden, sah dann wieder sie an. Der Trotz
-wich aus seinem Gesicht, aber die Bitterkeit blieb in seiner Stimme:
-„Nein, ich will dich nicht quälen. Ich hab dich zu lieb dazu. Ich seh
-ja auch, dich ... dich quält anderes genug.“</p>
-
-<p>„Es wird schon wieder besser werden. Es ist nur, weißt du — du hast
-doch gewiß auch oft Verdruß in den Stunden.“</p>
-
-<p>Sie war eine so schlechte Lügnerin, schämte sich so, daß sie gerade vor
-Harro lügen mußte. Das Blut schoß ihr ins Gesicht.</p>
-
-<p>„In den Stunden also&#160;—“</p>
-
-<p>„Quäl’ mich nicht, Harro!“</p>
-
-<p>Da ging er weiter. Die Haustür glitt ins Schloß, ganz sanft drückte
-Harro sie zu. Schweigend schritten sie nebeneinander die breiten
-Eichenstufen hinan. Erst vor ihrer<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> Tür, oben im halbdunklen Korridor,
-blieb er noch einmal stehen. Tief schöpfte er Atem, es war, als ringe
-er mit sich. Dann sprach er dringend, heiß: „Du hast neulich nichts von
-mir wissen wollen, Helene. Aber ich muß es dir doch noch einmal sagen,
-wie gern ich dir helfen möchte. Wenn ... wenn er nur deiner wert ist&#160;...“</p>
-
-<p>Ganz leise hatte er das letzte geflüstert in seiner verhaltenen dunklen
-Jungensstimme. Verschämt fast und doch so innig. Sie hörte es mit
-geschlossenen Augen, gegen die Wand gelehnt.</p>
-
-<p>Als sie die Augen öffnete, war Harro fort. Und sie ging in ihr Zimmer
-und weinte sich aus.</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p>Am Nachmittag kam Bruder Wilhelm. Helene wurde heruntergerufen, ließ
-aber um Entschuldigung bitten: sie hätte schreckliche Kopfschmerzen.
-Die Wahrheit war’s und doch nicht die ganze Wahrheit, sondern eine
-Ausrede. Nur niemand sehen, niemand hören wollte sie.</p>
-
-<p>Da kam aber Wilhelm selbst heraufgepoltert, sah in das dunkle Zimmer,
-holte vom Korridor die Lampe: „Aber Lene, was machst du? Tante Marianne
-klagte auch, du sähst miserabel aus. Laß doch mal zusehen. Wo fehlt’s
-denn?“</p>
-
-<p>Die Augen taten ihr weh in dem plötzlichen grellen Licht. Sie hielt die
-Hand vor, auch deshalb: wozu brauchte er die Tränenspuren zu sehen!
-Ein Lächeln zwang sie heraus, indem sie ihm die Hand gab: „Kopfweh,
-Wilhelm, weiter nichts. Morgen ist alles wieder gut.“</p>
-
-<p>Der große Optimist war leicht beruhigt, schob die Lampe beiseite,
-setzte sich: „Na ja, so leicht sind wir Hackentiner nicht
-unterzukriegen. Ja ... und ich möcht dir doch noch Prost Neujahr sagen.
-Eine ganze Hucke Grüße und Wünsche bring ich dir aus unserm lieben
-alten Rohlbeck mit.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span></p>
-
-<p>„Ach ... Rohlbeck ... ja, unser altes liebes Rohlbeck ...“ Wie sie das
-sagte, hatte sie eine ganz unbestimmte Empfindung: dies Rohlbeck mußte
-weit, weit abliegen. Unermeßlich weit.</p>
-
-<p>Wilhelm machte sich’s behaglich und begann zu erzählen. Natürlich
-zuerst von Martha und seinen Schlingels; mit dem üblichen kleinen
-Seufzer: ja, wer es so gut hätte und immer bei ihnen sein könnte. Von
-Vater und Mutter dann und von ganz Rohlbeck, mit dem alten Heckstein
-an der Spitze, der am ersten Feiertag prächtig gepredigt, aber am
-zweiten dafür wieder mal einen uralten Bock abgeschlachtet hätte —
-„na, freilich hatten wir am Abend bis Glock eins Whist gedroschen.“ Vom
-Weihnachtsfest erzählte Wilhelm: wie sie alle in der großen Stube um
-den Christbaum gestanden hätten. Vater hätte gemeint: „Sehr schön, sehr
-schön, das heißt, schöner wär’s, wenn die Lene hier wäre“, und Mutter
-hatte etwas wie Tränen in der Stimme gehabt. Mutter wurde recht alt.</p>
-
-<p>Anfangs hörte Helene nur mit halbem Ohr zu. Aber allmählich, mehr und
-mehr, gewannen die lieben Gestalten, von denen Wilhelm sprach, doch
-Leben vor ihrer Seele. Gerade, weil die so matt und flügellahm war. Ihr
-war’s, als wehte der Duft der großen Kiefer, um die sie alle gestanden,
-noch heut zu ihr; der großen Kiefer, die Vater in jedem Jahr mit dem
-Großknecht selber im Walde aussuchen ging. Etwas wie leises, leises
-Heimweh überkam sie; jetzt, plötzlich, nachdem sie so lange fast gar
-nicht an die Heimat gedacht hatte.</p>
-
-<p>Ganz anders klang es wie vorhin, als sie nun noch einmal sagte: „Ja ...
-ja, unser liebes altes Rohlbeck!“</p>
-
-<p>Sie schwiegen ein Weilchen. Dann fragte er, wie sie über das Fest
-fortgekommen wäre. „Pläsierlich wird’s ja nicht gewesen sein, taxier
-ich. So mit Tante Oschitz ... ich kenn das. Du hättest doch lieber
-mitkommen sollen, Lene. Na, übrigens, Vater wird ja jedenfalls zum 3.
-Februar herkommen.“</p>
-
-<p>„Vater — herkommen?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p>
-
-<p>„Ihr lebt aber hier, scheint’s, wirklich auf der berühmten einsamen
-Insel. Lest ihr denn keine Zeitungen? Zum großen Veteranenfest!
-Kinder, seid ihr komisch. Zur Enthüllung des Denkmals des
-hochseligen Königs sollen doch möglichst all die alten Krieger von
-Achtzehnhundertdreizehn, aus den Freiheitskriegen, nach Berlin kommen.
-Hast du denn nicht einmal vom König gelesen, wie er das Programm
-abgeändert hat? Da hatten die Hofschranzen fein säuberlich geschrieben:
-‚Alle Krüppel werden dem Veteranenzuge in Wagen aus dem königlichen
-Marstall folgen.‘ Dick streicht’s unser allergnädigster Herr aus und
-schreibt eigenhändig dafür hin: ‚Diejenigen, welche infolge ihrer bei
-der Landesverteidigung erhaltenen ehrenvollen Wunden gelähmt sind ...‘
-und so weiter. Fein, nicht wahr? Und schön! Ja, also, ich denk’, Vater
-wird bestimmt kommen.“</p>
-
-<p>Helene schwieg. In ihr arbeitete es: Vater würde kommen, und Vaters
-Jägeraugen waren scharf. Er las gewiß in ihrem Gesicht, was sie
-erlebt. Und wenn er dann fragte! War’s doch überhaupt wie ein Wunder,
-daß bisher alle blind gewesen waren — bis auf das eine Paar heller
-Jungensaugen! Wenn Vater kam und sie ansah und fragte&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>„Gerade redselig bist du nicht, Lene.“</p>
-
-<p>„Wilhelm, mein armer Kopf.“</p>
-
-<p>„Ja so ...“ und er erzählte weiter. Von den Rackowern, die diesmal
-den Winter daheim bleiben wollten. Sie müßten sparen, hatte der dicke
-Ernst gesagt. „Na, Lene, die Rackowschen und sparen! Schaden könnt’s
-ja nicht, denn man munkelt, Ernst sitze bei Ephraim Hirsch feste in
-der Kreide. Aber die und sparen. Tante Marie hat zu Weihnachten einen
-Kaschmirschal geschenkt bekommen, der seine tausend Taler unter Brüdern
-kostet.“ Übrigens hätten sie sehr nach Helene gefragt.</p>
-
-<p>„Wann bist du denn zurückgekommen?“ Sie sagte es eigentlich nur, um
-etwas zu sagen.</p>
-
-<p>„Gestern nachmittag. Ich wär schon gestern zu dir gekommen, aber meine
-englischen Freunde hatten mich auf<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> acht Uhr zu Ewest eingeladen. Da
-traf ich übrigens auch den Russen, wie du ihn ja wohl immer nanntest,
-Herrn Schwarz. In einer höchst fidelen Gesellschaft.“</p>
-
-<p>Ganz weit lehnte sie sich zurück und deckte die Hand noch fester über
-die Augen.</p>
-
-<p>„Theatervölkchen, weißt du. Wir haben noch ein paar Flaschen Cliquot
-zusammen getrunken. Meinen Engländern machte das einen Heidenspaß. Der
-eine, Mister Forster, hätte am liebsten angebändelt. Es war da eine
-bildschöne Person darunter, aus Frankfurt, die gefiel dem edlen Briten
-über die Maßen — doch die war in festen Händen. Aber was red’ ich da
-... das ist ja nichts für Mädchenohren.“</p>
-
-<p>Er schämte sich ein wenig und lachte verlegen. Sah nicht, wie die
-Schwester ganz hintenübersank, wie sie sich dann wieder aufrichtete,
-starr und steif. Hörte nicht, wie ihre Brust sich hob, ihr Atem
-schneller ging und immer schneller.</p>
-
-<p>Er sah und hörte nichts. Er sprach schon wieder von Rohlbeck. Es ging
-so doch nicht mehr lange mit dem ewigen Hin- und Herkutschieren. Wenn
-endlich die Konzession für die Eisenbahn von Frankfurt nach Posen
-hinaus wäre — und er hätte sie sicher in der Tasche, und das gäbe
-einen ordentlichen Batzen Geld —, dann müßten sie ganz nach Berlin
-ziehen. Schon der Jungens wegen, damit die in eine ordentliche Schule
-kämen.</p>
-
-<p>„Na, Lene, und nun Gott befohlen. Soll ich die Lampe mit herausnehmen?
-Bist wohl lieber im Dunkeln? Ja, solche verdeubelten Kopfschmerzen.
-Kenn’ ich, hab ich auch manchmal; wenn auch von anderer Art. Adieu,
-Lene, gib mir die Hand. Donnerwetter, was hast du für eiskalte Hände.
-Soll ich dir ’n Doktor schicken? Gute Besserung liebe Lene&#160;—“</p>
-
-<p>Nun war er endlich gegangen.</p>
-
-<p>Helene hatte ihr Taschentuch herausgezerrt und biß auf das Leinen.
-Sonst hätte sie aufschreien müssen. Aufschreien, daß es durch das ganze
-Haus gellte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span></p>
-
-<p>Ihm nachschreien: das ist gelogen! Wie kannst du es wagen, vor meinen
-Ohren Alfred so zu verleumden! Weißt du denn nicht, daß er mich liebt?
-Mich — nur mich!</p>
-
-<p>Gelogen! Gelogen! Gelogen!</p>
-
-<p>Immer wieder sprach sie es in Gedanken vor sich hin. Es tat ihr
-körperlich weh, es war, als ob das Wort jedesmal einer spitzen Nadel
-gleich ihr ins Gehirn stoße. Aber sie wiederholte, wiederholte: gelogen
-— gelogen — gelogen&#160;—</p>
-
-<p>Eine Stunde wohl saß sie so, ohne sich zu rühren. Ohne einen einzigen
-anderen Gedanken fassen zu können. Nur, daß ihr wohl ein Wort durch
-den Sinn schoß, das er neulich gesprochen hatte, lachend: „Du bist
-doch nicht eifersüchtig?“ Aber es war nur wie eine unklare Erinnerung.
-Eifersüchtig?! Wie sollte sie eifersüchtig sein? Es war doch alles
-gelogen — gelogen — gelogen&#160;—</p>
-
-<p>Einmal steckte Tante Oschitz den Kopf durch die Türspalt: „Immer noch
-Kopfschmerzen? Armes Kind! Mach dir doch einen ordentlichen Umschlag
-von Eau de Cologne.“</p>
-
-<p>„Ja, liebe Tante.“</p>
-
-<p>„Ich muß zu Madame Sandern. Willst du das Abendbrot auf dein Zimmer?“</p>
-
-<p>„Wie du befiehlst, liebe Tante.“</p>
-
-<p>O Gott, daß auch diese sanfte Stimme schmerzen konnte.</p>
-
-<p>„Soll dir das Mädchen die Lampe bringen?“</p>
-
-<p>„Bitte nein, liebe Tante.“</p>
-
-<p>„Recht gute Besserung, Kind. Ich stelle dir unten das Akonit hin. Zehn
-Tropfen, hörst du.“</p>
-
-<p>„Ja, liebe Tante.“</p>
-
-<p>Langsam schloß sich die Tür wieder. Tante Marianne hatte so
-geräuschlose Sohlen. Aber heut hörte Helene jeden, jeden ihrer Schritte
-auf der Treppe, bis zur letzten Stufe, und jeder dieser sanften
-schleifenden Tritte schmerzte.</p>
-
-<p>Wieder saß sie im tiefen Dunkel. Saß regungslos. Und dachte immer
-wieder: gelogen — gelogen — gelogen&#160;—</p>
-
-<p>Und dachte nun doch zurück an den heutigen Vormittag.<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> Gerade weil
-sie ja wußte, was der Bruder da leichthin geredet hatte, war gelogen.
-Selbstverständlich gelogen. Alfred, der ihr heute — heute — ins Ohr
-geflüstert hatte: „Mann und Frau“ ... „wir allein, ganz allein“: Alfred
-sollte gestern abend&#160;...</p>
-
-<p>... sollte überhaupt! Ach, diese schlechten, schlechten Menschen!</p>
-
-<p>Lachen müßte man — wenn man nur könnte&#160;—</p>
-
-<p>Aber sie selber: sie selber war auch schlecht gewesen. Denn schlecht
-war es, daß sie kein volles Vertrauen zu ihm fassen konnte. Wie kam
-das überhaupt? Wenn man jemand liebt, muß man volles Vertrauen haben.
-Unbedingtes, grenzenloses Vertrauen. Muß Opfer bringen können. Ja,
-hätte sie denn nicht für ihn sterben mögen ... sterben mit tausend
-Freuden!</p>
-
-<p>Sie aber ... sie hatte nach Harro gerufen. Wie um Hilfe. Nach dem
-dummen Jungen, der seines Weges kam, schlendernd, mit der Mappe
-unter dem Arm. Die Fäuste in den Manteltaschen. In den Augen dieses
-argwöhnische Überwachen. Was fiel dem Jungen ein!</p>
-
-<p>Mit Verachtung hätte Alfred sie strafen müssen. Aber er war der
-Großmütigere gewesen, der Überlegene, der Verzeihende.</p>
-
-<p>Und immer — immer war sie klein gewesen, klein und kleinlich&#160;...</p>
-
-<p>Und nun gar eifersüchtig. Nein, nein! Das nicht! Es war ja alles
-erlogen — erlogen — erlogen&#160;—</p>
-
-<p>Wieder saß sie eine Weile ganz still, regungslos.</p>
-
-<p>Dann sprang sie plötzlich jäh auf. Sie tastete im Dunkeln nach ihrem
-Schrank, riß ihren Mantel heraus und den Pelzhut. Alles im Dunkeln,
-ohne zu wählen; warf den Mantel um. Mit hastenden, unsicheren Händen.
-Der Hut wollte und wollte nicht sitzen. Ihr Haar hatte sich wohl
-gelockert. Sie griff hinein, preßte es gewaltsam unter die Hutform,
-schürzte die Bänder unter dem Kinn.</p>
-
-<p>Aber als sie die Türklinke in der Hand hatte, wandte sie sich noch
-einmal um. Nun brauchte sie doch Licht. Strich<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> das Schwefelholz an,
-entzündete die Kerze, kniete vor der Kommode nieder. Da lag, ganz unten
-versteckt, die Brosche mit den Topasen. Die mußte sie doch anstecken —
-heute.</p>
-
-<p>Das ging nur vor dem Spiegel. ‚Mein Gott, wie siehst du aus!‘ dachte
-sie erschrocken. Auf einen Augenblick kam ihr die Besinnung zurück.
-Soweit wenigstens, daß sie sich das Haar glatt strich. ‚Nein, häßlich
-darf er dich nicht finden.‘ So weit wenigstens, daß sie die Knöpfe des
-Mantels richtig schloß, den Hut gerade rückte.</p>
-
-<p>Die Topasen schimmerten und glänzten, wie sie so bei dem matten Schein
-der Kerze die Brosche vor sich hin hielt. Ein leises Lächeln huschte
-über ihr Gesicht. Darüber wird er sich gewiß freuen, daß du die
-angesteckt hast. Heute&#160;—</p>
-
-<p>Nun war sie fertig, war ruhig. Wirklich, glaubte sie, ‚ich bin nun ganz
-ruhig‘. Es war ja nur der Entschluß, der so schwer war.</p>
-
-<p>Sie löschte die Kerze. Sie huschte die Treppe herunter und über den
-Flur. Leise, vorsichtig, öffnete sie die Haustür. An Harros scharfe
-Ohren dachte sie dabei. Leise, vorsichtig drückte sie die Tür wieder
-zu. Es war doch ein Glücksfall, daß Tante Oschitz gerade heut abend aus
-war. Bei der alten Madame Sandern. Da saßen sie jetzt und strickten
-Missionsstrümpfe. Komisch eigentlich: um die Neger da hinten, da unten
-in Afrika sorgte sich Tante Oschitz.</p>
-
-<p>Draußen war es schneidend kalt. Aber die Kälte tat Helene wohl. Sie
-atmete tief auf. Der Kopfschmerz war verschwunden. Wie fortgezaubert.
-Durch die Kälte vielleicht, durch den Entschluß vielleicht. Durch einen
-großen, guten Entschluß! Der das Herz so leicht macht und so froh.</p>
-
-<p>Schnellen Schrittes ging sie die Tiergartenstraße entlang, dann durch
-die Lennéstraße. Es war sehr leer auf den Straßen bei der starken
-Kälte. Im Rauhreif standen links die Bäume des Tiergartens, winkten
-rechts die des Radziwillparks über die alte Stadtmauer. Sogar auf dem
-Pariser Platz war es still. Der Posten an der Brandenburger<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> Torwache
-lief in schwerem Mantel hinter dem Gitter herum, um sich warm zu
-halten. ‚Das ist der Weg, den wir am ersten Tage in Berlin gegangen
-sind‘, dachte Helene. ‚Und nun gehe ich zu ihm — zu ihm!‘</p>
-
-<p>Das kurze Stück Unter den Linden, die Wilhelmstraße. ‚Ja, zu ihm!
-Was er wohl für Augen machen wird? ‚Du, Helene?!‘ Ans Herz wird er
-mich nehmen, und ich will ihm abbitten, alle meine Zweifel, all meine
-häßlichen kleinen, kleinlichen Gedanken.‘</p>
-
-<p>Jetzt kam die lange Behrenstraße. Ganz am Ende wohnte er, fast
-gegenüber dem Opernhause. Oft genug war sie ja vorübergegangen, hatte
-zu seinen Fenstern emporgesehen mit pochendem, sehnsüchtigem Herzen.</p>
-
-<p>Plötzlich kam ihr der Gedanke: wenn er nun nicht zu Hause ist? Aber das
-war ja unmöglich. Er <em class="gesperrt">mußte</em> zu Hause sein, heute: das wollte das
-Schicksal.</p>
-
-<p>Sie war sehr schnell gegangen, zuletzt fast gelaufen.</p>
-
-<p>Nun, plötzlich, als sie auf der anderen Straßenseite die erleuchteten
-Fenster des Ewestschen Restaurants sah, stockte ihr der Atem. Dort
-also hatte er gesessen, in lustiger Gesellschaft, gestern abend —
-in solcher Gesellschaft. Was hatte Wilhelm erzählt? Doch das war ja
-gelogen — gelogen — gelogen&#160;—</p>
-
-<p>Sie wiederholte es sich immer wieder, immer eindringlicher. Aber das
-würgende Gefühl in der Brust wurde sie nicht los, die atembeklemmende
-Enge. Mühsam nur kam sie vorwärts, und jetzt erst fühlte sie die
-schneidende Kälte, den scharfen Wind, der die Straße entlang jagte, ihr
-gerade ins Gesicht. Sie schauerte zusammen. An der Rückfront des Palais
-mußte sie einen Augenblick stehen bleiben. Und da schoß ihr plötzlich
-der Gedanke durch den Sinn: ‚Hier wohnt der alte König, und Vater kommt
-als sein Gast. Vater!‘</p>
-
-<p>‚Vater —‘</p>
-
-<p>‚Was Vater wohl dazu sagen würde, wenn er dich hier fände, auf diesem
-Wege?!‘</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span></p>
-
-<p>Sooft hatte er ihr den Nacken gesteift, hatte sie den Kopf zurückwerfen
-lassen, der Hackentinsche Stolz. Halb unbewußt beides: Familienstolz
-und Mädchenstolz. Heut hatte sie das beides weit hinter sich geworfen.
-Aber nun war’s doch, als hörte sie Vaters Stimme: „Mädel, wo hast du
-deinen Stolz?“</p>
-
-<p>Sie biß die Zähne aufeinander, stand noch einen Moment mit
-geschlossenen Augen. ‚Mein Stolz? Ja, mein Stolz! Was ist mein Stolz
-gegen meine Liebe!‘ Und weiter ging sie, an den kümmerlichen Büschen
-des Opernplatzes entlang, jetzt schon seine Fenster suchend.</p>
-
-<p>Die Fenster waren dunkel. Er war nicht daheim.</p>
-
-<p>Aber er mußte ja zu Hause sein. Er hatte gewiß auch ein Zimmer nach dem
-Hofe hinaus.</p>
-
-<p>Wieder stand sie ein paar Minuten, nach den Fenstern dort drüben
-hinüberspähend, als ob im nächsten Augenblick hinter den Rouleaus ein
-Lichtschein aufflammen müßte.</p>
-
-<p>Dann wollte sie über die Straße. Sie mußte ja doch über die Straße. In
-dies Haus drüben, die zwei Treppen hinauf. Sie <em class="gesperrt">mußte</em> ja doch&#160;...</p>
-
-<p>Aber es war wie eine Lähmung in ihr. Die Füße wollten sie nicht
-hinübertragen. Der Mädchenstolz, der Hackentinsche Stolz war mit einem
-Male wieder da: Helene Hackentin geht in später Abendstunde zu ihrem
-Geliebten!</p>
-
-<p>Als ob ihr das jemand ins Ohr raunte. Wie häßlich das war, wie gemein
-das klang!</p>
-
-<p>Dabei wiederholte sie schwer, langsam die Worte. Triumphierend wollte
-sie es sich selber zurufen: ‚Ja doch! Ja doch! Gerade das: zu ihrem
-Geliebten!‘ Aber es ging nicht, der häßliche Klang blieb und blieb.</p>
-
-<p>Einmal sah sie sich wirr um. War es denn überhaupt schon so spät? Sie
-hatte keine Uhr befragt. Die Straße, der Platz waren menschenleer;
-doch die Häuser waren noch nicht geschlossen; das Opernhaus war noch
-erleuchtet. Aber das tat ja alles gar nichts, bedeutete ja gar nichts.
-Und wenn es zur Mitternachtsstunde gewesen wäre&#160;—</p>
-
-<p>Ganz menschenleer war die Straße.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span></p>
-
-<p>Plötzlich hörte sie Stimmen. Und sie sah drüben, dicht an den Häusern
-entlang, ein Paar gehen. Einen Mann und eine Frau, Arm in Arm&#160;—</p>
-
-<p>... Alfred&#160;...</p>
-
-<p>Starr aufgerichtet stand sie, starr, wie versteint. Ihre Augen spähten
-durch die Dunkelheit. Nun traten die beiden in den kümmerlichen
-Lichtkreis der nächsten Laterne. Nun klangen noch einmal ihre Stimmen
-herüber, ein Scherzwort, ein kurzes Auflachen. Jetzt waren sie drüben
-am Hause, stiegen die paar Stufen zur Tür hinauf. Die Tür knarrte, ging
-auf, schloß sich wieder hinter den beiden.</p>
-
-<p>Starr aufgerichtet stand Helene, starr, wie versteint. Den Kopf weit
-vorgestreckt, die Augen auf die Tür gerichtet, hinter der die beiden
-verschwunden waren: Alfred ... und die Frau! Jetzt hatten sie wohl die
-zweite Treppe erreicht, jetzt standen sie vor seiner Wohnung, jetzt zog
-er den Schlüssel aus der Tasche.</p>
-
-<p>Mit einem Male flammte es hinter den Rouleaus auf. In einem dämmrigen
-Schein, wie wenn jemand ein Schwefelholz entzündet. Ein leuchtender
-Punkt zuerst, dann das ganze Fenster füllend, daß ein breiter
-Lichtstreif durch die blaue Stoffgardine auf die Straße hinaus fiel.
-Und hinter dem blauen Vorhang silhouettenhaft, scharf umrissen, zwei
-Gestalten&#160;—</p>
-
-<p>Noch immer stand Helene starr aufgerichtet, wie zu Stein erstarrt, mit
-weit vorgestrecktem Kopf, die schmerzenden Augen nach drüben gerichtet,
-die Hände gegen die keuchende Brust gepreßt. Noch immer konnte sie das
-Unfaßbare nicht begreifen. Aber es bohrte sich ihr wie mit tausend
-spitzen Nadeln ins Hirn, es schnürte ihr den Atem ein, es legte sich
-mit Zentnerlasten auf sie: das Unfaßbare, das Unbegreifbare, das
-Fürchterliche ... die Erkenntnis!</p>
-
-<p>Dann kam endlich ein einzelner Ton des Jammers aus ihrer Brust, ein
-einziger Wehlaut nur. Die Starrheit wich. Sie schlug die Hände vor das
-Gesicht. Und dann rannte sie quer durch die kümmerlichen Büsche des
-öden Platzes,<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> als ob sie dem Entsetzen entfliehen wollte, das noch mit
-ihr ging und das sie nie, nie verlassen konnte.</p>
-
-<p>Sie jagte über den Platz, als ob sie gehetzt würde, als ob der Schimpf
-und die Schande hinter ihr drein wären.</p>
-
-<p>Mit einem Male aber waren ihre Kräfte am Ende. Auf die ungeheure
-seelische Anspannung folgte jäh der Rückschlag. Sie taumelte, raffte
-sich noch einmal auf. Stand, sah sich wirr um, tat noch ein paar
-mühsame Schritte vorwärts&#160;—</p>
-
-<p>Da fühlte sie eine sanfte, starke Hand an ihrem Arm. Hörte eine Stimme:
-„Liebe Helene ... ich bin’s ... ich, Harro! Komm ... erlaube, daß ich
-dich stütze ... liebe Helene&#160;...“</p>
-
-<p>Klar bewußt wurde ihr all das nicht. Aber in ihrer ohnmächtigen
-Hilflosigkeit empfand sie die hilfreiche Hand, empfand sie den
-zärtlichen, mitleidsvollen Ton der Stimme. Sie lehnte sich auf den Arm,
-ließ sich willenlos halten und stützen. Wie von fern her hörte sie
-wieder: „Nicht durch die vielen Menschen, Helene, nicht wahr? Die Oper
-ist eben aus. Drüben bekommen wir gewiß einen Wagen.“</p>
-
-<p>Er führte sie, langsam, sorglich, wie man eine Kranke führt. Hob sie in
-die Droschke, setzte sich still neben sie, fragte nicht, hielt nur ihre
-Hand mit einem weichen, gleichmäßigen Druck.</p>
-
-<p>Ganz zusammengesunken saß sie in ihrer Ecke. Manchmal ging ein Schauern
-über sie hin, sie zuckte zusammen wie in einem schrecklichen Traum,
-schluchzte weh auf. Manchmal faßte ihre freie Hand nach dem Halse, als
-suchte sie etwas, das sie einengte, ihr den Odem abschnürte.</p>
-
-<p>Die Droschke trottete und trottete über das Pflaster. Es tat so weh, so
-weh&#160;...</p>
-
-<p>Einmal fuhr Helene auf, rief wie erwachend, fast feindselig: „Wohin
-bringst du mich!“</p>
-
-<p>Da war wieder die liebe, zärtliche, mitleidsvolle Stimme: „Ängstige
-dich nicht, Helene ... nach Hause ...“ Ganz seltsam klang die Stimme,
-so ruhig, so zuversichtlich. War<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> das wirklich Harros Stimme, war das
-Harros Hand, die die ihre hielt? Merkwürdig ... Harros Hand ... und tat
-so wohl&#160;...</p>
-
-<p>Wieder kauerte sie sich zusammen, ganz tief in ihre Ecke. Schreckte von
-neuem auf: „Wo kommst du denn her?“</p>
-
-<p>„So laß doch, Helene. Ich kam ganz zufällig über den Opernplatz.“</p>
-
-<p>Ob er wohl log? Gewiß log er. Das fühlte sie. Aber weiter konnte sie
-nicht denken. Nur daß er gut zu ihr war, wußte sie.</p>
-
-<p>Weiter und weiter rasselte der Wagen, immer im gleichmäßigen langsamen
-Trotteltrab. Jeden Hufschlag empfand sie. Es klang fast wie: ‚Wie soll
-das nun werden? Wie ... soll ... das ... nun ... werden?‘ Aber auch dem
-konnte sie nicht nachdenken. Es war alles so verworren, so unklar. Nur
-ein großer, großer Schmerz war da.</p>
-
-<p>Endlich hielt der Wagen.</p>
-
-<p>„Mama ist nicht zu Hause. Johann auch nicht, nur Luise“, hörte sie
-wieder. „Ich bring dich hinauf. So ... komm ... gib mir deine Hand.“</p>
-
-<p>Das war also doch Harro. Wie verständig der Harro war! Der Junge!</p>
-
-<p>Und dann lag sie auf dem Sofa oben in ihrem Zimmer. Die Lampe brannte,
-aber Harro hatte den Schirm vorgezogen, das Licht blendete nicht. Es
-war schön warm; draußen war es doch eisig kalt gewesen. Und die alte
-Luise war da, brachte heißen Tee, zog ihr die Stiefel aus, rieb ihr die
-Füße. Und als sie gegangen, kam Harro noch einmal herein, setzte sich
-zu ihr, streichelte ihr die Hand.</p>
-
-<p>Was war denn das?</p>
-
-<p>Der große Junge hatte ja dicke Tränen in den Wimpern.</p>
-
-<p>Sie sah ihn an, richtete sich mühsam hoch, sah ihn wieder an, mit
-erwachenden Augen. Sank zurück, schlug die Hände vor das Gesicht und
-schluchzte — schluchzte bitterlich.</p>
-
-<p>Mit einem Male stand nun alles wieder vor ihrer Seele — durchlebte sie
-all ihr Unglück noch einmal, rang mit<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> der Verzweiflung, bäumte sich
-auf, brach völlig zusammen. Nun hörte sie nicht mehr, was Harro ihr
-zusprach, fühlte nicht mehr den leisen, mitleidsvollen Druck seiner
-Hand. Fühlte nur eins: es ist aus und zu Ende ... dein Glück liegt in
-Trümmern und Scherben&#160;...</p>
-
-<p>Eine endlose, endlose Nacht.</p>
-
-<p>Tante Marianne war gekommen, aufs heftigste erschrocken. „Wir hatten
-noch einen Spaziergang gemacht, Helene und ich“, hatte Harro erklärt.
-„Da ist sie plötzlich ohnmächtig geworden. Sie war ja schon in den
-letzten Tagen nicht wohl. Erinnere dich nur, Mama.“</p>
-
-<p>Der Arzt wurde gerufen, Tante brachte Helene zu Bett. Willenlos ließ
-sie alles mit sich geschehen, sprach nicht, lag mit geschlossenen
-Augen. Der Medizinalrat machte ein bedenkliches Gesicht — „Ein
-Nervenfieber im Anzug“ — verschrieb ein Rezept, wollte am nächsten
-Morgen wiederkommen.</p>
-
-<p>Nicht von Helenens Bett wich die Tante. Ein paar Male kam Harro auf den
-Fußspitzen, öffnete eine Türspalte, schlich wieder zurück. Die Medizin
-wurde gebracht. „Du mußt einnehmen, liebes Kind!“ Gehorsam richtete
-sich Helene auf. „Du bist so gut zu mir, liebe Tante —“ sank wieder
-zurück, lag mit geschlossenen Augen, endlose, endlose Stunden. Manchmal
-dachte Tante Marianne: es scheint doch, sie schläft. Aber dann sah
-sie wieder, wie die Hände auf der Bettdecke leise hin und her gingen,
-immer, als suchten sie nach etwas Verlorenem. Wie bei einer Fiebernden,
-und doch war der Puls ganz regelmäßig und die Stirn eher kühl als heiß.</p>
-
-<p>Als der Morgen dämmerte, wurden die Hände ruhiger. Manchmal bewegte
-Helene die Lippen, als wollte sie etwas sagen oder als spräche sie
-mit sich selber. Tante Marianne sah das alles, sah auch, wie sich
-zwischen den Brauen ein paar Fältchen eingruben. Wie bei Harro, dachte
-sie; es muß doch etwas wie eine Familienähnlichkeit sein. Es schien
-nun wirklich, als schliefe Helene fest.<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> Auch ihre Lippen waren jetzt
-ruhig, seltsam zusammengepreßt nur, ganz schmal und blutlos.</p>
-
-<p>Durch die tiefen Fensternischen brach das Tageslicht. Ein erster
-schmaler Sonnenstrahl legte sich quer über die Bettdecke. Tante
-Marianne wollte aufstehen, den Vorhang zuziehen. Da schlug Helene die
-Augen auf. Sie haschte nach der Hand der Tante und sagte matt, aber
-ganz klar: „Daß ich dir soviel Mühe mache, Tante.“ Sie zog die Hand an
-ihre Lippen. „Ich werde euch allen das nie danken können. Ich bin wohl
-überhaupt eine recht undankbare Kreatur.“</p>
-
-<p>Tante Marianne war sehr glücklich. Wer so sprach, konnte nicht
-ernstlich krank sein! In aufwallender Herzlichkeit beugte sie sich über
-die Nichte, küßte sie: „Du liebes böses Kind! Wir haben uns wirklich
-geängstigt. Was für Geschichten machst du nur!“</p>
-
-<p>In Helenes Augen lag immer noch etwas Starres. „Ja ... was für
-Geschichten ...“ sagte sie langsam. Und dann gleich: „Aber ängstigen
-braucht ihr euch nicht. Es muß wie ein plötzlicher Anfall gewesen sein.
-Jetzt bin ich ganz wohl. Und du hast die ganze Nacht hier gewacht. Ich
-schäme mich, Tante&#160;...“</p>
-
-<p>„Aber, Helene! Und ganz wohl: das glaube nur nicht. Da müssen wir erst
-den Doktor hören.“</p>
-
-<p>Helene saß aufrecht in ihrem Bett. Sie fühlte, daß ihr Haar sich gelöst
-hatte, griff nach der einen schweren Flechte, die ihr wie ein Goldband
-über der Brust hing. Ein flüchtiges Rot ging über ihre Wangen, während
-sie die hochsteckte. „Ganz wohl? Ganz gesund hätte ich sagen sollen“,
-sprach sie wieder in ihrem schweren fremden Tonfall.</p>
-
-<p>„Aber Kind, das ist doch dasselbe&#160;—“</p>
-
-<p>Sie antwortete nicht, ließ sich zurückfallen, schloß die Augen, sah
-wieder auf. Etwas unsicher und zaghaft. Griff von neuem nach der Hand
-der Tante, sagte langsam, als ob ihr doch jedes Wort schwer fiel:
-„Liebe Tante ...<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> ich habe eine sehr große Bitte ... ich möchte so
-schnell als möglich nach Hause ... nach Rohlbeck&#160;...“</p>
-
-<p>Dabei blieb sie. Immer wiederholte sie es. Der Tante, dem Arzt, auch
-Wilhelm gegenüber, der gerufen worden war.</p>
-
-<p>Sie schien auch wirklich ganz gesund. Der Medizinalrat machte zwar
-einige Einwendungen, sprach dann von einem Nervenchock, gab jedoch zu,
-daß sie durchaus reisefähig wäre. So gab man ihrem Wunsche schließlich
-nach. Tante Marianne war vielleicht ein wenig pikiert über die Hast,
-mit der Helene ihre kleinen Vorbereitungen traf; sie schüttelte den
-Kopf, konnte sich in den plötzlichen Entschluß nicht hineindenken; die
-offenbare Veränderung im Wesen der Nichte verwirrte, versöhnte sie aber
-auch einigermaßen. Eine fremde, stille Schweigsamkeit war in Helene,
-eine fast wortlose, aber innige Dankbarkeit sprach aus ihr.</p>
-
-<p>Wilhelm wollte die Schwester am nächsten Tage wenigstens bis Frankfurt
-bringen. Am Abend kam er noch einmal, um sich als unabkömmlich zu
-entschuldigen. Nun sollte Harro für ihn einspringen. Ob er wohl die
-Klasse auf einen Tag ohne Schaden versäumen könnte? Er wurde rot, dann
-erklärte er sein „Selbstverständlich“. Tante Marianne ging hinauf, um
-Helene Mitteilung zu machen. Sie kniete vor ihrem Köfferchen, sah auf
-wie erschrocken, sagte dann hastig: „Aber ich kann doch wahrhaftig
-allein reisen!“ Als die Tante ihr zusprach: „zu unserer Beruhigung,
-Kind! Wenigstens, daß wir wissen, du bist gut in der Post untergekommen
-—“ senkte sie den Kopf. Es war also abgemacht.</p>
-
-<p>In ganz früher Morgenstunde mußte sie aus dem Hause, denn
-der Zug ging schon um acht Uhr, und man gebrauchte bis zum
-Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof fast eine Stunde.</p>
-
-<p>So elend und übernächtigt sah sie aus, als sie herunterkam, daß
-die Tante erschrak. Aber Helene schien ganz ruhig. Sie sagte jedem
-einzelnen Dienstboten Lebewohl; dann umarmte sie die Tante, dankte ihr
-noch einmal.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span></p>
-
-<p>„Liebes Kind, du kommst ja bald wieder. Nimm’s nicht so feierlich.“</p>
-
-<p>„Wenn ich wirklich wiederkomme&#160;—“</p>
-
-<p>„Aber, Helene!“</p>
-
-<p>Sie stand einen Moment mit hängendem Kopf, wie tief in Gedanken
-versunken, griff dann nach der Hand der Tante, zog sie an die Lippen.
-Es war wie eine Abbitte. Und sie sagte auch wirklich nach einer kleinen
-Pause: „Verzeih mir, Tante Marianne. Ich hätte wohl manchmal anders
-sein können. Behalt mich ein wenig lieb&#160;...“</p>
-
-<p>Schweigsam saßen die beiden Reisenden nebeneinander.</p>
-
-<p>Bisweilen sah Harro verstohlen auf Helene, bisweilen wollte er
-irgendeine kleine Unterhaltung anfangen. Immer wieder verstummte er.
-Aber er umgab sie mit schonendster Sorglichkeit.</p>
-
-<p>Einmal, kurz vor Frankfurt, sprach Helene wie aus einer langen
-Gedankenkette heraus: „Ich muß dich noch um etwas bitten&#160;—“</p>
-
-<p>„Gewiß, Helene! Sag’s nur!“</p>
-
-<p>„Bitte, geh zu Frau Harriers-Wippern und entschuldige mich. Sag’, daß
-ich plötzlich hätte abreisen müssen. Ich würde ihr von Rohlbeck aus
-schreiben.“</p>
-
-<p>„Ich gehe gleich morgen.“ Und dann sagte er fast dasselbe wie seine
-Mutter: „Helene, du kommst doch bald wieder!“</p>
-
-<p>Da sah sie ihn an, eigentlich zum erstenmal heute, und sie schüttelte
-langsam den Kopf.</p>
-
-<p>„Helene&#160;—“</p>
-
-<p>Es war, als suchte er nach Worten. Über das junge Gesicht strömte
-wieder das Rot. Er mußte erst eine Scheu überwinden.</p>
-
-<p>„Helene ... du hast doch deine Kunst!“ kam es dann plötzlich heraus. Es
-klang fast wie vorwurfsvoll und tröstend zugleich.</p>
-
-<p>Sie hatte die Hände im Schoß geschlossen. Sie drückten sich noch fester
-ineinander. Ihr Blick wich wieder seinem Auge aus. Und dann sagte sie,
-auch wie in einer inneren<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> Scheu, ganz leise: „Harro ... mir ist’s, als
-sei auch die zerbrochen&#160;...“</p>
-
-<p>Erst als sie schon am Wagen stand, in dem schmalen Posthof, unmittelbar
-vor dem Einsteigen, sprach sie noch einmal zu ihm. Ganz kurz nur: „Du
-bist gestern sehr gut zu mir gewesen, Harro. Ich danke dir vielmals.
-Und wenn du kannst, Harro ... denke nicht schlecht von mir.“</p>
-
-<p>Er schluckte ein paar Male, als ob er mit Tränen kämpfte. Dabei
-hatte er die Hände wieder in den Manteltaschen, zu Fäusten geballt.
-Ruckweise nur erwiderte er: „Schlecht von dir! Ach ... Helene ... nie
-... niemals. Ich ... du weißt es ... ich hab dich ja so lieb. Manchmal
-denk ich, du müßtest eigentlich meine Schwester sein ... manchmal ...“
-Plötzlich riß er die Hände aus den Taschen und griff nach ihrer Hand.
-Das Blut kam und ging in seinem Gesicht. „Nimm’s dir doch nicht so zu
-Herzen, Helene! Das ist ja alles dummes Zeug ... das&#160;...“</p>
-
-<p>Der Postillion blies. Der Kondukteur drängte. Über Harro schien etwas
-wie innere Wut zu kommen, er mußte sich irgendwie Luft machen. Mit
-einem Ellbogenstoß schob er einen dicken Wollhändler zur Seite, schrie
-ihn an: „Was machen Sie sich hier mausig. Sehen Sie nicht, daß die
-Dame einsteigen will!“ — Dann hob er Helene in den Wagen, deckte ihr
-die Reisedecke über die Knie, drückte noch einmal ihre Hände. „Adieu,
-Helene ... auf Wiedersehen ...“ Da war seine Stimme schon wieder
-knabenhaft weich geworden. „Bleib gesund&#160;...“</p>
-
-<p>Und dann stand er, die Mütze in der Hand, neben dem hohen Wagen. Der
-Wind spielte mit seinem blonden Haar. „Adieu ... liebe, liebe Helene&#160;...“</p>
-
-<p>Trotz allem: Helene fühlte sich erleichtert, als sie allein war unter
-fremden Menschen.</p>
-
-<p>In den endlosen Stunden der Nacht, während sie gelegen hatte, wach mit
-geschlossenen Augen, mit der Verzweiflung ringend, war, langsam und
-allmählich, ein neues Gefühl in ihr erwacht. Während der ganzen Fahrt
-heute war es gewachsen und gewachsen. Nun sie allein war<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> unter den
-fremden Passagieren, sann und sann sie ihm nach. Es war ein Empfinden,
-das ihr unsagbare Schmerzen brachte und an das sie sich doch klammerte
-wie der Ertrinkende an die schmalste Bootsplanke. Es war der Vorwurf:
-wo hattest du deinen Stolz?!</p>
-
-<p>Gestern abend — deutlich stand der Moment vor ihrer Seele — gestern
-abend, am Palais, war einer Warnung gleich in letzter Minute der
-Weckruf in ihr erklungen: was Vater wohl sagen würde? ‚Mädel, wo hast
-du deinen Stolz?‘</p>
-
-<p>Gestern abend hatte die Leidenschaft sie darüber hinweggepeitscht. Nun
-klang er immer wieder auf, der Vorwurf: wo hattest du deinen Stolz?</p>
-
-<p>Es war ja freilich nur wie eine schmale Bootsplanke&#160;—</p>
-
-<p>Wie sie so saß und sann und grübelte, rann es ihr immer wieder siedend
-heiß durch die Adern. ‚Und wenn er heut käme und umfaßte dich und du
-hörtest seine Stimme: wo bliebe dein Stolz? Wie Schnee in der Sonne
-wäre er.‘ Aber wenn sie so dachte, dann bäumte sich jetzt ihr ganzes
-Inneres dagegen auf. Die Scham überflutete sie: ‚Nein! Nein! Und wenn
-er käme! Eine andere war ich gestern — eine andere bin ich heute! Ein
-Leben liegt zwischen gestern und heut.‘</p>
-
-<p>Auch das fragte sie sich immer wieder: warum fliehst du vor ihm?</p>
-
-<p>Plötzlich in der Nacht, aus der Verzweiflung geboren, war ihr der
-Entschluß gekommen, und sie hatte nach ihm gegriffen: auch wie der
-Ertrinkende nach der schmalen Bootsplanke. Nun war ihr Stolz wach
-geworden und schrie ihr zu: warum fliehst du vor ihm! Aber da war auch
-die Scheu vor dem Kampf und die übergroße Müdigkeit. Da war die Furcht
-vor den forschenden Blicken — auch vor Harros wissenden Augen. Da war
-die Sehnsucht nach Ruhe, nach der Enge und Stille des Landes, nach dem
-Frieden des Elternhauses.</p>
-
-<p>In ewig gleichem Trabe zog die Post ihres Weges, zwischen den ewig
-gleichen Pappelreihen entlang, durch<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> die ewig gleichen Schneeflächen,
-die sich rechts und links breiteten, schier endlos.</p>
-
-<p>Gleichgültig saßen die drei anderen Fahrgäste in ihren Ecken. Fremde
-Leute — gottlob. Dann und wann blies der Postillion ein kurzes Lied,
-immer, wenn der Wagen durch ein Dorf ratterte. Ein paar Stimmen dann
-am Wege, ein Hundegekläff, ein Peitschenknall — und wieder die weite,
-weite Schneeebene.</p>
-
-<p>Als sie hinausgefahren war aus der Heimat, hatten die Wiesen noch im
-Grün gestanden. Nun war es Winter geworden. Winter&#160;—</p>
-
-<p>Die Gegend wurde bekannter; hier ging der Weg nach Sodelzig ab; dann
-klangen die Hufschläge scharf auf dem berühmten Pflaster von Stellberg.
-An der Apotheke fuhr die Post vorbei — hinter jenem Fenster dort hatte
-sie ihn zum ersten Male gesprochen.</p>
-
-<p>Die drei Hügel kamen, die Mutter Hoffnung, Liebe, Glaube getauft hatte:
-vom ersten aus sollte man hoffend die Kirchturmspitze von Rohlbeck
-suchen; beim zweiten sich in der Liebe beglückt fühlen, die in der
-Heimat wartete; das dritte brachte die nahe Gewißheit des Wiedersehens.
-Glaube war für Mutter Gewißheit.</p>
-
-<p>Aber je näher die Heimat kam, desto banger wurde Helene.</p>
-
-<p>Warum war sie aus Berlin geflohen? Trug sie die Unruhe nicht in sich,
-mit sich, in den Frieden der Heimat hinein? Mußte sie nicht auch
-hier fragenden, forschenden Augen begegnen? Würde man nicht auch im
-Elternhause um Auskunft drängen?</p>
-
-<p>Sie sah das nun alles ganz, ganz anders vor sich, als in der
-vergangenen Nacht, wo die schmerzliche Sehnsucht nach der Heimat sie
-ergriffen hatte. Sie hörte das Fragen, sie fühlte das Forschen der
-Ihren und wußte, daß keine Antwort sie befriedigen würde. Wem konnte,
-sollte sie sagen: ich bin geflohen — vor ihm!</p>
-
-<p>Eine: eine war vielleicht im Elternhause, die sie ganz verstehen
-konnte. Vielleicht?</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span></p>
-
-<p>Nun schimmerte schon der rote, hohe Schornstein der Dampfmühle über das
-Schneefeld. Und wie sie das sah, da fiel ihr noch ein rein Äußerliches
-auf die Seele. Sie sah im Geiste auch das ganz deutlich: die Jungen an
-der Chaussee, die Posttasche abzuholen, den Hauslehrer dabei&#160;—</p>
-
-<p>Mit einem plötzlichen Entschluß sprang sie auf und pochte vorn an die
-kleine Wagenscheibe. Der Kondukteur sah sich um, öffnete, fragte. Sie
-wolle hier aussteigen. Jawohl — hier! Und das Gepäck? Das Gepäck
-sollte in Rohlbeck abgegeben werden, bei denen, die die Posttasche für
-das Dominium holten.</p>
-
-<p>Die Chaise hielt. Der dicke Wollhändler wachte auf und machte brummend
-Platz, so wenig, als zum Aussteigen gerade unumgänglich nötig war. Der
-Kondukteur war abgestiegen, stand am Schlag: „Es ist aber tiefer
-Schnee&#160;—“</p>
-
-<p>Aus ihrem kleinen Portemonnaie holte Helene das letzte
-Zehngroschenstück für ihn hervor.</p>
-
-<p>Und dann bog sie in den Feldweg ein, der von der Dampfmühle nach dem
-Gutshof führte.</p>
-
-<p>Es war wirklich tiefer Schnee und kein Fußweg ausgetreten. Anfangs
-hastete Helene, dann wurde ihr das Ausschreiten schwer und immer
-schwerer. Sie fühlte, daß ihr der Schweiß ausbrach vor körperlicher
-Anstrengung, und dabei schüttelte sie der Frost.</p>
-
-<p>Schwerer und schwerer wurde der Weg — und schwerer und schwerer wurde
-ihr das Herz.</p>
-
-<p>Welch ein Wiedersehen!</p>
-
-<p>Nun war sie am Kreuzweg, dicht hinter dem Garten. Wie ein
-phantastischer Gedankenblitz fuhr ihr durch den Sinn: vor diesem
-Kreuzweg hatte sie sich als Kind immer gefürchtet; die alte Beate,
-die Kindermuhme, erzählte so gruselige Geschichten vom Kreuzweg zur
-Nachtzeit.</p>
-
-<p>Und jetzt kannte sie den anderen Kreuzweg; den Kreuzweg des Lebens, der
-in die Nacht führte&#160;...</p>
-
-<p>Das Dach des Elternhauses leuchtete über die kahlen Baumgipfel.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span></p>
-
-<p>Da flog Helene, die letzten Kräfte anspannend, durch den Garten. Zum
-Seiteneingang hin, zu den Wirtschaftsräumen im Souterrain. Auch die
-Bettler pochten hier an — auch die Bettler.</p>
-
-<p>Hochaufatmend stand sie unten im kalten, halbdunklen Flur. Die Tür zur
-Leuteküche war nicht ganz geschlossen, ein dichter, heißer Brodem kroch
-aus ihr hervor.</p>
-
-<p>Hochaufatmend stand sie, vom schnellen Lauf erschöpft. Die Hände preßte
-sie gegen die Brust: ‚Lieber Gott, gib mir eine gnädige Aufnahme —‘</p>
-
-<p>Mit einem Male ging ganz hinten im Flur die Tür zur Milchkammer.</p>
-
-<p>Helene stürzte vorwärts, umklammerte die Schwägerin, legte den Kopf an
-ihre Brust, bat nur immer wieder: „Martha ... Martha ... hilf mir!“</p>
-
-<p>Und Martha half in ihrer stillen, schlichten, resoluten Weise. Ohne
-viel Worte, ohne Fragen und Drängen, ohne forschende Augen.</p>
-
-<p>„Wie sich das gut trifft“, sagte sie. „Dein Zimmer ist geheizt. Wir
-erwarteten nämlich Margaret Zieldorf. Komme nur —“ Und wie eine, die
-alles errät, fügte sie hinzu: „Den Eltern bring ich’s nachher bei,
-damit sie nicht erschrecken.“ Fragte auch gleich nach dem Gepäck, rief
-eine Magd. „Gut, daß die Jungens Arbeitsstunde haben.“ An alles dachte
-sie.</p>
-
-<p>Oben brachte sie Helene zu Bett. „Nun ruh dich nur. Ich besorg dir
-gleich etwas Warmes. Still! Erst ruhen und eine warme Tasse Brühe.“ Zog
-die Decke fest um Helene, beugte sich herab, küßte sie auf beide Wangen.</p>
-
-<p>Mit weit offenen Augen lag Helene. Nun erst fühlte sie die Abspannung
-nach der Fahrt, nach dem Gang durch den Schnee und die kalte Starrheit
-aller Glieder. Manchmal schüttelte der Körper zusammen vor Frost.
-Aber langsam, allmählich kam doch die wohlige Wärme. Der große,
-braune Kachelofen sprühte, ab und an gab’s ein heimliches Knastern in
-den Buchenscheiten. Dann kam Martha zurück, setzte sich aufs Bett:
-„Natürlich hatte die Köchin keine<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> Brühe, aber ich hab dir schnell ein
-Warmbier gemacht. Hier — so — und nun trinkst du. Still! Nicht reden.
-Morgen ist auch noch ein Tag.“</p>
-
-<p>„... die Eltern&#160;...“</p>
-
-<p>„Ja doch, laß mich nur sorgen. Vorläufig bist du mal krank. Nein ...
-ich will gar nichts wissen. Trink noch einmal. Übrigens, Vater liegt
-auch zu Bett.“</p>
-
-<p>„Vater?“</p>
-
-<p>„Du brauchst nicht zu erschrecken, er ist kerngesund. Aber er sollte
-doch nach Berlin reisen, zum Jubiläum der Befreiungsveteranen, und das
-paßt ihm nicht.“</p>
-
-<p>Martha lachte ganz leise, streichelte Helenes Hand und erzählte weiter,
-wie man einem Kind erzählt, um es auf andere Gedanken zu bringen.
-„Nämlich, wie Papa die große Einladungskarte bekommt, stutzt er und
-sagt bloß: ‚Das heißt‘ ... wird ganz rot, steckt die Einladung ein
-und geht aus dem Zimmer. Den ganzen Tag gestern haben wir ihn kaum zu
-Gesicht bekommen, und gegen Abend wurde er ‚krank‘ — ‚das heißt‘,
-meinte er ‚nach Berlin kann ich nun nicht‘. Wir hatten wirklich etwas
-Sorge. Aber dann kam der Pastor, und da erfuhren wir’s: unser guter
-Papa ist nämlich gar nicht Rittmeister. Premierleutnant ist er, und
-die Einladung war an den Premierleutnant von Hackentin gerichtet, wie
-das wohl in den Listen steht. Die Leute haben ihn nur zum Rittmeister
-ernannt, und allmählich hat er’s selber geglaubt. Nun nimmt er’s
-gewaltig krumm, liegt im Bett, schimpft mit Diana und sagt, wenn einer
-von uns hereinkommt, immer wieder: ‚Das heißt, nach Berlin kriegt ihr
-mich nicht. Ich bin krank.‘ Aber das Essen schmeckt ihm, Gott sei Dank.“</p>
-
-<p>„Der arme Papa&#160;—“</p>
-
-<p>„Laß nur gut sein. Es ist doch mehr komisch als tragisch. Aber nun will
-ich mal nach meinen Rangen sehen.“</p>
-
-<p>Sie war schon bis an die Tür, da rief Helene sie zurück. Mit leiser,
-ängstlicher Stimme. Wie ein Flehen klang’s.<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> Und als sie noch einmal an
-das Bett trat, richtete Helene sich auf und klammerte sich fest an ihr:
-„Geh nicht fort ... ich muß mein Herz erleichtern ... ich muß dir alles
-erzählen&#160;...“</p>
-
-<p>Und so sagte sie’s.</p>
-
-<p>Martha saß bei ihr, hatte ihre beiden Hände genommen, unterbrach nicht,
-fragte nicht. Und als Helene zu Ende kam, hastend bald, bald stockend,
-unter heißen Tränen, da küßte sie ihr die von den Wangen. Hielt die
-Bebende sanft umschlungen und sagte leise: „Es ist kein Menschenherz,
-dem nicht Kampf beschieden wurde. Auch du wirst darüber hinfortkommen,
-liebe Lene. Es ist gut, daß du nun heimgekehrt bist.“</p>
-
-<p>„Ich war so leichtgläubig! Ich war so leichtsinnig!“</p>
-
-<p>„Du hast an ihn geglaubt, denn du hast ihn geliebt. Schilt dich nicht,
-Helene. Deine Liebe entsühnt dich ... Und nun gebe dir der liebe Gott
-Ruhe für dein armes Herz. Hier im Elternhause!“</p>
-
-<p>Als Helene am nächsten Morgen erwachte, staunte sie: wie hatte sie nur
-so fest und gut schlafen können!</p>
-
-<p>Wie eine Fremde sah sie sich im Zimmer um. Das war also das enge
-Zimmerchen, aus dem sie hinausgeflüchtet war, vor drei Monaten erst, in
-das sie nun wieder zurückflüchtete.</p>
-
-<p>Der große Kachelofen bullerte bereits; ganz leise mußte die Trine in
-der Frühe geheizt haben. Durch die blaugestärkten steifen Gardinen
-brach die Morgensonne. Drüben stand der schmale, hohe Kleiderschrank
-aus Birkenholz, hüben der kleine Waschtisch mit gehäkelten Spitzen
-und am Fenster ihr winziger, birkener Mädchenschreibtisch mit den
-geschweiften Füßen. Alles wie ehedem. Gerade, als ob das Zimmerchen nur
-auf sie gewartet hätte.</p>
-
-<p>Dann glitt ihr Blick die Wand entlang. Und da fiel er drüben auf eine
-eingerahmte Perlenstickerei. Richtig — das war ja die Arbeit der
-verstorbenen Tante Melanie. Merkwürdig, in all den Jahren, in denen
-sie das Zimmer als ihr kleines, eigenstes Heiligtum betrachtet, hatte
-sie<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> diese kunstvolle Perlenstickerei eigentlich gar nicht beachtet.
-Sie wußte nicht einmal mehr, wie der Spruch lautete, der da in bunten
-Perlen auf weißem Seidengrund stand. Nie hatte sie ihn bewußt gelesen.</p>
-
-<p>Nun las sie:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Im Lieben wohnt Betrüben</div>
- <div class="verse indent0">Und kann nie anders seyn.“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Und sie wandte sich ab. Die Tränen stiegen ihr in die Augen.&#160;—</p>
-
-<p>Es war Sonntag.</p>
-
-<p>Die Kirchenglocke läutete zum ersten Male, als Helene die Treppe
-hinunterstieg.</p>
-
-<p>Unten am Frühstückstisch saßen nur Martha und Mutter. Gerade mußten sie
-miteinander gesprochen haben: von ihr. „Lene,“ sagte Mutter und hatte
-ein Tränchen, „da haben wir dich also wieder. Komm, laß schauen, wie du
-aussiehst.“ Küßte sie und fuhr fort: „Schmalbäckig bist du geworden,
-aber ich seh schon, es ist nichts Ernstes. Wir wollen dich schon wieder
-herausfuttern.“</p>
-
-<p>Dann ging Helene zu Vater hinüber. Der lag wirklich auch heut im Bett,
-hatte einen Teller mit Reinetten vor sich, schälte sich gerade einen
-Apfel. „Lene, Kind, ei, sieh mal! Martha hat mir schon erzählt. Ja —
-das heißt, eigentlich siehst du gar nicht so elend aus. Ganz gewiß hat
-die Oschitzen nicht gut für dich gesorgt. Ruhig, Diana ... willst du
-wohl die Lene in Frieden lassen. Ja, das heißt, ich bin selber krank.
-Wollte ja auch nach eurem großmächtigen Berlin, ja, das heißt, wollte,
-aber da hat mir der Hexenschuß ’nen Strich in die Rechnung gemacht.“</p>
-
-<p>Merkwürdig, merkwürdig: die Welt stürzte gar nicht ein darüber, daß
-Helene Hackentin ins Elternhaus zurückgeflüchtet war. Merkwürdig,
-merkwürdig: sie lasen ihr nicht vom Gesicht ab, was sie erlebt und
-erlitten hatte und immer noch litt.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span></p>
-
-<p>Die Jungens umtollten sie wie früher; der Hauslehrer machte seine
-verliebten Rollaugen wie früher. Und als es zum zweiten Male läutete,
-stand Mutter auf der Veranda in ihrem schwarzen Kirchenkleide, mit der
-schwarzen Seidenhaube auf dem Kopf, das goldgeränderte Gesangbuch in
-der Hand: „Jetzt müssen wir gehen, Lene. Ich bin nur neugierig, was der
-Heckstein wieder mal für einen alten Bock schlachten wird.“</p>
-
-<p>Zwischen Mutter und Martha saß sie dann im Herrschaftsgestühl.</p>
-
-<p>Oben vor der Orgel stand der alte Flehr.</p>
-
-<p>Der hatte das gnädige Fräulein gleich gesehen, und während er die
-Register zog, dachte er bewegt: ‚Wie sie nun wohl singen wird, unser
-Fräulein Helene, nun sie auf der hohen Schule war. Das wird wie eine
-<span class="antiqua">vox angelica</span> klingen.‘</p>
-
-<p>Aber als die erste Strophe aufklang, lauschte und lauschte er
-vergebens: die große, helle Stimme fehlte im Chor. Und als er sich
-verstohlen umwandte, sah er, wie Helene starr vor sich hinblickte —
-mit festverschlossenen Lippen.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Achtes_Kapitel">Achtes Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>Wieder lag der Schnee über der Rohlbecker Flur, und die Buchenscheite
-knatterten in den Kachelöfen. Der alte Rittmeister — das war
-er geblieben, wenn er auch in den Listen der Veteranen nur als
-Premierleutnant figurierte — der Rittmeister war trotz der schlechten
-Ernte des letzten Jahres in gehobener Stimmung. Donnerten doch
-endlich einmal wieder die preußischen Kanonen: gerade vor acht Tagen
-hatten die Preußen und Österreicher die Dänen aus Schleswig-Holstein
-herausgeworfen, so daß die nur noch in Düppel und auf Alsen saßen.
-Man denke: Preußen und Österreicher! Fast wie Anno 1813/14 war das,
-und wenn der Rittmeister auch manchmal<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> über die Strategie der
-Bundesgenossen von damals bedenklich den Kopf geschüttelt hatte, auf
-die österreichische Tapferkeit ließ er nichts kommen. Sogar die alte
-Gnädige nahm Interesse an den Vorgängen „da oben“. Recht genau verstand
-sie die Zusammenhänge nicht, aber wenn Vater aus der „Kreuzzeitung“
-vorlas, dann klangen auch einzelne Reminiszenzen aus vergangenen Tagen
-in die Gegenwart hinüber: einen Rittmeister von Gablentz hatte sie im
-Jahre achtzehnhundertfünfunddreißig, oder war’s sechsunddreißig, oder
-war’s siebenunddreißig, in Karlsbad kennengelernt, sicher denselben,
-der „da oben“ nun als Feldmarschalleutnant kommandierte; und dann der
-alte Wrangel: der hatte ihr ja schon, als sie ein blutjunges Komteßchen
-war, in die Backe gekniffen — damals, als er gerade Stabsrittmeister
-bei den ostpreußischen Kürassieren geworden war.</p>
-
-<p>Wenn der Herr von Hackentin am runden Tisch in der großen Stube, auf
-dem immer noch keine Petroleumlampe leuchten durfte, aus der ersten
-Seite der „Kreuzzeitung“ die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz
-vorlas, dann flammten seine Augen auf und zu den beiden Enkeln hinüber:
-„Ja, Jungens, die Preußen und die Österreicher! Die Alliierten von
-dreizehn! Schade, daß ihr nicht dabei seid! Das heißt — hm! — es hat
-ja auch so seine zwei Seiten mit dem Krieg. Aber ’n Lump, der nicht
-kommt, wenn der König ruft!“ Sobald er jedoch auf die zweite Seite der
-Zeitung kam, wurde er verdrießlich. „Der Deubel sollte sie holen, diese
-Demokraten! Das heißt: ich will nicht fluchen. Aber da haben sie im
-Abgeordnetenhause rundweg die Kriegsanleihe abgelehnt. Natürlich bloß
-aus Opposition! Und der große Schulze-Delitzsch erklärt feierlichst:
-‚Preußen mißbraucht seine Großmachtstellung.‘ Na, natürlich unser
-roter Kreisrichter wird wohl auch in dasselbe Horn blasen.“ Nur er
-durfte im Hause noch den Namen des zweiten Sohnes nennen und tat’s
-stets mit größter Erbitterung: „roter Kreisrichter“ war noch eine
-sanfte Bezeichnung. Und dann<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> bekam, zum Schluß, immer der Hauslehrer
-seine Pille: „Na, Herr Doktor, ich hab immer noch nichts von Ihrem
-Beitritt zu unserem guten Preußischen Volksverein gehört! Sind wohl
-auch heimlicher Nationalvereinler? Ja, und denken auch so: preußischer
-Großmachtskitzel. Wie? Das heißt ... natürlich ... haben ja noch kein
-Pulver gerochen!“</p>
-
-<p>Martha und Helene saßen dazwischen und zupften Scharpie. Kleinen
-Hügeln gleich bauten sich vor ihnen die weißen losen Fäden auf,
-und wöchentlich einmal nahm die Botenfrau den Packen mit nach
-Stellberg, wo in der Apotheke eine Sammelstelle errichtet war. Sobald
-Vater aber seine Zeitung zusammengefaltet und das Beiblatt mit den
-Familienanzeigen an Mutter abgegeben hatte, damit die „ihren Honig
-daraus sauge“, fing er an, Kriegsgeschichten zu erzählen. Dann schoben
-die Jungens ihre Schmöker beiseite und lauschten. So schön wie
-Großvater erzählte, so schön stand’s doch nicht in den Büchern.</p>
-
-<p>Manchmal aber, wenn die Posttasche entleert wurde, schob Vater auch
-Helene einen Brief zu. Neuerdings immer mit einem gewissen Respekt,
-denn die Briefe trugen den Feldpoststempel „von da oben“.</p>
-
-<p>Bekam Helene solch einen Brief, so tauschte sie mit der Schwägerin
-einen Blick des Einverständnisses und ging hinauf in ihr Zimmer, um
-den Brief in der Einsamkeit zu lesen. Vater murrte dann manchmal:
-„Natürlich wieder vom Harro. Als ob sie die Epistel von dem Jungen
-nicht auch hier lesen könnte. Das heißt, Junge darf man eigentlich
-nicht mehr sagen, seit er’s Portepee hat ... der Oschitz.“ Gegen
-Neujahr war Harro beim vierten Garde-Regiment als Junker eingetreten.</p>
-
-<p>Wenn Helene vor einem der frischen fröhlichen Feldzugsbriefe saß, aus
-dem so viel junger Mut und so viel Freude am Drauflosgehen sprach,
-dann dachte sie jedesmal an den ersten Brief zurück, den sie von ihm
-erhalten hatte. Ein Brief war’s eigentlich nicht gewesen, sondern nur
-ein doppelter Aufschrei: „Das hier für Dich. Es wurde abgegeben<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> und
-ich hab’s ergattert, damit’s nicht in unrechte Hände kommt. Schicken
-mußt ich’s Dir ja wohl. Ach, liebe Helene, ich bin so traurig. Ich habe
-solche Sehnsucht nach Dir!“</p>
-
-<p>„Das hier“ war ein eingelegter Brief von Alfred Schwarz.</p>
-
-<p>Sie hielt das verschlossene Kuvert lange in der bebenden Hand. Dann
-ging sie, schwer und langsam, bis zum Ofen und warf den Brief in die
-Flammen.</p>
-
-<p>Nicht lange darauf war Tante Marie aus Rackow heruntergekommen,
-unerwartet und unangesagt, zur Kaffeestunde. Hatte unten ein wenig
-paradiert in ihrem fußfreien perlgrauen Popelinekleide mit der
-braunroten Tunika darüber und dem Pelzbesatz um den Hals: „Denkt euch,
-ja, man darf’s endlich wieder zeigen, wenn man ein hübsches Füßchen
-hat, und die Krinoline wird kleiner und immer kleiner —“; hatte diese
-kleinen Füßchen in den Lackstiefeln und, unerhört, ein Stückchen eines
-rotgezwickelten Strumpfes sehen lassen, sowie ihren neuen „Pagenhut“;
-hatte lachend erzählt, daß Ernst endlich einen guten Käufer für das
-Vorwerk Grunow gefunden hätte, und hatte dann Helene unter den Arm
-gefaßt: „Mignonne, Liebes, jetzt komm’ ich auf einen Stipps mit dir
-hinauf.“</p>
-
-<p>Oben setzte sie sich vor den kleinen Schreibtisch, wippte hin und her,
-lächelte ein wenig verlegen, ein wenig verschmitzt, sprang wieder auf,
-küßte in der alten Herzlichkeit Lene auf beide Wangen und fragte dann
-plötzlich: „Nun, Mignonne, was hast du eigentlich mit unserem Freunde
-Schwarz gehabt?“</p>
-
-<p>Vom Augenblick an, da der Rackower Schlitten einfuhr, hatte Helene
-geahnt, was da kommen würde; sie wußte ja, daß die Rackowschen in
-Berlin gewesen waren.</p>
-
-<p>Nun stand sie doch vor der Tante, wie mit Blut übergossen. Aber auch
-innerlich gefaßt genug, um antworten zu können: „Sei nicht böse, Tante
-Marie. Ich muß das mit mir allein abmachen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span></p>
-
-<p>„Ja, doch! Ich bin ja gar nicht so neugierig, Kind. Nur — der Arme ist
-so unglücklich. Du hast sein Herz gebrochen, du grausame kleine Person.“</p>
-
-<p>Da lachte Helene auf: „Sein Herz!“</p>
-
-<p>Es klang sehr bitter, und auf Helenes Gesicht lag wohl ein so
-schmerzlicher Ernst, daß Marie Hackentin verstummte.</p>
-
-<p>Erst nach einer Weile sagte sie mitleidig: „<span class="antiqua">Pauvre enfant!</span> Ja
-... die Männer. Ich ahne&#160;...“</p>
-
-<p>Aber gleich war wieder ein Lächeln in dem kleinen, liebenswürdigen,
-häßlichen Gamingesicht. „Ah, ihr jungen Mädchen von heute, wie nehmt
-ihr doch alles gleich tragisch. Eine Episode, Mignonne, eine Episode!
-Was hätte es denn anders sein können? Heiraten konntet ihr euch doch
-nicht. Eine Hackentin und unser guter Freund Schwarz!“</p>
-
-<p>„Euer guter Freund, Tante Marie&#160;—“</p>
-
-<p>„Nun ja. Aber doch nicht mehr.“</p>
-
-<p>Helene schwieg. Was sollte sie antworten?!</p>
-
-<p>Tante Marie hatte sich wieder gesetzt, wippte auf dem Stühlchen, besah
-sich durch das Lorgnon die Wände. Und Helene stand vor ihr und sah mit
-brennenden Augen zum Fenster hinaus auf das schneebedeckte Scheunendach.</p>
-
-<p>„Willst du nicht einmal zu uns kommen? Auf ein paar Tage? Dir wird eine
-Abwechslung gut tun. In nächster Woche haben wir einige Gäste. Auch der
-nette Neuchateller, weißt du: Merivaux, wird dabei sein.“</p>
-
-<p>„Ich danke dir sehr. Aber — jetzt — noch nicht.“</p>
-
-<p>Das Lorgnon sank herab, und Tante Marie fragte, nun wieder ganz
-mitleidsvoll: „Tat es denn so sehr weh, Mignonne?“</p>
-
-<p>„Es tat wohl weh. Aber ich komme schon darüber hinweg.“</p>
-
-<p>„Ja, man kommt wohl schließlich darüber hinweg ...“, sagte Tante Marie,
-ganz anders als sie sonst sprach, langsam und schwer. „Wer von uns
-hätte nicht ähnliches durchgemacht.“ Und dann war sie gegangen.</p>
-
-<p>‚... ja ... man kommt wohl darüber hinweg.‘</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span></p>
-
-<p>Das dachte Helene jetzt noch, nach Jahresfrist, immer aufs neue. Und
-immer aufs neue ergänzte sie: ‚im Frieden des Elternhauses ... Dank
-meiner lieben, lieben Martha!‘</p>
-
-<p>Man kommt darüber hinweg. Die Wunde schließt sich. Aber die Narbe
-bleibt, und von Zeit zu Zeit brechen aus ihr die Schmerzen doch wieder
-hervor. Nicht mehr brennend und heiß, aber mit leisem, mahnendem
-Zucken. Gestalten steigen dann auf, und Träume kommen.</p>
-
-<p>Wie hatte doch Martha damals gesagt: „Arbeit, Helene — Arbeit!“</p>
-
-<p>Es war wirklich wie ein Allheilmittel. Keine schwanke Bootsplanke,
-an die sich der Ertrinkende in seiner Not anklammert, sondern ein
-sicherer Port. Immer wieder fühlte Helene das, wenn die Erinnerung
-heraufschleichen wollte mit all ihrer Süße, mit der verborgenen
-Sehnsucht, mit dem bitteren Leid.</p>
-
-<p>Und gottlob, es gab zu tun im Hause, in der Wirtschaft. Dafür sorgte
-Martha, die ja selber nie ruhte noch rastete.</p>
-
-<p>Die Eltern merkten es kaum, wie die Tochter nun mit angriff. Mutter
-lebte ihr halbes Traumleben, und Vater hatte höchstens einmal ein
-flüchtiges Wort: „Ei, sieh mal, Lenchen! Das heißt, wirklich, das freut
-mich!“ Aber an jedem Abend, wenn Helene todmüde lag, empfand sie den
-befreienden Segen der Arbeit, der Geist und Körper zur Ruhe zwang und
-die Träume scheuchte. Und manchmal dachte sie ganz verwundert: ‚was hab
-ich doch früher ein Drohnenleben geführt! Darum erschien mir auch alles
-so eng und klein, was mir nun eine Welt für sich geworden ist.‘</p>
-
-<p>Aber das eine Allheilmittel, das ihr Martha gegeben, tat es doch
-nicht allein. Es gab ein stilles Sichverstehen mit der Schwägerin,
-ein wortloses gegenseitiges Mitleidsempfinden, das ihnen beiden wohl
-tat und sie immer näher zueinander brachte. Beide trugen sie Bürden.
-Oft fragte Helene sich, trägt Martha nicht die schwerere? Und wie
-trägt sie ihre Last und ihren Kummer! Und dann dachte<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> sie an den
-Bruder, der immer die heiße Liebe zu den Seinen, zu Weib und Kind,
-zur Heimatsscholle auf den Lippen trug, der ein Tränchen hatte bei
-jedem Wiedersehen und bei jedem Abschiednehmen, um ein anderer zu
-sein, sobald eine Wegstrecke von ein paar Stunden zwischen ihm lag und
-Rohlbeck. „Wilhelm hat mich bei Ewest noch zum Abschied eingeladen am
-Abend, ehe wir nach Hamburg fuhren“, hatte Harro geschrieben. „Die
-Champagnerpropfen flogen, es war höchst fidel.“ Die Champagnerpropfen
-flogen — und daheim sparte Martha Pfennig zum Pfennig. Der Mann
-vergaß, sobald ihn die Großstadtluft wieder umwehte; die Frau trug ihre
-Last und ihre Sehnsucht schweigend und klaglos weiter und sagte sich
-selber, was sie Helene gesagt hatte: „Arbeit! Arbeit!“</p>
-
-<p>Etwas Wunderbares war es um die Arbeit. Und doch empfand Helene, je
-weiter die Zeit ins Land ging, eine klaffende Lücke.</p>
-
-<p>Manchmal, wenn sie bei irgendeiner hausfraulichen Tätigkeit neben
-Martha saß, sprang es jäh in ihr auf: ‚bei aller innigen Liebe, bei
-allem Verstehen — wir sind doch ganz verschieden!‘ Manchmal, in
-stillen Stunden, wenn sie allein war, überrann sie, schmerzlich fast,
-das Gefühl: ‚Ich trag’s nicht so wie sie. Ich müßte mich wehren!
-Wehren!‘</p>
-
-<p>Das waren dieselben Stunden, in denen, allmählich, aber stärker und
-immer stärker, der andere Schmerz in ihr wach wurde: und nun hast du
-auch deine Kunst zu Grabe getragen&#160;...</p>
-
-<p>In den ersten Wochen nach ihrer Heimkehr war es ihr unmöglich gewesen,
-zu singen; wurde sie gebeten, so wich sie aus. Unmöglich: denn jeder
-Ton verwundete ihre Seele.</p>
-
-<p>Dann kamen wohl Tage, an denen sie sich zwang, zwingen konnte, wenn
-Vater abends bat, wie einst: „Nun Lene, wie ist’s? Das heißt ... wenn
-du dich disponiert fühlst.“ Sie sang dann eins oder das andere ihrer
-alten Liedchen. Aber sie war jedesmal mit sich selber unzufrieden,
-fühlte einen fremden Klang aus ihrem Gesang<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> heraus, etwas Erzwungenes.
-Und bisweilen meinte Vater selber: „Ich weiß nicht — ich weiß nicht.
-Hast du wirklich in Berlin Fortschritte gemacht?“ Einmal nahm sie auch
-der alte Heckstein ins Gebet: „Hör’ mal, Jungfer Lene, warum singst du
-nie in der Kirche mit? Man ist doch neugierig, und unser guter Flehr
-— gut ist er nämlich, obwohl der Rittmeister in ihm den Demokraten
-wittert — unser guter Flehr ist einfach unglücklich.“ Da hatte sie,
-ohne ihn anzusehen, erwidert: „Ich kann nicht, Onkel Pastor.“ — „Ich
-kann nicht! Weißt du, Lene, das ist so die bequeme Ausrede von allen
-denen, die nicht wollen. Hast du deine Stimme verloren? Nein — sonst
-würdest du’s sagen. Also willst du nicht. Kind, in meiner Art liegt’s
-nicht, mich um ungelegte Eier zu kümmern. Gelegte sind besser. Ich
-dränge mich auch in niemandes Vertrauen. Aber das kann ich dir sagen:
-ein bissel Zwang, den der Mensch sich selber auferlegt, ist etwas sehr
-Gutes. Der brave Zschokke, von dem freilich unsere Heutigen nicht viel
-wissen wollen, hat mal in seinen Stunden der Andacht gesagt: ‚Der
-Mensch vermag unglaublich viel über sich, wenn er ernst will.‘ Das
-solltest du dir auch hinter deine allerliebsten Öhrchen schreiben.“</p>
-
-<p>‚... wenn er ernst will ...‘</p>
-
-<p>Nein, sie wollte nicht. Noch nicht. Sie ging dem Schmerz aus dem Wege,
-der jedesmal neu brannte, wenn sie sich zwang.</p>
-
-<p>Aber allmählich erwachte doch der Wille, erwachte und erstarkte. Der
-innere Drang weckte ihn, die große Lücke in ihrem Leben auszufüllen,
-die bloße körperliche Arbeit nicht schließen konnte; und dann kam
-die stolze Sehnsucht: geh nicht ganz unter in der Alltäglichkeit.
-Du brauchst nicht unterzugehen, denn deine Kunst kann dich über sie
-erheben.</p>
-
-<p>In der Schreibmappe, oben auf dem kleinen Tischchen am Fenster, lag
-noch der Brief von Frau Harriers-Wippern.</p>
-
-<p>„Wie bedauere ich, daß Sie den Unterricht aufgeben. Gerade Sie, liebes
-Fräulein, die zu so Großem prädestiniert<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> schienen. Wie ist das nur
-möglich?“ Und daneben lag der Brouillon der Antwort, zwanzig Male neu
-begonnen, immer wieder verworfen: „Zwingende äußerliche Ursachen ...
-leider unüberwindliche Hindernisse.“ Mein Gott, mein Gott, wie armselig
-— und wie unwahr!</p>
-
-<p>Wochen und Monate waren vergangen, ehe Wille und Kraft stark genug
-waren, das neue Ringen aufzunehmen. Ganz langsam waren sie erstarkt,
-aber plötzlich wurden sie zur Tat. Am ersten Pfingstfeiertage war’s
-gewesen, daß der alte Flehr verwundert vor seiner Orgel auflauschte:
-da war sie ja, die <span class="antiqua">vox angelica</span>, süß und schön und stark, die
-sich in seinen geliebten Chor mischte, ihn trug und über ihm sieghaft
-emporstieg:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Schmückt das Fest mit Maien,</div>
- <div class="verse indent0">Lasset Blumen streuen,</div>
- <div class="verse indent0">Zündet Opfer an:</div>
- <div class="verse indent0">Denn der Geist der Gnaden</div>
- <div class="verse indent0">Hat sich eingeladen,</div>
- <div class="verse indent0">Macht ihm die Bahn,</div>
- <div class="verse indent0">Nehmt ihn ein, so wird sein Schein</div>
- <div class="verse indent0">Euch mit Licht und Heil erfüllen</div>
- <div class="verse indent0">Und den Kummer stillen —“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Ich singe wieder, Harro!“ hatte sie damals geschrieben. „Denk Dir
-doch, lieber Harro, ich kann wieder singen. Auch das war in mir
-erstorben und ist nun, zu Pfingsten, auferstanden. Leicht macht’s mich
-und froh, Du wirst das schon verstehen. Sie sind alle, alle zu mir
-in der schweren Zeit so rührend gut gewesen. Am rührendsten Martha,
-Wilhelms Frau, die Du leider noch nicht kennst. Sie hat mich gestützt,
-mich getragen, mir geholfen in meinen Nöten. Aber schließlich kann
-jeder Mensch sich ganz nur selber helfen. Siehst Du, Harro, nun weiß
-ich endlich, wodurch ich mir helfen kann. Meine Kunst ist’s, die mich
-wieder frei machen wird. Es ist freilich anders wie früher. Ich denke
-nicht mehr an äußere Erfolge, nicht an den Konzertsaal und den Beifall,
-von dem ich einst träumte. Für mich und<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> für die, die mich liebhaben,
-will ich singen, meine Gabe pflegen und weiterbilden. Ich bin so froh,
-Harro. Ich wollte, Du wärst hier, und ich könnte Dir das zeigen, wie
-froh ich bin. Hinausgehen würde ich mit Dir aufs Feld, wir beide
-allein, und mit den Lerchen möcht ich dann um die Wette singen.“</p>
-
-<p>Am zweiten Pfingstfeiertag, nach dem Schluß des Gottesdienstes, lernte
-Helene Herrn von Holfen kennen, den Käufer des Rackower Vorwerks.</p>
-
-<p>Sie hatte ihn schon in der Kirche bemerkt und sich flüchtig gefragt,
-wer der junge fremde Mann drüben auf der anderen Empore wäre; ein
-Forsteleve vielleicht, hatte sie gedacht, und sich nicht weiter in
-ihrer Aufmerksamkeit stören lassen.</p>
-
-<p>Nun stand er vor der Kirchentür, stellte sich Vater vor, bat, ihn mit
-den Damen bekannt zu machen, und entschuldigte sich zugleich, daß er in
-Rohlbeck noch nicht seinen Besuch abgestattet; die Übernahme und die
-erste Einrichtung hätten ihn völlig in Anspruch genommen. Er sagte das
-alles sehr ruhig, durchaus weltmännisch, bescheiden und doch sicher.</p>
-
-<p>Der alte Rittmeister, kein Freund besonderer Förmlichkeiten, forderte
-ihn freundnachbarlich auf, „mit hinüber zukommen zu einem einfachen
-Frühstück und einem Willkommensglase“. Holfen warf einen fragenden
-Blick auf die alte Gnädige, und da diese die Aufforderung wiederholte,
-nahm er an.</p>
-
-<p>Seitdem war er ein ziemlich häufiger Gast im Herrenhause. Das Vorwerk
-Grunow lag näher an Rohlbeck wie an Rackow, war auch dort eingepfarrt;
-Ernst Hackentin hatte daher einen hübschen Vorwand gehabt, die „schwer
-zu bewirtschaftende Enklave abzustoßen“. Nun kam Holfen bald mit
-dieser, bald mit jener Anfrage und kleinen Bitte. Unverheiratet, hatte
-er allerlei Nöte bei seiner Etablierung, die ihm Anlaß gaben, sich
-bei dem Rittmeister oder noch mehr bei Martha Rat zu holen. Und sie
-alle hatten ihn gern. Mutter fand bald heraus, daß einer von den<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span>
-pommerschen Holfens eine Baer zur Frau gehabt hätte, deren Mutter
-wieder eine Komteß Grucker gewesen, und er hörte dem umständlichen
-Nachweis dieser Verwandtschaft „durch sieben Scheffel Erbsen“ äußerst
-artig zu. Mit Vater hatte er kleine anregende militärische Diskurse;
-er war erst vor anderthalb Jahren aus seinem Regiment, den Pasewalker
-Kürassieren, geschieden. Mit Martha gewann er bald besonders viel
-Berührungspunkte, denn sein wirtschaftlicher Eifer und eine gewisse
-frische naive Art, gerade sie immer aufs neue um Rat anzugehen, machten
-ihr Freude. Die Jungens schwärmten für ihn. Es kam ihm gar nicht
-darauf an, gelegentlich mit ihnen einen Wettlauf durch den Garten zu
-riskieren, und außerdem verstand er allerlei kleine Künste, die ihnen
-riesig imponierten, fabrizierte köstliche Flöten und ausgezeichnete
-Meisenkästen.</p>
-
-<p>Gegen Helene war er äußerst zurückhaltend, und sie wieder war
-vielleicht die einzige im Herrenhause, die wenig auf ihn achtete.
-Höchstens, daß sie manchmal die Schwägerin ein wenig mit ihm neckte.
-Merkwürdigerweise hatte die stille Martha Verständnis für einen
-harmlosen Neckton und ging nicht ungern auf ihn ein. „Dein Courmacher
-kommt!“ hieß es einmal, und: „Gesteh’s nur, Martha, du hast heut wieder
-ein zartes Zwiegespräch mit deinem Verehrer gehabt!“ hieß es ein
-andermal. Und Martha nickte: „Hatten wir auch — über die beste Art der
-Putenfütterung nämlich. Das ist doch gewiß ein zartes Thema.“</p>
-
-<p>„Ist er wirklich so nett?“</p>
-
-<p>Dann wurde Martha gleich wieder ein bißchen ernst: „Nett? Ich weiß
-nicht. Aber ein ordentlicher, strebsamer, fleißiger Mann ist er.“</p>
-
-<p>Das war sicher richtig. Helene hörte es von allen Seiten bestätigen. Es
-hieß auch, daß er das Vorwerk nur gekauft hätte, um sich als angehender
-Landwirt nicht von vornherein zu stark zu engagieren; er sei recht
-wohlhabend.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span></p>
-
-<p>Übrigens war er nicht ohne höhere Interessen. Dann und wann kam es doch
-vor, daß Helene und er auf kürzere Augenblicke allein waren, und fast
-regelmäßig schlug er dann ein Thema an, das sie fesselte. Einmal fand
-er sie auf der Veranda über dem kleinen Geibel-Band, den ihr Harro
-geschenkt hatte. Da zitierte er:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Wir können’s kaum erwarten:</div>
- <div class="verse indent0">Wann wird die Eiche grün?</div>
- <div class="verse indent0">Wann wird im Deutschen Garten</div>
- <div class="verse indent0">Die Kaiserkrone blühn?“ — —</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Sie kennen Geibel?“</p>
-
-<p>„Ich kenne und ich liebe ihn.“</p>
-
-<p>„Und warum zitierten Sie gerade aus der ‚Ungeduld‘?“</p>
-
-<p>„Weil mir da Geibel besonders aus dem Herzen spricht.“</p>
-
-<p>Sie saßen sich gegenüber. Helene hatte den Band vor sich, blätterte ein
-wenig darin, sah dann auf.</p>
-
-<p>„Es ist eigentlich ein politisches Lied. Ich hörte Sie aber neulich
-doch einmal sagen, Herr von Holfen, daß Sie der Politik gern fern
-blieben.“</p>
-
-<p>Er lächelte, und sie gestand sich, daß dies Lächeln sein etwas eckiges
-Gesicht verschönte. Klug sah er aus.</p>
-
-<p>„Ist es ein politisches Lied, gnädiges Fräulein? Dann laß ich
-diese Politik gelten. Ich mag mich nur nicht Hals über Kopf in das
-Parteigetriebe des Tages stürzen, bei dem wohl hüben und drüben
-übertrieben und gesündigt wird. Aber den großen Traum der deutschen
-Einheit, den Geibel hier aufklingen läßt, den träume ich auch mit; und
-ich denke und hoffe, er wird noch Wirklichkeit werden. Wenn wir das
-vielleicht auch nicht erleben.“</p>
-
-<p>Ein andermal war er am Nachmittag gekommen und hatte, ohne daß sie
-davon wußte, mit den Eltern in der großen Stube gesessen, während sie
-nebenan mit einer Handarbeit beschäftigt war.</p>
-
-<p>Sie war gerade an diesem Tage in einer besonders gehobenen Stimmung,
-die sie jetzt nicht selten, wie in einer Art von Reaktion, überkam.
-Die Arbeit hatte sie sinken<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> lassen, am Fenster hatte sie gestanden,
-lange Zeit, und über die grünen Wiesen hinweggeschaut, auf denen die
-Augustsonne lag. Dann war sie an den Flügel getreten und, recht aus
-ihrer Augenblicksstimmung heraus, sang sie Goethes „Auf dem See“.</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Und frische Nahrung, neues Blut</div>
- <div class="verse indent0">Saug ich aus freier Welt.</div>
- <div class="verse indent0">Wie ist Natur so hold und gut,</div>
- <div class="verse indent0">Die mich am Busen hält.“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Warum war sie gerade auf dieses Lied gekommen? Sie wußte es selber
-nicht. Aber sie fühlte, daß es sie emporhob, gleich wie auf Schwingen.
-Etwas Erhabenes, Befreiendes lag in den schlicht schönen Strophen&#160;—</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder?</div>
- <div class="verse indent0">Goldne Träume, kommt ihr wieder?</div>
- <div class="verse indent0">Weg, du Traum! so gold du bist;</div>
- <div class="verse indent0">Hier auch Lieb und Leben ist.“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Sie sang nicht weiter. In einem stillen Wohlgefühl saß sie noch eine
-Weile, die Hände auf den Tasten, ging dann wieder ans Fenster, öffnete
-die Flügel weit, atmete die würzige Luft. Und die Schlußstrophe klang
-leise in ihr nach: „Weg, o Traum! so gold du bist — Hier auch Lieb und
-Leben ist.“</p>
-
-<p>Vom Felde kamen die Erntewagen. Ein paar Schnitter gingen nebenher,
-eine Frau, in der einen Hand ein Kind, in der anderen eine kleine Garbe
-aufgelesener Halme. Und blau stand der Himmel darüber.</p>
-
-<p>Nachher erschrak sie ein wenig, als Holfen sie begrüßte: „Ich habe
-schon häufiger in der Kirche Ihre schöne Stimme bewundert. Aber ich
-hörte Sie noch nie im Hause singen. Darf ich Ihnen danken?“</p>
-
-<p>Beinahe feindselig sah sie ihn zuerst an. Was sie gesungen hatte, wie
-sie es gesungen hatte, war so ganz ihr Eigenes gewesen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span></p>
-
-<p>Fast schien es, als ob er Ähnliches in ihrem Gesicht lese. Er wurde
-ein wenig verlegen, faßte sich dann aber: „Etwas Merkwürdiges ist’s um
-Goethes Lyrik. Sie ist selber Musik. Aber wie herrlich hat sich gerade
-Schubert den Empfindungen Goethes angepaßt, so daß beides, Ton und
-Wort, nun doch ein Ganzes scheinen. Und nun muß ich doch eins sagen:
-ich habe das Lied zum letzten Male von Amalie Weiß gehört. Sie werden
-wissen, die Wiener Sängerin, die kürzlich den großen Geigenvirtuosen
-Joachim geheiratet hat. Aber wenn ich ehrlich sein soll: vielleicht war
-Frau Weiß die größere Künstlerin — mehr Seele lag in Ihrem Gesang.“</p>
-
-<p>Es war so selten, daß Helene Hackentin über ihre Kunst sprechen hörte.
-Und wenn sie auch die übertriebene Bewunderung ablehnte, sie freute
-sich doch ein wenig.</p>
-
-<p>Einmal — nicht viel später — meinte Martha neckend: „Hör’, Lene, du
-machst mir aber jetzt meinen getreuen Courmacher abspenstig.“</p>
-
-<p>Da blickte sie ganz erstaunt auf, fand sich nicht gleich in den
-scherzenden Ton und antwortete beinahe ernst: „Holfen? Wir sprechen ja
-fast nie miteinander.“</p>
-
-<p>Sie waren beim Wäscheaufhängen auf der Wiese hinter dem Hause, und
-Martha kämpfte einen kleinen Kampf mit dem Wind, der ihr ein großes
-Tischtuch fortreißen wollte. Sie hatte gerade eine Holzklammer zwischen
-den Lippen und konnte nicht eher weitersprechen, als bis die auf
-Leinwand und Leine untergebracht war.</p>
-
-<p>„So — ihr sprecht fast nie miteinander? Als ob das nötig wäre. Ich bin
-jedenfalls brennend eifersüchtig.“</p>
-
-<p>„Du Ärmste! Das tut mir aber furchtbar leid.“</p>
-
-<p>„Spotte du nur! Nein, dieser infame Wind! Bitte, hilf mal halten, Lene.
-Ja ... was ich sagen wollte: warum mag Holfen noch nicht geheiratet
-haben?“</p>
-
-<p>Helene hatte soeben ihren kleinen Korb wieder mit Klammern gefüllt, und
-hielt ihn im linken Arm, während sie mit der rechten Hand Klammer neben
-Klammer auf die Leine steckte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p>
-
-<p>„Wir hätten uns auch nicht gerade diesen windigen Nachmittag
-auszusuchen brauchen. Ja so ... dein Holfen. Ich denke, er hat die
-Rechte noch nicht gefunden. Oder vielleicht hat er sie auch schon
-gefunden, und sie zieht nächstens in Grunow ein.“</p>
-
-<p>„Wenn <em class="gesperrt">du</em> das nun sein solltest&#160;—“</p>
-
-<p>Plötzlich lag der ganze Korbinhalt auf dem Rasen. Ganz erschrocken war
-Helene, aber dann lachte sie doch. „Was redest du heute für Unsinn,
-Martha. Das ist wirklich ein schlechter Scherz ... Nun hilf wenigstens
-auflesen.“</p>
-
-<p>Sie knieten beide nieder, um die Klammern aufzusuchen. Und da sagte
-Martha leise und ernst: „Wenn es nun aber kein Scherz wäre?“</p>
-
-<p>„Ach geh! Holfen denkt ja gar nicht daran.“</p>
-
-<p>„Wer weiß?“</p>
-
-<p>Nun wurde Helene auch ernst: „Aber das wäre ja schrecklich.“</p>
-
-<p>„Warum, Lene? Er ist wirklich ein Ehrenmann und würde seine Frau auf
-Händen tragen. Außerdem: Ihr paßt zusammen, finde ich. Ist er dir denn
-unsympathisch?“</p>
-
-<p>Die Klammern waren im Körbchen gesammelt. Sie standen auf — aber der
-Korb blieb zwischen ihnen im Grünen stehen.</p>
-
-<p>Einen Augenblick stand Helene stumm. Die schmale Falte erschien, tief
-eingegraben, zwischen ihren Augenbrauen. Dann sagte sie hastig: „Ich
-bitte dich, Martha, wenn du irgend etwas dazu tun kannst, erspare mir
-und ihm das. Er mag ein vortrefflicher Mensch sein, aber ich empfinde
-auch nicht das Geringste für ihn.“</p>
-
-<p>Die Schwägerin hatte den Korb schon aufgenommen und wieder mit ihrer
-Arbeit begonnen: „Du solltest nicht so schnell entscheiden, liebe
-Lene“, sprach sie ein wenig schwer. „Weißt du: ich kenne Ehen, in die
-die Frau mit heißem, hoffnungsfrohem Herzen trat, und die ihr nachher
-Bitternis auf Bitternis brachten. Und ich kenne andere Ehen, für die
-der Verstand der Frau allein das entscheidende Wort sprach, und die
-sehr, sehr glücklich wurden!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span></p>
-
-<p>Helene schüttelte den Kopf.</p>
-
-<p>Was wollte Martha eigentlich? Da war wieder einmal der
-Temperamentsunterschied zwischen ihnen, das Trennende bei aller
-Übereinstimmung ihres Fühlens. Vielleicht auch ein Etwas, dachte
-Helene weiter, das Wilhelms Verhalten wenn nicht entschuldbar, so doch
-erklärlicher, begreiflicher erscheinen ließ: ein Gran Nüchternheit.
-Das bleibt meist auf dem Untergrund. Aber dann und wann tritt es doch
-zutage, so wundervoll sonst alle Wesenseinheiten in der lieben Martha
-gemischt sind. Vielleicht hat Natur das gerade gut gemeint. Vielleicht
-könnte sie sonst nicht tragen, wie sie trägt.</p>
-
-<p>Sie vollendeten schweigend ihre Arbeit. Erst als sie durch den Garten
-wieder dem Hause zugingen, sagte Helene: „Ich hoffe immer noch, du hast
-vorhin gescherzt. Wenn das aber nicht der Fall ist, und du kannst mir’s
-ersparen — ich bitte dich, liebe Martha, tu’s.“</p>
-
-<p>„Wie sollte ich das? Holfen hat kein Wort zu mir gesprochen, es waren
-nur Vermutungen. Aber ich glaube freilich, nicht unberechtigte. Ich
-meinte es gut, Lene, ich wollte dich ein wenig vorbereiten. Und ich
-meine auch jetzt noch: überleg dir’s, handle nicht unbedacht.“</p>
-
-<p>Helene schüttelte wieder nur den Kopf.</p>
-
-<p>Aber in ihrer Seele war durch das Zwiegespräch nun doch die alte, kaum
-vernarbte Wunde angerührt worden, daß sie neu schmerzte. Wieder kamen
-die Erinnerungen, und es kam der Vergleich: in Leid und Weh hatte ihre
-Liebe sie gerissen, bis dicht an den Abgrund; aber die Seligkeiten,
-die sie ihr gebracht, die waren unvergeßlich, würden ewig unvergeßlich
-bleiben. Es waren doch Augenblicke — gelebt im Paradiese. Und daneben
-stand die Prosa: ein Ehrenmann, hatte Martha gesagt, der seine Frau auf
-Händen tragen wird. Und wenn der andere — der andere als ein Schuft
-an dir gehandelt hat: gleichviel — in uns strömte doch die große, die
-göttliche Leidenschaft. Und wenn der Ehrenmann dir wirklich die Hände
-unter die Füße breiten würde, dein ganzes Leben hindurch: dies<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> Leben
-würde dir zur Hölle werden, wenn du die Liebe nicht hättest.</p>
-
-<p>Nein! Nein! Und tausendmal Nein!</p>
-
-<p>Sie wurde noch vorsichtiger Herrn von Holfen gegenüber, wich ihm aus,
-wo sie nur konnte.</p>
-
-<p>Aber sie fand, daß er sich stets gleichblieb. Er war immer gleich
-respektvoll, sehr artig — nicht mehr. Martha mußte sich doch wohl
-getäuscht haben; vielleicht, dachte Helene bisweilen, neigt sie auch
-ein wenig dazu, Ehen stiften zu wollen.</p>
-
-<p>So schlummerte allmählich ihr Mißtrauen ein.</p>
-
-<p>Darüber war der Sommer vergangen, der Herbst war gekommen.</p>
-
-<p>Und in dieser Zeit, wo der Landwirt etwas mehr Muße hat, lud Holfen
-die Rohlbecker ein, sich einmal anzuschauen, wie er sich in Grunow
-eingerichtet hatte. Zum ersten Male. Bisher hatte er immer lachend
-gebeten, ihn zu entschuldigen: es wäre bei ihm noch die reine Wüstenei.</p>
-
-<p>Es war eine kleine Gesellschaft; die Rackowschen, auch Grucker,
-dessen ältester Sohn bei den Pasewalker Kürassieren stand, Artenau,
-der Stickereimajor und Bowlenkünstler, mit seiner semmelblonden Frau
-und der semmelblonden Tochter. Man kam augenscheinlich, sich über die
-Junggesellenhäuslichkeit des Neulings im Kreise ein wenig zu amüsieren,
-und war überrascht, wie hübsch sich Holfen „etabliert“ hatte, um mit
-Tante Marie zu reden, die das alte Verwalterhaus kaum wiedererkannte
-und staunend, mit dem langstieligen Lorgnon vor den Augen, von einem
-Zimmer zum andern ging.</p>
-
-<p>„Aber wirklich, mein lieber Herr von Holfen, Sie haben Wunder
-geschaffen. Ganz deliziös. Fehlt nur noch, daß Sie eine liebenswürdige
-Hausfrau in das fertige Nestchen setzen.“</p>
-
-<p>Nur der Garten hatte noch nicht ganz ihren Beifall. Als man draußen
-unter der großen Linde beim Kaffee saß, zeichnete sie mit der Spitze
-ihres Sonnenschirms in<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> den Kies einen ganzen Plan, nach dem der Garten
-freilich fast zu einem Park wurde.</p>
-
-<p>„Meine Hochachtung!“ rief Graf Grucker. „Marie, du bist und bleibst
-sublim! Verwandle doch gleich das ganze Vorwerkchen in einen Jardin!
-Die geborene Depensière bist du!“</p>
-
-<p>Tante Marie zog die Achseln hoch: „Was du nicht weißt, mein Lieber!
-Aber dein Französisch ist mäßig. Falls du mich wirklich als
-Verschwenderin bezeichnen wolltest, hättest du besser Dissipatrice
-gesagt. Depensière hat so eine dumme Nebenbedeutung.“</p>
-
-<p>„Meine Hochachtung! Welche denn?“</p>
-
-<p>Während sie das zum Gaudium des kleinen Kreises auseinandersetzte, daß
-nämlich die Speisemeisterin in den französischen Klöstern Depensière
-genannt würde, sah ihr Mann sie etwas kummervoll unter seinem Einglas
-um die Ecke an. Er dachte wahrscheinlich daran, welche Wege sein
-hübsches Vorwerk gewandelt war. Überhaupt, er war still und in sich
-gekehrt, Ernst Hackentin. Sogar dem harmlosen Artenau fiel das auf,
-so daß er den Vetter einmal leise anstieß: „Was hast du denn nur,
-Dickerchen?“ Er bekam nur eine knurrige Antwort: „Ach, laß mich.
-Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“</p>
-
-<p>Holfen war der liebenswürdigste Wirt. Aber er war wie von einer leisen,
-ihm sonst ganz fremden Unruhe erfüllt. Vielleicht gerade, weil er zum
-erstenmal Gäste bei sich sah und ihm die Hausfrau fehlte. Martha machte
-zwar auf seine Bitte die Honneurs, aber auch sie wußte ja nicht recht
-Bescheid. So hastete er ein wenig zu viel umher.</p>
-
-<p>Nach Tisch setzten sich die Herren zu ihrem unvermeidlichen Whist.
-Die Damen blieben im Vorderzimmer. Die alte Gnädige saß, ein
-wenig träumend, auf dem Sofa. Tante Marie führte fast allein die
-Unterhaltung. Sie amüsierte sich. Die beiden Semmelblonden aus
-Stellberg machten immer so furchtbar dumme Gesichter, wenn sie
-irgendeine ihrer kleinen Pikanterien erzählte; wie auf Kommando
-sperrten Mutter und Tochter die Mäulchen auf<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> und klappten sie wieder
-zu. Es war ja aber auch toll. Da sollte eine Duchesse sich ein Kleid
-von kristallisierter Gaze haben machen lassen, vier Röcke übereinander,
-das oberste mit acht Volants, und zu dem Ganzen hatte Laferriere, der
-große Modeschneider, nicht weniger als elfhundert Ellen Zeug gebraucht.
-Aber alle Pariser Damen waren freilich nicht so verschwenderisch mit
-dem Stoff. Es gab sogar sehr sparsame. Die Gräfin Castiglione —
-„Ihr wißt ja, man sagt, daß sie die Nebenbuhlerin der Kaiserin ist“
-— die Gräfin Castiglione ist im vorigen Jahr auf einem Ball des
-Marineministers als Salambo erschienen — „Ihr kennt doch jedenfalls
-den Roman von Flaubert, der von der schönen Karthagerin handelt —“,
-als Salambo also und war in einem Kostüm, das nur aus dem wunderbaren
-Schmuck bestand, den der Kaiser ihr heimlich geschenkt hat.</p>
-
-<p>Die Tür zum Hinterzimmer stand halb offen. Dann und dann dröhnte
-Gruckers mächtige Stimme: „Himmel, hast du keine Flinte! Meine
-Hochachtung, Artenau. Karten hat der Mensch — Karten!“ Whist sollte
-Schweigen heißen. Aber davon hielten die Herren nichts.</p>
-
-<p>Helene langweilte sich. Vor solchen Geschichtchen, wie Tante Marie sie
-heut liebte, hatte sie einen Abscheu. Sie stahl sich leise fort. Sah
-auf einen Augenblick ins Herrenzimmer, aber da war ein Zigarrenrauch,
-den man mit dem Messer hätte durchschneiden können. So trat sie auf
-die kleine Veranda, die nach dem Garten hinaus neu angebaut war. Ein
-winziges Ding, gerade vier Personen hätten darauf Platz finden können.
-Aber die Aussicht war entzückend. Der Garten fiel ziemlich steil
-ab. Unten lag der Grunower See, von dunklen Fichten umkränzt. Der
-Mondschein lag darauf, silbrig leuchtete das Wasser.</p>
-
-<p>Sie lehnte an der Brüstung, schaute hinab und dachte: Unsere Mark ist
-doch schön.</p>
-
-<p>Mit einem Male stand Holfen seitwärts hinter ihr. Hier, wo das
-Mondlicht nicht hinkam, im Dachschatten, war<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> es fast ganz dunkel. Sie
-fühlte Holfen mehr als sie ihn sah. Und sie erschrak.</p>
-
-<p>Dann hörte sie seine Stimme: „Ganz allein, gnädiges Fräulein?“</p>
-
-<p>„Ich wollte ein wenig Luft schöpfen.“</p>
-
-<p>„Ist das nicht hübsch, der Ausblick auf den See? Hier ist mein
-Lieblingsplatz. Fast jeden Abend sitz ich hier und träume nach des
-Tages Arbeit ein wenig.“</p>
-
-<p>Er sprach ruhig. Aber Helene fühlte, in der Ruhe lag etwas
-Beherrschtes. Sie wäre gern ausgewichen, in das Zimmer zurückgetreten.
-Aber er stand vor der Eingangstür. Und dann — es war wohl doch nur
-Einbildung&#160;—</p>
-
-<p>„Der Platz ist wirklich sehr hübsch. Ich habe oft bedauert, daß wir in
-Rohlbeck so wenig Wasser haben.“</p>
-
-<p>„Gefällt Ihnen Grunow auch sonst in seiner neuen Gestalt, gnädiges
-Fräulein?“</p>
-
-<p>Er war ein wenig nach vorn getreten, und seine Stimme vibrierte nun
-trotz aller Beherrschung leise. Jetzt fühlte sie deutlich, daß ihre
-erste Befürchtung nicht falsch gewesen war. Und sie dachte nur: wie
-ersparst du’s ihm und dir? Aber es war kaum noch möglich. Denn er
-wartete ihre Antwort gar nicht ab, sprach gleich weiter: „Man hat mir
-heut mehrfach gesagt, ernst der eine, neckend die andere, es wäre fast,
-als ob ich dies Haus hier schon für seine zukünftige Herrin vorbereitet
-hätte. Niemand hat wohl geahnt, daß dem wirklich so ist, daß ich seit
-Monaten täglich, stündlich an diese Herrin gedacht habe.“</p>
-
-<p>Nein — er durfte nicht vollenden! Sie mußte dem lieben Menschen die
-Beschämung ersparen.</p>
-
-<p>So fiel sie schnell ein: „Das freut mich, Herr von Holfen. Wir alle
-werden uns sehr freuen, wenn Sie heiraten.“ Aber indem sie sprach,
-erschrak sie vor ihren eigenen Worten. Wenn er die nun falsch auffaßte?
-Wie man nur so ungeschickt sein konnte! Hastig fuhr sie fort: „Sehen
-Sie, jetzt geht der Mond hinter dem Walde unter. Der See liegt im
-Dunkeln. Es wird plötzlich recht kühl. Ich will doch lieber&#160;—“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p>
-
-<p>Da stand er schon dicht neben ihr, beugte sich ganz vor und bat:
-„Würden Sie hier als Herrin einziehen mögen — als meine Herrin?
-Fräulein Helene ... ich habe Sie so sehr lieb. Fast vom ersten Sehen an
-wußt’ ich es&#160;—“</p>
-
-<p>Seine Hand fühlte sie neben der ihren tastend auf dem Geländer. Fühlte,
-wie sein Auge durch die Dunkelheit sie suchte.</p>
-
-<p>Sie wich seitwärts aus. Ganz schmal machte sie sich, drückte sich gegen
-die Wand.</p>
-
-<p>„Fräulein Helene&#160;...“</p>
-
-<p>Tief schöpfte sie Atem.</p>
-
-<p>„Herr von Holfen ... bitte ... sprechen Sie nicht weiter ...“ Mühsam,
-stockend nur brachte sie es heraus. „Ich darf Sie nicht hören&#160;...“</p>
-
-<p>Sie wagte nicht aufzusehen. Dachte nur, jetzt wird er gehen. Und so
-leid tat er ihr, so unsagbar leid.</p>
-
-<p>Aber er ging nicht. Einen Augenblick schwieg er. Dann hörte sie wieder
-seine Stimme, bittend, beschwörend: „Weisen Sie mich nicht so ab. Sie
-kennen mich ja kaum. Vielleicht war das mein Fehler. Ich verstehe
-mich wenig auf das Werben um ein Mädchenherz. Aber Liebe soll ja doch
-Gegenliebe wecken. Ich will geduldig sein, will warten, ausharren. Ich
-hab Sie ja so lieb, Fräulein Helene —“ Und dann, als keine Antwort
-kam, fragte er heiß: „Ist Ihr Herz nicht frei?“</p>
-
-<p>Es war für sie wie ein Schlag. Denn mit einem Male wußte sie: nein,
-dein Herz ist nicht frei. Du hast es dir selber nur vorgetäuscht.
-Du hast vielleicht überwunden, aber nicht vergessen. Mit einem Male
-standen die Erinnerungen wieder vor ihr, die seligen Erinnerungen,
-und die qualvoll durchwachten Nächte, die lodernden Sehnsuchten,
-die sie in die Kissen hineingeweint hatte, Glück und Leid, all das
-Himmelhochjauchzende, all das zu Tode Betrübte.</p>
-
-<p>Nein, ihr Herz war noch nicht frei. Überwunden mochte es haben,
-vergessen konnte es nicht.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span></p>
-
-<p>Sie kämpfte mit Tränen. Und mit tränenerstickter Stimme bat sie: „Bitte
-... lassen Sie mich&#160;...“</p>
-
-<p>Da trat er zurück. Es war ja auch eine Antwort.</p>
-
-<p>Ganz schmal machte sie sich, glitt am Geländer entlang, zur Tür dann,
-trat in den Salon. Wie das helle Kerzenlicht den Augen weh tat nach der
-Dunkelheit draußen&#160;—</p>
-
-<p>Tante Marie war noch immer in Paris. Sie erzählte gerade von einer
-Soiree bei der Fürstin Pauline Metternich, der österreichischen
-Botschafterin, und daß da Hortense Schneider — „Ihr wißt, die die
-‚Schöne Helena‘ kreiert hat“ — anwesend gewesen wäre, und Madame
-Térésa von Alcazar d’Eté hätte ihre famosen Gassenhauer gesungen:
-„<span class="antiqua">Rien n’est sacré pour un sapeur!</span>“ Die beiden semmelblonden
-Artenaus sperrten die Mäulchen auf. Mutter nickte ein wenig in ihrer
-Sofaecke und sagte nur einmal aus ihrem Halbtraum heraus: „Ja ... die
-Pauline Metternich, das ist eine geborene Sandor ... eine Ungarin.“
-Dann polterte Onkel Grucker herein: „Meine Hochachtung! Der Rittmeister
-hat uns heut aber ordentlich belehrt. ’n Daler acht Groschen! I ... und
-da ist ja unser Leneken ... Mädel ... ’n Schmatz! Aber ’n ordentlichen,
-nich so’n vulgären Onkel-Nichten-Kuß, bei dem man nicht weiß, wie und
-warum!“</p>
-
-<p>Und dann fuhr man hinaus in die dunkle Nacht.</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p>In den nächsten Wochen ließ sich Holfen nicht in Rohlbeck sehen. Die
-Rackower erzählten, er wäre in Berlin. „Das heißt,“ meinte Vater, „der
-Mann kann sich schon mal ’ne Erholung leisten. Was der den Sommer über
-auf seiner Klitsche geleistet hat, geht auf keine Kuhhaut.“ Martha sah
-bisweilen, wenn von ihm die Rede war, ein wenig vorwurfsvoll zu Helene
-hinüber. Aber sie fragte nicht.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span></p>
-
-<p>Erst als der Schnee schon lag, sah Helene Holfen wieder. Er kam nun
-wieder nach Rohlbeck, nicht so häufig vielleicht wie früher, aber
-scheinbar ganz der alte. Immer liebenswürdig, bei allen beliebt; hatte
-seine kleinen wirtschaftlichen Anfragen bei Martha, nahm, wenn er
-einmal zum Abend blieb, den Jungens eine Partie Mühle nach der andern
-ab. Helene und er begegneten sich, als wäre nichts zwischen ihnen
-vorgefallen. Und sie war ihm dankbar, daß er ihr das ermöglichte.</p>
-
-<p>Sie hatte an jener Abendstunde auf der kleinen Veranda doch schwer
-gelitten. Nicht nur um Holfens willen, so leid er ihr tat. Sie mußte
-von neuem einsargen, was damals lebendig geworden, auferstanden war.</p>
-
-<p>Wieder waren ihr Arbeit und Kunst getreue Helferinnen. Zumal ihre
-Kunst. Harro mußte ihr Noten über Noten senden: Mendelssohn, Schumann,
-Schubert. Ein paar Opernpartien studierte sie: aus dem „Waffenschmied“,
-aus dem „Feldlager in Schlesien“. Dann wagte sie sich, zögernd, an
-die Elsa. Aber da dachte sie sehnsüchtig an ihre Lehrerin zurück,
-fühlte das Fehlen der verständnisvollen Anleitung, des ermunternden
-Zuspruchs. Richard Wagner stand noch vor ihr wie ein Koloß. Etwas
-Erbarmungsloses, fand sie bisweilen, lag in seinen Ansprüchen. Einmal
-war sie in ihren Nöten zum alten Flehr geflüchtet. Doch der schüttelte
-nur das graue Haupt, ließ die Hand verlegen um die ewigen Stoppeln auf
-seinem Kinn gleiten und sagte schmerzlich: „Da kann ich nicht mit,
-gnädiges Fräulein.“ Beugte sich, immer die lange Pfeife im Munde,
-mit seinen kurzsichtigen Augen tief auf die Noten, versuchte auf
-seinem Klimperkasten ein paar Sätze — ging dann plötzlich zu seinem
-geliebten Mozart über, schlug die blauen Augen auf, daß sie ordentlich
-leuchteten: „Das ist doch noch Musik!“</p>
-
-<p>... man mußte sich schon selber helfen&#160;...</p>
-
-<p>Jetzt schickte Harro keine Noten mehr.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span></p>
-
-<p>Aber dafür seine frohen, übermütigen Briefe von „da oben“ her. Und
-Vater beorderte dann und wann Helene ans Klavier, daß sie ihm das
-Chemnitzsche Lied sänge:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Schleswig-Holstein, meerumschlungen,</div>
- <div class="verse indent0">Deutscher Sitte hohe Wacht,</div>
- <div class="verse indent0">Wahre treu, was schwer errungen,</div>
- <div class="verse indent0">Bis ein schön’rer Morgen tagt!</div>
- <div class="verse indent0">Schleswig-Holstein, stammverwandt,</div>
- <div class="verse indent0">Wanke nicht, mein Vaterland!“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Manchmal mußte Helene auch aus Harros Briefen vorlesen. Die Garde stand
-jetzt schon oben auf jütischem Boden, bei Kolding. Ein wenig neidisch
-schrieb der tatendurstige Junker von den Kameraden, denen vor den
-Düppeler Schanzen größere Lorbeeren winkten. Aber kleinere Gefechte
-gab’s bei ihnen auch, und lustige Geschichtchen wußte er immer zu
-erzählen. Gestern hatte „Einer von meinem Regiment“ einen flüchtenden
-Dänen angeschossen, ihn dann eingeholt, triumphierend zurückgebracht:
-„Das ist <em class="gesperrt">mein Däne</em>!“ und ihn durchaus selber gesund pflegen
-wollen. Vater schmunzelte oder lachte auch hell auf. Als Harro
-beschrieb, wie wunderschön drollig jetzt die Posten aussähen: im großen
-weißen neugelieferten Schafpelz mit dem Helm dazu auf dem Kopfe, meinte
-er: „So sahen unsere Kerle im Winter Anno achtzehnhundertundzwölf auch
-aus, oben in Kurland, beim alten Yorck. Das heißt, geliefert waren uns
-die Pelze nicht. Die hatten wir — gestohlen. Aber Helme hatten wir
-noch nicht, und unsere alten Hüte waren immer so steifgefroren, daß man
-Suppe draus hätte löffeln können.“</p>
-
-<p>Dann, Ende März, kam ein förmlicher Jubelruf: „Hurra, nun kommen wir
-doch noch vor Düppel. Unsere neuformierten Garde-Regimenter sollen
-beweisen, daß sie hinter den alten nicht zurückstehen. Wir wollen’s den
-Dannemanns schon zeigen! Und wenn der „Rolf Krake“ angeschwommen kommt,
-dann stecken wir den mitsamt seinen dicken Panzerplatten in die Tasche.
-Halt mir den<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> Daumen, liebe, liebe Lene! Wenn alles gut geht und ich
-kann mich ein bissel auszeichnen, bin ich vielleicht in vier Wochen
-Offizier.“</p>
-
-<p>Helene mußte lächeln. Hinter Harros Zeilen stand immer noch etwas
-Besonderes, etwas Heimliches, nur für sie Bestimmtes. Er schrieb nie
-von seiner anbetenden Liebe. Manchmal hatte sie geglaubt, daß er die
-mit der Schulmappe und der Jungensmütze abgestreift, daß sie sich ihm
-und ihr wirklich in gute Kameradschaft gewandelt hätte. Aber dann kamen
-wieder Wendungen, die sie anders deuten mußte. „Wir haben gestern
-nacht die dritte Parallele ausgehoben. Ganz dicht vor den Schanzen.
-Sternenklar war die Nacht. Da hab ich hinaufgeschaut zu den blitzenden
-Sternen, und ich hab immerfort an Dich denken müssen.“</p>
-
-<p>Vater war sehr unruhig in diesen Tagen. Nie konnte er die Posttasche
-erwarten. Und wenn er aus der „Kreuzzeitung“ das Neueste vom
-Kriegsschauplatz vorlas, dann kramte er aus dem kleinen Schatz
-seiner kriegsgeschichtlichen Erinnerungen allerlei Ergänzungen,
-Erläuterungen hervor. Der Sturm auf die Düppeler Schanzen stand ja
-bevor. „Wird viel Blut kosten, das heißt, die Artillerie hat natürlich
-mächtig vorgearbeitet. Aber so ein sturmfreies Werk, mit Graben und
-Bastionen — keine Kleinigkeit das!“ Ganz aus dem Häuschen waren die
-Jungens. Papier und Bleistift schleppten sie heran, Großvater mußte
-ihnen aufzeichnen, wie das eigentlich war: ein sturmfreies Werk und
-Parallelen und Laufgräben. Eine ganz wunderliche Zeichnung kam dabei
-heraus. Am Sonntag betete Heckstein von der Kanzel für unsere Tapferen
-in Schleswig-Holstein.</p>
-
-<p>Und Helene betete herzinnig mit. Nicht daß sie sich um Harro sorgte.
-Wie hätte dem frischen lieben Harro etwas geschehen sollen? Das schien
-ihr ganz ausgeschlossen, sie dachte gar nicht daran. Aber die Hände
-schloß sie doch und bat um Sieg und flocht auch Harro dabei im stillen
-einen Lorbeerkranz.</p>
-
-<p>Am 18., in der Dämmerstunde, ritt eine Estafette in Rohlbeck ein, ein
-Stellberger Postillion. Artenau hatte einmal<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> eine vernünftige Idee
-gehabt und an den ungeduldigen alten Rittmeister gedacht, sich’s zwei
-blanke Taler kosten lassen.</p>
-
-<p>Mit zitternden Händen riß Vater die Depesche auf. Sie umdrängten
-ihn alle auf der Veranda, sogar Mutter war herausgekommen, als der
-Postillion am Tor ins Horn gestoßen hatte.</p>
-
-<p>„Düppel heut vormittag glorreich erstürmt. Schwere Verluste. General
-Raven tödlich verwundet.“</p>
-
-<p>Der alte Rittmeister hatte sein Käppchen abgenommen.</p>
-
-<p>Sie sahen alle zu ihm empor. Er las noch einmal. Und dann setzte er
-hinzu, mit bebender Stimme: „Unsere brave Armee! Endlich wieder einmal
-ein preußischer General für König und Vaterland geblutet. Der erste
-nach fünfzig Jahren. Jungens, nun lauft! Zum Kantor. Läuten soll er —
-läuten!“</p>
-
-<p>Eine Stunde später war die Posttasche da. Die „Kreuzzeitung“ wußte
-noch nichts. Und auch die vom nächsten Tage brachte nur die erste
-Siegesdepesche und einen einzigen Zusatz: siebzig Offiziere tot und
-verwundet, gegen tausend Mann. Aber ein kurzer Brief Wilhelms an Martha
-war dabei: „Ich komme morgen. Lauter gute Nachrichten. Berlin schwimmt
-in Begeisterung und Jubel.“</p>
-
-<p>Mit Extrapost kam er, ein paar Stunden früher, als erwartet. Die
-Jungens hatten oben von ihrem Fenster aus mit ihren Luchsaugen die
-Postchaise schon erspäht, als sie noch bei der Dampfmühle war, und
-hatten das ganze Haus alarmiert. Wieder standen alle auf der Veranda.</p>
-
-<p>Als er aus dem Wagen sprang, rief er: „Martha, Vater — ich hab die
-Konzession. Die Eisenbahn ist durch!“</p>
-
-<p>Er stürmte die Stufen hinauf, umhalste einen nach dem andern, sagte,
-rief immer wieder: „Ich hab die Konzession. Es ist alles in Ordnung.
-Vater, ich hab vierzigtausend Taler dabei verdient. So freut euch doch!
-Freut euch doch!“</p>
-
-<p>Sie freuten sich ja auch alle. Aber die große Spannung war in so
-ganz anderer Weise gelöst, als sie es erwartet<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> hatten. Er mußte es
-endlich merken. Er lachte: „Ja, so — natürlich, ihr habt alle Düppel
-im Kopf! Ihr wißt wohl gar nichts Näheres? Großartig! Berlin hättet
-ihr vorgestern abend sehen sollen. Wie toll zogen die Massen durch die
-Straßen. Alle Häuser waren illuminiert. Da haben die Berliner nun auf
-die Soldateska geschimpft und geschimpft, und jetzt sind sie auf einmal
-Feuer und Flamme. Der König bekam die Depesche von der Erstürmung der
-ersten sechs Schanzen auf dem Tempelhofer Felde, als er gerade die
-Franzer besichtigte. Er fuhr gleich nach dem Palais. Da standen schon
-Hunderte und Tausende und sangen das Preußenlied. Er soll Tränen in den
-Augen gehabt haben.“</p>
-
-<p>Wilhelm hatte sehr schnell gesprochen. Nun holte er Atem und fuhr
-langsam fort: „Freilich — schwere Verluste. Daß General von Raven
-schwer verwundet ist, wißt ihr wohl schon. Ja, und unsere arme Tante
-Oschitz ... Harro ist vor Schanze VI gefallen&#160;—“</p>
-
-<p>Da schrie Helene auf.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Neuntes_Kapitel">Neuntes Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>Die alten Herrschaften saßen allein auf Rohlbeck.</p>
-
-<p>Wilhelm hatte gleich erklärt: jetzt müßte es ein Ende haben mit der
-ewigen Trennung. Er sehne sich, Weib und Kind bei sich zu haben. Die
-Jungens sollten auch aufs Gymnasium. Das letztere war vielleicht für
-Martha das Ausschlaggebende. Denn sie schied schmerzenden Herzens von
-der Scholle, die ihr so lieb geworden war, als hätte ihre eigene Wiege
-darauf gestanden. Und sie fürchtete sich vor Berlin.</p>
-
-<p>Helene war mit Wilhelms im Herbst übergesiedelt. Zuerst nur, um bei
-dem Umzug und bei der Neueinrichtung zu helfen. Dann blieb sie, auf
-Vaters ausdrücklichen Wunsch. Sie war so still und ohne rechte Frische
-gewesen in all der letzten Zeit; seit der Nachricht von Harros Tode,
-hätte man beinahe sagen können. Ein wunderliches Mädel, fand der alte
-Rittmeister. Ja, ja doch, es war ja sehr<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> traurig. Aber, du mein Gott,
-der Junge hatte doch einen so herrlichen Tod gehabt, für König und
-Vaterland. Und ohne Schmerzen, gleich dahin. Daß Lene das so naheging!
-Das heißt, sie hatte wirklich immer an dem Harro gehangen, fast wie
-eine Schwester. Aber nun das schmale, blasse Gesichtchen. Nun, sie
-mußte mal ordentlich heraus. Sollte auch wieder Unterricht nehmen, daß
-sie auf andere Gedanken käme. Nicht einen Ton hatte sie gesungen seit
-dem letzten Male in der Kirche, wo Heckstein der toten Sieger gedachte.</p>
-
-<p>Sie wollte nicht nach Berlin. Wollte nicht — wollte auch die alten
-Eltern nicht allein lassen. Da sprach der Rittmeister ein Machtwort.
-„Und überhaupt, das heißt, so alt sind wir denn doch noch nicht! Das
-bißchen Wirtschaften hier! Für immer und ewig brauchst du ja nicht
-fortzubleiben, und wenn erst die Eisenbahn fertig ist, dann ist das ja
-nur ein Katzensprung.“</p>
-
-<p>Wilhelm hatte vor dem Halleschen Tor gemietet. In einem ganz neuen
-Hause, das die spottsüchtigen Berliner „Neu-Amerika“ getauft hatten,
-weil es so weit draußen lag und weil es so sehr groß war. Ein
-Riesenkasten, aber schön gelegen. Von der Vorderfront sah man über die
-Kanalbrücke auf den Belleallianceplatz mit der Rauchschen Viktoria;
-die andere Front der Wohnung ging nach der breiten Bellealliancestraße
-hinaus, und jenseits lag das große Rothersche Stift inmitten eines
-gewaltigen Gartens. So hatte man doch den Blick auf grüne Bäume. Und
-die Jungens jubelten: fast an jedem Morgen wurden sie durch lustige
-Militärmusik mit Piefkes Düppelmarsch geweckt, und wenn sie dann ans
-Fenster stürzten, dann sahen sie unten die langen, bunten Kolonnen, die
-durch die Bellealliancestraße dem Kreuzberg zuzogen.</p>
-
-<p>Martha lebte sich anfangs sehr schwer ein. Die Wohnung war gewiß für
-Berliner Verhältnisse recht geräumig, aber sie empfand überall ihre
-Enge gegenüber dem Rohlbecker Hause; litt überhaupt unter der Enge der
-großen Stadt nach den langen Jahren des Landlebens,<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> fand sich auch
-nicht leicht in die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse, hatte
-für ihre emsigen Hände zu wenig zu tun. Aber sie war doch glücklich,
-mit ihrem Manne vereint zu sein. Und allmählich gewöhnte sie sich
-mehr und mehr, hatte ihr kleines Vergnügen an einem Bummel durch die
-Leipziger Straße, suchte überall nach den billigsten Quellen und kam
-jedesmal stolz vom Wochenmarkt auf dem Belleallianceplatz zurück;
-besonders stolz, wenn sie in einem kleinen Preisdisput mit einem der
-groben Marktweiber glorreich obgesiegt hatte. Allmählich gewann sie
-Berlin fast lieb.</p>
-
-<p>Auf Helene wirkte dies Berlin ganz anders als vor zwei Jahren. Sie
-war gleichgültig geworden gegen die große Stadt. Es interessierte sie
-nichts mehr, es reizte sie nichts mehr: nichts zum Staunen, nichts zur
-Bewunderung, nichts zum Widerspruch. Und auch die Erinnerungen glitten
-nun, wenn sie kamen, an ihr ab wie etwas Fremdgewordenes. Mit Ausnahme
-der einen, um die der Tod frischen Lorbeer gewunden hatte.</p>
-
-<p>Ihr erster Gang hatte der einsamen Insel gegolten. Sie fand die Tante
-merkwürdig gefaßt. Ganz schmal und durchsichtig zart war das kleine
-Gesicht unter der Trauerhaube, aber aufrecht und ruhig: „Der Herr hatte
-ihn mir gegeben, der Herr hat ihn mir genommen,“ sagte sie fast wie
-Hiob, „der Name des Herrn sei gelobt.“ Es lag etwas Tiefergreifendes in
-ihrer Ergebenheit. In Helene lebte der Schmerz anders; sie hätte ihn
-klagend gen Himmel schreien mögen.</p>
-
-<p>In sein kleines Stübchen führte Tante Marianne sie. Da stand und lag
-noch alles, wie er es verlassen. An dem letzten Tage vor dem Ausmarsch
-war er noch darin gewesen.</p>
-
-<p>Tante Marianne setzte sich vor seinen Schreibtisch, ließ die Bücher,
-die auf dem Tisch lagen, langsam durch ihre Hände gleiten, rückte an
-dem Tintenfaß. Helene hatte sich ein Korbsesselchen herangezogen,
-stützte den Kopf in beide Hände und weinte. Sprechen konnte sie nicht.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p>
-
-<p>Auch die Tante saß lange schweigend, nun mit gefalteten Händen auf der
-Schreibmappe.</p>
-
-<p>Dann sagte sie ganz langsam: „Er hat dich sehr lieb gehabt, Helene.
-Mehr vielleicht, als er sollte. Ich hab das auch erst gemerkt, als du
-fort warst.“</p>
-
-<p>‚Mehr vielleicht, als er sollte.‘ Helene hörte eigentlich nur das.
-Konnte man denn einen Menschen mehr liebhaben, als man sollte?</p>
-
-<p>Aber sie durfte ja nicht mit der Mutter rechten. Und Tante Marianne
-würde auch nimmer verstanden haben, wenn sie ihr von dieser reinen
-und heißen Jünglingsliebe gesprochen hätte und von dem, was ihr Harro
-gewesen und geworden war in der Zeit ihrer Not. Vielleicht meinte Tante
-Marianne auch nur ‚Er hat dich sehr liebgehabt — mehr als mich.‘</p>
-
-<p>Nur eins mußte sie sagen. Und es mochte wohl wie ein Auftrotzen
-klingen: „Ich hab ihn auch sehr liebgehabt.“ Wie ein Auftrotzen, und
-war doch großer Schmerz.</p>
-
-<p>Tante Marianne sah auf und senkte den Kopf wieder. Vielleicht hatte
-sie auch das nicht recht verstanden, daß man jemand liebhaben kann in
-reinster Freundschaft. Vielleicht lebte auch in ihren Gedanken ihr
-Harro nur noch als Knabe; vielleicht hatte sie nie ganz begriffen, daß
-aus dem Knaben ein Jüngling geworden war, mit all der Lust und all dem
-Leid des Jünglingsherzens.</p>
-
-<p>Sie stiegen wieder herunter und saßen im düsteren Wohnzimmer einander
-gegenüber.</p>
-
-<p>Die Tante fragte nach Rohlbeck, nach den Eltern, nach Wilhelms. Helene
-gab Antwort. Und beider Gedanken waren doch nur bei ihm. Er stand für
-sie drüben an der Tür, er saß für sie in der tiefen Fensternische, er
-ging draußen vorüber unter den blühenden Kastanien.</p>
-
-<p>Plötzlich sagte Tante Marianne, und nun klang doch der ganze Schmerz
-des Mutterherzens durch all ihre Ergebung hindurch: „Warum mußte er
-Soldat werden! Ich wollte es nicht. Fast auf den Knien hab ich ihn
-gebeten&#160;—“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span></p>
-
-<p>Und wieder saß Helene wortlos. Was sollte sie sagen? Auch das würde
-Tante Marianne nicht verstehen: daß der Tod auf dem Schlachtfelde der
-schönste Tod ist und daß mit Harro Hunderte und aber Hunderte, arm und
-reich, hoch und gering, in den Tod gegangen waren — mit Gott, für
-König und Vaterland.</p>
-
-<p>Mit Gott! Den Kopf hätte Tante Marianne geschüttelt: ‚Du sollst nicht
-töten!‘</p>
-
-<p>Und dabei fühlte sie, wie wieder der fragende, vorwurfsvolle Blick auf
-ihr ruhte. Fast als ob er zu ihr spräche: Du bist schuld daran, daß er
-so früh eintrat! Daß er ein Mann sein wollte, wo er noch ein Knabe war!</p>
-
-<p>Es fröstelte sie in dem düsteren Zimmer.</p>
-
-<p>Schwer stand sie auf. Küßte der Tante die Hand. „Ich muß nun wohl
-gehen&#160;—“</p>
-
-<p>Tante Marianne blieb auf dem steiflehnigen Sofa sitzen, sagte nur müde:
-„Grüße Wilhelm und Martha.“</p>
-
-<p>Aber dann plötzlich, als Helene schon an der Tür war, kam die Tante
-hinter ihr drein, umschlang sie mit beiden Armen, drückte sie an sich
-und rief unter Schluchzen: „Er hat dich so liebgehabt. Er hat dich ja
-so liebgehabt!“</p>
-
-<p>Und da weinten sie beide, Wange an Wange. Weinten um den, der in ihren
-Herzen nie sterben würde: um den Knaben, um den Jüngling, um den jungen
-Helden, der mit einem Lächeln in den Tod gegangen war.</p>
-
-<p>Seitdem ging Helene häufig nach der einsamen Insel. Mehr und mehr
-lernte sie Tante Marianne verstehen und schätzen. Auch lieben. Aber
-diese Liebe rankte sich doch fast nur um die Erinnerung an Harro. Bei
-allem Verstehen und aller Verehrung, auch in aller Zuneigung blieb
-etwas Fremdes. Und manchmal dachte Helene: ‚Es ist nicht anders wie
-in deinem Verhältnis zu Martha. Wir haben uns gefunden, und sind doch
-nicht ganz eins geworden.‘</p>
-
-<p>Bisweilen, wenn sie von der einsamen Insel kam, ging sie auch an der
-kleinen Konditorei in der Bendlerstraße<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> vorüber. Einmal stand sogar
-das alte Kuchenfräulein vor der Tür und sah in den lachenden Frühling
-hinaus, knixte und machte große Augen. Da grüßte Helene mit einem
-leichten Kopfneigen und lächelte, indem sie weiterschritt. Wirklich,
-sie konnte lächeln. Wunderte sich selber darüber, wie fern ihr nun
-diese Episode lag, und daß sie ihr aus einem großen Erleben zu einer
-Episode hatte werden können. Aber sie wußte auch: die emsige Arbeit
-und ihre Kunst hatten das erste und vielleicht das Beste an ihr getan,
-und doch nicht alles; es mußte die Zeit helfen, sie das Überwinden
-zu lehren, und es mußte Harros Tod kommen, um das Überwinden zur Tat
-werden zu lassen. Wie denn der eine Schmerz so oft den andern löst.</p>
-
-<p>Monat auf Monat war verstrichen, und der Sommer stand schon vor
-der Tür, da raffte sich Helene endlich auch zu dem Besuch bei Frau
-Harriers-Wippern auf. Immer wieder hatte sie ihn hinausgeschoben. Nun
-drängten Vaters Briefe; es drängte auch das eigene Gewissen. Denn sie
-wußte, Mitte Juni ging die Sängerin meist in die Ferien.</p>
-
-<p>Das Herz klopfte ihr doch, als sie die teppichbelegten Stufen zur
-Wohnung hinaufstieg und die Klingel zog. Sie fühlte sich schuldbewußt
-der gütigen Meisterin, schuldbewußt auch ihrer eigenen Kunst gegenüber.
-Die Worte klangen in ihr auf, die die Lehrerin nach der ersten Prüfung
-gesprochen hatte: von der Heiligkeit der Gabe, die ihr verliehen, und
-wie man sie hegen und pflegen müsse. Sie aber kam ja eigentlich auch
-jetzt nicht, um sich in ganzer Hingebung wieder der Kunst zu widmen.
-Fast gezwungen kam sie, unlustig, wie sie in all diesen Wochen gewesen
-war.</p>
-
-<p>Sie mußte ein wenig warten. Es war alles wie früher. Unter den großen
-Blattgewächsen saß sie im Salon, die wohlbekannten Bilder blickten von
-den Wänden auf sie herab. Aus dem Zimmer nebenan klangen halblaute
-Worte, dann einzelne Töne, eine Halbkadenz, ein paar Anschläge auf dem
-Flügel. Wie sie das alles kannte!<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> Frau Harriers sang mit halblauter
-Stimme. Glockenhell aber. Nun die Schülerin. Hilf Himmel — meine arme
-Lehrerin! Solch eine Stümperei! Wie gequält, wie mühsam — schlecht,
-einfach schlecht. Was sollte das sein? Heiliger Mozart, wie man sich
-so an dir versündigen kann! Wenn das unser alter, guter Kantor hören
-müßte&#160;—</p>
-
-<p>Seit Wochen, seit zwei Monaten hatte Helene nicht gesungen, keine Musik
-gehört. Nun, ganz plötzlich, regte es sich wieder in ihr. Waren es
-Erinnerungen, war’s die Atmosphäre dieses Hauses, waren es die Töne,
-die, gedämpft durch Tür und Vorhang, zu ihr drangen? Das Blut wallte.
-Sie sprang auf, hastete ein paar Male durch das Zimmer, blieb wieder
-stehen, horchte, lauschte.</p>
-
-<p>Dann ging die Tür. Ein schmächtiges junges Ding, elegant, im lichten
-Sommerkleid mit ungeheuerlichen Pagodeärmeln, huschte vorüber. Aber
-gleich hinter ihr trat Frau Harriers-Wippern in den Salon. Blieb an der
-Schwelle stehen, schlug die Hände zusammen: „Fräulein von Hackentin!“
-— kam dann auf Helene zu, faßte sie um den Gürtel: „Sind Sie’s, oder
-ist’s Ihr Geist?“ — lachte ihr altes, helles Lachen: „Nein, ich
-fühl’s, sie ist es selber, die Ungetreue, Ungetreueste! Die einzige
-Ungetreue, der ich je nachtrauerte! Helene Hackentin! Wie ich mich
-freue! Wie ich mich freue!“</p>
-
-<p>Es stand ihr auf dem schönen Gesicht geschrieben, daß sie sich wirklich
-freute. Das war nicht mehr die ernste, gemessene Lehrerin, als die
-Helene sie kannte; fast übermütig war sie: „Da muß man sich nun mit
-solch einer Demoiselle Stern quälen, die keine Stimme hat, kein Talent,
-nicht einmal Gehör, nichts, nichts, als einen reichen Vater, muß sich
-quälen und ärgern und läßt eine Helene Hackentin warten! Warum haben
-Sie’s mich nicht wissen lassen, daß Sie’s sind — hinausgeworfen hätt’
-ich das Modepüppchen aus dem Tempel! Aber nun lassen Sie sich mal
-ordentlich anschauen&#160;—“</p>
-
-<p>Dann wurde sie doch ernst, las wohl in Helenens Zügen das Leid. Sie
-schob die Hand vertraulich unter ihren<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> Arm: „Kommen Sie fort aus
-dieser kalten Pracht. Ich hab hinten, nach den Gärten hinaus, ein
-Privatzimmerchen, in dem wir gemütlicher plaudern können.“</p>
-
-<p>So saßen sie denn in dem kleinen Raum, in den die grünen Baumwipfel
-hineinwinkten und durch dessen weitgeöffnetes Fenster die laue
-Sommerluft wehte. Saßen nebeneinander auf der winzigen Couchette wie
-zwei gute Freundinnen. Doch das Plaudern wollte nicht recht gelingen.
-Luise Harriers mochte nicht fragen, und Helene Hackentin waren die
-Lippen geschlossen. Auch in ihr war herzliche Freude über den Empfang.
-Aber sie konnte doch nicht sprechen über das, was sie erlebt hatte,
-von dem sie zu niemand gesprochen hatte, außer in den Stunden ihrer
-größten Herzensangst zu Martha. Nur Harros Tod berührte sie kurz. Und
-dann war da noch etwas, was ihr die Lippen schloß. Frau Harriers hatte
-gleich anfangs gesagt, leichthin: „Sie waren ja wohl mit Alfred Schwarz
-bekannt? Wissen Sie, daß er sich im Winter mit der Theresa Carena
-verheiratet hat?“</p>
-
-<p>Es schmerzte ja nicht&#160;—</p>
-
-<p>Schmerzte es wirklich nicht? Ein dumpfes Wehgefühl hob es aus, eine
-jähe Leere, als ob das Blut stockte im Kreislauf, auf einen Augenblick
-im Herzen stehen blieb, nicht mehr zum Gehirn emporsteigen wollte. Auf
-einen Augenblick nur. Dann konnte Helene ruhig entgegnen: „Ich wußte
-nichts davon.“</p>
-
-<p>„Er war wieder in Petersburg. Wie ich neulich hörte, soll er jetzt in
-Paris leben. Er ist ja immer einer von den unsteten Kollegen gewesen,
-die nirgendwo festen Fuß fassen können oder wollen.“</p>
-
-<p>Helene saß still, mit geneigtem Kopf. Sie mußte doch nachsinnen: ja,
-ein Unsteter, der nirgend festen Fuß fassen kann. Auch nicht will.
-Therese Carena? Noch nie hatte sie den Namen gehört. Fragen mochte sie
-nicht. Es war ja auch gleichgültig. Nur — nur — ob er wohl glücklich
-war?</p>
-
-<p>Die Unterhaltung versiegte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p>
-
-<p>Bis dann Frau Harriers, frisch zugreifend, fragte: „Aber Sie, Fräulein
-von Hackentin? Ich kann doch nicht länger damit hinter dem Berge
-halten: was macht die Kunst?“</p>
-
-<p>Da raffte sich Helene auf.</p>
-
-<p>Stockend, ein wenig verlegen begann sie. Mit der kleinen Münze der
-Erklärungen, Entschuldigungen, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte.</p>
-
-<p>„War denn alles still in Ihnen? Ich kann’s nicht glauben. Wem ein Gott
-Gaben lieh, wie Ihnen, dem ist Musik ja der Wundertröster in der Not,
-die helle Sonne im Glück.“</p>
-
-<p>„Sie war mir beides, Sonne und Trost. Dann ist eine Zeit gekommen, in
-der nichts mehr in mir klang.“</p>
-
-<p>„Das sind Unglücksstunden, armes Kind, über die der Wille hinwegtragen
-muß. Wer hätte solche Stunden, Tage, Wochen nicht? Ich kenne sie auch.
-Doch dann modle ich mir den Goethevers auf meine Art um. ‚Gebt ihr euch
-einmal für Poeten, so kommandiert die Poesie!‘ Das heißt — ich singe.
-Ich singe mich frei. Aber nun lassen Sie einmal hören, was haben Sie
-getrieben, was haben Sie studiert, ehe diese bösen Stunden kamen.“</p>
-
-<p>Da berichtete denn Helene. Zagend erst, lebhafter dann. Das Wachwerden,
-das vorhin im Salon über sie gekommen war, ganz jäh und unerwartet,
-kam ihr in den Sinn. Sie erzählte von ihrem vergeblichen Gang ins
-Kantorhaus, wie der alte Flehr über die Elsa-Partie den grauen Kopf
-geschüttelt hatte. Frau Harriers fand das entzückend: der Kantor,
-die lange Pfeife im Munde, auf seinem Spinett sich abmühend über die
-Wagnerschen Noten, zu Zerlinens Lied übergehend, die blauen Augen
-verzückt gen Himmel gerichtet: „Das ist doch noch Musik!“</p>
-
-<p>„Den Braven möcht ich kennen lernen. Aber Ihnen möchte ich helfen,
-Fräulein Helene! Doppelt helfen — Sie verstehen mich schon. Ich bleibe
-zum Glück noch ein paar Wochen hier und hab wenig zu tun. Von morgen an
-kommen Sie zu mir. Wir studieren die Elsa. Hier meine Hand — schlagen
-Sie ein!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p>
-
-<p>Vielleicht war es zuerst ein wenig Zwang. Blieb noch eine Weile
-Selbstzucht. Aber dann wachte die Freude wieder auf in dem starken
-Streben, im Ringen und im Gelingen. Denn es war ein Ringen und es war
-ein Gelingen an der neuen großen Aufgabe. Langsam nur, aber stetig
-ging es bergauf. Eins kam zum andern. Zu den Stunden bei Frau Harriers
-kam italienischer Unterricht bei Signora Marchesi, der kleinen,
-quirligen Toskanerin, die für die neue Freiheit ihres Vaterlandes
-schwärmte und die Namen Vittore Emanuele und Cavour in jeden dritten
-Satz einzuflechten suchte; die die Österreicher so wundervoll haßte,
-über den Heiligen Vater so köstlich lächelte, die Priester ihrer Kirche
-ironisierte, aber jeden Morgen zur Messe nach der Hedwigskirche ging.</p>
-
-<p>Tötend langsam waren die ersten Wochen in Berlin hingeflossen, nun
-flogen die Tage.</p>
-
-<p>Ein herrlicher Frühsommer war es, fruchtbar und reich. Vater schrieb
-immer wieder, wie prächtig die Ernteaussichten, „das heißt, mehr Regen
-könnten wir brauchen. Für unseren märkischen Sand ist bis Johanni jeder
-Regenschauer ein Säckchen Dukaten wert.“ Wenn solch ein Brief, meist an
-sie gerichtet, kam, so faßte Martha immer die Sehnsucht nach Rohlbeck,
-nach grüner Wiese, nach duftendem Flieder, nach einem Kirschbaum im
-Blütenschnee. Ganz plötzlich sagte sie dann bei Tisch: „Jungens, wann
-kommt ihr heut aus der Schule zurück? Um halb fünf. Gut — wir müssen
-ins Freie. Du auch, Lene.“ Und sie packte ein Körbchen mit Butterbroten
-und zog mit ihnen hinaus, die Bellealliancestraße hinauf zum Kreuzberg,
-und lagerte sich mit ihrer Schar irgendwo in der kleinen Wildnis um das
-ragende Denkmal; oder es ging noch weiter hinaus auf der Chaussee, quer
-über den riesigen, sonnigen Exerzierplatz bis nach Tempelhof, in den
-schattigen Garten von Kreideweiß. Manchmal, selten, hatte auch Wilhelm
-ein Gelüste nach etwas Familiensimpelei. Dann schlug er aber eine
-etwas höhere Nüance an. Er lud die Seinen — „Jungens, wascht euch die
-Pfoten!“ — zu Kaffee und<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> Stippe bei Mielenz an der Potsdamer Brücke
-ein, wo der elegante Spießer auf schön getürmten Terrassen saß, oder
-führte sie gar am Abend nach dem „Albrechtshof“ oder nach „Moritzhof“
-am Tiergarten. Das war ein besonderer Jubeltag für die Söhne. Denn
-erstens bekam jeder ein richtiges Seidel bayerisches Bier und eine
-Schinkenstulle, und dann konzertierte der alte Generalmusikdirektor
-Wiepprecht dort. Am Schluß stieg der jedesmal auf einen Tisch und
-dirigierte ein grandioses Schlachtenfurioso mit großem Trommel-
-und Paukengetöse. Die Jungens und auch Martha fanden das über alle
-Beschreibung schön. Helene freilich hielt sich lachend die Ohren zu.</p>
-
-<p>Einmal, im Juni, kam Bruder Fritz angereist und logierte bei Wilhelms.
-Der „rote Kreisrichter“ war ein wenig bedrückt. Der Zwist mit dem
-Vater lag ihm auf dem guten Herzen, er fühlte sich auch mehr und mehr
-isoliert in Stellberg, und dann hatte er dienstlich Unannehmlichkeiten.
-Der neue Justizminister Graf Lippe zog schärfere Saiten gegen die
-fortschrittlich gesinnten Beamten auf. Es gab gleich am ersten
-Vormittag eine lange Beratung zwischen den Brüdern, ohne daß viel dabei
-herauskam. Denn Wilhelm sprach als ein Mann der Kompromisse emsig
-zum Guten, fürchtete auch persönlich Unbequemlichkeiten für seine
-geschäftlichen Beziehungen. Fritz aber redete sich schnell wieder in
-seine „Überzeugungstreue“ hinein, wollte lieber gemaßregelt sein, als
-nachgeben. Schließlich brach in beiden die Hackentinsche Art durch, sie
-lagen sich, nach scharfen Worten, versöhnt in den Armen und schwatzten
-davon, wie man sich am besten in Berlin amüsieren könnte.</p>
-
-<p>„Ohne daß es viel kostet —“ meinte der Stellberger, aber Wilhelm
-erklärte: „Ach was! Man sieht sich so selten. Ich lade dich zu Hiller
-ein. Die Weiber kommen auch mit. Und am Abend gehen wir zu Kroll.
-Martha, Lene — macht euch so schön, als es möglich ist. Ehre wollen
-wir mit euch einlegen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span></p>
-
-<p>Er konnte zufrieden sein, und er schmunzelte auch, als der kleine
-Karl Hiller, der frühere Oberkellner von Ewest, der erst vor kurzem
-das eigene Geschäft Unter den Linden eröffnet hatte, ihn zu dem
-reservierten Tisch geführt hatte: Martha und Helene sahen vorzüglich
-aus. Martha in ihrer schlichten Frauenhaftigkeit, die Schwester
-rassig, eigenartig — „Donnerwetter, Mädel, als ob du alles Lackzeug
-frisch gestrichen hättest.“ Rosigster Stimmung war er: er hatte gleich
-gemerkt, wie sich in dem trotz des Sommers überfüllten Lokal, das rasch
-in Mode gekommen war, alle Augen auf die schönen Frauenerscheinungen
-richteten. Auch mit den Toiletten war er zufrieden: etwas übertrieben
-einfach, aber sie kamen mit, die beiden. Wirklich, sie kamen mit, fand
-er. Besonders Helene in ihrem Batistkleidchen mit der rosa Tunika über
-dem Rock. Zum Erstaunen! Das Mädel wußte aus nichts etwas zu machen.
-Und dann ihr wundervolles Haar, vorn in leichten Wellen gescheitelt, im
-Nacken der neumodische Chignon, der die rostbraune Flut kaum bändigen
-konnte.</p>
-
-<p>Rosigster Stimmung war er. An jedem dritten Tisch im Saal hatte er
-Bekannte, grüßte, nickte, winkte, nannte für die Seinen die Namen:
-„Da der Prinz von Schwarzburg! ... Graf Dönhoff ... drüben der große
-Theateragent Röder mit seiner schönen Tochter Mila ... in der Ecke
-sitzt Strousberg ... siehst du ihn, den kleinen Juden ... und da sitzt
-der Oberstleutnant Prinz Hohenlohe, Flügeladjutant des Königs ...
-Du, Martha, da kannst du auch die göttliche Anna Schramm sehen mit
-dem Rittmeister von Brescius ... und am Nebentisch der schmächtige
-Zietenhusar, das ist Graf Haeseler&#160;...“</p>
-
-<p>Er grüßte, winkte, bestellte seine Lieblingsmarke, Ruinart, spöttelte
-mit dem Bruder, der ein wenig steifleinen zwischen Schwester und
-Schwägerin saß, aß wie ein Gourmet, schlürfte den Champagner mit
-Kennermiene: „Aber die nächste Bouteille, mein lieber Hiller, etwas
-kälter.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span></p>
-
-<p>Helene war zuerst ein wenig befangen. Dann taute auch sie auf,
-plauderte drauflos, neckte Martha, die, wie sie behauptete, neuerdings
-eine kleine Passion für die Berliner Weiße hätte und die Berliner
-Schrippe und frische Blut- und Leberwurst; die überhaupt auf dem besten
-Wege wäre, richtig zu verberlinern. Dann saß sie wieder ein Weilchen
-stumm, dachte reuig: ‚Was bist du doch für ein Weltkind!‘ trank hastig
-ein Spitzglas Champagner, lachte sich über die veränderte Stimmung
-fort: ‚Gott, man ist doch nur einmal jung!‘ — fühlte, wie diese
-Atmosphäre von Luxus und Wohlleben ihr wohltat, diese Spiegelwände,
-die weichen, roten Teppiche, der glänzend weiße Damast, die
-Kristallschalen, das diskrete Plaudern und Lachen, der leise, leichte
-Duft von Parfüm, Speisen, Zigarrenrauch.</p>
-
-<p>Plötzlich rief Wilhelm: „Merivaux ... suchen Sie einen Platz? Kommen
-Sie hierher. Wir rücken ein wenig zusammen.“</p>
-
-<p>Da erst sah Helene den Gardeschützen, der mitten im Saal stand, mit dem
-Oberkellner unterhandelte. Jetzt stutzte er, zögerte einen Augenblick,
-trat dann an den Tisch heran. „<span class="antiqua">Bonjour, mes dames et messieurs!</span>
-Sehr freundlich, Herr von ’ackentin. Wenn Sie erlauben&#160;—“</p>
-
-<p>Er sprach noch immer mit leichtem Akzent, kämpfte noch immer ein
-wenig mit dem H, mischte noch immer dann und wann einen französischen
-Brocken ein. Aber zugelernt hatte er entschieden „in die swere Sprack“
-während der zwei Jahre. Wahrhaftig, länger als zwei Jahre hatte Helene
-den Neuchateller nicht gesehen! Und indem sie das mit leisem Staunen
-konstatierte, glitt durch ihre Erinnerung doch auch jener Spaziergang,
-im Rackower Park, die Begegnung mit Alfred Schwarz, ihr Gesang im Salon
-von Tante Marie&#160;—</p>
-
-<p>Merivaux widmete sich zuerst fast ausschließlich Martha, sprach mit
-den Herren, erzählte, daß er im Winter vierundsechzig — „da wir
-ja leider nicht mobil wurden“ — auf einige Wochen in der Heimat
-gewesen wäre: „Schlechte Zeiten für meine Eltern, für unseren ganzen
-Adel.“ Die<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Demokraten obenauf, die Royalisten ganz, ganz unten; und
-allmählich werde auch so mancher von den Guten untreu. Im Vaterhause
-aber erhebe der alte Herr immer noch sein Glas, gefüllt mit blutrotem
-Cortaillard: „<span class="antiqua">Vive le roi!</span>“ Und am 22. März hätte auch diesmal
-die schwarzweiße Hohenzollernfahne über Schloß Merivaux geflattert.</p>
-
-<p>Helene hörte gerne zu, wie er so sprach. Ein romantischer Zug klang
-daraus, der Widerklang in ihr fand. Dies treue Ausharren auf verlorenem
-Posten, dieser trotzige Sinn der alten Royalisten im fernen Lande: das
-war wirklich einmal etwas Eigenes in der Alltäglichkeit des Lebens.
-Es lag fast greifbar deutlich vor ihr; das altersgraue Schloß mit
-dem dräuenden Turm und der Zollernflagge, und tief unten der blaue
-Neuchateller See, wie Merivaux ihn einst ihr geschildert, von grünen
-Wiesenhalden umkränzt und blütenreichen Hängen, die schneebedeckten
-Alpenhäupter im Hintergrunde.</p>
-
-<p>Einmal mußte sie unwillkürlich zu Merivaux hinübersehen. Und
-da begegneten sich ihre Augen. Sie wunderte sich: es war etwas
-Träumerisches in seinem Blick — etwas Fremdes — und doch wieder etwas
-seltsam Vertrautes.</p>
-
-<p>Dann wandte er sich gleich an seinen Tischnachbar. Das Gespräch ging
-weiter. Fritz konnte sich eine etwas unpassende Bemerkung nicht
-versagen, daß Neuchatel doch eben nur seinen natürlichen Anschluß an
-die anderen Schweizer Kantone gefunden hätte, wurde aber von Merivaux
-ziemlich scharf zurückgewiesen. Dann, um weiterer Peinlichkeit zu
-entgehen, fragte Wilhelm recht unvermittelt nach dem neuen Modell der
-Jägerbüchse, das die Gardeschützen führten. Und Merivaux sang das Lob
-der Zündnadel — „sie schösse töter als tot“. Er war zur Abnahme in
-Sömmerda kommandiert gewesen und hatte den alten Dreyse kennen gelernt,
-den der König kürzlich geadelt, der aber noch immer wie ein richtiger
-Schlossermeister von Werkstatt zu Werkstatt ginge, um allenthalben
-nach dem Rechten zu sehen. Wilhelm erzählte dagegen<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> wieder von dem
-alten Krupp in Essen und den gezogenen Gußstahlgeschützen und was sich
-die Herren von der Bombe davon versprächen. Wozu der rote Landrichter
-gähnte. Eigentlich ärgerte sich Helene über Bruder Fritz: der hatte
-doch auch einmal des Königs Rock getragen, und nun war ihm das
-gleichgültig, was selbst sie und Martha interessierte: wie „da oben“
-bei Lundby die Zündnadel die erste Ernstprobe auf ihre Brauchbarkeit
-abgelegt hätte.</p>
-
-<p>Endlich brach man auf. Merivaux ging mit hinaus zu Kroll.</p>
-
-<p>Es dämmerte schon leicht, und der Krollsche Garten glänzte in
-seiner neuen feenhaften Beleuchtung durch Zehntausende von bunten
-Gasflämmchen, die alle Rabatten und Bosketts umsäumten, überall
-aus den grünen Büschen herausschimmerten, von hohen Kandelabern
-herunterstrahlten. „Etwas Ähnliches gibt es nur noch in Paris, in den
-Champs Elysées“, behauptete Wilhelm. „Aber was die Pariser nicht haben,
-ist unser Engel.“ Dieser Engel stand vor seinem Orchester, ein kleines
-altes Männchen mit kohlschwarzer Perücke, dirigierte ‚mit die Hände
-und die Füß’‘ und hatte dabei noch Zeit, jede vorüberwandelnde hübsche
-Frauengestalt mit verliebten Blicken zu verfolgen. An hübschen Frauen
-aber fehlte es im Krollschen Etablissement nie. Und außer Herrn Engel,
-fand Helene, gab es recht viele Herren hier, die unverschämte Augen
-machten.</p>
-
-<p>Man promenierte langsam zwischen den Beeten auf und ab, die so
-wunderlich von bunten Blechblumen, mit Gasflämmchen in den Kelchen,
-eingefaßt waren. Und da schob sich Merivaux neben Helene.</p>
-
-<p>Er fragte nach ihrem Gesang, und sie gab ein wenig spitz zurück: „Ich
-hätte gar nicht geglaubt, daß Sie dafür Interesse haben&#160;...“</p>
-
-<p>„Dann irrten Sie, gnädiges Fräulein“, meinte er.</p>
-
-<p>Sie behielt noch immer ihren etwas ironischen Ton bei: „Also muß
-ich mich bedanken, daß Sie sich so gütig für mein bißchen Kunst
-interessieren?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p>
-
-<p>„O nein — warum bedanken?“ Er blieb ganz ruhig. „Aber ich darf gewiß
-sagen, daß ich sehr, sehr oft daran dachte, wie schön Sie in Rackow
-sangen. Ich ’ab es nicht vergessen: ‚... auf der Welle blinken —
-tausend schwebende Sterne ...‘ Vielleicht glauben Sie es mir nicht: ich
-liebe die Musik überhaupt sehr.“</p>
-
-<p>Es klang ihr so naiv, so furchtbar naiv. Sie mußte lächeln, und das sah
-gewiß wieder ein wenig überlegen, ein wenig spöttisch aus.</p>
-
-<p>„Da haben wir’s! Sie lachen mich einfach aus.“</p>
-
-<p>„Aber, Herr von Merivaux&#160;...“</p>
-
-<p>„Ich nehm es ja gar nicht übel. Wie soll ich? Ich weiß ja doch, Sie
-können kaum anders, und, gewiß, es scheint vielleicht eine seltene
-Sache, daß sich ein Offizier stark für Kunst, gerade für Musik
-interessiert. Aber es kommt doch vor. <span class="antiqua">Par exemple</span>: wir haben
-hier in Berlin einen Offizier-Musik-Verein, und ich spiele die zweite
-Violine.“</p>
-
-<p>Sie machten gerade kehrt, fügten sich von neuem in die Reihen der
-Promenierenden ein. Dabei konnte sie ihm unauffällig ins Gesicht sehen.
-Ein wenig im Glauben, er habe den Spieß umgedreht und scherze nun
-seinerseits. Aber er blickte ganz ernst. Es mußte doch wahr sein, was
-er sagte.</p>
-
-<p>Und er sprach schon weiter: „Sie sind wieder Schülerin von Frau
-Harriers-Wippern?“</p>
-
-<p>Da mußte sie doch erstaunt zurücksagen: „Woher wissen Sie das?“</p>
-
-<p>‚„<span class="antiqua">Mon Dieu</span> ... Berlin ist so klein. Ich verkehre bei Professor
-Taubert, und zu den näheren Freunden des ’auses gehört auch Frau
-Harriers. Sie sprach bisweilen von Ihnen, gnädiges Fräulein, und ’at
-sehr geklagt, daß Sie gegangen sind auf und davon. Damals! Und weil sie
-wußte, daß ich die Ehre ’ab, Sie zu kennen, erzählte sie mir neulich,
-sehr froh, von Ihrem Wiederkommen.“</p>
-
-<p>„Aber davon ahnte ich ja gar nichts.“</p>
-
-<p>Er lachte. „Man kann doch nicht alles ahnen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span></p>
-
-<p>„Weshalb haben Sie mit mir in Rackow nie von Ihrer Liebe zur Musik
-gesprochen?“ Fast vorwurfsvoll, ein wenig schmollend, sagte sie es.</p>
-
-<p>„Ja — weshalb nicht? Vielleicht ist mein Interesse erst später recht
-erwacht.“ Merivaux ging einige Schritte schweigend weiter. „Vielleicht
-sprach ich auch aus Trotz nicht. Ich weiß nicht recht.“</p>
-
-<p>„Das verstehe ich nicht.“</p>
-
-<p>„Vielleicht ... nun, vielleicht wollte der Dilettant die Konkurrenz mit
-dem ... wie sagt man doch — mit dem Mann von Beruf nicht aufnehmen.“</p>
-
-<p>Er hatte das letzte zögernd gesprochen, fast wie widerwillig. Und es
-schien ihm sofort leid zu tun. Denn er sah wohl, wie Helene Hackentin
-ablehnend den Nacken straffte, daß sie starr geradeaus blickte und
-ihren Schritt beschleunigte.</p>
-
-<p>Sie ärgerte sich. Eigentlich traf’s ja doch den Kern der Sache, war’s
-ganz richtig, was Merivaux eben gesagt hatte: der Dilettant tritt immer
-vor dem Berufskünstler zurück.</p>
-
-<p>Nun war er wieder an ihrer Seite.</p>
-
-<p>„Was studieren Sie jetzt mit Frau Harriers, wenn ich fragen darf?“</p>
-
-<p>Noch immer konnte sie sich nicht ganz überwinden. Ganz kurz gab sie
-zurück: „Die Partie der Elsa&#160;...“</p>
-
-<p>„Eine schöne ... eine sehr schwere Aufgabe. Schwer wie fast alles von
-diesem Maestro Wagner. Man muß sich ganz in ihn hineinleben, wenn man
-ihn recht verstehen will. Ich ’ab es versucht, aber es will nicht ganz
-glücken. Vielleicht muß man ganz ein Deutscher sein dazu?“</p>
-
-<p>„Warum das, Herr von Merivaux? Die Musik, die Kunst überhaupt ist doch
-wohl international?“</p>
-
-<p>„O nein! Nein doch, gnädiges Fräulein. Das sagt man wohl so, das ist
-aber nicht wahr. Man empfindet wohl nach, aber man empfindet nicht
-ganz. Es gibt Differenzen. Man kann Mozart überall verstehen und kann<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span>
-Auber überall verstehen. Aber Wagner nicht. Oder doch nicht gleich.
-Gerade weil er so ganz deutsch ist.“</p>
-
-<p>„Aber Wagner hat doch auch in Paris viele Bewunderer.“</p>
-
-<p>„Wenige, glaub ich. Man wollte ihn in Mode bringen, aber es ist nicht
-geglückt, trotz der Fürstin Metternich. Sie sollten nur sehen, wie sich
-die Karikatur über ihn lustig macht. Gavarni und Cham und Noël. Wie man
-spottet&#160;...“</p>
-
-<p>„Das ist sehr häßlich.“</p>
-
-<p>„<span class="antiqua">Sans doute.</span> Aber der Pariser liebt das so. Und das ’indert
-nicht, daß Wagner sich vielleicht doch Bahn machen wird, langsam,
-langsam&#160;—“</p>
-
-<p>Da waren sie wieder am Ende der Promenade angelangt, und Wilhelm
-unterbrach ihr Gespräch. Er hatte einen freien Tisch unter einer der
-Hallen erspäht und behauptete, einen unendlichen Durst zu haben.</p>
-
-<p>Man kam sehr spät nach Hause. Weit nach Mitternacht. Aber Helene lag
-noch lange, ohne Schlaf finden zu können. Eigentlich klang immer nur
-das eine Wort, das Merivaux gesprochen, in ihr nach, das Wort von dem
-Dilettanten und dem „Mann des Berufs“ — dem Künstler, hätte er sagen
-sollen. Ja, dem Künstler! Die Gestalt Alfreds stieg wieder auf, aber es
-war nur noch ein Schatten. Nur daß sie daran dachte: merkwürdig, daß er
-in all den Stunden, die wir zusammen waren, fast nie ernst über seine,
-über unsere Kunst gesprochen hat. Immer glitt er darüber hin, berührte
-höchstens das Persönliche, soweit es ihn und vielleicht noch mich
-anging ... nie gab er mehr&#160;...</p>
-
-<p>Es war ja auch nichts Tiefgründiges, was sie mit Merivaux gesprochen
-hatte. Gewiß nicht. Aber es war ihr so überraschend gekommen, weil sie
-den Neuchateller so ganz anders eingeschätzt hatte, lediglich als den
-lustigen, flotten Leutnant. Wie man sich doch im Menschen irren kann,
-dachte sie. Und dachte auch flüchtig an Holfen. Auch bei ihm hatte sie
-Interessen gefunden, die sie nicht erwartete. Aber es war doch wieder
-ein Unterschied dabei: Holfen war gewiß ein gescheiter, liebenswürdiger
-Mann,<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> aber er hatte kein Temperament. Und bei Merivaux verriet
-sich das überall und immer. Merkwürdig, auch in Äußerlichkeiten. Er
-war anders als die meisten. Wie eigen er ihr beim Abschied die Hand
-gedrückt hatte, so gar nicht konventionell. Sehr frei und frank, und
-doch sehr ehrerbietig.</p>
-
-<p>Am nächsten Morgen dachte sie nicht mehr an ihn.&#160;—</p>
-
-<p>Eine Woche später begannen für die Jungens die Großen Ferien, und es
-ging nach Rohlbeck; nur Wilhelm blieb, mit einem lachenden und einem
-weinenden Auge, zurück.</p>
-
-<p>Und wieder eine Woche später fuhr Helene, einer dringenden Einladung
-von Tante Marie folgend, auf einige Tage nach Rackow.</p>
-
-<p>Als sie, in ziemlich früher Vormittagsstunde, durch das Parktor bog,
-sah sie dicht vor ihrem Wagen, fast schon an der Veranda, einen im
-ganzen Kreise wohlbekannten und gefürchteten Mann: Herrn Wilke aus
-Stellberg. Sie hatte zwar seine persönliche Bekanntschaft noch nicht
-gemacht, aber ihn doch schon, auch in Rohlbeck, gesehen, wenn er bei
-einem der Kleinbauern oder bei dem Krämer sich als unwillkommenster
-aller Gäste einfand. Und sie dachte verwundert: ‚Mann des Gesetzes, wie
-kommst du hierher?‘</p>
-
-<p>Aber da stand schon Onkel Ernst, vergnügt lachend, neben seinem
-diskret grinsenden Höhne auf der Veranda und begrüßte sie beide fast
-gleichzeitig: „Tag, Leneken! Herzlich willkommen. Nimm die Sachen vom
-gnädigen Fräulein, Höhne. Tante ist im Gartensalon, Kind ... Ja, und da
-sind Sie ja mal wieder, lieber Wilke. Freut mich, Sie von Angesicht zu
-Angesicht zu sehen. Aber Sie sollen doch nicht mit der Dienstmütze auf
-den Hof kommen! Das macht einen schlechten Eindruck, mein Lieber.“</p>
-
-<p>Der lange Labammel stand militärisch stramm: „Vorschrift, Herr Baron.“</p>
-
-<p>„Ach was, Vorschrift! Na, spazieren Sie nur herauf. Was gibt es denn
-Schönes?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span></p>
-
-<p>„Sechstausend vierhundert Taler, Herrn Baron zu dienen, und einhundert
-achtundsechzig Taler fünf Groschen Kosten.“</p>
-
-<p>„I, sieh mal einer an. Ja, wissen Sie, Wilke, da gehen Sie nur morgen
-mit der Chose zu Ephraim Herz. Der wird’s bezahlen.“</p>
-
-<p>„Unmöglich, Herr Baron. Wie der Lateiner sagt: <span class="antiqua">Hinc Rhodus, hinc
-saltus!</span>“</p>
-
-<p>„Ihr Latein ist schwach, Wilke. So, nun setzen Sie sich erst mal.
-Höllisch heiß heut. Was? Erst ’ne kleine Stärkung. Höhne, besorgen
-Sie ein Frühstück und eine Flasche Burgunder. Unser Herr Wilke ist
-ein Kenner. Bringen Sie aber auch einen guten Korn mit herauf. Na, so
-setzen Sie sich doch, Wilke.“</p>
-
-<p>Der lange Mann stand noch immer, hatte das rote Schnupftuch
-herausgezogen, wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und von
-der großen roten Nase, die es mit der berühmten Koralle des Doktor
-Tiburtius aufnehmen konnte. Er zögerte sichtlich. „Gnädigster Herr
-Baron,“ meinte er, „so geht das nicht. Erst der Dienst. <span class="antiqua">Officinum
-ante omnia.</span> Ja, Herr Baron, das vom vorigen Male — das passiert
-mir nicht wieder. Da können der Herr Baron Gift drauf nehmen.“</p>
-
-<p>„Aber wo werd ich denn, Wilke. So, hier setzen Sie sich, alter Freund
-und Bogenschütze, und heben Sie erst einen Kleinen. Alles der Reihe
-nach.“</p>
-
-<p>Helene hatte das wunderliche Gespräch, etwas neugierig, etwas
-ängstlich, aus dem halbdunklen kühlen Korridor mit angehört. Dann war
-sie zu Tante Marie geflitzt, die in einem hellblauen Batistkleide, das
-über und über mit weißen Spitzen besäumt war, im Gartensalon auf der
-Chaiselongue lag und in dem neuen Roman von Fanny Lewald blätterte;
-hatte Grüße von den Eltern gebracht, war auf ihrem Stübchen, diesmal
-der „Bärenhöhle“, gewesen, hatte sich ein wenig eingerichtet. Als
-sie wieder herunterkam und auf die Veranda hinauslugte, saß da immer
-noch Onkel Ernst, und ihm gegenüber saß Herr Wilke; zwischen ihnen
-standen die Reste eines stattlichen<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> Frühstücks und einige dickbäuchige
-Flaschen. Onkel Ernsts Vollmond glänzte eitel Wonne, und Wilkes Nase
-glänzte in dem alten Unteroffiziersgesicht wie Purpur.</p>
-
-<p>„Ja, ja, mein lieber alter Wilke, man hat seine Not“, klang Onkel
-Ernsts sanfte, einschmeichelnde Stimme. „Aber man muß sich die Laune
-nicht verderben lassen. Erst noch ein Schlückchen Burgunder. Das ist
-1848er Romané, mein Bester, so was kriegen Sie nicht alle Tage. He?“</p>
-
-<p>„Hab ich mein Leblang noch nicht getrunken, Herr Baron. <span class="antiqua">Nullum vinum
-nisit franciscum.</span> Aber man soll des Guten nicht zu viel tun. Der
-Dienst, gnädigster Herr Baron —“ Er knöpfte an seinem Rock und zerrte
-eine dicke Brieftasche heraus. „Sechstausend vierhundert&#160;—“</p>
-
-<p>„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst noch ein
-Gläschen. Prosit! — Ach, da bist du ja, Leneken. Komm, setz dich ein
-bissel zu uns. Wilke, Sie kennen doch das Rohlbecker gnädige Fräulein?“</p>
-
-<p>„Wo werd ich denn nich?“ Herr Wilke erhob sich etwas schwer und
-umständlich, schwenkte ein weniges mit dem langen Oberkörper. „Ich war
-schon mal beim gnädigen Herrn in Rohlbeck, als das gnädige Fräulein
-noch in die Windeln lagen, mit Respektus zu melden.“</p>
-
-<p>„Ja, Ihr segensreiches Wirken, mein lieber Wilke, geht durch
-Generationen. Wir wissen es. Immer im Dienst voran. Immer die Pflicht
-über alles. Der Mensch braucht Stärkung, um für Dienst und Pflicht die
-rechte Kraft zu finden. Prost, mein lieber alter Wilke.“</p>
-
-<p>„Danke, Herr Baron, danke untertänigst. Ein wunderbares Weinchen, das
-der Herr Baron im Kellerchen haben. Ist ja auch berühmt, der Rackower
-Keller. Aber nu müssen wir doch wohl&#160;—“</p>
-
-<p>„Nachher, lieber Wilke. Alles zu seiner Zeit. Erst das Vergnügen und
-dann die Pflicht. Ja, alter Wilke, wie lange kennen wir uns eigentlich?
-Aber so trinken Sie doch. Das ist ja geradezu beleidigend, Sie so
-sitzen zu sehen, so trocken.“</p>
-
-<p>„Na, gnädigster Herr Baron, das wird woll sohner Jahre<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> zwanzig her
-sein. Vor dem Einzug von der gnädigsten Frau. Damals liefen immer die
-Wechsel von Hartwich Stern aus Frankfurt!“</p>
-
-<p>„Sieh mal einer an, was Sie für ein Gedächtnis haben. Den wackeren
-Geschäftsfreund deckt nun auch schon die kühle Erde. Aber wir beide
-wollen auf sein Gedächtnis mal gleich ein stilles Glas trinken.“</p>
-
-<p>Helene Hackentin saß an der Querseite des Tisches und wußte nicht
-recht, ob sie sich schämen oder ob sie lachen sollte. Doch wohl lieber
-lachen. Um etwas Wichtiges konnte es sich ja nicht handeln. Onkel Ernst
-lachte ja auch sein ganz leises, fast unhörbares Lachen, bei dem sich
-die beiden Mundwinkel so seltsam nach unten zogen. Dann und wann sah
-er unter seinem Einglas, das wie angemauert vor dem Auge lag, „um die
-Ecke“ und nickte Lene zu.</p>
-
-<p>Sicher: das Ganze war ein Witz. Sonst wäre Tante Marie ja auch nicht
-so ruhig gewesen. Sie hatte vorhin sogar zu Höhne gesagt: „Sorgt nur
-dafür, daß der alte Wilke sein ordentliches Maß bekommt.“</p>
-
-<p>Und jetzt gab Onkel Ernst dem Höhne ein geheimnisvolles Zeichen.
-Der stellte neue Gläser und eine Flasche Champagner auf den Tisch.
-Worauf Herr Wilke die Hände spreizte: „<span class="antiqua">Apage Satanum!</span> Nee, Herr
-Baron, das geht wirklich nicht. Über allem der Dienst. Sechstausend
-vierhundert&#160;—“</p>
-
-<p>„Legen Sie’s nur dahin, Wilke. Alles der Reihe nach. Erst werden wir
-mal dieser Pulle nähertreten. Leneken, du trinkst auch ein Schlückchen
-mit.“ Der Korken fuhr gegen das Verandadach. „Veuve Cliquot, braver
-Wilke. Die edelste aller Witwen soll leben! Na, Witwe? Da haben Sie’s
-anders gemacht — was? Seit wann sind Sie denn Witwer?“</p>
-
-<p>„Seit acht Jahren, Herrn Baron zu dienen.“</p>
-
-<p>„Also, das nächste stille Glas der teuren Verewigten. Schlimm, was? —
-So als einsamer Witmann.“</p>
-
-<p>„Es geht, Herr Baron, es geht. Man muß sich trösten.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p>
-
-<p>„Da haben Sie ganz recht, guter Wilke. Und ein stattlicher Mann wie Sie
-findet schon Trost. Darauf müssen Sie mal trinken.“</p>
-
-<p>Es wurde allmählich Helene zu bunt. Sie schlich sich fort, ging
-hinunter zu den Beeten am See, wo Tante Marie vom Mai bis in den Herbst
-hinein Erdbeeren zur Reife zu bringen wußte. Es gab da heut etwas
-Besonderes zu sehen. Quer über die Senke hinweg steckten Arbeiter mit
-langen Stangen eine schnurgerade Linie ab; drüben am Hang stand eine
-kleine Gruppe Männer um ein dreibeiniges Gestell, das ein Etwas, fast
-wie ein Fernrohr, trug. „Unse Isenbahn!“ erklärte der alte Gärtner mit
-Stolz.</p>
-
-<p>Unsere Eisenbahn: Wilhelms Eisenbahn! In zwei Jahren mochte sich hier
-ein hoher Damm über das Tal spannen, und die Lokomotive schnob pustend
-und fauchend darüber hin, hinter ihr drein polterte und ratterte der
-Zug, und eine endlose graue Rauchwolke zog sich bis drüben zum Waldsaum
-hin.</p>
-
-<p>„Da wer’n se noch ihre liebe Not mit han“, meinte Marhenke, der
-Gärtner. „Des is allens Sumpf, man bloß ’n bißken Sand druf. Wenn sie
-hier Boden ruff karrn, schlingt der Sumpf allens runter. Das geiht so
-nich, wie se sich dat denken. Dat weeß ich beter.“</p>
-
-<p>Helene lächelte. Sie wußte es erst recht besser: der Ingenieur fand
-schon Abhilfe. Und wenn der Sumpf wirklich den einen Damm fraß, dann
-türmte man den zweiten auf ihn; und wenn der unersättliche Grund
-auch den verschlang, legte die Technik den dritten von Hang zu Hang
-oder warf eine Eisenbrücke über die Senke. Die Eisenbahn war der
-Fortschritt, und der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten.</p>
-
-<p>Langsam schlenderte sie zwischen den schmalen Beeten des Gemüsegartens
-hin. Ihr kam Bruder Fritz, der rote Kreisrichter, in den Sinn. Da
-hatte sie ja eben dessen Schlagwort nachgebetet: Der Fortschritt läßt
-sich nicht aufhalten. Du lieber Gott, war das nicht am Ende auch nur
-ein<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> <em class="gesperrt">Wort</em>? Solch ein Wort, das nur den Weg in ödes Land wies,
-wenn man es verallgemeinerte. Ein an sich gutes Wort, das zur Phrase
-geworden war in einem unfruchtbaren Kampf.</p>
-
-<p>Der Bruder tat ihr leid, und Vater erst recht. Zwischen beiden hatte
-das eine Wort Zwietracht gesät. Da half kein Brückenschlagen. Der große
-Sumpf, Politik geheißen, verschlang jeden Versuch der Verständigung.
-Als Martha, die immer versöhnen wollte, gestern von Fritzens Besuch
-in Berlin erzählte, hatte Vater bloß gesagt: „Laßt mich mit dem roten
-Kreisrichter zufrieden. Das heißt, die Stunde wird ja wohl noch kommen,
-wo er sein Unrecht einsieht.“</p>
-
-<p>Die Sonne stand hoch am Himmel. Es mußte fast Mittag sein. Nun hatte
-wohl auch endlich der lange Wilke das Feld geräumt.</p>
-
-<p>Aber als Helene wieder vor der Veranda stand, saß der gestrenge Beamte,
-der Schrecken dreier Städtchen und von zehn Dörfern, immer noch auf
-seinem Stuhl. Saß freilich ganz in sich zusammengesunken, mit vornüber
-geneigtem roten Kopf, aber immer noch die Hand am Glase.</p>
-
-<p>„Prosit, Wilkechen!“ sagte Onkel Ernst gerade. „Nun noch ein
-Schlückchen auf die Konstitution. Ich meine natürlich Ihre
-vortreffliche Konstitution!“</p>
-
-<p>„Jawoll ... Herr Baron ... die Konstitution ...“ Es war nur noch ein
-Lallen. „Sechstausend vierhundert&#160;...“</p>
-
-<p>„Legen Sie’s nur dahin, Wilke“, meinte Onkel Ernst. „So, Leneken, nun
-könntest du eigentlich mal zum Großknecht laufen, der Ochsenwagen
-soll kommen.“ Dabei sah er prüfend unter dem Einglas um die Ecke,
-diesmal auf Herrn Exekutor Wilke, und lächelte zufrieden. Der hatte
-jetzt die Augen geschlossen und schnarchte wie das Vollgatter einer
-Schneidemühle, wenn die Sägen solch recht dicken Knorren im Stamm
-anfassen.</p>
-
-<p>Dann kam der Leiterwagen, mit zwei Ochsen bespannt. Der Amtmann
-Schmidhals schritt höchstselbst daneben her<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> und half den Schlafenden
-aufladen. Wie ein Toter lag er da. Onkel Ernst legte ihm die Mütze und
-das dicke Taschenbuch auf den Bauch und faltete ihm die Hände darüber,
-schob ihm auch noch den Kopf recht bequem auf dem Strohbündel zurecht.</p>
-
-<p>„So —“ meinte er dann. „Christian, du fährst hübsch langsam nach
-Stellberg und ladst Wilken vor seinem Hause ab. Und sagst dem ältesten
-Jungen, der Vater sollte morgen zu Ephraim Herz gehen, der brächte
-alles in Ordnung. Pascholl, Christian!“</p>
-
-<p>Und da war plötzlich auch Tante Marie, besah sich von der Veranda aus
-durch ihr Lorgnon das Schauspiel und lachte über das ganze kleine
-Gamingesicht. „Eigentlich scheußlich“ sagte sie dabei, „<span class="antiqua">... un
-ivrogne! Fi donc!</span>“ Und lachte wieder.</p>
-
-<p>Die Ochsen zogen an. Schwer rüttelte der Leiterwagen. Das Vollgatter
-rasselte dazwischen.</p>
-
-<p>Onkel Ernst kam langsam die Treppe hinauf, legte zärtlich seinen
-dicken Arm um die dünne Taille seiner Frau, die neben ihm wie ein
-winziges, zierliches Püppchen aussah, und meinte: „Können wir nicht
-bald essen, Mariechen? Das hat mir Hunger gemacht. Und einen Durst
-habe ich — einen Durst! Komm, Leneken ... wir wollen uns ein kleines
-Erdbeerböwlchen brauen&#160;...“</p>
-
-<p>Am liebsten wäre Helene Hackentin schon am nächsten Tage nach Rohlbeck
-zurückgefahren. Sie konnte einen leisen Ekel nicht überwinden. Das
-elegante Rackow übte auch nicht mehr den früheren Reiz auf sie aus.
-Jetzt, plötzlich, empfand sie, wie schal und inhaltlos doch das Leben
-hier war, wie ganz auf das Äußere gestellt, ein Leben völlig in den Tag
-hinein. Und zum erstenmal hatte sie einen Blick hinter die Kulissen
-getan: der Glanz hier war auch nur Schein, mühsam genug vielleicht
-aufrechterhalten.</p>
-
-<p>Ganz wunderliche Gedanken kamen ihr, ganz revolutionäre Gedanken. Da
-waren die Rackower: jetzt wußte sie, schwer verschuldet waren sie,
-hatten ihren Reichtum<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> vergeudet. Da saßen die Eltern in Rohlbeck:
-die hatten immer sparsam gelebt und doch so schlecht gewirtschaftet,
-daß sie nun arm waren wie die Kirchenmäuse, wenn man’s klipp und klar
-heraussagen wollte. Nicht viel anders stand es wohl, mit Ausnahme
-vielleicht von Onkel Grucker, der auf seinem schönen Majorat saß, mit
-den anderen Verwandten und Nachbaren im Kreise.</p>
-
-<p>Hatte da Bruder Wilhelm nicht recht, wenn er hinausgegangen war von
-der Klitsche in die Großstadt, um sich neue Erwerbsmöglichkeiten zu
-erschließen?! Aber freilich: er hatte das Hackentinsche Blut mit
-hinübergenommen. Auch er verstand das Zusammenhalten nicht. Das
-Geld zerrann ihm unter den Händen. Gerade jetzt wieder. Eigentlich
-trieb er’s mit seinem Gewinn aus der Bahnkonzession auch nicht viel
-anders, wie es die Eltern getrieben hatten, als ihnen die letzte große
-Erbschaft ins Haus gebracht worden war und sie die Geldtönnchen unters
-Bett gestellt und aus ihnen geschöpft hatten, bis das letzte Goldstück
-fort war.</p>
-
-<p>Das Hackentinsche Blut! Vielleicht, gewiß war’s nicht nur das
-Hackentinsche. Ganz ähnlich, ganz gleich mochte das Blut in den Adern
-der anderen Verwandten und Nachbaren rollen. Wer wirtschaftete denn
-hier im Kreise wirklich erfolgreich? Die einen verschwendeten, die
-andern darbten fast und kamen doch auf keinen grünen Zweig, zehrten
-auch nur vom Ererbten und mehrten es nicht.</p>
-
-<p>Einer machte vielleicht eine Ausnahme: Holfen. Aber der gehörte eben
-schon einer neuen Generation an.</p>
-
-<p>Lag bei dieser neuen Generation wohl die Zukunft?</p>
-
-<p>Helene mußte an die Jungens denken, an Wilhelms Söhne, Hans und Thedi.
-Und dabei wieder an Martha. Vielleicht schlug in ihnen Marthas Blut
-durch. Vielleicht erbten sie von ihr die Gabe des Festhaltens, den
-gesunden, aufs Praktische gerichteten Sinn.</p>
-
-<p>Eigentlich waren ihr die Jungens fremd geblieben. Wie einem wohl oft
-das Nächste am fremdsten bleibt. Als unartige Bengels, die oft lästig
-wurden, hatte sie sie<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> meist empfunden. Nun grübelte sie ihnen nach.
-Der Älteste hatte doch viel von der Mutter, einen nachdenklichen Sinn;
-ein Bücherwurm war er. Thedi war äußerlich ganz hackentinsch, war auch
-Vaters Liebling. Glänzend begabt, hieß es; es flog ihm alles zu, was
-der Hans mühsam erobern mußte. Aber er hielt nichts recht fest. Um ihn
-konnte man Sorge haben.</p>
-
-<p>Eine ordentliche Sehnsucht nach den Jungens überkam Helene, fast als
-wäre sie seit Wochen von ihnen getrennt. Auch das zog sie wieder nach
-Rohlbeck zurück.</p>
-
-<p>Aber aus Rackow kam man nicht so leicht fort. Onkel Ernst und Tante
-Marie waren von einer Güte und Liebenswürdigkeit, der man gar nicht
-widerstehen konnte. Mochten sie sonst sein wie sie wollten: sie übten
-geradezu einen Zauber aus in ihrer grenzenlosen Gastlichkeit.</p>
-
-<p>Jetzt war auch das Haus wieder voll. Die kleine, mollig runde Grete
-Waldegg wohnte im „Alpenröschen“; Vetter Mollard, der gerade von
-Florenz zurückgekommen war, wo er zwei Jahre lang Attaché gespielt
-hatte, war in der „Bleikammer“ einquartiert, und Merivaux, der sich
-plötzlich angesagt hatte, war gestern abend in den „Pfau“ eingezogen.
-In der „Nachtigall“ aber hauste Bernhard Rose, ein mittelloser junger
-Student, der nun schon zum zweiten Male ein paar Sommermonate in Rackow
-zubringen durfte, um sich ein wenig herauszufüttern. Helene kannte ihn
-bereits. Im vorigen Sommer war er mit hohlen, blassen Wangen gekommen
-und wesentlich erholt abgereist. Das war auch etwas, was immer wieder
-mit Tante Marie versöhnte: ihre Gutherzigkeit war so grenzenlos wie
-ihre Gastlichkeit — beide freilich gaben sich oft nach Laune und
-fragten nicht viel nach wie und warum.</p>
-
-<p>Das junge Volk war sehr fidel, und Onkel Ernst und Tante Marie taten
-mit. Immer stand etwas Neues auf dem Tagesprogramm. Einmal fuhr die
-ganze Gesellschaft nach dem Walde hinaus, in die Haselberge, auf zwei
-mächtigen Leiterwagen, um draußen herumzutollen; ein andermal gab’s
-eine festliche Krocketpartie, in der die<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> Sieger mit Rosenkränzen
-belohnt wurden; im Dorfwirtshaus wurde ein Preiskegeln veranstaltet,
-oder es ging nach Nugow, um den alten Grafen Delkowitz, Edlen von
-Kastricz, in seiner grauen Johanniterburg zu überfallen, seine
-Segelboote mit Beschlag zu belegen und ein paar Schläge über den großen
-Nugower See zu machen.</p>
-
-<p>An den Abenden wurde oft musiziert.</p>
-
-<p>Der kleine, blasse Student war ein ganz tüchtiger Klavierspieler,
-der sogar vor schwereren Aufgaben nicht zurückzuschrecken brauchte.
-Aribert Mollard klimperte schlecht und recht die Gitarre, und die
-rundliche, mollige Grete Waldegg sang dazu mit offenbarem Wohlgefallen,
-mehr schlecht als recht, irgendwelche Liedchen. Merivaux hatte sein
-Instrument mitgebracht.</p>
-
-<p>Helene war begierig, ihn zu hören. Geradeso begierig, wie sie
-überrascht gewesen war, als er ihr davon erzählte, daß er Violine
-spiele.</p>
-
-<p>Nun: er war kein Meister. Sie hörte es sofort heraus. Aber er war auch
-kein Stümper, und sein Spiel hatte eine angenehme persönliche Note. Es
-war so frisch, so natürlich und so anspruchslos, wie sein ganzes Wesen.
-Sie konnte nicht anders: sie mußte ihm nach seinem Vortrag ein paar
-freundliche Worte sagen.</p>
-
-<p>Er legte gerade sein Instrument in den Kasten zurück, sah auf,
-lächelte, fast ein wenig trübe: „Der gute Wille ist das beste an meinem
-Spiel, glaub ich ...“ und setzte dann rasch hinzu: „Aber ich bin sehr
-glücklich, wenn es Ihnen wenigstens nicht mißfiel!“</p>
-
-<p>Da wurde Helene gerufen. Fast immer mußte sie ja zum Schluß singen.
-Onkel Ernst steckte jedesmal eine komisch-feierliche Miene auf, wenn er
-sie dazu aufforderte: er zwang seinen ungeheuerlichen Körper zu einigen
-tänzelnden Schritten, machte ihr eine großartige Verbeugung, sprach in
-seinem weichsten Tonfall von der Gnade, die die erhabene Künstlerin
-seiner niederen Hütte antue —, und stellte ein fürstliches Honorar in
-Aussicht. Unter tausend Louisdor tat er es nicht.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span></p>
-
-<p>Als sie zum erstenmal im roten Damastsalon an den Flügel getreten war,
-kam ein leises Beben über sie. Die Erinnerung wurde wach an jenen
-Abend, da sie hier, hier vor Schwarz gesungen hatte. Aber eine kleine
-Willensanspannung genügte, und sie war darüber hinweg. Und war froh,
-daß es nicht schwerer gewesen.</p>
-
-<p>Heut sang sie den Schubertschen „Erlkönig“.</p>
-
-<p>Während sie sang, freute sie sich nur des verständnisvollen Begleiters,
-des kleinen Studenten. Aber auch das und alles andere, das Äußerliche,
-versank wie immer vor ihrer Seele.</p>
-
-<p>Sie versetzte, versenkte sich ganz in die Dichtung. In die
-Märchenstimmung. Sie fühlte mit dem Vater, der mit seinem Kinde durch
-Nacht und Wind reitet; sie empfand die angstvollen Fragen des Kleinen
-mit. Sie kämpfte mit dem Reiter gegen das Phantom, sie erlebte mit
-ihm die wilde, rasende Flucht und daß sie umsonst blieb gegen die
-Naturwelt. Und ihr selbst war’s wunderbar, wie sie nun gelernt hatte,
-all das im Gesang auszudrücken. Frage und Antwort von Kind und Vater,
-die Lockungen des Erlkönigs, den ganzen Stimmungsgehalt des Liedes.</p>
-
-<p>Sie dachte, während sie sang, an nichts als an ihre Kunst. Am wenigsten
-dachte sie an Merivaux.</p>
-
-<p>Aber als sie geendet hatte und sich umsah, sah sie zuerst ihn. Der
-Zufall wollte, daß er genau an der Stelle stand, wo an jenem Abend
-Schwarz gestanden: hinter all den fröhlichen Beifallsspendern, allein,
-an der Tür. Er klatschte auch nicht, wie die anderen. Still stand er,
-mit leichtgesenktem Kopf. Er kam auch nachher nicht zu ihr, um ihr
-irgendeine Liebenswürdigkeit zu sagen, ein Wort der Anerkennung.</p>
-
-<p>Ein wenig verdroß es sie doch. Sie wußte ja, daß sie gut gesungen
-hatte. Gar so schweigsam, gar so zurückhaltend brauchte er auch nicht
-zu sein.</p>
-
-<p>Recht zur Besinnung darüber kam sie nicht. Denn Onkel Ernst schlug,
-nachdem „sich der Beifall ausgetost“, wie er meinte, noch einen
-Mondscheinspaziergang vor. „Und am<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> Brockenhäuschen soll unsere
-<span class="antiqua">Primadonna assoluta</span> ihr fürstliches Douceur erhalten.“</p>
-
-<p>Es war herrlich im Park. Der Mond stand hoch am sternhellen Horizont,
-die Taxushecken, die Baumgruppen warfen lange Schatten auf die
-bekiesten Wege. Auf den heißen Julitag war die abendliche Abkühlung
-gefolgt. Ganz im Westen, auf Rohlbeck zu, wetterleuchtete es.</p>
-
-<p>Das junge Volk tollte um das Rackowsche Ehepaar herum, das Arm in Arm,
-im langsamsten Tempo, den leichten Hang zum Brockenhäuschen hinaufging.
-Es war ein ewiges leises Kichern, Plaudern, Raunen, Flüstern.</p>
-
-<p>Oben, unter dem Brockenhäuschen, stand Höhne, ein Tablett in der
-Hand, auf dem ein geheimnisvolles Etwas unter der Serviette lag. Auf
-dem Tisch neben ihm stand eine Bowle in Eis. Ein paar Windlichter
-leuchteten. Und Onkel Ernst hielt eine kleine Rede, an deren Schluß
-er das geheimnisvolle Etwas gleich einem Denkmal enthüllte: „Unserer
-Primadonna, unserer Rohlbecker Helene!“</p>
-
-<p>Es war eine Torte. Eine große Torte mit Marzipanguß, der einen Kranz
-von lauter Goldfüchsen darstellte: „Das Süße der Süßesten“, verkündete
-Onkel Ernst und füllte die Gläser. „Aber nun gleich anschneiden!
-Vorwärts, Höhne! Die ersten beiden Stücke müssen zwei um die Wette
-essen: Grete und Aribert! Keinen Widerspruch. Hier, Grete, hier stellst
-du dich hin, dort, Mollard, du ... und nun soll Lene zählen: eins,
-zwei, drei!“</p>
-
-<p>Da standen sie nun wirklich, wie zwei gehorsame Kinder, hatten jedes
-ihr Tellerchen in der Hand mit einem Stück Torte darauf, und Helene
-zählte: eins — zwei — drei&#160;—</p>
-
-<p>Aber sie hatten kaum zum erstenmal hineingebissen, so gab es ein
-ungeheures Spucken, Prusten und Husten. Die mollige Grete ließ den
-Teller zur Erde fallen, Mollard schluckte verzweifelt und rollte die
-Augen wie ein Erstickender. Onkel Ernst und Tante Marie wollten sich
-totlachen.</p>
-
-<p>Die Torte, dies Meisterwerk von Monsieur Bombourdon, war aus Sägespänen
-gebacken. Aus richtigen holzigen,<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> kienigen, märkischen Sägespänen, die
-sich wie Harz an die Zähne der unglücklichen Opferlämmer festsetzten,
-die wie Leimbrocken an Lippen und Zunge klebten. Bis Höhne jedem als
-Erlösungstrank einen Becher Bowle brachte.</p>
-
-<p>Es war wieder einer jener Momente, in denen Helene nicht recht
-mitkonnte. Sie sah und hörte, wie alle lachten und kicherten, bald
-Grete und Aribert am meisten. Aber sie stand ein wenig abseits, ein
-wenig verlegen. Und plötzlich bemerkte sie, daß auch Merivaux sich
-abgesondert hatte. Der Neuchateller schien gleich ihr für diesen
-märkischen Junkerscherz kein rechtes Verständnis zu haben.</p>
-
-<p>Die Bowle war schnell geleert, und wieder unter Plaudern und Lachen
-ging es durch die Mondscheinnacht dem Schlosse zu. Höhne hatte die
-Gitarre holen müssen, Mollard sang sinnig-minnig: „Guter Mond — du
-goldne Zwiebel —“ und die mollige Grete machte schwärmerische Augen.</p>
-
-<p>Es war wohl Zufall, daß Helene Hackentin und Merivaux ein wenig
-zurückblieben.</p>
-
-<p>Aber als Helene das fröhliche Kichern und Raunen da vorn hörte, in
-das sich manchmal Onkel Ernst mit einer seiner, im leisen Hofton
-vorgebrachten drolligen Bemerkungen mischte, überkam auch sie etwas wie
-Übermut. Eine jugendliche, unbezwingbare Lust, den Neuchateller ein
-wenig aus seiner Verschlossenheit herauszuwerfen.</p>
-
-<p>„Sie sind heute wirklich gar nicht nett, Herr von Merivaux —“ sagte
-sie schmollend.</p>
-
-<p>Er zuckte zusammen, wie aus einem Traum aufgestört.</p>
-
-<p>„Wodurch ’ab ich mir die Ungnad zugezogen?“ fragte er dann.</p>
-
-<p>„Der einzige waren Sie, der mir kein Wort über meinen Gesang gesagt hat&#160;...“</p>
-
-<p>Da sah er sie voll an: „Legten Sie Wert darauf, gnädiges Fräulein?“</p>
-
-<p>Eine leichte Verlegenheit mußte sie doch überwinden: „Ich würde es
-sonst nicht bemerkt haben ...“ Helene wollte die Worte ein wenig kokett
-herausbringen, aber es gelang<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> ihr nicht recht. Sie klangen ziemlich
-ernst. Und sie fügte schnell hinzu: „Schon deshalb muß ich Wert auf
-Ihr Urteil legen, weil Sie der einzige hier sind, der wirkliches
-Verständnis für Musik hat.“</p>
-
-<p>„Sie vergessen mindestens unseren kleinen Studenten.“</p>
-
-<p>„Nein, nein! Herr Rose hat, wie wohl alles, auch sein Klavierspiel nur
-durch eisernen Fleiß errungen. Musik aber muß man fühlen.“</p>
-
-<p>„Und wenn ich nun gerade deshalb nicht in den lauten Beifall einstimmen
-konnte?“</p>
-
-<p>Helene erschrak. Sie blieb stehen. „Hab ich denn schlecht gesungen?“</p>
-
-<p>Nun blieb auch er stehen. „Nicht doch! <span class="antiqua">Au contraire.</span> Wie Sie das
-nur annehmen können. Gerade weil Sie sangen so schön, so wunderschön,
-gerade deshalb konnt’ ich nicht applaudieren wie die anderen. Ich
-konnte nicht.“</p>
-
-<p>Er hatte sehr schnell gesprochen: wie dann immer, wieder mit seinem
-leichten Akzent. Helene freute sich aufrichtig. Hundertmal mehr als
-über den ganzen Beifall im Damastsalon. Freute sich, und zugleich wurde
-der Übermut wieder in ihr lebendig. Wieder meinte sie schmollend, ein
-wenig kokett: „Aber ein freundliches Wort hätten Sie doch für mich
-haben können. Sie sind doch sonst nicht verlegen um Worte, Herr von
-Merivaux.“</p>
-
-<p>Wie sie das gesagt hatte, fühlte sie plötzlich, daß sie beide allein
-waren. Die anderen waren weitergegangen, schon hinter den Taxushecken
-verschwunden. Ganz leise nur klang noch das Kichern zurück, dann
-und wann ein schwacher Ton der Gitarre. Ganz allein standen sie im
-Mondenschein, der so hell leuchtete, daß sie jede Bewegung seines
-Gesichtes erkennen konnte. Und sie sah, daß es in diesem schönen,
-offenen Gesicht arbeitete.</p>
-
-<p>„Wir müssen gehen,“ brachte sie beklommen hervor.</p>
-
-<p>Er schüttelte den Kopf. „Bitte — nein!“ sagte er heiß. „Ich muß Ihnen
-erklären, Fräulein ’elene, warum ich nicht sprechen konnte vorhin.
-Erklären, was auf mir gelegen hat seit Jahr und Tag. Warum ich Ihnen
-ausgewichen<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> bin. Ja, ausgewichen! Bis dann der Zufall mich wieder mit
-Ihnen zusammenführte. Neulich! <span class="antiqua">Une chance heureuse</span> — wer weiß
-es? — vielleicht das Unglück meines Lebens.“</p>
-
-<p>„Herr von Merivaux ... bitte&#160;...“</p>
-
-<p>Da stand er vor ihr, die Hände auf der Brust, mit zuckendem Gesicht,
-sah sie mit seinen großen, ehrlichen Augen an, fragend, forschend,
-flehend: „Ein paar arme Minuten nur schenken Sie mir&#160;...“</p>
-
-<p>Und sie konnte nicht nein sagen, er zwang sie. Sein Wille zwang sie.</p>
-
-<p>„Wie ich da stand heut abend im Salon, und Sie sangen so wunderschön,
-da mußt ich denken an einen anderen Abend. Sie ’aben damals gesungen
-nicht ’alb so vollendet, aber ich hab schon gespürt die Seele in Ihrem
-Gesang. Vielleicht, weil ich Sie liebte. Damals schon. Aber da war der
-andere. Und ich fühlte ganz deutlich, daß Ihre Gedanken nur bei ihm
-waren. All Ihre Gedanken. Und ich muß Sie fragen. Um die Gnade Gottes:
-Sie liebten ihn?“</p>
-
-<p>Daß sie hätte fliehen können! Weit weg — weit weg! Aber da stand er
-vor ihr, mit seinem zuckenden Gesicht und den großen ehrlichen Augen,
-in denen es feucht schimmerte, hatte die Hände erhoben&#160;—</p>
-
-<p>Sie neigte nur leise den Kopf.</p>
-
-<p>Er blickte starr auf sie hin. Fragend, forschend, flehend. Mit
-zusammengepreßten Lippen. Auf eines Atemzugs Länge.</p>
-
-<p>„Und nun? Nun ist das vorbei?“ stieß er hervor.</p>
-
-<p>„Ja — ganz vorbei —“ Es war nur ein Hauch. Aber es zwang sie, es
-zwang sie: sie mußte aufsehen, mußte ihn ansehen.</p>
-
-<p>Und wie sie ihn ansah, im hellen Mondlicht in sein Gesicht sah,
-da wußte sie mit einem Male: es sind Harros Augen, die dir
-entgegenleuchteten, Harros ehrliche, offene Augen, die dir sagen: ‚Ich
-liebe dich!‘</p>
-
-<p>Es war ein jähes Erstaunen in ihr, daß sie die Ähnlichkeit nie vorher
-bemerkt hatte, ein jähes Erschrecken:<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> wie Merivaux wäre Harro
-geworden, wenn der Schnitter Tod ihn nicht hinweggerafft hätte — wie
-Harro mußte Merivaux gewesen sein, als er ein Kind, ein Jüngling war.</p>
-
-<p>Gleich einem Traumbild war’s, das plötzlich vor ihrer Seele emporstieg,
-das in ihrem Herzen noch einmal eine Saite aufklingen ließ, die sie für
-immer zersprungen wähnte.</p>
-
-<p>Sie standen und sahen sich in die Augen.</p>
-
-<p>Die Saite klang und hallte leise, rief wehmütig weiches Empfinden wach.
-Schmerzliches Erinnern und sanfte Zärtlichkeit. Ein Neues strömte
-auf sie ein, fremd und doch wohlvertraut. Das Glück vielleicht —
-vielleicht&#160;—</p>
-
-<p>Und da hatte er sie schon in seine Arme geschlossen, fest und innig ans
-Herz genommen, küßte sie und küßte sie wieder.</p>
-
-<p>Sie hatte die Augen geschlossen, wehrte ihm nicht, lag an seiner Brust.</p>
-
-<p>Seine Lippen fühlte sie, seine Wange an ihrer Wange, sein Atem ging
-über ihr Gesicht. Liebesworte hörte sie dicht an ihrem Ohr, zärtlich,
-flehend. Und ihr Blut pulste und rauschte. Immer enger umschloß sie
-sein Arm, seine Hand glitt sanft über ihren Nacken, über ihr Haar. Ihr
-Herz pochte. Pochte lauter und lauter. „Küsse mich!“ bat er. „Küsse
-mich!“</p>
-
-<p>Und sie küßte ihn.&#160;—</p>
-
-<p>Plötzlich schraken sie auseinander.</p>
-
-<p>Laute Stimmen kamen, hastige Schritte, wie im Lauf.</p>
-
-<p>Höhne mit einer Blendlaterne und einem Blatt Papier in der Hand.
-Unmittelbar hinter ihm Onkel Ernst, keuchend: „Helene! Helene!“</p>
-
-<p>Hand in Hand standen sie. Hand in Hand gingen sie ein paar Schritte ihm
-entgegen.</p>
-
-<p>Merivaux wollte sprechen, erklären.</p>
-
-<p>Aber Onkel Ernst warf nur einen flüchtigen Blick auf sie. Nun er dicht
-heran war, sahen sie sein erschrockenes Gesicht.</p>
-
-<p>Er keuchte noch immer. Mühsam nur brachte er es heraus: „Erschrick
-nicht, Helene ... wo hast du denn den<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> Brief, Höhne ... Helene, liebes
-Kind — der alte Rittmeister — dein guter Vater — ist plötzlich
-schwer — sehr schwer erkrankt&#160;—“</p>
-
-<p>Nach Onkel Ernsts Hand griff Helene, griff dann nach dem Brief. Höhne
-hob die Blendlaterne hoch, leuchtete&#160;—</p>
-
-<p>Der kleine Bogen flatterte auf den Kies.</p>
-
-<p>Einmal, ein einziges Mal schluchzte Helene auf und sank in Merivaux’
-Arme.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Zehntes_Kapitel">Zehntes Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>Als Helene nach Rohlbeck kam, war Vater bereits seit zwei Stunden
-verschieden. Ohne schweren Todeskampf war der alte Rittmeister
-hinübergegangen zu den ewigen Heerscharen. Martha führte die Schwägerin
-zu ihm. Er lag wie ein Schlafender auf seinem schmalen Bett. Auf dem
-Nachttisch standen zwei Lichter. Das Fenster des Sterbezimmers war
-geöffnet, nach altem märkischem Brauch. Die Kerzenflammen flackerten
-leicht in der Zugluft, und der wechselnde Reflex gab dem stillen
-Greisengesicht dann und wann den Schein des Lebens.</p>
-
-<p>Helene warf sich am Bett auf die Knie, griff nach Vaters Hand, schrie
-auf, drückte den Kopf neben Vaters Haupt in das Kissen, schluchzte
-und weinte. Sie wollte nicht glauben, daß Vater tot wäre. Sie konnte
-überhaupt keinen Gedanken fassen. Zum erstenmal in ihrem Leben stand
-das große ewige Rätsel des Vergehens vor ihr, und ihr war’s, als müßten
-ihr Schmerz und ihr Flehen den Vater erwecken können, als müßte Gott
-sich erbarmen und ein Wunder tun.</p>
-
-<p>Nicht fassen und nicht begreifen konnte sie auch dann, als Martha sie
-mit sanfter Gewalt emporhob, als der alte Heckstein kam und, selber mit
-tränenden Augen, tief ergriffen, ihr milden Trost zuzusprechen suchte.</p>
-
-<p>Nicht fassen und nicht begreifen konnte ihre leidenschaftliche Seele,
-daß es einen Trost geben sollte für solchen<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> Schmerz. Nicht fassen und
-nicht begreifen auch, wie ruhig und still die anderen waren. Mutter
-sogar. Die saß zwar am Fußende des Bettes, weinte dann und wann leise
-vor sich hin, aber sie fand doch Worte. Worte! Fragte, ob Wilhelm
-und Fritz benachrichtigt wären, ob das Läuten schon bestellt sei.
-Und Martha schaltete und waltete, dachte an alles, wollte Helene gar
-nachher drüben an den Kaffeetisch zwingen. Gott im Himmel! Hatten sie
-alle denn Vater so wenig lieb gehabt?</p>
-
-<p>Die Jungens standen scheu, verstört, mit roten Augen. Sie riß sie an
-sich — die mußten doch mit ihr fühlen! Ja, die Tränen saßen ihnen
-locker. Aber nachher schlichen sie auf den Zehenspitzen zu ihren
-Kaffeetassen. Und drüben lag Vater, Großvater, der sie so sehr geliebt
-hatte!</p>
-
-<p>„Martha! Martha, wie ist es denn nur möglich! Wie ist’s denn nur
-gekommen?“</p>
-
-<p>„Du mußt ruhiger sein, Lene. Ehre Gottes Willen! Er hat unserem lieben
-Vater doch ein so langes Leben und einen so sanften Tod geschenkt!“</p>
-
-<p>„Vater war so rüstig! Vater hätte noch zehn, zwanzig Jahre leben
-können. Martha, wie ist es gekommen?“</p>
-
-<p>Da sagte es Martha.</p>
-
-<p>Vater war ganz munter gewesen, hatte noch mit beiden Jungens selber die
-Posttasche geholt. Dann hatten sie um den runden Tisch gesessen, Vater
-bei der Zeitung&#160;—</p>
-
-<p>Martha stockte ein wenig. Aber es war nur wie ein zögerndes Atemholen.
-„Vater hat sich vielleicht über etwas in der Zeitung geärgert, hat auch
-geschimpft. Aber dann ist er aufgestanden und ist auf und ab gegangen
-— du weißt ja, wie alle Tage. Mutter hatte die Familiennachrichten
-vor sich. Ich häkelte. Siehst du — und da kommt Vater mit einem
-Male zu Mamachen, beugt sich ein wenig über sie und sagt: ‚Ich weiß
-nicht, Elisabeth, ich weiß nicht, mir ist so komisch, das heißt —‘
-und da fällt er auch schon vornüber. Grad, daß ich ihn noch auffangen
-konnte. Wir haben ihn gleich zu Bett gebracht.<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> Der Hans ist zum
-Pastor gelaufen. Vater hat noch ein paar undeutliche Worte gesprochen,
-lag dann still. Da schrieb ich schnell an dich und hab an Wilhelm
-depeschiert und einen reitenden Boten nach Stellberg geschickt zu Fritz
-und zum Doktor&#160;—“</p>
-
-<p>„Ja — ja — du hast an alles gedacht!“</p>
-
-<p>„Das mußte ich doch, Helene. Wer sollte es denn sonst? Und dann ist
-Papa sanft hinübergeschlafen. Ich war zuletzt allein bei ihm und hab
-ihm die Lider zugedrückt.“</p>
-
-<p>Helene hatte keine Träne mehr. Heiß brannten ihre Augen, aber der
-Tränenquell war versiegt. Sie starrte vor sich hin. Ja, sie waren alle
-so ruhig, waren alle so überlegt, so gefaßt. Als ob nur gerade ein
-Licht ausgelöscht wäre. Als ob nicht eine Lücke gerissen wäre in ihrer
-aller Leben, die sich nie, nie wieder füllen konnte. Nie — nie —
-nie&#160;—</p>
-
-<p>In den nächsten Tagen, bis zur Beerdigung, ging sie umher wie eine
-Träumende. Und nur wie durch einen Schleier sah sie alles, was um sie
-her geschah.</p>
-
-<p>Die Brüder kamen, standen mit gefalteten Händen an Vaters Bahre, hatten
-Tränen in den Augen, sprachen leise und gedämpft, saßen beieinander,
-küßten Mutter, beredeten allerlei mit Martha und Heckstein und Flehr.
-Martha brachte ein Trauerkleid: „Helene, du mußt verständig sein. Man
-darf sich auch dem tiefsten Schmerz nicht so leidenschaftlich hingeben.“</p>
-
-<p>Onkel Ernst kam und mit ihm Merivaux. Er drückte ihr die Hände, sprach
-sanft und lieb, wollte sie küssen. Sie schrak zusammen und entwand sich
-ihm. Sah ihn an fast wie einen Fremden, neigte dann den Kopf, ließ es
-sich gefallen, daß er ihre Hände hielt&#160;—</p>
-
-<p>Sie sah einen Wagen vorfahren, sah, wie der schwarze, florbespannte
-Sarg heruntergehoben wurde, und lief hinauf in ihr Zimmerchen, lief in
-dem hin und her, von einer Wand zur anderen, wohl eine Stunde lang.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p>
-
-<p>So fand sie Wilhelm. Er fragte, ob sie denn Vater nicht noch einmal
-sehen wollte, ehe der Sarg geschlossen würde.</p>
-
-<p>‚... ehe der Sarg geschlossen wird ...‘, klang es in ihr nach. Schrill
-und schneidend. Aber sie nickte, und da nahm sie der Bruder unter den
-Arm, stützte sie, sagte auch wie Martha: „Helene, du mußt verständig
-sein. Wir trauern doch alle um unseren guten Papa. Aber das Leben
-fordert seine Rechte. Man muß darüber hinfortzukommen suchen, und wenn
-es noch so schwer ist.“</p>
-
-<p>Sie nickte wieder, aber verstanden hatte sie kaum, was Wilhelm sagte.</p>
-
-<p>Dann, als sie draußen an der Treppe standen, begann er noch einmal,
-leise: „Sei gut zu Fritz. Der trägt’s am schwersten.“</p>
-
-<p>Verständnislos sah sie ihn an, bewegte die Lippen. Er mochte es für
-eine Frage nehmen.</p>
-
-<p>„Nun — er muß doch denken, daß Vater sich so aufgeregt hat, weil er
-sich bei der Ersatzwahl für den Kreis als fortschrittlicher Kandidat
-hat aufstellen lassen. Das hat Vater zuletzt in der Zeitung gelesen.
-Sei gut zu dem armen Fritz&#160;—“</p>
-
-<p>Sie hauchte ein Ja, aber recht verstanden hatte sie das auch nicht.
-Vater! Vater! Sie haben ja alle nichts als Worte.</p>
-
-<p>Und dann stand sie am offenen Sarge. Wie versteint zuerst. Sah auf das
-stille Greisengesicht, das ganz klein geworden schien, sah auf die
-weißen Locken, sah auf die wachsweißen Hände, zwischen die Martha ein
-Kreuzchen und einen kleinen Strauß blauer Vergißmeinnicht gelegt hatte.</p>
-
-<p>Sah dann langsam im Kreise herum, auf die Ihren, die um den Sarg
-standen. Und sie sah zum ersten Male in all den Gesichtern den heiligen
-Ernst und den tiefen Schmerz, erkannte zum erstenmal, daß sie alle von
-der selben Trauer erfüllt waren, wie sie.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span></p>
-
-<p>Ganz sacht ging sie zur Mutter hinüber, legte den Arm um ihre Schulter,
-küßte ihre Stirn. Trat an den Sarg — und da endlich kamen die Tränen.
-Sie lösten sich sanft, und sie konnte leise ein stilles Gebet sprechen.</p>
-
-<p>Auch Heckstein stand am Sarge seines alten Freundes.</p>
-
-<p>Als sie hinausgingen, lag Diana vor der Tür und winselte. Der Pfarrer
-beugte sich und klopfte dem Tier leise auf den Kopf, fast zärtlich:
-„Da reden die klugen dummen Menschen von der unverständigen Kreatur“,
-meinte er wehmütig und streichelte den Hund. „Kusch, Diana. Er hat dich
-auch lieb gehabt.“</p>
-
-<p>Dann schob er seine Hand unter Helenes Arm: „Komm, Kind, wir wollen
-einmal durch den Garten gehen.“</p>
-
-<p>Schweigend gingen sie bis zu den großen Kastanien, unter deren Schatten
-er mit dem alten Rittmeister so oft gewandelt war. Da bog er ein,
-drückte Helenes Arm: „Kind, sie haben mir erzählt, daß du wie von
-Sinnen bist. Das ist nicht recht von dir. Sieh mal, ich will dir nicht
-mit billigen Trostworten kommen und auch nicht mit Vorwürfen. Aber
-ich hab dich getauft und konfirmiert, da hab ich schon ein Recht, mit
-dir ein paar ernste Worte zu sprechen. Die Juden stellten Klageweiber
-an und zerrissen ihr Gewand und streuten Asche auf ihre Häupter. Wir
-Christen müssen und sollen den Tod anders anschauen. Er darf keinen
-Schrecken für uns haben. Uns ist er ja nichts als der Übergang aus der
-Weltlichkeit in die Ewigkeit. Und was könnten wir Schöneres wissen von
-einem geliebten Toten, denn: ihm ist wohl.“</p>
-
-<p>Sie schritt neben ihm, mit tief gesenktem Kopf.</p>
-
-<p>„Ich kenne dich ja, Helene“, sprach er weiter. „So warst du von klein
-auf: immer kochte es bei dir über, in der Freude und im Schmerz. Das
-Leben aber fordert ein Maßhalten. Du mußt dich beherrschen, auch grade
-jetzt. Denk’ nur daran, Kind, daß dein guter Vater nun nicht mehr ist.
-Denk’ mehr daran, wie lieb er dich gehabt hat. Ich kann’s dir sagen:
-du warst sein besonderer<span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span> Liebling. Noch in den letzten Tagen hat er
-mit mir so manches über dich gesprochen, in Zärtlichkeit und auch in
-Sorgen. Aber die Sorgen hab ich ihm ausgeredet, und dann leuchteten
-seine schönen blauen Augen: ‚Mein Spätling!‘ sagte er.“</p>
-
-<p>Ihre Hand bebte auf seinem Arm. „Onkel Pastor“, sagte sie ganz leise.
-„Ich hab Vater ja so sehr, so sehr liebgehabt. Ich kann gar nicht
-sagen, wie sehr. Aber nun quält mich der Vorwurf: ich bin nicht gut
-genug gegen ihn gewesen, ich bin nicht dankbar genug gewesen, ich —
-ich hab auch nicht das volle rechte Vertrauen zu ihm gehabt.“</p>
-
-<p>„Kind, so mußt du nicht denken. Denk’ nur daran, daß du ihn liebgehabt
-hast. Das ist genug und ist alles. Das andere: liebes Kind, es ist wohl
-aller Eltern Los, daß ihnen ihre Liebe nie ganz vergolten wird. Ein
-Kind <em class="gesperrt">kann</em> vielleicht Elternliebe und Elternsorgen nicht ganz
-vergelten, denn beide sind zu groß und zu unendlich. Aber danach fragen
-Elternherzen gar nicht. Die wollen nur wissen und fühlen, daß die
-Kinder sie liebhaben und gut tun in ihrem Sinn.“</p>
-
-<p>Wieder sagte sie: „Ich hätte doch mehr Vertrauen zu Vater haben sollen.“</p>
-
-<p>„Wenn Kinder groß werden, Helene, so gehen sie ihre eigenen Wege. Das
-ist nicht anders in der Welt und so vom lieben Gott gefügt. Es ist
-nicht nötig, daß sie dann jedesmal zu den Eltern kommen und fragen: bin
-ich auf dem rechten Pfad. Die Hauptsache ist, daß es vor ihrem eigenen
-Gewissen der rechte Weg ist.“</p>
-
-<p>Schweigend gingen sie ein Stück weiter, wandten sich und schritten
-langsam zurück. Da begann Heckstein wieder: „Der Rackower war gestern
-bei mir, Helene. Deinetwegen. Du weißt schon, weshalb?“</p>
-
-<p>„Ja, Onkel Pastor“, gab sie leise zurück.</p>
-
-<p>„Es ist jetzt eigentlich nicht die Stunde, um dir Glück zu wünschen,
-mein Töchterchen. Aber ich denke, ich kann’s doch. Gerade in Vaters
-Sinn, denn er hat sich nichts<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> sehnlicher für dich ersehnt, als einen
-guten braven Mann. Daß er’s erlebt hätte! Du hast ihn gewiß sehr lieb,
-deinen Neuchateller!“</p>
-
-<p>Da blieb Helene stehen. Sie sah zu Boden. Zwischen ihren Brauen grub
-sich die kleine schmale Falte ein.</p>
-
-<p>„Onkel Heckstein —“ sagte sie dann zögernd. „Ich weiß es nicht&#160;—“</p>
-
-<p>„Aber, liebe Helene!“</p>
-
-<p>In diesen letzten zwei Tagen war die Erinnerung an Merivaux, die
-Erinnerung an jene flüchtigen Minuten im Rackower Park wohl bisweilen
-durch ihren Sinn geglitten. Aber sie hatte das abgewehrt, wie sie sich
-ihm selber entzogen hatte. Nicht einmal abgewehrt vielleicht; es war
-aufgetaucht und untergegangen in ihrem leidenschaftlichen Schmerz, wie
-einzelne Regentropfen in einem Seespiegel verschwinden, ohne Spuren zu
-hinterlassen.</p>
-
-<p>„Aber, Helene!“ wiederholte Heckstein.</p>
-
-<p>Da richtete sie den Kopf hoch und sah ihn an. Ganz tief eingeschnitten
-stand die Falte zwischen den Brauen in dem gequälten, übernächtigten
-Gesicht. Aber in ihrer müden Stimme lag doch etwas wie Trotz.</p>
-
-<p>„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte sie noch einmal. „Laßt mir Zeit.“
-Und sie schluchzte kurz auf. Nur einmal. Dann kämpfte sie es herunter,
-griff nach den beiden Händen Hecksteins, drückte sie krampfhaft: „Dank,
-Onkel Pastor. Du hast mir doch wohlgetan! Dank!“</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*</p>
-
-<p>Das märkische Kirchlein, der kleine Friedhof hatte eine solche
-Trauerversammlung noch nicht aufgenommen. Nun erst erwies es sich,
-wieviel Liebe der alte Rittmeister, der schlichte Mann, im ganzen
-Kreise und darüber hinaus besessen hatte. Heckstein hatte recht, wenn
-er in seiner einfachen Rede betonte: er ist heimgegangen zum ewigen
-Frieden und hinterläßt auf Erden keinen Feind.</p>
-
-<p>Von weit her kam der Landadel. Aber es kamen auch die Bauern und
-Kossäten aus den nächsten Dörfern mit Weib und Kind. An diesem Tage
-ließen sie die Arbeit<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> allenthalben ruhen, um dem Herrn auf Rohlbeck
-die letzte Ehre zu erweisen. Und aus den kleinen Städten kam von den
-Beamten und den Gewerbetreibenden, wer immer mit den Hackentins in
-Verbindung gestanden hatte.</p>
-
-<p>In der Mitte der Kirche stand, von dem reichen Segen der sommerlichen
-Gärten verhüllt, der schwarze Sarg. Obenauf lagen die wenigen Orden.
-Die kostbarsten obenan: das Eiserne Kreuz und das russische St.
-Georgskreuz, das Hackentin sich bei Kulm Anno dreizehn erkämpft hatte.</p>
-
-<p>Kurz und kernig sprach der Pfarrer, die eigene Ergriffenheit
-niederringend, vom Altar aus. Er zeichnete das Charakterbild des
-Verewigten: ein rechter und echter märkischer Edelmann, getreu seinem
-König, treu der Scholle, die ihn trug; herzensgut und hilfsbereit, ein
-guter Gatte, ein guter Vater, ein guter Patron, seinen Leuten allezeit
-ein guter Herr; tapfer im Kriege, bescheiden im Frieden. Gott vor Augen
-und im Herzen. „Manche werden vielleicht sagen und sprechen: es war
-kein reiches Leben. Die Toren! Gewiß, es war kein Leben, erfüllt mit
-äußeren Ehren. Es war kein Leben, emporgetragen durch großes Streben.
-Es war kein Leben voll Prunk und Glanz. Klein war der Kreis, in dem
-er wirkte, er, den ich durch nun fünfunddreißig Jahre meinen liebsten
-Freund nennen durfte. Aber er füllte diesen engen kleinen Kreis durch
-die Liebe seines großen, grundgütigen Herzens. Darum trauern wir alle
-so tief um ihn, darum will uns die Lücke, die Gottes unerforschlicher
-Ratschluß riß, als nimmer ausfüllbar erscheinen. Ich sage euch: es
-war ein reiches, gesegnetes Leben, und in reichem Segen bleibt uns
-sein Gedächtnis. Unser Herr und Gott, der dem lieben Verewigten dies
-Leben schenkte bis in das Greisenalter hinein, ohne daß des Alters
-Beschwerden an ihn herantraten, gab ihm auch einen gnädigen schnellen
-Tod sonder Schmerzen, und er hat ihn in Gnaden aufgenommen in sein
-himmlisches Reich. Amen.“</p>
-
-<p>Die Orgel setzte ein. Und über den heut hundertstimmigen<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> Chor hinaus
-sang die Tochter dem Vater das Lied von Ernst Moritz Arndt, das er sich
-schon vor Jahren von seinem Freunde Heckstein für diesen Tag erbeten
-hatte:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Geht nun hin und grabt mein Grab,</div>
- <div class="verse indent0">Denn ich bin des Wanderns müde.</div>
- <div class="verse indent0">Von der Erde schied ich ab,</div>
- <div class="verse indent0">Denn mir ruft des Himmels Friede,</div>
- <div class="verse indent0">Denn mir ruft die süße Ruh’</div>
- <div class="verse indent0">Von den Engeln droben zu —“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Dann segnete der Pfarrer den Sarg ein. Sechs alte Soldaten, märkische
-Bauern, trugen ihn hinaus unter den breitästigen Maulbeerbaum, der
-einst auf Befehl Friedrichs des Einzigen gepflanzt worden war,
-hinaus zu der langen Reihe der Gräber, die sich um das kleine uralte
-Erbbegräbnis scharten.</p>
-
-<p>Nur wenige Worte konnte Heckstein hier sprechen. Dann brach ihm, der
-sich so tapfer gehalten, die Stimme. Langsam sank der Sarg in die Gruft.</p>
-
-<p>Wie eine schwarze Mauer stand dichtgedrängt die Masse der
-Leidtragenden. Ein kurzes Schluchzen, ein verhaltenes Weinen und wieder
-tiefe, tiefe, ehrfurchtsvolle Stille.</p>
-
-<p>Als Erste dann wankte die gebeugte Greisin am Arm des ältesten Sohnes
-an das offene Grab, warf drei Hände Heimaterde in die Gruft. Und sie
-folgten alle — alle — zum letzten Abschiedsgruß.</p>
-
-<p>Bis dann die Landwehrmänner, einer noch mit dem Kreuz von Eisen, drei
-mit dem Düppelkreuz auf den langen schwarzen Bauernröcken, herantraten,
-die Jagdflinte in der Hand, und dem Kameraden die drei Ehrensalven über
-das Grab schossen.</p>
-
-<p>Als die letzte Salve verhallt war, sprach Graf Grucker, der neben dem
-Pfarrer stand und ihm liebevoll die Hand gereicht hatte: „Mir ist’s,
-als hätten wir mit unserem guten Hackentin die alte Zeit begraben. Nun
-kommt wohl eine neue herauf. Daß sie nur gut wird — meine Hochachtung
-— die neue Zeit!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span></p>
-
-<p>Heckstein sah zu ihm empor mit schimmernden Augen: „Das walte Gott!“</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*</p>
-
-<p>Helene hatte ihre eigene Schwäche gefürchtet und die Leidenschaft ihres
-Schmerzes. Daß sie zusammenbrechen würde oder aufschreien, mitten im
-Gotteshause, an der offenen Gruft. Und doch war sie ganz gefaßt, ganz
-ruhig gewesen unter der Heiligkeit von Ort und Stunde. Der wehe Schmerz
-war zur sanften Trauer gewandelt, und als sie in das kleine Kirchlein
-trat, hob sie die Weihe des Augenblicks über alles Irdische empor. Die
-Orgel klang, und fest setzte ihre Stimme ein, dem geliebten Vater zur
-letzten Ehre.</p>
-
-<p>Es tat ihr wohl, daß sie alle gekommen waren, unendlich wohl die Liebe
-und Verehrung, die ihm galt. Eine stille wehmutsvolle Freude war in
-ihr, daß durch die Kirchenfenster die strahlend helle Sonne leuchtete.
-Als ob Gott es mit Vater noch heut besonders gut meinte.</p>
-
-<p>Ganz ruhig, ganz gefaßt war sie in all ihrer Ergriffenheit.</p>
-
-<p>Einmal nur wollte ihre Kraft schwinden. Als der Sarg langsam in die
-Gruft glitt. Vielleicht sah man’s ihr an, vielleicht schwankte sie. In
-dem Augenblick suchte eine feste Hand die ihre, und sie war wie eine
-gute Stütze. Nur ganz dunkel empfand sie, daß Merivaux neben ihr stand,
-mitten unter ihren Nächsten, daß er es war, der ihre Hand ergriffen
-wie mit wortlosem Zuspruch. Aber sie ließ sie ihm, trat mit ihm an
-die Gruft, und so gaben sie gemeinschaftlich dem Vater den letzten
-Erdengruß.</p>
-
-<p>Während sie langsam, inmitten der Trauerversammlung, über den Dorfanger
-schritten, drückte er noch einmal innig ihre Hand, und dankbar empfand
-sie, daß er nicht zu ihr sprach. Daß er nicht unter denen blieb,
-die von weit her gekommen waren und nun nach ländlichem Brauch mit
-hinübergingen in das Elternhaus.</p>
-
-<p>Weit denen voraus floh sie in ihr kleines Zimmer unter dem Dach&#160;—&#160;—</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p>
-
-<p>Und nun war alles vorüber, das Leben pochte wieder an die Tür mit
-seinen alltäglichen Forderungen und seinen Rechten.</p>
-
-<p>Es gab vielerlei zu ordnen und zu besprechen, wie immer, wenn der
-Tod das Haupt einer Familie abberufen hat. Die beiden Brüder saßen
-zusammen über Büchern und Papieren, rechneten und rechneten mit heißen
-Köpfen. Dann wurden Martha und Helene hinzugezogen. Das Resultat war
-bedrückend. Von Jahr zu Jahr waren die Erträge von Rohlbeck geringer
-geworden; wenn man die Hypothekenschuld abzog, blieb nur ein kleiner
-Überschuß. Der sollte, dafür hatte vor allem Fritz gesorgt, für Helene
-gesichert werden. Nicht viel mehr war’s, als einmal eine knappe
-Ausstattung.</p>
-
-<p>Rohlbeck war kein Lehngut. Deshalb hatte Wilhelm dafür gesprochen, den
-Besitz zu verkaufen. Aber da war es wieder Fritz, der sich dagegen
-ereiferte. Merkwürdigerweise.</p>
-
-<p>In all den Tagen seit Vaters Tod war der Kreisrichter sehr still und
-in sich gekehrt gewesen. Er mochte nicht loskommen können von der
-schmerzlichen Empfindung, daß sein politisches Auftreten Vater in
-dessen letzten Stunden zum mindesten sehr stark erregt hatte. Zwar
-sprach niemand mit ihm, und auch er sprach mit niemand darüber. Aber
-in seinem Herzen lebte wohl die starke Empfindung, daß er gegen die
-Geschwister doppelt gut sein müßte.</p>
-
-<p>So verzichtete er sofort auf jedes Erbteil und auch auf die kleine
-Zulage, die er bisher von Vater erhalten hatte. Als Wilhelm dann die
-Frage des Verkaufs aufs Tapet brachte, erklärte er sich dagegen: „Ich
-weiß ja, ihr werdet erstaunt sein. Ich weiß ja, wie ihr über meine
-politische Richtung denkt, daß ihr mich bisweilen vielleicht als einen
-Renegaten, als ein verlorenes Glied der Familie Hackentin angesehen
-habt. Still — Wilhelm, wir wollen daran nicht weiter rühren. Aber das
-sage ich euch: in mir lebt ein starker Familiensinn, und in mir lebt
-auch die Treue zur Heimaterde. Mit meiner Zustimmung<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> wird Rohlbeck
-nicht verkauft, sondern für euren Ältesten erhalten.“</p>
-
-<p>Martha war zu Tränen gerührt. Ganz in ihrem Sinne hatte Fritz
-gesprochen. Sie streckte dem Schwager die Hand hin: „Dank, Fritz,
-vielen, vielen Dank!“</p>
-
-<p>Also nicht verkaufen, aber verpachten: das allein blieb schließlich
-übrig. Und Omama sollte mit Wilhelms nach Berlin ziehen.</p>
-
-<p>Die alte Gnädige saß nun längst wieder auf ihrem Traumplatz am
-Fenster der großen Stube. Man merkte ihr vielleicht am wenigsten an,
-welches Leid über dies Haus gekommen war. Manchmal schien sie ganz
-interesselos, murmelte undeutlich vor sich hin; dann schien es, als ob
-sie nur Sinn für Äußerliches hätte: „Also Adolf Grucker war da? Und der
-Landrat? Artenaus auch — so — haben sie denn auch alle ordentlich
-zu essen bekommen, liebe Martha?“ Oder: „Heckstein wird recht alt.
-Er hätte wirklich mehr von Papachens Kriegstaten einflechten sollen,
-Anno dreizehn und so.“ Oder: „Helene steht die Trauer recht gut.
-Hatte Mariechen eigentlich Crêpe de Chine an?“ Manchmal aber rief sie
-plötzlich Diana zu sich ans Fenster und sprach mit dem Hunde fast wie
-mit einem Menschen. „Ja, Diana, das Herrchen! Ich weiß ja, manchmal war
-er hart zu dir. Zu mir auch. Aber geliebt haben wir ihn beide. Nicht
-wahr?“ Dann saß Diana dicht am Nähtisch, hatte den klugen Kopf weit
-vorgestreckt und winselte leise.</p>
-
-<p>Sie hatten sich alle davor gefürchtet, Omama das Resultat ihrer
-Beratungen mitzuteilen; kam es ihnen doch wie ein Wagnis vor, dies
-Verpflanzen der Greisin nach Berlin. Merkwürdigerweise nahm sie alles
-ganz gelassen auf. „Tut nur, was notwendig ist. Auf mich nehmt keine
-Rücksicht“, sagte sie zuerst. Aber ein paar Stunden später winkte sie
-Martha zu sich und begann von Berlin zu sprechen. Von dem Berlin vor
-vierzig Jahren freilich: von König Friedrich Wilhelm dem Dritten und
-von seiner schönen Schwester Charlotte, der Kaiserin von Rußland.<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span>
-Ob man mit der Post bis zur Königstraße führe? Ob Jagor noch das
-erste Restaurant sei? Damals hätten sie immer im „Roten Adler“ in der
-Kurstraße gewohnt. Und ob Spontini noch lebte — das müßte Helene doch
-wissen. Den hätte sie einmal seinen „Nurmahal“ dirigieren sehen ...
-Helene mußte wirklich kommen, und Mutter redete von Iffland und von
-der Stich und dann von der Henriette Sonntag — immer fast, als ob sie
-gestern die gesehen hätte, und ob Kotzebues „Johanna von Montfaucon“
-noch gegeben würde? Fast, als wäre die Gegenwart ausgelöscht in ihrem
-Gedächtnis, und als lebte sie nur noch der Erinnerung an längst
-vergangene Tage.</p>
-
-<p>Wilhelm fühlte sich jetzt ein wenig als Haupt der Familie.</p>
-
-<p>Als solcher sprach er auch mit der Schwester über Merivaux.</p>
-
-<p>Zum ersten Male bei der Erörterung über ihr Erbteil. Ganz nebenbei:
-„Gottlob, daß dein Bräutigam in einer so guten Assiette ist, Helene.“
-Da war sie hochgefahren, das Blut schoß ihr in das Gesicht, und sie
-sagte nur, scharf und knapp: „Das, bitte, laßt jetzt!“</p>
-
-<p>Aber ein paar Stunden darauf kam Wilhelm auf ihr Zimmer. Etwas
-feierlich, etwas väterlich und ein wenig verlegen: „Ich muß doch
-mit dir reden, liebe Helene. Möchte dir vor allem, ganz im stillen,
-herzlich gratulieren. Merivaux ist ein Prachtmensch, ich hab ihn immer
-sehr gern gehabt. Nun — und ich kann’s ja wohl sagen — früher hatten
-wir auch so manchmal heimlich gedacht — ja! — die Rackower hatten uns
-so Andeutungen gemacht. Wir hatten’s dann aufgegeben. Desto besser, daß
-es nun doch wahr geworden ist. Es ist ja ein trauriges Zusammentreffen
-mit Papas Tod — zu traurig für euch beide. Aber überlegt muß das doch
-nun werden, ob eure Verlobung jetzt offiziell werden soll.“</p>
-
-<p>Sie stand am Fenster und sah auf den Wirtschaftshof hinaus und das
-Winkelchen Garten, das sich rechts anschloß. Wandte dem Bruder das
-Gesicht nicht zu —<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> wozu sollte er sehen, wie das Blut darin kam und
-ging! — und antwortete nicht.</p>
-
-<p>Er sprach auch gleich weiter: „Ich weiß selber nicht recht, ob es nicht
-taktvoller wäre, wenn ihr damit mindestens ein paar Wochen wartet? Ist
-es dir recht, wenn ich mit Merivaux darüber spreche? Er hat sich zu
-heut nachmittag bei mir ansagen lassen.“</p>
-
-<p>Da schrak sie zusammen und entgegnete fast heftig: „Bitte — nein! Ich
-muß selber mit — mit ihm sprechen.“</p>
-
-<p>Wilhelm lachte leise: „Wie aufgeregt du bist! Natürlich sollst du
-selber mit ihm sprechen. Wer sollte dir denn das wehren?“ Und nach
-einer Weile: „Du bist doch ein wunderliches Menschenkind, Lene. Läßt
-mich hier stehen und reden und siehst mich nicht an. Ich könnte fast
-glauben, du hast etwas gegen mich.“</p>
-
-<p>Nun endlich wandte sie sich langsam um, immer noch wortlos. Und da trat
-er dicht zu ihr, legte seine Hände auf ihre Schultern: „Aber wie siehst
-du denn aus, Lene? Sieht so eine glückliche Braut aus!“</p>
-
-<p>„Glücklich —“, sagte sie schwer.</p>
-
-<p>Er verstand es falsch. „Ja, freilich! Armes Kind! Sei nicht böse. Man
-vergißt manchmal auf Momente&#160;...“</p>
-
-<p>Dann war er gegangen.</p>
-
-<p>Und Helene begann wieder ihre stumme Wanderung durch das kleine Zimmer,
-von einer Wand zur anderen. Immer tiefer grub sich dabei die Falte
-zwischen ihre Brauen ein. Immer trüber und schmerzlicher wurde der
-Ausdruck ihres Gesichts. Aber auch immer entschlossener.</p>
-
-<p>Bis sie hinunter ging, um Merivaux zu empfangen.</p>
-
-<p>Sie bat Martha, es so einzurichten, daß sie ihn gleich allein sprechen
-könnte. Die Schwägerin sah ihr erschrocken ins Gesicht. „Aber ...
-Helene ...“ Da sagte sie: „Bitte, liebe Martha, quäle mich nicht. Ich
-habe schwer genug zu leiden.“ Und der Ton ihrer Worte war wohl so
-bestimmt, daß Martha nur leise aufseufzte: „Ich meinte es gut. Geh in
-Vaters Zimmer. Ich werde Merivaux zu dir führen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p>
-
-<p>Wohl eine Viertelstunde mußte sie in dem kleinen Raum warten, den Vater
-als sein eigentliches Heiligtum betrachtet hatte. Die Kinder, die Enkel
-hatten ihn selten betreten dürfen. In ihrer Stimmung aber empfand
-Helene doppelt eindringlich das Persönliche in diesem Zimmer. Die fast
-spartanische Einfachheit seiner Ausstattung, die vom Dorftischler
-gefertigten birkenen Stühle, das steife Roßhaarsofa, der gewaltige
-Schreibtisch, den Vater seiner Größe halber immer die „Kossätenscheune“
-genannt hatte: das alles erinnerte sie an ihn, stimmte sie wehmütig.
-An der Wand hingen ein paar Familienbilder. Einmal, als sie noch ein
-Kind war, hatte er ihr die erklärt: „Das da war mein Herr Vater, Helene
-— das heißt, wir mußten ja damals zu unseren Eltern Sie sagen und
-Herr Vater und Frau Mutter. War auch ein gestrenger Herr, gegen uns
-Kinder, gegen alle Leute. Ich hab’s noch mitansehen müssen, daß er
-einen Knecht peitschen ließ, bis der ganze Rücken blutig war, und uns
-hat er auch oft genug mit der Karbatsche gezüchtigt. Ein gestrenger,
-ein harter Herr — das heißt, mit allem Respekt zu sagen. Aber es ist
-doch besser, wenn der Mensch ein weiches Herz hat. Man soll seinem
-Mitmenschen nichts zuleide tun, wenn man es vermeiden kann. Man soll
-auch mal ein Opfer bringen können deshalb. Merke dir das, mein Kind.“
-Und da hing auch die Silhouette der schönen Tante Charlotte, die sie in
-der Familie das Bild ohne Gnade hießen — Tante Charlotte Hackentin,
-die um die Wende des Jahrhunderts Hofdame bei der Prinzessin Wilhelm
-gewesen war und von der die Sage ging, daß sich ihrethalben der Graf
-Hoym erschossen hätte.</p>
-
-<p>Eine Weile stand Helene vor den Bildern.</p>
-
-<p>Dann wandte sie sich ab und schüttelte den Kopf. Nein — es war
-töricht, Vergleiche und Folgerungen ziehen zu wollen. Töricht, kindisch
-war’s. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich. Das war es, nichts
-anderes.</p>
-
-<p>Und da trat auch schon Merivaux ins Zimmer, kam auf sie zu, faßte ihre
-beiden Hände, sah ihr tief in die<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> Augen: „Liebe ’elene, liebe Helene,“
-sagte er, „wie schwer hast du gelitten! Ich hab immerzu — immerzu nur
-an dich gedacht. Liebe Helene&#160;—“</p>
-
-<p>Er küßte ihre Hände. Er wollte sie an sich ziehen.</p>
-
-<p>Da bog sie sich weit zurück.</p>
-
-<p>„Helene“, rief er. Erstaunt, erschrocken. Aber dann kam ein Lächeln auf
-sein Gesicht, ein kleines, zärtliches, schmerzliches Lächeln. Er küßte
-ihr noch einmal die Hand. „Arme, liebe ’elene“, sagte er wieder. „Oh,
-ich weiß, wenn ich meinen alten Papa hätte begraben müssen, ich würde
-auch nicht zu trösten gewesen sein&#160;...“</p>
-
-<p>Er suchte ihren Blick. Sie wandte das Gesicht zur Seite.</p>
-
-<p>„... aber wenn dein Papa auf uns herabsieht ... ganz gewiß, Helene ...
-er würde uns segnen.“ Und nach einer Weile: „Sieh mich doch nur einmal
-an. Ich hab solch eine große Sehnsucht gehabt nach dir ... solch eine
-Sehnsucht. Ich hab dich ja so lieb!“</p>
-
-<p>Immer noch hielt er ihre beiden Hände.</p>
-
-<p>Zuerst hatte er Deutsch gesprochen. Nun strömten ihm, unbewußt wohl,
-die Laute seiner Muttersprache über die Lippen. „Manchmal denk ich,
-wie ich nur hab leben können ohne dich? All die Zeit, diese langen
-zwei Jahre! Lange, schwere Jahre, Helene! Und dann, endlich, endlich,
-neulich das Glück. Kaum getraut hab ich mich noch zu hoffen. Aber da
-war es mit einem Male, ein Geschenk des Himmels, dein Geschenk, Helene.
-Das Glück, das Glück, — deine Liebe!“</p>
-
-<p>Und mit einem Male sprach er wieder Deutsch. „Sag’ einmal, einmal nur:
-ich hab dich lieb, Gaston ... Gaston ... hörst du ... Gaston, ich hab
-dich lieb&#160;...“</p>
-
-<p>Was hatte sie ihm nicht alles sagen wollen?! Wie hatte sie sich das
-alles überlegt! Ruhig, verständig: ‚Es war ein Rausch, Herr von
-Merivaux, der Rausch eines Augenblicks. So sehr ich mich schäme, ich
-muß es Ihnen gestehen. Um Ihretwillen; ich bin es Ihnen schuldig. Ich
-habe eine aufrichtige Zuneigung zu Ihnen, aber nicht mehr. Das langt
-nicht für das Leben. Wenn Sie mir<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> zürnen, muß ich es tragen als die
-Schuldige. Nur verachten Sie mich nicht.‘ Das alles hatte sie ihm sagen
-wollen, und noch viel mehr. Ruhig, verständig, gewissenhaft. Ganz
-scharf hatte sie es sich überlegt und erwogen.</p>
-
-<p>Und nun brachte sie kein Wort über die Lippen.</p>
-
-<p>Seine zartfühlende Art lähmte sie. Die innige Liebe, die aus seinen
-Worten, aus seinem Wesen sprach, lähmte sie. Ihr Wille schmolz dahin.
-Und sie dachte nur das eine: ‚Mein Gott, wie soll das werden?‘ Dachte
-in tiefster Herzensangst: ‚Du kannst ja nicht nein sagen! Du hast ja
-nicht die Kraft, ihm diesen Schmerz zuzufügen.‘</p>
-
-<p>Dann hörte sie wieder: „Ansehen sollst du mich, liebe Helene. Nur
-einmal ansehen!“</p>
-
-<p>‚... Du hast nicht die Kraft, du hast wohl auch nicht das Recht! Was
-kommt es denn auf dich an? Denke nicht an dich, denke an ihn! An seine
-große Liebe!‘</p>
-
-<p>„Sag’ einmal: Gaston, ich ’ab dich lieb&#160;...“</p>
-
-<p>Es klang so rührend, es klang so gut! Und sie war doch nun einmal die
-Schuldige, die Schuldige geworden vor fünf Tagen, oben im Rackower
-Park, im Mondenschein. Damals hätte sie sich wehren müssen, fliehen,
-flüchten. Nun war es zu spät. Nein sagen, jetzt: es wäre eine
-Unbarmherzigkeit gewesen und ein Unrecht. Er hätte sie verachten müssen
-— oder es hätte ihn in die Verzweiflung gestürzt. Aus Mitleid mit ihm
-schon durfte sie nicht nein sagen&#160;...</p>
-
-<p>„Einmal nur: Gaston, ich ’ab dich lieb&#160;...“</p>
-
-<p>Ganz langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu.</p>
-
-<p>Und stammelnd, wie ein Kind, sprach sie: „Ich, ich hab dich lieb&#160;...“</p>
-
-<p>„Sag’: Gaston!“</p>
-
-<p>„... Gaston&#160;...“</p>
-
-<p>Da nahm er sie in die Arme und küßte ihr die Tränen aus den Augen.</p>
-
-<p>Acht Wochen später gingen die Verlobungsanzeigen ins Land.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p>
-
-<p>Wilhelms waren nun längst wieder in Berlin, Omama und Helene mit ihnen.</p>
-
-<p>Man hatte sich etwas stark einschachteln müssen in der Wohnung. Helene
-mußte mit der Mutter ein Zimmer teilen; der Flügel war in Wilhelms
-Arbeitszimmer untergebracht worden. Eng war es, aber Martha wußte für
-alles Rat. Sie freute sich der Omama wie eines lieben Vermächtnisses,
-betreute und verhätschelte sie und wurde nur, dann und wann, ein
-wenig ungnädig, wenn sie die Jungens gar zu sehr verzog, ihnen zur
-unrechten Stunde eines ihrer unzähligen Hausmittelchen eindoktern
-wollte, oder wenn Omama sich an ihrer Nähmaschine zu tun machte. Denn
-diese Nähmaschine, die ihr Wilhelm kürzlich geschenkt hatte, war ihr
-etwas wie ein Heiligtum. Sie kostete freilich auch fast genau hundert
-Taler, und alle bekannten Damen kamen, um das neue Wunder anzustaunen,
-das die Singer-Kompanie gerade erst in Preußen einzuführen begonnen
-hatte. Omama konnte wohl ein Viertelstündchen dem Spiel des blanken
-Schiffchens zusehen; dann aber ging sie meist, kopfschüttelnd, zu
-ihrem Sorgenstuhl an das andere Fenster und schaute auf den Platz vor
-der Halleschen Brücke hinaus; wenn dort zwei Omnibusse hielten, drei
-Torwagen ihres Wegs zogen und ein halbes Dutzend Menschlein hasteten,
-dann sagte sie: „Liebes Kind, welch eine Cohue! Welch eine Cohue!“ Und
-sie schüttelte dabei die ewig kohlschwarzen, an jedem Morgen mit dem
-Tolleisen gebrannten Locken, die zu zwei und zwei rechts und links an
-ihren Schläfen wie Perpendikel hin und her schwangen.</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p>Einige Tage nach der Ankunft in Berlin war der alte Herr von Merivaux
-gekommen, um die Braut seines Sohnes zu begrüßen. Ein stattlicher,
-vornehmer Herr, mit einem rosigen Gesicht, langem, weißem Schnurrbart
-und weißem Henriquatre; im Knopfloch seines schwarzen Gehrocks<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> trug er
-ostentativ das Bändchen des Roten Adlerordens.</p>
-
-<p>Er war herzlich zu Helene, ein wenig zurückhaltend Wilhelms gegenüber.
-Helene hatte die Empfindung, als ob er bisweilen seine Augen etwas
-erstaunt, etwas enttäuscht über die einfache Einrichtung schweifen
-ließe, und sie straffte sofort den Nacken: sollte ich ihm vielleicht
-nicht gut genug sein, hat er eine reiche Schwiegertochter erwartet?
-Aber sie mußte bald erkennen, daß sie sich getäuscht hatte. Der alte
-Herr entwickelte eine herzgewinnende natürliche Liebenswürdigkeit.
-Er sagte ihr die reizendsten Artigkeiten, erklärte, daß er sehr
-erfreut wäre, eine preußische Aristokratin, eine Tochter aus so alter
-märkischer Familie, zur Schwiegertochter zu erhalten — fügte lächelnd
-hinzu: „Daß mein neues Töchterchen <em class="gesperrt">so</em> schön ist, konnte ich
-freilich trotz Gastons Enthusiasmus nicht ahnen.“ Und dann kam die
-Frage, die sie gefürchtet hatte. Wieder mit einem leichten Lächeln:
-„Junge Leute haben es immer eilig, und sie haben recht. Man kann nicht
-früh genug ganz glücklich werden. So darf ich gewiß fragen, ob Sie
-schon den Termin der Hochzeit festgesetzt haben?“</p>
-
-<p>Sie schöpfte tief Atem. „Keinesfalls — vor Ablauf des Trauerjahres“,
-sprach sie dann rasch und entschieden. Im gleichen Augenblick sah
-sie, wie Gaston errötete, daß Wilhelm, der der französisch geführten
-Unterhaltung nur mühsam folgen konnte, wie abwehrend die Hand hob.</p>
-
-<p>Aber da verbeugte der alte Herr sich schon gegen sie: „Pardon ...
-ich muß wirklich sehr um Verzeihung bitten. Ihr Entschluß ehrt Ihre
-Gesinnung, liebe Tochter. Eine gute Tochter wird stets auch eine gute
-Frau. Sie haben durchaus recht. Gaston wird sich bescheiden müssen, so
-schwer das seiner Liebe gewiß ist.“</p>
-
-<p>Gaston mußte sich bescheiden&#160;—</p>
-
-<p>Er mußte sich überhaupt bescheiden: Helene war eine sehr spröde, eine
-herbe Braut. Sie war zu verständig, seiner Zärtlichkeit zu wehren, aber
-sie erwiderte sie nicht.<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> Ein Dulden war’s, nie ein Geben. Und dann und
-wann kamen Stunden, in denen sie sich ihm ganz zu entziehen suchte, wo
-ihre Herbheit zur Härte wurde, ihre Kühle zur eisigen Kälte.</p>
-
-<p>Einmal sagte ihr Martha: „Nimm mir’s nicht übel, Lene, aber ich muß
-dir die Leviten lesen. Du bist eine merkwürdige Braut! Hast du denn
-Fischblut in den Adern? Oder ist es ein kokettes Spiel, das du mit
-Gaston treibst? Ich an seiner Stelle ... ich ließe mir das einfach
-nicht gefallen.“</p>
-
-<p>Merivaux hatte den Abend bei Wilhelm zugebracht. Als er aufbrach,
-geleitete Helene ihn gerade bis an die Zimmertür. Er stand wartend,
-ihre Hand in der seinen, mit einem bittenden Lächeln: „Nun ... du
-kommst doch noch einen Moment mit hinaus, ’elene?“ Da hatte sie den
-Kopf geschüttelt: „Geh nur! Gute Nacht!“</p>
-
-<p>Jetzt saß sie in dem alten Ohrenwangenstuhl, der von Rohlbeck aus
-mitgewandert war, den Kopf ganz in die eine Ecke gedrückt, und Martha
-stand vor ihr, im sonst so ruhigen Gesicht den ehrlichen Zorn.</p>
-
-<p>„Nein, ich ließe es mir wahrhaftig nicht gefallen! Ein so lieber Mensch
-ist Gaston. Immer gleich artig, immer aufmerksam. Und immer aufs neue
-sieht man, wie er dich liebt. Und du — wenn ich’s nicht besser wüßte,
-möchte ich sagen: ein Eisblock bist du. Wenn er nur mal ordentlich
-aufbrausen wollte! Dir deinen Kopf zurechtsetzen! Ich gönnte es dir!“</p>
-
-<p>Ganz fest drückte Helene den Kopf gegen das harte Polster. Die Augen
-hatte sie geschlossen.</p>
-
-<p>„Manchmal möchte man wahrhaftig glauben, du hättest Gaston nicht lieb!“</p>
-
-<p>Die beiden Hände preßte Helene auf die Armlehne. Die schmale Falte
-zwischen ihren Brauen grub sich tief ein.</p>
-
-<p>Und dann stand sie plötzlich auf, legte ihre Hände auf Marthas
-Schultern: „Quäle mich nicht! Ich bin so müde!“ sagte sie. „Schlaf
-wohl — wenn du kannst!“ und ging hinaus. Ging in ihr Zimmer, das
-sie mit Omama teilen<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> mußte. Die lag schon im Bett, konnte aber nie
-einschlafen, ehe die Tochter kam, und redete dann immer noch allerlei.
-Halb waren’s Monologe, halb war’s an Helene gerichtet.</p>
-
-<p>„Dein Gaston ... ja ... dein Gaston! Anno dreißig oder einunddreißig
-war ich in Karlsbad. Da lernte ich einen jungen Grafen Meerwedt
-kennen. Auch so chevaleresk wie dein lieber Gaston. Da haben wir
-einmal eine Partie in den Wald gemacht. Der Herr von Auerswald hatte
-die entrepreniert ...“ Dann kam ein halblautes Lachen ... „und da war
-eine junge Komteß Adelau, und mit einem Male war der Meerwedt und sie
-verschwunden, und dann fanden wir sie, gerade als er sie embrassierte
-... Ja, die Jugend!“</p>
-
-<p>Nun hatte sie schon Mutter gute Nacht gesagt und das Licht gelöscht.
-Da fing Omama noch einmal an, kicherte ein wenig und sagte: „Hörst du
-noch, Lenchen? Ich wollt nur sagen: vor dem guten Papa durft ich ja nie
-davon reden. Der war ja immer so komisch, wenn ich von Körner erzählte.
-Ja, wie war das doch nur? Ich find’s wohl nicht mehr recht zusammen.
-Wie war das doch nur?“</p>
-
-<p>Ein Weilchen schwieg Omama. „Richtig, Lene, jetzt hab ich’s. Hörst
-du? Es ist so hübsch, was der Theodor sagt: Drum leb’, wer das Küssen
-und Lieben erdacht ... ja ... wer das Küssen erdacht ... Ich war auch
-einmal jung ... Küßt du ihn gern, deinen lieben Gaston?“</p>
-
-<p>Ein leises Kichern wieder, ein halblautes: „Ja ... die Jugend ...“ Bald
-kamen die tiefen, ruhigen Atemzüge. Omama schlief. Gewiß lag auf ihrem
-guten Antlitz zwischen all den Runzeln und Fältchen ein Lächeln der
-Erinnerung.</p>
-
-<p>Aber Helene fand und fand keinen Schlaf, bis der Morgen graute. Auf ihr
-lastete die Gegenwart, und sie fürchtete sich vor der Zukunft.</p>
-
-<p>Wie sie alles jetzt hinausschob, hinauszögerte, als erwartete sie, daß
-irgendein kommender Tag ihr eine Befreiung bringen könnte, so hatte sie
-auch die nötigsten Besuche<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> hinausgeschoben. Schließlich sah sie selber
-ein, es mußte der Pflicht genügt werden.</p>
-
-<p>Es waren der Besuche ja auch nicht viel zu erledigen. Von den Kameraden
-Merivaux’ waren nur wenige verheiratet.</p>
-
-<p>Aber auch Tante Marianne Oschitz stand auf der kleinen Liste. Es
-herbstete schon stark, als das Brautpaar vor der einsamen Insel
-vorfuhr; und als Helene am Arm Merivaux’ durch den Vorgarten schritt,
-dachte sie unwillkürlich: ‚nun sind es drei Jahre, seit du hier
-einzogst. Erst drei Jahre — schon drei Jahre! Die dir mehr Erleben
-gebracht haben, mehr als alle anderen. Und kein Glück ...‘</p>
-
-<p>Sie dachte noch daran, als sie vor Tante Marianne stand. Es mochte wohl
-nicht so glücküberströmend klingen, wie das gleiche Wort aus anderem
-Mädchenmunde: „Mein Bräutigam, liebe Tante.“</p>
-
-<p>Die kleine alte Frau machte einen hinfälligen Eindruck. Sie hatte sich
-bei dem Eintritt der beiden mühsam erhoben, kam ihnen auf dem Stock mit
-schwerer Elfenbeinkrücke gestützt entgegen, sagte freundlich mit ihrer
-leisen, sanften Stimme: „Ich freue mich herzlich. Der Segen Gottes möge
-mit eurem Bunde sein —“, und dann stutzte sie plötzlich.</p>
-
-<p>Es war nur auf einen Moment, sie nötigte gleich zum Sitzen.
-Immerhin war es so auffallend, daß es Helene nicht entging. Sie sah
-auf Merivaux, wie eine Erklärung suchend. Aber der stand gerade
-aufgerichtet, nach seiner Gewohnheit Tante Marianne mit seinen großen,
-blauen Augen hell ansehend. Immer sah er allen Leuten so ins Gesicht,
-so offen und zuversichtlich.</p>
-
-<p>Tante Marianne war heut sehr weich und gütig, zeigte ein lebhafteres
-Interesse, als sonst ihre Art war, erkundigte sich nach Merivaux’
-Heimat, nach seinen Plänen für die Zukunft; schien sich zu freuen, als
-er frisch und fröhlich antwortete: „Ich ’ab nur einen Plan für die
-Zukunft, meine Frau recht glücklich zu machen.“ Sie<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> lächelte, nickte
-und hatte gleich eines ihrer alten Sprüchlein: „Wer glücklich ist, kann
-immer glücklich machen! ... Sie haben so zuversichtlich glückliche
-Augen, lieber Herr von Merivaux.“</p>
-
-<p>„Ich ... glückliche Augen, gnädige Frau?“</p>
-
-<p>„Jawohl, glückliche Augen. Sorge nur, Helene, daß ihnen jeder trübe
-Schatten erspart bleibt.“</p>
-
-<p>Sie sprachen noch dies und das. Dann war es Zeit, aufzubrechen. Aber
-als sie sich schon empfohlen hatten, hielt Tante Marianne Helene noch
-einmal zurück. Ihre Stimme bebte ein wenig, und in ihrem kleinen,
-blassen Gesicht lag ein Zug des Ergriffenseins. „Ist dir das auch schon
-aufgefallen,“ flüsterte sie hastig, „daß dein lieber Gaston die Augen
-von meinem Harro hat? Ganz Harros Augen.“ Und sie hob sich plötzlich
-auf den Zehenspitzen und küßte die Nichte zärtlich: „Lang mögen sie dir
-leuchten ... lang&#160;...“</p>
-
-<p>Draußen, im Vorgarten, fragte Merivaux: „Was hatte deine Frau Tante dir
-noch anzuvertrauen?“</p>
-
-<p>Sie schüttelte den Kopf. „Nichts Besonderes, Gaston —“ und ging mit
-gesenktem Kopf neben ihm weiter bis zum Wagen. ‚Ja, Harros Augen‘,
-dachte sie. ‚Seine Augen, Harros Augen ... die haben es mir damals
-angetan, im Rackower Park ... —‘</p>
-
-<p>Eine verhaltene Bitterkeit, fast etwas wie ein Vorwurf, lag in dem
-Gedanken. Sie fühlte es selber, empfand es als ein Unrecht. Fühlte sich
-ihm gegenüber ja so oft im Unrecht. Als sie im Wagen saßen, war es ihr,
-als müßte sie etwas gutmachen ihm gegenüber. Sie zwang sich, auf seine
-lebhafte Unterhaltung einzugehen, mit ihm zu plaudern. Und sie fand
-plötzlich, daß das gar nicht so schwer war. Er erzählte so anregend, er
-hatte so viele Interessen.</p>
-
-<p>Einmal sagte sie, ein wenig nachdenklich: „Ich finde eigentlich,
-Gaston, daß du dich in den letzten Jahren recht verändert hast.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p>
-
-<p>„<span class="antiqua">Mon Dieu</span> ...“ gab er halb im Scherz, halb wirklich erschrocken
-zurück ... „Zu meinem Nachteil?“</p>
-
-<p>„Nein, Gaston. Als ich dich kennen lernte, konnte ich in dir nicht mehr
-sehen als einen flotten, jungen Offizier.“</p>
-
-<p>„Und nun?“</p>
-
-<p>„Jetzt bin ich bisweilen erstaunt, wieviel du weißt. Daß dich Literatur
-und Kunst so stark interessieren.“</p>
-
-<p>Er scherzte wieder: „Also gewiß ... du hast mich damals unterschätzt.“
-Dann wurde er ernst: „Es liegen drei Jahre dazwischen, Helene. Drei
-Jahre bedeuten viel im Menschenleben. Oder richtiger, sie können
-viel bedeuten. Mir haben sie jedenfalls manch innere Wandlung
-gebracht. Aber ich könnte dir zurückgeben, was du mir sagst. Als ich
-dich kennen lernte, warst du auch nur ein wunderschönes charmantes
-Mädchen, dem eine gütige Fee die herrliche Stimme geschenkt hatte —
-eine Zufallsgabe schließlich. In den drei Jahren bist du eine andere
-geworden&#160;—“</p>
-
-<p>Da hielt der Wagen. Sie mußten aussteigen, um bei Frau von Gélieu die
-Karten abzugeben und zu erfahren, daß die gnädige Frau ausgegangen wäre.</p>
-
-<p>Als sie dann wieder im Wagen saßen, war Helene es, die den abgerissenen
-Faden der Unterhaltung neu aufnahm.</p>
-
-<p>„Du sagtest, ich wäre eine andere geworden. Ich wünschte dir, ich wäre
-das junge Mädchen geblieben, das ich damals war.“</p>
-
-<p>„Helene!“ rief er.</p>
-
-<p>„Du würdest glücklicher sein.“</p>
-
-<p>Es war ein Zwang in ihr, ihn anzusehen, als sie das sagte. Aber sie sah
-in so leuchtende Augen, daß sie den Blick senken mußte.</p>
-
-<p>„Ich kann nur noch glücklicher werden!“ sagte er dann heiß. Schwieg
-einen Moment, schöpfte tief Atem und fuhr fort, nun sehr ernst. „Es
-ist wirklich nicht anders, liebe Helene: ich kann nur noch glücklicher
-werden. Ich weiß, daß wir es beide werden. Da du davon angefangen hast,
-will ich es dir gestehen: ich leide gewiß oft unter<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> deinem harten
-Wesen. Wie könnte es anders sein! Aber sieh: mein Vater ist ein sehr
-kluger Mann. Als wir drei neulich zum letztenmal beisammen waren, ging
-ich mit ihm den weiten Weg bis zu seinem Hotel. Wir sprachen natürlich
-von dir — nur von dir. Er ist sehr empfänglich für Frauenschönheit.
-So war er bezaubert von deiner Erscheinung. Dann schwieg er eine ganze
-Weile und sagte endlich: ‚Weißt du auch, Gaston, daß du dir deine Braut
-erst erobern mußt? Ihre Seele ist noch nicht bei dir.‘ Die Hand hab ich
-ihm gegeben: ‚Ich weiß es, Papa. Aber ich werde um sie werben, nimmer
-müde, bis sie ganz mein ist. Denn ich habe sie lieb über alles in der
-Welt.‘“</p>
-
-<p>Sie saß wieder mit gesenktem Kopf, sprach kein Wort.</p>
-
-<p>Mit einem Male hörte sie neben sich sein frisches, fröhliches Lachen,
-das so seltsam klang nach seinen ernsten Worten und doch in diesem
-Augenblick so wohltuend und befreiend war.</p>
-
-<p>Er deutete zum Fenster hinaus: „Hier wohnte einst mein Landsmann
-Merveilleux. Kennst du seine Geschichte mit dem Droschkenkutscher?
-Also wir Schützen sind doch nun mal lebenslustige Leutchen. Zwei von
-uns, Merveilleux und Pfuel, waren es ganz besonders. Abend für Abend
-tollten sie in Berlin herum, und oft graute der Morgen, ehe sie daran
-dachten, in unser Quartier, hier weit draußen, an der Köpenicker
-Landstraße, zurückzukehren. So waren sie der Schrecken der biederen
-Droschkenkutscher geworden. Die fürchteten die Fahrt nach der Kaserne
-wie das höllische Feuer. Geht eines Abends Pfuel allein aus. Es wird
-wieder peinlich spät oder früh, ist außerdem ein schreckliches Wetter
-— <span class="antiqua">gressillement</span>, wie wir’s nennen. Mein Pfuel will also
-fahren, erwischt auch eine <span class="antiqua">voiture</span>. Kaum aber sieht ihn der
-Droschkenkutscher — sie kannten ihn alle — so haut er auf sein Pferd
-ein und ruft nur noch: ‚Adieu, Pfuel, ... grüßen Sie Murmeljahn!‘ Fort
-war er. Und jetzt sind wir bei unserer Kommandeuse&#160;—“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span></p>
-
-<p>Seine ernsten Worte — sein frohes Lachen tönten in ihr nach. Sie
-fühlte sich frischer und freier. ‚Man muß ihn gern haben‘, dachte
-sie. ‚Ich müßte ihn liebhaben.‘ Und sie dachte weiter: ‚Vielleicht —
-vielleicht werde ich ihn liebhaben.‘</p>
-
-<p>In dieser Stimmung ging sie auch endlich zu Frau Harriers-Wippern.
-Nicht zuletzt auch auf seinen Wunsch. Er hatte schon so oft gebeten,
-daß sie den Unterricht wieder aufnehmen sollte.</p>
-
-<p>Die Lehrerin kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. „Ich hab
-ja schon gratuliert, aber ich möchte meinen Glückwunsch gern noch
-einmal mündlich und recht innig wiederholen. Ich habe mich so sehr
-gefreut, liebes Fräulein Helene! Nicht zuletzt, weil unser Merivaux der
-Glückliche ist.“</p>
-
-<p>‚Unser Merivaux‘ ... es klang Helene Hackentin ganz eigen.</p>
-
-<p>Sie saßen wieder beieinander in dem kleinen Gartenzimmer der Sängerin,
-und Helene hörte, doch mit einiger Verwunderung, wie beliebt und
-geschätzt ihr Bräutigam in den engeren musikalischen Kreisen war.
-„Es ist merkwürdig, wie viele Offiziere gerade in Berlin wirklich
-verständnisvolle Musikfreunde sind. Aber unser Merivaux steht da in
-erster Reihe. Ich meine natürlich nicht als ausübender Künstler —
-darauf kommt es ja auch gar nicht an. Aber er hat die rechte Liebe,
-hat Verständnis, hat Urteil ... und hat seine besondere, so unendlich
-liebenswürdige Gabe, das alles zum Ausdruck zu bringen.“ Frau Harriers
-hielt immer noch Helenes Hand und drückte sie herzlich: „Mein erster
-Gedanke, als ich die Anzeige las, war ein Gedanke der Freude: sie
-beide passen so trefflich zueinander. Eine kleine Spur Selbstsucht war
-auch dabei, daß ich’s nur gestehe: so geht Helenens Kunst doch nicht
-verloren!“</p>
-
-<p>Helene war wortkarg, war in tiefem Sinnen. Sie hatte in den letzten
-drei Monaten so wenig an ihren Gesang gedacht. Manchmal, wenn Merivaux
-bat, wenn er sie zum<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> Flügel führen wollte, hatte sie abgewehrt — wie
-sie immer abwehrte. Ein-, zweimal hatte er seine Geige mitgebracht: sie
-hatte auch ihn nicht gebeten, zu musizieren. Nun fühlte sie auch hier
-ein Unrecht. Und empfand seinen Zartsinn, der nie ungeduldig wurde, nie
-drängte, nie einen Vorwurf hatte, als besondere Güte.</p>
-
-<p>„Ich hoffe, Fräulein Helene, Sie bringen mir ihn bald. Vielleicht
-musizieren wir dann einmal zusammen. Wie aber steht’s mit uns beiden?
-Sie nehmen doch die Stunden wieder auf?“ Frau Harriers schrak ein wenig
-zusammen, sie bemerkte wohl erst jetzt, daß die Braut ganz in Schwarz
-gekleidet war. „Ja so, Sie armes Kind! Aber ich meine, Musik, gute
-edle Musik eint sich auch mit der tiefsten Trauer. Sie trägt uns ja
-himmelan, über alles Irdische hinweg.“</p>
-
-<p>„Die ‚Elsa‘ möchte ich jetzt ruhen lassen ...“ sagte Helene gepreßt.
-„Ich kann nicht&#160;...“</p>
-
-<p>„Das verstehe ich. Lassen Sie mich nur sorgen. Wir halten unsere alte
-Zeiteinteilung fest — nicht wahr? Und grüßen Sie mir Ihren lieben
-Gardeschützen, der so gut in Ihr Herz zu treffen wußte.“</p>
-
-<p>Daß er nur besser in das Herz getroffen hätte&#160;...</p>
-
-<p>Daß dies herbe spröde Herz sich gar nicht regen wollte&#160;...</p>
-
-<p>Überall, wo Helene hinkam, hörte sie Merivaux rühmen, hörte sie sein
-Lob. In den verschiedensten Schattierungen. Wilhelms liebten ihn
-schon jetzt wie einen Bruder; er hatte Tante Mariannens so schwer
-zu erringendes Wohlgefallen gewonnen; die Frauen der verheirateten
-Kameraden hatten sie ein wenig geneckt, daß sie den charmantesten aller
-Junggesellen im Bataillon in Amors Fesseln geschlagen; der Kommandeur
-hatte Wilhelm gegenüber Merivaux einen der begabtesten Offiziere
-genannt und einen unübertrefflichen Kameraden.</p>
-
-<p>Manchmal hatte sie gedacht, sich zum schwachen Troste: ja doch ... er
-ist ein liebenswürdiger Charmeur! Nun hörte und erkannte sie selber
-alle Tage mehr, daß das doch nur die Außenseite seines Wesens war. Daß
-die glänzende<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> Hülle auch einen schönen edlen Kern barg. Daß er gut,
-vornehm denkend, daran hatte sie nie gezweifelt. Jetzt aber wußte sie,
-daß er auch ein grundgescheiter, ein vielseitig gebildeter Mann war.
-Und vor allem sah und fühlte sie immer tiefer, wie innig und heiß er
-sie liebte.</p>
-
-<p>Immer wieder sagte sie sich: man muß ihn gern haben ... ich müßte ihn
-liebhaben&#160;...</p>
-
-<p>Nur: ihr Herz wußte nichts von ihm.</p>
-
-<p>Es kamen Augenblicke, Stunden, in denen es in ihr schrie: wenn er
-dich doch einmal recht schlecht behandeln wollte! Wenn er dich doch
-einmal fühlen lassen wollte, wie kalt und schlecht du gegen ihn bist!
-Vielleicht verlangt die Hackentinsche Brut die Peitsche, anstatt des
-Zuckerbrots!</p>
-
-<p>Aber er blieb immer der Geduldige, Nachsichtige, Rücksichtvolle;
-dankbar für die geringste Freundlichkeit, für das kleinste
-Entgegenkommen, für ein gutes Wort, für ein Lächeln.</p>
-
-<p>Dabei fühlte sie hinter all der Geduld und Nachsicht sein heißes Blut,
-sein starkes Temperament, sein Begehren, fühlte, wie er sich zwang und
-wie er litt. Sie fühlte es, sie sah es. Es war ihr eine eigene Qual,
-wenn er manchmal, auf kurze Momente, die Lider sinken ließ, verstummte.
-Nur um sie gleich wieder mit hellen, guten Augen anzusehen, wie ein
-Bittender. Wie einer, der da weiß: ich werde um sie werben, nimmer
-müde, bis sie mein ist.</p>
-
-<p>Und dann empörte sie wieder diese Zuversicht, dies Vertrauen und
-Selbstvertrauen. Empörte sie gleich einem Zwang: als ob er ihren Willen
-beugen, sie knechten wollte in alle Zukunft hinein. Scharf wurde sie
-dann und bitter. Bis sie sich doch wieder sagte, es ist ja nur seine
-große, große Liebe, die auf Gegenliebe hofft und wartet.</p>
-
-<p>Wenn er litt, ohne zu klagen, so litt sie nicht minder, und auch sie
-hatte niemand, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Ganz genau wußte
-sie: es würde sie niemand verstehen.</p>
-
-<p>Es gab Tage, in denen eine wehrlose, wohltuende Müdigkeit über ihr lag.
-Dann war sie sanft, nachgiebig auch zu ihm; duldete seine Zärtlichkeit,
-hatte sogar eine leise<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> Freude, einen stillen Genuß manchmal an einem
-guten Gespräch mit ihm; hörte ihn spielen, ging vielleicht selbst an
-den Flügel, sang irgendein schwermütiges Lied. Aber gerade der Moment
-war meist der Gipfelpunkt. Wenn sie ihn dann hinter sich stehend wußte,
-seinen Atem fühlte, seine Hand sah, wie sie sich nach dem Notenblatt
-ausstreckte, um es zu wenden, kam der Rückschlag. Sie brach jäh ab,
-sprang auf — und es kamen Augenblicke, in denen es ihr eine boshafte
-Freude war, ihm wehe zu tun. Eine Freude, die sie tiefste Qualen und
-schmerzhafteste Scham kostete.</p>
-
-<p>Das waren die Augenblicke, in denen sie darauf wartete: jetzt muß
-er doch gehen, um nie wiederzukommen. Und doch erschauerte: wenn er
-aber nie wiederkäme? Das waren dieselben Augenblicke, in denen sie
-vom wehsten Mitleid erfüllt war für ihn und in denen sie sich selber
-ganz als Schuldige fühlte. Frau Harriers war wenig zufrieden mit ihrer
-Schülerin in diesem Winter.</p>
-
-<p>Wilhelm kümmerte sich fast gar nicht um das Brautpaar; Martha sah
-schließlich doch nur die Oberfläche, dachte höchstens, sagte es
-vielleicht: „Du bist eine recht unausstehliche Braut.“ Mutter führte
-ihr Traumleben weiter, verschmolz sich Gegenwart und Vergangenheit,
-verwechselte Merivaux gelegentlich mit einem ihrer Söhne und legte
-neuerdings Rouge auf. Wohl Berlin zu Ehren. Wobei es vorkam, daß nur
-die eine Wange rosig leuchtete, die andere vergaß sie.</p>
-
-<p>Ganz verlassen und vereinsamt fühlte sich Helene oft. Grenzenlos unnütz
-dabei. Den Haushalt in der Stadtwohnung hielt Martha allein wie am
-Schnürchen. So war sie zur Untätigkeit verurteilt, spürte auch so wenig
-Neigung, sich wirtschaftlich zu betätigen. Und selbst ihre Kunst dünkte
-sie oft ein Zwang.</p>
-
-<p>Nur mit den Jungens beschäftigte sie sich mehr als früher.</p>
-
-<p>Den äußeren Anlaß gab, daß Hans ein paar Male mit einem französischen
-<span class="antiqua">exercice</span> hilfesuchend zu ihr kam: „Hilf, Tante Helene. Du hast
-ja einen Bräutigam, der solch halber<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> Gallier ist.“ Da sie in der Tat
-fertig Französisch sprach und schrieb, konnte sie helfen. Und sie half
-so gern — es war ihr eine wahre Wohltat, irgend jemand helfen zu
-können. Bald kam auch Thede mit dem einen oder dem anderen Anliegen.
-Richtiger: wenn der Ältere bat, forderte der Jüngere. Aber er tat’s
-mit einer so drollig unverschämten Miene, daß man ihm nicht böse sein
-konnte.</p>
-
-<p>Manchmal war es ihr, als lernte sie die beiden Neffen erst jetzt recht
-kennen. Und auch dann hatte sie wieder ihre stille Freude. Hans war
-nun fast sechzehn Jahre, ein langaufgeschossener, ein wenig ungelenker
-Jüngling, der seine junge Sekundanerwürde mit einigem Selbstbewußtsein
-trug; ein Bücherwurm und Grundtoffel, fleißig und hübsch besinnlich.
-Thede war viel lebhafter, renommierte gern einmal ein wenig, lernte
-spielend, was der Ältere sich mühsamer erobern mußte. Bisweilen malte
-Helene sich im stillen den Lebenslauf der beiden aus, horchte sie
-wohl auch daraufhin aus. Hans wollte Architekt werden oder Techniker,
-Eisenbahningenieur, Maschinenkonstrukteur; Thede schwärmte für den
-bunten Rock, den ja alle Hackentins getragen hatten. Aber er hatte auch
-seine besonderen Gedanken dabei: die junge preußische Flotte reizte
-ihn, Kapitän Jachmann von der „Arcona“, der den Dänen bei Jasmund so
-wacker die Zähne gezeigt, war sein Held und Vorbild.</p>
-
-<p>Das war sicher: die Jungens gingen einmal andere Wege, als die
-Hackentins bisher, Generation auf Generation, gegangen waren. In ihnen
-war noch genug von dem feurigen guten Blut des alten Geschlechts, aber
-das Blut der Mutter hatte sich eingemischt, drang kräftig durch; mehr
-noch bei dem Älteren, aber doch auch bei Thede. Sie fanden sich gewiß
-einmal gut mit dem Leben ab und in ihm zurecht. Wurden vielleicht
-endlich einmal wieder Mehrer, nicht Verzehrer.</p>
-
-<p>Helene dachte oft: die Hackentins können es brauchen! Gerade in diesem
-Winter kam ihr das recht klar zum Bewußtsein.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span></p>
-
-<p>Daß es in Rackow kriselte, hatte sie schon im Sommer erkannt. Einmal
-erzählte Wilhelm, Ernst sei nur mit vieler List an der Schuldhaft
-vorbeigekommen. Nun erfuhr man, daß die Gläubiger das Sequester
-eingeleitet hatten. Dann kam Onkel Ernst nach Berlin. Aber wenn Helene
-gemeint hätte, daß er niedergeschlagen sein müsse, so hatte sie sich
-getäuscht. „Ja, ja, meine liebe Martha,“ meinte er mit seinem leisen
-behaglichen Lachen, „wir wären also glücklich pleite. Klingt sehr
-häßlich, nicht wahr? Ist aber gar nicht so schlimm. Ein paar Jahre, und
-wir sind wieder obenauf. Außerdem aber — wozu hat man seine hübschen
-kleinen Konnexionen — außerdem hab ich für die Karenzzeit ein Pöstchen
-als Kurdirektor in Ems erobert. Man kann auch so leben, meine Lieben.“
-Dabei sah er unter seinem Einglas um die Ecke auf Tante Marie hin.
-Deren kleines Gamingesichtchen war freilich ein wenig spitzer geworden,
-aber sie trug den Nacken noch steifer als sonst. „<span class="antiqua">Enfin</span>, ich
-freue mich auf Ems. In der Saison haben wir da die Creme der ganzen
-europäischen Gesellschaft. Lauer hat gesagt, Majestät müßten im Sommer
-unbedingt hin. Mignonne, ich lade dich ein, wir wollen ein bissel Staat
-mit dir machen. Aber dann bist du wohl schon ein glückliches kleines
-Frauchen, und Merivaux wird sich nicht von dir trennen wollen.“</p>
-
-<p>Als sie gegangen waren, lachte Wilhelm hinter ihnen her: „Ernst ist wie
-eine Katze, er fällt schließlich immer wieder auf die Füße. Vielleicht
-haben wir Hackentins alle etwas von der glücklichen Eigenschaft.
-Manchmal denk ich, unser Leichtsinn ist wie ein Schwimmgürtel, der
-in der Gefahr die besten Dienste tut ... Martha, ich bitt’ dich,
-mach’ nicht solch mechantes Gesicht. Und du, Lene ... na, du siehst
-ja jetzt oft aus wie eine betrübte Lohgerberswitwe, der alle Felle
-fortgeschwommen sind ... komisches Mädel ... nur daß dir auch das gut
-steht!“</p>
-
-<p>Ja, es mußte ihr wohl gut stehen, daß ihr Gesicht so viel schmaler, daß
-sein Ausdruck so viel ernster geworden war.</p>
-
-<p>Sie war nicht eitel, aber sie war doch ein junges Mädchen<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> und ging
-dem Spiegel nicht aus dem Wege. Und wenn er es ihr nicht gesagt hätte,
-würden es ihr die Männeraugen verraten haben, die ihr überall folgten,
-bis zur Peinlichkeit.</p>
-
-<p>Einmal sagte sie zu Merivaux: „Ich hab heute nacht geträumt, daß ich
-die Pocken bekommen hätte. Furchtbar häßlich war ich geworden, und als
-du kamst, hast du dich mit Abscheu von mir gewendet.“</p>
-
-<p>„Aber, Helene, wie kann man nur solch törichtes Zeug träumen?“</p>
-
-<p>„Es ist gar nicht so töricht. Im Gegenteil, es beschäftigt mich
-sehr. Nimm einmal an, der Traum wäre Wahrheit, ich wäre plötzlich
-sehr häßlich geworden. Dann würde deine Liebe zu mir sehr schnell
-zerstieben. Das ist mir ganz sicher. Gib’s nur ehrlich zu — ich nehme
-es dir nicht übel.“</p>
-
-<p>Sie sah ihm scharf in die Augen, wartete ungeduldig. Denn das wußte
-sie, er sprach immer die Wahrheit.</p>
-
-<p>Da wurde er ernst. „Es tut mir weh, daß du so klein von mir denkst.“</p>
-
-<p>„Ich denke gar nicht klein von dir. Es wäre ja nur natürlich, wenn du
-mich dann nicht mehr liebtest.“</p>
-
-<p>„Nein: es wäre sehr unnatürlich, Helene. Um der Wahrheit die Ehre zu
-geben: vielleicht würde ich mich in Helene Hackentin nicht verliebt
-haben, wenn sie nicht so wunderschön wäre. Aber verliebt sein und
-lieben ist doch zweierlei. Jetzt liebe ich dich! Und wahrhaftig: ich
-liebe doch nicht nur deine Schönheit, ich liebe dich um all deiner
-Eigenschaften willen. Ich lieb deine Stimme, ich lieb dein Herz und
-deine Seele, ich lieb dich, wenn du sonnig dreinschaust, und ich lieb
-dich, wenn die Schatten über deinen schönen Augen liegen. Glaub’ es mir
-nur: und wenn du heut häßlich würdest wie die Nacht, ich würde dich
-lieben, lieben — lieben!“</p>
-
-<p>Er hatte seinen Arm um sie gelegt, er zog sie sanft an sich, enger
-dann, immer fester. Ihren Kopf bog er sacht zu sich, bis ihr Widerstand
-nachgab: „Ich liebe dich! Deine<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> Seele liebe ich!“ Und er küßte sie auf
-die geschlossenen Lider, er küßte die geschlossenen Lippen.&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Das waren wieder Augenblicke, in denen es in ihr Herz einzog, wie
-träumendes Glücksempfinden: „Ich werde ihn lieben ... ich liebe ihn
-schon ... vielleicht ... vielleicht lieb ich ihn wirklich&#160;...“</p>
-
-<p>Dann folgten Stunden, Tage, in denen sie ruhiger wurde, glauben lernte,
-sich zurecht fand, sich zwang und besiegte. Um das Weihnachtsfest spann
-sich solche Zeit freieren, froheren Aufatmens für sie. Ein wohliges
-Gefühl des Zusammengehörens überkam sie, eigentlich zum ersten Male.
-Sie gingen miteinander durch die menschenüberfüllten Straßen, ihre
-kleinen Einkäufe zu besorgen. Mit den frohlockenden Jungens zogen
-sie im rieselnden Schnee auf den Weihnachtsmarkt, der rund um das
-alte Zollernschloß an der Spree aufgebaut war, traktierten sie bei
-Josty an der Stechbahn, dem großen Süßigkeitsmann, mit Schokolade und
-Pfannkuchen; Helene erzählte von Onkel Grucker und Tante Hufnagel, und
-Gaston erzählte, wie er in Berlin erst den Christbaum kennen gelernt
-und deutsches Weihnachten. Gemeinsam mit Martha schmückten sie die
-Tanne. Dann kam der heilige Abend selber mit seinem heimeligen Zauber,
-mit Fichtennadelduft und Kerzenweihrauch. So liebevoll hatte Gaston an
-sie und an alle gedacht, so herzlich freute er sich über ihre kleinen
-Gaben. Von einem zum andern ging er, küßte der Omama die Hand, ließ
-sich von ihr streicheln, wie ein Kind; stand dann mit der Braut unter
-dem leuchtenden Christbaum, sah sie mit seinen blauen zärtlichen Augen
-an, fragte leise, bittend: „Hast du mich lieb?“ Da drückte sie ihm die
-Hand und sagte hochaufatmend: „Ich hab dich lieb, Gaston.“ Sagte es,
-wie befreit, und war gewiß, daß sie die Wahrheit sprach.</p>
-
-<p>Durch die ganze frohe Festzeit hielt die schöne Stimmung an. Am
-Silvesterabend hatte Wilhelm nach den polnischen Karpfen einen Punsch
-gebraut. Rechte Fröhlichkeit wollte freilich nicht aufkommen; eine
-leise Wehmut lag auf dem kleinen Kreise, die Erinnerung an Vater, der
-am letzten<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> Abend des Jahres immer seine kleinen Scherze getrieben
-hatte mit Schiffchenschwimmen und Bleigießen und groß gewesen war im
-Ausdeuten mit seinem „das heißt“. Unwillkürlich knüpfte sich manch
-anderer Rückblick auf das schwindende Jahr an. Wilhelm stöhnte ein
-wenig: es war geschäftlich ein schlechtes Jahr gewesen; der Zwist
-zwischen Regierung und Abgeordnetenhaus wollte nicht enden, und
-haarscharf nur war Preußen am Zerwürfnis mit seinem Bundesgenossen
-von Schleswig-Holstein her, mit Österreich, vorübergekommen. „Wie
-Blei lastet die Politik auf jeder Unternehmungslust“, meinte er. „Wer
-mag denn sein Geld riskieren, wenn vielleicht schon die nächsten
-Monate Krieg bringen können. Krieg mit Österreich — es ist gar nicht
-auszudenken. Wenn Vater das erlebt hätte, der immer auf Österreich
-geschworen hat!“</p>
-
-<p>„Wir Soldaten — wir sehnen natürlich solch frischen fröhlichen Krieg
-herbei“, warf Gaston dazwischen.</p>
-
-<p>Da schrak Helene zusammen: „Sag’ das nicht!“ bat sie leise. „Sag’ das
-nicht!“</p>
-
-<p>„Ich wär ein schlechter Soldat, wollt’ ich’s nicht sagen. Als
-Offizier Seiner Majestät ... nun ja, und es regt sich wohl auch das
-Landsknechtsblut meiner Ahnen. Damit mußt du dich schon abfinden,
-Helene.“</p>
-
-<p>„Krieg — es ist etwas Schreckliches um den Krieg.“</p>
-
-<p>Omama saß am anderen Ende des Tisches, hatte ein kleines Nickerchen
-gemacht, aber die letzten Worte doch verstanden: „Kind,“ sagte sie, „es
-kann auch etwas Heiliges sein. Anno achtzehnhundertdreizehn ... ja ...
-und da haben die armen Frauen, die nichts anderes hatten, ihre goldenen
-Trauringe gegen eiserne vertauscht&#160;...“</p>
-
-<p>„Leicht würde unser allergnädigster Herr gewiß den Mobilmachungsbefehl
-nicht unterschreiben“, meinte Wilhelm. „Krieg gegen Österreich — und
-mit Österreich vielleicht ganz Deutschland gegen uns ... es bleibt ein
-Wagnis. Ich hoffe immer noch, Bismarck findet einen anderen Ausweg,
-obwohl oft behauptet wird, er triebe uns dem Kriege zu.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span></p>
-
-<p>„... ja ... und Fräulein von Schmettau ließ sich ihr schönes Haar
-abschneiden ... hat’s an den Coiffeur verkauft und das Geld fürs
-Vaterland hingegeben&#160;...“</p>
-
-<p>„Daß der Herr von Bismarck den Krieg will, glaube ich nicht. Aber er
-weiß wohl, daß der Krieg oft eine Notwendigkeit ist, um aus verrotteten
-Zuständen herauszukommen, und er kennt keine Furcht. Solche Politik
-treibt er sicher nicht, wie die, die uns arme treue Neuchateller elend
-im Stich ließ.“</p>
-
-<p>„... ja ... und da hielt ich das kleine Bändchen von Körner in der Hand
-... ‚Leyer und Schwert‘ stand darauf&#160;...“</p>
-
-<p>Ganz still saß Helene.</p>
-
-<p>Sie dachte eigentlich nicht an Gaston, daß der mit hinausziehen
-müßte ins Feld. Es war nur eine unklare, unheimliche Angst in ihr.
-Harro tauchte vor ihr auf, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte: die
-Primanermütze keck auf dem lockigen Blondhaar. Und Tante Marianne in
-den schwarzen Trauerkleidern, mit dem blassen Gesicht, das kleiner und
-immer kleiner zu werden schien. Wie unzählige trauerten gleich ihr, und
-wie kurz war der Feldzug gegen Dänemark gewesen, wie gewaltig mußte ein
-Krieg gegen das mächtige Österreich werden. Wie gewaltig, wie blutig.</p>
-
-<p>Plötzlich brausten von der Straße her die lauten Neujahrsrufe. Die
-Glocken klangen.</p>
-
-<p>„Auf ein glückliches neues Jahr!“ rief Wilhelm. Merivaux stand vor
-seiner Braut, sah ihr in die Augen. „Ein glückliches neues Jahr,
-’elene,“ sagte auch er, und sie wußte, wie er das meinte und verstand.
-Beide Hände streckte sie ihm hin: „Viel Glück wünsch ich dir, Gaston —
-all das reiche Glück, das du verdienst!“</p>
-
-<p>Da kamen auch schon die Jungens hereingesprungen, halb angezogen nur,
-trotz des Verbots. Thede brüllte sein „Prosit Neujahr!“, Hans ging
-reihherum, seinen Glückwunsch zu sagen. Ganz zuletzt kam er zu Helene
-und Merivaux,<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> machte ein etwas verlegenes Gesicht und einen etwas
-linkischen Kratzfuß und begann:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Das alte Jahr ist nun verschwunden,</div>
- <div class="verse indent0">In dem ihr beide euch gefunden.</div>
- <div class="verse indent0"><em class="gesperrt">Du</em> kamst aus stolzem Bergesland,</div>
- <div class="verse indent0"><em class="gesperrt">Du</em> stammtest aus dem märkischen Sand:</div>
- <div class="verse indent0">Es gibt der Berg und Talesgrund</div>
- <div class="verse indent0">Ganz sicher einen guten Bund!“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Hallo!“ rief Wilhelm lachend. „Das sind ja Verse — es reimt sich
-wenigstens.“</p>
-
-<p>Hans wurde rot wie ein Puter, aber er fuhr tapfer fort:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„So lang ihr lebt, wird dieses Jahr</div>
- <div class="verse indent0">Euch immer scheinen wunderbar.</div>
- <div class="verse indent0">Und seid ihr alt wie Omama,</div>
- <div class="verse indent0">Sagt sicher ihr: wie schön war’s da!</div>
- <div class="verse indent0">Doch wünschen wir, die hier vereint,</div>
- <div class="verse indent0">Daß euch die Sonn’ noch heller scheint,</div>
- <div class="verse indent0">Daß ihr seid wieder übers Jahr</div>
- <div class="verse indent0">Ein glückumstrahltes Ehepaar!“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Der Junge, der Junge!“ Wilhelm hatte sich in einen Sessel fallen
-lassen und klatschte in die Hände: „Was sagst du dazu, Martha? Na,
-Mamachen, das hat er sicher von dir!“</p>
-
-<p>Gaston hatte Hans rechts und links einen festen Kuß auf die roten
-Wangen gedrückt. Er war gerührt und wiederholte immer aufs neue:
-„Scharmant — scharmant! Nicht wahr, Helene? Scharmant: ‚Daß ihr seid
-übers Jahr — ein glückumstrahltes Ehepaar.‘“</p>
-
-<p>„Ja, Gaston“, sagte Helene leise. Und nahm Hansens Kopf zwischen ihre
-beiden Hände: „Du guter Junge ... ich danke dir&#160;...“</p>
-
-<p>Omama hatte, während Hans sein Poem deklamierte, aufgemerkt, und, die
-Lippen bewegend, still mitskandiert; einmal den Kopf geschüttelt, dann
-so lebhaft zustimmend genickt, daß die schwarzen Schläfenlocken weit
-vornüberfielen. Nun wollte sie aufstehen. Martha sprang hinzu,<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> stützte
-sie. So ging sie langsam um den Tisch herum, legte dem Enkel ihre Hand
-auf den Scheitel, machte vor dem Brautpaar einen kleinen graziösen
-Knix, und es schien, als wollte auch sie irgendein eigenes Verslein
-sprechen. Aber sie fand wohl die Worte nicht, murmelte ein Weniges, was
-niemand recht verstehen konnte, und sagte dann endlich: „Ja ... ja ...
-ihr Kinder ... übers Jahr ... ein glückumstrahltes Ehepaar ...“&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Am Neujahrstag war Helene in der Garnisonkirche gewesen, auf Merivaux’
-besonderen Wunsch, denn sonst ging sie meist mit Martha zu Büchsel in
-die Matthäikirche. Aber Gaston wollte, daß sie einmal Strauß predigen
-hören sollte — und Gaston selber war heut in die Garnisonkirche
-kommandiert. Sie hatten sich freilich nur flüchtig begrüßen können.
-Aber er hatte ihr doch nach dem Gottesdienst vor der Tür die Hand
-geküßt, und sie hatte ihm dann noch nachgeschaut, während er seine
-Gardeschützen die Alte Friedrichstraße heraufführte, zurück zur Kaserne.</p>
-
-<p>So herrlich hatte Strauß gesprochen. Über die Unruhe der Zeit und den
-Frieden im eigenen Herzen. Der alte König hatte in der Loge gesessen,
-mitten unter seinen Kriegern, ehrwürdig und sichtlich ergriffen.</p>
-
-<p>An die Predigt dachte Helene und an den königlichen Greis, während
-sie langsam über die Spreebrücke schritt, am Museum vorbei, durch den
-Lustgarten. An die Unruhe der Zeit und den inneren Frieden, den Frieden
-des Herzens. Auch ihre Zeit war voll Unruhe gewesen, aber nun zog
-allmählich der Friede in ihr Herz. „Wir müssen um ihn kämpfen, auf daß
-er uns gegeben werde!“ hatte der Prediger gesagt. Auch sie hatte um ihn
-gerungen, nach ihren Kräften, und nun fühlte sie ihn in ihrer Brust.
-Nicht freilich als ein berauschendes Glück. Aber der Friede nach dem
-Kampf war wohl nimmer solch ein ganzes, volles Glück, denn das Weh der
-Kämpfe mußte noch lange, lange nachklingen. Und doch ein Glück! Eine
-wohlige Ruhe, ein friedvoller Ausblick aus der Gegenwart in die Zukunft
-— das war es!</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p>
-
-<p>Über die Schloßbrücke ging Helene, am Kronprinzenpalais und dem
-Opernhaus vorüber; blieb ein paar Augenblicke am Denkmal des Großen
-Friedrich stehen, sah zu dem Eckfenster des Palais empor, an dem sich,
-wie sie gehört hatte, der König häufig zeigte, wenn die Wache aufzog.
-Aber es war wohl noch zu früh. Langsam ging sie weiter, die Linden
-entlang.</p>
-
-<p>Gerade wollte sie die Charlottenstraße überschreiten, da erschrak sie
-heftig. Es war wie ein Schlag. Das Herzblut stand ihr still&#160;...</p>
-
-<p>Drüben, vom Gendarmenmarkt her, kam ein Paar.</p>
-
-<p>Eine elegante, nein — eine aufgeputzte Dame, sehr groß, sehr robust,
-mit flatternden Hutbändern um das volle Gesicht, das gewiß einst schön
-gewesen war&#160;—</p>
-
-<p>Und neben ihr — neben ihr — Alfred Schwarz&#160;—</p>
-
-<p>Fliehen wollte Helene, fliehen. Aber ihr Fuß stand wie gebannt.</p>
-
-<p>Mühsam trat sie endlich ein paar Schritte zurück, trat in einen
-Hauseingang. Er sollte sie nicht sehen, durfte sie nicht erkennen.</p>
-
-<p>Doch dann fühlte sie: er erkannte sie nimmer.</p>
-
-<p>Alles sah sie, nichts entging ihr, während sie tief in den Hauseingang
-gedrückt stand und das ungleiche Paar drüben vorüberging, so nah, daß
-sie die laute Stimme der Frau hören konnte. Nicht die einzelnen Worte,
-aber den unfreundlichen, schneidenden Ton.</p>
-
-<p>Alles sah sie. Er war noch immer sehr elegant angezogen, aber die
-Kleider schlotterten um seine Glieder. Die Frau — seine Frau sprach
-auf ihn ein. Da kam ein spöttisches Lächeln in seine Züge. Dann schlich
-er weiter. Sein Stock stieß schwer auf die Steine. Jetzt bogen sie in
-die Linden ein&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Helene stand noch immer in der Flurnische und rührte sich nicht. Sie
-starrte auf die Stelle, wo er soeben drüben Halt gemacht hatte, um Atem
-zu schöpfen, wo er spöttisch gelächelt hatte, wie jemand lächelt, der da
-denkt:<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> was verschlägt’s?! Der Vorhang fällt, die Komödie ist aus&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Das Herz krampfte sich ihr zusammen.</p>
-
-<p>Das also war die Frau, um derentwillen er sie betrogen hatte und
-gedemütigt! Kaum zweihundert Schritte von hier, damals, als sie in der
-Winternacht vor seinen Fenstern stand, als hinter den blauen Vorhängen
-die Lichter aufflammten und die Silhouetten sich scharf abzeichneten:
-er und sie&#160;—</p>
-
-<p>Wie die Erinnerungen kamen! Da hatte man geglaubt, sie seien eingesargt
-für immer. Und nun stiegen sie empor, lebten ein neues Leben, bohrten
-sich ins Herz.</p>
-
-<p>Die Erinnerungen kamen und der Zorn und die Scham. Und dann über alles
-hinweg das große, große Mitleid.</p>
-
-<p>Es war nicht mehr Liebe. Aber es war doch das Mitleid, das aus der
-Liebe geboren war. Die war tot, war tot — und lebte doch weiter
-in diesem alles durchdringenden Mitleid. Sie lebte weiter in den
-Erinnerungen, die längst eingesargt waren, und die doch wieder
-auferstanden, wühlten und schmerzten. Die immer wieder auferstehen
-würden, über die nichts hinwegtrug — nichts&#160;—</p>
-
-<p>Und alles andere war Betrug und Selbstbetrug. Betrug war und Einbildung
-der erkämpfte Frieden. Betrug war, daß dies Herz je, jemals einen
-anderen lieben könnte. Betrug war jeder Kuß, den diese Lippen gaben,
-Betrug jedes Wort der Zärtlichkeit, Betrug jede Hoffnung auf ein
-zukünftiges Glück.&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Zu Hause waren sie im Festtagskleide und in Festtagsstimmung. „Schade
-nur, schade, daß der gute Gaston heut nicht kommen konnte, daß er
-Kasernendienst hatte. Gerade heute, armes Bräutchen ...“ meinte
-Wilhelm. „Bissel elend sieht die Helene aus. Hat wohl ein kleines
-Silvesterkäterchen.“</p>
-
-<p>Sie scherzten und lachten. Sie konnten scherzen und lachen und das neue
-Jahr in Gedanken und Wünschen mit Rosengirlanden umwinden&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span></p>
-
-<p>Dann saß Helene in der Enge ihres Zimmers und schrieb, während Omama
-dicht neben ihr auf dem Kanapee träumte, Bogen auf Bogen an Gaston;
-zerriß Bogen auf Bogen, kämpfte ihre Tränen und ihr Schluchzen
-herunter, daß Omama nichts merke, setzte wieder an, fand nicht Anfang
-und nicht Ende.</p>
-
-<p>Was sollte sie schreiben?!</p>
-
-<p>Bis sie dann endlich, in angstvoller Verzweiflung, ein paar Worte fand:</p>
-
-<p>„Ich flehe Dich an, Gaston, gib mich frei. Wenn Du mich lieb hast,
-und ich weiß, Du hast mich sehr lieb, so gib mich frei. Ich bin sehr
-schlecht. Ich habe Dich betrogen und belogen. Ich kann nicht vergessen,
-und von Dir weiß mein Herz nichts. Sei Du barmherzig zu mir, wie Du
-immer gütig warst: gib mich frei. Deine unglückliche Helene.“</p>
-
-<p>Sie überlas gar nicht, was sie geschrieben hatte, kuvertierte, schrieb
-die Adresse, huschte die Treppe hinunter zum nächsten Briefkasten, warf
-den Brief ein. Und wäre fast zusammengebrochen, als der kleine Deckel
-mit leisem Rascheln zuschlug — hinter dem Briefe, der ihr Schicksal
-barg.</p>
-
-<p>In fliegender Hast, wie gepeitscht, war sie auf die Straße geeilt.
-Schwer und langsam stieg sie die Treppe hinauf. Und suchte sich einen
-stillen Winkel, um sich auszuweinen. Zu weinen um den einen und um den
-anderen.&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>In all ihrer Verzweiflung stand ihr eins klar vor der Seele: daß
-Gaston sie nicht ohne Kampf aufgeben würde. Sie wußte, er kam gewiß.
-Sie wartete darauf mit angstvollem Herzen, suchte ihre armen schwachen
-Waffen der Abwehr zu schmieden. Rechnete sich aus: in aller Frühe
-hat er deinen Brief; der Dienst wird ihn noch ein paar Stunden
-festhalten, aber dann — dann kommt er — und er wird vor dir stehen
-und Rechenschaft fordern.</p>
-
-<p>Er kam. Noch früher, als sie erwartet, schon gegen zehn Uhr.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span></p>
-
-<p>Sie hörte die Flurschelle, hörte seine Stimme. Er sprach mit Martha:
-„Wo ist Helene?“ — „Guten Morgen, lieber Gaston. Entschuldige meine
-Toilette. Helene? Drinnen bei Omama —“ Dann kamen seine festen Tritte
-durch das Wohnzimmer, dann ging die Tür&#160;—</p>
-
-<p>Helene saß neben ihrer Mutter am Fenster, zum erstenmal wohl im Leben
-wie bei Omama Schutz suchend. Saß mit dem Rücken gegen die Tür, wagte
-nicht aufzustehen, nicht aufzusehen.</p>
-
-<p>Er kam gerade auf beide los, küßte Omama die Hand, sagte: „Ich muß
-Helene allein sprechen. Du erlaubst wohl.“ Nahm Helene an der Hand,
-zwang sie mit sanftem Druck. Willenlos folgte sie. In das Nebenzimmer
-führte er sie, bis zum Sofa. Und als sie dann saß, faßte er wieder ihre
-Hand und sagte: „Meine liebe arme Helene!“</p>
-
-<p>Sie bebte, und die Tränen kamen ihr, als sie seine warme Stimme hörte,
-den zärtlichen Druck seiner Hände fühlte.</p>
-
-<p>„Wollen wir deinen Brief nicht als ungeschrieben betrachten?“ fragte
-er. „Du hast das in der Erregung geschrieben, unter irgendeinem fremden
-Einfluß. Es ist am besten, Helene, wir vergessen es beide.“</p>
-
-<p>Sie schüttelte nur langsam den Kopf.</p>
-
-<p>„Liebe Helene, du bist sehr sensibel, läßt dich von Stimmungen
-beeinflussen. So war es sicher auch gestern. Ich glaube nicht, daß du
-mit Überlegung geschrieben hast. Vielleicht weißt du heut gar nicht
-mehr, was du schriebst. Sag’ mir, daß es dir leid tut. Ein Wort von
-dir, und es ist alles wieder gut.“</p>
-
-<p>Er sprach ganz ruhig. Aber sie fühlte aus dem Unterton seiner Stimme,
-wie traurig er war.</p>
-
-<p>Wieder konnte sie nur den Kopf schütteln. Doch dann machte sie
-plötzlich ihre Hand frei, hob sie vor die Brust und bat mit einer
-letzten starken Willensanspannung: „Ich bitte dich ... laß mich frei!“</p>
-
-<p>Es war ein Schweigen zwischen ihnen.</p>
-
-<p>„Wenn ich dich nicht so heiß liebte, Helene,“ sagte er<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> dann, „würde
-ich nun gehen. Wenn ich dich nicht so sehr liebte, wäre ich gar nicht
-gekommen. So aber ... Du mußt mich hören. Gerade in der letzten Zeit
-fühlte ich deutlich, daß alles anders, besser zwischen uns wurde. Ich
-war so beglückt darüber. Und nun ... nun dein jäher Entschluß.“</p>
-
-<p>Er wartete. Aber sie schwieg, hatte immer noch beide Hände vor die
-Brust gedrückt, sah starr zu Boden.</p>
-
-<p>„Helene, das weißt du: du hast in mir den treusten Freund.“</p>
-
-<p>Sie nickte ein paar Male, schluchzte leise auf.</p>
-
-<p>„Würde es dein armes wundes Herz nicht erleichtern, wenn du dem
-treuen Freunde Vertrauen schenktest? Vielleicht kann er dich trösten,
-vielleicht könnte er dir raten und helfen.“</p>
-
-<p>Da sah sie auf und ihn an. Wie durch einen Flor von Tränen sah sie sein
-trauriges Gesicht und seine gütigen Augen.</p>
-
-<p>Er nahm wieder ihre eiskalten Hände in die seinen.</p>
-
-<p>„Sprich dich aus, Helene“, bat er. „Du wirst Verständnis bei mir
-finden. Denn das, was du schreibst: ich mag es gar nicht wiederholen —
-das ist ja alles nur Traum und Selbstquälerei. Sprich nur, Helene, sag’
-mir alles&#160;...“</p>
-
-<p>Da begann sie.</p>
-
-<p>Aber sie stockte gleich wieder. Hub wieder an —, sagte ganz leise:
-„Ich kann nicht, Gaston&#160;...“</p>
-
-<p>„Versuche es nur. Nicht um meinetwillen ... denk’ nur immer daran: hier
-sitzt dein bester Freund, der dir gern beistehen möchte in deiner Not.“</p>
-
-<p>So sagte sie ihm alles. Ihr jubelndes Glück und ihr tiefstes Leid und
-wie sie sich langsam aufgerichtet hätte und gestern, gestern noch froh
-und glücklich gewesen wäre, bis sie ihm begegnet war. Ihm! Wie da alles
-wieder in ihr aufgelebt wäre, plötzlich, in tausend Schmerzen&#160;—</p>
-
-<p>In kleinen Bruchstücken nur kam es über ihre Lippen. Sie mußte sich oft
-zwingen. Sie weinte leise. Fand wieder<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> ein paar Worte, mühsam, hastete
-dann in ihrer Rede wie im Fieber. Ihre Hände zitterten in den seinen,
-krampften sich zusammen, streckten sich wieder&#160;—</p>
-
-<p>Und endlich schloß sie: „Ich bin sehr schlecht gewesen zu dir. Ich hab
-dich belogen und betrogen, damals im Park ... und immer ... immer. Ich
-kann ja nicht vergessen ... es ist ja gar nicht aus in mir ... es wird
-ewig leben ... und nun geh, lieber Gaston, geh ... vergiß du mich ...
-wenn du kannst, verachte mich nicht&#160;...“</p>
-
-<p>Sie konnte nicht weiter. Tief sank der Kopf auf die Brust. Schluchzen
-erstickte die letzten Worte und ward zum stillen Weinen.</p>
-
-<p>Aber in diesem Weinen keimte allmählich ein Verwundern in ihr auf:
-warum hält er immer noch meine Hände? Und warum tut mir das so wohl&#160;...</p>
-
-<p>Dazwischen hörte sie seine Stimme: „Weine dich nur aus, Helene“, und
-nach einer Weile: „Kannst du mich jetzt hören?“</p>
-
-<p>„Ich danke dir viel, vielmal für dein Vertrauen, Helene“, begann
-er dann. „Nichts ist, als daß deine Nerven dir einen bösen Streich
-gespielt haben. Still, Helene, höre nur weiter. Niemand von uns
-vergißt wohl je ganz eine große Freude, ein großes Leid. Das mag tief
-untertauchen im Gedächtnis, aber plötzlich ist es wieder auf der
-Oberfläche. Vergessen können wir alle nicht, wir können nur überwinden.
-Darauf kommt es an. Du aber hast ja längst überwunden.“</p>
-
-<p>Sie schüttelte wieder schwer den Kopf.</p>
-
-<p>„Du hast es, glaub’ es mir. Die Erschütterung riß nur den Schmerz
-wieder auf. Laß einige Tage dahingehen, und auch das ist überwunden.
-Seh ich aus wie einer, der sich betrogen und belogen fühlt. Sieh doch:
-ich lächele schon wieder.“</p>
-
-<p>Sie sah immer noch wie durch einen Schleier von Tränen. Aber sie sah,
-daß er wirklich lächelte, ihr wie ermutigend zulächelte aus seinen
-guten Augen. Und lächelnd fuhr er fort:</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span></p>
-
-<p>„Ja, Helene, sieh mich nur an! Mit deinen lieben, zagen, zweifelnden
-Augen. Es wird nicht in Trümmer gehen, ich halte es, mein Glück! Ich
-lasse dich nicht, Helene! Ich halte dich, ich zwinge dich. Man zwingt
-nicht nur mit Gewalt: Liebe und Geduld, Geduld und Liebe sind meine
-Waffen. Und ich werde siegen!“</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Elftes_Kapitel">Elftes Kapitel</h2>
-
-</div>
-
-<p>Martha und Merivaux saßen im Wohnzimmer sich gegenüber.</p>
-
-<p>Es war Ende März, und draußen meldete sich der erste Frühling. Zag
-noch, wie verschämt, aber ausnahmsweise kalendermäßig. Auch die
-Truppen hatten bereits Frühling gemacht, zogen fleißig auf den
-Kreuzberg, früher als sonst; es lag ja außer dem milden Frühlingswehen
-auch allerlei Unruhe in der Luft. Österreich, hieß es, mobilisierte
-insgeheim. Man erzählte wieder einmal von scharfen diplomatischen Noten
-über die Regelung der Verhältnisse in Schleswig-Holstein, über die
-Erbansprüche des Augustenburgers, denen Bismarck im Interesse Preußens
-widerstrebte; man erzählte, wie hinter diesen Noten das Verlangen nach
-einer neuen Ordnung des deutschen Bundes stehe.</p>
-
-<p>Darüber sprachen auch Martha und Gaston.</p>
-
-<p>Er war von einer Truppenübung gekommen, hatte am Halleschen Tor sein
-Pferd dem Burschen übergeben und war heraufgesprungen, um Helene guten
-Morgen zu sagen. Aber sie war ausgegangen. Martha meinte, sie müsse
-bald heimkehren. Da bat er um ein Butterbrot.</p>
-
-<p>Und so saßen sie sich gegenüber; er frühstückte und erzählte allerlei,
-was die Zeitungen in den letzten Tagen gebracht und was er sonst
-erfahren hatte. Er sprach sehr lebhaft und war sehr entrüstet über die
-laue Stimmung in Berlin.</p>
-
-<p>Martha hörte lächelnd zu, bis er plötzlich schwieg und, nun auch
-lächelnd, meinte: „Ich glaube, beste aller Schwägerinnen, du lachst
-ganz veritabel über deinen untertänigsten Diener.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span></p>
-
-<p>„Das nun gerade nicht, Gaston. Eigentlich freu ich mich nur über dich.
-Aber, weißt du, merkwürdig kommt’s mir schon vor, wie du dich verändert
-hast.“</p>
-
-<p>„Ich? Wieso denn?“</p>
-
-<p>„Ja, so leicht ist das nicht zu sagen. Einmal rein äußerlich. Wenn ich
-so denke, wie du radebrechtest, fast radebrechtest, als ich dich kennen
-lernte, und wie gut du jetzt unsre swere Sprak’ sprichst — das ist
-doch schon erstaunlich. Sogar über das H kommst du ganz glatt hinweg.“</p>
-
-<p>„Das macht die Übung, Martha. Gerade des H! Denk’ doch nur, wenn man
-alle Augenblicke Helene sagen möchte, wenn man sogar Helene laut denkt,
-alle Tage, alle Stunden, alle Minuten&#160;—“</p>
-
-<p>„Sei so gut und laß wenigstens die Sekunden aus. Obwohl ich dir das
-auch zutrauen würde. Die Sprache ist doch nur ein Äußerliches. Du hast
-dich aber in den letzten Jahren auch zum Preußen umgedacht.“</p>
-
-<p>„Umgedacht — das ist ein neues Wort, das ich mir merken werde. — Ich
-bin doch Offizier Seiner Majestät des Königs von Preußen.“</p>
-
-<p>Sie schob ihm den Teller mit den Brötchen näher und schenkte ihm sein
-Glas wieder voll.</p>
-
-<p>„Das warst du früher auch. Aber du warst es, sozusagen, als
-Neuchateller. Jetzt aber merke ich, daß du ganz Preuße geworden bist.
-Fast möchte ich sagen: Märker. Wie du vorhin auf die Demokraten
-geschimpft hast, mußte ich an meinen guten seligen Schwiegerpapa
-denken. Viel besser konnte das der alte Rittmeister auch nicht.“</p>
-
-<p>Martha hatte bisweilen im Gesicht einen Ausdruck von Schelmerei, der
-ihr allerliebst stand. So auch jetzt. Gaston machte ihr eine kleine
-Verbeugung: „Ich muß dich öfter zum Lächeln bringen,“ meinte er, „du
-hast dann zwei Grübchen in der Wange, die ganz reizend sind. Pardon
-für die Abschweifung. Ja ... du hast recht,“ fuhr er fort, „als ich
-eintrat, war mir Preußen eigentlich völlig Nebensache. Aber es ist wohl
-so: wenn man mit Leib und Seele Soldat ist, schließt man sich eben an
-das große Ganze immer<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span> enger an. Und dies Preußen hat überhaupt eine
-merkwürdige Assimilationskraft. Eure Mark noch besonders. Erst hab ich
-riesengroße Sehnsucht nach meinen Bergen gehabt und euren Sand fast
-gehaßt. Nun lieb ich ihn.“</p>
-
-<p>„Es blüht freilich ein gewisses schönes Röslein auf diesem Sande — ein
-schönes Röslein, wenn es auch Dornen hat.“</p>
-
-<p>„Laß nur die Dornen, <span class="antiqua">ma belle-sœur</span> — Die sind gar nicht so bös
-mehr ... Aber es scheint, da kommt Helene&#160;—“</p>
-
-<p>Er war, als die Flurglocke klang, sofort aufgesprungen und ging seiner
-Braut entgegen. Die Tür blieb offen. Martha konnte von ihrem Platz
-aus gerade sehen, wie sie sich begrüßten. Sie lächelte wieder, aber
-diesmal fehlte die Schelmerei in ihrem Gesicht. Sie wunderte sich nur,
-sie ärgerte sich ein wenig, und sie dachte daran, wie sie einst ihrem
-Wilhelm bei jedem Wiedersehen, und wenn es nach einer Trennung von
-wenigen Stunden gewesen, an den Hals geflogen war.</p>
-
-<p>Diese beiden da blieben ewig und immer zeremoniös. Gaston küßte
-Helene die Hand, sie hielt ihm, wenn es hoch kam, die Wange hin; dann
-schüttelten sie sich die Hände wie zwei gute Freunde; er nahm ihr den
-Mantel ab, und sie sprachen miteinander wieder wie gute Kameraden. Sie
-hörte es: „Du hier, Gaston!“ — „Ja, Helene, auf einen Sprung, gerade
-vom Kreuzberg. Verzeih den Dienstanzug.“ — „Aber ich bitt dich.“ —
-„Wo warst du denn, wenn ich fragen darf?“ — „Bei Frau Harriers.“ —
-„Das freut mich&#160;—“</p>
-
-<p>Früher, vor zwei, drei Monaten noch, war zwischen den beiden dort
-häufig etwas wie ein Kampfzustand gewesen, ein heimliches Ringen, das
-auch dem Unbeteiligten nicht verborgen bleiben konnte. Jetzt schienen
-sie sich in einem schönen Gleichmaß gefunden zu haben. Schön? War
-dies Gleichmaß wirklich schön? Ja ... wenn man nicht beiden doch
-immer angemerkt hätte, daß es nur auf ein Beherrschen herauskam. Wenn
-man nicht das starke Temperament gekannt hätte, das in den beiden
-steckte. Auch in der Lene. Gerade in der Lene! Man brauchte ja nur
-zurückzudenken&#160;—</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p>
-
-<p>Sie kamen herein. Helene nickte der Schwägerin zu. „Kann ich von
-Gastons Frühstück mit profitieren?“</p>
-
-<p>„Du wirst dem hungrigen Kriegsmann doch nicht seine paar kümmerlichen
-Brötchen fortessen. Wart’, ich hol’ dir was.“</p>
-
-<p>Hinaus war sie. Aber hinter der Tür blieb sie stehen. ‚Die Welt wird
-nicht umstürzen, wenn ich einmal lausche. Ob sie sich jetzt wenigstens
-einen ordentlichen Kuß gaben?‘</p>
-
-<p>Sie horchte vergeblich. Die da drinnen sprachen wie zwei gute Freunde.
-Von Musik natürlich wieder. Musik ist ja eine schöne Sache — ohne
-Zweifel. Aber ein Brautpaar hat doch eigentlich etwas Besseres zu tun.
-„Wir haben die Elsa wieder aufgenommen ...“ „Ich hätte mir den Schritt
-vom belcanto zu Wagner doch nicht so schwer gedacht ...“ „Alles kommt
-darauf an, den Charakter herauszuarbeiten, der Persönlichkeit gerecht
-zu werden.“ ‚Du mein Gott, werdet euch doch selber gerecht, ihr beiden
-lieben Narren. Wenn ihr wüßtet, wie kurz selbst eine lange Brautzeit
-ist und daß sie so nie wiederkehrt. Ihr Narren — ihr Narren!‘</p>
-
-<p>Ärgerlich gab sie den Lauscherposten auf, ging in die Küche, machte
-eigenhändig eine Schrippe zurecht, benutzte die Gelegenheit, ihrer
-Minna nach bewährtem Rohlbecker Rezept gründlich den Kopf zu waschen,
-weil gestern abend ein baumlanger Grenadier vor der Küchentür gestanden
-hatte — „anständige Mädchen sind nicht so verliebt wie du dumme
-Trine!“ — und ging ins Wohnzimmer zurück.</p>
-
-<p>Da saßen die beiden immer noch in ansehnlicher Distanz und sprachen
-immer noch kluge Worte. Diesmal hatten sie die Literatur beim Wickel.
-Natürlich — Lene schmökerte ja neuerdings in jeder freien Stunde,
-anstatt mal in der Küche nach dem Rechten zu sehen, was für eine
-angehende Hausfrau jedenfalls wichtiger wäre. Und wovon schnackten sie?
-Von dem neuen Roman, von dem jetzt alle Welt redete, der „Ägyptischen
-Königstochter“. Hilf, Himmel ... wann spielte die Geschichte? Im
-sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt? Wenn es noch der herrliche
-Roman gewesen wäre,<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> der jetzt gerade in der „Gartenlaube“ erschien:
-„Goldelse“ hieß er ja wohl. Aber das alte Ägypten!</p>
-
-<p>Da saßen sie und redeten Bücher, und die Schrippe rührte Helene auch
-nicht an. Redeten und redeten — und machten sich selber nur was
-vor. Man brauchte sie ja nur anzusehen: Gaston sprach ganz ruhig,
-in seinem allerschönsten Deutsch, aber in seinen Augen lohte das
-verhaltene Feuer. Die Marlitt, oder wie die Verfasserin des Romans in
-der „Gartenlaube“ hieß, hätte leidenschaftliche Augen nicht besser
-beschreiben können, als man sie hier sah. Und Lene saß da, sprach
-ebenso ruhig, sah aber gar nicht auf. Nun, man kannte ja ihre Augen. In
-denen lag jetzt immer ein eigner feuchter Schimmer. Man kannte sie —
-aber klug wurde man aus ihnen nicht und aus Helene überhaupt nicht. Nur
-daß das Gesicht immer blasser und immer schmaler wurde, das sah man,
-aber dabei wurde das Mädel auch immer hübscher. Zum Verwundern war’s.</p>
-
-<p>Endlich schien sich Gaston an Marthas Anwesenheit zu erinnern.</p>
-
-<p>„Wo ist Wilhelm eigentlich, liebe Martha?“</p>
-
-<p>„In Warschau. Es schwebt da ein Projekt wegen der Verlängerung der Bahn
-über die russische Grenze hinaus.“</p>
-
-<p>„Der gute Wilhelm muß viel auf der Eisenbahn liegen.“</p>
-
-<p>„Ja — leider&#160;—“</p>
-
-<p>Dann sprachen die beiden schon wieder miteinander. „Wir müssen
-nächstens in die Ausstellung am Kantianplatz, Helene. Es ist ein
-wunderschöner Richter dort.“</p>
-
-<p>‚Wofür die sich auch alles interessierten? Musik — Literatur —
-Malerei — und waren Braut und Bräutigam und saßen da wie die Ölgötzen.</p>
-
-<p>Mochten sie! Was hatte Gaston gesagt? Der gute Wilhelm! Ja ... leicht
-hatte er’s ja nicht. Aber man hatte es auch nicht leicht, so viel
-allein mit den großen Jungens, die Vaters Hand noch so sehr bedurften.
-So viel allein! Beinahe so viel allein, wie früher in Rohlbeck. Aber es
-ging wohl nicht anders. Zuerst war der Verdienst an der Bahnkonzession
-wie unerschöpflich erschienen. Du mein<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> Gott! Nachher war er zum
-größten Teil vorgegessenes Brot gewesen. Als Tante Marianne bezahlt war
-und die vielen Wechsel eingelöst waren, da blieb nicht arg viel. Sparen
-konnte Wilhelm ja nicht — leider —‘</p>
-
-<p>‚Leider —‘</p>
-
-<p>Und da ging die Tür, und Omama kam herein, auf ihren Stock gestützt.
-Die schwarzen Locken pendelten rechts und links von den Schläfen, und
-sie hatte wieder nur auf einer Wange Rouge aufgelegt. Aber sie lachte
-vergnügt: „Ich muß doch einmal nach unserem lieben Brautpärchen sehen
-... Was das Lenchen heut wieder für verliebte Augen macht ...“&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Gaston hätte wohl vor Glück gejauchzt, wenn aus Helenes Augen ihm
-einmal die Liebe entgegengeleuchtet haben würde. Aber sie blieb
-gemessen und kühl. Sie wehrte sich nicht mehr, sie trotzte nicht mehr,
-sie weinte nicht mehr. Sie schien ganz ruhig geworden nach dem einen
-letzten großen Sturm um die Jahreswende.</p>
-
-<p>Er wartete.</p>
-
-<p>Es gab wohl Stunden, in denen er verzweifeln wollte, in denen er
-meinte: es geht so nicht weiter, du trägst es nicht mehr! Du pochst
-gegen einen Stein, der nie Funken sprühen wird.</p>
-
-<p>Aber er zwang sich immer wieder.</p>
-
-<p>Sie waren wirklich gute Freunde geworden. Martha sah ganz recht.</p>
-
-<p>Manchmal dachte Helene: es ist ja nicht anders als früher, wir waren
-ja immer gute Kameraden. Manchmal dachte sie: wir werden immer gute
-Freunde bleiben, ohne Streit und Zwist; was könnte ich mir Besseres
-wünschen; wie viele Ehen mögen selbst dieser Freundschaft entbehren.
-Aber oft, oft, in einsamen Stunden schrie es auch in ihr: soll es nun
-immer, immer so weitergehen! Und wenn du’s erträgst, kann er es denn
-ertragen, soll er darben ein ganzes langes Leben hindurch! Denn sie
-fühlte, daß hinter seinem beherrschten Wesen die Leidenschaft wachte,
-daß er wartete<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> von Tag zu Tag. Und je vertrauter sie miteinander
-wurden, desto mehr litt sie um ihn, und konnte ihm doch nicht helfen.</p>
-
-<p>‚Gib mich frei!‘ hatte sie ihn noch einmal gebeten. Er hatte nur
-den Kopf geschüttelt. In seinem Gesicht aber stand dabei ein fast
-fanatischer Ausdruck, wie sie ihn einst auf alten Märtyrerbildern
-gesehen hatte: ein Ausdruck des Leidens und des Glücks im Leiden.
-Dann war das Gesicht weich geworden. ‚Niemals!‘ hatte er gesagt. ‚Du
-kannst mir verbieten, dich zu sehen. Dich zu lieben kannst du mir nicht
-verbieten.‘</p>
-
-<p>Oft dachte sie an seine Worte: ‚Wir alle können nicht vergessen, aber
-wir können überwinden. Und du hast längst überwunden.‘</p>
-
-<p>Sie hatte nicht daran geglaubt, damals, als die Begegnung mit Schwarz
-ihr das Herz zerrissen. Nun wußte sie, daß er doch recht gehabt.</p>
-
-<p>Wenige Tage später sprach Frau Harriers-Wippern plötzlich von Schwarz.
-Achselzuckend, mitleidig: „Sie kannten ihn ja. Er war immer ein Bruder
-Leichtsinn, der seine Gaben verschleuderte wie sein Geld. Jetzt war
-er hier, ohne Engagement. Zu mir ist er nicht gekommen, er schämte
-sich wohl. Aber ich hörte, daß es ihm schlecht geht, und daß er sehr
-unglücklich mit seiner Frau lebt. Röder hat ihnen beiden schließlich
-ein Engagement nach Odessa besorgt, aber mit einer Gage, die wohl
-gerade nur das Leben fristet.“ Sie seufzte leise. „Einer von vielen.
-Wer in unserem Beruf nicht Charakter hat und starken Willen, der leidet
-leicht Schiffbruch.“</p>
-
-<p>Sie hatte es geahnt, und das Mitleid preßte ihre Seele, als sie es
-nun hörte. Die heiße Erregung jedoch, welche die Begegnung in ihr jäh
-wachgerufen, zitterte nicht mehr in ihr. Es war so, wie Gaston gesagt:
-überwunden hatte sie. Nur das Mitleid blieb. Und vielleicht nur ein
-dumpfes Weh: Die Leidenschaft für ihn hat all deine Kraft zur Liebe so
-ausgeschöpft, daß dein Herz arm geworden ist und arm bleiben wird für
-immer.</p>
-
-<p>Gaston sprach zu ihr nie von dem Termin der Hochzeit.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p>
-
-<p>Aber sie hörte, daß er mit den Geschwistern davon gesprochen, daß er
-den Frühherbst in Aussicht genommen hatte. Dann und wann kam auch die
-praktische Martha mit einer Anfrage wegen der Aussteuer. Sie hatte
-schon Leinen eingekauft und die Näherin im Hause, als könnte es gar
-nicht anders sein. Als ganz selbstverständlich, als Pflicht nahm sie es
-an, daß sie für Mutter eintrat.</p>
-
-<p>Zuerst war Helene zusammengezuckt, als Martha von all dem sprach. Aber
-dann hatte sie lächeln können. „Du ordnest das gewiß am besten — ich
-danke dir.“ Und sie wunderte sich selber: ihr graute nicht vor der
-Entscheidung, ganz ruhig nahm sie sie hin. Wieder mit dem Empfinden:
-wie wenigen Mädchen mag die Erfüllung der höchsten Wünsche vergönnt
-sein, wie unendlich viele müssen sich bescheiden. Du hast es immer noch
-gut: Du hast Gaston sehr gern, du schätzt ihn, ihr seid eins in so
-vielem, so vielem. Unglücklich mit ihm kannst du nie werden. Nur ob du
-ihn glücklich machen wirst ...?</p>
-
-<p>Sie war ruhig und gefaßt.</p>
-
-<p>„Meine liebe Hackentin“, sagte einmal Frau Harriers etwas unzufrieden.
-„Sie sind ein wunderliches Menschenkind. Ich habe bei meinen
-Schülerinnen doch schon so manches erlebt, aber solche Wandlungen noch
-nie wie bei Ihnen.“</p>
-
-<p>Helene wurde rot. Sie hatte immer noch diesen jähen Farbenwechsel, ja
-er war wohl noch auffallender, seit ihr Gesicht blaß und durchsichtig
-geworden war. „Was hab ich denn verbrochen?“ fragte sie etwas kleinlaut.</p>
-
-<p>„Gar nichts. Sie schreiten in der Technik unaufhaltsam fort, ich werde
-Ihnen bald nichts mehr zu geben wissen. Aber die Technik ist doch nicht
-alles. Du lieber Gott! Das Organ gab Ihnen die gütige Natur, und wer
-die Stimme hat, kann schließlich bei dem nötigen Fleiß all das dazu
-lernen, was die Kunst zu lehren vermag. An Fleiß fehlt’s bei Ihnen auch
-nicht. Aber ich habe mit Ihnen Zeiten von so schwankender Stimmung
-durchgemacht, daß ich manchmal vor Rätseln stehe. Wie oft hab ich
-zügeln<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> müssen, wenn das Temperament mit Ihnen durchgehen wollte&#160;—“</p>
-
-<p>Sie standen vor dem Flügel. Die Stunde war beendet, im Vorzimmer
-wartete wohl schon eine andere Schülerin, oder der Herr Baumeister, der
-Gatte der Sängerin, wartete gar mit dem Mittagessen. Frau Harriers war
-ein wenig ungeduldig. Sie schloß den Flügel.</p>
-
-<p>„Ja ... und soll ich Ihnen sagen, wie jetzt Ihre Stimme klingt?
-Apathisch klingt sie. Nach Resignation klingt sie! Alles schön, rund,
-tadellos, ein wahrer Genuß, diese Atemökonomie! Aber manchmal singen
-Sie ... wie drück’ ich’s nur aus? ... nun, wie aus Pflichtgefühl, aus
-einem müden Pflichtgefühl heraus. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie ein
-glückliches Bräutchen sind und einen der besten Männer bekommen, würde
-ich mir allerlei Gedanken machen. So — nun ist’s heraus, und nun
-machen Sie, daß Sie fort kommen. Merivaux steht doch schon drüben und
-wartet auf Sie.“</p>
-
-<p>... aus Pflichtgefühl&#160;...</p>
-
-<p>So also sang sie? Handelte sie auch so? Nur aus Pflichtgefühl? Und
-würde sie, nur aus Pflichtgefühl, Gaston eine gute Gattin werden? Alles
-nur aus armseligem Pflichtgefühl! Als ob sie sich treiben ließ auf
-einem der großen Bettelsuppenströme des Lebens!</p>
-
-<p>Der Gedanke empörte sie. Denn sie hatte Gaston doch gern! Sehr gern
-sogar!</p>
-
-<p>Ihr war es, als müßte sie sich selber aufrütteln. Sich herausreißen aus
-dem Sich-gehen-lassen, aus dem stumpfen Gleichmaß. Kämpfen gegen sich
-selber.</p>
-
-<p>Unten, drüben auf dem Trottoir, ging wirklich Gaston auf und ab.</p>
-
-<p>Ein paar Augenblicke blieb sie im Hausflur stehen, sah zu ihm hinüber.
-Die schmale Falte zwischen ihren Brauen grub sich tief ein.</p>
-
-<p>Dann schritt sie schnell über die Straße, nickte, lächelte, hing sich
-in seinen Arm.</p>
-
-<p>„Guten Morgen, lieber Gaston. Ich freue mich, daß du<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> kommen konntest.
-Hast du Zeit? Können wir einen kleinen Bummel durch den Tiergarten
-machen?“</p>
-
-<p>Er bejahte eifrig, sichtlich erfreut. Und sie gingen die Querallee
-hinauf, bogen zum Goldfischteich ein.</p>
-
-<p>In den ersten Maitagen war es. Der Tiergarten stand im duftigen jungen
-Grün. Die Lenzsonne lag warm auf Weg und Steg. In den dichten Büschen
-zwitscherten die Amseln. Die Welt war schön geworden, fast über Nacht,
-denn plötzlich war der Frühling in die Mark gekommen.</p>
-
-<p>Um diese Stunde war der Tiergarten wenig belebt. Am Rande der Wege ein
-paar Kinderwagen, aus denen rosige Babygesichter zur Sonne lachten;
-einige Spreewälderinnen in ihren bunten Röcken, dann und wann eine
-Matrone, die einsam Luft schöpfen ging, ein pensionierter alter Herr,
-der seinen Gesundheitsmarsch machte. Es verlor sich in der Weite.</p>
-
-<p>Sie plauderten dies und das, wie gute Freunde plaudern, bunt
-durcheinander: von Marthas Wirtschaftlichkeit, von Wilhelms nie
-rastenden Plänen, von der Omama; von der Charlotte Wolter, der
-großen jungen Tragödin, von der Erhardt, der schönen Künstlerin des
-Schauspielhauses, und von der Lucca, die jüngst als Julia unerhört
-gefeiert worden war; und daß der Krollsche Garten nächstens wieder
-eröffnet werden würde, in noch feenhafterer Beleuchtung als je zuvor.</p>
-
-<p>Es war wie immer zwischen ihnen. Und doch anders. Er empfand es,
-wie lebhafter heute Helene war, angeregter, daß ihr Ton wärmer war.
-Manchmal fühlte er den leichten Druck ihrer Hand auf seinem Arm.
-Federnden Schrittes ging sie an seiner Seite, und einmal sagte sie:
-„Ist das schön heut! Ich möchte stundenlang so gehen. Womöglich ganz
-allein mit dir durch einen weiten, weiten Wald.“</p>
-
-<p>Er sah sie an, und auf ihrem Gesicht war ein Lächeln.</p>
-
-<p>Sie nickte ihm zu, ganz leise nur. „Der Frühling&#160;—“</p>
-
-<p>Da sagte er schnell: „Und bald kommt der Sommer, und dann — dann
-reisen wir beide nach meiner Heimat.“</p>
-
-<p>Nebeneinander standen sie am Teich. Lustig huschten die<span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span> goldschuppigen
-Fische, die grünen Wipfel spiegelten sich im Wasser. Weit und breit war
-kein Mensch außer ihnen.</p>
-
-<p>Immer noch sah er ihr in das liebe schöne Gesicht, in dem langsam ein
-feines Rot emporstieg. Seine Hand hatte er um ihren Gürtel gelegt. „Ich
-freue mich ja so darauf, dir meine Heimat zu zeigen, unseren herrlichen
-See, unsere Berge. Anfang August, denk ich, reisen wir — gleich nach
-unserer Hochzeit.“</p>
-
-<p>Ein leichtes Beben ging durch ihre Glieder. Aber sie nickte wieder.</p>
-
-<p>„Es ist dir recht so?“</p>
-
-<p>„Ja, Gaston.“</p>
-
-<p>Dann gingen sie langsam weiter und um das Wasser herum. Mit dem
-leichten Plaudern war’s freilich vorbei. Er hatte ihre Hand wieder in
-seinen Arm gezogen, sprach von seinem alten Vater, sprach dann davon,
-daß er nun eine Wohnung mieten wollte. „Ich hab immer noch gezögert,
-denn man hat mir angedeutet, daß ich Adjutant bei der Inspektion
-werden soll. Dann brauchten wir nicht so weit hinaus zu ziehen, in die
-häßlichste Gegend Berlins. Ich möchte dich so gern in ein recht, recht
-hübsches Heim führen, Helene.“</p>
-
-<p>Plötzlich blieb sie wieder stehen, sah zu Boden, sah dann auf: „Du bist
-ein rechter Wagehals?“</p>
-
-<p>„Wieso denn?“</p>
-
-<p>„Daß du es mit mir wirklich versuchen willst. So unliebenswürdig wie
-ich bin, so apathisch oft&#160;...“</p>
-
-<p>Er lachte. „Ach geh doch! Was sind denn das für Dummheiten. Laß nur den
-Sommer kommen. Laß uns nur erst auf meiner lieben kleinen Terrasse am
-See sitzen, wir beide ganz allein. Oder im Boot auf der blauen Flut.
-Oder in die Berge fahren, höher, immer höher! Wenn ich dich nur erst
-ganz für mich habe! Ich will dir schon die Falte da aus der Stirn
-küssen — die da!“</p>
-
-<p>Und mit einem Male hatte er sie umfaßt, die Hutkrempe weit
-zurückgebogen und küßte sie wirklich gerade zwischen die Brauen. Ganz
-wenig nur wehrte sie sich, gar nicht<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> fast. Da küßte er sie auch auf
-die Lippen, und heut hielt sie still. „Der Frühling —“, sagte er und
-lachte ihr in die Augen.</p>
-
-<p>Wieder gingen sie weiter, den schmalen Fußweg zur Rousseauinsel.</p>
-
-<p>„Also Anfang August!“ meinte er froh. „Dann müssen wir in den ersten
-Septembertagen zurück sein. Das Manöver schenkt der König von Preußen
-auch den glücklichsten Leuten nicht. Alles freilich nur, wenn es nicht
-Krieg gibt.“</p>
-
-<p>„Krieg ... was ihr alle immer von Krieg redet. Wilhelm hat auch weiter
-nichts im Sinn.“</p>
-
-<p>„Bedenklich genug sieht’s aus, Helene. Gestern hieß es bei uns schon,
-die Reserven sollten eingezogen werden. Nachher war’s nur ein Gerücht.“</p>
-
-<p>„Krieg mit Österreich&#160;—“</p>
-
-<p>„Vielleicht nicht nur das. In der „Kreuzzeitung“ stand, daß Sachsen und
-Hannover auch schon rüsten.“</p>
-
-<p>„Sind wir Preußen denn so böse, daß man uns durchaus an den Kragen
-will?“</p>
-
-<p>„Du Kind! Aber ich bin nicht viel besser als du, höchstens daß ich
-weiß: die Preußinnen können reizend sein! Ist mir auch wichtiger als
-die ganze Politik. Und nun laß gut sein. Ich bin so froh heut, so froh&#160;—&#160;—“</p>
-
-<p>Als Helene daheim die Treppe hinaufstieg, tönte es in ihr, wie ferner,
-ferner Glockenklang: Du hast heut einen lieben Menschen sehr, sehr
-glücklich gemacht! Und sie war froh darüber.</p>
-
-<p>Sie war so froh, daß sie oben Martha umarmte, dann zur alten Mutter
-lief, die am geöffneten Fenster in den Frühling hinausträumte, sie
-leise umfaßte: „Ich muß es dir doch sagen, Mama, Anfang August ist
-unsere Hochzeit.“</p>
-
-<p>Omama sah auf, schüttelte verwundert den Kopf, nickte dann: „So ...
-so! Ja! Ja! Anfang August. Wir haben auch im August geheiratet. Ja
-... warte einmal, Lenchen ... und Grucker auch. Damals ... also den
-lieben Gaston ... ich weiß ja ... ich weiß alles. Aber so blaß darfst<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span>
-du zur Hochzeit nicht aussehen, Lenchen ... und wir trugen damals
-den Brautschleier hinten fest in die Coiffüre gesteckt und <span class="antiqua">par
-devant</span> ein ganz schmales Myrtenkränzchen ...“ Sie kicherte leise
-und sang mit ihrer matten Stimme vor sich hin: „Wir winden dir den
-Jungfernkranz — mit veilchenblauer Seide! Ja, ja, mein Lenchen ... wir
-winden dir den Jungfernkranz mit veilchenblauer Seide&#160;...“</p>
-
-<p>Da kamen die Jungens hereingestürmt, erregt, mit roten Gesichtern. Sie
-schrien durcheinander, wollten sich nicht zu Worte kommen lassen. „Wißt
-ihr’s schon? Wie wir aus der Schule kamen, wurden die Extrablätter
-ausgerufen. Auf Bismarck ist geschossen worden! Unter den Linden. Er
-soll tot sein. Nein, schwer verwundet. Den Mörder haben sie gleich
-aufgeknüpft. Nein, Bismarck hat ihm selber noch die Pistole aus der
-Hand geschlagen&#160;—“</p>
-
-<p>Es ging wirr durcheinander. Und dann war plötzlich Wilhelm da, auch
-er mit rotem Kopf. Er wußte alles ganz genau, hatte gerade bei Hiller
-gefrühstückt, nicht weit vom Schauplatz des Attentats. Nein, gottlob,
-Bismarck war nicht einmal verwundet, trotzdem der Mörder — Blind
-sollte er heißen und ein fanatischer Demokrat sein — aus nächster
-Nähe fünf Schüsse auf ihn abgefeuert hatte. Auf dem Wege zum König war
-Bismarck gewesen, zum Vortrag bei Seiner Majestät.</p>
-
-<p>Wilhelm lief kreuz und quer durch die Stube, fast wie Vater es getan
-hatte, wenn er sehr erregt war. „Was für Zeiten, Martha, was für
-Zeiten! Heut morgen erst die Nachrichten aus Österreich und Italien.
-Überall Rüstungen, Mobilmachung. Dann die Börse — reine Kriegspanik.
-Was für Zeiten! Man mag es gar nicht ausdenken: wir dicht vor einem
-Kriege mit Österreich. Stellt euch das nur vor: mit Österreich, unserem
-Bundesgenossen seit achtzehnhundertdreizehn! Womöglich noch Krieg mit
-Sachsen, Hannover, Bayern, mit all den anderen deutschen Staaten!
-Wir allein! Dabei den Hader im Innern. Die Demokraten auf Bismarck
-spinnefeind — weg mit Bismarck, heißt’s<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> hier, diesem Ministerium
-keinen Groschen! heißt’s da. Und unsere guten Konservativen — nun,
-weiß Gott, zum Verwundern ist’s nicht, daß sie den Bruch mit der
-österreichischen Freundschaft bitter beklagen. Wenn wir wirklich Krieg
-bekommen, ist’s ein schrecklicher Bruderkrieg. Wenn das Vater erlebt
-hätte! Unser armes Preußen!“</p>
-
-<p>Nun stand er in der Mitte des Zimmers: „Jungens, glotzt mich nicht so
-dumm an. Wenn ihr älter seid, werdet ihr’s begreifen, was das heißt,
-Deutsche gegen Deutsche! Das Herz könnte sich einem im Leibe umdrehen.
-Und dabei geht’s um die Existenz, einfach um Sein oder Nichtsein.
-Wenn wir geschlagen werden — und wer kann im voraus wissen, wie die
-Würfel fallen — wenn wir geschlagen werden, hat Preußen aufgehört,
-eine Großmacht zu sein. Sie wollen uns ja längst den Großmachtkitzel
-austreiben. Lieber Gott, wie mag unserem König zumute sein vor der
-Entscheidung!“</p>
-
-<p>Helene war noch immer bei der Mutter am geöffneten Fenster, durch das
-die milde Frühlingsluft hereinströmte.</p>
-
-<p>Sie verstand das alles nur halb, was der Bruder in seiner Erregung
-heraussprudelte. Verstand es so wenig, wie sie früher Vaters politische
-Erörterungen verstanden hatte. Nur das eine verstand sie: Krieg —
-Deutsche gegen Deutsche! Und sie schauerte leise zusammen. Krieg — da
-zog dann auch Gaston hinaus&#160;—</p>
-
-<p>„Aber Wilhelm, du sprichst ja, als ob das schon so gewiß wäre — das
-mit dem Krieg“, sagte Martha zag dazwischen.</p>
-
-<p>„Sicher? Wer weiß das. Man hofft ja immer noch auf Frieden. Hofft?
-Heut war der Prinz Hohenlohe bei Hiller. Der hat Verwandte in der
-österreichischen Armee — die brennen alle auf unsere Demütigung.
-Freunde haben wir nirgendwo. Was heißt da hoffen? Zu Kreuze kriechen
-wir Preußen nicht. Wenn’s nicht anders sein kann, muß eben das Schwert
-entscheiden!“</p>
-
-<p>Mit einem Male hob Omama wieder an: „Ja ... ja. Das Schwert ...“ Und
-sie sang leise vor sich hin: „Nun<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> laßt das Liebchen singen — daß
-helle Funken springen — Der Hochzeitsmorgen graut&#160;—“</p>
-
-<p>Da fielen die Jungens ein, wie auf Kommando: „Der Hochzeitsmorgen graut
-— Hurra, du Eisenbraut!“</p>
-
-<p>Wenn in den nächsten Tagen Wilhelm nach Haus kam, war’s jedesmal mit
-umwölkter Stirn. Immer wieder stöhnte er: „Die Zeiten! Die Zeiten!“
-Immer neue Nachrichten brachte er mit: Der König hatte nach langem
-Zögern die Mobilmachung von vier Armeekorps befohlen; Napoleon mischte
-sich in den Streit ein, bot seine Vermittlung an — natürlich um im
-Trüben zu fischen. Dann wußte er von Friedenspetitionen zu erzählen,
-die aus einzelnen Provinzen an Seine Majestät abgegangen wären, von
-schmachvollen Äußerungen einzelner demokratischer Führer: ‚Lieber
-die Kroaten in Berlin, als Bismarck noch länger am Staatsruder!‘
-Dann wieder von patriotischen Regungen, wie wacker sich die zunächst
-bedrohten Schlesier hielten: ‚Wir wollen keinen schlechten Frieden!‘
-hieß es gerade in ihrer Adresse. Aber immer waren seine letzten Worte:
-„Schlechte Zeiten! Schlechte Zeiten!“</p>
-
-<p>Merivaux konnte nicht so viel kommen wie bisher. Der Dienst nahm ihn
-stark in Anspruch. Aber jedesmal, wenn er kam, war’s, als ob ein paar
-Sonnenstrahlen ins Haus glitten. Die Jungens, in denen eine gewaltige
-romantische Kriegslust erwacht war, jubelten ihm entgegen, Omama
-wachte, sobald er ins Zimmer trat, aus ihrem Traumleben auf, mit Martha
-und Wilhelm tauschte er Neuigkeiten. Und immer war er selber froh,
-heiter, zuversichtlich. Es lag etwas eigen Beruhigendes in seiner
-männlichen Frische, das auch auf Helene wirkte. Solange er bei ihr war,
-blieb sie ruhig. Sobald er gegangen, klang immer wieder in ihr auf: der
-Krieg — der Krieg! Einst hatte sie nur an Harros Tod gedacht, wenn
-vom Kriege die Rede war: nun bebte sie in Sorge um den lieben Freund,
-dessen Ring sie am Finger trug.</p>
-
-<p>„Unruhige Zeiten! Schlechte Zeiten!“ Heut der Schimmer einer
-Friedenshoffnung. Morgen die sichere Erwartung:<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span> der Krieg ist
-unvermeidlich. Auf den Straßen die eingezogenen Rekruten und
-Landwehrleute in langen Zügen. An jedem Morgen endlose Kolonnen,
-die mit schmetternder Musik die Bellealliancestraße hinaufzogen zum
-Kreuzberg. Dann regelmäßig der König, der hinausfuhr, seine Garden noch
-einmal zu besichtigen.</p>
-
-<p>Es war doch merkwürdig, es fiel auch Helene auf, wenn sie vom
-Eckfenster aus den schlichten Wagen des greisen Kriegsherrn schon
-von weitem sah: von Tag zu Tag fast steigerte sich der Jubel, der
-ihn umrauschte. Manchmal ging ihr durch den Sinn, wie sie ihn zuerst
-gesehen hatte, am Brandenburger Tor, vor nun drei Jahren, daß ihn
-damals nur wenige grüßten. Und heut standen die Bürgersteige voll
-wartender Menschen, vom Belleallianceplatz her hob es an und pflanzte
-sich fort, das dröhnende Hurra! Es war, als ob die Preußenherzen
-erwachten. Wenn das Vater erlebt hätte!</p>
-
-<p>Dann war eines Tages Fritz da, der rote Kreisrichter. Ganz plötzlich
-und unerwartet, in aller Morgenfrühe, als unten gerade die Alexandriner
-mit klingendem Spiel vorüberzogen.</p>
-
-<p>„Wilhelm, ich trag’s nicht länger. Ich habe aus lauterer Überzeugung
-gehandelt. Ich kann auch jetzt noch nicht mit Bismarck gehen, ich
-verurteile seine Stellung gegen den Augustenburger. Aber ich fühl’s,
-daß nun der innere Zwist schweigen muß. Wenn Preußen in Gefahr ist,
-müssen wir alle einig sein. Daß du’s nur weißt: ich bin gestern auf dem
-Generalkommando gewesen und hab mich zum Diensteintritt gemeldet.“</p>
-
-<p>Wenn das Vater erlebt hätte! Wenn das Vater erlebt hätte!</p>
-
-<p>Unruhige Zeiten! Das Abgeordnetenhaus, das jede Kriegsanleihe
-verweigert hätte, aufgelöst; Darlehnskassenscheine mußten ausgegeben
-werden, um die nötigsten Millionen zu schaffen, und konnten oft nur
-schwer untergebracht werden. Heut hieß es: die Österreicher rücken
-unter Benedeck in Schlesien ein. Morgen verlautete, Preußen<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> hätte mit
-Italien einen Bündnisvertrag geschlossen, und in Venetien seien schon
-die ersten Kanonenschüsse gefallen. Noch nie seit fünfzig Jahren war
-der Kurs der preußischen Staatspapiere so tief gesunken wie in diesen
-Tagen.</p>
-
-<p>Nun hatte auch Wilhelm die Uniform wieder angezogen, führte eine
-Ersatzkompagnie beim Franz-Regiment und war nicht wenig stolz
-im Schmuck der Waffen, war wieder ganz Soldat. Jetzt sprach er
-plötzlich nicht mehr von den „Schlechten Zeiten!“ Er sprach nur
-noch von <em class="gesperrt">seiner</em> Kompagnie, von <em class="gesperrt">seinen</em> Offizieren, von
-<em class="gesperrt">seinem</em> Feldwebel. Und wenn er in den Dienst ging, bürstete
-Martha an ihm herum und sah ihm verliebt nach.</p>
-
-<p>Eines Morgens hatte Helene eine kleine Besorgung am Belleallianceplatz
-gemacht. Als sie zurückkam, stand auf der Halleschen Brücke ein
-baumlanger Bauer, zog seine graue Kappe und greinte über das ganze
-braune Gesicht.</p>
-
-<p>„Metschke! Metschke, wie kommen Sie denn hierher?“</p>
-
-<p>„Jo, gnä’ Frölen, mei Willem steht doch bei de Franzer. Un ik wollt
-ihm doch noch mal sehn tun, e’ er ’n Krieg muß. Von wegen, deß ich ihm
-sag: tu du deine Schuldigkeit, mein Sohn, daß werr keene Schande an der
-ha’n. Na, gnä’ Frölen, er hätt’s jo och so getan, der Willem.“</p>
-
-<p>„Das glaub ich, Metschke. Wollen Sie nicht mit heraufkommen? Da drüben
-an der Ecke wohnen wir.“</p>
-
-<p>„Nee, gnä’ Frölen, ich wart hier, bis der oll König ’rückkommt. ’s isch
-man jutt, daß der oll klug König die Suldaten nich abgeschafft hätt.
-Un denn muß ick widder zur Kaserne. Morjen rücken se aus, die Franzer.
-Aberscht scheen Gruß soll ick vertellen vom Herrn Kantohr und von
-Herrn Pastohr. Min Jott, sein dis Zeiten! Aberscht passen Se uff, gnä’
-Frölen, wie wer se vertobacken wer’n, wir Preußen! Wenn dat der gnä’je
-Herr Rittmeister erlebt hätt!“</p>
-
-<p>Die blauen Märkeraugen glänzten, wie der Metschke das sagte.</p>
-
-<p>Oben saß Gaston schon am Fenster und wartete.</p>
-
-<p>Sie sah’s ihm gleich an, heut war auch er erregt.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span></p>
-
-<p>„Helene, morgen rücken wir aus. Erschrick nicht: zunächst nur in
-Kantonnements bei Kottbus.“</p>
-
-<p>Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. „Morgen —“ sagte sie tonlos.
-Aber er nahm ihre beiden Hände: „Ich habe mit dir zu sprechen. Eine
-große, große Bitte hab ich.“ Sie sah ihn an, sah ihm in die Augen, und
-wußte nur ein: ‚um was er auch bitten mag, ich werde nicht nein sagen‘.</p>
-
-<p>„Immer wieder ist mir in diesen unruhigen Tagen durch die Seele
-gegangen, wie du nun allein zurückbleibst. Ich denke nicht an den Tod.
-Gott bewahr’ mich. Aber niemand kann wissen, was der Krieg bringt.
-Helene, der Gedanke quält mich, daß ich nicht für dich sorgen kann —
-auf alle Fälle. Ich würde keinen Moment Ruhe haben — draußen. Und
-dann ... ich habe Sehnsucht, dich mein zu wissen. Ich bitte dich: laß
-übermorgen unseren Hochzeitstag sein.“</p>
-
-<p>Sie bebte. Immer größer waren ihre Augen geworden. Das Herzblut
-stockte, dann pulste es aufwärts, daß ihr die Sinne schwinden wollten.</p>
-
-<p>Sie fühlte den Druck seiner Hände, und sie sah die fiebrige Erregung in
-seinem Gesicht, die heiße, sehnsuchtsvolle Erwartung.</p>
-
-<p>So sagte sie: „Ja ... Gaston ... ja!“</p>
-
-<p>Dann kam ihr jäh, irgendwoher aus dem Untergrund der Seele, der Gedanke
-eines Ausweichens noch in letzter Minute. „Gaston, der Konsens ... so
-schnell kannst du den Konsens des Königs doch nicht erhalten.“ Indem
-sie es aussprach, überflutete sie die Scham: ‚Wünscht du denn wirklich
-eine Verzögerung? Kannst du ihm das antun?‘</p>
-
-<p>Er aber fand den Einwand nur begreiflich: „Für solche Zeiten gelten
-Ausnahmebestimmungen. Laß das nur meine Sorge sein.“ Sein Gesicht
-strahlte vor Freude und Dankbarkeit. „In drei Tagen, Helene! In drei
-Tagen! Ich kann’s noch gar nicht fassen. In drei Tagen bist du mein!“
-Etwas wie toller Übermut packte ihn. Er legte den Arm um Helene, er
-wirbelte mit ihr, eh sie sich’s versah, im Walzertakt durch das Zimmer:
-„In drei Tagen, Helene, in drei Tagen&#160;—“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span></p>
-
-<p>Es war wohl gut, daß die drängenden Vorbereitungen Helene so wenig
-Zeit zur Besinnung ließen. Daß in die Unruhe der Zeit sich die Unruhe
-im Hause mischte. Martha schlug die Hände über dem Kopf zusammen:
-„Wie soll denn das gemacht werden? Wo willst du denn ein Brautkleid
-herbekommen? Wie denkt sich Merivaux das alles!“ Und dann war sie es
-doch, die für alles Rat schaffte, zu allem Rat wußte. Die freilich
-auch Helene in einen großen Trubel des Überlegens, der Besorgungen mit
-hineinriß.</p>
-
-<p>Es war gut so. Die Stunden gingen im Fluge. Helene kam kaum zu klarem
-Überlegen. Am späten Abend, abgehetzt, todmüde, dachte sie nur: es muß
-wohl eine Fügung sein. Und es war dann wie erlösender Friede in ihr.</p>
-
-<p>In der Nacht zum Mittwoch, ihrem Hochzeitstage, aber fuhr sie aus
-dem Schlafe auf. Der Junimorgen dämmerte schon durch die Fenster.
-Sie konnte sich in den ersten Augenblicken gar nicht zurechtfinden.
-Das Herz pochte jäh, sie richtete sich empor, eine rätselhafte Angst
-schüttelte sie. Ja so ... da schlief Mutter und atmete ruhig ... und
-das dort war die Tür zum Nebenzimmer ... und da lag ausgebreitet
-ihr Brautstaat. Geträumt mußte sie haben, irgend etwas Furchtbares,
-Unfaßbares. Was war es nur gewesen? Gaston hatte vor ihr gestanden, mit
-einem Gesicht wie von Stein, und hatte sie an den Schultern gepackt:
-„Du liebst mich ja nicht! Du liebst mich ja nicht!“</p>
-
-<p>Jetzt sah sie das Traumbild wieder deutlich vor sich, sah sein
-schmerzverzerrtes Gesicht, hörte seinen gellenden Ruf. Wußte, es war
-nur ein Traum gewesen, und durchlebte ihn noch einmal wie Wirklichkeit.
-Frostschauer überrann sie und dann glühende Hitze, eine beklemmende
-Angst, als ob sie aufspringen müßte, drüben an Mutters Bett hinknien,
-flehen: ‚Hilf mir doch! Hilf mir doch! Ich kann nicht mit einer Lüge
-vor den Altar treten!‘</p>
-
-<p>Aber ihr konnte ja niemand helfen. Mutter nicht. Und wenn sie sich vor
-Wilhelm und Martha hinwerfen wollte, sie würden nur den Kopf schütteln
-und sie nicht verstehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span></p>
-
-<p>Gaston&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Wenn sie jetzt noch seine Füße umklammerte: ‚Ich kann nicht! Erbarme
-dich meiner!‘</p>
-
-<p>Aber Gaston war bei seiner Truppe, kam erst morgen, eine Stunde vor der
-Trauung, aus dem Kantonnement zurück. Kam glückstrahlend, mit seiner
-hoffenden Liebe, mit jubelnder Seele, in seiner glaubensstarken festen
-Zuversicht — kam, um sie zum Altar zu führen, und dann hinauszugehen
-in den Krieg&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Nein! Nein! Und wenn sie es heute beschloß und stünde morgen vor ihm
-... sie würde es nicht über die Lippen bringen.</p>
-
-<p>Fröstelnd hüllte sie sich in ihre Decke und starrte durch das Fenster
-auf den grauen Morgen.</p>
-
-<p>Noch einmal zogen in dieser schweren Stunde die inneren Erlebnisse der
-letzten Jahre durch ihre Seele. Wie ein Phantom tauchte Alfred auf,
-tauchte empor und verschwand. Harro kam mit seinen jungen leuchtenden
-Augen. Sie sah sich noch einmal im Park von Rackow beim Mondenlicht,
-fühlte noch einmal den ersten Kuß von Gastons heißen Lippen: Da hatte
-die Lüge angefangen! Die Lüge! Lieber Gott im Himmel ... war es denn
-eine Lüge gewesen, eine Lüge, die so harte Strafe verdiente! Und wie
-hatte sie gekämpft und war doch nicht freigekommen! Aus Schwäche ....
-ja, aus feiger Schwäche. Und aus Mitleid ... ja, aus Mitleid. Aus dem
-Empfinden heraus, ihm nicht den einen großen Schmerz antun zu wollen.
-Und dann, weil sie ihn gern hatte ... weil ein unnennbares Gefühl sie
-immer wieder zu ihm zog&#160;...</p>
-
-<p>Aber aus all dem Schwankenden, Unklaren ließ sich doch keine Brücke
-bauen.</p>
-
-<p>Und nun gab es keine Flucht mehr und kein Entrinnen&#160;—</p>
-
-<p>... als den Tod&#160;...</p>
-
-<p>Ihr Tod — was hätte er ihm genützt! Ihr Tod hätte ihm den größten
-Schmerz des Lebens zugefügt, und nie würde er ihn überwinden können.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span></p>
-
-<p>Aufrecht saß Helene, mit pochenden Pulsen, die Augen starr auf das
-Fenster gerichtet. Langsam aus der Dämmerung erhob sich der Tag. Ihr
-Hochzeitstag.</p>
-
-<p>Der Tod! Nein — dagegen schrie doch auch ihre blühende Jugend, ihr
-gesundes Blut empörte sich. Wenn du eine Schuld auf dich geladen hast,
-so trage sie bis zum Ende!</p>
-
-<p>Und sie sah ihn wieder im Geiste vor sich, wie sie ihn morgen sehen
-würde. Mit den glücklichen Augen, aus denen die Liebe lachte. Sie hörte
-seine Stimme, die so männlich und so zärtlich klang: ‚Meine Helene!
-Meine Helene!‘</p>
-
-<p>Es war eine Fügung. Alles ist Fügung, muß als Fügung genommen werden.</p>
-
-<p>Das Herz wurde ruhiger. Eine stille Ergebung kam über sie. Leise sprach
-sie vor sich hin: ‚Ich hab ihn gern ... ich möchte ihn recht liebhaben.
-Ich will immer gut zu ihm sein. Immer gut und dankbar für seine große
-Liebe ...‘</p>
-
-<p>Sie sah geradeaus zum Fenster, hinter dem es nun hell geworden war. Ein
-einzelner Sonnenstrahl kam. Schmal nur, aber goldig leuchtend glitt er
-ins Zimmer, bis zu ihr hin, wie der erste Gruß des jungen Tages. Ihres
-Hochzeitstages.</p>
-
-<p>Nur ein kleiner Kreis war bei der Feier zugegen. Gastons Vater war
-durch die Sperrung der süddeutschen Bahnen am Kommen verhindert. Er
-war nur bis Basel gelangt und konnte nur von dort aus telegraphisch
-seine Glück- und Segenswünsche senden. Aber daß ein anderer sich unter
-den wenigen Gästen befand, rührte Helene tief. Der alte Heckstein war
-von Frankfurt aus mit der Extrapost gekommen. Sie sah ihn erst, als
-sie am Arm ihres Mannes aus der Kirche schritt. Unter Tränen lächelte
-er ihr zu: „Leneken, ich mußte dir doch für unser ganzes Rohlbeck die
-Glückwünsche bringen. Gottes Segen sei mit dir und mit deinem Mann.“</p>
-
-<p>Eine stille blasse Braut war sie. Doch laut und fest hatte ihr Ja durch
-das Gotteshaus geklungen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p>
-
-<p>Als sie aus der Kirche traten, sah Gaston sie glücklich an: „Meine
-Helene! Wie danke ich dir.“</p>
-
-<p>Und als der kleine Kreis dann bei dem einfachen Festmahl saß, das
-Martha gerüstet hatte, sagte Tante Oschitz leise zu Wilhelm: „Daß
-Helene schön ist, hab ich immer gewußt. Daß sie so schön aussehen
-könnte wie heut mit dem Myrtenkranz — das hätt’ ich doch nicht
-geglaubt. Wenn mein armer lieber Harro sie so gesehen hätte.“</p>
-
-<p>Ruhig und rührend sanft erschien Helene.</p>
-
-<p>Nur als Gaston ihr ein leises Zeichen gab, zuckte sie ein wenig
-zusammen. Aber sie erhob sich sofort.</p>
-
-<p>Gaston hatte das mit Wilhelms besprochen: „Ich muß heut abend in das
-Kantonnement zurück. Laßt sie mir ein paar kurze Stunden und macht kein
-Aufhebens, wenn wir aufbrechen.“</p>
-
-<p>So nahmen sich alle zusammen. Selbst die Jungens. Die lauschten
-freilich gerade auf den lebhaften Disput, der sich zwischen Tante
-Marianne und dem Onkel Pastor angeknüpft hatte über die Gottlosigkeit
-des Krieges. Onkel Pastor war doch ein streitbarer Mann.</p>
-
-<p>Martha ging mit dem jungen Paar hinaus, half Helene beim Umkleiden.
-Und dann kam Omama noch auf einen Augenblick auf den Flur, küßte die
-Tochter, tätschelte mit ihrer welken Hand Gastons Wange: „Seid gut
-miteinander ... und kommt recht gesund von der Hochzeitsreise zurück,
-ihr Kinder.“ Sie hatte längst vergessen, daß Merivaux in den Krieg
-ging, hatte es wohl nie recht begriffen.&#160;—</p>
-
-<p>Es war spät am Abend, als Helene heimkam.</p>
-
-<p>Bis vor die Tür hatte sie Gaston gebracht. Im Hausflur umarmte er sie
-noch einmal, küßte sie leidenschaftlich. „Meine geliebte Frau!“ Ein
-paar Augenblicke ruhte sie weinend an seiner Brust. „Gott schütze dich,
-Gaston!“</p>
-
-<p>Dann riß er sich los.</p>
-
-<p>Langsam stieg sie die Treppe hinauf; schloß die Tür auf.</p>
-
-<p>Martha, die an alles dachte, alles überlegte, hatte auch das so
-gewollt: es sollte niemand auf die junge Frau<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> warten. Sie hatte es
-auch eingerichtet, daß Helene nun ihr Zimmer für sich bewohnte.</p>
-
-<p>Auf dem Flur brannte die Lampe. Sie nahm sie, ging in ihr Zimmer,
-stellte sie beiseite.</p>
-
-<p>Da lag noch ihr Brautkleid und all der bräutliche Schmuck.</p>
-
-<p>Lange stand sie davor, in tiefem Sinnen, mit gefalteten Händen. Es war
-ihr alles wie ein Traum.</p>
-
-<p>Sie nahm den Myrtenkranz, ließ ihn langsam, zärtlich durch die Finger
-gleiten. Leise sprach sie ihren Hochzeitsspruch vor sich hin: „... und
-hättet der Liebe nicht.“ — „Gott schütze dich, Gaston.“</p>
-
-<p>Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen!</p>
-
-<p>Der Conte war in Berlin, Graf Grucker. Kam auch zu Wilhelms oder
-eigentlich zu der jungen Frau, die immer sein Liebling gewesen war. In
-Johanniteruniform, gestiefelt und gespornt, feldzugsgemäß, aber mit
-einem Riesenstrauß in der Rechten und einer massigen silbernen Bowle
-unter dem linken Arm. „Meine Hochachtung, Leneken. Da, nimm mal erst.
-Und nu’n Schmatz. Hast du brav gemacht. Na, wer war nur der Prophete?
-Wer hat dir gesagt: Leneken, der Neuchateller! Besinn dich man:
-zwischen der Schnapstheke und Madame Hufnagel. Da ... die Blumen vor’s
-Herz un den Kübel für’n Hausstand. Der Artenau, der Stickereimajor, die
-Dusche, kann euch die Rezepte dazu geben.“</p>
-
-<p>Schwer ließ er sich in den nächsten Stuhl fallen. „Sind das Zeiten!
-Was, Wilhelm? Da ist der Manteuffel in Holstein eingerückt, und der
-Gablentz hat mit seinen Österreichern das Feld geräumt. Na, schön ...
-aber weißt du’s Neueste? Österreich hat gestern die Bundesexekution
-gegen Preußen beantragt. Scheußliche Geschichte! Wenn man so denkt, der
-janze deutsche Bund gegen Preußen! Bruderkrieg! Bruderkrieg!“</p>
-
-<p>Weit streckte er die Riesenstiefel von sich: „Und, Wilhelm, unsre
-Alliance mit den italienischen Revolutionären von Mazzinis Gnaden ...
-brrr ... ’s geht einem doch<span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span> höllisch <span class="antiqua">contre cœur</span>. Da hat man nu
-fünfzig Jahre und so die Fahne hochgehalten gegen den Umsturz ... ja
-... und nu soll man sich mit ’n Male umkrempeln. Immer hat man’s mit
-Österreich gehalten, auch wenn se uns mal schlecht behandelt haben —
-das haben se manchmal — und nu heißt’s: linksum kehrt! Wenn das der
-alte Rittmeister erlebt hätte!“</p>
-
-<p>Mit einem Male stand er wieder auf den Beinen, straff, zog den
-Uniformrock herunter. „Der König hat’s befohlen. Wird wohl nicht anders
-gegangen sein. Und gut ist’s schon, daß die Schwadronneure ’mal ’s Maul
-halten müssen. Ich sage euch, draußen in der Mark gilt wieder der alte
-Preußenruf: Mit Gott, für König und Vaterland! Na, Leneken, Mädel ...
-pardon! ... junge Frau, was machst du denn für’n ernstes Gesicht?“</p>
-
-<p>„Ach — Onkel Grucker&#160;—“</p>
-
-<p>„Paperlapapp! Warst doch immer ’n tapferes Frauenzimmerchen. Jede
-Kugel, die trifft ja nicht. Un was so’n richtiges märkisches Mädel ist,
-das beißt die Zähne zusammen, wenn der Herzallerliebste in’n Krieg muß.
-Pflicht — einfach Pflicht! Ich muß ja auch auf’n Kriegsschauplatz. Na
-wart ’mal, wenn ich deinem Mann begegne, werd’ ich ’n grüßen. Weißt
-du, was ich ’m sage: <span class="antiqua">Monsieur de Merivaux.</span> Sie sein ein janz
-verfluchtigter Schwerenöter. Aber Sie haben einen janz exzellenten
-Geschmack! Hol mich dieser und jener — meine Hochachtung!“&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Unruhige Zeiten! Unruhige Herzen!</p>
-
-<p>‚Was geht mich die Politik an? Was geht mich die Zeitung an?‘ hatte
-Helene sonst gedacht. Nun harrte und wartete sie, mit den Jungens,
-die ganz rabiat geworden waren, um die Wette auf die alte verhuzelte
-Zeitungsfrau, kämpfte mit Hans und Thede jedesmal einen kleinen Kampf
-um das erste Blatt.</p>
-
-<p>Die Preußen in Hannover. Die Preußen in Dresden. Der alte deutsche
-Bund nach Preußens Erklärung aufgelöst. Und dann der herrliche Aufruf
-des Königs „An mein Volk“<span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span> — ganz wie Vater so oft von Anno dreizehn
-erzählt hatte — mit den verheißungsvollen Schlußworten: „Verleiht
-uns Gott den Sieg, dann werden wir auch stark genug sein, das lose
-Band, welches die deutschen Lande mehr dem Namen als der Tat nach
-zusammenhielt, in anderer Gestalt fester und heilvoller zu erneuern!“</p>
-
-<p>Spärlich kamen die Nachrichten von Gaston. Er hatte es vorausgesagt:
-„Ich werde so oft schreiben, wie ich kann. Aber sorge dich nicht, wenn
-einmal die Briefe ausbleiben.“</p>
-
-<p>Spärlich kamen die Briefe, und sie waren kurz. Aber immer wieder stand
-es in ihnen: „Meine geliebte Frau!“</p>
-
-<p>Als sie das zum ersten Male las, war ihr das Blut jäh in die Wangen
-gestiegen. Und jedesmal, wenn wieder ein Brief kam, flüchtete sie in
-irgendeine stille Ecke der Wohnung, daß niemand sie beobachten konnte.
-Und jedesmal sann und sann sie, lange, über dem Brief — und über sich
-selber.</p>
-
-<p>Zum Altar war sie geschritten mit mühsam errungener Selbstbeherrschung;
-aufrecht gehalten durch den Gedanken an seine große, geduldige,
-nachsichtige Liebe, und doch mit quälendem Vorwurf im Herzen.</p>
-
-<p>Nun war das alles ganz anders&#160;—</p>
-
-<p>Der Sturmesrausch, den sie einst erträumt, der freilich war nicht
-gekommen. Nicht das Gefühl höchster Seligkeit, nicht die Wonne und Glut
-der Leidenschaft. Aber eine sanfte dankbare Zärtlichkeit füllte ihr
-Herz.</p>
-
-<p>Hans und Thede hatten eine große Karte des Kriegsschauplatzes
-mitgebracht. Da verfolgten sie zu dritt nach den Zeitungsnachrichten
-und auch nach Gastons Briefen die Stellung der Truppen, so gut es eben
-ging, und nicht zuletzt suchten die Jungens nach jedem Quartier der
-Gardeschützen.</p>
-
-<p>Sein letzter Brief kam aus Haindorf, dicht an der böhmischen Grenze:
-„Heut ritt der Kronprinz an uns vorüber. Die Schützen jubelten ihm
-zu. Übermorgen geht’s, hoffen wir, nach Österreich hinein. Sorge
-Dich nicht, meine geliebte Frau. Gott wird mich schützen. <span class="antiqua">Vive le
-roi!</span>“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span></p>
-
-<p>Mit der Morgenpost war der Brief gekommen. Gegen Mittag stürzte
-Wilhelm die Treppe hinauf. Er hatte die Wache aufziehen lassen, war in
-Paradeuniform. Kaum im Zimmer, riß er die Schärpe herunter: „Martha,
-wir haben eine große Schlacht verloren!“ Die hellen Tränen liefen ihm
-über die Wangen. „Man weiß noch nichts Näheres. Aber es ist Tatsache.
-Eine große Schlacht! Die arme Armee! Der arme König!“</p>
-
-<p>Er war in völliger Verzweiflung, aufgelöst, fast besinnungslos. Rannte
-im Zimmer auf und ab. „Eine große Schlacht verloren! Wie wird das nun
-werden! Wenn das Vater erlebt hätte.“ Vergeblich suchte Martha ihn zu
-beruhigen. „Gut, daß die Jungens noch nicht größer sind. Daß sie noch
-nicht ganz verstehen können, was wir verspielt haben.“</p>
-
-<p>Auf Helene achteten sie nicht.</p>
-
-<p>Sie stand an der Wand, mußte sich fest anlehnen, hatte die Hände vor
-die Brust gepreßt, und alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen.</p>
-
-<p>Sie dachte nicht an die verlorene Schlacht, sie hörte nicht mehr, was
-der Bruder in seiner maßlosen Erregung sagte. Nur an Gaston dachte sie.
-Und plötzlich kam aus Angst und Sorge die Sehnsucht über sie.</p>
-
-<p>Sie sah ihn vor sich in Not und Gefahr. Sie meinte ihn stürzen zu
-sehen, von Blut überströmt — die Feinde brachen über ihn herein, er
-lag unter Rossehufen&#160;—</p>
-
-<p>Da schrie sie jäh auf: „Gaston!“&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Es war ein böser Abend, der Abend des 28. Juni. Wilhelm ging noch
-einmal in die Stadt, um Nachrichten einzuholen. Aber niemand wußte
-etwas Bestimmtes. Nur unklare Gerüchte schwirrten. Vergeblich umlagerte
-die Masse die Zeitungsredaktionen. Im Kriegsministerium zuckte man
-die Achseln. Ein höherer Offizier, den Wilhelm traf, lachte ihn aus:
-„Unsinn! Wir haben die besten Nachrichten. Der Kronprinz hat die
-böhmischen Pässe schon überschritten.“ Ein anderer sprach von einem
-unentschiedenen<span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span> Gefecht gegen die hannöversche Armee, die sich nach
-dem Süden durchschlagen wollte.</p>
-
-<p>Als er endlich heimkam, war Helene ruhiger geworden. Aber ihre Augen
-schienen von seinen Lippen ablesen zu wollen, was er für Nachricht
-brächte. Er hatte sich nun schon selber bezwungen, ärgerte sich über
-sein hitziges Temperament, das ihn immer alles pechschwarz oder
-rosenrot sehen ließ, versuchte zu scherzen. Aber da bat sie, mit
-erhobenen Händen: „Bitte — bitte — nein!“</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p>Am nächsten Vormittag lachte die Siegessonne über Berlin. Die Glocken
-läuteten. Die Jungens kamen glückstrahlend heim: die Schule war
-geschlossen worden auf die Siegeskunde von allen Seiten: von Nachod
-und Soor und Alt-Rognitz und Königinhof. Genug des Triumphes, um die
-übertriebenen Gerüchte von gestern, die die Schläge von Trautenau und
-Langensalza zu schweren Niederlagen gestempelt, vergessen zu machen.</p>
-
-<p>Die Siegessonne lachte über Berlin.</p>
-
-<p>Helene stand am Fenster und sah, wie auf allen Häusern die
-schwarzweißen Fahnen aufstiegen. Drüben am Rotherschen Stift vor
-der Anschlagsäule drängte sich das Volk um die Depeschen. An der
-Brücke stand ein langer Tisch, ein paar Bürger dahinter, mit großen
-schwarzweißen Kokarden an den Zylinderhüten und Sammelbüchsen in den
-Händen: „Für unsere tapferen Krieger.“</p>
-
-<p>Die Siegessonne leuchtete über Berlin. Wie Jauchzen und Jubeln klang es
-von fern her. Und dann und wann, wenn wieder ein Packen Extrablätter
-unter die Masse vor der Litfaßsäule flog, brach dort ein brausendes
-Hurrarufen aus.</p>
-
-<p>Die Siegessonne lachte über ganz Preußen. Auch über die
-Hunderttausende, die sich um Vater, Mann oder Kind härmten.</p>
-
-<p>An Vater dachte Helene, an den alten Rittmeister, und was der ihr wohl
-gesagt hätte: ‚... das heißt, mein Lenchen, in solchen Stunden kann
-die Frau erst zeigen, was sie<span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 306]</span> wert ist. Fünf Brüder gingen wir Anno
-dreizehn ins Feld, zwei kamen wir nur zurück. Aber meine Mutter hat
-nicht gejammert und geflennt. Wenn sie von den Brüdern sprach, hat sie
-immer nur gesagt: Sie starben für König und Vaterland den Heldentod.‘&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Unruhige Zeiten! Glückliche Zeiten!</p>
-
-<p>Wieder klangen die Glocken. Die hannöversche Armee war zur Kapitulation
-gezwungen, und während der König auf den Kriegsschauplatz eilte, brach
-Prinz Friedrich Karl den heldenmütigen Widerstand der Österreicher und
-Sachsen bei Gitschin.</p>
-
-<p>Wieder jubelte Berlin. Und wieder harrten und härmten sich
-Hunderttausende um Väter, Gatten, Brüder, Söhne.</p>
-
-<p>Eine kurze Zeile nur hatte Helene erhalten, mit Bleistift beim
-Biwakfeuer geschrieben: „Bin gesund und denke Dein in Liebe und
-Sehnsucht. Gaston.“ In unaussprechlichem Dankgefühl schlossen sich ihre
-Hände um das kleine Blatt.&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>„Der Gouverneur soll Viktoria schießen.“</p>
-
-<p>Die Schlacht bei Königgrätz war geschlagen. Das tapfere österreichische
-Heer im vollen Rückzug.</p>
-
-<p>Und fast zugleich trafen die ersten Verlustlisten ein. Vereinzelte
-Zeitungsnachrichten zuerst, vereinzelte Anzeigen der Regimenter,
-und dann, dann die große Liste, Truppenteil an Truppenteil, Name an
-Name gereiht. Lang, endlos lang war sie und trug die Trauer über das
-jubelnde Land.</p>
-
-<p>Auf den Bahnhöfen kamen die ersten Verwundeten an. In die hellen
-Sommerkleider auf den Straßen mischte sich das Schwarz. Neben die
-siegesfrohen Gesichter traten die tränendurchfurchten.</p>
-
-<p>Wieder wie achtzehnhundertvierundsechzig ging Martha an den
-Leinenschrank, saß und zupfte Scharpie, Fädchen auf Fädchen. Und
-Helene saß dabei, die Linnenstreifen in der untätigen Hand, zwang
-sich, geduldig zu scheinen und ruhig, und bebte doch in harrender
-Erregung. Dann brachten die Jungens Zeitungsblätter, und sie durchflog
-Spalte um Spalte mit fiebrigen Augen. Wilhelm kam von vergeblichen<span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span>
-Erkundigungsgängen heim, war selber beunruhigt; auch um Fritz, der
-bei den Fünfunddreißigern mitgekämpft hatte. Schlecht und ungeschickt
-verbarg er die eigene Sorge.</p>
-
-<p>Es konnte ja nur ein gutes Anzeichen sein, daß keine Nachricht da war.
-Ja, doch! Ja, doch! Es konnte&#160;—</p>
-
-<p>Man muß Geduld haben. Es geht Zehntausenden nicht anders als uns. Ja,
-doch! Ja, doch! Aber sie härmen sich auch wie wir&#160;—</p>
-
-<p>„Du mußt bedenken, liebe Helene, wie schlecht die Verbindungen in
-solchen Tagen sind.“ — „Ja, doch — ja, doch&#160;—“</p>
-
-<p>Dann schellte es draußen im Flur. Der Briefträger&#160;—</p>
-
-<p>Und wieder, wieder brachte er keine Nachricht. Drucksachen, Umschläge
-mit gleichgültigen Geschäftsadressen — keinen Feldpostbrief!</p>
-
-<p>Der dritte, der vierte Tag, nachdem die Geschütze mit donnerndem Salut
-den großen Sieg gekündet — und keine Nachricht!</p>
-
-<p>‚Ich will eine tapfere Soldatenfrau sein!‘ rief Helene sich immer
-wieder zu. Aber dann versagte plötzlich die Kraft, der Kopf sank
-vornüber, sie schluchzte auf.</p>
-
-<p>Martha legte den Leinwandstreifen zur Seite, beugte sich zärtlich
-über sie, strich sanft über das rostbraune Haar: „Mein Schwesterchen!
-Morgen! Morgen gewiß! Nur Gottvertrauen und Mut! ... Siehst du, wie
-lieb du deinen Gaston hast!“</p>
-
-<p>Mit todtraurigen Augen schaute Helene auf: „Vielleicht liegt er hilflos
-irgendwo ... in einer elenden Hütte ... und ich kann nicht bei ihm sein
-... kann ihm nichts sein! Die erbarmungslose Untätigkeit! Martha, ich
-ertrag’s nicht!“</p>
-
-<p>Und Martha nahm ihre Hände, sprach ihr gut zu, fühlte, wie vergeblich
-Worte waren, und dachte doch immer: ‚wie lieb sie ihn nun hat ... wie
-lieb sie ihn nun hat ...‘</p>
-
-<p>Am Abend saß Omama an ihrem Traumfenster, sah auf den mondüberströmten
-Rotherschen Garten hinaus und sprach sich mit ihrer zittrigen Stimme
-ein Lied von Anno<span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span> dreizehn vor, wie sie nun eins nach dem andern in
-diesen Tagen in ihr aufstiegen: „... wie glühen dann die Herzen — so
-froh und stark und weich! Wer fällt, der kann’s verschmerzen — Der hat
-das Himmelreich!“</p>
-
-<p>Plötzlich kniete Helene neben ihr, umklammerte ihre Knie, bat: „Hör
-auf, Mutter, hör’ auf!“</p>
-
-<p>Die Greisin schüttelte verwundert den Kopf. „Aber Kind ... es ist doch
-ein sehr schönes, gutes Gedicht ... ‚Der hat das Himmelreich!‘“</p>
-
-<p>„Ach, Mutter —“ und Helene warf den Kopf in Omamas Schoß. „Ich kann’s
-nicht hören!“</p>
-
-<p>Endlos die bangen Nächte.</p>
-
-<p>Helene lag und rang die Hände: „Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn
-mir!“ Übersann, wieder und wieder, jede Stunde des Zusammenseins mit
-ihm: wie gut, wie geduldig er immer gewesen, wie er nimmer ermüdend um
-ihre Liebe geworben. Sie sah seine traurigen Augen, sah seine Augen im
-Glück, fühlte seine Lippen auf ihrem Munde.</p>
-
-<p>„Erbarme dich, lieber Gott, laß ihn mir!“</p>
-
-<p>An jene Nacht vor der Hochzeit dachte sie zurück, an ihre Kämpfe, an
-ihre Verzweiflung. Und nun stand das alles vor ihr, als ob sie schlecht
-gewesen wäre. Undankbar gegen ihn und ungerecht! Gefallsüchtig heut —
-kalt und herzlos morgen! Gespielt hatte sie mit ihm! Nicht Vertrauen
-mit Vertrauen vergolten!</p>
-
-<p>„Allmächtiger Gott, erbarm dich, laß ihn mir! Daß ich gut machen kann!“&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Wieder kam der Tag.</p>
-
-<p>Da stürmte plötzlich Hans herauf, jubelte, schwenkte einen Brief in der
-Hand: „Tante Helene! Tante Helene!“</p>
-
-<p>Das Herz wollte ihr stillstehen. Ein einziger Laut rang sich von ihren
-Lippen.</p>
-
-<p>Und sie riß den Brief an sich, barg ihn zwischen den Händen, küßte ihn
-unter heißen Glückstränen.</p>
-
-<p>Der große Junge stand daneben, wischte sich die Augen, wartete eine
-lange Weile, wehrte sich gegen die eigene Rührung, ließ dann die Tränen
-kullern, wie sie wollten,<span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span> räusperte sich. Bis er endlich doch bat: „So
-lies doch, Tante Helene.“</p>
-
-<p>Da sah sie ihn an mit feuchten Augen, schlang den Arm um ihn, küßte ihn
-zärtlich&#160;—</p>
-
-<p>... und dann las sie.</p>
-
-<p>Wie ein Kind fast, zusammengekauert, saß sie auf dem Sessel, hielt den
-einen Briefbogen zwischen den Händen, die noch immer bebten, hatte den
-zweiten auf dem Schoß. Las mit fliegender Hast und überlas dann jede
-Seite gleich noch einmal. Das Blut kam und ging in dem schönen Gesicht.</p>
-
-<p>Einmal gleich im Anfang sagte sie, hochaufatmend, aber ohne aufzusehen,
-sehr eilig: „Gesund, Hans —“ Las wieder ein paar der eng mit Bleistift
-beschriebenen Seiten weiter, blätterte zurück: „Am 3. abends — Herr
-Gott, wie langsam der Brief ging!“ Sah auf einen kurzen Moment auf,
-nickte Hans mit glückstrahlenden Augen zu, nahm den zweiten Bogen auf.</p>
-
-<p>„Das muß ich dir aber doch vorlesen, Hans&#160;—“</p>
-
-<p>„... wir wollten — so gegen vier Uhr — die jenseits Leipa eroberte
-Batterie verlassen, da kam der König mit seiner Suite angeritten,
-Bismarck und Moltke waren auch dabei. Alles brach in lauten Jubel aus,
-unsere Schützen waren gar nicht mehr zu halten. Wir stürzten auf den
-König los, wer zunächst war, faßte seine Hand und küßte sie. Stell
-Dir das vor, <span class="antiqua">ma chérie</span>, noch mitten im Kanonendonner, unter
-Hurrarufen, das gar nicht enden wollte. Seine Majestät sahen sehr ernst
-aus, aber so mild, so gütig. Und denk’ Dir, plötzlich erkannte er mich.
-Er winkte mir zu und grüßte: „<span class="antiqua">Bonjour</span>, Merivaux.“ Da hab ich in
-den Kanonendonner hinein, recht aus voller Brust, gejubelt: „<span class="antiqua">Vive
-le roi! Vive le roi!</span>“ Wie ich’s als Kind von meinem Vater gelernt
-hatte. Da lächelte der König&#160;...“</p>
-
-<p>Weiter las sie, blätterte zurück, las wieder.</p>
-
-<p>Las dann noch einmal halblaut: „Jetzt liegen wir im <span class="antiqua">bivouac</span>. Ich
-schreib dies schon in der Dämmerung. Gerade klang die Retraite über
-das Schlachtfeld und der Choral ‚Nun danket alle Gott‘. Wir alle haben
-mitgesungen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span></p>
-
-<p>Und dann verstummte sie. Das brauchte der Junge doch nicht zu hören,
-all die Zärtlichkeit, die Liebesworte der letzten Zeilen, all die
-Sehnsucht, die ihr entgegenklang&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Aber sie sprang auf, lief durch die ganze Wohnung. Nun sollten es alle
-wissen. Von einem lief sie zum andern, küßte Omama, umhalste Martha.
-Immer wie ein jubelndes Kind und immer mit Glückstränen in den Wimpern.</p>
-
-<p>Am Nachmittag ließ sich Frau Harriers-Wippern melden.</p>
-
-<p>Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf Helene zu: „Ich brauch’ ja nicht
-zu fragen! Das Glück steht Ihnen auf dem Gesicht geschrieben, Frau von
-Merivaux. Aber gratulieren will ich — recht von Herzen! Sie haben
-sicher die besten Nachrichten.“ Und sie küßte Helene auf beide Wangen.</p>
-
-<p>Dann wurde sie rot: „Übrigens muß ich gestehen, ich komme eigentlich
-nicht nur, um zu gratulieren. Ich komme mit einer Bitte ... Was Sie
-immer für sonderbare Augen machen können, Frau von Merivaux! Ganz
-andere Augen als andere Menschen. Ja, also, um mit der Tür ins Haus zu
-fallen: Sie sollen mit mir in einem Konzert singen.“</p>
-
-<p>Helene erschrak. Aber Frau Harriers ließ sie gar nicht zu Worte kommen:
-„In einem Konzert zum Besten unserer Tapfern, unserer Verwundeten! Da
-können Sie doch gar nicht nein sagen! ... Aber da stehen in Ihren Augen
-schon wieder alle möglichen Fragen — immer kann man’s in Ihren Augen
-lesen, was Sie denken. Warum ich gerade zu Ihnen komme? Erstens weil
-ich so ziemlich die einzige Sängerin von einigem Renommee bin, die
-in Berlin geblieben ist, die sogenannten ersten Kräfte also mangeln.
-Hauptsächlich aber — werden Sie nur ganz nach Belieben rot! — weil
-ich Sie wenigstens einmal herausbringen möchte. Also aus reiner elender
-Lehrerinneneitelkeit.“ Sie lachte fröhlich. „Nun?“</p>
-
-<p>„Es ist ... es kommt so plötzlich&#160;...“</p>
-
-<p>„Das Gute kommt meist plötzlich. Übrigens hab ich alles<span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span> vorbedacht.
-Wir haben acht Tage Zeit. Ihre Hand, liebe Helene, was zögern Sie?
-Nicht wahr, Sie wollen?“</p>
-
-<p>Da sagte Helene rasch: „Ja, ich will!“</p>
-
-<p>Nachher gereute es sie ein wenig. Hatte sie nicht zu schnell zugesagt?
-Ob es Gaston auch recht sein würde? Es war ja für die Verwundeten! Ob
-sie’s auch gut machen würde?</p>
-
-<p>Aber all die Bedenken gingen unter in dem großen Glücksempfinden, das
-sie heut erfüllte.</p>
-
-<p>Das Konzert — nun dachte sie kaum noch an das Konzert und an ihre
-Zusage. Sie saß und schrieb einen langen Brief an Gaston. Ganz anders,
-als sie bisher an ihn geschrieben. Ohne die Worte zu überlegen, ohne zu
-wägen. Nur wissen sollte er, wie selig sie war, wissen, wie sie sich
-nach ihm sehnte, wissen — wissen, daß sie ihn liebte!</p>
-
-<p>Selbst trug sie den Brief zur Post. ‚Nein! Ich trag ihn lieber zum
-Anhalter Bahnhof — dann kommt er schneller in Gastons Hände.‘ Und
-sie ging zum ersten Male seit Tagen durch die Straßen, die noch im
-Siegesschmuck lagen. Immer hatte sie ja zu Haus gesessen — gewartet —
-gewartet&#160;—</p>
-
-<p>Alles sah sie erst jetzt. Die Fahnen und die Girlanden. An der
-altersgrauen Stadtmauer ging sie entlang und mußte lachen. Da hatten
-die Berliner Rangen winzig kleine Löcher durch die zermürbten Steine
-gestoßen, und darum stand: „Hier zieht Benedeck in Berlin ein!!!“ Stand
-in Kreideschrift im Halbkreis herum mit drei Ausrufungszeichen dahinter.</p>
-
-<p>Plötzlich fiel ihr ein: ‚Tante Oschitz! Jetzt gehst du noch zu Tante
-Marianne. Die muß doch Nachricht haben.‘ Aller Welt hätte sie zujubeln
-mögen, wie glücklich sie war.</p>
-
-<p>Und sie ging weiter, über den Potsdamer Platz, durch die
-Bellevuestraße, am Tiergartensaum entlang. Dachte: da drüben am
-Goldfischteich hat Gaston zum erstenmal von unserem Hochzeitstag
-gesprochen. Lachte in sich hinein, wie hilflos sie damals gewesen.
-Lief wie ein Kind durch den Vorgarten der Stillen Insel, fiel Tante
-Marianne um den Hals: „Ich hab einen Brief. Mein Gaston ist gesund!“
-War<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span> glücklich, daß die Greisin sich mit ihr freute. Weinte wie Kinder
-weinen, als Tante Marianne sie vor das große Bild Harros führte, das
-sie von Professor Richter hatte malen lassen. „Ach, Harro — unser
-guter lieber Harro!“ Und hatte, als sie die Stille Insel verlassen,
-doch nur wieder das eine Glücksgefühl im Herzen und nur den einen
-Gedanken an Gaston.</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p>Das Konzert fand in der Singakademie statt. Frau Harriers-Wippern hatte
-nachträglich noch zwei, trotz der Ferien zufällig in Berlin anwesende
-Mitglieder des Königlichen Opernhauses gewonnen, den Bassisten Salomon
-und Fräulein Horina. Für Helene waren drei Nummern reserviert.</p>
-
-<p>Ein wenig befangen war Helene doch.</p>
-
-<p>Als am Morgen die Jungens jubelten: „Tante Helene steht an den
-Litfaßsäulen! Tante Helene steht in der ‚Kreuzzeitung‘!“ war sie rot
-wie ein Schulmädchen geworden. Und als sie mit Martha zur Singakademie
-fuhr, hatte sie eine unheimliche Empfindung im Kehlkopf: ‚Du wirst ja
-keinen Ton herausbringen können.‘ Auch der Zuspruch von Frau Harriers
-half nicht viel. Einmal lugte sie in den überfüllten Zuschauerraum: sie
-sah nur eine Masse Menschen die wie ins Dunkle getaucht schien.</p>
-
-<p>Schon klang die Ouvertüre zu „Struensee“ auf.</p>
-
-<p>Im Konversationszimmer stand der Baumeister Harriers neben Helene,
-hatte eine halbe Flasche Champagner in der Hand und sagte gutmütig
-lächelnd: „Ich kenn’ das von meiner Frau. Die hat heut noch manchmal
-Lampenfieber. Dann hilft nur ein Glas Champagner.“ Sie wehrte wortlos
-ab — und dann stürzte sie doch ein Glas herunter.</p>
-
-<p>Draußen sang gerade Fräulein Horina&#160;...</p>
-
-<p>Dann hieß es: „Die vierte Nummer! Frau von Merivaux — bitte!“</p>
-
-<p>Helene stand auf dem Podium. Im hellen Licht.</p>
-
-<p>Sie mußte überraschend schön wirken in ihrem Brautkleid,<span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span> zu dem sie
-ein paar mattblaue Schleifen genommen hatte und einen Kranz von weißen
-Rosen in das rostbraune Haar. Vielleicht hatte es sich herumgesprochen,
-daß die neue Erscheinung, die Schülerin der gefeierten Frau Harriers,
-die jungvermählte Gattin eines Offiziers sei, der im Felde stand.
-Vielleicht war’s auch nur Neugier. Es ging ein leises Rauschen durch
-den Zuschauerraum.</p>
-
-<p>Einen Moment stand sie noch in Verwirrung. Verneigte sich tief.</p>
-
-<p>Nun klangen die ersten Akkorde&#160;—</p>
-
-<p>Da war ihre Befangenheit plötzlich verschwunden, mit einem Male. Sie
-setzte ein.</p>
-
-<p>Das Uhlandsche Lied sang sie, nach der Komposition von Franz Schubert:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Die linden Lüfte sind erwacht,</div>
- <div class="verse indent0">Sie säuseln und weben Tag und Nacht —“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Es war merkwürdig, sie staunte selbst. Noch nie vielleicht war sie so
-gut disponiert gewesen wie im diesen Augenblicken. Sie fühlte, wie
-sie ihr Organ meisterte, wie es sich ihrem Willen fügte gleich einem
-gehorsamen Instrument. Fühlte, wie sie von Atemzug zu Atemzug freier
-wurde, wie ihre Stimme sich immer weiter entfaltete&#160;—</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Es blüht das tiefste, tiefste Tal,</div>
- <div class="verse indent0">Nun armes Herz vergiß der Qual,</div>
- <div class="verse indent0">Nun muß sich alles, alles wenden.“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Rauschender Beifall tönte herauf, als sie geendet. Und plötzlich,
-während sie sich verneigte, kam wieder die große Verwirrung über sie.
-Keine Angst, aber etwas Beschämung.</p>
-
-<p>Noch immer wollte der Beifall nicht aufhören. Noch einmal mußte sie
-sich verneigen.</p>
-
-<p>Aber als sie sich nun wieder aufrichtete und sich zurückziehen wollte,
-unterschied sie zum ersten Male in der vordersten Reihe ein paar
-bekannte Gesichter. Omama neben Wilhelm — Martha&#160;—</p>
-
-<p>Aber wer war denn das? Zwischen Mutter und der Schwägerin?</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span></p>
-
-<p>Kantor Flehr saß da mit den gefalteten Händen im Schoß, die blauen
-Augen leuchteten aus dem lederfarbenen Gesicht wie in Entzückung zu ihr
-hinüber&#160;—</p>
-
-<p>Das war sicher Marthas Werk! Keine größere Freude hätte sie ihr an
-diesem Abend bereiten können! Und sie neigte sich zum drittenmal und
-nickte ihm zu, nur ihm unter all den Hunderten.</p>
-
-<p>„Das haben Sie brav gemacht, Helene“, meinte dann Frau Harriers. „Brav
-ist eigentlich zu wenig. Es soll auch nur den Zoll für Ihre Tapferkeit
-ausdrücken. Wenn ich so an mein erstes Debüt zurückdenke — wie eine
-Heldin haben Sie sich benommen! Aber sagen Sie, wer ist denn der alte
-wunderliche Mann neben Ihrer Frau Schwägerin, der Sie angestaunt hat
-wie ein Wunder&#160;—“</p>
-
-<p>„Mein erster Lehrer&#160;—“</p>
-
-<p>„Der alte Kantor, von dem Sie mir so oft erzählt haben? Den muß ich
-kennen lernen. Den bringen Sie mir morgen, und ich will ihm ganz allein
-alles aus seinem geliebten Mozart vorsingen, was er nur hören mag.“</p>
-
-<p>Es war eine seltsam frohe Stimmung über Helene gekommen, seit sie den
-Alten gesehen und erkannt hatte. Wie ein lieber Grußbringer aus der
-märkischen Heimat erschien er ihr. Sie dachte zurück an ihre ersten
-Versuche bei ihm, dachte dankbar zurück an die entscheidende Stunde, in
-der er, der Schüchterne, so tapfer vor Vater um ihre Kunst gestritten
-hatte.</p>
-
-<p>Und dann flogen ihre Gedanken wieder weit weg, nach dem
-Kriegsschauplatz, zu Gaston. Daß der heut hier fehlte! Wenn er unten
-gesessen hätte, sie gehört und den Beifall! Sie gehört und gesehen in
-dem weißen Kleide, das sie nun zum zweiten Male trug, mit so ganz, ganz
-anderen Empfindungen im Herzen, als damals — als damals&#160;—</p>
-
-<p>„Frau von Merivaux!“</p>
-
-<p>Sie sang das Lied der Prascovia aus Meyerbeers „Feldlager“. Wieder
-tönte der Beifall. Und ein großes Blumenarrangement stand plötzlich vor
-ihr auf dem Podium, ein mächtiger Korb mit Rosen, den die Kameraden
-von der<span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span> Ersatzkompagnie der Gardeschützen geschickt hatten. Nun sah
-sie auch die wohlbekannten Uniformen unter den Zuschauern, und wieder
-dachte sie an den fernen Geliebten.</p>
-
-<p>Noch einmal mußte sie auf das Podium.</p>
-
-<p>Frau Harriers hatte darauf bestanden, daß sie das Mignonlied singen
-sollte. Sie hatte sich ein wenig gesträubt.</p>
-
-<p>Jetzt, während sie das Lied sang, kam ihr die beseligende Empfindung:
-‚Du singst es ja für Gaston‘&#160;—</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent12">„Dahin! Dahin!</div>
- <div class="verse indent0">Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehen.</div>
- <div class="verse indent0">Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?</div>
- <div class="verse indent0">Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg ...“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Ihr war’s, als zöge sie mit ihm in sein Heimatland. Und ihre Stimme
-gewann, ihr ganz unbewußt, noch einen besonderen Klang, einen
-schwermutsvollen süßen Zauber.</p>
-
-<p>Sie mußte das Lied wiederholen&#160;—</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„Kennst du des Land, wo die Zitronen blühn,</div>
- <div class="verse indent0">Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,</div>
- <div class="verse indent0">Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,</div>
- <div class="verse indent0">Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?</div>
- <div class="verse indent0">Kennst du es wohl!</div>
- <div class="verse indent12">Dahin! Dahin!</div>
- <div class="verse indent0">Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehen!“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Dann stand draußen, während im Saal die Eroica-Sinfonie aufklang, die
-kleine Künstlerschar und umringte Helene. Frau Harriers schloß sie in
-die Arme: „Ich habe eben Taubert gesprochen. Er ist ganz hingerissen.
-Liebe Helene — vergessen Sie die Kunst nicht in Ihrem Glück.“</p>
-
-<p>Fast dasselbe aber sagte nachher in seiner schüchternen, schlichten und
-doch ein wenig überschwenglichen Art der alte Kantor. Er faßte beide
-Hände Helenens, hielt sie andächtig in den seinen: „Daß ich das erlebe!
-Liebe, liebe gnädige Frau ... Wenn Sie so recht glücklich sind, dann
-denken Sie immer daran, daß Ihre Kunst das schönste Glück erhöhen und
-krönen kann&#160;...“</p>
-
-<p class="center mtop1 mbot1">*<span class="mleft7">*</span><br />
-*</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span></p>
-
-<p>Eine Woche noch, und es tauchten Gerüchte auf, daß im Hauptquartier des
-Königs, in Nikolsburg, über den Frieden verhandelt würde.</p>
-
-<p>Gerade an dem Tage, an dem Helene die erste Zeitungsnotiz darüber las,
-schrieb Gaston aus Holleschin: „Auf dem Marsch gegen Wien.“ Es war die
-Antwort auf Helenes Brief. Er rechnete noch fest auf die Fortsetzung
-des Feldzuges, aber er schrieb kaum von Gefahren und Strapazen: immer
-wieder nur schrieb er von der Seligkeit, die Helenes Brief in ihm
-erweckt: „Das ist mein schönster Siegespreis!“</p>
-
-<p>Friede!</p>
-
-<p>Helene hatte bis zur letzten Minute nicht fest an ihn zu glauben
-gewagt. Sie hatte ihn erhofft, jede Nachricht mit zitternder Spannung
-verfolgt und doch immer wieder gezagt. Nun jauchzte ihr Herz.</p>
-
-<p>Manchmal in diesen Tagen kam sie sich als recht schlechte Patriotin
-vor&#160;—</p>
-
-<p>Bruder Fritz war bei Königgrätz leicht verwundet und als Rekonvaleszent
-zurückgekehrt, mußte noch liegen, hatte sich bei Wilhelms einquartiert,
-um seine völlige Herstellung abzuwarten. Denn dem groben Doktor
-Tiburtius in Stellberg traute er keine besonderen chirurgischen Künste
-zu.</p>
-
-<p>Die Brüder saßen viel zusammen. Wilhelm war ein wenig stolz auf den
-verwundeten Bruder, klagte, daß er selbst beim Ersatz geblieben war,
-tat sich etwas darauf zugute, Fritz bei sich zu pflegen und zu hegen;
-ihm das Beste vorzusetzen, was der Keller hergab, und für seine
-Unterhaltung zu sorgen. Bis zur Stunde, wo Wilhelm aus dem Dienst kam,
-las Fritz sämtliche Berliner Zeitungen und war dann vollgesogen wie
-ein Schwamm. Sein sonnengebräuntes Gesicht lachte, wenn er Wilhelm und
-möglichst die ganze Familie an seinem Schmerzenslager versammelt sah.</p>
-
-<p>Da hörte denn auch Helene, was Großes geschehen, welch Größeres in
-Aussicht stand für Preußen, für das deutsche Vaterland.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span></p>
-
-<p>Fritz war noch immer der Mann der Politik. Aber der ‚rote Kreisrichter‘
-war er nicht mehr. „Wir haben uns geirrt. Die besten von uns gestehen
-es offen ein. Wir haben vor allem Bismarck unrecht getan — und dem
-König. Wir haben uns geirrt — im ehrlichen Glauben. Aber nun heißt’s
-für uns, auch ehrlich die dargebotene Hand zu ergreifen. Der Konflikt
-muß begraben sein. Gottlob!“</p>
-
-<p>Und er sprach weiter vom neuen Norddeutschen Bunde, und wie der nur
-die Vorstufe sei zu einem einigen Deutschland. Er sprach wehmütig
-vom Ausscheiden Österreichs aus dem Kreise der deutschen Staaten und
-von Bismarcks politischer Weisheit, die dem Donaustaat allzu schwere
-Opfer erspare; wohl in der Hoffnung, daß es dereinst auch mit ihm zu
-einer Versöhnung kommen möge. „Denn wir sind und bleiben deutsche
-Brüder!“ Und er sprach stolz von Preußens Machtzuwachs, daß nun
-die beiden Hälften der Monarchie verbunden seien, das Preußen mit
-Schleswig-Holstein den besten deutschen Kriegshafen gewonnen habe.</p>
-
-<p>Helene hörte das alles: Sie freute sich auch darüber. Zumal, wenn es
-immer wieder hieß: „Wenn doch unser guter Vater das erlebt hätte!“</p>
-
-<p>Aber sie schämte sich auch. Nein, eine gute Patriotin war sie nicht!
-Ihr Herz war so voll von dem einen, daß sich für alles andere nur wenig
-Raum fand. Beim besten Willen: der Norddeutsche Bund und die deutsche
-Einheit, die ließen sie im letzten Grunde gleichgültig. Sie hörte das
-alles, und sie dachte doch nur an Gaston.</p>
-
-<p>Dann legte wohl Martha den Arm um den Nacken der jungen Frau und küßte
-sie wortlos auf die Stirn. Oder die alte Omama kam auf ihren Krückstock
-gestützt vom Fensterplatz herüber, schüttelte den Kopf, daß die
-schwarzen Schläfenlocken pendelten, und meinte: „Unsre Lene war eben
-immer ein kurioses Menschenkind ... ja ... aber ihr müßt wissen ...
-<span class="antiqua">C’est l’amour! C’est l’amour!</span> Ja, der Flehr ... übrigens etwas
-deplaciert kam ich mir doch neben ihm vor, neulich im Konzert ... ja,
-der<span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span> Kantor hat auch gesagt: gelernt hätt’ die Lene wohl unglaublich
-viel, aber das allein tät’s doch nicht.“ Ganz leise kicherte sie noch
-einmal vor sich hin: „<span class="antiqua">C’est l’amour! C’est l’amour.</span>“ Und Helene
-wurde rot wie ein junges Mädchen.&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Wilhelm schmiedete schon neue Geschäftspläne. Er wollte mit einem
-Konsortium die Waffen der früheren hannöverschen und hessischen Truppen
-kaufen. „Ich stehe in Unterhandlung mit chilenischen und argentinischen
-Emissären — für Südamerika sind die alten Flinten noch wunderbar
-schön.“ Dabei rechnete er auf Heller und Pfennig heraus, daß er den
-Seinen ein riesiges Vermögen bei dem Geschäft gewinnen müsse. „Sobald
-ich entlassen bin, geh ich nach London, um abzuschließen!“</p>
-
-<p>‚Arme Martha! Er ist und bleibt der unverbesserliche Phantast und
-Optimist.‘ Aber wenn Helene ihm in sein schönes, immer heiteres Gesicht
-sah, sein liebenswürdiges Lachen hörte, sagte sie sich wieder: ‚Bös
-kann man ihm doch nicht sein. Auch Martha nicht, wenn sie auch manchmal
-nicht leicht trägt. Im Grunde: die beiden passen trefflich zueinander.‘</p>
-
-<p>Dann träumte sie weiter: ‚Wie werden wir beide wohl miteinander sein?‘
-Und sie preßte die Hände aneinander, als ob sie etwas recht, recht fest
-halten wollte.</p>
-
-<p>Oft dachte sie zurück an ihr innerstes Erleben. Nichts hätte sie missen
-mögen. Sie wußte nun: Durch Schmerz und Leid führte mein Weg zum Glück!
-Und sie wußte auch: ein Schößling, der schnell aufschießt, hält der
-Zeit selten stand; der langsam wachsende Baum aber wird stark und
-kräftig. So war ihre Liebe&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<p>Berlin rüstete sich zum Empfang der Sieger.</p>
-
-<p>Die Einzugsstraße Unter den Linden schmückten als schönste Zier die
-zweihundertneun eroberten Geschütze, von Viktorien unterbrochen, die
-auf goldenen Schildern die Namen der Schlachten und Gefechte trugen.
-Viktorien leiteten zur Schloßbrücke. Auf dem Lustgarten erhob sich der
-Altar mit der riesenhaften Borussia dahinter, umgeben<span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span> von den Statuen
-der Hohenzollernherrscher. Flatternde Fahnen, Girlanden, Blumenschmuck
-allerorten&#160;—</p>
-
-<p>Wilhelm hatte einige Fensterplätze im Zeughaus erhalten.</p>
-
-<p>Hier stand Helene und sah über die wogenden Massen hinüber, auf die
-breite freie Straße, die die Sieger vom Brandenburger Tor her kommen
-mußten.</p>
-
-<p>Von fernher klang der Jubel der Hunderttausende, kam näher, schwoll,
-wie Sturmesbrausen.</p>
-
-<p>Der Zug nahte. Vorn die Generale, Bismarck und Moltke.</p>
-
-<p>Der König dann, mit ihm der Kronprinz, Prinz Friedrich Karl, die
-Heerführer.</p>
-
-<p>Drüben am Palais nahm der König Aufstellung, um seine Tapferen an sich
-vorüberziehen zu lassen.</p>
-
-<p>Hochaufgerichtet saß der Kriegsherr im Sattel.</p>
-
-<p>Und wie Helene ihn so sah, umbraust von Jubel, der sich immer und immer
-erneute, der nicht enden wollte und nicht enden konnte, da tauchte noch
-einmal ein seltsames Erinnerungsbild vor ihrer Seele auf.</p>
-
-<p>Vor vier Jahren hatte sie ihn zum ersten Male gesehen, den greisen
-König, im Wagen, am Brandenburger Tor. Fast die einzige war sie
-damals gewesen, die sich vor ihm zum Gruß beugte. Als ob er die Liebe
-seines Volkes verloren hätte. Ernst hatte sein gütiges Auge über alle
-hinweggesehen, ernst und milde. Ja, auch er hatte sich die Liebe
-erobern müssen, in schwerem Ringen! Aber nun hielt er dort drüben,
-bei seinem großen Ahn, Friedrich dem Einzigen, und ein dankbares Volk
-jubelte ihm zu. Nun hatte er dieses Volkes Liebe für alle Zeiten&#160;—</p>
-
-<p>Das Herz pochte, und in ihr war der große Jubel: Heil, König dir!</p>
-
-<p>Mit einem Male, plötzlich, war sie wieder ganz die Tochter des alten
-Rittmeisters, die echte Märkerin, die leidenschaftliche Patriotin:
-‚Heil, König dir!‘</p>
-
-<p>Unten zogen die eroberten Fahnen durch die Ruhmesstraße.</p>
-
-<p>Dann folgten, im endlos langen Zuge, die siegreichen Truppen. Die
-Musikchöre spielten. Immer aufs neue<span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span> setzte der Jubel ein. Im
-Feldanzug kamen die Regimenter, mit Blumen bekränzt die Gewehre,
-die zerschossenen Helme. Im festen Tritt marschierten sie an dem
-Kriegsherrn vorüber&#160;—</p>
-
-<p>Und nun spähte Helene mit Falkenblick. Schon von weitem sah sie die
-schwarzen Käppis der Schützen. Sah dann vor seinem Zuge ihn, Gaston.
-Sah ihn vor dem Könige salutierend den Degen senken, sah, wie sein
-Blick sich wandte, suchend, forschend, bis er sie fand. Und da erst
-dachte sie daran, daß neben ihr ein alter Herr stand, mit dem Roten
-Adlerorden im Aufschlag des schwarzen Rockes, ein alter Herr, der von
-weither gekommen war, den Sohn an diesem Tage zu grüßen und dem König
-sein „<span class="antiqua">Vive le roi!</span>“ zuzujubeln. Sie faßte seine Hand und sagte:
-„Vater — sieh — Gaston&#160;—“</p>
-
-<p>Unten zogen die Truppen weiter. Regiment auf Regiment, Schwadron auf
-Schwadron, Batterie auf Batterie. Zogen über die Schloßbrücke zum
-Altar, der zu Füßen der Borussia errichtet war.</p>
-
-<p>„Ein anderer wird morgen die Kompagnie zur Kaserne führen“, hatte
-Gaston gestern geschrieben. Aus dem letzten Quartier.</p>
-
-<p>So wußte Helene, daß er kommen und sie finden würde.</p>
-
-<p>Sie trat zurück vom Fenster, aus der Enge der Zuschauer, in den Saal.
-Niemand achtete auf sie. Unten zogen noch immer die Regimenter vorüber.
-Triumphmusik klang herauf und der brausende Jubel der Menge.</p>
-
-<p>Sie wartete&#160;—</p>
-
-<p>Und ihr Herz wurde weit. In ihr tönte der Text ihres Brautspruches
-wieder, und es war wie ein glückseliger Sphärenklang ... „Und hättet
-der Liebe nicht&#160;...“</p>
-
-<p>Am Eingang des Saales stand er, seine Augen suchten sie.</p>
-
-<p>Da ging sie ihm entgegen&#160;—&#160;—&#160;—</p>
-
-<hr class="end" />
-
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-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>AUF MÄRKISCHER ERDE</span> ***</div>
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-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
-</div>
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-Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of
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-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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-goals and ensuring that the Project Gutenberg&#8482; collection will
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-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg&#8482; and future
-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
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-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation&#8217;s EIN or federal tax identification
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-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state&#8217;s laws.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
-Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
-to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
-and official page at www.gutenberg.org/contact
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
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-Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
-public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
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-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
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-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
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-any statements concerning tax treatment of donations received from
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-Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
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