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-The Project Gutenberg eBook of Das Weihnachtslied, by Lina Walther
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Das Weihnachtslied
- Eine Erzählung für junge Mädchen
-
-Author: Lina Walther
-
-Release Date: December 11, 2022 [eBook #69525]
-
-Language: German
-
-Produced by: Jens Sadowski, Reiner Ruf, and the Online Distributed
- Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was
- produced from images generously made available by The
- Internet Archive)
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS WEIHNACHTSLIED ***
-
-
- ####################################################################
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
- Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1887 so weit
- wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler
- wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr
- verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert;
- fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.
-
- Der Ausdruck ‚et cetera‘ wird im ursprünglichen Text mit Hilfe
- der Tironischen Note ‚Et‘ dargestellt. Da diese Note in vielen
- Zeichensätzen nicht enthalten ist, wird in der vorliegenden Fassung
- die im Deutschen gebräuchliche Abkürzung ‚etc.‘ verwendet.
-
- Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt; besondere
- Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der folgenden
- Sonderzeichen gekennzeichnet:
-
- gesperrt: +Pluszeichen+
- Antiqua: ~Tilden~
-
- ####################################################################
-
-
-
-
- Das Weihnachtslied.
-
-
-
-
- Das Weihnachtslied.
-
- [Illustration]
-
- Eine Erzählung für junge Mädchen
-
- von
-
- Lina Walther.
-
-
- Gotha.
-
- Friedrich Andreas Perthes.
-
- 1887.
-
-
-
-
- Ihren drei Nichten
-
- Elisabeth Moeller
-
- Hanna Pfeifer
-
- und
-
- Anna Moeller
-
- gewidmet
-
- von der
-
- Verfasserin.
-
-
-
-
-Inhalt.
-
-
- Seite
-
- 1. Einleitung 1
-
- 2. Jugendsonnenschein 16
-
- 3. Sturm 29
-
- 4. Not und Sorgen 44
-
- 5. Suschen von drüben 52
-
- 6. Die Urgroßmutter 82
-
- 7. Muß man denn immer im Streit sein auf Erden 120
-
- 8. Schwerer Abschied 139
-
- 9. Bei Werners 154
-
- 10. Noch eine neue Schule 192
-
- 11. Auf eigenen Füßen 285
-
- Schluß 289
-
-
-
-
-1.
-
-Einleitung.
-
-
-Die Adventszeit hatte begonnen. Am Morgen war der erste Schnee
-gefallen; jetzt erglänzte der Abendhimmel klar und rein; die mit
-den feinen Krystallen des Rauhreifs geschmückten Zweige hoben sich
-scharf ab von seinem leuchtenden Hintergrunde; vom nahen Rain herüber
-hörte man die Stimmen jubelnder Kinder, die zum erstenmal in diesem
-Jahre auf ihren Handschlitten die rasche, immer aufs neue beginnende
-Reise machten, vom Hügel zur darunter liegenden Wiese. Am Ende einer
-Lindenallee, die mit ihren feinen Zweigen ein besonders strahlendes
-Bild in der lichten Landschaft abgab, wenige Minuten nur von der
-kleinen Stadt entfernt, öffnete sich jetzt die Thüre eines großen,
-grauen Hauses, und mit leisem, fröhlichem Geplauder erschienen auf
-der Schwelle etwa 20 bis 25 jugendliche Gestalten, einige schon
-jungfräulich erscheinend, andere noch in der Kindheit stehend.
-Sobald sie die breite Freitreppe verließen, war es, als sei ein Trupp
-gefangener Vögel in Freiheit gesetzt worden: die älteren wanderten
-paarweis oder zu dreien plaudernd dahin; die jüngeren versuchten zu
-schlittern, und hie und da griff eine mit etwas scheuem Seitenblick
-nach den Fenstern des Hauses wohl auch nach einem Schneeball, eine
-fröhliche Kanonade zu beginnen. Da hörte man etwas lauter als
-gewöhnlich eine schlanke Blondine sagen: „Kinder (Kinder ist eine sehr
-oft gebrauchte Anrede zwischen Backfischen), sie ist reizend!“ Als ob
-das Signal zum Sammeln geblasen wäre, so flogen jetzt die Köpfe aller
-größeren Mädchen nach der Seite der Sprecherin; sie stand sofort von
-einem dichten Kreis umgeben, aus welchem immer wieder die Ausdrücke:
-„Entzückend! einzig! süß! zu lieb!“ zu hören waren.
-
-„Ja“, rief eine kleine runde Braune, „es giebt nur +eine+ Fräulein
-Feldwart. O, wie ist sie liebevoll! und so anmutig! Stundenlang kann
-man ihr mit Spannung zuhören; bei der alten Fräulein Klug wurde ich
-immer in der ersten Viertelstunde müde!“
-
-„Was weiß sie alles“, rief eine andere, „wie erzählt sie, wie schön
-singt sie!“
-
-Der Gegenstand dieser Begeisterung war die neue Lehrerin, Martha
-Feldwart, welche seit Ostern in die Schule der Frau W., für die alte,
-gebrechlich gewordene Fräulein Klug, eingetreten war.
-
-Jetzt öffnete sich die Hausthüre noch einmal, und die schwärmerisch
-Verehrte erschien auf der Schwelle, in der Hand den Regenschirm und
-die Mappe mit den Zeichnungen, Noten und Büchern. Es war eine leichte,
-schlanke Gestalt, mit einem feinen, ein wenig blassen Gesichte, dessen
-dunkle Augen in lieblicher Freundlichkeit leuchteten, als die jungen
-Mädchen sie umdrängten, und von allen Seiten die Bitte ertönte:
-„Ach, lassen Sie mich Ihren Regenschirm tragen! Ihre Mappe, Fräulein
-Feldwart!“
-
-„Laßt es mir nur“, sagte sie mit angenehmer, herzlicher Stimme, „ich
-kann es ja doch nicht allen zugleich geben.“
-
-„Aber jeder ein kleines Stück, bitte, bitte!“ fing der Chor noch einmal
-an, und die Kühnsten hatten sich schnell in Besitz der fraglichen
-Gegenstände gesetzt.
-
-„Trugt ihr Fräulein Klug auch immer die Mappe nachhaus?“ fragte
-Fräulein Feldwart.
-
-Die Kinder blickten sich an mit wunderlichen Gesichtern; endlich sagte
-eine: „Ach, das hätten wir gar nicht gewagt; sie sah immer so böse aus,
-Fräulein Feldwart!“
-
-„O“, erwiederte diese ernst, „sie ist gewiß immer recht müde und
-matt gewesen, die Arme! Wie schwer mag ihr der Unterricht bei ihren
-Schmerzen in letzter Zeit geworden sein. Nun hört! bis an die Ecke der
-Schustergasse dürft ihr mir die Sachen tragen, -- wenn ihr es durchaus
-wollt; dann gebt ihr sie mir ohne Widerrede und laßt mich alleine
-nachhause gehn.“
-
-Wenn Fräulein Feldwart so bestimmt sprach, war ihr nichts abzuhandeln,
-gar nichts! das wußten die Kinder. Die Schustergasse war schnell
-erreicht, und mit herzlichem Gruße trennten sich Lehrerin und
-Schülerinnen.
-
-„Warum wir nicht weiter mitkommen sollen?“ fragte die kleine braune
-Helene.
-
-„Ich glaube, ich weiß es“, rief die blonde Eva, „es ist von wegen der
-Klug, die wohnt mit ihr in einem Hause!“
-
-„Hört!“ fing jetzt Agnes mit leuchtenden Augen an, „mir fällt eben
-etwas zu Schönes ein; sie ist noch so fremd hier; wir müssen ihr zu
-Weihnachten ein Bäumchen putzen, und jede von uns hängt eine kleine
-Arbeit daran.“
-
-Begeisterung und Zustimmung von allen Seiten! Welch neuer Stoff zur
-Unterhaltung! An jeder Straßenecke gab es vor der Trennung noch eine
-lange Konferenz, und den Müttern wurde zuhause kaum Zeit gelassen,
-sich nach der ungewöhnlichen Verzögerung des Heimwegs zu erkundigen.
-Bevor noch das sonst so ersehnte Vesperbrot angerührt wurde, waren
-sie überschüttet mit den schönen Weihnachtsplänen, und die meisten von
-ihnen, froh über den beglückenden Einfluß der jungen Lehrerin, boten
-gerne die Hand zu ihrer Ausführung.
-
-Indessen hatte Martha Feldwart das bescheidene Haus erreicht und die
-beiden Treppen erstiegen, welche zu ihrer einfachen Wohnung führten.
-Angenehm überrascht blieb sie einen Augenblick auf der Schwelle stehen;
-das Feuer im Ofen brannte schon und verbreitete eine behagliche
-Wärme; der Kaffeetisch war gedeckt, und die kleine Kanne stand in der
-Ofenröhre. „Die gute Fräulein Klug!“ rief die Eintretende gerührt,
-„da hat sie ’mal wieder alles für mich gethan, trotz ihrer steifen
-Glieder!“ Kaum hatte sie Hut und Mantel abgelegt, da eilte sie den
-Korridor entlang zum Stübchen der alten Kollegin, ihr Gruß und Dank für
-ihre Mühe und Sorgfalt zu bringen.
-
-Es war eine krumme, gebeugte Gestalt mit einem Angesichte voller
-Runzeln und Falten, die dort im Lehnstuhl ruhte, und da sie viel an
-Gliederschmerzen litt, trugen ihre Züge einen leidensvollen, grämlichen
-Ausdruck; aber aus den Augen leuchtete es doch freundlich, als sie
-ihrer jungen Nachfolgerin die welke Hand entgegenstreckte: „Ich bin ja
-froh, Fräulein Marthchen, wenn ich noch ’mal was thun darf“, erwiderte
-sie auf Marthas warmen Dank.
-
-„Sie sollten herüber kommen und den Kaffee mit trinken!“ bat diese.
-
-„Lassen Sie mich, liebes Kind! ich habe eben eine Lage gefunden, in
-welcher ich es ohne Schmerzen aushalten kann, und Sie müssen ja doch
-dann Hefte korrigieren; da können Sie keine Gesellschaft gebrauchen.“
-
-„Ich sehe aber nachher noch einmal herein und helfe Ihnen ins Bett; das
-darf ich doch?“
-
-„Gewiß“, lächelte die Alte, und die Jüngere kehrte in ihr ungemein
-sauberes, gemütliches Zimmer zurück.
-
-„Ich will mir doch morgen Wolle mitbringen zu einem Tuch für sie“,
-sagte sie leise.
-
-Schöne Adventszeit! Das Christkind ist nicht weit; seine Liebe dringt
-durch Paläste und Hütten, seine dienstbaren Geisterchen gehen von
-Haus zu Haus, von Herz zu Herz, erwecken Liebesgedanken, entzünden
-zu Liebesthaten: groß und klein, und alt und jung. Gar so schnell
-eilten Tage und Stunden dahin für alle die emsig schaffenden Hände;
-der Christabend erschien, bevor man sich dessen versah. Es war kein
-freundlicher Tag mit strahlendem Sonnenschein über der weißgekleideten
-Erde. Vom Morgen an tanzte der Schnee durch die Luft in so dichten
-Flocken, daß man kaum wenige Schritte weit sehen konnte; der
-Wirbelwind jagte ihn, schlug ihn an die Fensterscheiben, und trieb
-ihn den mühsam dahinschreitenden, vermummten Gestalten ins Gesicht,
-welche ihre letzten Weihnachtsbesorgungen machen wollten; er warf
-an den Straßenecken Schneeberge auf, als wollte er allen Verkehr
-hindern und hemmen; er entführte die leinenen Wände der Buden auf dem
-Weihnachtsmarkte, und dort an der Ecke, wo sie seiner Gewalt am meisten
-ausgesetzt waren, stürzten mit großem Krachen zwei Honigkuchenbuden um;
-der Besitzer schimpfte und rieb sich die Glieder, die etwas getroffen
-worden waren. Mit großem Hallo! und Heisa! eilte die Straßenjugend
-herbei, wühlte im Schnee und suchte verunglückte Honigkuchenmänner,
-Pfeffernüsse und Bonbons darunter hervorzuziehen. Der Mann wehrte,
-seine Frau drohte, aber es war ja Weihnachten! Ein sehr schlimmes
-Gericht erging nicht über die Eindringlinge, und manches arme Kind
-hielt in den kalten dunkelroten Händchen mit strahlendem Angesichte ein
-süßes Beutestück. Auch Martha hatte sich gegen Abend wohl vermummt noch
-einmal hinausgewagt mit einem Korb am Arme. Ihre Waschfrau war krank
-gewesen und erst seit wenigen Tagen wieder außer Bett; ihr trug sie
-etwas Lebensmittel und selbstgestrickte Müffchen und Strümpfe für die
-Kinder hin; viel konnte sie nicht erübrigen von ihrem kleinen Gehalt,
-aber es war ja Weihnachten! da mußte sie auch die Freude des Schenkens
-haben. Sie fand die Familie um ein Tannenbäumchen versammelt, an dem
-wenige Äpfel und Nüsse hingen und ein paar kleine Lichter brannten.
-Mit Jubel wurden ihre Gaben empfangen, und die Danksagungen aller
-folgten ihr, als sie von da den weiteren Weg zum Vespergottesdienst
-antrat. Es war ein rechtes Kämpfen gegen Sturm und Wetter; aber es war
-ja Weihnachten! Von rechts und links, aus kleinen Gassen und breiten
-Straßen eilten mit fliegenden Mänteln und Kleidern alte und junge
-Gestalten herbei, und als die kleine Kirche mit den lichtübersäeten,
-liliengeschmückten Weihnachtsbäumen die Wanderer in ihren Friedenshafen
-aufnahm, als ihnen entgegenklang: „Dies ist die Nacht, da mir
-erschienen des großen Gottes Freundlichkeit; das Kind, dem alle
-Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit, und dieses Welt- und
-Himmelslicht weicht hunderttausend Sonnen nicht“; -- da verstärkte der
-Gegensatz von drinnen und draußen das selige Gefühl, beim Christkind
-geborgen zu sein vor allem Weh und allem Leid des Lebens. Auch in
-Marthas empfängliches Herz drang der Strahl der Weihnachtssonne, auch
-sie empfand tief das: „Siehe, ich verkündige Euch große Freude!“ und
-erhoben und erquickt trat sie den Rückweg an. Er war weit leichter als
-der Hinweg; denn, als hätte auch der Sturm die Nähe dessen gefühlt, dem
-Wind und Meer gehorsam sind: es war ganz stille geworden draußen. Der
-Mond war durch die Schneewolken hindurchgebrochen; in seinem milden
-Lichte glänzten festlich die weißen Straßen und Dächer; hin und wieder
-ward jetzt ein Fenster hell und die Lichter des Christbaumes warfen
-ihren Schein hinaus auf die Straße. „Es ist doch schade, daß ich mir
-kein Weihnachtsbäumchen geschmückt habe“, dachte Martha als sie die
-enge, wohlbekannte Treppe hinaufstieg. Sie zündete ihre Lampe an und
-wollte eben das vollendete Tuch für die alte Nachbarin aus der Kommode
-nehmen, da hörte sie Flüstern und Schritte auf der Treppe; sie öffnete
-die Thüre, um zu leuchten, aber der Schein einer Laterne glänzte ihr
-entgegen, eine kleine weiße Hand schloß energisch die Thüre und eine
-liebliche junge Stimme sprach: „Ruhig drin geblieben, sonst bläst Ihnen
-das Christkind die Augen aus!“ Dann erklang, von wohlbekannten Stimmen
-gesungen, ihr Lieblingsvers:
-
- „Fröhlich soll mein Herze springen
- Dieser Zeit, da vor Freud’
- Alle Engel singen;
- Hört, hört wie in vollen Choren
- Alle Luft laute ruft:
- Christus ist geboren!“
-
-Dann öffnete sich die Thüre, und welcher Anblick war schöner? Der
-grüne zierliche Baum mit brennenden Lichtern, goldenen Sternen und
-lieblichen Rosen, oder die hellen Augen, die von der Kälte geröteten
-Wangen und strahlenden Gesichter ihrer heißgeliebten Kinder? Die
-Thränen stiegen der Überraschten in die Augen; sie wußte selbst
-nicht, was ihr Herz jetzt am meisten bewegte; die himmlische oder die
-irdische Weihnachtsfreude, und sie konnte anfangs gar nichts weiter
-sagen, als: „Meine Kinder! meine lieben Kinder!“ und eine der zarten
-Mädchengestalten nach der andern in ihre Arme und an ihr Herz ziehen.
-Aber diese wünschten jetzt noch etwas anderes. Martha sollte auch
-die Arbeiten ihrer fleißigen Hände bewundern und sich über jedes der
-kleinen Geschenke einzeln freuen. Sie that es so gerne, aber mitten
-in dem fröhlichen Betrachten durchzuckte sie der Gedanke: „Ach,
-meine Klug! meine arme Klug!“ und die Kinder wußten nicht, warum sie
-auf einmal so still und nachdenklich zwischen ihnen stand und ein
-so wehmütiger Schatten über das Angesicht flog, dessen wechselnden
-Ausdruck ihre kindliche Liebe sonst so wohl verstand.
-
-„Liebe Kinder“, sagte Martha endlich: „Wollt ihr mich nun ganz, ganz
-glücklich machen?“ Aller Augen hingen voll Spannung an ihren Lippen.
-„Seht, neben mir wohnt Fräulein Klug. Die hat nicht nur euch, sondern
-schon vor euch, euere Mütter unterrichtet und hat viel, viel mehr
-Anspruch auf euere Dankbarkeit als ich. Nichtwahr, wir tragen ihr das
-Weihnachtsbäumchen hinüber? Was gar nicht für sie paßt, das nehme ich
-mir herunter; aber die warmen Müffchen und den Ohrenwärmer und einiges
-andere, das lassen wir hängen; ist’s euch so recht?“ Ach nein! es war
-ihnen gar nicht recht; sie sahen recht niedergeschlagen und traurig
-aus. „Sie sorgt für mich, wie eine Mutter, und (hier wurde Marthas
-Stimme unsicher) ich werde auch ’mal alt und kränklich sein.“
-
-Da wurde es unruhig in den jungen Herzen und Gewissen, und als die
-blonde Eva schüchtern sagte: „Ja, wenn es Ihnen so die meiste Freude
-macht, Fräulein Feldwart“, da stimmten die andern getröstet ein.
-
-Die Jugend ist elastisch; die Kinder halfen nun selbst auswählen, was
-hier bleiben und was hinüber gebracht werden sollte, und gingen gern
-auf Marthas Wunsch ein, daß vor Fräulein Klugs Thüre nicht nur der
-erste Vers des schönen Weihnachtsliedes, sondern auch der siebente
-und der neunte gesungen werden sollte. Das wurde denn auch sehr schön
-ausgeführt; denn Marthas klare, sichere Stimme leitete den Gesang.
-„Faßt ihn wohl, er wird euch führen an den Ort, da hinfort euch kein
-Kreuz wird rühren.“ Das war der Schluß. Drinnen war es ganz still
-geblieben. Leise klopfte Martha und öffnete vorsichtig; da stand
-Fräulein Klug mitten im Zimmer, hielt sich an die Lehne ihres Stuhles;
-gewaltiger Kampf war in ihren Zügen, aber mit finster abweisendem
-Blicke sah sie auf die Kinder und den geschmückten Baum. Es fühlten
-in diesem Augenblick alle, Martha am tiefsten, daß sie der Einsamen
-ein zweifelhaftes Glück bereiteten, und keines konnte sogleich eine
-passende Anrede finden.
-
-Fräulein Klug zeigte mit ihren dünnen Fingern auf Martha: „Sie hat es
-euch gesagt, und der Baum ist für sie, und in euere Gedanken ist das
-nicht gekommen!“
-
-Die arme Martha wurde blaß und rot und kämpfte mit den Thränen; konnte
-denn, was der heiße Wunsch ihres Herzens ihr schneller eingegeben
-hatte, als sie sonst Entschlüsse zu fassen pflegte, wirklich so schlimm
-sein in seiner Wirkung? Wie schwer ist es, in solchen Lagen das
-befreiende Wort zu finden! Mitunter lehrt es die Liebe.
-
-Evas Auge hatte fest an dem Gesicht der geliebten Lehrerin gehangen;
-jetzt zog tiefes Rot über ihre Wangen, sie trat zu Fräulein Klug,
-und sagte mit inniger Stimme: „Es war freilich sehr schlimm, liebes
-Fräulein, daß es uns erst gesagt werden mußte, wir wissen aber jetzt,
-daß wir sehr undankbar gewesen sind! Bitte, vergeben Sie es uns am
-heiligen Weihnachtsabend und nehmen Sie unser Bäumchen freundlich an,
-von uns oder von Fräulein Feldwart, von wem Sie es lieber wollen.“
-
-Da ging eine große Bewegung über das alte Gesicht: „Nein, Kinder!
-das Bäumchen, das habt ihr für Martha geputzt; das soll ihr Stübchen
-schmücken in den Feiertagen; ich komme schon hinüber und sehe es mir
-an; aber singt mir dann das schöne Lied noch einmal; das wird mir
-wohlthun.“
-
-Der milde Ton ermutigte die Kinder, sie wurden jetzt ganz eifrig im
-Zureden: „Aber die Honigkuchen müssen Sie nehmen; meine Mutter hat sie
-selbst gebacken, und Fräulein Feldwart hat die andere Hälfte!“
-
-„Und die Müffchen!“
-
-„Und die warmen Handschuhe!“
-
-Das alte Herz war erweicht; dies und jenes nützliche Stück blieb
-in ihren Händen; teils konnte sie den bittenden Kinderaugen nicht
-widerstehen, teils nahm sie es ihrer jungen Gefährtin zuliebe. Nun ward
-das schöne Lied noch einmal gesungen, das alte Fräulein gab ernst aber
-freundlich jedem Kinde die Hand; der Tannenbaum wurde wieder in Marthas
-Zimmer getragen; dann eilte das junge Voll nachhause, dem eigenen
-Weihnachtsbaum und der Bescherung der Eltern entgegen.
-
-Martha aber ging mit ihrem Tuche noch einmal zu ihrer alten Freundin
-hinein. Als sie es ihr um die Schultern legte, fiel aus dem jungen Auge
-eine Thräne auf die alte runzelige Hand. Sie sprachen beide nicht;
-Martha setzte sich auf einen Schemel der Alten zu Füßen; diese legte
-ihre Hand auf den reichen braunen Scheitel und erst nach einer Weile
-sagte sie: „Ich war recht schlecht; es war ja so natürlich, und Sie
-meinten es so gut, Marthchen! Aber es ist auch schwer, wenn man einmal
-jung war und tüchtig und geliebt, und nach und nach fühlt man, daß die
-Kräfte schwinden, und daß man seinen Platz nicht mehr ausfüllen kann!
-Wenn man dann beiseite geschoben wird und vergessen, da giebt es einen
-harten Kampf um Demut und Geduld und um Liebe! Gott schenke Ihnen ein
-leichteres Los, mein liebes Kind!“
-
-Marthas Herz war zu voll zum reden; der Mond schien ins Zimmer; sie
-saßen beide eine Viertelstunde still in seinem milden Lichte; da
-hörte Martha die alte Freundin leise sagen: „Faßt ihn wohl, er wird
-euch führen an den Ort, da hinfort euch kein Kreuz wird rühren.“ Sie
-merkte, daß ihre Seele dahingegangen war, wo man des Menschentrostes
-gern entbehrt und am liebsten allein ist; so ging sie hinüber in ihr
-Stübchen.
-
-Die Lichter am Tannenbaum brannten noch; sie waren aber sehr kurz
-geworden; mitunter entzündeten sich einzelne Tannennadeln und sandten
-ihren einzigen, lieben Weihnachtsduft durch das Zimmer. Wem bringt
-dieser Duft nicht die süßesten Bilder aus seiner Jugendzeit mit?
-Martha saß mit gefalteten Händen, ihr Herz war bewegt. Süße und
-schmerzliche Gedanken zogen durch ihre Seele; die Erinnerungen ihres
-ganzen Lebens gingen an ihrem inneren Auge vorüber. Die Gedanken
-haben schnellere Flügel als Wolken und Winde; eine kurze halbe Stunde
-genügte für die Reise durch ihr Leben. Wir, meine liebe junge Leserin,
-gebrauchen längere Zeit, wenn wir sie auf derselben begleiten wollen,
-und ich bitte dich dazu um deine freundliche Aufmerksamkeit und um ein
-wenig Geduld.
-
-
-
-
-2.
-
-Jugendsonnenschein.
-
-
-Im Herzen einer deutschen Residenzstadt lag das stattliche Haus des
-Kommerzienrat Feldwart. Es erschien nicht als Palast, sondern als
-geräumiges Wohnhaus; es war von außen nicht überladen mit Schmuck, aber
-geschmackvoll und harmonisch in seinen Formen. Hinter den hohen hellen
-Spiegelscheiben fielen reiche Gardinen herab, dazwischen erblickte man
-prächtige, ausländische Gewächse mit ihrem mannigfachen Grün, und wer
-den Hausflur betrat, dem sagte die feine Mosaikarbeit des Fußbodens,
-die köstlichen bronzenen Flurlampen, von Statuetten gehalten, der
-weiche Teppich, der die Stufen der Treppe bedeckte, das stilvolle
-Geländer aus Schmiedeeisen und die schweren, eichenen, polierten Thüren
-an beiden Seiten, daß er sich im Hause des Reichtums befand. Dies
-schöne Haus ward bewohnt von dem wohlwollend aber ernst aussehenden
-Hausherrn, seiner etwas starken aber elegant und vornehm erscheinenden
-Frau, und Martha, der einzigen Tochter beider, dem schönen, fröhlichen
-und klugen Mädchen, das noch nicht lange aus den Kinderschuhen
-herausgetreten war, und, wie man es zu nennen pflegt, diesen Winter
-in die Welt eingeführt werden sollte. Ja, wollte denn Martha wirklich
-in die Welt? War sie ein Weltkind, das nur am Irdischen Freude fand?
-O nein! Marthas Seele war jedem höheren geistigen Interesse offen;
-die Eltern hatten sich bemüht, ihr die besten Lehrer zu geben, die
-wertvollsten Bücher in ihre Hände zu legen; wo es etwas Nützliches und
-Gutes zu hören gab, da mußte Martha dabei sein, und als die Zeit ihrer
-Einsegnung gekommen war, war sie einem treuen Seelsorger anvertraut
-worden; dem war es, da sein eigenes Herz in aufrichtiger Liebe zu
-Gott und dem Heilande brannte, leicht geworden, in dem empfänglichen
-Kinderherzen die gleiche Flamme anzufachen. Martha ging, auch nachdem
-sie den Unterricht verlassen hatte, gern und freudig zur Kirche; sie
-las andächtig in Gottes Wort und ihren schönen Erbauungsbüchern, sie
-sang mit Begeisterung fromme, geistliche Lieder und hob mit kindlichem
-Sinne morgens und abends ihre Hände betend auf. Aber Martha ging
-auch eben so gern ins Konzert und Theater, Martha zog sich auch gern
-hübsch an und hatte Geschmack darin, schnell auszuwählen, was für sie
-paßte; denn stundenlanges Beschäftigen mit Toilettengegenständen war
-ihre Sache eben nicht; Martha tanzte auch gerne. Es war so sehr der
-natürliche Ausdruck der Jugendkraft und Jugendlust, wenn sie nach dem
-Rhythmus der Musik durch den glattgebohnten Saal flog, und es brauchte
-zu ihrem Vergnügen gar kein Ball zu sein; wenn die Mutter einen Walzer
-spielte, nahm sie ihr kleines, weißes Seidenhündchen auf den Arm und
-tanzte fast mit noch größerer Lust durch das Zimmer, wie in der größten
-Gesellschaft.
-
-Sie mußte auch in ihrer Art fleißig sein, denn ihre Zeit war sehr
-besetzt; es gab noch französische und englische Stunde; einen
-italienischen Abend, Klavier- und Singunterricht, Gesangverein,
-Vorlesungen, Lesekränzchen, Proben und Konzerte -- jeden Tag etwas
-anderes. Dazu kam eine angenehme Geselligkeit. Langeweile kannte sie
-nicht; es war ihr nur zuweilen, als ob dies vielerlei sie abhielte,
-das einzelne so gründlich zu treiben, wie sie es gerne gethan hätte;
-aber Gott hatte ihr einen klaren Kopf, gute Anlagen und frische Kräfte
-gegeben, und so schwamm sie doch eigentlich in den Wellen dieser
-verschiedenen Eindrücke wie ein Fischlein im Wasser oder ein Vogel in
-der Luft, mit glücklichem Herzen und fröhlichem Angesichte; brauchten
-ihr doch all die Arbeiten und Mühen des alltäglichen Lebens, die
-man zusammen Wirtschaft nennt, keine Sorge zu machen; die ruhten
-sicher in den Händen einer wohlgeschulten Dienerschaft und waren in
-den behaglichen Wohnzimmern, in denen sich Martha bewegte, nur wenig
-zu merken. Der einzige Wunsch, der ihrem jungen Herzen unerfüllt
-geblieben, war der: o, hätte ich doch Geschwister! Sie hatte Bekannte,
-viele Bekannte; sie nannte sie Freundinnen; aber sie hatte ein Gefühl
-davon, die wahre Freundschaft müßte noch anders, noch tiefer und
-reicher sein. O, dachte sie oft: eine Schwester, ein Bruder wäre mehr
-als sie alle!
-
-Der Vater Feldwart war oft sehr versunken in seine Geschäfte,
-die Mutter eine stille, bequeme Dame; da war ihr der Wunsch nach
-jugendlicher Gesellschaft nicht zu verdenken und siehe, seit einigen
-Jahren war auch diese ins Haus gekommen und hatte ihr einen großen
-Zuwachs an Lebensfreude mitgebracht. Der Vater hatte einen einzigen
-Jugendfreund gehabt, einen Doktor Kraus; der war Arzt in einem
-Provinzialstädtchen und lebte dort, seit Gott ihm seine Frau genommen,
-ganz der Erziehung seines einzigen Sohnes Siegfried. So lange er
-rüstig war, hatte er sich jedes Jahr einige Wochen frei gemacht und
-sich an irgendeinem schönen Ort im Gebirge, bald im Harz, bald im
-Thüringer Wald, bald im Schwarzwald, mit der Feldwartschen Familie
-zur Sommerfrische vereinigt, und dies war für beide Freunde, sowie
-für ihre wilden fröhlichen Kinder stets eine ersehnte und genußreiche
-Zeit; der schlank aufgeschossene Siegfried war dann der Ritter der
-kleinen Martha, und da er um 6 Jahre älter war als sie, galt er als
-ihr Beschützer auf allen Wegen. Aber schon seit Jahren hatte Herr
-Kraus nicht mehr reisen können; ein schweres inneres Leiden fesselte
-ihn zuerst ans Haus, dann an sein Lager, und niemand wußte besser
-als er, daß es ihn seinem Ende entgegen führte. Sein Freund Feldwart
-hatte ihn auf seinem Schmerzenslager noch einmal besucht und ihm das
-Versprechen gegeben, sich nach seinem Tode des verwaisten Sohnes
-anzunehmen. Als nun das erwartete Ende eintrat, erhielt Herr Feldwart
-mit der Todesnachricht zugleich ein Schreiben des Entschlafenen,
-welches die Pläne und Wünsche desselben für die fernere Laufbahn
-seines Siegfried enthielt. Ein Bruder des Doktor war als junger
-Mann nach Amerika gegangen und hatte dort in Missouri verschiedene
-landwirtschaftliche Etablissements und Fabriken angelegt. Er war ein
-sehr begüterter Mann, und da er unverheiratet geblieben war, wünschte
-er dringend, daß Siegfried zu ihm kommen, ihm in seiner Thätigkeit
-beistehen und schließlich sein Erbe werden möge. Für den jugendlichen
-Siegfried, so ungern er sich von seinem Vater trennte, hatte die
-Aussicht auf dies fremde Land und die unbekannten Verhältnisse etwas
-Verlockendes; Herr Kraus fühlte, daß seine Lebenszeit bald verflossen
-sein würde, er konnte Siegfried nur ein kleines Erbe hinterlassen;
-so machte er nur die Bedingung, daß dieser erst seine Ausbildung in
-Deutschland vollenden, einen praktischen Kursus in der Landwirtschaft
-durchmachen, seiner Militärpflicht genügen und einige Jahre in der
-Hauptstadt Kollegien über Physik, Chemie und andere dahin einschlagende
-Wissenschaften hören sollte. Die praktische Landwirtschaft hatte er
-noch beim Leben seines Vaters erlernt; seit dem Tode desselben war er
-in B., und wenn er auch nicht bei Feldwarts wohnte, brachte er doch
-fast alle seine freie Zeit daselbst zu; und wie er sich mit Martha
-als Kind gejagt hatte und mit ihr über den Graben gesprungen war, so
-teilte er nun gern ihre ernsteren Beschäftigungen, las mit ihr gute
-englische und deutsche Bücher, begleitete ihre liebliche Singstimme auf
-dem Klavier, oder mit seinem kräftigen, gut geschulten Baß. Die Eltern
-wurden es kaum gewahr, daß aus den Kindern Leute geworden waren, und
-sie selbst hatten bis dahin einen so geschwisterlichen Ton, wenn sie zu
-einander sprachen, daß sowohl die Dienerschaft des Hauses, als auch die
-Freunde desselben den unbefangenen Verkehr durchaus natürlich fanden.
-
-Seit dem Frühjahr hatte Siegfried seine Studien vollendet, machte
-sein Militärjahr durch und kam nach dem Manöver als braungebrannter,
-wohlbestallter Unteroffizier bei Feldwarts an. Martha empfing ihn
-höchst fröhlich. Wenn ihm auch das Dienstjahr weniger freie Zeit
-ließ, -- einige Mußestunden gab es immer, und sie hatte ihm soviel
-mitzuteilen -- soviel neue Bücher, soviel schöne Lieder, die sie nun
-mit ihm zusammen einstudieren wollte. Auch Frau Feldwart war ganz die
-Alte; aber nicht ohne Grund hingen ihre Augen zuweilen mit Besorgnis
-an den welken, eingefallenen Zügen und matten Augen ihres Mannes. Er
-klagte nicht viel; er mochte nicht einmal leiden, daß man über seinen
-Zustand sprach. Der Arzt sagte: „Er hat angegriffene Nerven, er muß ins
-Seebad!“
-
-Der Kranke lächelte grämlich: „Ich werde alt, das ist alles!“
-
-Martha hatte noch nichts Schweres erlebt; sie tröstete sich: Es wird
-schon wieder anders werden! Für jetzt kam die schöne Adventszeit,
-brachte Arbeit für ihre Hände und freundliche Beschäftigung für ihre
-Gedanken; wenn Siegfried Kraus kam, hatte sie ihm immer allerlei neue
-Pläne mitzuteilen oder kleine Aufträge zu geben.
-
-„Sehen Sie nur, Siegfried!“ sagte sie eines Abends, „Mama hat mir nun
-wirklich die schöne Rokoko-Kommode von der Urgroßmutter geschenkt,
-die ich so lange schon gern haben wollte; ich habe all meine kleinen
-Überraschungen eingeräumt. Dabei habe ich noch eine Menge Briefe,
-Papiere und Stammbuchblätter gefunden; auch auf ganz gelbem Papier ein
-Weihnachtslied; das können wir gleich zusammen einüben!“
-
-Wann hätte jemals Siegfried „Nein!“ gesagt, wenn sie um etwas bat?
-Das Lied wurde zweistimmig gesungen und klang gar rein, frisch und
-andächtig von den jungen Stimmen. Am heiligen Abend kam Siegfried
-zeitig; Frau Feldwart hatte noch in der Bescherstube zu thun, der
-Kommerzienrat im Geschäft.
-
-„Wie werde ich übers Jahr Weihnachten feiern“, fragte Siegfried ernst.
-
-Marthas Herz wurde ganz schwer, und in ihren Augen standen Thränen. Sie
-hatte die Trennung nur immer in weiter Ferne gesehn, hatte vielleicht
-auch heimlich gehofft, es sollte noch etwas dazwischen kommen; nun
-war sie so nah! Es kam ihr vor, als wären auf einmal alle Blumen in
-ihrem Garten verhagelt; sie konnte sich gar kein Leben mehr denken
-ohne Siegfried. Aber am heiligen Weihnachtsabend durfte man doch nicht
-weinen. „Kommen Sie, Siegfried!“ sagte sie, „ehe die Eltern fertig
-sind zur Christvesper, können wir noch einmal Urgroßmutterchens Lied
-singen!“
-
-Sie sangen:
-
- „Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht,
- Die uns das höchste Gut gebracht,
- Dich Gottessohn, dich Königskind,
- Das man im Stall und Kripplein find’t.
-
- „Daß ich empfinge Kindesrecht,
- Wohnst du wie ein geringer Knecht,
- D’rum will ich gern gering und klein,
- Herr, dir zu Lieb’ und Ehren sein.
-
- „Dein war des Himmels Herrlichkeit,
- Aller Welt Schätze weit und breit,
- Du wurdest arm, daß ich würd’ reich,
- Nun gilt mir arm und reich sein gleich!
-
- „Du kamst aus lichtem Himmelssaal
- Und gingst für mich durchs dunkle Thal;
- Ich bin zum Leid nun auch bereit,
- Da du es durch dein Leid geweiht.
-
- „Für mich, mein Lebensfürst und Gott,
- Gabst du dich hin in Todesnot,
- Daß ich dem Tod verfall’nes Kind,
- Durch dich das ew’ge Leben find’t.
-
- „Ich kniee an dein Kripplein hin
- Und fasse nicht das Wunder d’rin,
- Und bitte dich, o Herr, verleih
- Daß dies mein Bitten ernstlich sei.
-
- „Du giebst dich mir, Herr Christ! ich hab’
- Nur mich als arme Gegengab’,
- So nimm mich hin, Rat, Kraft und Held,
- Und mach aus mir, was dir gefällt.“
-
-Die Eltern standen schon in der Thüre, als der letzte Ton verklang; die
-Mutter war zum Ausgehen angekleidet, Herr Feldwart hatte Thränen in
-den Augen: „Ich will lieber hier bleiben“, sagte er, „ich habe etwas
-Kopfweh!“
-
-Martha war schnell in ihren hübschen Winteranzug gehüllt. Siegfried
-ging mit den Damen zur Kirche. Aus der nächsten Hausthüre trat Frau
-Geh.-Rat D., und schloß sich ihnen an. Man hatte erst eine Droschke
-nehmen wollen, aber die Sterne glänzten so freundlich, die Winterluft
-wehte frisch, und es war noch zeitig; da ließen sich die älteren
-Damen gern bereden, den Weg zu Fuße zurückzulegen. Sie gingen voraus,
-Siegfried und Martha hinter ihnen; der Weg führte eine ganze Strecke
-weit am Rande des Parkes hin; hier war es verhältnismäßig still und
-einsam.
-
-„Martha“, sagte Siegfried, „wir haben’s nun so oft gesungen; ‚Nun will
-ich gern gering und klein, Herr, dir zu Lieb und Ehren sein‘, und: ‚Nun
-gilt mir arm und reich sein gleich‘; ich möchte wissen, ob das so ganz
-und gar Ihr Ernst ist!“
-
-„Natürlich“, sagte sie, und schlug die Augen zuversichtlich zu ihm auf.
-
-Das war ja gewiß; sie hatte in ehrlicher Begeisterung das Lied mit
-ihm gesungen, aber: was dachte sie sich wohl unter: arm sein? Was
-man gar nicht kennt, das fürchtet man nicht. Statt Sammet und Seide
-Wolle tragen, statt Kaviarsemmeln nur Butterbrot essen; in einer recht
-reizenden rosenumrankten Hütte wohnen -- warum denn nicht? Es fragte
-sich nur, mit wem?
-
-„Sehen Sie, Martha“, fuhr er fort (sie begegneten jetzt einer Schar
-lärmender junger Leute, und er legte ihren Arm in den seinigen): „Sehen
-Sie, den ganzen Tag ist mir so weh gewesen bei dem Gedanken, daß ich so
-weit von Ihnen fort soll, als könnte ich das gar nicht ertragen. Wenn
-Sie wirklich möchten klein und arm sein, vielleicht brauchten wir uns
-nicht zu trennen; vielleicht könnte ich die liebe kleine Hand in meiner
-behalten ein ganzes Leben lang.“
-
-Wie glückselig blitzten Marthas Augen auf; aber es war nur ein rascher
-Blitz, ein tiefer Schreck verscheuchte den leuchtenden Ausdruck: „Aber
-Siegfried! meine Eltern, und Amerika!“
-
-„Darüber sein Sie ruhig, Martha, ich denke, es soll gehen ohne den
-Oheim in Missouri.“
-
-Martha dachte nach: „Sie meinen, der Vater könnte uns hier ein Gut
-kaufen?“
-
-„Nein, Martha, das nicht! Das wäre sehr unbescheiden gedacht und
-ganz gegen meine Ehre. Wissen Sie, ich denke es mir so: Ein kleines
-Vermögen besitze ich selbst; jetzt ist die Pacht vom Rosenhof frei;
-ich besah das Gut neulich, als unser Regiment in der Nähe rastete; die
-Verhältnisse sind sehr günstig; wenn mir Ihr Vater mit einem mäßigen
-Vorschuß und seinem Kredit helfen wollte, daß ich es übernehmen könnte,
-und wir fingen dann recht klein und fleißig an, und wenn wir leidlich
-gute Jahre hätten, zahlten wir es nach und nach ab; das sollte doch
-wohl gehen!“
-
-„Rosenhof!“ herrlicher Name! „Gutsfrau sein, und +seine+
-Gutsfrau!“ entzückender Gedanke! Sie sah sich schon im rosa
-Satinmorgenrock mit frisurenbesetzter Schleppe, feinem Morgenhäubchen,
-weißer gestickter Batistschürze, den blanken Fülllöffel in der Hand
-zwischen lauter weißen, rahmbedeckten Milchsatten stehen, und als er
-fragte: „Nun Marthchen, wie ist es, willst du es mit mir wagen?“ da
-sah sie ihn glückselig an und drückte leise seine Hand; sie konnte
-auch weiter nichts sagen, denn die Kirche war erreicht, und der volle
-Orgelton klang ihnen entgegen.
-
-Ob die beiden heute Abend sehr, sehr andächtig waren? Glücklich und
-hoffnungsvoll waren sie und trugen auch dem lieben Gott immer wieder
-ihren Herzensdank und ihre stillen Wünsche vor; aber die echte rechte
-Weihnachtsfreude war heute nicht in ihren Herzen. Auf dem Heimwege
-gesellten sich Bekannte zu ihnen, da konnten sie wenig reden. Nur
-bat Martha: „Sage heute Abend dem Vater noch nichts; er kann niemals
-schlafen, wenn er sich abends aufregt; komme lieber morgen nach der
-Kirche“.
-
-Sie kamen nachhause; der Weihnachtsbaum beleuchtete reiche, köstliche
-Gaben, vier strahlende Augen und zwei glückselige Herzen. Morgen,
-morgen sollte es offenbar werden, was heute geknüpft war! Kein Zweifel
-trübte ihre Freude; wußten sie sich doch beide gleich geliebt von dem
-Elternpaar. So schön, so schön war es bisher gewesen, nun sollte es
-noch viel, viel schöner sein. Kam denn in dieser Nacht kein dunkler
-Traum, um die beiden, die bisher im Maiensonnenschein gewandelt waren,
-vorzubereiten auf das erste schwere Gewitter?
-
-
-
-
-3.
-
-Sturm.
-
-
-Der Kommerzienrat Feldwart saß in seinem Lehnstuhl, als Siegfried
-gegen Mittag bei ihm eintrat; zum erstenmal fiel diesem die bleiche,
-tonlose Farbe und die Schlaffheit der Züge seines väterlichen Freundes
-auf. Müde öffnete derselbe die halb geschlossenen Augen, aber als
-er Siegfried erkannte, flog ein freundliches Lächeln über das welke
-Gesicht: „Tritt näher, lieber Siegfried, du störst mich nicht!“
-
-Siegfried trat näher, er nahm auch auf einen Augenblick den ihm
-gebotenen Stuhl; aber als er von seiner Liebe zu Martha anfing zu
-sprechen, da stand er vor dem Vater, eine schöne, kräftige jugendliche
-Gestalt, die wohl geeignet schien, ein zartes Mädchen zu stützen.
-
-Herr Feldwart mochte Ähnliches denken; er sah ihn mit wehmütigem
-Wohlgefallen an, als sein warmes Herz die Worte rasch und fließend
-über die Lippen trieb, aber er unterbrach ihn bald mit demselben
-Schreckensruf, wie gestern die Tochter: „Aber Siegfried: Amerika!“
-
-„Herr Feldwart“, sagte dieser, „ich denke, wenn Sie mir nur ein wenig
-mit Rat und That beistehen wollen, so wird es ohne den Oheim in
-Missouri gehen!“
-
-„Kindskopf!“ rief der alte Herr ungeduldig, schob seinen Stuhl zurück,
-ging einigemal mit großen Schritten heftig durchs Zimmer und blieb dann
-vor Siegfried stehen, „Kindskopf! willst du deine ganze Zukunft einem
-Mädchen opfern, das noch ein Kind ist und noch gar nicht weiß, was es
-thun oder lassen soll? Da wird nichts daraus, mein Lieber!“
-
-„Ich denke, Martha weiß, daß sie mich lieb hat, das ist mir genug. O
-bitte, hören Sie mich an, Herr Feldwart; der Oheim in Missouri schrieb
-seit meines Vaters Tode nicht wieder; er wollte mich damals bestimmen,
-sogleich zu ihm zu kommen; ich schlug ihm das ab, vielleicht mit etwas
-kurzen Worten. Er wird sich indessen andere Hilfe gesucht haben, und es
-widersteht mir, hinüber zu gehen und mich ihm anzubieten, gewissermaßen
-in der Absicht, ihn zu beerben; ich kann dies erwarten und möchte mir
-weit lieber hier durch meine eigene Thätigkeit eine Existenz gründen.“
-
-„Sehr großartig“, sagte der Kommerzienrat ein wenig ironisch, „und wie,
-wenn ich fragen darf?“
-
-Da kam denn wieder Rosenhof zutage.
-
-„Verstehen Sie mich nicht falsch; ich möchte keinerlei Ansprüche an
-Ihre Hilfe machen; aber Martha und ich lieben uns sehr. Wenn Sie mir
-mit einem kleinen Vorschuß und Ihrem Kredit helfen wollten, könnte ich
-das Gut übernehmen. Martha und ich würden sehr fleißig und sparsam sein
-und es nach und nach abtragen; Sie wissen, ich bin kein schlechter,
-leichtsinniger Wirt, und ich habe das Meinige gelernt, und Martha will
-mir gerne dabei helfen.“
-
-„Ist auch ganz dafür erzogen, versteht recht viel von der Wirtschaft“,
-fuhr der Vater auf.
-
-Er hatte während Siegfrieds Worten das Zimmer ruhelos durchmessen;
-dennoch war dem Jüngling der Wechsel der Farbe auf seinem Gesichte,
-der Ausdruck von Kampf und Qual in seinen Zügen nicht entgangen. Jetzt
-standen sie sich gegenüber.
-
-Herr Feldwart war totenbleich aber ernst und gefaßt: „Ich kann Ihnen
-nicht helfen, Siegfried! und ich werde es nicht thun, auch nicht mit
-einem einzigen Pfennig; das Beste ist, ihr seht euch gar nicht wieder!“
-
-„Das ist nicht Ihr Ernst, das können Sie nicht wollen?“
-
-„Siegfried, du weißt, was ich deinem Vater versprochen habe; du weißt,
-wie ich dich lieb gehabt habe diese ganze Zeit; Gott weiß, daß es
-mir schwer wird! ich kann es dir auch nicht erklären, später wirst
-du es einmal verstehen: Siegfried, dies ist mein letztes Wort! Ich
-werde niemals, niemals meine Erlaubnis zu deiner Verheiratung mit
-Martha geben; ich werde dir keinen Heller vorstrecken zur Übernahme
-von Rosenhof; wenn du mich nicht töten oder um meinen Verstand bringen
-willst (der Arme sah aus, als sei dies sehr leicht möglich), so
-verlasse jetzt das Haus, sieh Martha nicht wieder, lege das Weltmeer
-zwischen dich und sie, da wirst du ruhiger werden.“
-
-„Und Martha?“ fragte Siegfried tonlos.
-
-„Martha“, sprach der Kommerzienrat, und es klang wie Schluchzen in
-seiner Stimme, „Martha ist jung, es geht nicht anders, Siegfried!“
-
-Siegfried liebte, aber Siegfried war auch stolz; er wandte sich und
-ging zur Thüre, und der Vater, hingesunken in den Lehnstuhl, bleich und
-zitternd, hörte ihn die Treppe hinunterstürmen und das Haus verlassen.
-
-Martha saß indessen mit heißen Wangen neben der Mutter, der sie ihr
-süßes Geheimnis anvertraut hatte; sie lauschten beide auf des Vaters
-Ruf; auch die Mutter zweifelte nicht an der glücklichsten Lösung; jetzt
-kamen eilige Schritte über den Korridor; Martha flog auf, wie sie
-glaubte dem Geliebten entgegen. Er stürmte vorüber. Sie hörten die
-Hausthüre sich öffnen und schließen, sie sahen ihn fortstürmen, ohne
-sich umzusehn: „Ach Mutter, liebe Mutter, was ist das?“
-
-Frau Feldwart war eben so bestürzt als Martha. Als eine halbe Stunde
-lang in des Vaters Zimmer kein Ton zu hören war, ging sie leise zu
-ihm hinein. Martha saß mit angehaltenem Atem; es schien ihr eine
-Ewigkeit vergangen zu sein, bevor die Mutter zurückkam. Sie sah blaß
-und verweint aus, setzte sich neben Martha, nahm ihre Hände und sagte:
-„Mein gutes, armes Kind, du mußt dich darein finden; dein Vater hat
-dem Siegfried nein gesagt. Ich verstehe es nicht, ich verstehe es gar
-nicht; aber er muß sehr ernsthafte Gründe haben; er ist selbst so
-erschüttert, ich fürchte, es wird ihm schaden.“
-
-Martha starrte die Mutter an und schüttelte ganz langsam den Kopf: „Es
-kann ja nicht sein, es kann ja gar nicht sein!“
-
-Sie saßen eine Weile starr und stumm.
-
-„Martha“, sagte die Mutter nach einiger Zeit, „versprich mir eins: sei
-jetzt ruhig und quäle den Vater nicht; ich fürchte, es steht nicht zum
-besten um seine Gesundheit; ihr seid beide noch jung, Siegfried hat
-dich sehr lieb. Wenn die Hindernisse, welche zwischen euch liegen,
-überwunden werden können, so überwindet er sie mit der Zeit; es ist
-irgendetwas dabei, was ich nicht begreife. -- Hörst du, Martha? füge
-dich und quäle den armen Vater in diesen Tagen nicht!“
-
-Martha versprach es unter heißen Thränen. Der Gedanke, Siegfried
-werde alles versuchen, ihre Hand zu erlangen, war ihr tröstlich. Das
-Wiedersehn mit dem Vater erschütterte beide sehr; er drückte sie immer
-wieder ans Herz: „Mein armes Kind, es geht ja nicht anders! Martha,
-sei ruhig! mach mir das Herz nicht noch schwerer!“ Er sah so unsäglich
-elend aus, daß Martha wirklich den Versuch machte, sich äußerlich zu
-bezwingen. Langsam und trübe schlich die Festwoche dahin; die geplanten
-Vergnügungen wurden abgesagt mit dem Bemerken, daß Herr Feldwart unwohl
-sei. Die Freunde, welche ins Haus kamen, fanden Frau Feldwart nur etwas
-ernster als sonst, und Martha ließ sich nicht sehen.
-
-Mit den Neujahrskarten kam ein Brief von Siegfried:
-
- „Meine liebe Martha!
-
- „Da mich Dein Vater abgewiesen hat, ohne mir auch nur die geringste
- Hoffnung zu lassen, so eile ich nun dahin, wo ich sicher glaube,
- mir so viel zu erwerben, daß ich, so Gott will, später mit größerem
- Rechte vor ihn hintreten und meinen Wünschen Geltung verschaffen
- kann. Bis dahin behüte Dich Gott: ich will kein Versprechen und gebe
- Dir keins, aber, daß ich Dich fort und fort lieben werde wie heute
- -- das weiß ich! Der Vater meines Freundes und Kameraden, General
- W., war mir behilflich, meine hiesigen Verpflichtungen schnell zu
- lösen, und wenn Du diese Zeilen liesest, bin ich bereits auf dem Wege
- nach Bremen, wo ich mich einschiffen will nach meiner neuen Heimat.
- Sei tapfer und hoffe, meine liebe Martha, wie Dein betrübter, treuer
- Siegfried Kraus.“
-
-Einen Augenblick war sie glücklich; es war ja ein Lebenszeichen von
-ihm; im andern wurde es ihr klar: er war ja fort, weit fort! Wie
-lange würde sie ihn nun nicht sehen, vielleicht nicht einmal von ihm
-hören; es war ihr, als wäre ihr ganzes Jugendglück, aller Sonnenschein
-und jede Hoffnung ihres Lebens mit ihm eingeschifft und zöge von ihr
-fort in unabsehbare Ferne. Sie weinte -- weinte, als sollte ihr das
-Herz brechen. Dann bezwang sie sich, so lange sie bei den Eltern war;
-aber abends in ihrem sonst so trauten Stübchen, da brach der Schmerz
-aufs neue aus. Sie wollte sich Trost suchen, sie holte ihre Bibel,
-aber die Worte verschwammen vor ihren umflorten Augen; sie dachte des
-Weihnachtsliedes: „Ich bin zum Leid nun auch bereit, da du es durch
-dein Leid geweiht!“ Aber dies Leid war ja zu schwer, an solche Trübsal
-hatte sie dabei nicht gedacht. Sie suchte ihr Lager; vor acht Tagen
-war sie so glückselig eingeschlafen; konnte man denn in einer Woche
-so unglücklich werden? Das Kopfkissen war naß von ihren Thränen, und
-Mitternacht war lange, lange vorüber, da erst trat mit leichtem, leisen
-Schritte der Schlummerengel ins Zimmer und deckte sie und ihren heißen
-Schmerz mit seinem kühlen, weichen Flügel zu.
-
-Als Martha am andern Morgen erwachte, drang schon das Morgenlicht
-durch die halbgeöffneten Jalousieen. Wie schwer ist das Erwachen, wenn
-über Nacht das ganze Leben eine andere Gestalt angenommen hat. Langsam
-und mechanisch kleidete sie sich an zu einem Leben ohne ihn und ohne
-Freude. Daß es unten im Hofe unruhiger war als sonst, hörte sie anfangs
-nicht, und als sie es wahrnahm, schob sie es auf die vorgerückte
-Tageszeit. Ihr Zimmerchen lag nach dem Hofe heraus; an der gegenüber
-liegenden Seite desselben zogen sich die Comptoirräume hin. Als sie
-die Fenster öffnete, fiel ihr eine hohe, kräftige Männergestalt in
-die Augen, welche mit eiligem Schritt ins Geschäftslokal trat: „Onkel
-Konsul, so früh am Morgen?“ Der erste Buchhalter lief mit Briefen
-hin und her; einige der jungen Kaufleute, die sonst um diese Zeit
-fest im Comptoir saßen, standen im eifrigsten Gespräche mitten im
-Hof; das Bild war ganz anders, als sie es sonst zu sehen gewohnt war,
-eine unbestimmte Sorge stieg in ihrem Herzen auf, und sie eilte ins
-Frühstückszimmer. Hier war keine Veränderung zu bemerken, als daß die
-Mutter sie mißmutiger als gewöhnlich begrüßte.
-
-„Es ist heute ein ungemütliches Frühstücken“, sagte sie. „Der Vater ist
-schon seit einer Stunde fort; er hat nicht einmal seine Tasse Kaffee
-ausgetrunken, und nun kommst du so spät! Ich dachte schon, du kämest
-gar nicht mehr.“
-
-„Ich schlief so spät ein“, sagte Martha betrübt, „und beim Papa ist
-schon Onkel Konsul zum Besuch.“
-
-„Onkel Konsul? Was muß der wollen? Der kommt ja sonst doch nicht so
-früh!“
-
-Konsul M. war ein Vetter der Frau Feldwart und der nächste Freund
-ihres Mannes. Sie sollten nicht lange auf die Erklärung warten, schon
-nach einer halben Stunde erschien der Erwähnte mit ganz ungewöhnlich
-ernstem, feierlichem Gesichte, schnitt die Begrüßung seiner Cousine
-kurz ab, setzte sich zu den Damen und sagte: „Ich habe euch leider eine
-sehr ernste Mitteilung zu machen, ihr Lieben.“
-
-„Ist Papa krank?“ rief Martha und eilte zur Thür.
-
-„Nein, Martha, bleib! Er ist sehr angegriffen, aber krank ist er bis
-jetzt nicht. Ihr versteht nichts von Geschäften, aber das wißt ihr, daß
-in London zwei große Handelshäuser gefallen sind. Es waren Häuser, mit
-denen Feldwart in fortwährender Verbindung stand, und es trafen ihn
-infolge davon Verluste auf Verluste. Doch hatte er bis gestern immer
-noch einige Hoffnung, daß er sie ausgleichen und seine Handlung retten
-könne. Ein Brief am heutigen Morgen zeigt ihm den Fall einer Firma in
-Hamburg an, mit welcher er noch viel enger verbunden war. Es ist nun
-keine Hoffnung mehr, daß er sich halten kann, und er schickte zu mir,
-daß ich ihm helfen soll, alle die schlimmen Schritte zu thun, welche
-nötig sind bei der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit.“
-
-Frau Feldwart saß auf ihrem Stuhle und starrte den Sprecher an, als
-könnte sie nicht fassen, was er sagte.
-
-Martha sprang auf: „Mein Vater! mein lieber Vater! ich muß zu ihm!“
-
-In diesem Augenblick trat er herein, von seinem alten Kutscher geführt
--- ein Bild des Jammers! Der alte Johann setzte ihn in seinen Lehnstuhl
-und einen Augenblick verließ ihn das Bewußtsein; eine tiefe Ohnmacht
-umschleierte seine Sinne; unter Marthas Bemühungen kam er wieder zu
-sich. Sie kniete neben ihm und stützte seinen Kopf, als er allmählich
-sich seiner Umgebung bewußt wurde. Er sah sie schmerzlich an: „Mein
-Kind, mein armes Kind! verstehst du es nun? ich durfte ihn ja nicht mit
-hineinziehen; ich versprach seinem Vater, für ihn zu sorgen.“
-
-Ja, sie verstand alles; aber ihr ganzes Herz bebte jetzt nur im
-Mitgefühl mit dem Vater, der in wenigen Stunden ein Greis geworden war.
-Er fing jetzt an zu weinen, zu weinen wie ein Kind. Martha hatte ihn
-noch nie weinen sehen. Sie netzte seine Schläfen mit wohlriechendem
-Wasser, sie holte Wein vom Frühstückstische und nötigte ihn zu trinken.
-Arme Martha! Ein wenig Beruhigung für sein Herz wäre die beste Medizin
-gewesen. Die Mutter konnte ihm diese nicht geben, sie saß noch immer
-stumm und rang die Hände; aber sein Freund trat zu ihm und sagte:
-„Feldwart, willst du die ganze Sache in meine Hände legen? Willst du
-mir Vollmacht geben, mit deinen Gläubigern zu unterhandeln und Verträge
-abzuschließen?“
-
-„Ja, M., ich danke dir tausendmal!“
-
-Die gerichtliche Vollmacht wurde noch an demselben Morgen ausgestellt,
-und es zeigte sich bald, daß dies gut war, denn es stellte sich beim
-Kommerzienrat ein schlummerartiger, fieberhafter Zustand ein; er mußte
-zu Bett gebracht werden und fing an zu phantasieren. Martha verlebte
-acht schwere und sorgenvolle Tage und Nächte an seinem Lager, nur
-unterstützt von dem treuen, alten Johann. Frau Feldwart ging ab und
-zu, ordnete auch wohl dieses und jenes an; aber es schien, als sei in
-dem furchtbaren Augenblicke, da die Stütze des Reichtums in ihrer Hand
-zerbrach, alle Ruhe und Haltung von ihr gewichen. +Sie+ ging von
-Zimmer zu Zimmer, stand hier einmal am Fenster und dort einmal und
-starrte ins Leere; sie sah keinen Zielpunkt für ihre Augen, keinen
-Stab, an dem sie sich halten und aufrichten konnte. „Arm, arm, ganz
-arm!“ hörte man sie immer wieder sagen.
-
-Es war der Vermittelung und Fürsorge des Konsuls zu danken, daß für
-jetzt noch die Wirtschaft im alten Gange blieb.
-
-Am neunten Tage saß Martha des Morgens an ihres Vaters Bett, als er die
-Augen matt aufschlug: „Wo ist die Mutter?“
-
-Sie trat im selben Augenblick herein.
-
-Einen Augenblick sah der Kranke beide freundlich an, dann ging eine
-Erschütterung über sein Gesicht: noch ein leiser Seufzer, ein Zittern,
-und er war aller Angst und Not entrückt. Aber für die Seinen begann
-sie in doppelter Weise. Bis zum Begräbnis gelang es dem Konsul, die
-Ruhe um die beiden Trauernden zu erhalten; sie waren sehr verschieden,
-diese beiden! Bei der Mutter mischte sich die Angst vor der drückenden
-Lage, welcher sie entgegenging, so sehr mit der Trauer über den Verlust
-ihres Gatten, daß all’ ihre Klagen mit Bitterkeit gemischt waren und
-sie zu einer reinen, wohlthuenden Empfindung ihres Schmerzes gar
-nicht kommen konnte, noch viel weniger zu dem Entschluß, irgendeinen
-Plan für ihre Zukunft zu entwerfen. Martha fühlte, wenn sie an ihren
-zärtlich geliebten Vater dachte, eine solche Beruhigung, ihn aller
-Not entrückt zu wissen, daß ihre Thränen oft recht sanft und lind
-flossen; sie fühlte auch Mut für die Zukunft, sie hatte den ernstlichen
-Willen, ihrer verzagten Mutter das Leben nicht schwer, sondern leicht
-zu machen, zu tragen, zu arbeiten, so viel sie konnte, aber freilich:
-über das Wie? war sie ganz im unklaren; hier hoffte sie ganz auf
-den Beistand des Onkel Konsul, und dieser wurde ihnen ja auch nach
-Möglichkeit zuteil. Kaum war das Begräbnis seines Freundes vorüber,
-als er bei den betrübten Frauen eintrat, um ihnen ihre Verhältnisse
-klar darzulegen und über ihre nächste Zukunft zu beraten. Das Vermögen
-der Frau Feldwart war ganz mit im Geschäft gewesen und nicht zu
-retten. Aber der Verstorbene hatte in sehr hoher Achtung bei seinen
-Berufsgenossen gestanden; so kam den Bemühungen seines Freundes
-von allen Seiten viel guter Wille entgegen, und es wurde dadurch
-möglich, nach dem Vergleich mit den Gläubigern eine kleine Summe zu
-erübrigen, von welcher die Witwe, mit einer Leibrente, welche sie
-besaß, notdürftig leben konnte; auch wurde ihr auf demselben Wege so
-viel an Hausrat und Wäsche zugestanden, als sie zur ersten Einrichtung
-notwendig brauchte.
-
-Das war ja klar, daß die Verwaisten sich einen kleineren und
-billigeren Wohnort suchen mußten. Frau Feldwart war auf einem großen
-Gute erzogen in der Nähe der nicht ganz unbedeutenden Kreisstadt H.,
-die freundlich zwischen Feldern, Wiesen und baumreichen Gärten lag.
-Konsul M. kannte dort einen älteren Beamten, dem er den Auftrag gab,
-eine bescheidene Wohnung zu mieten, auch dort am Orte ein Mädchen zu
-besorgen, da bei der ganzen bisherigen Lebensweise der Frauen nicht zu
-hoffen war, daß sie sich ohne ein solches behelfen könnten. Es kam denn
-auch bald die Nachricht, daß beides geschehen sei. So wurde mit des
-alten, betrübten Johanns Hilfe und unter Leitung des Onkels Konsul der
-Möbelwagen gepackt, und die Frauen durften abreisen, bevor das schöne
-Haus mit seiner trauten, prächtigen Einrichtung unter den Hammer kam.
-
-Konsul M. brachte seine Verwandten zur Bahn; Frau Feldwart sah starr,
-bleich und unglücklich aus, sie hatte in den letzten Tagen kaum ein
-Wort gesprochen; Martha hing weinend an des Vetters Halse. Nun saßen
-sie im Coupé, langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Die Mutter
-schloß die Augen, während Marthas umflorte Blicke jeden lieben,
-bekannten Gegenstand gleichsam noch einmal mit Liebe umfaßten, bevor
-sie sich von ihm losrissen. Dort entschwanden die Straßen, in denen
-sie so fröhlich gewandelt war; da in der Ferne die Linden, unter deren
-Schatten der Vater schlummerte; hier die Bäume, unter denen Er, ach,
-vor so kurzen Wochen, ihr gesagt, daß er sie liebe; er wußte nicht,
-daß sie ins Elend zog; ihn trugen jetzt die Meereswellen hinaus, weit
-hinaus, einer glänzenden Zukunft entgegen! Wenn er es gewußt hätte,
-wie es um ihren Vater stand -- er wäre nicht gegangen! Er durfte es
-niemals, niemals erfahren; er mußte dort im fernen Westen glücklich
-werden. Und sie? ach, sie kam sich vor wie ein losgerissenes Blatt,
-ratlos, kraftlos, willenlos vom Sturm der Zukunft entgegengetrieben.
-Hilfesuchend falteten sich ihre Hände und unwillkürlich kamen ihr die
-Worte auf die Lippen, die sie zuletzt mit ihm gesungen:
-
- „So nimm mich hin, Rat, Kraft und Held,
- Und mach’ aus mir, was dir gefällt.“
-
-
-
-
-4.
-
-Not und Sorgen.
-
-
-Johann war abgereist, nachdem unter Marthas Leitung und mit seiner
-treuen Hilfe die kleine Wohnung in möglichst behaglichen Stand
-gebracht war. Er hatte noch Holz und Kohlen herbeigeschafft, hatte
-dem Mädchen sämtliche Wirtschaftsgeräte, Eimer, Besen und Bürsten
-mit den eindringlichsten Ermahnungen übergeben, und dann mit tausend
-Segenswünschen und heißen Thränen von seiner Herrschaft Abschied
-genommen. Mutter und Tochter saßen in der freundlichen, behaglich
-durchwärmten Wohnstube und überblickten ihr neues Reich; Martha nicht
-ohne das befriedigende Gefühl, durch ihren Geschmack ein so nettes
-Ganze geschaffen zu haben; die Mutter immer noch traurig und still.
-Die Wohnung lag in einem Hinterhause; aber nur die Fenster von Küche
-und Speisekammer öffneten sich nach dem nicht ganz kleinen und völlig
-sauberen Hof; die beiden Wohnstuben boten die freundlichste Aussicht
-auf einen reich mit Bäumen bepflanzten, jetzt freilich unter weißer
-Schneedecke ruhenden Grasgarten, und dicht hinter demselben floß ein
-klarer Bach durch Ellerngebüsch, welches das dahinter liegende Feld zum
-Teil verdeckte.
-
-„Ist es nicht ganz nett, liebe Mama?“ fragte Martha sanft.
-
-„Es ist ja gut so“, sagte diese in einem so gleichgültigen, traurigen
-Tone, daß es Martha schwer wurde, die Thränen niederzukämpfen.
-
-Freilich: Vergleiche durfte man ja nicht anstellen mit den Räumen, die
-noch vor so kurzer Zeit sie umfangen hatten. Die Zimmer waren niedrig,
-die Fensterscheiben klein; es fehlte die Fülle herrlicher Blumen und
-Blattpflanzen, es fehlten die weichen, dicken Teppiche am Fußboden, die
-schweren, sammetnen Übergardinen, die reichen Tischdecken, reizenden
-Statuetten und Kronleuchter; außer einigen Familienphotographieen
-war die Wand nur von einem einzigen Bilde geschmückt, einem guten
-Kupferstich der Sixtinischen Madonna, welchen Herr Feldwart seiner
-Frau zu ihrem letzten Geburtstage geschenkt und Onkel Konsul für
-sie aus dem Zusammensturz gerettet hatte; aber es war durch Johanns
-Aufmerksamkeit doch auch noch einiges Freundliche mit hergekommen,
-das wohl imstande war, die Umgebung heimisch zu machen. In seinem
-gewöhnlichen Messingbauer hing über Marthas Nähtisch ihr kleiner,
-lieber Kanarienvogel; um die Bilder ihrer Eltern schlang sich, neu
-aufgebunden, der selbstgezogene Epheu, und unter dem Tische lag auf
-seinem alten Polster Ajax, das weiße Seidenhündchen. Er schlug jetzt
-an, man hörte die Küchenthür gehen.
-
-„Mama“, sagte Martha, „Thekla wird jetzt hereinkommen; möchtest du ihr
-nicht Bescheid sagen?“
-
-„Ich kann nicht, thue du das, Martha!“
-
-Thekla erschien. Es war ein hübsches, gutgewachsenes Mädchen mit
-lebhaften Augen und gewandten Bewegungen, und jedenfalls älter als
-Martha. Diese stand ihr schüchtern gegenüber. Ach, sie war sich ihrer
-eigenen Unzulänglichkeit nur zu sehr bewußt; ihre Fragen nach den
-Leistungen der Gemieteten kamen nur zögernd über ihre Lippen; die
-Antwort desto frischer und dreister aus Theklas Munde: „Ja, ich kann
-alles, reinmachen, kochen und waschen.“
-
-Dies klang tröstlich; zuerst sollte sie einholen, was nötig war.
-
-„Bringen Sie Brot, Butter, Suppenfleisch und irgendeinen hübschen
-Braten; bekommen Sie kein Geflügel, so nehmen Sie Filet!“
-
-„Wie viel denn, Fräulein?“
-
-„Ach, Sie werden ja sehen, ein Stück, das für uns paßt.“
-
-Thekla erinnerte noch an einige dringende Bedürfnisse; es wurde eine
-lange, lange Liste, und als das Mädchen fort war, fühlte Martha
-erschrocken, wie leer ihr Beutelchen geworden war.
-
-„Mama“, begann sie nach einer Weile schüchtern, „müßten wir nicht doch
-einmal berechnen, wie viel wir eigentlich jede Woche ausgeben dürfen?“
-
-Frau Feldwart hielt sich den Kopf: „Ich kann gar nichts; rechne du!“
-
-Sie hatte ihrem großen Haushalte in ihrer Weise pünktlich und
-ordentlich vorgestanden, aber sie hatte stets über sehr große Summen zu
-verfügen gehabt; sie konnte es sich gar nicht denken, wie es möglich
-zu machen sei, mit so wenigem auszukommen; dazu war das Unglück so
-unerwartet über sie hereingebrochen; ihre Leibes- und Seelenkräfte
-waren wie gelähmt.
-
-„Hier im Buche steht alles“, sagte sie.
-
-Martha nahm das Buch und rechnete, rechnete, bis ihr der Kopf heiß war,
-aber ach, sie kam zu keinem Resultat. Wenn sie nur hätte teilen dürfen
-in 12 Monate oder 52 Wochen; aber da war so vieles, das kam nur einmal
-im Jahre.
-
-Die Miete, ja, das stand hier: 300 Mark; Kohlen hatte Johann gekauft:
-20 Ctr. Kohlen 17 Mark, 1 Meter Holz 7 Mk. 50 Pf.; aber was konnte
-ihr das helfen? Hatte sie denn eine Ahnung, wie lange diese Portion
-reichen würde? Dies arme Kind fühlte tief ihre Unzulänglichkeit. Ach,
-es war gewiß noch vieles auszugeben, an das sie jetzt gar nicht dachte;
-also mit dem Einteilen ging es heute noch nicht! Sie versuchte es auf
-eine andere Weise; sie überlegte: „Wie kann ich sparen? Natürlich,
-Gesellschaften geben wir jetzt nicht; Schmuck, Bilder, Noten, Bücher
-dürfen wir nicht anschaffen; aber sonst haben wir zuhause doch einfach
-gelebt: es gab nach der Suppe nur zwei Gerichte und ein Dessert. Ein
-Gericht werden wir wohl streichen müssen, vielleicht auch das Dessert;
-aber ihren Tischwein muß Mama natürlich behalten; wenn ich nur eine
-Ahnung hätte, was die einzelnen Sachen kosten! Wenn mir doch nur Mama
-etwas helfen wollte; ach, es ist so schwer, so schwer! Mein Siegfried,
-mein armer, lieber Papa, ich habe nicht einmal so viel Ruhe, an euch zu
-denken!“
-
-Sie hatte ja den besten und treuesten Willen, ihre Schuldigkeit zu thun
-und trotz ihrer doppelten Trauer einen reichen Springquell jugendlicher
-Frische und Thatkraft in ihrem Herzen. Aber wie sehr wurde derselbe
-auch in Anspruch genommen! Thekla zeigte wohl am ersten Morgen, daß
-ihr die Hausarbeit nicht völlig fremd war, auch brannte nach langen,
-vergeblichen Bemühungen endlich das Feuer in Stube und Küche. Aber nun
-sollte gekocht werden! Ach, da wurde es klar, daß weder Fräulein noch
-Mädchen auch nur den entferntesten Begriff von dieser Kunst hatten.
-
-„Aber Thekla, Sie sagten doch, Sie könnten kochen, sieden und braten!“
-
-„Nun ja, Fräulein, für uns zuhause; da kommt alles zusammen in einen
-Topf, der wird morgens in die heiße Asche gesetzt, da kocht sich’s ganz
-alleine. Aber hier, da ist noch nicht einmal ein Aschenloch, nur ein
-Ofen, da verstehe ich nichts von!“
-
-Da war guter Rat teuer. Wenn nur Martha irgendjemanden hätte fragen
-können! Halt! eine Freundin ihrer Mutter hatte ihr einmal das Kochbuch
-von Henriette Davidis geschenkt; das fand sie endlich nach langem
-Suchen und studierte darin Bouillonsuppe und Lendenbraten. Aber es ist
-mit der Kochkunst eine eigene Sache; wo alle Erfahrung und Anschauung
-fehlt, gerät es auch nach dem besten Buche nur mangelhaft, und wer
-all’ die kleinen, nötigen Handgriffe nicht übte, dem geht die Arbeit
-sehr langsam von statten. Das Feuer meldete sich verdrießlich, weil
-eine Hand darüber kam, die es noch niemals geschürt hatte; der Ofen
-rauchte, weil eine Klappe geschlossen war, die geöffnet sein wollte;
-und als nach langen, schweren Mühen nichts weniger als pünktlich das
-Mittagsbrot auf den Tisch kam, schmeckte es jedenfalls ganz anders
-als in B., und Frau Feldwart, die ohnehin wenig Appetit hatte, legte
-verdrießlich ihren Löffel hin und schaute mit entsetzten Blicken auf
-die große Menge Suppe und den noch größeren Braten, welche eine sehr
-unliebsame Wiederholung auf morgen versprachen.
-
-„Wir haben heute wirklich zu viel gekocht“, dachte Martha. Sie wollte
-ja gern den Kopf oben behalten und sah es als ihre Aufgabe an, der
-Mutter eine Stütze zu sein; hätte ihr ein erfahrenes und treues Mädchen
-zur Seite gestanden, so würde sie vielleicht die Schwierigkeiten
-überwunden haben. Aber ach! von ihrer Hauswirtin aufmerksam gemacht,
-mußte sie bald entdecken, daß Thekla kein redliches Mädchen war, und
-als einmal in der Nacht Frau Feldwart nach Kaffee verlangte und Thekla
-geweckt werden sollte, um Feuer zu machen, zeigte es sich, daß sie zum
-Tanze gegangen war und das Haus offen gelassen hatte. Hiervon mußte
-Frau Feldwart erfahren.
-
-„Sie darf nicht bei uns bleiben“, sagte sie, „schon um des Hauswirts
-willen dürfen wir sie nicht behalten.“
-
-Martha sah dies ein; sie fühlte, daß sie nicht die Erfahrung besaß,
-welche dazu gehört hätte, das Mädchen auf besseren Weg zu bringen, und
-so ging am anderen Morgen Thekla, und Martha sah ihr halb mitleidig,
-halb schmerzlich bewegt nach mit dem demütigenden Gedanken: „Ich
-konnte ihr gar nichts sein; ach, ich taste ja auch noch im Dunkeln
-umher, und Gott mag geben, daß ich meinen Weg finde. Es ist eigentlich
-gut, wir können ohne sie sparsamer sein!“
-
-Es zeigte sich bald, wie nötig das war; Martha hatte gar nicht gedacht,
-daß zum Leben so viel Bedürfnisse gehörten; das Geld verschwand unter
-ihren Händen. Sie wollte sich bei der Mutter Rat und Anweisung holen,
-aber die war innerlich wie gebrochen und schüttelte nur den Kopf: „Thu,
-was du willst!“ Ach, da kamen für die Tochter auch recht mutlose,
-dunkle Stunden. Nein, arm und reich sein galt ihr gar nicht gleich! In
-der Phantasie war das recht schön, in der Wirklichkeit um so bitterer.
-
-
-
-
-5.
-
-Suschen von drüben.
-
-
-Sie mußte sich nun ermannen und die Arbeit allein angreifen. Herr
-Reinhold, ihr Wirt, hatte ihr versprochen, Erkundigungen nach einem
-Mädchen oder einer Aufwärterin einzuziehen, aber sie auch darauf
-vorbereitet, daß es einige Tage dauern könne, bevor sich Hilfe fände.
-
-„Es schadet auch nichts, Fräulein! Der Laufbursche holt Ihnen Kohlen
-und Wasser und kann auch in der Stadt was mit besorgen.“
-
-Das war nun recht dankenswert, aber dennoch blieb eine große
-Sorgenlast auf Marthas Herzen, und sie stand recht traurig in der
-Küche und musterte die Reste vom vergangenen Tage, ob sich vielleicht
-ein Mittagsbrot daraus zusammensetzen ließe; da klopfte es an die
-Küchenthür, und als Martha dieselbe öffnete, erschien in ihrem Rahmen
-ein Frauenkopf, braun gebrannt von der Sonne, mit hundert kleinen
-Fältchen gezeichnet; das weiße Haar schimmerte nur wenig hervor unter
-einem neuen, karrierten Kopftuche, das, am Hinterkopfe regelrecht
-gebunden, in zwei gleichen, glatten Zipfeln nach beiden Seiten abstand,
-und mitten aus den freundlichen Zügen leuchtete ein ungemein helles,
-strahlendes Augenpaar die verwunderte Martha an: „Ach, ist’s denn
-möglich? nein, gar nicht verändert, noch ganz und gar wie sonst, mein
-liebes, liebes Fräulein!“
-
-Marthas Verwunderung stieg: „Wen suchen Sie denn eigentlich, liebe
-Frau?“
-
-„Aber, mein Fräulein Riekchen, oder meine liebe Frau Feldwart, kennen
-Sie mich denn nicht? Es sind ja nun wohl schon ein- oder zweiundzwanzig
-Jahre, daß wir nicht zusammengekommen sind; aber Ihre alte Trude, die
-sollten Sie denn doch wohl nicht vergessen haben.“ Martha fing an zu
-begreifen. Trude! den Namen hatte sie von ihrer Mutter oft nennen
-hören; sie lächelte: „Ja, was vor zweiundzwanzig Jahren war, kann ich
-freilich nicht wissen; ich werde im Sommer erst achtzehn. Sehe ich
-vielleicht aus wie meine Mutter damals aussah?“
-
-Nun war das Lachen an der Alten.
-
-„Ach freilich, freilich, Kind, accurat so! Wo dachte ich auch hin? Und
-die Sprache, wie Sie sich ’rumdrehen und alles! Sehen Sie, gleich wie
-ich aus der Schule kam, wurde ich bei ihr Kindermädchen; ich habe sie
-auf meinen Armen groß getragen, dann nachher war ich Zimmermädchen auf
-dem Gute. Als sie zum erstenmal zu Gottes Tische ging, da habe ich
-ihr das schwarze Kleid angezogen und an ihrem Hochzeitstage Kranz und
-Schleier gesteckt; ach, was war sie eine schöne Braut! All’ die Jahre
-daher habe ich mich gesehnt, sie einmal wiederzusehen. Nun sagte mir
-neulich der alte Herr, der die Wohnung hier gemietet hat, daß der Herr
-Vater tot ist und daß sie hierhergezogen ist, weil es ihr schlecht
-geht. Na, dachte ich, da mußt du hin, Trude, da mußt du hin! Ach, nicht
-wahr, Fräulein, ich darf mit meiner alten Herrschaft sprechen?“
-
-Es wurde der Martha feucht in den Augen und weich um das Herz; sie
-war sich eben noch so grenzenlos verlassen vorgekommen, setzt sah sie
-wieder ein wenig Licht und Hilfe. Sie ging hinein zur Mutter: „Mama,
-deine alte Trude ist da; nicht wahr, du läßt sie hereinkommen? sie
-würde sonst zu traurig sein.“
-
-Frau Feldwart sah erst sehr erschrocken aus; aber all’ ihre
-Jugenderinnerungen wurden lebendig; Trudens Güte und Treue spielte
-darin eine große Rolle. Nein, die konnte sie nicht abweisen -- sie
-nickte still und traurig mit dem Kopfe.
-
-Trude setzte ihre Kiepe in der Küche nieder, breitete sorgsam ihren
-dunkelblauen Mantel darüber und trat ins Zimmer. Frau Feldwart wollte
-ihr entgegengehen.
-
-„Ne, bleiben Se sitzen, bleiben Se ruhig sitzen, mein liebes Fräulein
-Riekchen, und nehmen Sie es nicht für ungut, daß ich komme. Ich hörte,
-daß der liebe Gott Sie so geprüft hat, und da mußte ich doch ’mal
-nach Ihnen sehen. Wenn Sie als kleine Krabbe zu mir geweint kamen, da
-konnte ich Sie wohl leichte trösten, und jetzt mag das ja schwer sein;
-aber unsereiner kann doch sagen, daß man Anteil nimmt, und solche alte
-Bekannte, wie wir sind, die sprechen sich doch gern ’mal aus.“
-
-Frau Feldwart reichte der Alten die Hand und winkte ihr, sich zu
-setzen: „Ja, Trude, wir sind sehr unglücklich geworden.“
-
-„Nu, meine liebe Frau Feldwarten: welche der Herr lieb hat, die
-züchtiget er; ich habe es auch erfahren. Ich habe einen Mann und zwei
-Söhne begraben, und habe mich durchschlagen müssen mit drei schwachen,
-kleinen Mädchen; da weiß ich wohl, wie Ihnen das zu Sinne ist.“
-
-„Ach, Trude, es ist zu schwer: mein Mann tot und alles mit ihm
-zusammengebrochen; nun in Armut sitzen und nicht wissen, wovon man am
-andern Tage leben soll, und das arme Kind, die Martha, ach Gott, ach
-Gott!“
-
-Es waren die ersten Worte der Klage, die über Frau Feldwarts Lippen
-kamen, so lange sie hier war; es waren die ersten Thränen, die jetzt
-über ihre Wangen stürzten seit ihres Mannes Tode; sie kamen nun wie ein
-unaufhaltsamer, nicht endenwollender Strom. Trude stand leise auf, nahm
-den Kopf ihrer ehemaligen Herrin in ihren Arm, wie sie es gethan hatte,
-als dieselbe noch ein Kind war, und strich mit ihrer welken Hand sanft
-über das ergrauende Haar.
-
-„Ja, weinen Se nur, weinen Se nur, Frau Feldwarten -- immer zu! Die
-Thränen hat uns der liebe Gott gegeben; die fließen ab aus dem Herzen,
-wenn es zu voll wird, daß es nicht bricht, und glauben Sie nur, der
-liebe Gott hilft schon durch. Der Reichtum hat seine Freuden und seine
-Lasten, und die Armut hat ihre Freuden und ihre Lasten; die Hauptsache
-ist, daß der liebe Gott mit seiner barmherzigen Hand immer dazwischen
-ist; hat doch der Heiland auch nicht im Schlosse gewohnt, sondern im
-Stalle; ich meine, da ist’s noch lange nicht so fein gewesen wie hier
-in der Stube.“
-
-Martha war hereingekommen, das Wort traf sie tief! Die Alte sah, daß
-die Thränen ihres Pflegekindes sanfter flossen -- sie stand auf.
-
-„Darf ich denn ’mal wieder kommen, Frau Feldwart?“
-
-„Ach, Trude, komme ja, so oft du kannst; aber wo wohnst du denn
-eigentlich und was treibst du?“
-
-„Ach, mir geht’s jetzt ganz gut; zwei von meinen Töchtern sind
-verheiratet, die älteste ist in recht guten Verhältnissen, die jüngste
-dient auf dem Amte, und mir hat der Herr Amtmann das Häuschen beim
-Thore gegeben, wo sonst der alte Boten-Ferdinand wohnte; ich thue die
-Botengänge nach L. und nach hier; ich bin glücklich auf meine alten
-Tage.“
-
-Frau Feldwart sah hinaus; der Februarsturm peitschte den Regen gegen
-die Scheiben.
-
-„Aber bei solchem Wetter gehst du auch? Wirst du da nicht krank?“
-
-Die Alte lachte: „Ach, das wird man alles gewohnt. Sehen Sie, beim
-Schmied wird die Hand hart, daß er keine Hitze mehr fühlt, und beim
-Tischler wird die Hand hart, daß ihm der Hobel nicht mehr weh thut, und
-bei mir da ist nachgerade das ganze alte Fell hart geworden, daß mir
-Wind und Wetter nichts mehr anhaben kann; man glaubt nicht, was sich
-alles lernt im Leben.“
-
-Sie ging; Martha begleitete sie, um ihr den Korb mit aufheben zu
-helfen; sie erzählte ihr das Unglück mit dem Mädchen, und die Alte
-versprach ebenfalls, ihre Augen und Ohren danach aufzuthun.
-
-„Jetzt aber, Fräulein, jetzt müssen Sie mir noch die Liebe thun und die
-zwei Paar jungen Tauben annehmen; bei meiner Kathrine sitzen sie über
-dem Kuhstall, da brüten sie bald.“
-
-Martha dankte herzlich, aber sie faßte die Thierchen mit einem
-ängstlichen Blick auf Trude.
-
-Diese lachte: „Ach so! das Fräulein hat gewiß noch keine geschlachtet;
-da will ich die Köpfe nur gleich noch abreißen -- so! Nun behüte Sie
-der liebe Gott, und halten Sie Ihren jungen, hübschen Kopf oben, daß
-die Mutter keine betrübten Gesichter sieht, es geht alles in der Welt
-mit der Gotteshilfe.“
-
-Martha war ganz mit ihr einverstanden im tiefsten Innern, besonders
-was die großen Sorgen des Lebens betraf; wie es jetzt aber weiter
-gehen sollte mit ihrer Wirtschaft und speziell mit diesen zwei Paar
-Tauben, das war ihr sehr unklar. Für das Große, meinte sie, da könnte
-man doch den lieben Gott recht anrufen, aber für solche Lappalien, die
-man noch dazu durch seine Dummheit verschuldet hat, da erschien es
-ihr fast, als dürfte sie es nicht. Zunächst, das schien ihr gewiß zu
-sein, mußten die Tauben gerupft werden; sie setzte sich auf den Rand
-des Küchentisches dicht ans Fenster und begann die ungewohnte Arbeit.
-Es ging sehr langsam; sowie sie sich bemühte, etwas schneller vorwärts
-zu kommen, riß die feine Haut ein; dazu war ihr das Herz so schwer.
-Was sie schon längst bedrückt hatte, das war ihr heute vor dem leeren
-Kohlenstalle zur Gewißheit geworden; sie hatte schlecht gewirtschaftet,
-und ihre Gelder mußten zu Ende sein, bevor dieser Monat zu Ende war;
-vor dem ersten April war nichts Neues zu erwarten, und sie quälte
-sich mit dem Gedanken, wie es bis dahin werden sollte; sie hatte sich
-zusammengenommen diese ganze Zeit; jetzt tropfte langsam eine Thräne
-nach der anderen herab aus ihren Augen, und sie mußte immer wieder die
-Arbeit sinken lassen, um diese zu trocknen. Ohne es zu wissen, hatte
-sie dabei zwei teilnehmende Zuschauerinnen. Der Feldwartschen Küche
-gegenüber lag die Küche der großen Wohnung im Vorderhause; dort hatte
-Martha bis gestern neben dem Dienstmädchen nur eine schlanke Dame
-wirtschaften sehen, und zuweilen bemerkt, daß die Blicke derselben
-freundlich und teilnehmend auf ihr ruhten. Heute zeigte sich neben
-der Dame ein junges, behendes Mädchen, ohngefähr in Marthas Alter.
-Als Martha von ihrer Arbeit aufblickte, sah sie die junge Gestalt am
-Fenster stehen, und als sie nach einiger Zeit zum zweitenmale hinsah,
-grüßte dieselbe freundlich, und Martha dankte ihr. Jetzt bemerkte sie,
-wie Mutter und Tochter -- das waren sie sicher -- eifrig miteinander
-sprachen: die Mutter lachte, die Tochter verschwand, und einige Minuten
-später klingelte es an Feldwarts Korridorthür.
-
-Als Martha öffnete, stand das junge Mädchen mit hocherrötendem,
-verlegenen Gesichte ihr gegenüber: „Ach, verzeihen Sie, ich bin ja nur
-das Suschen von drüben.“
-
-Martha wollte ihr die Zimmerthür öffnen.
-
-„Ach bitte, nein! ich kann ja nicht ins Zimmer, so wie ich bin!“
-sagte Suschen und lachte, indem sie auf ihren Morgenrock und ihre
-blaugedruckte Küchenschürze zeigte. Martha dachte, daß die zierliche
-Gestalt mit dem glatten, blonden Köpfchen, den klaren, blauen Augen
-und Grübchen in den Wangen an jedem Platze hübsch aussehen müßte, aber
-Visitenkostüm trug sie freilich nicht.
-
-„Ich wollte, ach, wenn es nicht unbescheiden ist, ich wollte Ihnen
-Tauben rupfen helfen.“
-
-Martha streckte ihr beide Hände entgegen: „Wie freundlich, wie sehr
-freundlich ist das! Wenn Sie mir zeigen wollen, wie es am besten
-anzufangen ist, so werde ich Ihnen sehr, sehr dankbar sein; ich bin
-noch so gar dumm in solchen Sachen.“
-
-„Und ich“, lachte das Suschen, „bin vorigen Sommer schrecklich klug
-darin geworden, denn ich war bis vorgestern bei der Tante Pastor in S.,
-die hatte einen großen Taubenschlag; da gab es zu manchen Zeiten mehr
-Tauben, als uns lieb war: einen Tag Frikassee und den andern Tag Suppe
-und den dritten Braten. Alt und jung und Kind und Kegel mußte dann
-rupfen, und als ich vorhin sah, wie Sie sich damit quälten, da konnte
-ich’s nicht aushalten und lief herüber.“
-
-Während dieser Erklärung waren sie in der Küche angelangt; Suschen
-sah sich einen Augenblick darin um: „Jetzt müssen wir uns auf zwei
-Stühle nebeneinander setzen, damit meine Küchenschürze für uns beide
-ausreicht; Ihr dünnes, weißes Schürzchen taugt dazu nichts, Fräulein
-Feldwart.“
-
-„Ich heiße Martha“, sagte diese lächelnd.
-
-„Nun also, Martha, kommen Sie und machen Sie mir alles nach.“
-
-Martha sah einige Zeit mit Verwunderung zu, wie die Federn unter
-Suschens runden Fingern verschwanden, dann ließ sie sich erklären,
-worauf es ankam, und da sie von Natur nicht ungeschickt war, eiferte
-sie bald der jungen Gefährtin nach. Als sie nun auch mit schnelleren
-Bewegungen an die gefährliche Stelle unter dem Flügel kam, gab es
-freilich noch einmal einen großen Riß, der wurde diesmal aber nicht
-beweint, sondern herzlich belacht.
-
-„Ich bin so froh, daß ich endlich glücklich hier bin“, sagte Suschen.
-„Sehen Sie, mein Vater ist Direktor an dem Gymnasium hier, seine
-Kollegen haben alle nur ganz kleine Kinder, da fürchtete ich mich
-ordentlich, nachhause zu kommen, denn bei der Tante waren viel junge
-Mädchen. Mama schrieb mir vor vierzehn Tagen schon, daß Sie hier
-eingezogen wären, und ich habe die ganze Zeit Pläne geschmiedet, wie
-ich zu Ihnen gelangen wollte; nun sind die lieben Tauben so gefällig
-und vermitteln es.“
-
-„Können Sie auch Tauben ausnehmen und zurecht machen?“ fragte Martha
-zaghaft.
-
-„Freilich“, versicherte Suschen, „soll gleich geschehen: Wann sollen
-sie denn gegessen werden? Heute doch nicht mehr, sie sind ja noch warm!“
-
-Martha wurde verlegen: „Ich war aber so froh, daß ich etwas zu Mittag
-hatte!“
-
-„Na“, tröstete Suschen, „es geht am Ende auch. Wenn Sie nur ein wenig
-Spiritus im Hause haben, brennen wir sie damit ab; die Tante sagt,
-das thäten sie immer in Karlsbad, wenn die Hähnchen eine Stunde vor
-dem Essen noch umherliefen. Dann nehmen Sie heute wenigstens nur zwei
-und kochen sie zur Suppe, und morgen braten Sie die anderen; für zwei
-Personen reicht das ganz gut.“
-
-Jetzt wollte Martha Feuer unter der großen Platte anbrennen.
-
-„Haben Sie denn keinen Petroleumkocher?“ fragte Suschen. „So ein großes
-Feuer für zwei Tauben ist doch schade!“
-
-Martha hatte keinen.
-
-„Ich hole so lange unseren herüber, damit Sie nur erst ’mal sehen, wie
-hübsch das ist, und dann, wenn Sie es erlauben, werde ich die Mama
-fragen, ob ich nicht hier erst einmal mit fertig kochen darf.“
-
-Martha sprach ihre Freude über diesen Gedanken aus: „Ich will ja alles
-so gern lernen“, sagte sie, „aber ein wenig Anleitung muß man doch
-haben.“
-
-Wie gemütlich war es ihr, dieselbe von einer so lieblichen
-Altersgenossin zu empfangen! Als Suschen weggegangen war, erschien Frau
-Feldwart in der Küche.
-
-„Wer war bei dir?“
-
-„Das Suschen von drüben.“
-
-„Wer ist das?“
-
-„Ach Mama, hier unser ~vis à vis~; sie hatte gesehen, daß ich
-nicht Tauben rupfen konnte, da kam sie und zeigte es mir; sie will mir
-auch kochen helfen.“
-
-Frau Feldwart schüttelte den Kopf. Die schnelle Freundschaft war ihr
-sehr verwunderlich; aber sie hatte Martha zum erstenmale wieder lachen
-hören, und ihr Mutterherz lebte noch, wenn es auch jetzt im Banne der
-Traurigkeit lag.
-
-„Woher hast du die Tauben?“
-
-„Trude hat sie gebracht von ihrer Tochter, die hat einen Taubenschlag.“
-
-Suschen kam jetzt wieder und Frau Feldwart zog sich zurück.
-
-„Ich habe mir etwas ganz Reizendes ausgedacht“, sagte die kleine
-Nachbarin, „und meine Mama hat nichts dagegen: ich will Ihnen, wenn Sie
-es erlauben, früh jetzt immer ein wenig helfen; da kommen sie nach und
-nach in Übung und ich nicht heraus; darf ich das?“
-
-Sie sah Martha so lieblich bittend an, daß diese sie gerührt umarmte.
-
-„Ach, ich kann darüber ja nur ganz glücklich sein, und ich weiß ja
-ohnehin nicht, wann ich wieder ein Mädchen haben werde.“
-
-„Ach“, sagte Suschen, „ich nähme mir gar keins wieder. Es ist doch zu
-erwarten, daß wir beide in der ersten Zeit noch allerlei Dummheiten
-machen; da ist es viel besser, wenn uns niemand dabei zusieht, und
-dann brauchen wir ja auch viel weniger zu kochen und können es feiner
-einrichten. Sie werden schon eine Frau finden, die morgens ein paar
-Stunden kommt und nach Tische noch ’mal; das ist viel billiger als ein
-Mädchen.“
-
-„Ja, das wäre sehr gut“, sagte Martha, „ich muß mich so erst
-einwirtschaften. Meine Thränen heute Morgen galten viel weniger den
-Tauben, als der Angst und dem Kummer, daß ich viel mehr verbraucht
-habe, als ich eigentlich durfte.“
-
-„Ach, da kann Ihnen gewiß meine Mutter raten; wir sind acht Kinder, da
-muß sie auch recht sparen, wo sie immer kann.“
-
-Es erhob sich nun noch eine kleine Schwierigkeit. Martha meinte: nur
-Tauben in der Suppe -- das würde ihrer Mutter doch nicht recht sein.
-
-„Gut“, sagte Suschen, „so schneiden wir die Tauben in Viertel, machen
-eine Frikasseesauce darüber, und braten die Kartoffeln, da haben wir
-gleich noch einen besonderen Gang für unser Diner.“
-
-Martha staunte Suschens Erfahrungen an. Es war schließlich alles
-wohlgeraten, und als sich die beiden Köchinnen trennten, geschah es
-mit einer fröhlichen Umarmung, und beide brachen zugleich in die Worte
-aus: „Wollen wir uns nicht lieber ‚du‘ nennen?“ Dies wurde mit einem
-herzlichen Kusse besiegelt, und die Freundschaft war geschlossen. Frau
-Feldwart war zum erstenmale befriedigt von ihrem Mittagsbrot, von dem
-sie heute nach des Mädchens Abgang nur wenig erwartet hatte.
-
-Als sie ihre Mittagsruhe hielt, saß Martha still an ihrem Fenster und
-staunte darüber, daß sie jetzt so fröhlich und getrost war. Sie hatte
-den lieben Gott heute nicht um seine Hilfe gebeten, weil ihre Anliegen
-ihr zu klein dazu erschienen; waren ihre unausgesprochenen Seufzer
-doch vor seinen Thron gekommen? Ach ja! was unsere Herzen unruhig
-macht, das ist ihm nie zu groß oder zu klein, und wenn er seine Kinder
-auf sehr rauhe Pfade und durch sehr dunkle Stunden führt, thut er wie
-eine gute Mutter, die dem Kleinsten Süßigkeiten oder Spielwerk vorhält
-zu dem ersten schweren Schritte; er läßt mitten durch die dunklen
-Wolken einen Sonnenstrahl fallen, eine Gebetserhörung ein freundliches
-Erlebnis, um der Seele zu sagen: „Ich verlasse dich nicht; ich bin
-dennoch bei dir und halte dich an meiner Hand, wenn du mich auch nicht
-immer gleich finden kannst.“ An solchen Erfahrungen stärkt sich dann
-der Mut und das Gottvertrauen, und der Fuß lernt wieder getroste und
-gewisse Schritte thun. Martha hatte sich von jeher eine echte, rechte
-Freundin gewünscht; Suschen sah so sehr lieb und treu aus: vielleicht
-hatte sie in ihr gefunden, was sie suchte.
-
-Es schien heute der Tag aller Besuche zu sein. Gegen Abend kam die Frau
-Direktorin selbst und bat Martha, sie bei ihrer Mutter zu melden. Frau
-Feldwart hatte außer Trude noch niemanden empfangen; aber sie fühlte
-wohl, daß sie sich nicht ablehnend oder unfreundlich gegen die Mutter
-verhalten durfte, nachdem die freundliche Hilfe der Tochter dankend
-angenommen war. Die geselligen Gewohnheiten ihres Lebens machten ihr
-die Sache leichter, und sie kam der Frau Werner, deren ernstes,
-teilnehmendes Gesicht sehr vertrauenerweckend aussah, rücksichtsvoll
-und artig entgegen.
-
-„Verzeihen Sie“, sagte diese mit sanfter Stimme, „daß ich zu Ihnen
-komme, ohne zu wissen, ob es Ihnen jetzt schon angenehm ist, Besuche
-zu empfangen; ich wollte nur das Eindringen meines ungeduldigen Kindes
-entschuldigen und mich überzeugen, ob Ihnen die Pläne der beiden jungen
-Mädchen nicht lästig oder störend sind. Ich kann mir so sehr denken,
-wie Ruhe und Stille Ihnen jetzt vor allem wohlthun.“
-
-„O ja“, sagte Frau Feldwart, „für mich haben Sie ja wohl recht, aber
-für Martha sehe ich es doch sehr gern, wenn sie junge Gesellschaft und
-etwas Erheiterung hat, und Ihr liebes Töchterchen kam heute in Marthas
-Ratlosigkeit hinein wie eine gute Fee. Ich kann Ihnen nur von Herzen
-dankbar sein, wenn Sie erlauben wollen, daß sie meinem armen Kinde
-ferner mit Rat und That beisteht; Martha ist noch so ganz unbewandert
-im Häuslichen, und ich“ -- Frau Feldwarts Thränen waren heute einmal
-in Bewegung gebracht, sie flossen jetzt aufs neue -- „und ich bin ja
-ebenso unwissend als sie.“
-
-„Ich glaube es“, sagte Frau Werner sanft, „es ist jetzt ein sehr
-schwerer Übergang mit all’ dem Kummer im Herzen. Aber diese Dinge sind
-wirklich nicht so schwierig zu erlernen, als es scheint. Sie sollen
-sehen: wenn unsere beiden Kinder die Sache zusammen angreifen, haben
-sie schließlich noch die größte Freude davon. Würden Sie denn Ihrer
-Martha erlauben, manchmal ein Stündchen zu uns zu kommen? Es ist viel
-Leben bei uns: acht Kinder, von denen Suschen das älteste ist.“
-
-Frau Feldwart sah etwas bedenklich aus; ihr freundlicher Besuch fuhr
-fort: „Ich hatte nicht daran gedacht, Ihnen die Gesellschaft Ihres
-Töchterchens zu entziehen; ich denke mir aber, Sie bedürfen so gut
-als mein Mann und ich der Mittagsruhe. Während dieser Zeit ist meine
-unruhige Schar im Sommer auf dem Hof oder im Grasgarten, im Winter in
-dem großen Hinterzimmer; sie versichern, es sei dies die fröhlichste
-Stunde des Tages. Da könnte Martha mit vergnügt sein.“
-
-Die Einladung ward angenommen; Frau Werner erbot sich zu allem guten
-Beistande, falls derselbe gewünscht werde, und Frau Feldwart dankte ihr
-herzlich, bat aber, ihr noch einige Zeit den Gegenbesuch zu erlassen.
-
-Kaum hatte Martha die gütige Nachbarin hinausbegleitet, als es abermals
-klingelte. Es war jetzt schon dämmerig, und Martha erschrak fast vor
-der großen, kraftvollen Frauengestalt, welche den Rahmen der Flurthür
-fast ausfüllte. Sie zündete schnell die Lampe an, und als ihr Licht
-das breite, von Güte und Freundlichkeit strahlende Gesicht der
-Eingetretenen beleuchtete, da konnte von Furcht oder Beklemmung keine
-Rede mehr sein.
-
-„Ich bin die Warburgerin“, sagte die Riesin. „Die Trude schickt mich,
-und ich möchte hier Aufwartefrau werden. Sehen Sie, ich habe fünfe;
-mein Mann geht auf Arbeit in die Fabrik, und ich kann nicht mitgehen,
-sonst verlottert die Wirtschaft und die armen Würmer verkommen; aber
-so ein paar Stunden früh und nachmittags, da nimmt sich schon meine
-alte Nachbarin der Kinder an. Alles kann einer für sieben doch nicht
-schaffen.“
-
-Die verschiedenen Eindrücke des Tages hatten Frau Feldwart doch so
-weit aus ihrer Müdigkeit und Niedergeschlagenheit aufgerüttelt, daß
-sie die Verhandlungen mit der Warburgerin selbst übernahm; man wurde
-bald handelseinig, und kaum war dies geschehen, so hing mit unfaßbarer
-Geschwindigkeit der Mantel der eben Gemieteten am Nagel; sie ergriff
-die Brunneneimer, fragte mit einem Blick auf den Kohlenkasten nach dem
-Kohlen- und Holzstall, und es war noch keine halbe Stunde vergangen,
-da war alles Nötige für den andern Morgen vorbereitet. Frau Warburger
-fragte, ob noch etwas in der Stadt zu bestellen sei, und ging dann, um
-Mutter und Tochter in einem so befriedigten Zustande zurückzulassen,
-wie es beide an diesem Morgen noch nicht für möglich gehalten hatten.
-
-Martha sehnte sich zum erstenmale wieder nach einer stillen
-Beschäftigung; am liebsten hätte sie ein ernstes Lied gesungen, sie
-wußte aber, daß dies die Mutter jetzt noch nicht ertrug. Sie griff
-zu einer leichten, angefangenen Häkelei, aber ihre Hände sanken
-immer wieder nieder, weil ihre Gedanken so weit umherwanderten.
-Zum erstenmale dachte sie, daß doch wohl Gott in seiner Weisheit
-sie davor bewahrt habe, jetzt schon zu heiraten und ernstere und
-reichere Pflichten auf sich zu nehmen, und zwar wehmütig, aber gar
-nicht unlieblich erschien ihr die Aufgabe, während Siegfried im
-fernen Lande bemüht war, die Mittel zur Gründung eines häuslichen
-Herdes zu erwerben, sich hier allmählich ausbilden zu können zu einer
-tüchtigen und brauchbaren Lebensgefährtin für ihn. Süße Bilder der
-Zukunft umschwebten sie, aber das Bewußtsein, wie ungewiß, ja wie
-unwahrscheinlich ihre Verwirklichung sei, wollte ihr Herz wieder in
-Traurigkeit versenken.
-
-Aber nein! sie hatte ja heute so viel zu danken, sie mußte den Kopf
-oben behalten. „Ich werde mir jetzt eine Arbeit suchen, die meine
-Gedanken voll in Anspruch nimmt“, dachte sie, „ich will Suschen zum
-Andenken an den heutigen Tag etwas malen.“
-
-Als sie sich der Mutter gegenüber mit ihren Zeichengerätschaften
-eingerichtet hatte, holte sich diese ein Buch zum Lesen, und es
-war das erste Mal, daß beide gemütlich zusammensaßen in den neuen
-Räumen. Konnte man doch nun auch dem anderen Morgen mit größerer
-Ruhe entgegensehen. Die Warburgerin fand sich zum verwundern schnell
-zurecht. Als die notwendige Arbeit gethan war, scheuerte sie freiwillig
-noch die Hintertreppe, die von Thekla sehr vernachlässigt worden war.
-Als sie dann ihre Hände gewaschen und ihren Mantel umgethan hatte,
-stellte sie sich mit untergeschlagenen Armen noch einmal auf die
-oberste Stufe, blickte mit einer Art verklärter Zärtlichkeit auf das
-eben vollendete Werk und sagte: „Ne, was schöneres giebt es doch auf
-der Welt nicht, wie so ’ne schloh-blütenweiße Treppe!“
-
-Martha hatte sie mit ihren Augen auf Schritt und Tritt begleitet; sie
-sah, daß sie eine geübte Arbeiterin vor sich hatte, und wollte von ihr
-lernen. „Welche verschiedenen Lose haben doch die Menschen!“ dachte
-sie; „es ist eigentlich hart, immer nur zu scheuern, zu fegen und zu
-putzen!“ Bei Frau Warburgers entzückter Anbetung der gescheuerten
-Treppe tröstete sie sich: „Es ist am Ende einerlei, was man thut, wenn
-es nur mit solcher Befriedigung lohnt!“
-
-Zum Kochen kam wieder das Suschen und brachte eine Schüssel Spinat mit:
-„damit wir auch Gemüse zum Braten haben.“ Als nach Tische die Mutter
-in der Sofaecke saß, ging Martha zu Direktors, um ihr Versprechen zu
-halten. Sie wunderte sich, daß nicht ihre Freundin, sondern das Mädchen
-ihr die Thür öffnete, und sie durch den Korridor zu dem Hinterzimmer
-brachte. Hier stand sie staunend einem feierlichen, lebenden Bilde
-gegenüber. Suschens Geschwister waren in einem Halbkreis aufgestellt,
-der sechszehnjährige Bruder in der Mitte; von da ging es nach beiden
-Seiten abwärts; an einer Seite saß das Kleinste an der Erde. Jedes
-Kind hielt ein Schneeglöckchen in der Hand, Suschen stand vor ihnen
-mit dem Rücken nach der Thür, hielt einen Weidenzweig mit Kätzchen als
-Taktstock, kommandierte, eins, zwei, drei -- und nun ging der Lärm los.
-Sie sangen:
-
- Heil sei dem Tag, an welchem du bei uns erschienen!
- (Die Jungen intonierten: didelum, didelum, didelum),
- ’s ist gar nicht lange her
- (Didelum, didelum, didelum),
- Wir brauchen uns nicht erst drauf zu besinnen
- (Didelum, didelum, didelum),
- Das freut uns desto mehr,
- Das freut uns desto mehr.
-
-Hierauf marschierten sie an Martha vorüber, und jedes Kind reichte
-ihr sein Schneeglöckchen, auch das zweijährige Mariechen wackelte den
-anderen nach. Martha wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, es
-war für ihre jetzige Gemütsverfassung etwas viel; aber das Ganze sah so
-reizend aus, die Kindergesichter strahlten fröhlich, und es war mit so
-viel Liebe erdacht, daß sie sich doch von Herzen freuen mußte und die
-kleine Marie und ihr Suschen abwechselnd umarmen. Die anderen wollten
-aber auch berücksichtigt sein. Da war zuerst der sechszehnjährige
-Sekundaner Wilhelm, die vierzehnjährige Luise, die zwölfjährigen
-Zwillinge Arthur und Hans, die achtjährige, schmächtige Anna, der
-vierjährige Gottfried und die zweijährige Marie. Alle umdrängten sie
-Martha, eins überschrie das andere, sie waren offenbar aufgeregt durch
-die Empfangsfeierlichkeit: „Hast du dieses Jahr schon Schneeglöckchen
-gesehen? Sie sind ganz hinten aus dem Garten, Hans hat sie unterm
-Schnee hervorgesucht.“ „Kannst du auch singen?“ „Kannst du Post-
-und Reisespiel?“ „Kannst du Zwickmühle?“ „Sieh ’mal, das ist meine
-Puppenstube!“ „Haben Sie ‚Die Ahnen‘ schon gelesen, Fräulein Feldwart?“
-
-Sie wußte in der That nicht, wem sie zuerst antworten sollte, ja,
-zuweilen kamen Momente, wo sie sich am liebsten die Ohren zugehalten
-hätte, denn solch ein Trubel war ihr gänzlich ungewohnt. Aber sie fand
-sich schnell darin zurecht.
-
-„Kommt“, sagte Suschen, „jetzt schlachten wir zuerst Martha zu Ehren
-die beiden Apfelsinen, die der Vater mitgebracht hat; jeder bekommt ein
-Viertel und Mariechen ein kleines Biskuit. Dann spielen wir; Luischen
-soll sagen, was?“
-
-„Ach, ich kann gar nicht spielen“, sagte Luischen, „ich muß mein
-englisches Gedicht noch ’mal überlernen; das ist heute so schwer.“
-
-„Wir müssen auch arbeiten“, erklärten Hans und Arthur; „die Probe auf
-unser Exempel paßt nie.“
-
-„Ach“, sagte Martha fröhlich, „da kann ich mich vielleicht dankbar
-erweisen für den schönen Empfang, und euch ein wenig helfen.“
-
-Es zeigte sich, daß Luischen erst um drei Uhr in die Schule mußte;
-Martha vertiefte sich also zuerst mit den Zwillingen in die Exempel.
-Es gelang ihr bald, den wunden Punkt zu finden, und von da aus war die
-Sache bald berichtigt.
-
-Darauf setzte sie sich zu Luischen: „Nun lies mir ’mal zuerst dein
-Gedicht. Nein, liebes Luischen, so geht es wirklich nicht, du sprichst
-noch sehr falsch aus, und mir scheint, daß du an einigen Stellen auch
-den Sinn nicht recht verstehst, ich will dir jetzt immer Strophe für
-Strophe vorsagen, du sprichst mir langsam nach, und am Ende jedes
-Verses übersetzest du, was du gesagt hast.“
-
-Es geschah, und Martha gelang es bald, der etwas flüchtigen Schülerin
-ihre Aufgabe klar zu machen: sie hatte nun selbst ihre große Freude
-daran, als dieselbe nach und nach alle Schwierigkeiten überwand.
-
-„Bitte“, sagte Luischen, „nun lies du es noch ’mal ganz; das klingt so
-hübsch.“
-
-Martha that es. Während ihres Lesens hatte sich leise hinter ihr
-die Thür geöffnet und Direktor Werners kluger Kopf war in derselben
-erschienen. Er sah recht wohlgefällig auf die Leserin.
-
-„Das ist ja eine sehr gute Aussprache“, sagte er, als Martha fertig war.
-
-Sie stand errötend auf.
-
-„Seien Sie mir, willkommen, Fräulein Feldwart; ich wollte nur hier
-meine junge Gesellschaft an die Schulzeit erinnern; ich denke, wir
-sprechen uns bald länger.“
-
-Er hatte schon die Hefte unterm Arm, den Hut in der Hand und empfahl
-sich schnell.
-
-Martha eilte zu ihrer Mutter; sie fing nun an, Licht und Luft um
-sich zu sehen; sie fühlte, daß sie sich bald einarbeiten werde mit
-der Freundin zusammen. Die Mutter war nicht mehr so teilnahmlos wie
-früher, und die fröhliche Kindergesellschaft drüben versprach so viel
-Erheiterung und Zuwachs an Interesse, wie Martha eben jetzt bedurfte
-und gebrauchen konnte. Nur ein großer Sorgenstein lag noch auf ihrer
-Seele und bedrückte dieselbe täglich mehr. Es war am 1. März, als das
-letzte Fünfmarkstück aus ihrem Beutelchen herauswanderte, und vor dem
-1. April war an keine neue Einnahme zu denken. Sie überlegte lange: sie
-glaubte wohl, daß Fleischer, Bäcker und Kaufmann, die von ihr bis jetzt
-pünktlich bezahlt worden waren, einige Wochen gern leihen würden; aber
-wenn sie in diesem Vierteljahre vom nächsten schon zehrte, wie in aller
-Welt sollte sie da künftig auskommen? Dazu hatte sich so viel Wäsche
-gesammelt; es würde auch teuer sein, sie waschen zu lassen.
-
-Die Mutter war eben erst wieder ein wenig teilnehmender geworden; sie
-beschloß, Frau Werner um Rat zu fragen.
-
-Diese hörte mit der wärmsten Teilnahme Marthas Klagen an und dachte
-lange darüber nach: „Du mußt das doch deiner Mutter sagen, liebes
-Kind! Es giebt eine wahre und eine falsche Schonung. Wie willst du es
-anfangen, dich noch mehr einzuschränken, wenn deine Mutter keine Ahnung
-von euerer Lage hat? Über die Wäsche sei ruhig, das wird sich mit Hilfe
-der Warburgerin billig einrichten lassen; die feinen Sachen wäscht
-Suschen mit dir allein und lehrt dich das Stärken und Plätten! Gehe
-nur jetzt und sprich mit deiner Mutter ordentlich und ehrlich über
-euere Lage.“
-
-Es wurde Martha recht schwer, und Frau Feldwart war sehr erschrocken;
-aber nach einigem Nachdenken fand sie einen Ausweg. Sie hatte einen
-Brillantschmuck, der ihr freies Eigentum war, für Notfälle mitgenommen;
-der wurde mit Hilfe der Frau Werner bei einem soliden Goldschmied
-verkauft und ergab immerhin so viel Einnahme, daß der nächsten,
-dringendsten Not damit gewehrt war. Aber Werners hatten bei dieser
-Gelegenheit einen tieferen Einblick in die Lage ihrer Nachbarn bekommen
-und dachten von dem Augenblicke ernstlich darüber nach, womöglich
-einige Erwerbsquellen für Martha zu finden.
-
-Die Karte, welche dieselbe für Suschen gemalt hatte, war vollendet.
-Aus jeder Ecke schwebte eine Taube; alle vier hielten im Schnabel
-ein blaues Band, an welchem sie zwei Herzen, als kleine Personen
-dargestellt, eines mit einer Distel -- das andere mit einem
-Rosenkranze, einander entgegenzogen. Dazwischen stand geschrieben:
-
- Am 26. Februar
- Da haben uns zwei Taubenpaar’
- Verbunden.
- Der Tag stets unvergessen sei,
- Da wir uns bei der Rupferei
- Gefunden.
-
-Das ganze Bildchen war mit Vergißmeinnicht durchschlungen und sah
-allerliebst aus. Suschen war entzückt darüber. Ihr Vater betrachtete es
-lange; dann sagte er: „Suschen, die Karte mußt du mir ein wenig borgen,
-Du sollst sie richtig wieder haben; ich habe eine Absicht damit.“
-
-Frau Feldwart fand den Umgang mit Werners so entschieden erfrischend
-und erheiternd für Martha, daß sie bald nichts mehr dagegen hatte, wenn
-diese auch einmal zu einer anderen Zeit eine Viertelstunde zu Suschen
-ging, und sie fing auch an, sich an dem fröhlichen Geplauder der
-Mädchen zu erfreuen, wenn diese herüber kam. Eines Sonnabends erschien
-sie mit der Bitte, Martha möge doch am Nachmittag einige Stunden mit
-ihnen spazieren gehen, die Eltern gingen auch mit; es sollten im
-Stadthölzchen Schneeglöckchen, Leberblumen und Anemonen gesucht werden.
-Es war einer jener wunderlieblichen Märztage, da die Sonne mit ihren
-warmen Strahlen die letzten Schneestreifen wegküßt und durch die Milde
-der Luft die Täuschung hervorgebracht wird, als sei man schon viel
-weiter in der Jahreszeit vorgerückt.
-
-Man zog sehr fröhlich hinaus; die Mädchen trugen im Strickkörbchen, die
-Knaben in der Botanisiertrommel ihr Vesperbrot. Mariechen wurde vom
-Kindermädchen im Wagen vorausgeschoben, Gottfried ging meistens an der
-Hand der Mutter, die wie eine richtige Gluckhenne ihre Augen überall
-hatte, damit keines der Kleinen zu Schaden kommen sollte; die anderen
-schwärmten umher, lachend, singend und springend. Der Vater examinierte
-scherzhaft bald dieses, bald jenes Kind, bald deutsch, bald lateinisch.
-
-Suschen ging an Marthas Arme, in höchst vertrauliche Mitteilungen
-vertieft, als plötzlich der Direktor rief: „Fräulein Martha, sehen Sie
-wohl dort den Turm?“
-
-Sie sah ihn.
-
-„Dort ist das Dorf und Gut, wo Ihre liebe Mutter geboren und erzogen
-ist und die alte Trude jetzt noch ihre Heimat hat; auch Ihre
-Urgroßeltern liegen dort begraben.“
-
-„Ach, da möchte ich hin“, sagte Martha. „Aber freilich, es würde der
-Mutter zu schwer sein“, fügte sie traurig hinzu.
-
-Martha stand jetzt neben Direktor Werner, und er fing sogleich ein
-Gespräch mit ihr an, das sie neben ihm festhielt. Er fragte nach
-ihrer Ausbildung, ihren Lehrern, nach dem Gange ihres Unterrichtes,
-und fuhr dann fort: „Ich stelle dies Examen absichtlich mit Ihnen an,
-Fräulein Martha. Meine Frau und ich möchten so gern ein Mittel finden,
-um Ihre Lage zu erleichtern. Ich weiß wohl, daß Sie bei dem jetzigen
-Zustande Ihrer lieben Mutter nicht daran denken können, Ihr Examen zu
-machen und eine Stelle als Lehrerin anzunehmen; aber es ist eine ganze
-Anzahl junger Mädchen hier, die eine englische Konversationsstunde
-dringend wünschen; mein Suschen und die Töchter dort vom Amt sind
-auch dazwischen; ebenso suchen wir für Luise und ihren Bekanntenkreis
-Unterweisung im Zeichnen und Malen; würden Sie bereit sein, beides zu
-übernehmen? Ein Honorar wollte ich Ihnen schon ausmachen; es würde
-immerhin eine Hilfe für Ihre Kasse werden.“
-
-Martha sah ihn fröhlich an: „Wenn es meine Mutter erlaubt, thue ich das
-sehr gern; besonders wenn Sie mir behilflich sind, passende Lektüre zu
-finden.“
-
-Er versprach es, und Martha war glücklich. Sie hatte noch nie daran
-gedacht, daß sie imstande sein könne, etwas zu verdienen; der Gedanke
-war zu schön; sie schwärmte sich mit Suschen beinahe wie die berühmte
-Milchfrau in sehr schöne Zukunftsträume hinein, so daß beide, im
-Wäldchen angelangt, erst aus ihrem Phantasiehimmel heruntergeholt
-werden mußten, bevor sie die lieblichen Frühlingskinder erblickten, die
-wie eine reiche Stickerei aus dem dunklen Moosteppich hervorglänzten.
-
-Frau Feldwart war am Abend nicht so leicht für die neuen Pläne zu
-begeistern; sie war zuerst entsetzt über die Idee, daß Martha etwas
-verdienen sollte, und klagte hart ihr Schicksal an; aber sie kannte den
-Ernst ihrer Lage, und die große Freudigkeit ihres Kindes besiegte sie
-zuletzt.
-
-Nach einigen Tagen kam Suschen strahlend; der Direktor hatte die
-Taubenkarte nach M. geschickt; sie hatte dort Beifall gefunden, und
-Martha erhielt den Auftrag, mehr solcher Karten zu malen, unter
-Bedingungen, die immerhin einigen Vorteil versprachen -- lauter
-tröstliche Aussichten!
-
-
-
-
-6.
-
-Die Urgroßmutter.
-
-
-In den ersten Wochen ihres Aufenthaltes in H. hatte das Befinden der
-Mutter Marthas Sorge so in Anspruch genommen, daß der Gedanke, sie auch
-nur auf Stunden zu verlassen, gar nicht aufkam.
-
-Suschen hatte schon öfter von den schönen Gottesdiensten in der nahen
-Pfarrkirche und ihrem lieben Pastor erzählt. Jetzt klangen die Glocken
-so feierlich herüber und luden zur Fastenkirche.
-
-„Mama, möchten wir nicht auch einmal hingehen?“
-
-„Gehe du, Martha, ich kann noch nicht unter Menschen!“
-
-Martha rief Werners und Suschen ab und ging mit ihnen. Der Kirchgang
-am heiligen Weihnachtsabend war ihr letzter gewesen. Damals hatte sie
-vor Glückseligkeit nicht ordentlich gehört, was gesungen und gesagt
-wurde; heute verlangte ihre gebeugte Seele Trost und Kraft von oben
-und öffnete wie eine durstige Blüte den Kelch, um den Himmelstau
-aufzunehmen. Die schönen, wohlbekannten Fastenlieder bewegten ihr Herz
-und hoben es empor. Der Prediger war ein Greis mit weißen Haaren, sein
-Angesicht bestrahlt vom Morgenrot einer besseren Welt. Sein Thema war
-heute: „Wie man dem Herrn sein Kreuz nachtragen soll.“
-
-„Das paßt sehr für mich“, dachte Martha, „ich muß ja auch mein Kreuz
-tragen.“ Sie erfuhr aber bald, daß noch etwas Besonderes dabei war,
-woran sie noch nicht gedacht hatte.
-
-„Denkt nicht“, sagte der alte Pfarrer, „wenn euch Gott Leiden schickt
-und ihr müßt sie ertragen, weil ihr sie nicht los werden könnt,
-daß dies schon heißt: dem Herrn sein Kreuz nachtragen; o nein! das
-müssen auch die Heiden und die Ungläubigen thun. Dem Herrn sein Kreuz
-nachtragen, d. h. die Last, die er uns darreicht, willig auf unsere
-Schultern nehmen mit dem Gebete: ‚Herr, du hast dein Kreuz getragen für
-mich und meine Sünden, und hast die Nägel, die in meinem Kreuze waren,
-dadurch herausgezogen; nun hilf, daß ich mein Kreuz dir nachtrage ohne
-Murren, in dankbarer Liebe, in stillem, geduldigem Gehorsam, so wie du
-es von mir willst und mir es vorgetragen hast, als dein Kind und zu
-deiner Ehre! Dann glaubt mir, grünt das Kreuzholz auf euerer Schulter,
-blüht und trägt Früchte, davon ihr noch genießen könnt in der seligen
-Ewigkeit.“
-
-Martha fühlte sich tief ins Herz getroffen. Nein, in dieser Weise hatte
-sie ihr Kreuz noch nicht getragen, davon war sie noch weit entfernt;
-aber sie folgte mit zagendem Herzen dem Schlußgebet, daß Gott die
-Seelen bereiten möge zu solchem Kreuzestrost und solcher Kraft zum
-Tragen, und sie konnte nicht anders, als nach der Heimkehr der Mutter
-von dem Eindruck sprechen.
-
-„Mutter, ich möchte dich um etwas bitten. Darf ich nun manchmal wieder
-ein Lied singen?“
-
-Die Mutter erlaubte es; zuerst flossen ihre Thränen heftiger dabei,
-dann verlangte sie danach, sie erinnerte auch Martha am nächsten
-Sonntage selbst daran, in die Kirche zu gehen; die ging so gerne, und
-als wieder die Glocken zur Abendkirche riefen, holte Frau Feldwart
-selbst ihren Mantel und begleitete ihr Kind.
-
-Trude war fast jede Woche gekommen; gegen Ende März brachte sie Grüße
-vom Herrn Amtsrat Rösner, und ob er nicht einmal dürfe seinen Wagen
-schicken, Frau Feldwart und das Fräulein darin holen zu lassen, damit
-sie die alte Heimat wieder begrüßten.
-
-Frau Feldwart konnte sich nicht entschließen: „Ja, wenn ich früher
-einmal hätte dort sein können! Aber in diesem Zustande? nein!“
-
-Am andern Tage fuhren des Amtsrats Töchter, frische, blühende Mädchen,
-vor, und baten kindlich, doch zu erlauben, daß Martha sie für die
-Nachmittags- und Abendstunden mit Suschen nach dem Gute begleite; es
-wären all’ die jungen Mädchen dort versammelt, die an den englischen
-Stunden teilnehmen wollten; sie wünschten Martha kennen zu lernen.
-
-Dagegen ließ sich nichts sagen. Martha fuhr hinaus in den freundlichen
-Frühlingstag in Gesellschaft der munteren Mädchen; sie freute sich,
-all’ die Stätten zu sehen, wo Urgroßeltern und Großeltern gelebt
-hatten, und ihre Mutter aufgewachsen war. Der joviale Gutsherr und
-seine freundliche Frau empfingen sie sehr freundlich; der Kreis von
-jungen Mädchen, die zum Teil noch bedeutend jünger waren als Martha,
-versetzte sie in ihr früheres, glückliches Leben zurück; sie bewegte
-sich ungezwungen und anmutig zwischen ihnen und gewann schnell das
-allgemeine Zutrauen. Es ward Zeit und Ort der englischen Stunde
-verabredet, Direktors wollten ihr großes Hinterzimmer dazu hergeben,
-und nur an besonders schönen Nachmittagen wollte der Amtsrat die
-Gesellschaft herausholen lassen.
-
-Nach dem Kaffee eilte alles in den großen Garten, dessen feiner Rasen
-im ersten Grün schimmerte, um am Rain und im Gebüsch nach Veilchen zu
-suchen.
-
-Hier wartete Trude: „Nun, Fräulein Martha, nun kommen Sie ’mal mit,
-nun will ich Ihnen zeigen, wo die Mutter groß geworden ist; die Frau
-Amtsrätin wollte es selbst thun, aber ich habe so lange gebeten, bis
-sie es mir erlaubte; ich weiß das ja doch natürlich noch viel besser!
-So? Fräulein Werner will auch mit? Na, meinetwegen.“
-
-Das Haus, wo Amtsrat Rösner wohnte, war ein Anbau, den er sich selbst
-erst eingerichtet, da ihm das alte Wohnhaus zu kühl und düster
-erschienen war; in dieses führte jetzt Trude die beiden Mädchen.
-
-„Sehen Sie, hier, was jetzt die große Wirtschaftsstube ist, das war
-der Saal; da ist die Hochzeitstafel gewesen, als der Herr Vater mit
-der Frau Mutter getraut worden waren, und hier, wo jetzt die Stube vom
-Inspektor ist, da war die beste Wohnstube; Sie können hineinsehen,
-er ist draußen beim Bestellen. Da über dem Flur drüben das war dem
-Großvater seine Arbeitsstube, die hat jetzt Mamsell Hannchen. Und nun
-kommen Sie ’mal mit die Treppe hinauf.“
-
-Im oberen Stockwerk waren zwei Stübchen, die Marthas Interesse
-vorzugsweise in Anspruch nahmen: das ehemalige Zimmerchen ihrer Mutter,
-was jetzt sehr niedlich als Logierstube eingerichtet war, und das
-Gastzimmer daneben.
-
-„Sehen Sie, hier hat nun die Frau Urgroßmutter gewohnt. Da hier in der
-Ecke stand ihre große, bunte Kommode und da am Fenster steht noch ihr
-Lehnstuhl und ihr eiserner, kleiner Tisch. Das war ’mal eine gewaltige
-Frau! Die Leute im Dorfe wissen noch viel Geschichten von ihr, und ich
-kann mich noch ganz gut auf sie besinnen. Sie ist die Mutter gewesen
-von allen Kranken und Armen, und in den Kriegsjahren hat sie immer
-den Kopf oben gehabt und mehr als einmal durch ihre Ruhe und ihr
-Auftreten den Hof vor Plünderung und Schaden bewahrt. Der Urgroßvater
-war kränklich und litt viel am Magen und an der Leber, da hat sie jung
-schon die Zügel mit halten müssen. Hier oben aber da hat sie gesessen
-eine halbe Stunde vor Tag und eine halbe Stunde des Abends, und hat
-gelesen und so gewaltig gebetet, daß sie es manchmal draußen verstanden
-haben, und in ihrem Testamente hat sie es bestimmt: der Stuhl, der
-Tisch und darauf die Bibel und das Starkenbuch das soll hier am Fenster
-bleiben und nicht verrückt werden, zum Zeugnis, daß der Segen von oben
-kommt.“
-
-Martha war zumute, als hörte sie die Stimme, die aus dem feurigen
-Busche zu Mose sprach: „Ziehe deine Schuhe aus; der Ort, da deine Füße
-stehen, das ist ein heilig Land.“ Mit scheuer Ehrfurcht schlug sie
-die alte Bilderbibel auf, deren vergilbte Blätter mit Randbemerkungen
-bedeckt waren; sie hatte aufgeschlagen und las: „Ebr. 12, 1: Darum
-auch wir, dieweil wir solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasset uns
-ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, und lasset
-uns laufen durch Geduld in dem Kampfe, der uns verordnet ist.“ Es war,
-als hörte sie die Urgroßmutter selbst diese Worte sagen, als empfinge
-sie von ihr in dieser Minute gewissermaßen innerlich den Ritterschlag;
-jetzt hätte sie lieber selbst Truden und Suschen nicht neben sich
-gehabt; sie konnte sich lange, lange nicht trennen. Draußen vor dem
-Fenster spielte der Wind in den eben erst knospenden Zweigen der alten
-Linden, die hatten auch schon herübergerauscht in der Jugend der
-Urgroßmutter, und dahinter erglänzte der kleine, klare Landsee, in dem
-die Mittagssonne sich spiegelte; das war alles ebenso wie sonst.
-
-„Jetzt möchte ich ihr Grab sehen“, sagte sie endlich. Sie wanderte mit
-Suschen Arm in Arm durchs Dorf, Trude voran. Auf einem grünen Hügel,
-von Kastanien umgeben, lag die freundliche, saubere Kirche, rings
-um sie her unter ihren weißen Steinen und Kreuzen die schlafenden
-Gemeindeglieder. Ganz nahe dem Eingange ins Gotteshaus schliefen
-Urgroßvater und Urgroßmutter dicht nebeneinander. Die Leichensteine
-stellten, wie es damals Sitte war, abgebrochene Säulen dar; auf der des
-Urgroßvaters stand: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen; ich
-gehe hin, euch die Stätte zu bereiten“; auf dem seiner Gattin: „Ich
-weiß, daß mein Erlöser lebt!“
-
-„Das hat sie selbst so bestimmt“, sagte Trude, „sonst hätte doch wohl
-was von allen ihren Gutthaten drauf stehen müssen.“
-
-Die Gräber waren sehr gut gehalten, die dürren Blätter sauber
-abgeharkt; ein Kranz von Schneeglöckchen faßte die obere Fläche ein,
-sie läuteten mit all ihren feinen Glocken; schon zeigten sich auch
-die blauen Blüten der Amaryllis und die dunklen Köpfchen kleiner
-Tulpen fingen an, sich zu färben. Vom Turme klang jetzt feierlich das
-Feierabendgeläute, die Sonne wollte soeben zur Ruhe gehen, ihre roten
-Strahlen gossen flüssiges Gold auf die Grabsteine und das Gras, und
-eine sanfte Abendluft spielte geheimnisvoll in den welken Blättern, die
-an der Kirchhofsmauer noch aufgeschichtet lagen.
-
-Die beiden jungen Mädchen hatten sich fest an der Hand gefaßt, Trude
-stand mit gefalteten Händen. Vom Abendläuten war der letzte Ton
-verklungen, da hörte man Schritte im Kieswege; die Mädchen wandten sich
-und standen einem jungen Manne in geistlicher Kleidung gegenüber, der
-offenbar den schmalen Pfad benutzen wollte, um zum nahen Pfarrhause
-zu gelangen. Martha und Suschen traten einen Schritt zurück; er grüßte
-Suschen, wie man eine alte Bekannte grüßt, und wollte dann schnell
-vorüber; aber Trude gab sich so noch nicht zufrieden.
-
-„Herr Pastor! sehen Sie doch nur, das ist ja die Urenkelin hier von der
-seligen Frau.“
-
-Der Pastor blieb stehen und Suschen übernahm die Vorstellung: „Herr
-Pastor Frank, Fräulein Feldwart!“
-
-„Und Sie waren noch niemals hier?“ fragte der Pastor.
-
-„Niemals!“ erwiderte Martha.
-
-„Dann müssen Sie aber auch all’ unsere schönen Altargedecke und
-heiligen Geräte sehen; die rühren meistens von der Frau Urgroßmutter
-her.“
-
-O ja, das wollte Martha gern. Der Pastor sprang nach seinem Hause, um
-die Schlüssel zu holen, und nahm dann die Erfreuten mit sich in die
-Kirche und in die Sakristei.
-
-Dort schloß er eine schwere, eichene Truhe auf: „Die stammt auch
-von der Urgroßmutter!“ Dann enthüllte er die schönen, schweren
-Altargedecke: „Sehen Sie, bei jedem Stücke liegt in dem kleinen
-Kästchen an der Seite das Dokument der Schenkung.“
-
-Martha beugte sich über die alten Papiere: sie waren offenbar von
-derselben Hand geschrieben wie ihr Weihnachtslied. Zuerst kam die
-Schenkung der Truhe: „Anno 1801 bei der Geburt ihres ältesten Sohnes
-schenkte Frau Anna Martha Waldheim aus Dankbarkeit für Gottes
-unverdiente Gnade und zum Gedächtnis seiner Wunder diese Truhe zur
-Aufbewahrung der Kanzel- und Altarbekleidungen.“ Dann kam 1806 bei der
-Geburt eines zweiten Sohnes das erste Gedeck. „Das blaue Laken mit dem
-Lamme stickte ich mit meiner eigenen Hand.“ Dieser Hans Waldheim, der
-hier erwähnt war, war Marthas Großvater. „1812 bei der Geburt einer
-Tochter Margarete schenkte ich eine Bekleidung für den Taufstein aus
-schwarzem Sammet und Golde: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott!
-zu unsern Zeiten!“
-
-„Nun sollen Sie auch die Geräte sehen“, sagte der Pastor und öffnete
-ein Doppelschloß in der Mauer. 1824 war ein schöner, goldener Kelch
-geschenkt: „Zum Angedenken an die sel. Heimfahrt meines ältesten
-Sohnes, der sich im Sterben hat mit dem Sakrament erquicket“; 1828
-„eine güldene Weinkanne, da mir mein Herr den bitteren Trank des
-Witwenleides hat eingeschenket. Dein teures Blut, dein Lebenssaft giebt
-mir stets neue Lebenskraft!“ „Anno 1830 bei der Taufe meiner lieben
-Enkelin Anna Marie ein neu Taufbecken: Wer da glaubet und getauft
-wird, der wird selig!“
-
-Anna Marie! das war ja ihre liebe Mutter! Martha war es sonderbar ums
-Herz; so wohl, als sei sie in dem kleinen Gotteshause zuhause; so weh,
-daß von der Familie, die hier so feste Wurzeln geschlagen hatte, jetzt
-hier kein einziges Reislein mehr grünte. Im Amtsstuhl war noch der
-kleine, geschnitzte Gesangbuchsschrank der Urgroßeltern mit ihrem Namen
-und dem Datum ihres Einzuges. Martha fand es sehr schwer, sich von all
-diesen Erinnerungen loszureißen, aber die Tageszeit nötigte dazu.
-
-Als sie ins Freie traten, war die Sonne hinunter und ein feiner, weißer
-Nebel zog durchs Thal. Sie dankten dem Pastor freundlich, er erkundigte
-sich noch nach Suschens Eltern, und dann stiegen die drei verschiedenen
-weiblichen Gestalten still den Hügel hinab. Pastor Frank stand an
-der Kirchhofsmauer und sah ihnen nach, bis das braune Kopftuch, das
-schwarze und das helle Kleid im Schatten der Häuser verschwanden.
-
-„Kanntest du den Pastor Frank schon länger?“ fragte Martha.
-
-„Ja wohl“, erwiderte Suschen; „er gab als Kandidat den deutschen
-Unterricht an unserer Schule; wir schwärmten damals alle für ihn.“
-
-Daß Martha dann bei Tische und auf der Rückfahrt stiller war, wunderte
-Suschen eben nicht. Frau Feldwart hatte schon sehr ungeduldig nach
-ihrem Kinde ausgesehen.
-
-„Mama“, sagte die Tochter, nachdem sie nur eben ihre Sachen abgelegt
-hatte, „kannst du dich noch ganz ordentlich auf die Urgroßmutter
-besinnen?“
-
-„Freilich“, sagte Frau Feldwart; „ich war ja schon ganz erwachsen, als
-sie starb! An meinem Einsegnungsmorgen da hat sie an ihrem eisernen
-Tischchen noch mit mir gelesen und gebetet und hat mir die Bilderbibel
-mit dem silbernen Schloß geschenkt, die ich jetzt noch habe.“
-
-„Mama, das Tischchen steht noch und der Lehnstuhl, und Urgroßmutters
-Bibel und das Starkenbuch sind auch noch da.“
-
-„Wie mich das freut!“ rief Frau Feldwart; „sie hatte es ja im
-Testamente so bestimmt, und so lange meine Eltern dort waren, blieb
-natürlich alles so. Als wir Schwestern dann aber heirateten und die
-Eltern das Gut verkauften, um uns nachzuziehen nach B., da mußten wir
-es dem neuen Besitzer überlassen, ob er diesen Wunsch noch ferner
-erfüllen wollte.“
-
-„Mama, all’ die Altardecken und heiligen Geräte sind auch noch da, auch
-das Taufbecken, woraus du zuerst getauft bist; du mußt mir noch viel
-von der Urgroßmutter erzählen.“
-
-„Das thue ich schon gern; du kannst auch vielleicht in ihren alten
-Papieren manches finden.“
-
-Der Martha war zumute, als habe sie die Urgroßmutter heute erst
-geschenkt bekommen; ein Pastellbildchen aus der Jugendzeit derselben
-hing über dem Nähtisch ihrer Mutter; das mußte sie immer ansehen;
-die klaren Augen und festen, bestimmten Züge waren ihr nun erst
-verständlich, und ihr eigener Name: Anna Martha, den sie bis dahin ganz
-alltäglich gefunden hatte, wurde ihr jetzt lieb als Erbstück von der
-Urgroßmutter.
-
-Von Ostern ab begann nun für sie eine sehr fleißige Zeit. Unter
-Suschens Leitung nahm sie mit eigener Hand die Änderungen an ihrer
-Garderobe und der ihrer Mutter vor, welche die wärmere Jahreszeit nötig
-machte; die Besorgung der kleinen Wirtschaft fing an ihr Freude zu
-machen, auch das Einteilen und Sparen, als sie es nach Frau Werners
-Anleitung mit Erfolg that, gewann seinen Reiz für sie. Daneben begannen
-die englischen Übungsstunden, auf die sie sich ordentlich vorbereiten
-mußte; die Zeichenstunden mit den jüngeren Mädchen nahmen ihren Anfang;
-jede Mußestunde wurde zur Vollendung niedlicher Karten und Lesezeichen
-verwendet; da hieß es die Minuten benutzen und die Zeit aufs äußerste
-auskaufen. Frau Feldwart sah anfangs mit Befriedigung Marthas erhöhte
-Thätigkeit und wiederkehrende Energie, aber mit der Zeit ward es ihr
-lästig, die Tochter, welche bisher nur für sie allein gelebt, so in
-Anspruch genommen zu sehen. Seitdem sie sich in die ungewöhnlich milde
-Frühlingsluft einmal hinausgewagt hatte, regte sich das Bedürfnis zum
-Spazierengehen öfter bei ihr; wenn dann Martha sagte: „Nein, Mama,
-heute kann ich nicht ausgehen, heute muß das Kleid fertig werden“,
-oder: „Ach, ich bin eben mitten im Malen mit meinem Lesezeichen, jetzt
-kann ich’s unmöglich liegen lassen!“ da wurde die Mutter verdrießlich
-und es gab zwischen beiden darüber so manchen kleinen Zwist. Es wurden
-allmählich auch die Abendstunden zur Arbeit mit herangezogen, in
-denen Martha der Mutter früher vorgelesen hatte; Frau Feldwart, deren
-Augen schwach waren, nickte dann ein beim Stricken und machte bittere
-Bemerkungen. Dann legte Martha wohl Bücher und Zeichengeräte fort und
-las vor, bis die Mutter zu Bette ging, um dann bis 1 Uhr nachts zu
-arbeiten und müde und überwacht am anderen Morgen aufzustehen.
-
-„Ich weiß nicht, Martha“, sagte Suschen, „Du bist jetzt viel unruhiger
-wie zu Anfang.“
-
-„Ich finde es selbst“, erwiderte diese nachdenklich, „ich war noch
-nie so aufgeregt und zerstreut wie jetzt; ich weiß nicht, woran es
-eigentlich liegt.“
-
-Es fiel ihr ein, daß Trude gesagt hatte, die Urgroßmutter hätte
-zweimal so viel als andere fertig gebracht. Sie nahm sich vor,
-am nächsten Sonntag ’mal in ihren Briefen zu studieren. Sie fand
-verschiedene Briefe, die von Krankheiten, Arbeiten, Kriegsunruhen
-handelten; endlich öffnete sie einen Brief, den Frau Anna Martha ihrer
-Schwiegertochter, Marthas Großmutter, geschrieben:
-
-„Meine herzliebe Frau Tochter! Dein Brief hat mir recht viel Nachdenken
-und auch Sorgen gemacht, weil er klingt, als wüßtest Du vor Not und
-Arbeit von früh bis spät nicht aus noch ein! Ich kann mir wohl denken,
-wie die Obst- und Kartoffelernte, die Krankheit der beiden Kinder, das
-Schlachten und der viele Besuch zu der Hasenjagd alle deine Kräfte
-verbraucht haben, und ich will auch, so schnell ich kann, heimkommen,
-um Dir zu helfen; aber ich habe oft ebenso viel und noch mehr, sogar
-mit Feinden durchgemacht, und bin doch ruhig verblieben. Versäumt denn
-meine liebe Frau Schwiegertochter auch die Hauptsachen nicht? Ich
-las neulich in einem Buche, daß ein gelehrter Mann, ein Sterngucker,
-gesagt hat: ‚Gebt mir einen Standpunkt außerhalb der Welt, und ich will
-sie aus den Angeln heben.‘ Das hat mir ganz gewaltig gefallen. All’
-unsere Arbeiten, alle Mühen, Sorgen und Erdenlasten, die unsere Herzen
-drücken, die können wir nur regieren und bewegen von einem Standpunkt
-außerhalb der Welt, und gottlob! geht es darin uns Christenleuten
-besser als dem armen Kerl in meinem Buche; wir haben den Standpunkt
-wahrhaftig; wir brauchen nur zu unserem Vater in dem Himmel zu gehen.
-Er hat’s erlaubt; wenn wir es nicht thun, ist es unsere Schuld. Frau
-Schwiegertochter! Wenn ich in meinem Leben etwas erreicht und fertig
-gebracht habe, so ist es nur dadurch geschehen, daß ich jeden Tag
-zweimal eine halbe Stunde vor Gottes Thron gegangen bin. Wenn doch
-alle Menschen wüßten, wie viel das Mühe, Not und Zeit erspart! Mit
-schwerem Herzen, matten Gliedern, unruhigem Gemüte geht man hin; mit
-freier Seele, gestärkten Füßen, wackeren Händen, geordnetem Willen und
-verständigen Gedanken kommt man wieder. Frau Schwiegertochter! Des
-Sonntags im Gottesdienst und des Alltags in der Betkammer da kriegt
-man das meiste fertig, denn da wird man selbst fertig gemacht, daß man
-nicht umherfährt wie eine Brummfliege, sondern fein gerade auf sein
-Ziel lossteuert wie ein Schiff mit reinen, vollen Segeln, in welche der
-richtige Wind bläst. Frau Schwiegertochter! Unter das Rezept kann man
-gewißlich setzen, was meistens unter denen Kuchen- und Seifen-Rezepten
-in den Kochbüchern stehet: ~probatum est~! Und damit Gott
-befohlen!“
-
-Martha hielt lange den Brief in der Hand. Das war es!
-
-Wenn ein junges, begabtes Wesen zuerst seine Leistungsfähigkeit
-entdeckt, empfindet es natürlich Freude darüber und das Verlangen,
-seine Thätigkeit fort und fort reicher zu entfalten und zu steigern.
-
-Dieser Trieb ist gewiß an und für sich nicht zu tadeln, aber es
-geschieht dann leicht, daß man sich fest auf die eigenen Füße stellt,
-der Quelle vergißt, aus der man seine Kraft empfing und erst durch die
-Lahmheit seiner Flügel und die Unruhe des ganzen Getriebes vom lieben
-Gott die Erinnerung bekommen muß: „Ohne mich könnet ihr nichts thun!“
-So war es Martha ergangen.
-
-„Was liest du da, Martha, worin du so ganz versunken bist?“ fragte die
-Mutter.
-
-Martha reichte ihr den Brief hinüber.
-
-„Ach“, sagte Frau Feldwart, nachdem sie ihn gelesen, „das ist ganz und
-gar meine Großmutter! Rezepte schrieb sie gar zu gern. Als ich aus
-meiner Freiheit auf dem Gute in die Stadt in Pension kam, hatte ich
-’mal einen großen Klagebrief nachhause geschrieben, weil ich nun alles
-zugleich lernen sollte und niemals fertig wurde; da hat sie mir auch
-’mal so ein Rezept geschickt, es war kurz vor ihrem Tode. Warte, ich
-will es dir gleich holen.“
-
-Sie nahm es aus ihrem Schreibtische und Martha las:
-
-
-+Rezept für unser Mariechen in der Stadt.+
-
-1) stehe die Jungfer früh auf; sie ist kerngesund und schläfet in der
-Nacht; da wird es ihr nichts schaden, wenn sie sich frühzeitig aus
-den Federn hebet. Frisch heraus, kalt gewaschen, rasch und ordentlich
-angezogen, ein Kapitel aus der Bibel gelesen, gebetet und an die
-Arbeit! Das lange Herumdrehen in den Federn mit wachen Augen ist
-schädlich; da gewöhnt man sich an das Träumen bei Tage, und es wird
-schwer sein, sich über diese verdämmerten Stunden zu entschuldigen,
-wenn man sich darüber einmal beim lieben Gott verantworten soll, wie
-man seine Zeit angewendet hat. Jeden Tag eine Stunde, giebt im Jahr
-365 Stunden, also 15 Tage und 5 Stunden; sollte Dich der liebe Gott
-70 Jahre leben lassen, werden 2 Jahre und 334 Tage daraus, ohne die
-Schalttage, also beinahe 3 Jahre; das bedenke man ordentlich, damit man
-die Minuten zurate hält!
-
-2) fasse man seinen Verstand zusammen und frage sich, was zu jeder
-Stunde das Nötigste ist. Eine Viertelstunde dieses betrieben, die
-andere Viertelstunde jenes -- das schafft nicht. Was man treibt, treibe
-man ganz, lasse alle anderen Gedanken fahren und richte seinen ganzen
-Fleiß darauf, nicht, so schnell wie möglich fertig zu werden, sondern
-so gründlich und schön als möglich seine Arbeit zu vollenden; dabei
-wächst die Zufriedenheit und die Tüchtigkeit;
-
-3) bedenke man all’ seine Sachen zur rechten Zeit und Stunde, und zwar,
-so viel es möglich ist, immer auf einige Tage voraus; man kann sich
-dann mit seinen Aufgaben viel besser einrichten. Wenn Du z. B. bei
-Deinen weiten Wegen in B. ausgehest und vergissest die Hälfte von dem,
-was Du nächstens gebrauchst, mitzubringen, und mußt dann noch einmal
-unnützlich rennen, so sind einige Stunden weg, die weder Dir noch
-anderen Vorteil bringen;
-
-4) gewöhne man sich, das nur Erwünschte und Angenehme von dem
-Nützlichen und Nötigen zu unterscheiden und beides nach seinem Werte
-zu behandeln. Zum Beispiel, Du darfst Sorgfalt und guten Geschmack
-auf Deinen Anzug verwenden, darfst Dir ansehen, welche Haarfrisur und
-Kleidung für Dich passend ist; der liebe Gott will nicht, daß wir
-uns vernachlässigen oder verunstalten sollen; seine Werke sind alle
-schön und wohlgeordnet und lieget der Zauber der Anmut darüber. Aber
-Du sollst nicht stundenlang vor dem Spiegel stehen, die Locken nach
-rechts und links drehen, die Schleifchen hierhin und dorthin wenden,
-und die edlen Stunden, die Deinem inwendigen Menschen und dem Wohle
-des Nächsten zugute kommen sollen, verthun mit „Firlefanz.“ Ja, liebes
-Kind, so nannte unsere Mutter all’ die Modethorheiten, die man sich
-jeden Tag neu ausdenket, die viel Zeit und Geld kosten und keinen
-Menschen glücklich und zufrieden machen; Du glaubst nicht, wie viel
-man davon entbehren kann und wie glücklich man ist, wenn man so wenig
-als immer möglich davon gebraucht;
-
-5) darf man sehr wohl ein gutes Buch zur Unterhaltung lesen; nur daß
-man sich in Deinem Alter von erwachsenen, verständigen Personen muß
-raten lassen, welches ein gut und nützlich Buch sei. Aber, mein Kind,
-lies vernünftig. Sich den Kopf heiß lesen, um nur schnell vorwärts zu
-kommen und zu erfahren, ob der Liebste die Liebste auch kriegt, --
-blättern, bald hinten, bald vorne; überschlagen, was auf den ersten
-Augenblick nicht so ansprechend erscheinet; sich verlesen, wenn andere
-Pflichten rufen: das ist schlimmer, als hätte man nie ein Buch in der
-Hand gehabt, und macht den ganzen Charakter zucht- und haltlos. Langsam
-lesen, ordentlich in sich aufnehmen, bedenken, was der Verfasser von
-Dir will; zuweilen ein bißchen stille halten, wenn Dich was ins Herz
-trifft, das fördert und bringet unversehens weiter.
-
-6) Du darfst auch mit einer Freundin umgehen, ja wohl, es ist sehr
-schön, wenn Du eine hast; ich gönne sie Dir von Herzen. Aber wenn
-Du sie willst auf eine Stunde oder mehr besuchen, dann nimm Dein
-Strickzeug oder Nähzeug mit, oder spielet, springet, leset und singet
-meinetwegen zusammen; willst Du ihr aber nur auf einige Minuten etwas
-bestellen, so laß dies wirklich nur Minuten sein; das Stehen und
-Schwätzen beim Gehen und Kommen, so zwischen Thür und Angel, daß keiner
-weiß, ob es jemals enden wird, das bringet die Töchter um ihre Zeit und
-die Mütter um ihre Geduld -- das merke Dir!
-
- * * * * *
-
-Martha war sehr hingenommen von den Lehren der Urgroßmutter. Sie waren
-natürlich nicht alle gerade für ihr eigentümliches Wesen zutreffend,
-aber vieles stimmte auffallend. Sie erinnerte sich sehr deutlich, daß
-Frau Direktor Werner gestern dreimal „Suschen!“ gerufen hatte, als sie
-an der Hinterthür voneinander Abschied nahmen, und wie oft, ach, wie
-oft! hatte sie weite Wege machen müssen, weil sie am Morgen vergaß,
-der Warburgerin das Nötige aufzutragen. Das Frühaufstehen war auch ein
-wunder Punkt, ein recht wunder! der sollte morgen früh zuerst geändert
-werden.
-
-Als Martha der Dienerin um sechs Uhr die Thür geöffnet hatte, legte
-sie sich nicht nach ihrer Gewohnheit noch einmal nieder, sondern sie
-kleidete sich ganz nach dem Rezept der Urgroßmutter leise und rasch an,
-und die Wohnstube war kaum fertig, so erschien sie in derselben, setzte
-sich ans Fenster und schlug ihre Bibel auf. Es war sehr feierlich
-um sie her. Drüben im Grasgarten schlugen die Finken; sie hatte
-die Fenster geöffnet, um die köstliche Maienluft zu atmen, und auf
-ihren Flügeln strömte der Duft von Flieder und Jasmin zu ihr herein;
-die blütenbedeckten Apfelbäume waren von der Morgensonne rötlich
-angeleuchtet; im Grase glänzte der Tau in tausend Perlen.
-
-„Wie schön solch ein Morgen ist!“ dachte Martha. Das Lied fiel ihr
-ein, das sie stets so gern gesungen: „Morgenglanz der Ewigkeit, Licht
-vom unerschöpften Lichte, Schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen
-zu Gesichte etc.“ Singen durfte sie es jetzt nicht, um die Mutter nicht
-zu wecken. Sie schlug ihre Bibel auf. Ach, die ganze Natur war heute
-nur ein Loblied; sie mußte sich auch hier in Gottes Wort eins suchen;
-sie las den 103. Psalm: „Lobe den Herrn, meine Seele! und was in mir
-ist seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß
-nicht, was er dir Gutes gethan hat etc.“ Dieser köstlichste aller
-Lobgesänge trug ihr Herz hoch empor, und ob sie es auch in der letzten
-Zeit oftmals versäumt hatte, mit ihrem Vater im Himmel zu reden, die
-Stimme des Psalmisten weckte verwandte Stimmen in ihrer Seele; sie
-konnte danken, sie konnte bitten, sie konnte ihr Leben und Streben im
-Lichte des Wortes Gottes stille betrachten. Wie verschwindet so vieles
-in diesem Lichte, was uns wichtig erschien; wie verklärt erscheint
-manches, was wir für klein und unwichtig gehalten hatten; wie viel
-klarer wird die Richtschnur für unser Thun und Lassen, wenn Gottes
-helle Sonne darauf scheint.
-
-Martha hatte bis jetzt ihr rastloses Arbeiten für nichts als Tugend
-und ihre Mutter für sehr ungerecht gehalten, wenn sie diese Thätigkeit
-hemmen und ihr Kind für sich in Anspruch nehmen wollte; jetzt auf
-einmal wurde es ihr klar, daß die Erfüllung des vierten Gebotes ihre
-nächste Aufgabe sei, und ihrer Mutter das Leben leicht zu machen das
-höchste Ziel, das sie sich stecken mußte.
-
-So lange wir hier auf Erden leben, werden wir immer mehr oder
-weniger beunruhigt werden durch den scheinbaren Widerstreit unserer
-verschiedenen Pflichten, und das Bestreben, sie in Harmonie zu bringen,
-geht durch alle unsere Tage. Dies hat aber seinen Grund zumeist
-darin, daß wir unsere Lieblingsneigungen und Lieblingsbeschäftigungen
-selbstsüchtig festhalten und nicht unterordnen wollen; je mehr uns dies
-mit Gottes Hilfe gelingt, desto stiller und geordneter fließt unser
-Leben dahin.
-
-Martha fing jetzt wirklich ernstlich an, zu kämpfen und zu ringen,
-um dieses Ziel zu erreichen, und die Morgenstunden, welche ihr dazu
-verhelfen sollten, waren ihr bald so lieb und unentbehrlich wie einst
-der Urgroßmutter. Sie war darin nicht immer in so gehobener Stimmung;
-ach nein! solche Stunden sind, so lange wir hier unten weilen, selten.
-Recht oft klagte sie, statt zu danken, wenn all’ die Sorgen ums
-tägliche Brot auf sie einstürmten, wenn die sehr wechselnde Stimmung
-der Mutter ihr Not machte, wenn die Sehnsucht nach Siegfried, von dem
-sie kein Wort wieder gehört hatte, allzu schmerzlich in ihr emporstieg.
-Martha hatte nicht versäumt, ihre neue Adresse in Berlin zu melden,
-damit ein Brief sie erreichen könne; sie hatte kein Lebenszeichen
-erhalten, wußte nicht, wo sie ihn mit ihren Gedanken aufsuchen sollte;
-auch in dieser Not war ihre einzige Beruhigung: „Er ist in Gottes Hand,
-wie ich es bin; wenn es zu unserem Frieden dient, bringt er uns wieder
-zusammen!“ Oft bat sie den Herrn mit Thränen darum, oft suchte sie nach
-Ergebung, wenn es anders beschlossen sei; aber so wenig sie jemals ganz
-mit ihrem alten Menschen fertig wurde, so kam doch nach und nach immer
-größere Ruhe und Sammlung in ihr Herz, und dies konnte man an ihrem
-Thun und Treiben gar wohl bemerken. Ohne daß sie eine der angefangenen
-Arbeiten vernachlässigte, gewann sie nun Zeit, sich mit der Mutter im
-Freien zu ergehen, ihr am Abend vorzulesen, sie in die erbaulichen
-Gottesdienste der nahen Pfarrkirche zu begleiten.
-
-Als Pastor Wohlgemuth die beiden Frauengestalten so regelmäßig unter
-seinen Zuhörern erblickte, fing er an, ihnen mitunter einen Besuch zu
-machen, wie er es bei Direktor Werners schon seit langer Zeit that.
-Seine herzliche, ernste und doch getroste Weise, mit der er die trüben
-Dinge des Lebens ins heitere Himmelslicht zu setzen wußte, thaten
-der Mutter und Tochter wohl. Martha und Suschen verehrten ihn beide;
-seine Erscheinung im Hause war ein Fest für sie, ein beneidenswertes
-Ereignis, wenn er bei einer Begegnung freundliche Worte zu ihnen
-sprach, und alle Blumen, welche sie in Wald und Flur pflückten, mußte
-Luischen dem alten Herrn in die Konfirmandenstunde mitnehmen.
-
-Zu Pfingsten entschloß sich Frau Feldwart zum erstenmale, einer
-Einladung der Frau Amtmann Rösner zu folgen und einige Tage in Weißfeld
-zuzubringen. Es ging dies nicht ohne große Herzensbewegung ab, aber
-dieselbe war überwiegend freudiger Art. Ihr eigenes früheres Stübchen
-war für sie und Martha zum Schlafzimmer, das der Urgroßmutter zur
-Wohnstube eingerichtet. Sie sah die alte Heimat im lieblichsten Lichte:
-alle Häuser, auch das Gutshaus, mit Maien geschmückt, Narzissen und
-Tulpen, Flieder und Goldregen in voller Blüte, die Linden im schönsten,
-lichtgrünen Schmuck. Trude war überglücklich, ihre alte Herrin zu
-empfangen; von Amtmanns wurde sie mit der zartesten Liebe aufgenommen
-und gepflegt, und gleich am Morgen nach der Ankunft hielten Mutter
-und Tochter zum erstenmal gemeinsam ihre Andacht am Plätzchen der
-Urgroßmutter. Die Mutter saß im Lehnstuhl; Martha, die Bilderbibel auf
-den Knieen, auf einem niedrigen Schemel davor; sie las auf Wunsch der
-Mutter den Lieblingspsalm der Frau, die hier so oft gebetet hatte,
-den 90. Psalm: „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für etc.“,
-den Psalm, der Ewigkeit und Vergänglichkeit ergreifend nebeneinander
-stellt, mit seiner kindlichen Bitte am Schlusse: „Erfreue uns nun
-wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück
-leiden; zeige deinen Knechten deine Werke, und deine Ehre ihren
-Kindern; und der Herr unser Gott sei uns freundlich und fördere das
-Werk unsrer Hände bei uns; ja, das Werk unsrer Hände wolle er fördern!“
-
-Sie saßen noch lange mit gefalteten Händen, als Martha gelesen hatte,
-und der Pfingstgeist, der Geist des Friedens und des Trostes, zog in
-ihre Herzen ein. Sie wanderten dann mit den geschmückten Landbewohnern
-zusammen dem Kirchlein zu.
-
-Frau Feldwart saß an derselben Stelle, wo sie mit ihren Eltern
-sonntäglich gesessen hatte. Ach, um sie her saß eine fremde Gemeinde!
-Trude und der gebückt einhergehende alte Kirchendiener waren die
-einzigen Gestalten, deren sie sich erinnerte. Pastor Frank predigte in
-einer schönen Sprache, gar nicht ungläubig, aber noch recht jugendlich.
-Martha meinte, ihr alter Pastor Wohlgemuth gäbe ihr mehr, und geriet
-darüber mit Suschen, die am Morgen erst gekommen war, beinahe in Streit.
-
-„Ich weiß gar nicht, was du willst, Martha; noch schöner wie der Pastor
-Frank kann doch gar kein Mensch predigen!“
-
-„Er predigt mir eben zu schön“, sagte diese.
-
-„Aber wie kannst du nur solchen Unsinn sagen!“ rief Suschen ganz
-gereizt und ärgerlich.
-
-Gegen Abend kam Pastor Frank und blieb zum Abendbrot da. Es wurde
-musiziert; die beiden Töchter des Amtmanns spielten vierhändig, Pastor
-Frank sang mit seiner schönen Tenorstimme: „Tröstet, tröstet mein
-Volk“ aus Händels „Messias“, er begleitete Martha das schöne Lied: „Du
-bist die Ruh, der Friede mild, die Sehnsucht du und was sie stillt
-etc.“, und das war wirklich recht erquicklich. Dann, nach Tisch,
-wanderten alle in der lieblichen Dämmerung des duftenden Gartens;
-Pastor Frank schloß sich an Martha und Suschen an; er erzählte, daß am
-dritten Festtage großes Kinderfest sein werde, auch eine Stiftung der
-Urgroßmutter. Er berichtete von mancherlei Einrichtungen zum Wohl der
-Arbeitsleute aus alter und aus neuer Zeit. Martha interessierte sich
-lebhaft dafür und forderte ihn durch Fragen zu weiteren Mitteilungen
-auf. Er freute sich der eifrigen Zuhörerin, sie kamen in ein sehr
-lebhaftes Gespräch; Martha war aus der reichen Geselligkeit der
-Residenz gewohnt, sich leicht und fließend auszudrücken; Suschen
-hatte Respektspersonen und Fremden gegenüber noch ganz ihre kindliche
-Schüchternheit; sie hing an Marthas Arme und sagte gar nichts.
-
-Als sie sich am Abend trennten, fiel es Martha auf, daß ihre Freundin
-nicht so heiter war als sonst.
-
-„Was hast du, Suschen? Du warst heute Abend so still!“
-
-„Ich weiß nicht, ich war wohl müde von dem Morgenweg in der Sonne.“
-
-„Das ist ja möglich“, dachte Martha, „auch der Duft von Flieder und
-Goldlack macht müde; ich bin es ja auch.“
-
-Am zweiten Festtage kamen gegen Abend einige Familien aus der
-Nachbarschaft; Frau Feldwart zog sich auf ihr Zimmer zurück; Martha
-wurde von den jungen weiblichen Gliedern der Gesellschaft, die meistens
-schon ihre Schülerinnen waren, schnell umringt, und war, ohne daß sie
-es wollte, eigentlich der Mittelpunkt aller.
-
-Pastor Frank erschien auf eine Stunde, um zu verabreden, wie es morgen
-beim Brezelfest werden sollte; die Brezeln wurden vor dem Schulhause
-aus zwei Körben verteilt, und er wünschte, daß die Urenkelin der
-Stifterin mit ihrer Freundin zusammen dies Amt übernehmen möge.
-
-Sie sagte gern zu: „Wenn es sich paßt in meinem schwarzen Anzug?“
-
-„Gewiß“, sagte Pastor Frank; „auf dem Lande ist Schwarz immer ein
-Festkleid, und wenn Fräulein Suschen vielleicht wie heute in Weiß
-erscheint, so stellen Sie daneben zusammen die preußischen Farben dar,
-und das paßt ganz gut zu den Vaterlandsliedern der Knaben.“
-
-Am dritten Feiertag nachmittags zog alles nach dem Schulhause. Trude
-zupfte Martha am Kleide, als sie vom Hofe gehen wollte, und stellte
-einen etwa achtjährigen Jungen und ein sechsjähriges dralles Mädchen
-vor sie hin, die in Festfreude und Festschmuck strahlten.
-
-„Das sind meiner Kathrine ihre, Fräulein: Hans und Mariechen! So, gebt
-auch hübsch ein Händchen, so ist’s recht!“
-
-Martha sah mit Wohlgefallen auf die frischen, zutraulichen Kinder, die
-nun dem Versammlungsplatze zueilten, und ging selbst, um mit Suschen
-an den weißgedeckten Tischen Platz zu nehmen, die vor dem Schulhause
-aufgestellt waren zu beiden Seiten der Eingangsthür.
-
-Schön geschmückt, jedes Kind einen großen Strauß vor der Brust
-und eine Maie in der Hand, kam die Schuljugend gezogen, erst die
-Knaben paarweis, dann die Mädchen; niedliche Fahnen in den deutschen
-Farben trugen die ältesten Knaben vor; ihnen folgten einige
-Musikanten mit Blasinstrumenten und einer Trommel. Sie zogen auf
-den lindenbeschatteten Platz vor dem Schulhause unter dem Gesang,
-den ebenfalls die Urgroßmutter bestimmt hatte: „O heiliger Geist, o
-heiliger Gott etc.“
-
-Der Pastor sprach ein kurzes Gebet und sagte den Kindern in einfachen
-Worten, der Pfingstgeist sei ein Geist der Freude und der Liebe,
-deshalb habe ihnen die Liebe dieses Fest bereitet; sie möchten nun
-in Gottes Namen fröhlich sein und mit Dankbarkeit an die alte Frau
-gedenken, die dieses Fest gestiftet habe, als ihr ältestes Söhnlein,
-sechs Jahre alt, zur Schule gekommen sei. „Und seht, dort steht ihre
-Urenkelin, die will euch die Brezeln heute selbst geben!“
-
-So waren denn natürlich aller Augen auf Martha gerichtet; weil es aber
-strahlende Kinderaugen waren, fühlte sie sich nicht dadurch belästigt.
-
-Der kleine Hans zupfte sie am Kleide: „Du, was ist denn eine Urenkelin?“
-
-„Weißt du denn, was eine Enkelin ist?“
-
-„Ne!“
-
-„Aber, was eine Großmutter ist, das weißt du!“
-
-„Ja“, sagte der Junge lustig, „ich habe zweie!“
-
-„Na, siehst du! wenn deiner Großmutter ihre Mutter noch lebte, das wäre
-deine Urgroßmutter, und du wärst ihr Urenkel.“
-
-Der Junge sah noch nicht ganz befriedigt aus: „Da müßte sie mir doch
-noch erst eine Uhr schenken.“
-
-Martha lachte: „Junge, ein Urenkel kann man auch ohne Uhr sein; ich
-habe auch keine.“
-
-Aus dem Schulhause wurden nun gewaltig große Chokoladenkannen
-herausgebracht; jedes Kind nestelte den kleinen Becher los, den es am
-Gürtel trug, und nun ward gefüllt und getrunken nach Herzenslust. Dann
-ging es ans Spielen.
-
-Für die Knaben waren Kletterstangen da; ein Sackhüpfen wurde
-angestellt, und es gab allerlei kleine Preise: Tücher, Messer, Kreisel
-etc. Die Mädchen liefen nach einem Ziele, mußten mit einem an einer
-Schnur schwebenden Ringe nach einem Haken werfen und wurden dann
-ebenfalls mit Scheren, Fingerhüten, Bändern und dergleichen belohnt.
-Suschen zeigte sich im Anordnen solcher Spiele sehr behilflich und
-gewandt; sie kannte dieselben von ihren Geschwistern. Dazwischen sangen
-die Knaben: „Die Wacht am Rhein“ und andere Vaterlandslieder; die
-Mädchen: „Alle Vögel sind schon da“, „Wer hat die Blumen nur erdacht“
-u. s. w.
-
-Martha merkte jetzt, daß verschiedene Kinder müde waren vom Laufen;
-sie setzte sich auf eine der Bänke unter der Linde, ein Kind nach
-dem anderen kam zu ihr heran, und sie fing an, sich mit ihnen zu
-unterhalten.
-
-„Riech einmal“, sagte Hänschen und hielt ihr einen Strauß von
-Pfingstrosen (eine gelbe Wiesenblume, gestaltet wie eine recht volle
-Rose, in Farbe und Blatt der Butterblume gleich) und Sternblumen unter
-die Nase.
-
-„Danke“, sagte Martha, „das riecht schön.“
-
-„Ja, sie sind auch viel schöner als Butterblumen und Gänseblümchen.“
-
-„Weißt du denn, Hänschen, wie sie so schön geworden sind?“
-
-„Ne“, sagte Hänschen, legte beide Arme auf ihre Kniee und sah sie mit
-offenem Munde an.
-
-„Soll ich’s dir erzählen?“
-
-„Ja, woher weißt du es denn?“
-
-„Ei, so etwas erzählt mir der Morgenwind, wenn er mich früh am offenen
-Fenster besucht.“
-
-„Na, nu erzähle!“ sagte Hänschen.
-
-Sie hatte nur wenige Kinder um sich gehabt; jetzt kamen immer mehr
-an sie heran, bis sich ein dichter Kreis gebildet hatte; über den
-Kinderköpfen schauten auch einige alte mit Wohlgefallen auf sie, als
-sie begann:
-
-„Als es zum erstenmale Pfingsten wurde im deutschen Lande, da jubelte
-die ganze Erde. Im Walde bewegten die Birken ihre grünen Fähnchen, mit
-feinen, langen Kätzchen behangen; die Buche schmückte ihren weißen
-Stamm mit hellgrünen Kränzen, und die zierlichen Maiblumen läuteten,
-daß es eine helle Lust war!
-
-„Aus den Büschen klang die Stimme des Buchfinken und der Nachtigall;
-der Pfingstvogel im gelb und schwarzen Röcklein ließ seinen Lockruf
-ertönen; der Kuckuck rief Tag aus und Tag ein, und die Lerche stieg
-aus der Furche gerade zum Himmel hinauf: ‚Tirrerillerie! Tirrerillera!
-Pfingsten, das schöne Pfingsten ist da!‘
-
-„Im Garten zogen die Blumen ihre allerschönsten Kleider an; die
-Tulpen schmückten sich mit allen Farben; glänzend weiß standen die
-Narzissen; der Flieder hing seine großen, blauen Trauben aus, der
-Goldregen seine gelben; ja, sogar eine Rose öffnete schon ihre Knospe:
-es ist ja Pfingsten, da möchte ich dabei sein! Am Bache standen die
-Vergißmeinnicht und wuschen sich, um ganz schön himmelblau zu sein zu
-Pfingsten. Auf der Wiese standen ein Gänseblümchen und eine Butterblume
-nebeneinander, als am Pfingstsonnabend die Sonne unterging. ‚Weißt du
-es schon‘, sagte die Butterblume, ‚morgen ist Pfingsten.‘ ‚Ich weiß!‘
-sagte das Gänseblümchen, ‚die Menschen sagen, es sei das schönste
-Fest, denn da sei der Geist des Trostes und des Friedens auf die Erde
-gekommen. Sieh nur, wie die Blumen im Garten sich putzen!‘ ‚Ich möchte
-mich auch schmücken‘, sagte die Butterblume, ‚aber ich weiß gar nicht,
-wie ich es anfangen soll.‘ ‚Ich habe mich schon im Abendtau gebadet,
-aber klein bin ich und klein bleibe ich‘, seufzte die Gänseblume.
-
-„Die Sterne zogen auf; Butterblume und Gänseblümchen hatten sonst
-längst um diese Zeit ihre Blättchen oben zusammengeschlossen und
-schliefen; -- heute wollte ihnen der Schlaf nicht kommen. Sie sahen
-zu den leuchtenden Sternen auf und sprachen: ‚Ihr schönen, goldenen
-Sterne! wir wollten gern schön werden, dem Pfingstfest zu Ehren; könnt
-ihr uns nicht dazu helfen?‘
-
-„Die Sterne sahen freundlich herunter und die Blümchen sahen sehnend
-hinauf, und erst als die Sterne blaß wurden und ein kleines Streifchen
-Morgenrot am Himmel erschien, da schliefen die Blümchen ein, und als
-am anderen Morgen die Sonne sie weckte, da sahen sie sich an und sahen
-sich wieder an, denn aus der Butterblume war eine runde, volle, süß
-duftende Pfingstrose geworden, und aus dem Gänseblümchen eine prächtige
-Sternblume. Da weinten und lachten sie vor Freude, daß die Sterne ihnen
-auch ein so schönes Pfingstkleid beschert hatten. Seitdem kommen und
-blühen sie immer zu Pfingsten. Gänseblümchen und Butterblumen kommen
-früher, sobald der Lenz auf die Erde tritt: aber wenn es zu Pfingsten
-läutet, erwachen die Sternblumen und Pfingstrosen auf den Wiesen, denn
-die beiden haben viele, viele Kinder bekommen, die feiern alle mit, und
-Hänschens Strauß gehört auch dazu!“
-
-„Hänschens Strauß gehört auch dazu! Hänschens Strauß gehört auch dazu!“
-riefen die Kinder. „Erzähle noch was, erzähle noch was!“
-
-„Ach ich kann nicht immer erzählen; jetzt könnt ihr ein Rätsel raten:
-
- Eine kleine,
- Weiße, reine
- Schäfchenherde
- Weidet hoch, hoch über der Erde,
- Nicht auf grünen Auen,
- Nein, auf blauen!
- Der Hirt ist nicht zu sehen,
- Wird hinter den Schäfchen stehen.
- Nun sag mir, liebes Kind,
- Wer und wo die Schäfchen sind.
-
-„Da, da!“ riefen die Kinder und zeigten auf die durchsichtigen
-Lämmerwolken, die in der blauen Luft über ihren Häuptern schwammen.
-Die Mädchen stimmten an: „Wer hat die schönsten Schäfchen? Die hat der
-goldne Mond etc.“
-
-Aber nun läutete die Feierabendglocke; alles stand mit gefalteten
-Händen, bis das Anschlagen verklungen war; dann sprach Pastor Frank
-noch ein kurzes Dankgebet, die Großen und Kleinen sangen zusammen: „Nun
-danket alle Gott!“ und dann eilten sie erfreut und ermüdet nachhause.
-
-Pastor Frank war einige Augenblicke verschwunden; in der Nähe des
-Pfarrhauses holte er unsere Freundinnen ein und überreichte Martha ein
-zierliches Sträußchen.
-
-„Die Blumen aus meinem Garten sind auch Pfingstblumen,“ sagte er.
-
-Martha dankte etwas überrascht; sie hätte sich noch mehr gefreut, wenn
-Suschen auch Blumen erhalten hätte; aber sie dachte, es bezöge sich auf
-ihre Geschichte, und beruhigte sich dabei.
-
-Im Gutshofe stand Trude, und Martha ging zu ihr.
-
-„Ach, Fräulein, die schönen Blumen, die sind aus dem Pfarrgarten; so
-dunklen Flieder hat nur unser Herr Pastor. Ach, sehen Sie! wenn ich das
-erleben sollte, daß Sie ’mal wieder hier einzögen, wenn es auch nicht
-auf dem Amte wäre!“
-
-Martha sah sie erstaunt an; sie verstand anfangs durchaus nicht, was
-sie meinte, dann erschrak sie.
-
-„Was redest du, Trude? Das fällt ja keinem Menschen ein!“
-
-Aber sie war innerlich betrübt; die Unbefangenheit war weg. Als sie
-ging, ihre Sachen abzulegen, sah sie Suschen am Fenster ihres offenen
-Stübchens stehen. Sie ging zu ihr und legte den Arm um ihren Hals; es
-schien fast, als habe die sonst so Fröhliche geweint, obgleich sie es
-nicht merken lassen wollte.
-
-„Suschen“, sagte Martha, „komme nach Tische noch ein wenig in den
-Garten, ich muß dir etwas erzählen.“
-
-Suschen schrak zusammen.
-
-„Alte Geschichten“, sagte Martha, „aber traurige.“
-
-Und als sie zwischen den duftenden Beeten im letzten Abendschein
-wandelten, erzählte Martha von Siegfried alles, alles! Sie hatte es
-längst gern gewollt, es war ihr immer zu schwer gewesen.
-
-Sie konnte sich nicht über Mangel an Teilnahme von Suschens Seite
-beklagen; aber zuletzt sagte diese: „Martha, es ist doch schlimm, daß
-das keiner weiß; es könnte sich mancher Hoffnungen machen.“
-
-„Ich glaube nicht, daß dies einer thut“, sagte Martha, „aber ich will
-an die Möglichkeit mehr als bisher denken, und morgen stecke ich mir
-Urgroßmutters Trauring an.“
-
-Am anderen Morgen kehrten Feldwarts und Suschen nach H. zurück, und
-Martha war völlig beruhigt, als sie ihren Vorsatz wegen des Ringes
-ausgeführt hatte.
-
-„Ich glaube“, sagte sie bei sich selbst, „Trude hat in ihren
-überschwenglichen Wünschen für mein Wohl Gespenster gesehen; jedenfalls
-kann in diesen paar Tagen höchstens ein flüchtiges Interesse entstanden
-sein. Suschen paßt viel besser dahin als ich, und wie würde ich mich
-freuen, sie dort zu sehen!“
-
-
-
-
-7.
-
-Muß man denn immer im Streit sein auf Erden?
-
-
-Aber Trude hatte nicht nur Gespenster gesehen! Marthas frisches,
-lebendiges Wesen hatte um so mehr Eindruck auf Pastor Frank gemacht,
-als seine Gedanken, seitdem er in Weißfeld lebte, so vielfach auf die
-Urgroßmutter hingelenkt worden waren, und er nun in Marthas warmem
-Interesse, in ihrer Gewandtheit, ihrem Verkehr mit den Dorfbewohnern,
-in der Energie, mit der sie sich in schwierigen Verhältnissen
-zurechtfand, gleichsam das Bild verkörpert vor sich zu sehen meinte,
-das seine Phantasie sich von der längst entschlafenen Wohlthäterin
-geschaffen. Schon in der nächsten Woche machte er, angeblich, um sich
-nach dem Befinden der Mutter zu erkundigen, den Damen einen Besuch.
-Martha begegnete ihm ruhig und ernst und verschwand in der Küche,
-so lange dies möglich war; aber da er offenbar nicht fortging, um
-ihre Rückkehr zu erwarten, blieb ihr schließlich doch nichts übrig,
-als wieder ins Zimmer zu gehen. Sie spielte vor seinen Augen mit
-Urgroßmutters Trauring; er schien es nicht zu bemerken und Frau
-Feldwart ebenso wenig.
-
-So oft in den schönen Sommertagen der Amtsrat die Mitglieder der
-englischen Stunde nach Weißfeld holen ließ, war Pastor Frank gewiß am
-Abend da, hatte auch stets einen besonderen Grund, sich mit Martha
-angelegentlich zu unterhalten. Auch Suschen redete er gern an; aber
-es war sehr deutlich zu bemerken, daß er sie immer noch halb als sein
-Schulkind betrachtete.
-
-Martha merkte ganz gut, daß diese darüber verstimmt war, und fürchtete,
-es könne sich dadurch eine Scheidewand zwischen ihr und der Freundin
-aufbauen, zumal da dieser zarte Punkt von ihnen nicht besprochen werden
-konnte. Manchmal glaubte sie entschieden, sich geirrt zu haben, da sie
-noch niemals ein ungleiches oder aufgeregtes Wesen an Pastor Frank
-bemerkt hatte; aber viele zarte Aufmerksamkeiten, welche er ihr und der
-Mutter erwies, machten sie doch wieder ängstlich und besorgt. Es war
-schlimm, daß Trude damals voreilig gesprochen hatte; sie hätte sonst
-sicherlich unbesorgt und unbefangen alles hingenommen.
-
-Suschen war eine Zeit lang sichtlich bedrückt; aber von Jugend
-auf gewöhnt, sich in den gegebenen Schranken zu halten, und so in
-unausgesetzter Thätigkeit lebend, daß ihr keine Zeit zum Träumen
-blieb, suchte sie die ungewohnte Fessel ihrer Seele abzuschütteln,
-indem sie sich immer neue Gegenstände der Liebe und Fürsorge für ihr
-teilnehmendes Herz und ihre fleißigen Hände suchte.
-
-In dem kleinen H. war, seit Pastor Wohlgemuth da wirkte, ein warmes
-christliches Leben erwacht; allerlei Werke der inneren Mission waren
-in Angriff genommen worden, und Suschens Herz schlug bald für diese
-Thätigkeit, als sie aus der Fremde in die Heimat zurückgekehrt war.
-Da ihre Mutter sich einer großen Arbeitskraft und guten Gesundheit
-erfreute, erlaubte sie der Tochter gern, bei der Kinderschule zu
-helfen und Arme und Kranke unter dem Rat und der Leitung ihres lieben,
-verehrten Seelsorgers zu besuchen. Es kam Suschen zuweilen vor, als sei
-sie dazu besser imstande, seitdem sie selbst eine kaum verstandene Last
-auf der Seele trug; sie war ernster, weicher und mitleidiger geworden.
-
-Eines Sonntags nach der Nachmittagskirche forderte Pastor Wohlgemuth
-die jungen Mädchen auf, noch etwas zu bleiben, und teilte ihnen
-dann mit, daß er den Plan habe, eine Sonntagsschule einzurichten;
-seine jungen Freundinnen sollten ihm dabei helfen, sie sollten die
-Lehrerinnen der kleinen Mädchen werden, und er versprach, sie in jeder
-Woche zu unterrichten und vorzubereiten auf solche Arbeit. Dieser Plan
-zündete ganz gleich bei Suschen und bei Martha; es war ja Marthas
-besondere Gabe, das Unterrichten! Und wie schön würden die Stunden sein
-beim lieben Pastor Wohlgemuth!
-
-Beide Mädchen versprachen schnell und unbedenklich ihre Teilnahme und
-waren auf dem Heimwege voller Vorfreude und Begeisterung für die Sache.
-Suschen wußte, daß ihr die Eltern ihre Zustimmung gern geben würden;
-Martha zweifelte nicht daran, daß ihre Mutter damit zufrieden sei. Aber
-darin hatte sie sich geirrt.
-
-Frau Feldwart war seit den heißen Julitagen überhaupt wieder sehr
-aufgeregt, schlief schlecht, verlor den Appetit, wurde bei dem
-kleinsten Ausgange leicht atemlos, und obwohl sie eigentlich über
-keinen Schmerz klagte, war doch ihre Stimmung gedrückter und reizbarer
-als sonst. Martha trug ihr die schönen Pläne am anderen Morgen mit
-jugendlicher Begeisterung vor; sie seufzte tief auf.
-
-„Ach, Kind, noch was! Ich meine, du hast übergenug für deine Kräfte!“
-
-„Aber Mutterchen, ich bin ja ganz frisch und gesund, und die Stunden
-bei Pastor Wohlgemuth werden mich so erquicken!“
-
-„Ach, Martha, und dann sitze ich des Sonntags allein, gerade nach der
-Vormittagskirche, wo doch gekocht werden muß!“
-
-„Ei, Mama, dann wärmen wir!“
-
-„Und dann willst du jede Woche noch eine Stunde fort zu Pastor
-Wohlgemuth, und du weißt nicht, wie mir die Stunden lang werden, die du
-ohnehin geben mußt! Nein, Kind, wenn du auch nur noch etwas auf deine
-Mutter hältst, dann gehst du nicht hin.“
-
-„Aber Mama, ich habe es dem Herrn Pastor schon versprochen; was soll er
-denken, wenn ich es jetzt absage?“
-
-„Nun, so vernünftig ist er, daß er weiß, daß ein Kind seiner Mutter
-gehorchen muß!“
-
-Ja, das glaubte freilich Martha auch, aber sie sagte es nicht. Sie
-eilte vorläufig noch nicht zu ihm, um abzusagen, sondern ging den
-ganzen Tag wie eine graue Wolke im Hause umher, war stumm und einsilbig
-und verbesserte dadurch die Stimmung der Mutter durchaus nicht.
-
-Zu allem Unglück erschien am Nachmittag auch noch Pastor Frank, brachte
-einen reizenden Strauß aus Rosen, Nelken, Astern und Pelargonien, und
-überreichte denselben diesmal nicht, wie er es sonst gethan hatte, der
-Mutter, sondern der Tochter.
-
-Frau Feldwart lächelte ganz wohlgefällig dazu. Martha war innerlich
-ärgerlich. Konnte sie ihm denn gar nicht begreiflich machen, daß sie
-kein Gegenstand für so zarte Aufmerksamkeiten sei?
-
-Während Pastor Frank die Mutter begrüßte, rang sie ratlos die Hände,
-und da die Unruhe der Seele auf die Bewegungen einzuwirken pflegt,
-und wohl auch die Urgroßmutter stärker war als die Enkelin, flog der
-bewußte Ring ihr vom Finger und rollte durchs Zimmer, sehr in Gefahr,
-in einer der tiefen Ritzen zwischen den alten Dielen zu verschwinden.
-Ihr angstvoller Ruf: „Mein Ring, mein lieber Ring!“ veranlaßte den
-Gast, das Kleinod zu erhaschen. Als er es ihr zurückgab, sah er sie
-ernst und fragend an und sein Gesicht war bleich geworden.
-
-Martha war jetzt nicht mehr in Zweifel über seine Gefühle und nahm sich
-vor, ihm womöglich bald noch einen deutlicheren Wink zu geben. Als
-sie ihn bis zur Korridorthür begleitete, stand er still, ohne sich zu
-verabschieden.
-
-„Fräulein Martha, der Ring war Ihnen sehr lieb, nicht wahr? Es ist sehr
-unbescheiden, daß ich danach frage, aber wenn Sie wüßten --“
-
-Martha ließ ihn nicht ausreden: „Ich will Ihnen gern sagen, was
-der Ring für mich bedeutet. Es ist zwar nur der Trauring meiner
-Urgroßmutter, und als solcher mir schon sehr lieb; aber ich trage ihn
-zum Zeichen, daß ich seit beinahe einem Jahre verlobt bin; und wenn
-über unserem Geschick auch jetzt noch dunkle Wolken stehen: Gott kann
-sie hinwegnehmen, und mein Herz ist fest, ganz fest gebunden fürs
-Leben.“
-
-Sie hatte es mit zitternder Stimme gesagt, aber ihn ernst und fest
-dabei angesehen. Er verneigte sich.
-
-„Ich danke für Ihre Offenheit, Fräulein Martha! Gott behüte Sie!“
-
-Sehr erleichtert und doch wehmütig kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.
-
-„Nun sag ’mal, Martha, was das für ein Ring ist, um den du so viel
-Umstände machst“, rief ihr die Mutter entgegen; „Pastor Frank konnte
-doch wirklich denken, daß es ein Verlobungsring sei.“
-
-„Das ist er ja auch, Mütterchen, wenn auch nur der von der
-Urgroßmutter; da mir aber Siegfried keinen geben konnte, trage ich ihn
-jetzt als Verlobungsring.“
-
-„Siegfried?“ rief die Mutter wie enttäuscht; „Du denkst noch an
-Siegfried?“
-
-„Aber liebe Mama! natürlich denke ich an Siegfried; er ist des Morgens
-mein erster und am Abend mein letzter Gedanke!“
-
-Die Mutter sah sie eine Weile sehr erschrocken an: „Also darum warst du
-so abweisend gegen den Pastor Frank?“
-
-„Ich weiß nicht, ob ich abweisend war, Mama, aber es schien mir fast
-Schuldigkeit zu sein, ihn nicht im unklaren darüber zu lassen, daß mein
-Herz und meine Hand nicht mehr zu haben sind. Es ist ja sehr möglich,
-daß er ohnehin niemals danach verlangt hätte.“
-
-„Martha, Martha!“ rief die Mutter schmerzvoll, „wie kannst du so
-festhalten an einem Traumbilde, das sich niemals, niemals verwirklichen
-wird. Du weißt, daß dein Vater Siegfried abgewiesen hat; er selbst hat
-dir geschrieben, er fordere kein Versprechen und gäbe dir keins; wer
-weiß, wo er jetzt ist und ob er überhaupt noch an dich denkt. Ach, wie
-war ich so glücklich in der letzten Zeit; wie hoffte ich, all’ unsere
-Not und Sorge sei am Ende, und ich könnte mein Kind wohlbeschützt
-zurücklassen, wenn Gott mich abriefe! Es ist doch eine Fügung Gottes,
-daß er dir gerade in Weißfeld begegnen mußte; du konntest da sein und
-da wirken, wo deine Urgroßmutter geschaltet und gewaltet hat. Martha,
-laß diesen kindischen Gedanken fahren; ihr waret ja beide noch viel zu
-jung.“
-
-„Ja, Mama, wir sind beide noch jung, aber alt genug, um zu wissen,
-was wir aneinander haben, und uns in Treue festzuhalten auch übers
-Meer hinweg. Sieh, ich bin in diesem einen Jahre um vier Jahre älter
-geworden, aber wenn ich es schon vor der Trennung wußte: jetzt weiß
-ich es noch viel gewisser, daß ich keinen so lieben kann wie meinen
-Siegfried!“
-
-„Ach, Martha, das ist Jugendüberschwenglichkeit; denke doch an deine
-arme Mutter! Was soll werden, wenn ich noch elender werde, und du deine
-Stunden aufgeben mußt, um mich zu pflegen? Ich weiß es: Frank nähme
-mich gern unter sein Dach; ich würde es gut bei ihm haben. Wenn du ihn
-auch nicht so feurig lieb hast, du achtest ihn doch und wirst ihn mit
-jedem Tage lieber gewinnen. Es giebt ja so viele Ehen, wo die Leute
-sich ruhig gegenüberstehen und dennoch glücklich und zufrieden sind!“
-
-Martha hatte bleich und lautlos zugehört, aber in ihrem Innern brauste
-ein gewaltiger Sturm; ihr ganzes Herz, all ihr Wille bäumte sich auf,
-als so an ihre innersten Gefühle gerührt wurde. Sie bedachte nicht,
-daß die Mutter krank, schwach und unglücklich war, und es brach nun
-auch wie ein wettergeschwollener Waldbach die Rede von ihren Lippen --
-leidenschaftlich, rücksichtslos, verletzend: „Alles habe ich stille
-getragen, gearbeitet, geduldet, meinen Schmerz überwunden, so viel ich
-konnte, und dafür willst du mir nun mein einziges Kleinod nehmen? Ich
-soll dem einen untreu werden und den andern betrügen, wenn ich ihm
-meine Hand ohne mein Herz gebe! O, Mutter! Mutter! wie kannst du so
-grausam und ungerecht sein!“
-
-Frau Feldwart war ganz entsetzt -- Martha war noch nie so heftig und
-unkindlich gewesen --; sie rang die Hände und brach in Thränen aus.
-Martha, obwohl innerlich gewiß, daß sie diesen Wunsch der Mutter
-nicht erfüllen dürfe, war doch tief erschrocken darüber, daß sie sich
-so weit hatte fortreißen lassen, und weinte ebenfalls; es war ein
-recht unglücklicher Nachmittag. Sie hätte sich so gern ausgeklagt und
-ausgeweint; aber ihr liebes Suschen durfte ja von diesem Leid nichts
-erfahren. Wenn sie sich hätte überwinden können, der Mutter ihre
-Heftigkeit abzubitten, wäre beiden geholfen gewesen; aber dazu kamen
-ihr die Regungen ihrer eigenen Seele jetzt noch zu hoch und erhaben,
-die Wünsche der Mutter viel zu unnatürlich und grausam vor. Dennoch
-hatte sie das Verlangen, die Mutter wieder zufriedener zu wissen, ihr
-irgendetwas zuliebe zu thun, und als die Sonne schon am Sinken war,
-sagte sie kleinlaut: „Mama, ich möchte dem Pastor Wohlgemuth noch
-sagen, daß ich nicht mit unterrichten soll.“
-
-Frau Feldwart nickte stumm, und Martha ging. Es war sonderbar: sie
-hatte nicht nur Pastor Wohlgemuth, sondern auch seine freundliche Frau
-herzlich lieb, und war sonst immer wie auf Flügeln hingeeilt; heute
-schien es ihr, als könne sie dem Ehepaar nicht so frei entgegentreten
-wie früher. Schüchtern fragte sie das Mädchen nach ihrem alten
-Freunde; er war im Garten, seine Frau zu ihrer Schwiegertochter
-gegangen. Martha kannte den freundlichen Hausgarten und suchte dort
-den Pfarrherrn auf. Im Mittelwege wandelte er langsam auf und nieder;
-ein bequemer Hausrock umschloß seine hohe, schlanke Gestalt; das
-würdige Haupt mit den feinen Zügen und dem spärlichen Silberhaar deckte
-ein Sammetmützchen; die leichten, vom Abendlicht goldig gefärbten
-Dampfwölkchen aus seiner langen Pfeife umschwebten es. Er schien in
-freundliche Gedanken versunken zu sein, wenn er sich bald rechts, bald
-links zu seinen Blumen niederbeugte, hier ein Pflänzchen aufrichtend
-und befestigend, dort den Duft einer Blüte mit Wohlgefallen einatmend.
-Jetzt wandte er sich und erblickte Martha.
-
-„Ei, willkommen! Das ist ja herrlich; je später der Abend, je schöner
-die Gäste!“ rief er heiter. „Nun kommen Sie ’mal gleich hierher; die
-feurige Bandnelke ist gerade so schön angeleuchtet, und sehen Sie nur
-diese weiß und braune an, die hat mir mein Nachbar dort drüben im
-Frühling geschenkt.“
-
-Martha beugte sich zu den Blumen; sie war aber zum Sprechen und
-Bewundern nicht aufgelegt, und da das bei ihrer lebendigen Teilnahme
-für die kleinen Liebhabereien des Pastors ganz ungewöhnlich war, wurde
-dieser schnell aufmerksam.
-
-„Aber verzeihen Sie, liebe Martha, Sie sehen traurig aus; ich fragte
-noch gar nicht, ob ich Ihnen irgendwie dienen oder beistehen kann!
-Kommen Sie hier in die Laube, da sitzt es sich sehr friedlich, und
-sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben!“
-
-„Ach, Herr Pastor, ich hatte mich so sehr gefreut, bei den
-Kindergottesdiensten zu helfen, und nun will es mir die Mutter nicht
-erlauben.“
-
-Martha hatte das Herz sehr voll Weh; sie brach in Thränen aus.
-
-„Nun, nun, liebes Kind, das ist denn doch noch keine Veranlassung zu so
-bitteren Thränen. Ich kenne die Gründe der Mutter nicht, aber da heißt
-es: ‚Gehorsam ist besser denn Opfer.‘“
-
-Martha erzählte, warum es der Mutter so schwer erschien; aber sie
-sprach anders, mit weit weniger Respekt und Schonung und viel erregter
-als sonst; und der erfahrene Seelsorger merkte bald, daß noch andere
-Beunruhigungen im Grunde ihrer Seele lagen.
-
-„Mein liebes Kind“, sagte er, „es kann nicht dies allein sein, was Sie
-so aufregt. Können Sie mir sagen, was Ihnen sonst noch Not macht, daß
-ich versuchen kann, Ihnen zu helfen?“
-
-Ach, Martha sehnte sich, sich auszusprechen und innerlich womöglich
-wieder klar und fest zu werden; hier, wußte sie, war alles wohl
-aufgehoben, und so erzählte sie: ihre Verlobung, Siegfrieds Abschied,
-die kleinen Aufmerksamkeiten des Pastor Frank und die schlimmen Worte
-der Mutter; ach, als sie derselben erwähnte, wurde sie wieder ebenso
-bitter und heftig wie am Nachmittage. Pastor Wohlgemuth saß stille
-neben ihr, schickte manchmal einen Ring aus seiner Pfeife in die klare
-Luft, und ließ sie völlig sich aussprechen und ausklagen. Dann setzte
-er die Pfeife fort, ging einige Male im Garten auf und nieder und
-stellte sich endlich Martha gegenüber.
-
-„Mein liebes Kind“, sagte er, „bevor wir die Außendinge betrachten,
-müssen wir wohl erst inwendig Ordnung machen. Wenn Sie sich zum
-Kindergottesdienst bei mir gemeldet hätten, würde ich zuerst die zehn
-Gebote mit Ihnen durchgenommen haben, und wir wären dann sehr bald an
-das Gebot gekommen, das Verheißung hat; Sie wissen doch, liebe Martha,
-welches ich meine? Fragen Sie sich einmal selbst, ob Sie dieses Gebot
-heute gehalten haben.“
-
-„Herr Pastor, Sie können nicht wollen, daß ich Siegfried untreu werden
-soll!“
-
-„Das steht auf einem ganz anderen Blatte; darüber steht meine Ansicht
-noch gar nicht fest. Aber das werden Sie sich selbst wohl gestehen, daß
-Sie heute recht unkindliche Gedanken und Gefühle genährt und gehegt
-haben; dafür müssen Sie zuerst den lieben Gott und dann Ihre Mutter um
-Verzeihung bitten, eher kommt der Friede nicht wieder hinein in ihre
-Seele.“
-
-Martha sah ihn traurig an: „Wenn ich thun wollte, was die Mutter will,
-und meinem Verlobten entsagen, würde ich dies aber als ein so schweres
-Unrecht empfinden, daß von Frieden gar keine Rede sein könnte.“
-
-„Das ist möglich!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber denken Sie jetzt
-einmal nicht so viel an das, was Sie empfinden oder empfinden würden,
-sondern machen Sie sich einmal klar, was Ihre liebe Mutter dabei
-gedacht und empfunden hat, die Mutter, der Sie Ehrerbietung und Liebe
-schuldig sind, selbst wenn es Ihnen nicht möglich sein sollte, den
-Weg einzuschlagen, den sie wünscht. Als ich neulich allein bei ihr
-war, klagte sie mir, sie fühle, wie ihre Gesundheit durch alle die
-Schicksalsschläge gelitten habe, und daß beim Gedanken an ihren Tod
-die schwere Sorge ihr Herz bedrücke, wie sich Ihre Zukunft gestalten
-werde, wenn dann die Leibrente wegfiele und Sie genötigt sein würden,
-unter Fremden Ihr Brot zu suchen, ohne die genügende Vorbereitung dazu
-erhalten zu haben. Das Verhältnis, in welchem Sie zum jungen Kraus
-gestanden haben, sieht Ihre Mutter, wie es scheint, nicht mehr als
-bindend an, und wenn man die Sache äußerlich ansieht, hat sie ja darin
-recht. Nun sieht sie einen jungen, tüchtigen Mann kommen, der sich mit
-aufrichtigem Herzen um Sie bewirbt, der Ihnen ein bescheidenes aber
-sicheres Los bietet, und durch dessen Treue und Pietät sie selbst einen
-friedlichen Lebensabend zu erlangen hofft. Ich selbst gestehe, daß ich
-ähnliche Wünsche und Vermutungen schon gehegt habe und vielleicht Ihrer
-Mutter gegenüber unvorsichtig in meinen Äußerungen gewesen bin. Sind,
-so betrachtet, die Wünsche der Mutter nicht zu entschuldigen, sind sie
-nicht sogar gut und verständig? Meine liebe Martha, wenn man innerlich
-so aufgebracht und entrüstet ist, thut man immer wohl, sich im Geiste
-auf den Standpunkt des Gegners zu stellen und von dort aus die Sache
-einmal anzusehen; man wird dann jedenfalls die Andersdenkenden
-begreifen, selbst wenn man nicht für ihre Ansicht gewonnen wird.“
-
-Martha seufzte: „Wenn Gott die Erfüllung des vierten Gebotes verlangt,
-warum läßt er dann so schwere Konflikte kommen?“
-
-„Liebes Kind, mit dem ‚Warum‘ kommen wir unserem Herrgott gegenüber
-nicht weit; da heißt es immer: ‚hernachmals -- hernachmals wirst
-du es erfahren.‘ Gerade diesem Gebote gegenüber giebt es viele und
-schwere Versuchungen. Die Kinder wachsen heran, gestalten sich zu
-selbständigen Persönlichkeiten, die dem Herrn im Himmel und der Welt
-gegenüber ihre eigene Verantwortlichkeit tragen müssen. Da ist denn oft
-der Gehorsam eine recht schwere Sache; er ist aber auch eine schöne,
-liebe Martha! die den Lohn in sich trägt. Die Jugend stürmt oft in
-dunklem Thatendrange vorwärts; das Alter steht dem entgegen mit seinen
-vielfachen Erfahrungen und seiner Ruhebedürftigkeit; Gott hat sie beide
-nebeneinander gestellt, damit eines das andere ausgleiche. Wenn die
-Jugend aufmerkt und annimmt, und das Alter in Milde und Gottesfurcht
-etwas nachgiebt, kommt die rechte harmonische Mitte heraus. Weil unser
-Herrgott weiß, daß dies schwer ist, hat er dem Gebot die Verheißung
-zugegeben, und er hält sie, er hält sie, Martha! das bestätigt die
-Erfahrung allezeit.“
-
-Ein leidendes, erregtes Herz bezieht alles auf seinen besonderen Fall:
-„Aber Herr Pastor, ich kann keinen anderen als Siegfried nehmen!“
-
-„Das ist möglich, liebe Martha! darüber kann in der That kein anderer
-als Sie selbst entscheiden. Wenn Sie aber Ihrem Verlobten die Treue
-halten wollen, müssen Sie sich zuvor ganz klar machen, welche Opfer
-diese Treue von Ihnen fordern kann. Gott kann Ihnen die Mutter nehmen,
-da müssen Sie vielleicht unter Fremden ein kümmerliches Brot suchen;
-ganz andere, viel schwerere Konflikte können über Sie kommen, als dies
-jetzt der Fall ist. Sie müssen es sich gefallen lassen, sehr niedrig
-und klein zu sein, und das wird gerade Ihrer Natur schwer werden.
-Sie müssen sich auch darauf gefaßt machen, nichts wieder von Ihrem
-Verlobten zu hören, ja, Sie können eines Tages die Nachricht bekommen,
-daß er glücklich verheiratet ist, und dürfen dann nicht sagen: ‚O,
-hätte ich anders gehandelt, so wäre ich nun statt eines verlassenen
-Mädchens eine glückliche Frau!‘“
-
-„Ich habe mir das alles schon gesagt, Herr Pastor! das heißt, nicht
-alles, denn daß er mit einer anderen vermählt ist, werde ich nie hören,
-und ich bin darin ganz ruhig und fest, daß ich ihm treu bleibe, so
-lange ich atme!“
-
-„Nun, so sei Gott mit Ihnen!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber nur
-vergessen Sie nicht, daß jetzt Ehrerbietung, Liebe, zarte Schonung
-gegen Ihre Mutter zur doppelten Pflicht wird. Bitten Sie gleich,
-sowie Sie nachhause kommen, der Mutter Ihre Heftigkeit ab; wenn Sie
-genötigt werden, für Ihre Überzeugung einzutreten, so thun Sie das mit
-kindlichen, sanften, bittenden Worten, und bitten Sie den lieben Gott
-dazu um seinen Segen; der weiß für aufrichtige Herzen alle Konflikte
-zum rechten Ende zu bringen. Mein armer, junger Amtsbruder! Ich hatte
-es besser mit ihm im Sinn!“
-
-„Herr Pastor“, sagte Martha und sah ihn mit einem Blicke an, der
-in seiner fröhlichen Schalkhaftigkeit an frühere glückliche Zeiten
-erinnerte, „glauben Sie mir, er ist nur in meine Urgroßmutter verliebt!
-Nun gute Nacht und besten Dank! Sie sind mir doch der Stunden wegen
-nicht böse?“
-
-„Wie könnte ich? Hier hat auch wohl Ihre liebe Mutter recht: Sie sind
-reichlich in Anspruch genommen mit Ihrer Zeit und Kraft! Gott hat
-nicht jedem alles befohlen, und Ihnen befiehlt er durch den Mund Ihrer
-Mutter, diesem Werke zu entsagen, -- also bescheiden wir uns!“
-
- * * * * *
-
-Es dämmerte, als Martha ging; sie fand die Mutter am Fenster sitzend
-und ihrer wartend.
-
-Martha konnte jetzt mit demütigem Herzen der Mutter nahen.
-
-„Ach, liebe Mutter, ich bitte dich, verzeihe! Ich war sehr heftig und
-unartig; aber diese Sache ist mir ja so schwer!“
-
-Die Mutter strich über ihr Haar.
-
-„Meine arme Martha, so wirst du tragen müssen, was danach kommt!“
-
-Der Friede war hergestellt, und er wurde am besten dadurch erhalten,
-daß Pastor Frank sich vorläufig im Städtchen nicht sehen ließ.
-
-
-
-
-8.
-
-Schwerer Abschied.
-
-
-Ein Wort des treuen Pastors war tief in Marthas Herz gedrungen: die
-Mutter sorgte, was aus ihrem Kinde werden sollte, wenn sie stürbe.
-Martha hatte an diese Möglichkeit noch niemals gedacht; jetzt fielen
-ihr zum erstenmale die eingefallenen Wangen, die blauen Ringe unter
-den Augen der Mutter auf; jetzt erregte es ihre Besorgnis, wenn diese
-beim Ersteigen der Treppe nach Atem rang. Ach nein, das durfte,
-das konnte Gott nicht thun! Es ist diese Zuversicht, mit der fast
-jedes ungeschulte Herz einem schweren, drohenden Schicksalsschlag
-entgegentritt, mit der es immer wieder seine Hoffnung stärkt und
-stählt, bis endlich die Überzeugung Raum gewinnen muß: dein Hoffen
-ist vergeblich, du sollst nach Gottes Willen diesen schweren Weg
-gehen! Dann giebt es noch einen harten, sehr harten Kampf mit dem
-eigenen Willen, bis sich das Herz zur Ergebung und Stille durchringt,
-und erst, wenn dieses geschehen ist, kommt die Zeit, wo man auch an
-Sterbebetten schöne, ja glückliche Stunden verleben kann, wo die Pflege
-zu einem sehr süßen Geschäft wird, wo man, ohne den geliebten Kranken
-mit falschen Hoffnungen zu täuschen, ihn doch recht wohl erheitern
-und erfrischen kann, um ihn zuletzt gleichsam hinüberzubegleiten in
-die Wohnungen des ewigen Friedens. Dieser schwere, schöne Weg lag vor
-Martha.
-
-Der Herbst brachte manchen Wechsel im Befinden; ein frischer, klarer
-Tag belebte die Hoffnungen von Mutter und Tochter, daß das Unwohlsein
-wohl vorübergehen könne; aber als die Tage kurz wurden und die
-Herbststürme ums Haus brausten, da sanken sichtlich die Kräfte, die
-Beängstigungen nahmen zu und kamen häufiger. Der Arzt schüttelte den
-Kopf: „Es ist ein Herzleiden, das sich schon sehr weit ausgebildet hat.“
-
-Bis in den Advent hinein hatte Martha ihre Stunden und
-Konversationsnachmittage festhalten können; dann aber fand sie die
-Mutter nach jeder Abwesenheit so unglücklich und aufgeregt, daß sie
-sich überzeugen mußte: so geht es nicht mehr weiter. Suschen hatte
-versucht, ihre Stelle zu vertreten und war gern angenommen worden;
-aber Frau Feldwart, beängstigt durch ihr Leiden, war reizbar und
-eigensinnig, und verlangte sofort sehnsüchtig wieder nach Martha.
-
-„Es hilft nichts“, sagte diese, „ich muß die Stunden jetzt aufgeben;
-Gott wird ja helfen, daß es geht!“
-
-Ja, er verlangt nichts Unmögliches; es ging wirklich! Alle die Eltern,
-deren Töchter Martha unterrichtet hatte, fühlten herzliche Teilnahme;
-Stärkungsmittel, guter Wein, feine Speisen kamen von allen Seiten
-herbei; ab und zu sahen die hellen, freundlichen Gesichter der jungen
-Mädchen selbst herein.
-
-Pastor Wohlgemuth war sehr treu in seinen Besuchen; er verstand
-die Kranke und sie verstand ihn; er hielt keine langen Reden: ein
-Schriftwort, das auf ihren Zustand paßte, ein Vers aus einem unserer
-schönen Trost- und Glaubenslieder, ein kurzes, warmes, herzliches
-Gebet -- das waren die Erquickungen, welche er ihr zurückließ, und
-sein heiteres Gesicht, sein klares Auge, seine getroste Stimme wirkten
-allezeit wie eine belebende Arzenei nicht nur auf die Mutter, nein!
-auch auf den gesunkenen Mut ihres Kindes.
-
-So kam Weihnachten recht ernst heran. Die Mutter litt mehr als je.
-Werners Kinder hätten so gern der Martha ein Bäumchen geputzt, aber sie
-hätten es ihr doch nicht bringen dürfen; der armen Kranken mußte auch
-die leiseste Unruhe erspart werden.
-
-Als die Glocken zur Kirche läuteten, saß Martha an ihrem Bette und las
-die Weihnachtsgeschichte. Ach! Das „Siehe, ich verkündige euch große
-Freude“, es war heute schwer zu fassen; ihre Stimme stockte beim Lesen.
-
-Die Mutter hielt die Hand vor die Augen; nach einer Weile sagte sie:
-„Heute vor einem Jahre hatten wir unseren letzten glücklichen Abend,
-Martha! Dann ging das Elend an. Wenn uns damals einer gesagt hätte, wie
-Schreckliches wir erleben sollten!“ Sie seufzte tief.
-
-Martha nahm sich zusammen, so viel sie konnte: „Ja, Mutter, wir haben
-viel durchgemacht, aber Gott hat uns auch recht dabei geholfen; wenn
-uns jemand vorher gesagt hätte, wie gut wir das Schwere ertragen
-würden, das hätten wir auch nicht geglaubt.“
-
-„Es kommt noch schwerer, liebe Martha!“ fuhr die Mutter mit Anstrengung
-fort, „viel schwerer!“
-
-Martha zitterte innerlich, aber sie kämpfte tapfer ihre Aufregung
-nieder.
-
-„So wird er uns auch durch das Schwerste helfen“, sagte sie leise.
-
-„Weißt du denn auch wohl, was ich meine, mein armes Kind?“
-
-„Ja, liebe Mama, ich glaube, ich weiß es. Ach, ich sehe manchmal nichts
-vor mir als Dunkelheit; aber das Christkind ist ja da; seine Hand kann
-ich auch im Dunkel fassen, und es wird mich schon durchbringen, und
-dich auch, Mama.“
-
-„Ich glaube, sie singen drüben bei Werners; möchtest du nicht dort
-sein?“
-
-„Nein, Mama, heute bleiben wir zusammen.“
-
-Leise Schritte näherten sich bald darauf. Martha sah hinaus; es waren
-Suschen und Luischen: „Dürfen wir nur einen Augenblick kommen und
-bescheren?“
-
-Frau Feldwart hatte die freundliche Frage gehört: „Ja, kommt nur!“
-
-„Ja, aber da müssen Sie und Martha die Augen schließen, bis wir sagen:
-‚Nanu!‘“
-
-Es ward bewilligt. Ein leises Flüstern und ein süßer Duft ging durchs
-Zimmer. Als die Augen sich öffnen durften, sahen sie auf einen
-wunderbar schönen, blühenden Rosenstock; darunter lagen neben allerlei
-zierlichen Näschereien Gerocks erbauliche Lieder und ein von Suschen
-feingestricktes Kopftuch für Martha.
-
-Gerührt wurden die schönen Gaben bewundert; Frau Feldwart war sehr
-freundlich: „Nun singt mir aber: ‚Es ist ein Ros’ entsprungen‘, das
-gehört zu dem schönen Rosenstrauch.“
-
-Sie thaten das sehr gern und Martha sang mit. Als Suschen bat,
-hier bleiben zu dürfen, damit Martha etwas hinüberginge unter den
-Weihnachtsbaum, schlug es diese dankbar und freundlich ab; sie
-fühlte, daß es so besser sei! Aber es wurde ein friedlicher Abend,
-weihnachtlich im höchsten und schönsten Sinne.
-
-„Vielleicht feiere ich übers Jahr droben mit deinem Vater!“ sagte Frau
-Feldwart und sah sehr fröhlich dabei aus.
-
-Marthas Gedanken wanderten, wohin sie oft gingen -- zu Siegfried! Sie
-wußte nicht mehr, was sie denken und wo sie ihn suchen sollte; aber sie
-bat, daß Gott ihm einen schönen, gesegneten Weihnachtsabend schenken
-möge, und die Gewißheit kam als ein süßer Trost über sie, daß ihr
-Vater droben im Himmel, ihre Mutter auf dem Krankenlager, Siegfried in
-der weiten Ferne und sie selbst mit ihrem betrübten, zagenden Herzen,
-alle in einer Vaterhand ruhten, sich alle des einen heiligen Christ
-getrösten und hoffen durften, nach dieser Zeit Leiden in eine selige
-Heimat einzuziehen, wo keine Trennung und kein Schmerz mehr sein wird.
-Beide, Mutter und Tochter, fühlten es als eine große Wohlthat, daß nun
-das Wort ausgesprochen war, vor dem sie sich immer gefürchtet hatten,
-daß sie nun offen und gemeinsam dem entgegensahen, was kommen sollte,
-und sich auch gemeinsam dazu stärken konnten. Es kamen ernste, sehr
-schwere, aber friedliche Tage, während in der Nacht mehr und mehr
-ein Angstanfall den anderen ablöste, so daß sich Martha nach Beistand
-umsehen mußte. Wenn es sich mit ihren Botengängen vereinigen ließ,
-blieb Trude manchmal eine Nacht; dann durfte Martha ruhig schlafen,
-denn die Kranke fühlte sich bei ihr geborgen wie ein Kind im Mutterarm;
-aber dies konnte doch nur selten geschehen. Da bot sich die Warburgerin
-zur Hilfe an, und je kränker Frau Feldwart wurde, desto mehr war ihre
-gleichmäßige Ruhe und große Körperkraft am Platze, mit der sie die
-Kranke hob und zurechtlegte, während ihre Heiterkeit und Frische die
-Krankenstube zu erhellen schien.
-
-Man denkt oft, Tage, die so einförmig unter Sorge und Not hinfließen,
-müssen langsam vorübergehen; o nein! das Gegenteil ist der Fall. In
-diesem steten, stillen Aufmerken und Sorgen für den nächsten Augenblick
-vergeht die Zeit unmerkbar wie im Fluge.
-
-Martha wunderte sich, als die Tage anfingen, länger zu werden, und die
-Sonnenstrahlen früher durchs Fenster blickten. Frau Feldwart freute
-sich daran, -- Martha sah es mit Bangen; sie wußte, daß der März das
-letzte welke Laub von den Bäumen schüttelt. Wenn sie die Angst der
-Mutter sah, sehnte sie sich mit ihr nach Erlösung; aber was dann aus
-ihr selbst werden sollte -- in diesen Gedanken durfte sie sich gar
-nicht hineinwagen.
-
-Stellte sie sich einmal ganz ihre verlassene und hilflose Lage vor, so
-kam wohl der Gedanke an Pastor Frank, an das friedliche und geschätzte
-Leben unter seinem Dache wie eine Versuchung über sie. Aber nein! Sie
-konnte nicht bereuen, was sie gethan hatte; immer wieder trat vor ihr
-inneres Auge das Bild ihres Siegfried; daneben hatte kein anderes Platz!
-
-Es war ein ganz wunderlieblicher 1. März; die Sonne schien so erwärmend
-und freundlich auf die schwellenden braunen Knospen, als könne sie es
-kaum erwarten, dieselben zu sprengen. Frau Feldwart war durch eine
-schwere Angstnacht gegangen; jetzt, gegen Mittag, ließ sie die Fenster
-öffnen und atmete mit sichtlicher Erleichterung und Freude die linde
-Frühlingsluft ein.
-
-„Vielleicht könnte ich jetzt ein wenig schlafen“, sagte sie, „versuche
-du es auch, Martha! du wachtest die ganze Nacht.“
-
-Martha richtete der Mutter die Kissen zurecht; diese zog ihren Kopf zu
-sich hernieder und sagte freundlich: „Gott segne dich, mein liebes,
-liebes Kind! Gute Nacht!“
-
-Es war nicht Nacht, es war heller, strahlender Tag; Martha zog sorglich
-hinter den offenen Fenstern die Gardinen zu, setzte sich in den
-Lehnstuhl und beobachtete noch eine Weile den Schlummer der Mutter,
-der sehr süß und fest zu sein schien; und wie sie auf das friedlich
-ruhende Angesicht blickte, verschleierten sich allmählich auch ihre
-Gedanken, allerlei Traumbilder umgaukelten sie; nach kurzer Zeit
-schlief sie so fest, wie die Mutter ihr gegenüber. Doch nein! +so+
-fest schlief sie nicht, denn als sie nach einer Stunde erwachte und
-auf den Zehen näher schlich, um nach der lieben Kranken zu sehen, da
-lag diese noch ebenso friedlich und freundlich da, aber das Antlitz
-war marmorweiß, kein Atemzug hob mehr die sonst so gequälte Brust, und
-die Hände, die auf der Decke lagen, waren erkaltet. Es währte lange,
-bis es der armen Martha ganz zum Bewußtsein kam, daß die Mutter dahin
-gegangen, wo kein Leid, kein Geschrei und keine Qual mehr ist.
-
-Als es ihr endlich zur Gewißheit wurde, schrie sie nicht auf, sie
-klingelte nicht um Hilfe; sie kniete am Bette, schickte ihre Seufzer
-zu Gott hinauf und weinte heiße, recht heiße Thränen. Sie wußte ihre
-Eltern am Throne Gottes vereint, aber sie war allein gelassen auf Erden
-und fühlte das mit tiefem, tiefem Schmerz.
-
-Suschen, die einzige, die stets einen Drücker zur Korridorthür hatte
-und unbemerkt kommen und gehen konnte, fand sie so. O, wie herzlich
-weinte sie mit ihr! Dann rief sie ihre Eltern, und als Frau Werner
-Martha in die Arme schloß und ihr Gemahl so warme, teilnehmende Worte
-sprach, fühlte das verwaiste Kind, daß es doch nicht ganz verlassen sei.
-
-Der Direktor besorgte mit großer Aufopferung all’ die schweren
-Außendinge, die ein solcher Todesfall mit sich führt; seine Frau
-sagte: „Du kommst jetzt mit uns, liebe Martha. Sobald die Frau kommt,
-die dazu beauftragt ist, helfe ich dir mit Suschen zusammen, deiner
-lieben Mutter die letzten Dienste zu erweisen; denke du jetzt an nichts
-weiter, als daß deine Mutter im Himmel und unser Herrgott ein Vater der
-Waisen ist; alles andere findet sich zu seiner Zeit; jetzt wohnst du
-bis auf weiteres mit in Suschens Stübchen.“
-
-Das Begräbnis war vorüber; Martha hatte sich bis dahin wunderbar
-aufrecht gehalten, aber es war noch kein Schlaf wieder in ihre
-Augen gekommen. Sie hatte sich sehr getröstet gefühlt durch Pastor
-Wohlgemuths glaubensvolle Grabrede über den Text: „Ich weiß, daß mein
-Erlöser lebt.“ Aber als sie nun an Suschens Arme langsam nachhause
-ging, kam eine solche Abspannung und Müdigkeit über sie, daß Frau
-Werner sie sogleich nach dem freundlichen Schlafstübchen führte;
-schon während des Auskleidens fielen die nassen Augen zu, und als die
-mütterliche Freundin noch ein Weilchen mit gefalteten Händen am Bette
-ihres Pfleglings stand, hörte sie schon die sanften Atemzüge, welche
-den Schlummer der Kindheit und Jugend zu begleiten pflegen.
-
-Suschen benutzte diese Ruhestunden, um mit Frau Warburger frische
-Luft in die verödete Wohnung zu lassen und die Spuren von Staub und
-Unordnung zu beseitigen, welche ein jedes Begräbnis hinterläßt. Sie
-stand in ihrem langen, schwarzen Kleide mitten im Sterbezimmer, und
-während sie mit ruhiger Stimme die Arbeiten der Dienerin leitete,
-begoß sie die Blumen, die sich in Frau Feldwarts Krankheit durch die
-Freundlichkeit der Bekannten in Fülle zusammengefunden hatten, lockte
-das Hündchen an sich, das winselnd unter dem Tische lag und nur schwer
-zu bewegen war, Milch und Brot aus ihren Händen zu nehmen, und gab hier
-und da einem verschobenen Gegenstande seine richtige Stellung und Lage
-wieder.
-
-Pastor Frank, der die Entschlafene zur letzten Ruhestätte begleitet
-hatte, überraschte sie bei diesem Geschäfte; er kam, um der verwaisten
-Tochter ein paar freundliche Worte zu sagen. Er hatte die Thür offen
-gefunden, weil Frau Warburger viel hin und wieder gegangen war, und
-stand jetzt Suschen gegenüber.
-
-„Es thut mir leid, Herr Pastor!“ sagte diese, „ich kann jetzt Martha
-nicht rufen; nach vielen durchwachten Nächten schläft sie soeben zum
-erstenmal sanft; aber sie wird sich gewiß freuen, wenn Sie ein andermal
-vorsprechen wollen; nur müssen Sie dann zu meinen Eltern kommen, denn
-meine Freundin wird in der nächsten Zeit bei uns wohnen!“
-
-Der Pastor empfahl sich und Suschen setzte ihre stille Arbeit fort. In
-der Korridorthür sah sich der Davoneilende noch einmal um: „Sonderbar!
-das Suschen sah heute recht erwachsen aus mit dem schwarzen Kleide und
-mit dem ernsten Gesicht; sie ist doch wohl eigentlich kein Kind mehr!“
-
-Direktor Werner hätte der Martha gern noch einige Tage stiller
-Erinnerung und friedlichen Ausruhens gewährt, aber er bemerkte bald,
-daß sie sehr unruhig war beim Gedanken an ihre Zukunft, und so fragte
-er sie, als sie an einem der nächsten Morgen ihm und seiner Frau nach
-dem Frühstück allein gegenüber saß: „Nun, liebes Kind, nun lassen Sie
-uns erfahren, was Sie für Ihre Zukunft denken und wünschen.“
-
-Martha sah ihn traurig an: „Was soll ich denken? Meine Nahrungsquelle
-versiegt jetzt, denn die Leibrente der Mutter ist mit ihrem Tode
-verfallen; mir bleibt nichts übrig, als mir so schnell als möglich
-eine Stelle zu suchen als Jungfer oder Stütze der Hausfrau, oder“
--- setzte sie etwas zögernd hinzu -- „vielleicht könnte ich in ein
-Diakonissenhaus gehen!“
-
-„Das ist ein schöner Beruf“, sagte der Direktor ernst; „aber haben Sie
-früher wohl jemals daran gedacht, denselben zu ergreifen?“
-
-„Nein“, erwiderte Martha aufrichtig.
-
-„Nur um eine Versorgung zu haben, geht man nicht in ein
-Diakonissenhaus, da gehört ein tieferer Beruf dazu. Ich meine, liebes
-Kind, man muß bei solcher Überlegung die Fingerzeige Gottes beobachten.
-Meinem Suschen habe ich gestern noch ganz ernstlich abgeredet, Lehrerin
-zu werden; ihre Befähigung weist auf andere Gebiete hin; ich könnte
-sie mir eher als Diakonisse, ja als Stütze der Hausfrau denken; Ihnen
-aber möchte ich dringend raten: Werden Sie Lehrerin! Sie haben vom
-lieben Gott genau die Gaben erhalten, die zu einer solchen Wirksamkeit
-gehören, während man Ihnen als Stütze der Hausfrau wenigstens
-in der ersten Zeit noch anmerken würde, daß Sie bei dergleichen
-Beschäftigungen nicht aufgewachsen sind.“
-
-Martha seufzte: „Wie gern würde ich Ihrem Rate folgen! Aber ich müßte
-doch erst ein Examen machen; das kostet Geld -- woher soll ich das
-nehmen?“
-
-„Da läßt sich wohl Rat schaffen“, sagte der Hausherr freundlich; „ich
-habe mit meiner Frau gesprochen und will Ihnen sagen, wie wir denken.
-Unser Wirt hat eine sehr gut ausgebaute Bodenkammer, die wird er Ihnen
-für einen sehr geringen Preis geben, und Sie räumen Ihre Möbel und
-Sachen da hinein; wir sehen dann zu, daß wir Ihre Wohnung zum April
-noch weiter vermieten können. Sie ziehen zu uns, teilen Suschens
-Stübchen und sind unser lieber Gast. Gold und Silber haben wir leider
-selbst nicht, aber was wir haben, das geben wir gern, nämlich Obdach,
-Heimat, Verpflegung, so lange Sie es gebrauchen. Doktor W., mein
-Freund, bildet eine ganze Schar junger Mädchen fürs Lehrerinnenexamen
-aus. Sie sind so sehr viel besser vorbereitet durch Ihren trefflichen
-Jugendunterricht, als die meisten seiner Schülerinnen, daß ich
-überzeugt bin, Sie können das Ziel in ein und einem halben Jahre
-erreichen, besonders wenn ernster Wille und redliche Anstrengung dazu
-kommen. Nun, haben Sie wohl Mut, diesen Weg zu gehen? Es ist wohl
-möglich, daß etwas von Ihrem kleinen Notpfennig dabei noch aufgezehrt
-werden muß; aber ich denke, er trägt so die besten Zinsen.“
-
-Martha konnte nur danken, mit tiefgerührtem Herzen danken für so viel
-Güte.
-
-„Ist nicht nötig, ist gar nicht nötig“, sagte der Direktor, „es wird
-ein ganz angenehmer Zuwachs für unsere Familie sein. So, nun schlagen
-Sie ein! Und nun werde ich dich, liebe Martha, ganz als meine älteste
-Tochter betrachten, so lange du bei uns bist. Sage du von heute an:
-Onkel und Tante Werner! da wird es uns allen behaglich sein!“
-
-Martha mußte durch ihre Thränen lächeln, und Suschen, die eben
-hereingeschlüpft war, umarmte sie so stürmisch, daß sie fast erdrückt
-wurde. In den Kreis ihrer Geschwister kam bei der Nachricht, daß Martha
-jetzt hier bleiben würde, eine so freudige Aufregung, daß Suschen und
-Frau Werner Mühe hatten, sie so ruhig zu erhalten, wie es bei der
-traurigen Gemütsstimmung ihres Gastes nötig war.
-
-
-
-
-9.
-
-Bei Werners.
-
-
-Da in H. Wohnungsmangel war, wurde die Wohnung, welche Frau Feldwart
-innegehabt hatte, noch im Laufe des Monats weiter vermietet. Es
-kamen für Martha die schweren Tage des Ausräumens, und Suschen half
-ihr mit Arbeit und Teilnahme, so viel sie immer konnte. Die Kommode
-der Urgroßmutter, der Nähtisch, Ajax und das Vögelchen wanderten
-mit zu Werners, um es der Verwaisten dort heimisch zu machen; alle
-Familienglieder trugen ihr Mitgefühl und Liebe entgegen und suchten
-ihr dieselbe auf alle mögliche Weise zu zeigen. Dennoch vergingen
-Wochen, bevor sie sich in den neuen Verhältnissen zurecht fand. Die
-Stunden kamen nicht selten, wo der Anblick des reichen Familienkreises
-ihr die eigene Verlassenheit noch deutlicher und schwerer zum
-Bewußtsein brachte und die Sehnsucht nach ihren Lieben so mächtig
-erregte, daß sie kaum darüber Herr werden konnte. Die neue, ernste
-Thätigkeit, in welche sie sofort eingetreten war, half ihr wohl dabei,
-kostete ihr aber, so gern sie von Jugend auf gelernt hatte, doch oft
-Überwindung. Ihr Wissen war auf vielen Gebieten reicher, als es für das
-bevorstehende Examen verlangt wurde, und Doktor W. hatte seine große
-Freude daran, aber in manchen Dingen war es mangelhaft. Sie hatte,
-besonders seitdem sie der Schule entwachsen war, volle Freiheit gehabt,
-zu lernen und zu treiben, was sie innerlich zumeist anzog; jetzt mußte
-es nun systematisch vorwärts gehen, gleichmäßig in allen Fächern, in
-ganz bestimmten, ziemlich engen Schranken; das kostete ihrer lebendigen
-Natur manchen Kampf und manchen Seufzer.
-
-„Wenn ich später Kinder zu erziehen habe, lasse ich ihnen gewiß mehr
-Freiheit!“ dachte sie. Dennoch konnte sie nicht umhin, anzuerkennen,
-daß solche ins System gebrachte, fest geregelte Thätigkeit auf den
-inwendigen Menschen beruhigend wirkt. Auch das Arbeiten in Gemeinschaft
-mußte sie erst lernen; da sie das einzige Kind war, hatte sie für
-solche Beschäftigungen ihr Zimmer und vollständige Stille um sich her
-gehabt. Dies ging bei Werners nicht an, wenigstens jetzt nicht. Der
-April und der Anfang des Mai brachten rauhe, kalte Luft; man mußte
-heizen. Im großen Speisezimmer arbeitete der Sekundaner mit Luise
-und den Zwillingen; der Martha ward an derselben langen Tafel ihr
-Platz angewiesen. Da zuckte sie manchmal zusammen, wenn sie im Denken
-und Lernen durch ein unerwartetes Tischbeben oder eine sehr unnütze
-Bemerkung unterbrochen wurde. Seitdem aber Wilhelm lachend gefragt:
-„Sind Sie nervös, Martha?“ nahm sie sich sehr zusammen; als nervös
-mochte sie durchaus nicht gelten; sie fand auch in der That, daß die
-Gewohnheit sie nach und nach gegen solche Eindrücke weniger empfindlich
-machte.
-
-„Du arme Martha!“ sagte Frau Werner mitleidig, „im Sommer wird es
-besser, da kannst du auf deinem Stübchen allein sein.“
-
-„Ach, ich glaube, bis dahin bin ich ganz daran gewöhnt“, sagte Martha
-freundlich.
-
-„Dann ist es desto besser“, erwiderte die Mama sehr zufrieden; „wir
-Frauen erlangen ungestörte Muße für unsere Arbeiten nur in den
-seltensten Fällen, in den glücklichsten Verhältnissen am wenigsten;
-da ist es ein großes Glück, wenn man lernt, in der äußeren Unruhe die
-innere Ruhe festzuhalten; stilles Ertragen kleiner Störungen kräftigt
-mehr als man denkt, und trägt viel dazu bei, den Lebensweg zu ebnen.“
-
-Auch das Verhältnis zu den verschiedenen Familiengliedern brachte
-manche Schwierigkeit. Jede neue Lebenslage bietet solche dar; schwache
-und selbstsüchtige Naturen steigern sie für sich und andere oft bis zur
-Unerträglichkeit; kräftige und treue überwinden sie mit Gottes Hilfe
-und finden darin die beste Schule und den größten Reichtum fürs Leben.
-
-Der Sekundaner hatte eben angefangen, ein wenig über die Zeit
-hinauszukommen, wo es heißt: „Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe.“
-In solcher Zeit pflegen zwischen großen Brüdern und erwachsenen
-Schwestern intime Freundschaften zu entstehen. Er war gewohnt gewesen,
-all’ seine Erlebnisse Suschen mitzuteilen, wie sie seine Heimkehr
-aus der Schule kaum erwarten konnte, um all’ die Dinge mit ihm zu
-besprechen, die für ein achtzehnjähriges Herz Bedeutung und Wichtigkeit
-haben. Nun kam Martha und nahm Suschens Neigung und in jeder freien
-Stunde auch Suschens Zeit so in Beschlag, wie er es nicht für möglich
-gehalten hatte. Der junge, sehr hübsche Gast war ihm keineswegs
-gleichgültig; er versuchte sehr ernstlich, auf Spaziergängen oder
-abends im Garten der dritte im Bunde zu sein; da man ihn aber nicht
-gerade huldvoll aufnahm, ward er verstimmt und kam in Versuchung, zu
-den eben überwundenen Gewohnheiten der Flegeljahre zurückzukehren. Er
-entwickelte eine merkwürdige Geschicklichkeit darin, auf den Zehen
-näherzuschleichen, Bruchstücke aus der Unterhaltung der Mädchen zu
-erlauschen und dieselben in der verdrehtesten Gestalt wieder zutage
-zu bringen, gerade, wenn es die beiden Freundinnen am meisten in
-Verlegenheit brachte. Er band auch wohl heimlich Suschens langen Zopf
-an Marthas Taillenband fest, wodurch sehr unangenehme, ja manchmal auch
-schmerzhafte Verwickelungen entstanden, und die ärgerlichen Ermahnungen
-der Frau Direktorin halfen immer nur auf kurze Zeit. Eine treue
-Bundesgenossin hatte er, nicht in seinen Ungezogenheiten, aber in der
-Eifersucht auf Marthas Freundschaft mit Suschen, an seiner Schwester
-Luise, die es gar nicht begreifen konnte, warum sie in letzter Zeit so
-ganz in den Hintergrund gedrängt wurde, und die beiden redeten sich
-recht geflissentlich gegenseitig in den Ärger hinein.
-
-Frau Werner sprach anfangs nur zum Frieden: „Bedenkt doch, wie die
-arme Martha noch so fremd hier ist; sie hat jetzt eine Freundin nötig;
-wenn sie ihre Traurigkeit erst etwas überwunden hat, wird das ganz von
-selbst besser.“
-
-Der Direktor sah die Sache mit heimlicher Belustigung; die kleinen
-Konflikte machten ihm Spaß, weil er eine glückliche Lösung voraussah;
-aber er konnte es nicht lassen, zuweilen etwas ironisch zu werden.
-Auf Spaziergängen, wenn alle sich an einer schönen Baumgruppe oder
-freundlichen Aussicht erfreuten, störte er das eifrige Zwiegespräch
-der Mädchen: „Nun, ihr Geistesabwesenden, thut nur auch einmal euere
-Augen auf, damit ihr etwas von Gottes Schöpfung gewahr werdet!“ Oder
-er läutete hinter ihren vereinigten Köpfen mit der großen Tischglocke:
-„Versunkenheit, Versunkenheit weiche! Das Abendbrot soll in den Garten
-gebracht werden.“
-
-Gerade, weil Martha fühlte, daß die freundliche Rüge von ihr verdient
-war, traf sie dieselbe oft recht empfindlich; sie war als einziges Kind
-an große Schonung gewöhnt.
-
-Die Sache erreichte ihren Höhepunkt, als eine Cousine von Suschen,
-Josephine, in schöner Abkürzung nur „Phine“ genannt, auf Besuch kam.
-Sie war eine sehr wenig anmutige Erscheinung, eckig im Benehmen,
-wortkarg, wenig angeregt zu geistigen Interessen, mit einem Worte:
-den beiden Unzertrennlichen sehr unsympathisch. Dies ließen sie auf
-eine sehr unliebenswürdige Weise dem Gaste merken; sie wußten mit
-wunderbarer Geschicklichkeit denselben von ihren Zwiegesprächen
-auszuschließen, und Phine ging auf gemeinsamen Wanderungen, wenn
-nicht etwa der Direktor oder die Hausmutter sich ihrer annahm, mit
-gefurchter Stirne ihren Weg allein. Die Eltern beide sahen dies mit
-wirklichem Schmerz; des Direktors humoristische Bemerkungen wurden
-bitter und beißend; seine Frau nahm eines Morgens, als Phine noch
-schlief, die beiden Freundinnen beiseite, und sagte ihnen ganz
-gründlich die Wahrheit: „Alles, was recht ist, lobt Gott! ihr Kinder.
-Ich habe euerer Freundschaft viele Rechte eingeräumt, aber wenn ihr
-mir die Gastfreundschaft verletzt, bin ich sehr böse. Ja, ja! seht
-mich nur erstaunt an; jede Freundschaft, jedes Verhältnis, welches
-so ausschließlich wird, daß man gar nicht mehr daran denkt, was man
-seinem Nächsten schuldig ist, wird Leidenschaft und Egoismus, und das
-muß bekämpft werden. Ich bitte mir von heute an aus, daß ihr euch
-ordentlich betragt, sonst trenne ich euch und schicke Suschen wieder
-auf Reisen!“
-
-Martha empfand es sehr tief, daß sie hier Ursache zur Unzufriedenheit
-gegeben hatte; Suschen gab sich noch nicht gleich: „Aber Mama! was
-sollen wir denn mit ihr anfangen?“
-
-„Das wird sich schon finden, wenn ihr ernstlich wollt; wie es in den
-Wald schallt, so schallt es wieder heraus; ich glaube, ihr habt noch
-nicht einmal ernstlich mit dem Hammer der Liebe bei ihr angeklopft; wer
-weiß, welche Goldstufen ihr findet, wenn ihr es thut!“
-
-Martha war sehr erschüttert von dieser Strafpredigt; sie hatte selten
-Scheltworte bekommen im Leben, und obgleich sie der Frau Werner in
-ihrem Herzen beipflichten mußte, fühlte sie sich doch sehr unglücklich
-und verlassen und griff zum Trost nach Urgroßmutters Briefen.
-Sonderbar! das erste, was ihr in die Hand fiel, war ein kleines Gedicht:
-
- Gastfrei zu sein vergesset nicht!
- Der heilige Apostel spricht;
- Bei manchem hat ganz unbeachtet
- Ein Gottesengel übernachtet.
- Drum hört, was der Apostel spricht:
- Gastfrei zu sein vergesset nicht!
-
- Drum sollst du auch ganz freundlich sein,
- Tritt unerwünscht ein Gast herein;
- Manch Englein hat die Flügel innen,
- Du würdest’s herzlich liebgewinnen,
- Sähst du ihm tief ins Herz hinein;
- Drum sollst du jedem freundlich sein.
-
- Gar mancher, der dir nicht gefällt,
- Ist recht zum Engel dir bestellt;
- Es sind nicht immer Sympathieen,
- Die ’s Herz nach Gottes Willen ziehen.
- Es thut gar wohl, so schwer’s oft fällt:
- Gut sein dem, der dir nicht gefällt!
-
-Nun es die Urgroßmutter sagte, mußte es wohl wahr sein! Martha prüfte
-sich ernstlich und kam auf manchen Punkt, der sie verklagte. Wo waren
-denn die lustigen Mittagsstunden geblieben, seitdem Suschen und sie
-im entferntesten Gartenweg wanderten und sich um die anderen nicht
-bekümmerten? Als sie abends allein auf ihrem Stübchen waren, gab Martha
-Suschen das Gedichtchen zu lesen; ausführliche Besprechungen und gute
-Vorsätze schlossen sich daran, die mit aufrichtigem Herzen gefaßt
-wurden.
-
-„Wenn ich nur erst wüßte, wie man Phinen näher kommen könnte!“ sagte
-Suschen.
-
-„Wir müssen es versuchen!“ sagte Martha seufzend.
-
-Nun ist nichts schwerer, als den richtigen Anfang einer Unterhaltung zu
-finden, wenn man mit der feierlichen Absicht, eine solche zu beginnen,
-an jemanden herantritt.
-
-Phine, teils beleidigt durch die erfahrene Zurücksetzung, teils bequem,
-war einsilbig und schien die Annäherung ihrer Altersgenossinnen fast
-nur mit gnädiger Herablassung zu dulden; Suschen kehrte ihr bald den
-Rücken und verschwand. Martha versuchte jedes mögliche Thema.
-
-„Haben Sie Geschwister?“
-
-„Ja.“
-
-„Brüder oder Schwestern?“
-
-„Von beiden.“
-
-„Ist T. ein angenehmer Ort?“
-
-„Es geht!“
-
-„Kommen Sie viel in Gesellschaft?“
-
-„Manchmal!“
-
-„Wird dort auch musiziert?“
-
-„Himmel, wie kommen Sie nur darauf, mich in einem fort zu fragen!
-Lassen Sie mich doch zufrieden; es interessiert Sie ja alles nicht!“
-
-Es war eigentlich wahr, Martha gestand sich’s zu ihrer Beschämung; aber
-wie in aller Welt sollte sie da eine Annäherung beginnen?
-
-Gegen Abend wanderten alle in den Garten; der Gärtner hatte
-verschiedene Beete neu bepflanzt, eins derselben recht geschmacklos mit
-lauter gleich großen Pflanzen, von denen keine zur Geltung kam und jede
-der anderen Luft und Sonne wegnahm. Josephine ging einigemal um das
-Beet herum und schien in seine Betrachtung völlig versunken zu sein.
-
-„Ich dächte, das Beet wäre nicht eben schön“, sagte Martha.
-
-Das erste freundliche, verständnisvolle Lächeln erschien auf Phinens
-Gesicht: „Nein, das ist es wirklich nicht; wenn da in der Mitte nur
-ein einziges Heracleum oder eine Staude Zuckerrohr und ein paar
-Maispflanzen ständen; dann etwa diese Gladiolus, ringsum vielleicht
-noch Astern und am Rande weiße Vergißmeinnicht -- das wäre ein hübsches
-Beet. Ja, das verstand mein Großvater so schön! Ich wollte, Onkel
-Werner erlaubte mir, es einmal so einzurichten!“
-
-„Das würde er vielleicht thun; aber wäre es nicht schade um die
-hübschen Wicken und Winden?“
-
-„Ei, die könnten wir dort an der Laube anbringen; da fehlt etwas.“
-
-„Fragen Sie doch!“ riet Martha.
-
-„Ach, das wage ich nicht!“
-
-Beim Abendbrot redete Martha den Hausherrn an: „Onkel Werner, Phine und
-ich haben einen sehr großen Wunsch!“
-
-„Nun, und welchen?“ fragte er freundlich.
-
-Martha trug die Sache vor; der Onkel lachte: „Wenn ich da nur nicht aus
-dem Regen in die Traufe komme!“
-
-„Sie könnten es doch versuchen!“ bat Martha weiter. „Phine versteht
-sich darauf und wir könnten ihr helfen.“
-
-„Ja, wir alle! wir alle!“ riefen die Zwillinge.
-
-„Meinetwegen, versucht die Sache!“ entschied der Direktor. „Das
-Heracleum giebt euch Freund Friedhelm umsonst.“
-
-Wilhelm holte es, brachte auch noch einige Maispflanzen und ein
-Körbchen voll Vergißmeinnicht mit; Phine hob sorglich die überflüssigen
-Pflanzen aus; sie kamen unter die Aufsicht von Luise; Arthur und Hans
-durften an der Laube unter Suschens Aufsicht Löcher ausarbeiten,
-und Martha setzte die Pflänzchen mit geschickter Hand ein. Phine
-arrangierte indessen das Mittelbeet und Anna trug ihr in der kleinen
-Gießkanne immer wieder frisches Wasser zu. Die kräftige Mittelpflanze,
-obgleich sie ihre Höhe noch nicht erreicht hatte und jetzt die Blätter
-hing, hob das Beet sehr.
-
-„Ihr sollt ’mal sehen, wenn alles ordentlich anwächst, wie reizend
-es wird“, rief die Obergärtnerin; sie war ganz aufgelebt und nicht
-wiederzuerkennen.
-
-Die Garderobe war nun zwar nicht ganz ohne Schaden weggekommen, aber
-die Freude über das gemeinsam Geschaffene strahlte allen aus den Augen.
-
-Dies war der Anfang vieler Vergnügungen; abends mußte man gießen;
-hier und da wurden noch Verbesserungen für nötig befunden; die
-ganze junge Familie entwickelte ein nie gekanntes Interesse an der
-Gärtnerei, und Josephine gab eine sehr geschickte Lehrmeisterin ab.
-Auch verstand es niemand so gut wie sie, die Ranken des wilden Weines
-und des Geisblattes zierlich aufzubinden oder aus wenigen Blumen einen
-anmutigen Strauß zu schaffen.
-
-„Woher kannst du das alles, Phine?“
-
-„Von meinem Großvater“, erwiderte sie; „sein Garten war sein Liebstes,
-und ich war, bis er starb, sein Gehilfe darin; ich liebe die Pflanzen
-gar zu sehr! Es fehlt mir hier nur eine sehr zierliche, feine
-Blattpflanze, die wir zuhause in Fülle hatten.“
-
-„Weißt du den Namen nicht?“
-
-„Nein, aber ich habe oben einige gepreßte Exemplare.“
-
-Sie holte dieselben, um sie den Kindern zu zeigen, und alle waren
-erstaunt, wie schön sie gepreßt waren, wie unverletzt die Farben.
-
-„Können wir das auch lernen?“ fragte Luischen.
-
-„Freilich, das kann jeder lernen; ich werde heute Nachmittag recht viel
-Löschpapier holen und euch das Verfahren zeigen.“
-
-Es ging nun mit Eifer ans Einlegen und Pressen; auch Martha trieb es,
-um die Ränder ihrer Zeichnungen mit dem getrockneten Gras und Moos zu
-schmücken; die Kinder suchten das nachzuahmen, und alle fühlten, wie
-schön es sei, wenn eins vom anderen nimmt und einer dem anderen giebt,
-viel schöner, als seinen Gedanken nachzuhängen und unbekümmert um die
-anderen seine einsame Straße zu ziehen. Ja, Martha und Suschen merkten
-zu ihrem Erstaunen, daß ihre einsamen Plauderstunden am Abend und
-Morgen nicht an Reiz verloren und viel an Reichtum gewannen, seitdem
-sie sich mehr den Interessen der anderen Hausgenossen anschlossen. Als
-Martha einmal teilnehmend Josephinen nach dem Großvater fragte, da kam
-die Goldstufe in dem Herzen der Enkelin wirklich zutage; hier verstand
-sie Martha nur zu gut; und als endlich der Gast wieder seiner Heimat
-zufuhr, schied er mit Thränen und wurde mit Thränen entlassen.
-
-„Die Urgroßmutter hat doch wieder recht behalten“, sagte Martha.
-
-Ja, die Urgroßmutter! ihre Papiere und Briefe lieferten reichen Stoff
-zu den Unterhaltungen der beiden Mädchen; denn Suschen durfte jetzt mit
-darin studieren. Sie interessierte sich besonders für die praktische
-Armenpflege, die oft darin erwähnt wurde, und wenn sie, ihr Körbchen am
-Arm auf Pastor Wohlgemuths Geheiß zu seinen Kranken ging, that sie dies
-fast nie ohne eine stille Erinnerung an die ehrwürdige Frau, und ohne
-die Freude, auf ihren Wegen zu gehen. Ihre Lieblingspatientin war eine
-junge Frau, aus Weißfeld stammend, welche bald nach ihrer Verheiratung
-eine Brustentzündung bekommen hatte und infolge davon schwindsüchtig
-geworden war. Sie sah Suschens Besuchen stets mit großer Sehnsucht
-entgegen; diese fühlte sich ihr gegenüber besonders frei, da die
-Leidende nur um wenige Jahre älter war als sie.
-
-Eines Abends, nachdem Suschen die Kranke besorgt, umgebettet und
-erquickt hatte, klagte diese noch: „Ach, Fräulein! Mein armer Mann!
-heute hat er müssen eine Stunde vor Tage auf die Fabrik gehen, hat
-keine Zeit behalten, den Topf in die Grube zu setzen; Mittag ist er gar
-nicht nachhause gekommen, und nun findet er abends auch nichts Warmes!
-Er ist auch zu schlimm dran!“
-
-„Könnte ich denn etwas für ihn kochen?“ fragte Suschen.
-
-„Ach, das ist doch zu viel verlangt; aber Bier ist im Hause, gleich
-auf der obersten Kellerstufe, und Brot und Milch und ein Ei und Kümmel
-auch; ach, Fräulein, wenn Sie es thun wollten!“
-
-Suschen bereitete die Suppe und setzte sie auf dem Ofen warm.
-
-Pastor Frank, der sein früheres Gemeindeglied besuchen wollte, hatte
-ihrem liebevollen, anmutigen Thun eine Weile unbemerkt zugesehen. Als
-sie in den Hausflur trat, begrüßte er die junge Schülerin freundlich:
-„Wie freut es mich, daß Sie der Käthe so beistehen! Haben Sie ihr auch
-wohl etwas vorgelesen oder ernst mit ihr geredet?“
-
-Suschen errötete ein wenig: „O nein! lesen kann die Käthe für sich,
-wenn ich nicht da bin, und sprechen von so ernsten Dingen -- Herr
-Pastor, das wird mir schwer: ich kann viel besser mit meinen Händen
-helfen!“
-
-Er sah ihr in die hellen Augen und schwieg; er hatte sie erst ermahnen
-wollen, zu lernen, was sie nicht konnte; aber wie sie so vor ihm stand
-mit den klaren Augen und der demütigen Haltung, vermochte er’s nicht;
-er dachte: „Die Gaben sind verschieden; ihre bloße Erscheinung ist
-eine Erquickung; und das ist gewiß: ein Kind ist sie jetzt nicht mehr!“
-
-In mancher Beziehung war sie aber doch noch ein Kind.
-
-In Urgroßmutters Kommode fanden sich viele Flachs- und Webe-Rechnungen;
-das stimmte so ganz mit dem Lobe der Spinnekunst in manchem neuen
-Journal, und als der Herbst kam und der Weihnachtswünsche gedacht
-wurde, kannte Suschen keinen größeren als: „Ach, ein Spinnrad! und
-einen großen Haufen Flachs!“
-
-Frau Werner lachte darüber: „Von mir bekommst du das sicher nicht, mein
-Suschen!“
-
-„Aber Mama, warum nicht?“
-
-„Weil es für eine Spielerei zu teuer ist, und mehr als Spielerei in
-unserer unruhigen Zeit doch niemals wird!“
-
-„Aber Mama!“
-
-„Ja, liebes Kind, es ist ganz wie ich sage: An unsere Großmutter und
-Mütter wurden lange nicht so viel Anforderungen gestellt wie an uns;
-der Verkehr war ein viel langsamerer; es gab nicht so viel Stunden,
-Vereine und Vorlesungen; wenn sie ihr Spinnrad vor sich hatten, saßen
-sie tagelang hintereinander und zogen Faden auf Faden; da wurde was
-fertig fürs Haus. Sie konnten wohl recht hübsch dabei denken und
-sinnen; aber einem Kinde des 19. Jahrhunderts könnte es doch wohl
-etwas langweilig sein. Es würde auch ein teueres Leinen werden, mein
-Töchterchen; die Hände kommen eben den Maschinen doch nicht nach.“
-
-„Wie schade!“ seufzte Suschen.
-
-„Ja, liebes Kind, das läßt sich nun nicht ändern; wir können doch nicht
-Erfindungen und Industrie zurückdrehen, bis wir wieder ins adamitische
-Zeitalter kommen. Den Sinn des Fleißes, der Häuslichkeit, der Treue,
-der die Mütter bei ihrer Arbeit leitete -- den sollen wir pflegen, aber
-ihn mit Vernunft in Einklang bringen mit den Anforderungen der neuen
-Zeit; es gefällt euch ja doch gar nicht übel, daß ihr jetzt mehr Anteil
-habt am geistigen Leben; das möchtet ihr doch gewiß nicht beseitigen!“
-
-„Aber Rösners haben auch ihre Rädchen!“
-
-„Ja, die treiben es eben als eine hübsche Erinnerung an die
-großmütterliche Thätigkeit und eine nette Spielerei. Da es bei ihnen
-gerade nicht viel darauf ankommt, was sie vornehmen, so ist das nicht
-zu tadeln, und hätte ich ein altes Rad, so solltest du es meinetwegen
-zu gleichem Zwecke haben. Aber es darf niemand meinen, daß damit in
-unserer Zeit ein wirklicher Nutzen für den Haushalt geschafft wird, und
-besonders in unserem giebt es der nützlichen und nötigen Arbeiten so
-viel, daß man sich der überflüssigen lieber enthält.“
-
-Es war und blieb aber Suschen sehr niederschlagend. Als die beiden
-Mädchen in den Herbstferien bei Rösners waren, hatte Martha auf Trudens
-Boden das Spinnrad der Urgroßmutter gesehen, das auf die Dienerin
-vererbt war.
-
-„Ich spinne nicht darauf“, hatte diese gesagt, „wenn mir die Frau
-Amtsrätin auch im Winter noch Flachs giebt. Weil ich eben nichts
-anderes mehr thun kann, so verspinne ich den auf meinem zweispuligen,
-das trägt mehr ein!“
-
-Es war nicht schwer, Truden zu bewegen, das Rad an die Urenkelin
-abzutreten; in Weißfeld wohnte noch ein alter, geschickter Drechsler,
-dem ward es zur Reparatur übergeben, und wenn für Martha der Blick auf
-die äußere Weihnachtsfeier von irgendeinem freundlichen Strahl erhellt
-wurde, so war es die Aussicht, Suschen mit diesem Rade zu beglücken.
-Frau Amtsrätin hatte den Flachs dazu zu liefern versprochen und hielt
-ihr Wort.
-
-Die Überraschung gelang aufs beste. Als die Bescherung bei Werners am
-heiligen Abend vorüber war, kam Hans als Knecht Ruprecht und brachte
-im Namen der Urgroßmutter das feingeschmückte Rädchen; der Flachs war
-durch Trudens geübte Hand kunstgerecht aufgelegt; ein schönes, buntes
-Wockenband umgab ihn. Suschen wurde ganz rot vor Freude. Sie hatte ja
-alle Vernunftgründe in der Rede der Mutter eingesehen; aber Vernunft
-treibt Herzenswünsche selten aus, und als sie nun vollends vernahm,
-daß es das Rad der Frau Anna Martha Waldheim war, deren Name, allen
-sichtbar, am Querbrett prangte, kannte der Jubel gar keine Grenzen, und
-es wurde ihr schwer, dem Knecht Ruprecht zu gehorchen, der ihr gesagt:
-
- Aber von Weihnachten bis zum hohen Neujahr
- Muß ruhen das Spinnrädlein ganz und gar;
- Hört man es da nur einmal schwirren,
- So müssen die Hexen den Wocken verwirren.
- Erst wenn die hochheil’gen zwölf Nächte vorbei,
- Ist das Spinnen wieder gesegnet und frei.
-
-Die Eltern und Geschwister freuten sich mit ihr, und auch Martha,
-der die Erinnerung an die beiden letzten Weihnachtsfeste natürlich
-schwer auf der Seele lag, war dennoch glücklich über die gelungene
-Überraschung und konnte sich dem Glanz der Weihnachtssonne, der so
-besonders lieblich hineinstrahlt in einen großen Familienkreis, nicht
-entziehen.
-
-Als endlich die Zeit gekommen war und Trude der gelehrigen Schülerin
-Handgriff und Tritt beigebracht hatte, saß Suschen stolz auf ihrem
-Schemel, zog Faden auf Faden, und erschien sich, als sei sie nun
-ganz auf den Pfaden der Urgroßmutter. Sie fing auch gleich an zu
-überlegen, wie viel sie weben lassen wollte, erkundigte sich, wie viel
-oder vielmehr wie wenig der Weber gebrauche, um ein Dutzend Handtücher
-fertigzustellen; als sie dann aber ihre Thaten mit seiner Forderung
-verglich, gestand sie sich heimlich, nur ganz heimlich, daß es ziemlich
-lange dauern würde, bevor das Gewünschte zusammen sei, und mußte es als
-ein großes Glück ansehen, daß die Familie mit dem Trocknen ihrer Hände
-nicht darauf zu warten brauchte. Das mußte man ja sagen: lieblich sah
-das Suschen aus, wenn sie hinter dem blanken Spinnrad saß; recht wie
-ein deutsches Mädchen mit ihrem klaren Gesichtchen und blonden Zopf.
-Pastor Frank, der jetzt wieder häufiger und ruhiger kam und sie eines
-Tages bei der neuen Arbeit überraschte, konnte sich auf dem Heimwege
-gar nicht losmachen von dem Bilde der Spinnerin, obgleich er halb und
-halb ärgerlich darüber war.
-
-„Sie macht wirklich einen sehr lieblichen Eindruck“, dachte er; „es ist
-schade, daß sie so wenig aus sich herausgeht; aber vielleicht schadet
-es nicht so viel; wenn der Pastor spricht und die Pastorfrau praktisch
-hilft, sollte es wohl auch gehen!“
-
-Der Winter ging friedlich und fleißig dahin, und nun in voller
-Harmonie. Die Scene während Josephinens Dasein hatte auf die beiden
-Freundinnen den besten Einfluß gehabt; sie bemühten sich jetzt mit
-aufrichtigem Herzen, gegen alle Familienglieder liebenswürdig zu
-sein. Daß Wilhelm nun wirklich als dritter in den Freundschaftsbund
-aufgenommen war, führte demselben einen großen Zuwachs an Ideen zu.
-Sein Herz war sehr warm für das allgemeine Wohl, sein Interesses
-groß für alles, was eben die Zeit bewegte: Stöckers Arbeitervereine,
-Bismarcks große Ideen waren Gegenstände seiner Schwärmerei; der
-Primaner konnte lange Reden halten, von Suschen und Martha höchlich
-angestaunt, obgleich sie oft noch recht jugendlich unreife Gedanken
-enthielten. Natürlich kam dergleichen auch am Mittags- oder Abendtische
-zutage, und machte die liebe Hausfrau ungeduldig.
-
-„Jetzt krähen die Hähnchen, wenn sie eben aus dem Ei gekrochen sind“,
-pflegte sie zu klagen; „ich kann es manchmal gar nicht anhören, wenn
-sie so unreifes Zeug vorbringen; und auch die Mädchen! Wir mußten uns
-ganz still verhalten, wenn von solchen Dingen die Rede war!“
-
-Der Direktor dachte anders darüber: „Natürlich müssen sie reifer
-werden; aber nur, was überhaupt existiert, kann wachsen und gedeihen;
-ich möchte keinen Sohn haben, der nicht seine Ideale in dieser
-Beziehung hätte, und eine Ansicht über diese Dinge müssen sich
-schließlich doch auch die Frauen bilden. Sie sind ja doch bescheiden
-erzogen, unter Fremden hören sie und schweigen. Laß du sie ja im
-Familienkreise sich aussprechen. Du glaubst auch nicht, wie es mich
-interessiert; ich bekomme dadurch ein genaues Bild von dem, was mehr
-oder weniger in all meinen Schülern lebt; es sind die Keime der
-Gedanken und Thaten einer kommenden Generation, die müssen wir Alten
-wohl beachten, mit unseren Erfahrungen stützen und schützen und mit
-unserer Liebe pflegen.“
-
-Frau Werner staunte oft, wie es ihr Mann verstand, sich auf den
-Standpunkt der Jugend zu versetzen und von da aus leise Irrtümer zu
-berichtigen und auf unreife Ansichten einzuwirken.
-
-„Auf manchen Gebieten“, dachte sie, „sind Männer geduldiger als
-Frauen, das macht, weil sie die Dinge mehr im großen und nach ihrem
-Zusammenhange fassen; es ist schön, das wir das von ihnen lernen
-können!“
-
-Auch die Kleinen wurden jetzt von Martha zärtlich beachtet; sie bemühte
-sich, ihre Eigentümlichkeiten kennen zu lernen, sie zu verstehen
-und ihnen etwas zu sein. Sie fand dies sehr lohnend. Jedes Kind war
-anders geartet, eines durch Freundlichkeit, das andere durch Ernst zu
-gewinnen; eines nahm die Dinge zu leicht, das andere zu schwer. „So
-werden meine Schülerinnen später auch sein“, dachte sie und machte ein
-völliges Studium daraus, ein jedes nach seinem innersten Wesen zu
-lieben und zu behandeln. Dies gelang ihr vortrefflich und Eltern und
-Kinder waren innig dankbar dafür. Alle fürchteten sich vor der Zeit, wo
-Martha ihnen entrissen werden sollte, und doch rückte sie unaufhaltsam
-näher.
-
-Im Sommer vor ihrem Examen fing ihre sonst so große Frische an zu
-schwinden unter den vermehrten Anstrengungen. Eine ernste Betrübnis kam
-dazu. Onkel Konsul, der ihr immer mitunter einmal geschrieben hatte
-und auf dessen treue Teilnahme sie sich allezeit verlassen konnte, war
-plötzlich gestorben. Seine Hinterlassenschaft kam in die Hände eines
-entfernt wohnenden Neffen, zu welchem Martha gar keine Beziehungen
-hatte, und so war das letzte Band gelöst, das sie noch an B. knüpfte,
-und das sie so gern festgehalten hätte, schon um Siegfrieds willen: „Wo
-soll er mich nun suchen, wenn er wirklich wiederkommt?“
-
-Rösners, die Martha herzlich liebten, baten sie sich in den
-Sommerferien aus; sie sollte in Weißfeld frische Milch trinken,
-fleißig spazieren gehen und auf alle Weise gepflegt werden. Es schlug
-auch leidlich an; sie bewohnte Urgroßmutters Stübchen und fühlte sich
-ungemein wohl und geborgen darin.
-
-Pastor Frank kam jetzt unbefangen und schien wieder heiter zu sein,
-versank aber manchmal in tiefe Gedanken: war ihm vielleicht auch jetzt
-klar, daß er sich in das Phantasiebild der Urgroßmutter verliebt hatte?
-O, es war ihm noch etwas anderes klar geworden, und dies versetzte
-Martha und Rösners in die größte Freude. Werners hatten versprochen,
-am nächsten Sonntag herauszukommen, und man rüstete freudig zu ihrem
-Empfange. Freitag war Pastor Frank zur Stadt gegangen und erst spät
-am Abend heimgekehrt. Sonnabend früh schickte er Martha einen Brief
-ihrer Freundin; sie öffnete ihn mit Spannung, fürchtete fast schon eine
-Absage, aber Suschen schrieb:
-
- „O Martha! liebe Martha! Du sollst es ja zuerst und bis morgen ganz
- allein erfahren, was sich heute begeben hat und was ich ganz und
- gar noch nicht begreifen kann. Denke Dir, ich bin seit einer Stunde
- Braut, +seine+ Braut! ach, und eine so glückliche! Ich wollte es
- ja erst gar nicht glauben, als Frank mir sagte, er habe mich lieb;
- aber zuletzt merkte ich es doch, und ich glaube es ja zu gern. Morgen
- früh nach der Vormittagskirche wird das Geheimnis enthüllt; bis dahin
- schweige wie ein Stummer! Ich kann es eigentlich gar nicht erwarten,
- bis Ihr Euch alle mit mir freut. Lobe den Herrn, meine Seele!
-
- Deine glückselige Suse.“
-
-Leicht wurde es der Martha nicht, zu schweigen wie ein Stummer, und
-obgleich sie mit keinem Worte sich verriet, wurde es doch Rösners an
-ihrem erregten, oft gedankenvollen, dann wieder freudigen Wesen klar,
-daß etwas Außergewöhnliches in der Luft sei, und besonders die jungen
-Mädchen kamen in ihren Vermutungen der Wirklichkeit ziemlich nahe. Die
-Erwarteten erschienen zeitig am Sonntagmorgen, Suschen im blendendsten
-Weiß. Vor dem Gottesdienste, den alle gemeinsam besuchten, blieb alles
-im gewöhnlichen Geleis. Pastor Frank predigte über den Spruch: „Danket
-dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“ Man
-merkte ihm an, daß der Dank sehr warm aus seinem Herzen kam, und als
-die Eltern nach der Kirche ihn und Suschen als Brautpaar vorstellten,
-wußten es alle, wofür er zu danken hatte, und der Jubel wollte gar kein
-Ende nehmen.
-
-Jetzt konnte der Bräutigam nicht lange verweilen, da er den
-Nachmittagsgottesdienst noch vor sich hatte; aber beim Abendbrot
-da ging es an ein Feiern und Gesundheittrinken! Besonders Suschens
-Geschwister wurden es gar nicht müde, „Hoch!“ zu rufen, und der
-Bräutigam sah durchaus nicht aus, als hätte er schmerzliche Erfahrungen
-begraben müssen, um zur Freude dieser Stunde zu kommen; die liebliche
-Braut aber strahlte.
-
-Als man nach Tische im duftenden Garten wanderte, sagte Suschen
-zu Martha: „Ich lasse es mir nicht ausreden -- das Spinnrad der
-Urgroßmutter hat mir Segen gebracht!“
-
-„Das ist möglich!“ bestätigte Frank vergnügt. „Gefallen hattest du mir
-sonst schon; aber daß du meine liebe Frau Pastorin werden möchtest,
-wünschte ich zum erstenmale, als ich dich hatte spinnen sehen.“
-
-„Siehst du, Mama“, rief Suschen, „das Spinnen ist doch gut!“
-
-„Das sollst du mir auch tüchtig weiter treiben, mein Suschen!“
-versicherte der Bräutigam.
-
-Diese sah ihn etwas zweifelhaft an: „Ob das möglich ist, wenn ich nun
-richtig was zu thun bekomme?“
-
-„Ja, ist denn das Spinnen nicht etwas Ordentliches? Warum spinnst du
-denn?“
-
-„Ei, aus Vergnügen und zum Andenken an die Urgroßmutter.“
-
-Die Mutter und Frau Rösner machten dem Pastor die Sache klar.
-
-„Also auch nur eine Phantasie!“ sagte er nachdenklich. „Nun gottlob!
-unsere Verlobung ist doch keine, und in Ehren halten können wir das
-alte Spinnrad immer, wenn du auch nicht viel darauf fertig bringst!“
-
-Als Werners abgereist waren, faßte Frau Rösner auf den Rat ihres
-Hausarztes den schnellen Entschluß, mit ihrer jüngsten, etwas
-bleichsüchtigen Tochter Agnes noch einige Wochen nach einem kleinen
-Stahlbade zu gehen, und nahm Martha dahin mit.
-
-Lieblich gelegen zwischen waldigen Bergen sprudelten die stärkenden
-Quellen, köstlicher Tannenduft durchwehte den frischen Grund; das
-Wetter war herrlich, und die beiden Mädchen erblühten wie die Rosen
-und waren sehr vergnügt. Das männliche Geschlecht war in dem kleinen
-Bade nur spärlich vertreten; meistens sah man nur Mütter und Töchter
-hier wandern, und die schlank aufgeschossenen, jugendlichen Gestalten
-mit blassen Lippen waren weitaus in der Überzahl. Unser Kleeblatt
-hatte kein Verlangen nach weiterem Anschluß; es fühlte sich im Genusse
-der Natur und gegenseitiger Gesellschaft befriedigt. Die beiden
-Mädchen hatten die größte Freude daran, auf den kleinen Felspartieen
-umherzuklettern, Spireen und lilienartige Blüten zu sammeln, die
-dort in reicher Fülle wuchsen, um ihr Stübchen mit den zierlichen
-Waldkindern zu schmücken. Dann brachte ein leichter, zuweilen etwas
-gewagter Sprung sie wieder auf den Weg, und Frau Rösner sah ihren
-anmutigen, geschickten Bewegungen mit Wohlgefallen zu, bis eines
-Abends, da es etwas geregnet hatte, Martha an einer glatten Steinkante
-abglitt und sich den Fuß so verstauchte, daß der Arzt ihr für die erste
-Nacht Arnika-Umschläge und für einige Tage völlige Ruhe verordnete. So
-kam es, daß sie am nächsten Nachmittage, als fast alle Gäste des Hauses
-ausgeflogen waren, einsam mit ihrer Arbeit unter der Veranda saß,
-während ihr kranker Fuß wohl umwickelt auf einem weichen Schemel ruhte.
-
-Nicht weit von ihr hatten sich zwei kleine Mädchen auf der Schwelle
-der Veranda niedergelassen, eifrig lesend über ein Buch gebeugt, und
-noch etwas entfernter lag ein leichenblasses Kind von etwa zehn Jahren
-in einem Fahrstuhl, neben einem Tischchen, auf dem Bilder, Bücher,
-Spielzeug aufgehäuft waren.
-
-Die Kleine schien sich nicht darum zu kümmern; mit einem unendlich
-verdrießlichen Ausdrucke auf dem elenden Gesichte blickte sie nach
-einer älteren Person, die wie eine Bonne oder Wärterin aussah und sich
-nicht weit von ihr in ein abgegriffenes Bibliothekbuch vertieft hatte.
-
-„Sie sollen jetzt herkommen, Katharine, und mit mir spielen!“
-
-„Ach, ich habe es heute satt; ich habe zwei Stunden mit Ihnen gespielt,
-und Sie wollen doch alle Viertelstunden etwas anderes.“
-
-Das kleine Ding sah sie wütend an: „Ich sage es Mama, wenn Sie mich
-nicht unterhalten!“
-
-„Das können Sie immerhin thun; ich habe ihr schon gesagt, daß ich nur
-bis Michaelis bleibe, weil ich das Gequäle nicht aushalten kann.“
-
-Auf der Schwelle ging es auch eben nicht sehr friedlich zu: „Elli, du
-reißest mir ja das Buch fort!“
-
-„Ja, es gehört mir, Sophiechen, und ich will’s haben; ich kann sonst
-nichts sehen!“
-
-Bevor es sich Martha versah, entspann sich ein Streit, der an
-Heftigkeit zunahm und den begehrten Gegenstand aufs äußerste bedrohte.
-
-„Lest euch doch vor!“ riet Martha.
-
-„Das sollen wir nicht, weil wir öfter Halsschmerzen haben!“
-
-„Wenn ich euch aber nun vorlese?“
-
-Der Vorschlag fand Beifall.
-
-Martha öffnete das Buch von Johanna Spyri: ‚Was aus Gritlis Kindern
-geworden ist.‘ Sie begann, fühlte sich angezogen und las mit wachsendem
-Vergnügen.
-
-„Ach, Fräulein, Fräulein!“ rief die kleine Elende, „kommen Sie doch
-hierher!“
-
-„Das kann ich nicht, meines Fußes wegen; aber vielleicht ist deine
-Wärterin so freundlich, deinen Fahrstuhl zu uns zu bringen.“
-
-Es geschah. Die Kinder lauschten gespannt; nur zuweilen entspann sich
-eine ergötzliche Unterhaltung über die Abenteuer der Doktorskinder,
-und nicht nur die Zuhörer bedauerten es, sondern auch Martha, als
-die Erscheinung einer sehr vornehm aussehenden Dame die Unterhaltung
-unterbrach.
-
-„Wie kommst du hierher, Fanny?“
-
-„Ach, Mama, es wurde hier so schön vorgelesen!“
-
-Die Dame sah Martha sehr scharf beobachtend an: „Darf ich vielleicht
-fragen, mit wem ich die Ehre habe?“
-
-Martha nannte ihren Namen und sagte, daß sie als Gast von Frau
-Amtsrätin Rösner und zu ihrer Erholung hier sei.
-
-Zwei Fräulein, wie Martha schon bei Tisch bemerkt, die Töchter der
-Dame, traten jetzt herzu; die eine in sehr gerader, vornehmer Haltung,
-die andere anmutig grüßend und dann liebevoll über ihr krankes
-Schwesterchen gebeugt, mit demselben plaudernd und kosend.
-
-Frau v. Märzfeld, der Name war Martha aus der Badeliste bekannt, ließ
-sich das Buch reichen; da sie sich zu überzeugen schien, daß es keinen
-gefahrdrohenden Inhalt hatte, gab sie es huldvoll zurück und verschwand
-mit einem Wink an die Töchter, sie zu begleiten.
-
-Am anderen Nachmittage waren Elli und Sophiechen mit ihren Eltern
-ausgefahren und Martha mit Fanny und ihrer Wärterin allein. Erstere
-konnte sich schon ein wenig mehr bewegen und nahm absichtlich ihren
-Platz ganz dicht beim Fahrstuhl der Kleinen.
-
-„Wie schlecht“, sagte Fanny, „das Buch mitzunehmen!“
-
-„Aber Fanny, das ist doch nicht schlecht, das Buch gehört den Kindern!“
-
-„Sie können aber im Walde ohne Buch vergnügt sein, und ich langweile
-mich hier.“
-
-„Hast du denn schon all’ diese Bücher und Bilder besehen?“
-
-„Ach, die mag ich nicht!“
-
-„Vielleicht interessieren sie dich mehr, wenn du sie mir zeigst.“
-
-Es lag ein ganzes Heft mit Bildern aus B. obenauf. Martha kannte
-jedes Gebäude, wußte von jedem einzelnen etwas zu erzählen, was ihrer
-kleinen Zuhörerin Freude machte, bis diese ihr Leid vergaß und der
-unliebenswürdige Zug in ihrem Gesichtchen dem Ausdruck von Spannung,
-Interesse und Fröhlichkeit wich.
-
-Frau v. Märzfeld trat mit Frau Amtsrätin Rösner zugleich später in die
-Veranda; es erfolgte die gegenseitige Vorstellung und dann begann ein
-Gespräch, aus dem Frau v. Märzfeld Marthas Lebenslage und ihre Pläne
-erfuhr.
-
-Am anderen Morgen nach dem Bade bat sie Martha um eine Unterredung
-und schlug ihr vor, im Herbst als Lehrerin bei Fanny einzutreten:
-„Der Arzt sagt mir heute, daß ich das Kind nach dem Süden bringen muß;
-ich denke mit ihr im Winter nach der Schweiz zu gehen und möchte eine
-Deutsche mitnehmen, die sie unterrichtet und sich ihrer Pflege widmet;
-und da Fanny Vertrauen zu Ihnen zu haben scheint, wäre es mir lieb,
-wenn Sie die Stelle annähmen. Sie müßten dann natürlich die leibliche
-Pflege des Kindes ganz mit übernehmen, denn zwei Personen kann ich
-nicht für sie halten!“
-
-Wie umfangreich die Pflichten sein würden, die sie hierdurch übernahm,
-konnte Martha natürlich jetzt noch nicht übersehen, aber es erschien
-ihr natürlich als eine Erleichterung, die unangenehme Wärterin los zu
-werden. Der Gedanke, die Schweiz zu besuchen, vielleicht den Genfer See
-mit seinen großartigen Umgebungen zu sehen, hatte für ihre jugendliche
-Phantasie viel Verlockendes; Fanny selbst schien große Freude an der
-Aussicht zu haben, und so versprach Martha, gleich nach der Heimkehr
-mit Werners zu reden und mit ihnen zu überlegen, ob es geraten sei, den
-Vorschlag anzunehmen.
-
-Suschen war betrübt: „Ich hoffte, du solltest bei uns bleiben bis zu
-meiner Hochzeit!“ Aber ihre Eltern, so gern sie Martha noch behalten
-hätten, fanden es doch verständig, auf die Sache einzugehen, die so
-ungesucht sich bot, natürlich unter der Bedingung, daß erst das Examen
-gut vollendet sei.
-
-Dies geschah; es wurde trefflich bestanden. Vierzehn Tage hatte Martha
-danach noch in dem gastlichen Wernerschen Hause verlebt; morgen sollte
-sie nach M. reisen, um die neue Stelle anzutreten. Sie saß noch einmal
-mit allen Wernerschen Geschwistern nach Tische in der Hinterstube in
-wehmütigen Abschiedsgesprächen.
-
-„Den Ajax lasse ich Ihnen, Wilhelm! Sie haben ihn immer gern
-gehabt; du, Suschen, bekommst meine Vögel.“ Für die anderen hatte
-sie Blumenstöcke, Bücher, Bildchen. Die Nußbaumkommode kam in die
-Dachkammer zu den anderen Möbeln, um dort geborgen zu werden, bis ihre
-Besitzerin sie wieder gebrauchen konnte.
-
-Gegen Abend wanderte Martha an Suschens Arme hinaus zum Grabe der
-Mutter und weinte dort heiß und lange; beim Abschied von Berlin hatte
-sie die Mutter noch zur Seite gehabt; beim Abschied von dieser hatten
-Werners sie in ihre Arme genommen; zum erstenmale zog sie jetzt allein
-hinaus in eine unbekannte Fremde; das war sehr schwer, und es währte
-lange, bis durch die dunklen Wolken ihrer Trübsal das Verheißungswort
-wie ein klarer Stern schimmerte: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der
-Welt Ende.“
-
-Die Kinder hielten indessen zuhause große Beratung: „Wir müssen doch
-heute Abend eine Abschiedsfeier halten. Es ist schade, daß Suse ganz
-bei Martha ist, die wüßte schon was!“
-
-„Wenn wir was sängen?“ sagte Luischen.
-
-„Ja, aber was?“
-
-Arthur stimmte an: „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein.“
-
-„Das geht nicht“, sagte Wilhelm, „wir werden schwerlich welchen
-bekommen heute Abend.“
-
-„So leb’ denn wohl, du altes Haus!“ riet Anna.
-
-„Na, dies noch“, rief Hans, „da könnte sie ja denken, sie wäre mit dem
-alten Hause gemeint.“
-
-„Morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen.“
-
-„Nein, das ist zu traurig. Hört“, sagte Wilhelm wichtig, „wir machen
-ein Lied! Ich fange jetzt an und jeder liefert eine Strophe:
-
- Will sich Martha ewig von uns wenden --
-
-„Nein, Wilhelm, das geht nicht! Das ist viel zu traurig; da weinen
-wir.“ Arthur begann:
-
- Weil unsre Martha scheiden will,
-
-„Will? Still?“
-
- So stehet uns der Atem still.
-
-„Na, dir scheint der Verstand still zu stehen“, sagte Wilhelm
-brüderlich galant.
-
-„Nein“, rief Annchen:
-
- Weil unsre Martha scheiden will,
- Ich sie mit Blumen kränzen will.
-
-„Ach, da ist zweimal ‚will‘, und du willst es ja auch nicht allein, wir
-wollen’s ja alle; das geht nicht!“
-
-„Nein, jetzt hab’ ich’s!“ rief Luischen; gleich ganz viel auf einmal.“
-
- Wir wollen dich gerne feiern
- Mit Liedern und mit Leyern,
- Und wissen doch nicht wie?
-
-Arthur fuhr fort:
-
- Wir hatten dich so gerne,
- Nun ziehst du in die Ferne,
- Und kehrest wieder nie --
-
-„Na, Arthur, sie wird doch ’mal wiederkommen?“
-
-Dieser zählte an den Fingern: „nie! sieh! Poesie! flieh! zieh! sie!
-hie! Das geht:
-
- Und wir, wir bleiben hie!
-
-„Schön ist’s eigentlich nicht“, sagte Hans; „wir wollen’s aber stehen
-lassen, wir sind sonst nicht fertig, bis sie kommen.“
-
-„Nun muß aber noch was von Blumen hinein“, sagte Luischen; „wir müssen
-sie zum Schlusse doch bekränzen.“
-
- Wir kränzen dich mit Blumen --
-
-„Blumen? Blüten? Es will wieder nicht!“
-
- Komm, laß dich jetzt bekränzen
- Mit Blumen, die da glänzen.
-
-„Ach was, das ist langweilig; jetzt so!“ rief Hans.
-
- Drum suchten wir im Garten
- Blumen von allen Arten
- Zu einem schönen Kranz.
-
-„Na, was reimt sich denn nun? Glanz -- ganz -- Schwanz?“
-
-„Nein, behüte! Schwanz!! Es geht ganz gut mit ganz.“
-
- Wir nehmen dich in die Mitten,
- Bekränzen dich und bitten:
- Vergiß uns nur nicht ganz!
-
-Sie waren sehr stolz auf ihr Machwerk, nur der Primaner schüttelte
-seinen Kopf; aber Arthur entschied: „Mitunter ist eine Silbe zu lang
-oder zu kurz, aber im ganzen ist es sehr schön. Das müssen wir singen!
-Wonach geht es denn?“
-
-„Ein bißchen nach ‚Ich hatt’ einen Kameraden‘, aber nicht ganz.“
-
-Wilhelm überlegte: „Wir singen es nach der zweiten Hälfte von ‚Ich
-hatt’ einen Kameraden‘ und wiederholen das immerzu; da paßt es
-vorzüglich.“
-
-Als die Freundinnen nachhause kamen, war der Kranz gewunden, die
-Musikanten aufgestellt und die Musik begann; aber so wenig die Scene
-auf Rührung angelegt war, sie erinnerte Martha an die Empfangsmusik
-vor zwei und einem halben Jahre; sie konnte dem nicht wehren, daß ihre
-Augen feucht wurden, und dies steckte an.
-
-Der Direktor trat herein.
-
-„Na, Kinder, macht euch das Herz nicht schwer; mir thut es auch leid,
-daß meine Pflegetochter fortgeht; aber hoffentlich denkt sie daran, daß
-sie hier stets ein Elternhaus und Elternherzen finden kann, so lange
-wir leben, und da giebt es ja doch wohl manches Wiedersehen. Heute
-Abend gebe ich eine Flasche Wein zum besten, da trinken wir Marthas
-Gesundheit!“
-
-Großer Jubel!
-
-„Dann können wir wirklich singen: ‚Wohlauf noch getrunken den
-funkelnden Wein!‘“
-
-„Ja, das könnt ihr!“ versicherte der Vater.
-
-Martha fühlte in dem allen die Liebe, die ihr hier eine Heimat
-bereitet, und das machte ihr das Scheiden so schwer.
-
-Als sie mit Suschen abends allein in dem trauten Stübchen war, das so
-viele Herzensergüsse belauscht hatte, da flossen freilich reichliche
-Thränen; aber Martha konnte nicht anders als danken, immer wieder
-danken für allen Segen, der ihr unter diesem Dache widerfahren war.
-
-
-
-
-10.
-
-Noch eine neue Schule.
-
-
-Als der nächste Abend dämmerte, bemerkte Martha, die still und einsam
-in der Ecke eines Damencoupés saß, in der Ferne die Türme von M. So
-sehr sie des Fahrens durch die einförmige Gegend unter dem grauen
-Herbsthimmel müde war, fing doch ihr Herz jetzt an, sehr ängstlich zu
-klopfen, und sie hätte gern den Flug der Lokomotive aufgehalten. Wußte
-sie denn, was dort unter den Türmen ihr begegnen würde? Wußte sie, in
-welches Verhältnis sie treten sollte zu den ihr so wenig bekannten
-Menschen? Eine Ängstlichkeit, die ihr bis dahin fremd war, kam über
-sie; jetzt wurde gehemmt, die Lokomotive gab das Signal, der Zug hielt.
-Zögernd und zitternd stieg sie aus; dichtes Menschengewühl umwogte sie
--- und kein bekanntes Angesicht darunter!
-
-Frau v. Märzfeld hatte ihr geschrieben, in welchen Hotelwagen sie
-einsteigen sollte. Als sie sich demselben näherte, trat ihr ein feiner
-Diener entgegen, fragte nach ihrem Namen und besorgte ihr Gepäck.
-
-In einer breiten, aber wenig lebhaften Straße hielt der Wagen vor
-einem großen, eleganten Hause. Der Bediente führte sie hinein und die
-erleuchtete Treppe hinauf in ein sehr sauber und nett eingerichtetes
-Stübchen.
-
-„Gnädige Frau lassen bitten, daß Sie es sich hier bequem machen.“
-
-Eine Dienerin kam und brachte Kaffee und feines Weißbrot. Martha war
-erquickungsbedürftig und nahm etwas weniges; aber es wurde ihr schwer,
-das wenige zu verzehren; sie fühlte sich gar so einsam und elend.
-
-Nach einer halben Stunde erschien der Diener aufs neue: „Gnädige Frau
-befehlen jetzt!“
-
-Martha folgte ihm. Sie hatte, nachdem Frau v. Märzfeld ihr den Antrag
-gemacht, Fannys Lehrerin zu werden, noch einige Tage mit den Damen
-zusammen in dem kleinen Badeorte verlebt; aber es erschien ihr in
-der Erinnerung, als sei sie dadurch denselben nicht näher, sondern
-ferner gekommen. Zwar die zweite Tochter Lucie hatte zuweilen recht
-freundliche Blicke und Worte mit ihr gewechselt, und manchmal war es
-Martha vorgekommen, als hielte irgendein unbekanntes Etwas dieselbe
-zurück, sich noch näher an sie anzuschließen; die ältere Tochter aber
-war vom Anfang an sehr zurückhaltend gewesen, und Frau v. Märzfeld
-eigentlich unnahbar. So hatte es denn durchaus nicht den Anschein eines
-Wiedersehens zwischen Bekannten, als Martha jetzt mit beklommenem
-Herzen ins Empfangszimmer trat.
-
-Die gnädige Frau saß steif und gerade in der Ecke ihres Sofas und
-musterte die Eintretende durch ihr Augenglas; zu beiden Seiten hatten
-auf Plüschsesseln Judith und Lucie Platz genommen, feine Stickereien in
-der Hand.
-
-Lucie erhob sich unwillkürlich, um der Eintretenden entgegenzugehen;
-Frau v. Märzfeld legte ihre Hand auf den Arm ihrer Tochter: „Nicht so,
-mein Kind! Fräulein Feldwart wird sich zu uns setzen.“ Damit zeigte sie
-auf einen Sessel, und Martha fühlte sich genötigt, nach einer ebenfalls
-steifen Verbeugung darin Platz zu nehmen.
-
-Nach einigen Redensarten, Marthas Reise betreffend, schien die Mama
-einen großen Anlauf zum Reden zu nehmen. Lucie wollte entfliehen; ein
-Blick ihrer Mutter zwang sie, sich wieder zu setzen, und diese begann
-jetzt nach einem kleinen Anfall von Verlegenheitshusten: „Fräulein
-Feldwart, wir haben uns in der Freiheit des Badelebens kennen gelernt;
-wir waren dort vollständig gleichberechtigte Personen. Sie stehen
-wahrscheinlich auch in der Bildung meinen Töchtern ziemlich gleich;
-dies hat seine wohlthuenden, aber auch seine schwierigen Seiten, und
-ich sehe es bei Ihrem Eintritt als meine erste Pflicht an, unsere
-gegenseitige Stellung ganz klarzulegen. Hätten wir unverweilt nach dem
-Süden gehen können, so hätte sich manches von selbst eingerichtet, oder
-wir hätten es nicht so genau zu nehmen brauchen. Unser Hausarzt wünscht
-aber, daß Fanny zuerst noch eine elektrische Kur gebrauchen soll, und
-ich habe hier so viel Geschäfte vorgefunden, daß wir vor dem Frühjahr
-schwerlich reisen können. Nun wollte ich Ihnen Folgendes sagen; nicht
-weil es mir Vergnügen macht, sondern weil ich es für nötig halte:
-Erwarten Sie als Fannys Lehrerin nicht, daß ich Sie meinen Töchtern
-gleichstellen und Sie zu unseren Zirkeln und unserer Geselligkeit
-heranziehen soll; dies paßt sich nicht. Sie werden stets die Stellung
-einer Untergebenen haben, und ich sage Ihnen das gleich, um Sie vor
-Täuschung zu bewahren. An unseren Mittags- und Abendmahlzeiten würde
-ich Sie gern teilnehmen lassen, wenn nicht Fanny durch ihre Schwäche
-genötigt wäre, im Kinderzimmer zu speisen; ich wünsche, daß Sie dies
-mit ihr gemeinsam thun und überhaupt das Kind so wenig als immer
-möglich verlassen. Was ihren Unterricht betrifft, so müssen Sie sehen,
-wo Sie anknüpfen und wie Sie durchkommen können; es versteht sich, daß
-das kranke Kind nicht angestrengt werden darf; aber so unwissend, wie
-sie jetzt ist, darf sie nicht bleiben.“
-
-Martha hörte still zu; die Farbe auf ihrem Gesichte wechselte
-einigemal; sie bezwang sich aber, und die Ruhe und Bestimmtheit der
-Prinzipalin gab ihr den Mut, ebenso ruhig zu bitten, daß man ihr
-gestatten möge, vorausgesetzt, daß Fanny nicht kränker sei, sonntäglich
-einmal zur Kirche und täglich eine Stunde spazieren zu gehen, was der
-Arzt ihr zur Pflicht gemacht habe.
-
-Es wurde ihr bedingungsweise gewährt: „Wenn es gutes Wetter ist,
-wird Fanny jeden Tag ausgefahren; dann wünsche ich, daß Sie in ihrer
-Begleitung gehen. Jetzt wird Lucie Sie hinauf zu Fanny bringen; ich
-habe diese Unterredung in Gegenwart meiner Töchter geführt, damit sie
-meinen Willen wissen; meine zweite Tochter hat große Neigung, sich über
-die nötigen Formen hinwegzusetzen.“
-
-Martha verbeugte sich und folgte ihrer Führerin die Treppe hinauf in
-einem sonderbaren Zustande: nicht aufgebracht, nicht entrüstet, aber
-wie mit Wasser begossen und kühl bis ans Herz hinan.
-
-Vor Fannys Thür wandte sich Lucie um: „Wir können uns doch lieb haben,
-Fräulein Martha, ganz gewiß!“ sagte sie, und Martha glaubte Thränen
-in ihren Augen zu sehen. Sie war etwas verwundert über dies schnelle
-Entgegenkommen, es machte sie beinahe verlegen.
-
-„Ja, Fräulein Lucie, aber wir müssen durchaus die Grenzen dabei
-festhalten, die Ihre Frau Mutter uns gesteckt hat; ich würde sonst ihr
-gegenüber in eine schiefe und unhaltbare Stellung kommen.“
-
-„Ach, und lieben Sie Fanny ein wenig; sie ist so unglücklich durch ihre
-Kränklichkeit!“
-
-„Gewiß will ich das!“ sagte Martha warm und trat über die Schwelle
-einer einfachen aber freundlichen Stube, hinter deren breitem Fenster,
-dessen Gardinen jetzt zugezogen waren, Fanny, von einer Hängelampe
-beleuchtet, in ihrem Rollstuhle lag.
-
-„Nun, guten Tag, liebe Fanny! Siehst du, hier bin ich; nun sage mir,
-wie es dir ergangen ist, seitdem wir uns zuletzt gesehen haben!“
-
-„Schlecht“, sagte sie, aber sie reichte Martha die Hand.
-
-„Wie so, schlecht? Hattest du vermehrte Schmerzen?“
-
-„Manchmal auch; aber das Elektrisieren ist so schrecklich, und
-Katharine war die ganze Zeit so schlimm zu mir, und das Hausmädchen
-thut mir immer so weh, wenn sie mich ankleidet!“
-
-„Vielleicht kann ich das lernen!“ sagte Martha freundlich.
-
-Es klingelte jetzt, und Lucie wußte, daß dies für sie das Signal sei,
-das Schwesterchen zu verlassen. Sie umarmte Fanny etwas stürmisch zum
-Abschied; das blasse Gesichtchen verzog sich schmerzlich.
-
-„Lucie ist gut zu mir“, sagte sie, sobald dieselbe das Zimmer verlassen
-hatte, „aber sie denkt nicht daran, wo es mir weh thut. Sie kann auch
-wenig bei mir sein; sie muß sich noch so viel üben im Singen und
-Zeichnen und muß auch viel in Gesellschaft gehen; Mama sagt, das sei
-für ein Fräulein nötig.“
-
-„Was thatest du denn heute Nachmittag?“
-
-„Was sollte ich thun? Ich sah in die Wolken; die bekommen immer
-andere Gestalten; man kann sich Riesen, Ritter und Drachen darunter
-vorstellen, die führen Krieg, laufen hintereinander her und fressen
-sich auf; das ist so unterhaltend!“
-
-„Kannst du nicht etwas lesen?“
-
-„O, lesen kann ich gut; als ich gesund war, hatte ich Stunde. Aber es
-ist in den Büchern immer so vieles, das ich nicht verstehe, und es ist
-niemand da, der mir ordentlich antwortet, wenn ich frage, als höchstens
-manchmal Judith; aber sie hat sehr wenig Zeit.“
-
-„Wie lange bist du denn so krank?“
-
-„Ich glaube, seit zwei Jahren; da war ich einmal, heiß vom Spielen, ins
-Wasser gefallen. Der Gärtner holte mich wieder heraus, aber ich wurde
-nie mehr gesund; ist das nicht schändlich?“
-
-„Schmerzlich, Fanny, oder betrübt! Siehst du, was uns der liebe Vater
-im Himmel schickt, das kann wohl schwer und bitter für uns sein, aber
-schändlich gewiß nicht!“
-
-„Das verstehe ich nicht, du sprichst ganz wie Margaretchen!“
-
-„Wer ist Margaretchen?“
-
-„Ach, die alte Näherin, die manchmal kommt; sie sitzt dann dort in der
-Nebenstube und speist mit mir! Die sagt auch, Gott habe mich lieb! Aber
-warum läßt er mich denn krank werden?“
-
-„Das wirst du auch noch einmal erfahren, Fanny! Jetzt können wir das
-noch nicht wissen!“
-
-Das Mädchen kam jetzt, deckte den Tisch und setzte Thee und kalte
-Speisen auf.
-
-„Werden Sie hier essen?“ fragte Fanny gespannt.
-
-Martha nickte.
-
-„Das ist schön! Katharine ging dann immer hinüber in die Gesindestube
-und kam nicht eher wieder, bis der Thee ganz kalt war.“
-
-Martha betrachtete sich die Sache: „Ich werde deinen Rollstuhl dicht
-an den Tisch heranbringen, das ist gemütlicher für uns beide. Du sagst
-mir jetzt, wie du die Butterbrötchen am liebsten hast, so richte ich
-sie dir ein. Meinst du nicht, daß so ein weiches Ei und etwas roher
-Schinken dir wohlthun würde? Siehst du, ich bin hungrig von der Reise,
-mir wird es auch schmecken. Aber erst wollen wir beten.“
-
-„Beten?“ fragte das Kind verwundert.
-
-„Ei, wir müssen uns doch beim lieben Gott bedanken für alle die guten
-Gaben, und müssen ihn bitten, daß er uns ferner nicht verläßt!“
-
-Fanny nickte ernsthaft.
-
-Martha sprach einfach: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und
-seine Güte währet ewiglich!“ Dann begann das Souper.
-
-Die Kleine hatte keinen frischen Appetit; Martha mußte ihr zureden, ein
-wenig zu nehmen; aber das half zuweilen.
-
-Man hörte jetzt Räder rollen und verschiedene Kutschen vor dem Hause
-anfahren; es wurde unruhig unter ihnen.
-
-„Mama hat heute Gesellschaft; ich schlafe auch nicht eher, bis Lucie
-mir Eis und Konfekt heraufgebracht hat; das thut sie jedesmal!“
-
-Martha zweifelte, ob es weise sei, dem kränklichen Kinde, das kein
-Verlangen nach einfacher, nützlicher Nahrung hatte, Dinge zu bringen,
-die ihr den Magen noch mehr verderben mußten; aber für heute mußte sie
-sich ja noch aller Eingriffe enthalten. Sie bat nur: „Lege dich immer
-einstweilen nieder, Fanny. Du ruhst besser, und ich bleibe hier neben
-deinem Bette!“
-
-Das Hausmädchen kam jetzt und Martha ließ sich das Nachtzeug des Kindes
-bringen.
-
-„Ich will sie heute einmal selbst auskleiden!“ sagte sie. Ihre leichte,
-geschickte Hand bewährte sich auch hier; Fanny jammerte wenig und
-erklärte sich zufrieden mit ihrem Beistande.
-
-„Bleiben Sie auch die Nacht über hier?“
-
-„Ich weiß noch nicht Bescheid im Hause; aber ich glaube, mein hübsches
-Zimmerchen muß ganz in der Nähe sein!“
-
-„Vielleicht ist es nebenan, Fräulein Feldwart? O bitte, öffnen Sie
-einmal die Thür und sehen Sie zu, ob es so ist!“
-
-Es war so! zu Fannys großem Jubel!
-
-„O nicht wahr, Sie lassen die Thür ein klein, klein wenig offen?
-Katharine schläft zwar hier in der kleinen Kammer und giebt mir, was
-ich gebrauche; aber es wäre zu schön, Sie so nahe zu haben!“
-
-Martha versprach dies gerne. Nichts hätte sie am heutigen Abend so sehr
-trösten können, als die Überzeugung, daß sie der kleinen Kranken lieb
-und nötig sei, und sie bat Gott innig, er möge ihr Kraft geben, dem
-Kinde in der rechten Weise beizustehen.
-
-Jetzt rauschte es auf der Treppe, und in einem schweren, dunkelblauen
-Seidenkleide, äußerst passend und geschmackvoll angethan, erschien Frau
-v. Märzfeld, um ihrer Kleinsten „gute Nacht“ zu sagen. Sie war wirklich
-eine auffallend stattliche Erscheinung, besonders fand Martha dies, als
-sie sich mit zärtlichem Mitleid über das kranke Kind beugte. Sie sah
-freundlich auf Martha, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war, um der
-Mutter Platz zu machen.
-
-„Nun, haben Sie sich schon ein wenig zusammen befreundet?“
-
-„Ich denke, gnädige Frau, und ich hoffe, wir werden es mit jedem Tage
-mehr thun.“
-
-„Das würde mir ganz außerordentlich lieb sein; dies kleine Wesen kann
-Licht und Hitze und Geräusch nur wenig ertragen, und doch ist es meine
-Pflicht, um ihrer Schwestern willen in der Gesellschaft zu leben. Es
-wäre mir eine große Beruhigung, sie nicht verlassen zu wissen. Aber
-plaudern sie nicht zu lange mit ihr, nach zehn Uhr muß sie schlafen.“
-
-„O Mama, heut’ ein wenig nach zehn; Lucie bringt mir erst noch Eis!“
-
-„Meinetwegen!“ sagte die Mutter freundlich, indem sie die Kleine zum
-Abschied küßte. „Fräulein Feldwart, Sie stehen mir dafür, daß es nicht
-zu lange wird!“
-
-Martha versprach es.
-
-„Bitte, erzählen Sie mir etwas“, bat Fanny, als sie allein waren.
-
-„Hat dir jemand schon aus der biblischen Geschichte erzählt?“
-
-„Jetzt lange nicht, früher wohl; ich glaube, Katharine wußte nichts
-davon.“
-
-„Weißt du, wer Jakob war?“
-
-„Ein wenig; ich glaube, er vertrug sich nicht mit seinem Bruder Esau.“
-
-Martha erzählte von Jakob; seinen Ausgang aus dem Vaterhause; seine
-Angst vor seinem Bruder, den er um sein Erstgeburtsrecht gebracht; wie
-er sich am Abend niederlegte auf einen Stein mit seinem Kopf, und ihm
-dann im Traume die Himmelsleiter erschien, an der die Engel hinauf- und
-herabstiegen.
-
-„O, das muß schön gewesen sein!“ sagte Fanny. „Giebt’s jetzt auch noch
-Engel?“
-
-„Freilich! Christus sagt von den Kindern: ‚Ihre Engel sehen allezeit
-das Angesicht meines himmlischen Vaters.‘“
-
-„Hab’ ich auch einen?“
-
-„Gewiß, Fanny, hast du deinen Engel, der an deinem Bette wacht, wenn du
-schläfst, und dich behütet, wenn du in deinem Rollstuhl liegst.“
-
-„Kann er mich auch gesund machen?“
-
-„Er wohl nicht; aber der Vater im Himmel, der den Engel sendet, und
-wenn es dir gut ist, thut er es gewiß; wir dürfen ihn alle Tage darum
-bitten.“
-
-„Ach, das wollen wir thun!“
-
-Das Gespräch wurde jetzt unterbrochen; von unten herauf drang nicht
-mehr das Gemurmel sprechender Stimmen, sondern silberklare Töne eines
-sehr schönen Flügels; es ertönte eine Sonate von Beethoven, dies konnte
-man deutlich unterscheiden, obgleich von den feineren Tönen natürlich
-viel verschwand.
-
-„Sie hören gern Musik?“ fragte Fanny.
-
-„Sehr gern!“
-
-„Ich sah es Ihnen an; Sie verstehen auch, was die Töne miteinander
-sprechen.“
-
-„Verstehst du das auch, Fanny?“
-
-„Natürlich; es ist eine andere Sprache als die, in der wir uns
-unterhalten; aber man fühlt ganz deutlich im Herzen, wie es gemeint
-ist.“
-
-Jetzt wurde präludiert; eine sehr frische, jugendliche Stimme sang
-reizende Lieder von Franz und Schumann; beide Zuhörerinnen lauschten.
-
-„O, das ist schön!“ rief Martha.
-
-„Geben Sie acht, wenn Judith singt, ist es noch schöner; das war
-Lucie!“
-
-Ja! Jetzt ertönte es unten: „Leise, leise, fromme Weise, Schwing dich
-auf zum Sternenkreise etc.“ Welche edlen, vollen, weichen Töne, welche
-vollendete Auffassung! Sie hätte kaum der stolz erscheinenden Judith
-solchen Gesang zugetraut; das kam aus dem Innersten -- daran war nicht
-zu zweifeln! Es war eine solche Wärme im Vortrag, daß Martha mit
-Entzücken zuhörte. Es war ihr sonderbar zumute; sie war zu lange und zu
-gern in der großen Geselligkeit zuhause gewesen, um nicht das Gefühl
-zu haben, daß sie dort unten ganz an ihrem Platze sein würde und ihre
-frische Singstimme wohl auch zur allgemeinen Freude erschallen lassen
-könne.
-
-„Wären Sie gern unten?“ fragte Fanny.
-
-Martha fuhr aus ihrem Traume empor, dem sie einige Minuten nachgehangen
-hatte: „Ich bin auch gern hier bei dir, Fanny!“
-
-„Ja, und Sie sind auch noch viel besser dran als ich; Sie haben doch
-Beine und könnten hinuntergehen, und würde Ihnen auch nicht gleich
-schlecht von all dem Lärm.“
-
-Man hörte jetzt unten vermehrte Bewegung.
-
-„Jetzt geht es zu Tische“, sagte die Kleine; „nun dauert es nicht mehr
-sehr lange, bis Lucie kommt mit dem Eis.“
-
-Nach einer kleinen Stunde erschien diese auch wirklich mit einem
-ganzen Präsentierteller voll der süßen Herrlichkeiten.
-
-„Ihr müßt jetzt beide schmausen; das sind ganz unschädliche Sachen, und
-ich bleibe so lange hier und sehe euch zu.“
-
-Martha sah mit großer Sorge die großen, süßen Vorräte: „Wird es auch
-Fanny nicht schaden, wenn Sie dies alles heute Abend verzehrt?“
-
-„O, was soll ihr das schaden?“ rief Lucie; „sie ist ja doch nur von
-Erkältung krank!“
-
-„Aber wir könnten ein wenig aufheben auf morgen“, begann Martha aufs
-neue.
-
-Lucie lachte: „Sie wissen nicht, was dies für ein kleiner Naschvogel
-ist!“
-
-Martha wurde überstimmt; erst, als alles aufgezehrt und Lucie zu ihrer
-Gesellschaft zurückgekehrt war, machte Fanny Anstalt, einzuschlafen.
-
-Martha sprach über sie mit gefalteten Händen den Vers:
-
- Breit aus die Flügel beide,
- O Jesu, meine Freude,
- und nimm dein Küchlein ein.
- Will Satan mich verschlingen,
- So laß die Englein singen:
- Dies Kind soll unverletzet sein!
-
-Fanny sah sie anfangs verwundert an, dann legte es sich wie Frieden
-über ihre unruhigen Züge.
-
-„Ja“, sagte sie beim Schluß, „jetzt will ich schlafen; ich sehe sie
-hinauf- und heruntersteigen, und sie singen schon.“
-
-Martha ging nun in ihr Stübchen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
-Es war ihr noch nicht klar, wie es hier weiter gehen würde; sie sah
-manches Schwierigkeit, manche Demütigung für ihre stolze Natur auf
-ihrem Wege liegen; aber sie empfand es als ein großes Glück, daß Fanny
-sichtlich ihr vertraute; und des Kindes Herz mehr und mehr zu gewinnen,
-ihr hartes Los zu erleichtern, ihr eine Freundin zu werden, das war
-eine Aufgabe, die wohl geeignet war, sie mit ihrer Lage auszusöhnen,
-und als sie endlich ermüdet ihr Lager suchte, war ihre Zuversicht so
-stark, daß Gottes Schutz und Obhut über ihrem Haupte sei, daß sie mit
-dem Kinde hätte sagen mögen: „Ich höre es, die Engel singen schon!“
-
-Am anderen Morgen brachte denn nun freilich das neue Tagewerk
-Schwierigkeiten genug. Zuerst wurde sie von ihrer Morgenandacht
-aufgeschreckt durch Fannys Jammergeschrei, die sich vom Mädchen
-ankleiden lassen sollte. Sie schien große Schmerzen dabei zu haben, und
-Martha eilte hinüber, um zu sehen, ob sie ihr nicht eine Erleichterung
-gewähren könne. Sie versuchte dem Mädchen Anleitung zu geben, die
-schmerzenden Glieder nach Möglichkeit zu schonen; diese gab sich auch
-die erdenklichste Mühe, aber vergebens; Fanny schrie weiter. Sobald
-Martha Hand anlegte, beruhigte sie sich sofort, und obwohl es unschwer
-zu durchschauen war, daß neben den Schmerzen ein nicht geringes Maß
-von Eigensinn der Grund des Jammers sei, blieb doch für Martha keine
-Wahl: sie schickte das Mädchen fort und suchte allein fertig zu werden.
-„Heute muß ich den Eigensinn ignorieren“, dachte sie; „bleibt es so,
-dann muß er natürlich bekämpft werden; aber wie?“
-
-Sie war jetzt erst 21 Jahre alt. So wechselvoll und zum Teil so schwer
-ihr Leben bis dahin gewesen war, so hatte sie doch bis gestern stets
-unter der liebevollsten Obhut gestanden; jetzt sollte sie auf eigenen
-Füßen stehen unter recht schwierigen Verhältnissen. Hätte Frau v.
-Märzfeld sie an sich herangezogen, hätte sie ihr mit Rat und That
-beigestanden, so wäre ihre Aufgabe leichter zu lösen gewesen; wie die
-Sachen jetzt lagen, konnte sie sich nur auf Gottes Hilfe verlassen.
-
-Gleich nach dem Frühstück kam Judith in sehr sauberem, elegantem
-Morgenanzuge, um zu fragen, wie ihr Schwesterlein geschlafen habe, und
-brachte einen sehr fein gebundenen Blumenstrauß mit. Fanny klagte, sie
-habe viel geträumt, Martha mußte bestätigen, daß sie recht unruhig
-gelegen und oft im Traume geseufzt habe.
-
-„Das haben Sie durch die Thür hören können, Fräulein Feldwart?“
-
-„O nein“, antwortete Martha, „ich ließ dieselbe ein wenig zwischen uns
-offen.“
-
-„Hast du das gewünscht, Fanny?“
-
-Fanny nickte.
-
-Judith dachte ein wenig nach: „Das geht durchaus nicht; wenn Fräulein
-Feldwart den ganzen Tag über bei dir sein soll, muß sie in der Nacht
-völlige Ruhe haben; hörst du, Fanny?“
-
-Martha bat: „Ich bin jung und gesund und würde doch nach Fanny
-hinhören, wenn auch die Thür zwischen uns geschlossen wäre! Vielleicht
-schläft auch mein armer, kleiner Zögling ruhiger, wenn sie diesen Abend
-nicht so viel Zuckerwerk und Eis bekömmt.“
-
-„Also doch wieder!“ sagte Judith nachdenklich und ging nach einer
-kleinen Weile.
-
-Fanny war verdrießlich: „Sie sind gerade so streng wie Judith, die will
-mir auch immer kein Zuckerwerk geben!“
-
-„Ja, Fanny, weil wir beide wünschen, du mögest bald gesund werden; da
-möchten wir dir nichts geben, was dir schaden kann.“
-
-Zunächst kam es nun für Martha darauf an, zu ergründen, wie weit
-Fanny auf den verschiedenen Gebieten des Wissens gekommen war; sie
-machte natürlich sehr unbefriedigende Entdeckungen. Lesen konnte sie,
-schreiben wegen ihrer schmerzenden Glieder nur sehr mangelhaft. Das
-Rechnen schien ihr ganz fremd und obendrein sehr zuwider zu sein;
-auch vor der Geographie mit ihren vielen Namen und Zahlen empfand sie
-große Scheu, und sowohl aus der weltlichen als biblischen Geschichte
-hatte sie nur einzelne Episoden behalten, welche das Gefühl und die
-Phantasie in besonderer Weise in Anspruch nahmen. Diese faßte sie, wie
-neulich die Geschichte von der Jakobsleiter, mit großer Lebendigkeit
-und Innigkeit auf; aber alles, was sich nur an den Verstand wendete
-und eigentliche Arbeit und Anstrengung erforderte, wies sie beharrlich
-zurück. Wäre ihr Leiden von der Art gewesen, daß man ein frühes Ende
-hätte befürchten müssen, so würde Martha gedacht haben: „Fliege du,
-fliege du bis in den Himmel hinein!“ denn Martha flog selbst gern. Aber
-abgesehen davon, daß ihr eigenes Herz nur schwer den Gedanken hätte
-fassen können, die junge Blüte unrettbar dahinwelken zu sehen, sprach
-auch der Arzt die sichere Hoffnung aus, sie werde das Leiden in einigen
-Jahren überwinden. „Dann“, sagte Martha, „darf sie nicht nur fliegen,
-dann muß sie auch gehen lernen“, und sie versuchte auf jede mögliche
-Weise, sie nach und nach an eine geregelte Thätigkeit zu gewöhnen.
-Methodisch, wie sie es gelernt und wie es in vollen Schulklassen
-meist so trefflich fördert, durfte sie hier nicht vorgehen. Hatte sie
-Fanny mit unsagbarer Mühe dahin gebracht, aufmerksam zuzuhören und
-vier bis sechs Fragen zu beantworten, so erklärte dieselbe dann aufs
-bestimmteste: „Ich kann nicht mehr, mein Kopf thut mir weh“, und war
-weder mit Güte noch mit Ernst auch nur einen Schritt weiterzubringen.
-
-Martha mußte förmlich auf neue Wege studieren. Sie fing an, Fanny im
-Gespräch für einen Gegenstand zu interessieren und suchte auf diese
-Weise die Begierde in ihr zu wecken, mehr von demselben zu erfahren.
-Sie benutzte ihre Ausgänge, um in den Buchhandlungen nach Reise-
-oder Lebensbeschreibungen zu suchen, welche für das kindliche Alter
-geeignet waren, aber auch hier ermüdete die schwache und verwöhnte
-Schülerin schnell. Martha fand bald, daß es besser ging, wenn sie
-sich über ein Land, ein Volk, eine Episode aus der Geschichte so viel
-als möglich Kenntnisse aneignete oder vergegenwärtigte und dieselben
-ihrer Schülerin dann frei und in möglichst angenehmer Form vortrug.
-Es war nicht zu leugnen, daß die junge Lehrerin auf diese Weise
-eine höhere Stufe erstieg; es kostete aber viel Zeit und Kraft, und
-inbezug auf Fannys eigene Anstrengungen war wenig gewonnen. Oft
-dachte Martha: „Wenn man doch nur die Grenze genau sehen könnte, wo
-das ‚Ich kann nicht!‘ in das ‚Ich will nicht!‘ übergeht!“ Der treue
-Hausarzt selbst war in dieser Beziehung unsicher; es ist schon bei
-erwachsenen Nervenkranken nicht leicht, die Grenze zu finden, wo man
-ihnen nachgeben und wo man ihnen widerstehen oder sie zu kräftigen und
-zu stärken suchen muß. Martha kam darin zu keiner rechten Klarheit; daß
-sie selbst jung, gesund und lebhaft war, riß die Kleine mitunter zu
-Anstrengungen fort, die ihr wohl bekamen, aber eine gründlichere Hilfe
-kam zuletzt auf eine andere Weise.
-
-Fanny hatte für religiöse Eindrücke, wie schon gesagt, ein
-empfängliches Gemüt; aber als ihre Lehrerin in der Religionsstunde
-den gewöhnlichen Weg einschlagen wollte, zuerst die zehn Gebote mit
-allen Erklärungen durchzunehmen, stieß sie wieder auf entschiedenen
-Widerstand: „Das kann ich nicht! das ist zu schwer!“ Die nahe
-Adventszeit richtete von selbst den Blick auf das Kommen des Heilandes;
-Martha nahm in den Frühstunden alle Verheißungen auf Christi
-Erscheinung, seine Geburt, sein Leben, seine Wunder, sein Leiden,
-Sterben und Auferstehen durch; und hier war nichts, was Fanny nicht
-mit ganzem Herzen erfaßt hätte; von hier aus war es leicht, Licht auf
-alle bis dahin dunklen Gebiete fallen zu lassen; eine neue Welt ging
-für Fanny auf, eine Welt der Liebe und des Friedens, die ihr bisher
-verborgen geblieben war, die ihr liebliches Licht hineinsandte in ihr
-Leiden und in ihr Herz und alle Bitterkeit daraus vertrieb. Mit ihrer
-Liebe zu dem Quell aller Liebe wuchs auch ihre Liebe für Martha, die
-ihr das neue Leben erschlossen hatte, und an die Stelle des bisherigen
-Widerstrebens trat das Verlangen, in allen Stücken zu thun, was diese
-wünschte, und obgleich leibliche Schwäche und große Verwöhnung ihr dies
-schwer machten, war es doch deutlich zu sehen, daß sie allmählich etwas
-vorwärts kam. Martha freute sich innig, daß ihre Thätigkeit sichtlich
-mit Erfolg gekrönt wurde; aber dieselbe forderte ein Aufbieten all
-ihrer Kräfte, und sie sehnte sich oft nach einer Ausspannung und
-Erquickung für ihr eigenes Herz.
-
-Die beiden älteren Töchter des Hauses fingen je mehr und mehr an,
-ihr Interesse zu erregen. Lucie war stets anmutig und freundlich,
-wenn sie ins Krankenzimmer kam; ja sie hatte anfangs ganz herzliche
-Anwandlungen! aber wenn ihr Martha mit sanfter Bitte entgegentrat, so
-oft sie das Schwesterchen mit Leckereien überschütten wollte, wurde
-sie verstimmt und verstimmte Fanny mit. Erst als einmal der Hausarzt
-sich ganz streng gegen solche Diät ausgesprochen hatte, unterblieben
-die Versuche dazu, und Martha wußte, daß sein Verbot durch Judith
-veranlaßt war, die ihre Sorge teilte. Judith behielt ihr ernstes,
-zurückhaltendes Wesen, sowohl dem Schwesterchen als Martha gegenüber,
-lange Zeit unverändert bei; aber wenn Martha es wagte, ihr Vorschläge
-zu machen, wie Fannys Lage in Wahrheit zu erleichtern sei, war dies nie
-vergebens; Judith dachte darüber nach und suchte zustande zu bringen,
-was Martha wünschte.
-
-Der Gärtner hatte bis jetzt jede Woche andere blühende Gewächse
-gebracht und die abgeblühten mit zurückgenommen, und Martha hatte
-mit Betrübnis gesehen, daß Fanny von ihrem reizenden Blumenfenster
-nur sehr wenig Freude hatte. Judith war eine große Blumenliebhaberin
-und betrübte sich über Fannys Gleichgültigleit ebenfalls. Als sie
-dies eines Morgens aussprach, sagte Martha: „Ich glaube, Fräulein
-Judith, Fanny würde viel größere Freude haben, wenn sie die Pflanzen
-pflegen und gedeihen sehen könnte und wenn sie selbst etwas zur Blüte
-brächte!“ Gleich am anderen Morgen erschien Judith in Gesellschaft
-eines Gärtnerburschen und brachte die verschiedensten jungen Pflänzchen
-mit; sie hatte sich beim Gärtner sehr sorgsam erkundigt, wie jedes
-zu behandeln sei, und weihte das Schwesterchen in das Geheimnis ein,
-indem sie ihr anschaulich schilderte, wie die Blüte und die weitere
-Entwickelung sein werde. Nun gab es jeden Morgen eine halbe Stunde
-der Thätigkeit und gespannten Aufmerksamkeit; die Pflänzchen wuchsen
-natürlich dem ungeduldigen Kinde lange nicht schnell genug; aber jedes
-neu hervorsprießende Blatt, jede Knospe und aufbrechende Blüte erregte
-Jubel.
-
-Martha sah Lucie fast nur in Gegenwart ihrer Mutter, und wenn sie
-heruntergeholt wurde, den Gesang der Schwestern zu begleiten; Frau v.
-Märzfeld wußte sie dann aber unter irgendeinem Vorwande sofort wieder
-zu entfernen. Auf Fannys Bitte hatte Martha dieser das Mozartsche
-„Veilchen“ und einige von den reizenden Taubertschen Kinderliedern
-vorgesungen, als Frau v. Märzfeld in das Zimmer trat.
-
-„Ich wußte nicht, daß Sie singen!“ sagte sie.
-
-„Ich sprach nicht davon, weil ich nur ein einziges Jahr Stunden hatte
-und abbrechen mußte, bevor der Unterricht irgendwie beendet war.“
-
-„Ich höre wenigstens, daß Sie sicher sind, und Sie sollen uns heute
-Abend aus einer großen Verlegenheit helfen. Judith ist leider heiser
-geworden; wir hatten für sie auf ein Duett und die erste Stimme eines
-Quartetts gerechnet; ich bitte, daß Sie ihre Stelle vertreten.“
-
-„Das thue ich gern“, sagte Martha; „nur möchte ich beides noch einmal
-durchsingen, und dann“ -- setzte sie fast verlegen hinzu -- „habe ich
-kaum ein Kleid, in solcher Gesellschaft zu erscheinen.“
-
-„Das wird niemand von Ihnen verlangen, indem Sie ja nicht als Glied der
-Gesellschaft kommen, sondern als die Lehrerin meines Kindes, die uns
-eine Gefälligkeit erweist.“
-
-Martha fühlte wieder den Sturz kalten Wassers, aber sie beherrschte
-sich. Sie hatte mit Lucie das Lied zu singen: „O, säh’ ich auf der
-Heide dort im Sturme dich etc.“ Beide durften es bei Fanny probieren
-und diese war entzückt davon: „Ich möchte sehen, wie sich alle über
-euch freuen.“
-
-Erst als sie gerufen wurde, und zwar sehr sauber, aber sehr einfach
-gekleidet, trat Martha in die Gesellschaft ein. Frau v. Märzfeld
-stellte sie vor: „Die Gouvernante meiner Fanny!“ Ihr wurde niemand
-vorgestellt. Ein junger Mann saß am Flügel, bereit, sie zu begleiten.
-Die ersten Töne, welche Martha sang, zitterten ein wenig; aber dann
-riß die Musik sie mit sich fort, und ihre weiche, biegsame Stimme
-entfaltete all’ ihre Fülle und Macht. Beifall erklang von allen Seiten,
-und als auch das Quartett zur höchsten Zufriedenheit beendet war, trat
-ein vornehm aussehender junger Herr zu Martha und fragte: „Wo hatten
-Sie Singstunde, mein Fräulein?“
-
-„In B., aber nur kurze Zeit.“
-
-„Man merkt das nicht; Sie singen allerdings mit mehr Freiheit, als eine
-junge Dame, die sich noch mitten im Lernen befindet, aber durchaus
-nicht, als wären Sie mit der Schule nicht fertig geworden.“
-
-Der Herr schien einiges von der Musik zu verstehen; sie kamen auf ihre
-Lieblingskomponisten, und da er ernst und gehaltvoll sprach, antwortete
-ihm Martha gern und freute sich der lebhaften Unterhaltung.
-
-Frau v. Märzfeld rauschte heran: „Graf T., vielleicht helfen Sie mir
-etwas, die Plätze zu arrangieren. Fräulein Feldwart, Ihre Schülerin
-wird nach Ihnen verlangen.“
-
-Martha verneigte sich und ging; es wurde ihr aber heute Abend schwer,
-sich mit Fanny zu unterhalten; immer wieder trat der wenig angenehme
-Auftritt vor ihr inneres Auge; sie schämte sich so sehr, daß sie nach
-dem Gesange auch nur eine Minute unten geblieben war. Sie ertappte
-sich einigemal dabei, daß eine Thräne auf ihre Arbeit fiel, und doch
-mußte sie sich eingestehen, daß ihr eigentlich nichts Schlimmes
-widerfahren sei -- sie war ja die Gouvernante; Frau v. Märzfeld hatte
-das Recht, zu wünschen, daß sie bei ihrem Kinde bleibe. Sie hatte
-sich auch vollkommen davon überzeugt, daß dieser nichts ferner lag,
-als sie kränken zu wollen, denn sie war zu anderen Zeiten aufrichtig
-dankbar für Marthas Bemühungen um das Wohl ihres Kindes. Sie hielt
-es offenbar für ihre heilige gesellschaftliche Pflicht, die Lehrerin
-auf der Stufe zu erhalten, die sie für angemessen hielt; aber fast
-nichts war dieser so schwer geworden, als dies ruhige, geflissentliche
-Hinausgetrieben-werden aus der Stellung, welche sie bisher im Leben
-eingenommen hatte. Sie mußte hart kämpfen, dies zu überwinden; es wurde
-ihr nicht erleichtert durch Luciens Entrüstung darüber und sie dachte
-lebhaft an Pastor Wohlgemuths Worte: „Sie werden klein und niedrig sein
-müssen, und das wird gerade für Ihre Natur sehr schwer sein!“ „Darum
-schickt es mir der liebe Gott“, dachte sie; „ich will es aus seiner
-Hand nehmen und desto mehr für Fanny sein, die es mir sichtlich dankt.“
-
-Frau v. Märzfeld liebte ihr kleines Mädchen wirklich und sorgte für
-dasselbe, so viel es möglich war, ohne in dem gestört zu werden, was
-sie als ihre Lebensaufgabe ansah, nämlich ihrer geselligen Stellung
-zu genügen und für ihre erwachsenen Töchter gute Partieen zustande zu
-bringen. Keine Ausgabe war ihr zu groß, wenn Martha Vorschläge machte,
-Fannys Lage zu verbessern und ihr Dasein auszuschmücken. Sie erkannte
-auch Marthas Thätigkeit und ihre Erfolge völlig an und sprach dies
-sogar zuweilen recht freundlich aus; nur die Kluft zu überbrücken, die
-nach ihrer Meinung zwischen ihrer Familie und Martha bestand, das fiel
-ihr niemals ein.
-
-Eines Tages, als Margaretchen im Nebenzimmer nähte, kam diese auf eine
-arme Familie zu sprechen, die den Vater plötzlich verloren hatte und
-nun in der größten Not war. Fannys weiches Herz war gerührt; sie hätte
-gern ihre reich ausgestattete Sparbüchse bis zum letzten Heller den
-Armen gegeben. Martha machte ihr begreiflich, daß es nicht richtig und
-schön sei, unüberlegt zu verfahren; sie versprach, sich morgen früh
-selbst nach den dringendsten Bedürfnissen der Leute zu erkundigen. „Und
-dann“, sagte sie, „müssen wir rechnen, ordentlich rechnen; denn wir
-müssen etwas behalten für die Geburtstage von Mutter und Schwestern,
-für die Missionskasse, für das Rettungshaus u. s. w.“ Und Fanny
-rechnete; sie rechnete hier, wo sie einen Zweck vor Augen hatte, mit
-Vergnügen, und Martha schöpfte Hoffnung, sie auch in dieser ihr bisher
-sehr widerwärtigen Kunst nach und nach weiter zu bringen. Da ihre
-kranken Fingerchen nicht imstande waren, Strümpfe für die verwaisten
-Kinder zu stricken, lernte sie wenigstens das leichtere Häkeln, um die
-Knaben mit Shawls zu versorgen.
-
-So verging der Winter unter vielerlei Anstrengungen, aber nicht
-fruchtlos und nicht freudenlos. Die angefangene Kur hatte die kleine
-Patientin so gekräftigt, daß sie nicht mehr gehoben und getragen werden
-mußte, sondern sich einige Schritte weit selbständig fortbewegen
-konnte. Die Tage wurden, sonnig, die Wege trocken; Fanny ward vom
-Diener jeden Tag ausgefahren, und Martha ging dann neben ihr, um sie
-aufmerksam zu machen auf Blumen, Bäume, Menschen, schöne Gegenstände in
-den Schaufenstern, und all’ die tausend Fragen zu beantworten, welche
-das Kind, angeregt durch so viel neue Eindrücke, an sie stellte. Sie
-that dies sehr gern, aber sie fühlte doch, daß ihr auf diese Weise die
-einzige Zeit zum Ausruhen, zur stillen Sammlung und zum Nachdenken
-über ihren nicht leichten Beruf genommen wurde. Der März befreite sie
-von diesen Wegen, aber nicht zu ihrer Freude. Fanny bekam den Husten,
-und dieser wollte keiner Arzenei oder sonstigen Verordnung des Arztes
-weichen; sie war wiederum aufs Zimmer angewiesen und war jetzt, an
-mehr Abwechselung gewöhnt, ein eigensinniger Patient. Am ersten April
-ging das Hausmädchen ab, um sich zu verheiraten, und Fanny war so
-unglücklich bei dem Gedanken, sich einer anderen Hand anzuvertrauen,
-daß Martha versprach, sie fortan allein zu pflegen. Das Glück des
-Kindes war ein großer Lohn; aber die Nerven, selbst Marthas kräftige
-Nerven ließen sich solche Überanstrengung nicht gutwillig gefallen;
-sie war zum erstenmal im Leben matt und reizbar, mußte gegen trübe
-Gedanken kämpfen und sehnte sich herzlich nach der versprochenen
-Übersiedelung nach dem Süden. Sie gehörte nicht zu denen, die viel
-über ihr leibliches Befinden zu grübeln pflegen und sich selbst große
-Wichtigkeit beilegen; aber sie empfand es mehr, als sie es sich
-eingestand, wie schwer es war, daß keiner mehr mit zarter, liebevoller
-Fürsorge sie beobachtete und ihr zu helfen suchte, wenn sich in ihren
-Gesichtszügen Abspannung, Müdigkeit, Kränklichkeit abmalte. Es wird den
-Eheleuten am Altar gesagt, daß ihr Stand „nicht ohne Kreuz“ ist; ach,
-ebenso gewiß und fast gewisser kann man vom Stand einer jungen Lehrerin
-sagen, daß er „Dornen in die Menge und manches Kreuz trägt“. Ist der
-innere Beruf und die volle Fähigkeit dafür vorhanden, dann werden
-solche Leidensstunden und Schwierigkeiten überwunden; hat nur Verlangen
-nach Freiheit und Selbständigkeit auf diese Bahn gedrängt, so entstehen
-daraus schwere Kämpfe, denen oftmals Leib und Seele unterliegen.
-
-Gegen Ostern kam der Hausarzt, um die Sommerkur mit Frau v. Märzfeld zu
-besprechen; seine Entscheidung lautete: „O, Sie brauchen gar nicht so
-sehr weit fortzugehen; gehen Sie Mitte Mai mit dem Kinde zur Molkenkur
-nach Heyden an den Bodensee, und ist dann etwa nach sechs Wochen der
-Husten ganz fort, so bringen Sie Fanny nach Ragatz oder noch lieber
-nach Pfäffers in der Taminaschlucht; da wird sie wahrscheinlich bald
-erstarken und beweglich werden.“
-
-Martha schwärmte für schöne Natur; sie wäre gern noch tiefer
-hineingekommen in die Wunderwelt der Schweiz; dennoch sah sie der Reise
-mit Spannung und großen Erwartungen entgegen. Sobald der Mai erschienen
-war, brach man auf. Frau v. Märzfeld hatte ein ganzes Coupé genommen,
-um es Fanny bequem zu machen. Am ersten Tage fuhr man bis Frankfurt am
-Main bei rieselndem Regen; die Leidende klagte viel über Schmerzen;
-Martha bemühte sich, ihre Gedanken davon abzuziehen, indem sie ihr von
-den Orten, an welchen sie vorüberfuhren, mancherlei erzählte. Aber so
-leise dies geschah, störte es doch Lucie in ihrer Reiselektüre, und sie
-äußerte dies sehr vernehmlich durch verwunderte Blicke und ungeduldige
-Bewegungen; Judith versuchte anfangs Martha beizustehen, aber das
-eintönige Grau rings umher, das Anschlagen der Tropfen an die Fenster
-ermüdete sie, und sie schlief bald fest in der einen Ecke, während
-in der anderen die Mutter ihre Stirn unaufhörlich mit wohlriechendem
-Wasser wusch. In Frankfurt hatte man versäumt, sich Wohnung zu
-bestellen, Westendhall war besetzt; man mußte noch am späten Abend von
-einem Gasthaus zum anderen fahren, bis man endlich gegen Mitternacht
-ein wenig befriedigendes Unterkommen fand.
-
-Am anderen Morgen ward es heller. Judith und Lucie baten die
-Mutter, sich einige Stunden in Heidelberg aufzuhalten und dann in
-Ulm Nachtquartier zu nehmen; aber Frau v. Märzfeld wollte lieber
-Friedrichshafen erreichen. Alle jungen Köpfe bemühten sich, möglichst
-viel aus dem Fenster zu sehen, als der Zug in Heidelberg hielt. Scharen
-von Studenten mit ihren großen Hunden konnte man bewundern, wenn man
-wollte; aber von der schönen Lage und Umgebung des berühmten Ortes war
-vom Coupé aus wenig zu bemerken. Der Tag wurde schwül, die Glieder
-schmerzten von der langen Fahrt; die ganze Gesellschaft hatte nur
-noch wenig Kraft, die Umgebungen zu betrachten: Fanny weinte, Lucie
-stieß ungeduldige Ausrufe aus, Judith seufzte und Frau v. Märzfeld lag
-abgespannt in ihrer Ecke. Wie eine Himmelsbotschaft klang endlich spät
-am Abend die Stimme des Schaffners: „Friedrichshafen, aussteigen!“
-Sie waren bald in dem geräumigen, sauberen Gasthofe untergebracht,
-und Fanny streckte sich recht mit Wohlbehagen in ihrem Bette aus, als
-Martha ihr sagte: „Morgen fahren wir nur noch mit dem Dampfschiff
-über den See, da sehen wir den Säntis und die Appenzeller Berge alle
-vor uns, dann geht es eine kleine Stunde mit der Zahnradbahn den Berg
-hinauf nach Heyden.“ Martha wachte noch lange und seufzte: „Ach; wenn
-nur morgen, nur morgen schönes Wetter ist!“
-
-Sie lauschte; lauschte: es klang wie ein leises Rauschen; war das der
-See? Mit dem ersten Tageslichte erhob sie sich und zog leise die
-Gardine vom Fenster. Grauer Nebel wogte draußen, die Fenster gingen
-nach einem Rasenplatze, vom See war nichts zu sehen. „Es muß noch sehr
-früh sein“, dachte sie, legte sich wieder nieder und schlief ermüdet
-ein. Als das Hausmädchen, wie es versprochen, um 6 Uhr anklopfte, war
-das Wetter noch ebenso. Martha war sehr betrübt darüber: sie hätte so
-gern den Säntis gesehen. Fanny freute sich auf das Dampfschiff; sie war
-ruhiger.
-
-Als man nach einer Stunde aufs Schiff kam, hatte der Regen, der sich
-die ganze Nacht über ergossen, nachgelassen, und der See wurde nach und
-nach nebelfrei; seine Wellen kräuselten sich im frischen Morgenwinde.
-An der östlichen Ecke des weiten Wasserbeckens tauchte Bregenz auf,
-aber die Vorarlberge, an deren Fuße es liegt, waren noch verhüllt, und
-vom Schweizer Ufer konnte man nur dämmernde Umrisse erkennen. Erst
-als man sich Rorschach näherte, zerriß die Wolkenhülle, aber nun war
-man den Bergen zu nahe, um mehr als die Vorhügel zu überblicken. Das
-weite, jetzt blaue Wasserbecken übte dennoch einen großen Reiz aus,
-und besonders Fanny war glücklich, mitten auf dem Verdeck in ihrem
-Rollstuhl ruhend, so sanft hinüberzugleiten ans andere Ufer. Der Weg
-nach Heyden hinauf war lieblich und kurz. Wie blau erschien der See
-bei dem Dorfe Wynachten! In Heyden war ihnen durch den dortigen Arzt
-Wohnung bestellt, eine der älteren Pensionen nahm unsere Reisenden auf.
-Martha teilte ihr Zimmer mit Fanny; es hatte die lieblichste Aussicht
-von der Welt. Dicht unter dem Fenster begannen die grünen Matten,
-die in der schönsten Frühlingsüppigkeit standen, hin und wieder von
-bewaldeten Hügeln, Gesträuch und Obstbäumen unterbrochen, aus deren
-Mitte die hellen Wände niedlicher Häuser hervorglänzten; tief unten
-und doch so nahe erscheinend, als könne man ihn mit wenigen Schritten
-erreichen, lag wie ein aufgeschlagenes, schimmerndes, blaues Auge der
-See, an seinem gegenüberliegenden Ufer Lindau und Friedrichshafen,
-so deutlich, daß man jedes Fenster unterscheiden konnte; rechts die
-Vorarlberge und Bregenz, links schweifte der Blick übers Württemberger
-Land. Die beiden Mädchen konnten sich nicht satt sehen; sie öffneten
-das Fenster und sogen die unbeschreiblich milde Luft mit Wohlbehagen
-ein. Sie sollten heute noch auf ihrem Zimmer speisen; zum Vesperbrot
-wollte dann Fanny versuchen, die wenigen Schritte bis zum Speisesaal zu
-gehen.
-
-Ein freundliches, älteres Mädchen in einfacher Kleidung brachte gute
-Suppe, Rindfleisch mit einem Gemüse von getrockneten Äpfeln und
-gerösteter Semmel, und Braten, den sie im ersten Augenblicke seiner
-hohen Fettkruste wegen für Schweinebraten hielten, der sich aber dann
-als der Rücken eines gut gemästeten Kalbes auswies. Es schmeckte
-den beiden Gereisten trefflich, und selbst die Zusammenstellung von
-Rindfleisch und Äpfeln, die ihnen neu war, fanden sie ganz schmackhaft,
-als sie davon gekostet.
-
-Während Frau v. Märzfeld schlief, erschienen Judith und Lucie.
-
-„Nun, das muß man sagen“, rief die erstere entrüstet, „in eine feine
-Pension hat uns der Doktor K. gebracht! Nicht ’mal ein Kellner! Der
-Wirt wartet selbst auf; ein Mädchen mit einer dicken, rotgestreiften
-Schürze bringt die Speisen herein, -- und dieser Küchenzettel! Nein, --
-und Lucie, sieh hier dieses Möbel!“
-
-Lucie mußte auch lachen, als sie sich im Zimmer umsah; es war
-weißgestrichen mit einer grauen Kante und kleinen, grünen Blumen. In
-der Ecke desselben stand ein mächtig großer, zweithüriger Schrank,
-himmelblau angestrichen, an der Seite mit den schönsten Blumen-
-und Fruchtstücken in den leuchtendsten Farben verziert, vorn die
-Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall deutlich abgebildet. Ein Sofa
-hatte das Zimmer nicht, aber zwei Betten mit guten Matratzen und einen
-alten, bequemen Lehnstuhl, mit buntem Kattun überzogen, in dem Fanny
-behaglich saß.
-
-„Ich weiß nicht, Judith, mir gefällt alles sehr; es ist einmal anders
-wie sonst, und es schmeckt mir viel besser, als jemals zuhause!“
-Martha hatte Ähnliches gedacht; die Aufwärterin mit ihrem guten,
-teilnehmenden Gesichte erschien ihr viel gemütlicher als ein befrackter
-Kellner, und ein Blick aus dem Fenster ließ die Dekorationen im Inneren
-des Zimmers nur wenig vermissen.
-
-Am Nachmittag ging Fanny mit in den Speisesaal; sie waren heute noch
-allein darin, weil die anderen Gäste ausgeflogen waren. Frau v.
-Märzfeld betrachtete mit sehr unzufriedenen Blicken die Tischdecke aus
-braungeblümtem Kattun, aber was darauf stand: Kaffee, Milch, Weißbrot,
-Butter und Honig, das war unübertrefflich. Noch bevor es ans Auspacken
-ging, erschien der Arzt.
-
-„Mein bester Doktor“, sagte Frau v. Märzfeld, nachdem man sich ins
-gemeinsame Wohnzimmer zurückgezogen hatte, „in was für eine Pension
-haben Sie uns gebracht! Sollte es in dem großen Heyden keine elegantere
-und anständigere geben?“
-
-„Gewiß haben wir elegantere, gnädige Frau; für anständig halte ich
-aber diese sehr, und ich weiß keine, die ihre Patienten gewissenhafter
-und besser versorgt; überdem ist hier gerade die Luft und die Aussicht
-besonders schön; ich dachte, es würde unserer jungen Patientin hier
-wohl sein. Wie steht es damit, Fräulein?“ fragte er, zu Fanny gewendet.
-
-„O, mir gefällt’s ganz gut!“ sagte diese; „ich möchte gar nicht fort
-von hier!“
-
-„Glauben Sie, daß ich meine Tochter mit ihrer Erzieherin bei diesen
-Leuten allein zurücklassen kann?“
-
-„Gewiß, es sind ganz zuverlässige Wirte, und das Dienstmädchen, die
-Anna aus Oberösterreich, die ist ein wahrer Schatz; je kränker einer
-ist, desto lieber hat sie ihn.“
-
-„Dann werde ich mich nur wenige Tage hier aufhalten; ich bin in der
-That ganz andere Umgebungen gewohnt!“
-
-Es blieb dabei! Am zweiten Morgen nahm die Mama mit den beiden ältesten
-Töchtern Abschied, um eine größere Reise anzutreten nach den schönsten
-Punkten der Schweiz. Fanny winkte ihnen mit ihrem Taschentuche
-Grüße zu, die sie freundlich erwiderten; Martha sah ihnen nach mit
-sonderbaren Gedanken und Gefühlen: sie war noch in den Jahren, wo
-man sich gern Illusionen macht! Nach der Schweiz, nach der Schweiz
-hatte ihr Sinn gestanden, so lange sie lebte; und nun war sie hier,
-festgebunden an diesen zwar lieblichen, aber wenig großartigen Fleck.
-Da Fanny jetzt kein Mädchen hatte, wagte sie auch nicht auf Stunden
-dieselbe zu verlassen. Sie war gefesselt an den Rollstuhl ihrer
-Schülerin, den ein dazu gemieteter Diener jeden Morgen zum Trinkplatz,
-jeden Nachmittag zu dem kleinen Gehölze hinausschob, in welchem man zur
-Bequemlichkeit der Sommergäste Wege und Bänke angelegt hatte. Es war
-dies fast der einzige Ort, wo man im Schatten wandeln konnte! Es ist
-schwerer als man denkt, mit voller Gesundheit und rüstiger Kraft mitten
-hinein gesetzt zu sein in eine so schöne Natur, zu wissen: dürftest du
-jetzt eine Stunde oder zwei steigen, so hättest du alle Herrlichkeit
-der Alpenwelt vor Augen, nach der du dich lebenslang gesehnt; und dann
-all dies Verlangen zügeln zu müssen, ja, es verbergen vor den Augen
-eines geliebten Kranken!
-
-Martha strebte hiernach mit dem besten Willen; aber ungerufen tauchten
-wieder und wieder Gedanken in ihr auf, deren sie sich schämte.
-
-„Warum muß ich nur hier sitzen bei der kleinen Kranken? würde ich
-nicht mehr Genuß haben an den Bergen, Gletschern und Seen als Frau
-v. Märzfeld und Lucie, die schließlich doch nur nach den Außendingen
-fragen?“
-
-Es sitzt in jedem natürlichen Menschen, wenn auch noch so verborgen,
-ein kleiner Sozialdemokrat. Man mag nur auf sich achten! Man ist
-darum noch nicht zufrieden und genügsam, wenn man prächtige Kleider,
-feine Speisen, eine bequeme Lebensweise gern entbehrt; dies ist für
-manche Naturen gar nicht schwer; aber fast für jeden giebt es einen
-Punkt, nach welchem seine Wünsche besonders lebhaft gehen, nach dem
-seine innerste Neigung gerichtet ist; gewöhnlich faßt der liebe Gott
-in der Lebensschule seine Kinder bei diesem Punkte an, und nur wenn
-es gelingt, sich zu unterwerfen und den innern Rebellen zu besiegen,
-giebt es vollen Frieden in der Brust. Martha hatte an Fanny ein gutes
-Vorbild. Seitdem ihre Sehnsucht nach genügender Teilnahme, Unterhaltung
-und Beschäftigung gestillt war, konnte man nicht zufriedener sein als
-sie. Heyden brachte ihr überdies eine Menge neuer Eindrücke, die sie
-fortwährend anregten und erheiterten.
-
-Am Morgen zwischen sechs und sieben Uhr kam der „Schottenfranzerl“
--- Schotten nennt man dort die Molken -- mit seiner heißen Butte von
-der Ebenalp herunter, doppelte wollene Decken zwischen der Butte und
-dem Rücken, damit er sich nicht verbrenne. Zwischen zwei und drei Uhr
-morgens ging er vom Säntis weg, um sechs Uhr erschien er in Heyden --
-welch eine beschwerliche Tour! nur die stärksten Männer konnten dazu
-verwendet werden. Der Franz sah gar schön aus, wenn er mit seiner
-Last so leicht auftrat, als ginge es zum Tanze; den spitzigen Hut mit
-der Auerhahnfeder auf dem Kopfe, unter der roten Weste den breiten
-Ledergurt, auf dem das liebe Hornvieh sich im blanksten Messing
-getrieben präsentierte, ein Abzeichen seines Standes. Die Molke war
-beim Ausschenken noch zu heiß, um sie sogleich zu trinken, und Fanny,
-die so viel Sinn für Humor hatte, belustigte sich im stillen über
-die verschiedenen Auffassungen und Anstrengungen der Gäste bei ihrem
-Genusse. Einige schluckten verdrießlich und widerwillig, andere,
-als besorgten sie die wichtigste Arbeit ihres Lebens; noch andere
-scherzten und lachten dabei; und je besser Luft und Kur ihr bekamen,
-je größer die Strecken wurden, welche sie jetzt an Marthas Arme
-zurücklegen konnte, desto mehr Lust bekam sie, sich dem heiteren Teile
-der Gesellschaft zuzugesellen. Das Frühstücksnäpfchen mit der braunen
-Mehlsuppe darin hatten beide Mädchen zuerst sehr bedenklich angesehen,
-doch redete die Anna aus Oberösterreich zu: „Esse Sie nur, ’s ischt
-gut, ’s ischt sehr gut!“ Sie aßen und es bekam ihnen wohl.
-
-Bei ihren kleinen Reisen durch den Ort zogen die Gardinenweberinnen,
-die man durch die niedrigen Fenster arbeiten sehen konnte, meist
-noch junge Mädchen, ihre Aufmerksamkeit auf sich; auch die alten,
-ungemein sauber gekleideten Weiblein, die Gardinen stickten, und
-die geschickten Stickerinnen, welche die superfeinen Taschentücher
-und Kragen lieferten, die „beim Sturzenegger“ auslagen. Manche
-Regenstunde wurde dort in dem anziehenden Geschäfte zugebracht, manches
-Geldstück wanderte aus Fannys Sparbüchse, indem sie sich hier mit
-Geburtstagsgeschenken für Mutter und Schwestern versorgte.
-
-Eine neue Freude war ihr der Sonntag; sie hatte in M. nicht mit zur
-Kirche gehen können; hier in Heyden kam der Wirt am Sonntagmorgen,
-brachte jedem seiner Gäste ein Gesangbuch und teilte mit, um neun
-Uhr werde man zur Kirche gehen. Nun wurde ihm von manchem Gaste das
-Gesangbuch dankend zurückgegeben; das nahm er freundlich und ruhig hin;
-er hatte nun seine Schuldigkeit gethan.
-
-Martha und Fanny, letztere in ihrem Rollstuhle, schlossen sich gern dem
-Zug der Kirchgänger an, den der Wirt anführte. Obgleich die ziemlich
-neue Kirche nur Stahlglocken hatte, erschien es doch beiden Mädchen,
-als hätten sie nie so etwas Schönes gehört als dies Geläute, wie es in
-der frischen Morgenluft über den blauen See hinüber klang; so recht
-volle Sonntagsfreude zog in ihre Herzen ein, und sie lernten bald
-sich zurechtfinden in dem vollen vierstimmigen Gemeindegesang. Auch
-der Pastor verstand es wohl, die Herzen auf das Eine hinzuweisen, was
-notthut, und so meinte Fanny, der Sonntag könne wohl in der ganzen Welt
-nicht so schön sein, wie hier oben in Heyden.
-
-Des Abends, wenn die anderen Hausgenossen teils noch promenierten,
-teils nach dem Kurhause gegangen waren, um in größerer Gesellschaft zu
-sein, saßen unsere beiden Mädchen mit dem Wirt, der Wirtin und der Anna
-aus Oberösterreich vor der Thür oder im Zimmer; der Wirt hatte dann
-eine blaue Schürze um und rüstete mit seiner Frau zusammen das Gemüse
-oder Obst für den anderen Tag, wobei Martha gern half; eine Köchin
-gab’s in der Pension nicht. Dann erzählte der Wirt aus seinem bewegten
-Leben. Er stammte aus Vorarlberg, war schon als Knabe hinausgezogen
-ins Land mit Quirlen und Löffeln, hatte Menschen, Gegenden und
-Verhältnisse kennen gelernt, und seitdem er die Margaret in St. Gallen
-zuerst gesehen, da war er sehr sparsam geworden und hatte es zuletzt
-so weit gebracht, sich in Heyden ein Häuschen zu kaufen, in das er
-diese Margaret geführt; aus dem Häuschen war ein Haus geworden und eine
-bekannte und angesehene Pension. Beide Mädchen hörten ihm gern zu;
-Martha machte die Bemerkung, daß man mit offenen Augen und gesundem
-Sinne auch ohne Bücher recht viel lernen kann.
-
-Die Pension hatte sich indessen mehr und mehr mit Fremden gefüllt;
-mittags erschienen außerdem noch Gäste aus dem Ort, und da sie aus
-aller Herren Ländern zusammenkamen, wurde die Unterhaltung abwechselnd
-französisch, englisch und deutsch geführt.
-
-Marthas Nachbar war ein Amerikaner, der sich englisch mit ihr
-unterhielt. Fanny hatte zwar einige englische Stunden gehabt, es aber
-nicht so weit gebracht, den Fremden zu verstehen, und da er sehr
-interessant zu erzählen pflegte, so übersetzte es Martha gewöhnlich
-ihrem Zögling.
-
-Eines Mittags bemerkte es der Fremde: „O, ich kann es der kleinen Dame
-gleich deutsch erzählen.“
-
-„Sie sprechen nicht wie ein Ausländer“, sagte Martha.
-
-„O, ich stamme aus Deutschland, bin freilich schon in der Jugend nach
-den Vereinigten Staaten gegangen, und hätte gewiß meine Muttersprache
-verlernt, wenn ich mich nicht mit meinen Nachbarn Eichhorn und Kraus in
-St. Joseph grundsätzlich nur deutsch unterhielte.“
-
-Kraus! St. Joseph! Ach, das mußte Siegfrieds Onkel sein!
-
-„Stammt Ihr Nachbar Kraus aus Sachsen?“
-
-„Ja wohl, aus der Nähe von Leipzig.“
-
-Marthas Herz klopfte, sie konnte kaum sprechen.
-
-„Ich kenne einige Glieder seiner Familie; geht es ihm wohl?“
-
-„Sehr wohl“, sagte der Nachbar. „Er hat vor etwa fünf Jahren in seinem
-Alter noch geheiratet und hat jetzt zwei prächtige Buben.“
-
-Es wurde Martha schwer, weiter zu fragen; aber die Qual der Ungewißheit
-war zu groß.
-
-„Ich hörte, er habe sich seinen Neffen nachkommen lassen!“
-
-„Dies muß ein Irrtum sein; ich habe ihn vor meiner Abreise noch
-besucht; er hatte niemand bei sich als seine Frau und Kinder, hat auch
-nie von einem Neffen gesprochen. Doch -- warten Sie! Ja, vor langer
-Zeit, ehe er heiratete, sagte er mir, er habe einen Neffen gebeten, zu
-ihm zu kommen, aber der Schlingel wollte nicht.“
-
-Arme Martha! Für das, was man nun noch sprach, war sie taub und gab dem
-Nachbar einige recht verkehrte Antworten. Was war das? War Siegfried
-unterwegs verunglückt? Hatte er von der Verheiratung des Onkels gehört
-und sich wo anders hingewendet? Bis jetzt hatte sie wenigstens für
-ihre Gedanken einen Zielpunkt gehabt, die Gegend, in welcher sein
-Onkel sich niedergelassen; nun war auch dies vorüber. Ach, so oft
-hatte sie versucht, sich innerlich gefaßt zu machen auf ein Leben ohne
-ihn; jetzt merkte sie, wie die Hoffnung im Hintergrunde ihres Herzens
-immer noch gewohnt und ihre Zauberfäden gesponnen hatte. Sie sehnte
-sich ganz unaussprechlich nach einem Wesen, dem sie sich mitteilen,
-bei dem sie sich ausweinen könnte. Sie ergriff die Feder, um Suschen
-alles zu erzählen; da kam der Briefträger und brachte ihr einen Brief
-der Freundin. Sie zeigte den Tag ihrer Hochzeit an und bat, daß Martha
-ihrer fürbittend gedenken möge, da sie doch leider, leider nicht
-dabei sein könne. Auf diesen Brief konnte sie keine klagende Antwort
-schicken; er war so glücklich, so strahlend glücklich bei allem Ernst.
-
-Fanny ruhte auf ihrem Lager, wie gewöhnlich nach Tische, Martha schlich
-sich ins grüne Hausgärtchen; nicht weit vom Bienenstand war eine Laube,
-da konnte sie sich ausweinen.
-
-Ach, ihre Thränen flossen unaufhaltsam! All’ die zurückgedrängte
-Sehnsucht der letzten Jahre wollte zu ihrem Rechte kommen. Sie
-schluchzte wie ein Kind und erschrak sehr, als der Eingang der Laube
-durch einen Schatten verdunkelt wurde. Es war nur die Anna.
-
-„Haben das Fräulein Kummer?“
-
-„Ja, Anna, den hab’ ich!“
-
-„Ist Euch was Liebes tot, oder sollt Ihr Euer Schatzerl nit haben?
-Sagt’s den lieben Heiligen, die hab’n schon oft geholfen. Jetzt hab’ i
-halt kai Zeit zum Bete; aber wenn i na Haus komm’, will ich’s wohl der
-heiligen Anna sagen; die ist sehr gut und hilft schon!“
-
-Martha hätte sagen können, daß sie lieber Gott anrufen solle; aber Anna
-hatte eine so kindliche Zuversicht auf die heilige Schutzpatronin, daß
-sie es nicht übers Herz brachte, sie darin irre zu machen; sie dachte:
-wenn sie so warm und gläubig zur heiligen Anna spricht, sieht es
-vielleicht der himmlische Vater an, als sei es ihm gesagt, und so sagte
-sie: „Ich danke Ihnen, Anna, thun Sie das!“
-
-Als aber Anna fort war, kam es doch wie eine stille Freude über sie,
-daß sie ja keine heilige Fürsprecherin brauchte, daß sie konnte und
-durfte gerade zu ihrem Vater gehen und ihr Herz vor ihm ausschütten;
-sie that es, und das hilft jedesmal. Wenn auch ihr Herz nicht leicht
-danach wurde, es wurde doch stille und ergeben, und sie konnte mit dem
-warmen, aufrichtigen Vorsatze zu ihrer Pflegebefohlenen zurückkehren,
-die Wolken und das Weh für sich zu behalten und so viel Sonnenschein
-als möglich auf Fannys Lebensweg auszugießen. Wenn sich der Sturm im
-Innern gelegt hat, tritt auch die Besinnung und verständige Überlegung
-wieder in ihr Recht und entkleidet das Erlebte von allen Übertreibungen
-der Phantasie. Was hatte sie denn so Schlimmes vernommen? Nur, daß
-Siegfried nicht bei seinem Onkel war; konnte er nicht an irgendeinem
-anderen Orte sich eine Existenz gegründet haben? War es denn unmöglich,
-daß er dennoch zu ihr zurückkehrte?
-
-Um vieles beruhigt holte Martha ihre Schülerin ab zum Kaffee in dem
-kleinen Saal. Sie fanden neue Ankömmlinge: eine sehr durchsichtig und
-zart aussehende Mutter und ein rosiges Töchterchen von etwa dreizehn
-Jahren; Frau Präsidentin v. B. und ihre Tochter Friedericke.
-
-Die beiden Kinder betrachteten sich schüchtern, aber mit sehr
-vergnügten Gesichtern. Frau v. B. sah mit mütterlicher Teilnahme
-auf das zarte, hilfsbedürftige Mädchen, und nachdem es Martha ihrem
-Zöglinge so bequem als möglich gemacht, veranlaßte sie die gegenseitige
-Vorstellung.
-
-„Siehst du, Friedericke, da ist ja ein junges Mädchen, wie du es dir
-gewünscht hast.“
-
-Friedericke nickte.
-
-„Ich kann freilich noch nicht mit herumspringen“, sagte Fanny, „aber
-ich lerne es bald; ich kann jetzt schon vom Freihof bis zur Kegelbahn
-laufen.“ Dabei sah sie sehr stolz und glücklich aus.
-
-Frau v. B. erkundigte sich sehr teilnehmend nach dem Leiden der Kleinen
-und erfuhr, daß sie von hier nach Ragatz oder Pfäffers gebracht werden
-sollte.
-
-„Ach, wenn es doch Pfäffers wäre“, rief Friedericke; „dort badet Mama
-einige Wochen, und dort ist es so -- ach so -- ich weiß gar nicht, wie
-ich sagen soll -- so geheimnisvoll und schauerlich und doch so schön!
-Man wohnt eigentlich bei den Erdgeisterchen selber. Ach, Fanny, bitte
-immer zu, daß ihr nach Pfäffers kommt; es wird so sehr hübsch sein,
-dort Gesellschaft zu haben.“
-
-Friederickens lebhafte Schilderungen waren ganz dazu gemacht, Fannys
-Verlangen nach dieser Wunderwelt zu steigern, und sie hoffte ihre
-Mutter zu überreden, auf ihre Wünsche einzugehen.
-
-Es war sehr ergötzlich, zu sehen, wie die beiden Kinder sich mit
-jedem Tage näher kamen. Friedericke kannte bald keine größere Lust,
-als ihrer schwachen Gefährtin all’ die kleinen Dienste zu leisten,
-deren sie bedurfte, sie an ihrem Arm auf ihr Zimmer zu führen oder
-aus demselben abzuholen. Fanny ließ sich das sehr gern gefallen,
-aber der Wunsch erwachte in ihr, es vergelten zu können, und als die
-Präsidentin eines Tages sehnend nach ihrer Handarbeit ausschaute,
-welche auf einem fernen Tische lag, stand sie leise und unbemerkt auf
-und fühlte mit innerlichem Frohlocken, daß es nicht mehr zu schwer für
-sie war, dieselbe zu holen und der Eigentümerin zu bringen. Diese sah
-sie überrascht und sehr erfreut an, aber das Kind erglühte förmlich
-in Wonne; es war das erste Mal, daß sie jemandem einen Dienst hatte
-leisten können.
-
-Die Unterrichtsstunden mußten natürlich hier in freierer Gestalt
-gegeben werden wie zuhause, aber Martha hatte sie nie ganz fallen
-lassen. Jetzt fragte Frau v. B., ob Friedericke nicht daran teilnehmen
-dürfe; sie war natürlich viel weiter, aber immerhin ließen sich
-Gegenstände auffinden, die beide Kinder gleichmäßig interessierten, und
-Martha fand, daß die Gemeinschaft ein herrlicher Sporn für Fanny war.
-
-Frau v. Märzfeld und ihre Töchter hatten häufig Nachricht gegeben; sie
-hatten den Züricher See besucht, den Vierwaldstädter See mit seinen
-herrlichen Umgebungen, auf dem Rigi mehrere Tage zugebracht, und waren
-jetzt seit einigen Wochen in Montreux am Genfer See.
-
-„Aber nun“, schrieb Lucie, „kommen wir auf dem nächsten Wege. Wir
-sehnen uns nach dem Kinde und etwas mehr Ruhe, und werden im Laufe
-der nächsten Woche eintreffen, um mit Euch nach Ragatz oder Pfäffers
-überzusiedeln.“
-
-Fanny jubelte, und auch Martha, obgleich sie sich sagen mußte, daß ihr
-Leben ferner nicht in so angenehmer Ruhe verlaufen werde, wie es jetzt
-der Fall war, freute sich doch mit aufrichtigem Herzen darauf, der
-Mutter und den Schwestern die Fortschritte zu zeigen, welche des Kindes
-Genesung inzwischen gemacht hatte.
-
-Ein wunderbar schöner Tag stieg nach mehreren recht unfreundlichen
-über Heyden auf; die sämtlichen beweglichen Pensionsgäste beschlossen
-eine Tour auf den Kaien zu machen, unter Führung ihres Wirtes; da oben
-sollte eine herrliche Aussicht auf das Gebirge sein. Marthas Herz
-schlug in großem Verlangen. Eine Stunde vor Tische ließ Frau v. B. sie
-rufen.
-
-„Mein liebes Fräulein Martha“, sagte sie, „ich habe eine große Bitte.
-Mein Kind ist nun schon wochenlang hier und hat noch keinen Blick aufs
-Gebirge gehabt. Ich möchte ihr so gern den Spaziergang heute gönnen,
-aber sie nicht allein mit den fremden Gästen gehen lassen. Ihr kleiner
-Zögling brennt ebenfalls vor Verlangen, Ihnen den Genuß der Bergfahrt
-zu verschaffen; und so haben wir uns zusammen ausgedacht, wir wollten
-diesen Nachmittag tauschen: Sie nehmen meine Wilde unter Ihren Schutz
-bei der Bergbesteigung, und Fanny kommt als meine Tochter zu mir, bis
-Sie wieder da sind.“
-
-Dies war verlockend. Es stiegen wohl Bedenken in Martha auf: „Wenn ich
-nur hätte Frau v. Märzfeld fragen können!“ Aber das ging ja nicht.
-Fanny und Friedericke baten und drängten; sie selbst war überzeugt,
-daß Frau v. B.s Aufsicht die ihrige überreich ersetzte. Ach, und sie
-war so glücklich in Erwartung der Gebirgsaussicht -- sie gab nach und
-ging mit. Der Wirt führte so an der Berglehne hinauf, daß man unterwegs
-keine andere Fernsicht hatte als den Rückblick auf Heyden; der Pfad
-war meistens sehr steil und oft schattenlos; die Sonne brannte, aber
-die Aussicht winkte und die Gesellschaft überstand die Strapazen mit
-fröhlichem Mute. Jetzt noch durch dies Buschwerk, jetzt diesen Rand
-hinauf! und Martha stand oben und legte die Hände zusammen und ihre
-Augen füllten sich mit Thränen, denn sie umfaßten in ihrem engen Rahmen
-ein Bild, wie es die Phantasie nicht schöner hätte malen können.
-
-Da lagen sie ihr gegenüber, die Schneefelder des Säntis; da ragten die
-riesigen Nachbarn desselben, der Kamor, Hohekasten, Altemann, Tödi in
-die blaue Luft; weiter östlich die Vorarlberger und Lichtensteiner
-Gebirge; in der Ferne die weiße Kette des Rhätikon mit der Sasaplana.
-Auf der anderen Seite dehnte sich am weiten, blauen See der Thurgau
-aus mit Trogen, Vöggeliseck, Speicher; darüber weit in der Ferne der
-Pilatus und der Rigi.
-
-„O, hätt’ ich Flügel, hätt’ ich Flügel!“
-
-Friedericke neben ihr sprang hoch in die Luft und stieß einen Juchzer
-aus, als habe sie denselben vom Senn erlernt; Martha konnte nicht
-sprechen. O, dieses eine Bild, war’s nicht genug, um lebenslang manche
-einsame Stunde mit seinem Lichte zu erhellen? Sie sah und sah; sie
-hätte nichts davon verlieren mögen, auch nicht das Kleinste.
-
-„Komme Sie doch hier hinter den Stein und nehme Sie a Schöppeli
-Markgräfler!“ rief der Wirt wieder und wieder.
-
-Der Rat war gut, aber es dauerte lange, ehe unsere jungen Gefährtinnen
-den Entschluß faßten, sich von der herrlichen Aussicht loszureißen
-und Ruhe und Erquickung zu suchen. Dann war es behaglich, nach
-der Anstrengung im Schatten zu sitzen, sich an den mitgebrachten
-Erfrischungen zu laben und mit den Reisegenossen heitere Gespräche
-zu führen. Die Gesellschaft wurde sehr vergnügt und niemand merkte,
-daß sich der Himmel umzogen hatte, bis die Stimme aus den Wolken
-vernehmlich zu reden anfing. Da sprang denn freilich alles auf die
-Füße; noch einmal ward die Rundschau genossen, aber nur sehr flüchtig.
-Das Wetter zog vom Rheinthal herauf, und der Wirt meinte, es könne „a
-rechts“ Wetter werden; von da könnt’ es oft nicht über den See: „Wir
-müssen auf die Sennhütten zu halten!“
-
-Dies geschah ohne Besinnen; sie lagen nicht allzu weit unterhalb der
-Berghöhe, und mit den ersten schweren Tropfen wurde man eingelassen
-in den zwar nicht mit Bequemlichkeiten ausgestatteten, aber immerhin
-trockenen und geschützten Raum. Es war sehr gut, ein Dach über sich
-zu haben; der Regen fiel in Strömen nieder und prasselte auf das
-Schindeldach und gegen die kleinen Fenster; der Sturm brüllte, als
-wollte er das Häuschen mit sich entführen; ein leuchtender, greller
-Blitz jagte den anderen und der Donner rollte majestätisch durch den
-Aufruhr hin, seine Stimme pausierte höchstens minutenlang, wie um Atem
-zu schöpfen. Die Gesellschaft lauschte still der großartigen Musik;
-selbst Friedericke, die so gern lachte, schmiegte sich ernsthaft an
-Martha an. Diese, äußerlich gefaßt und ruhig, wurde innerlich sehr
-gequält durch die Sorge um Fannys Angst und infolge davon um ihre
-Gesundheit. Sie sah mit Sehnsucht nach dem kleinen Streifchen Himmel,
-welches zu sehen war, ob es noch nicht heller werden wollte, --
-vergebens! Wenn der Sturm eine Minute geschwiegen, brüllte er in der
-nächsten mit vermehrter Gewalt; wenn die Stimme des Donners ferner zu
-klingen schien, grollte sie gleich danach aus einer anderen Ecke um so
-näher. Stunde auf Stunde verrann: zur Finsternis des Himmels gesellte
-sich bald das Dunkel des hereinbrechenden Abends und endlich die
-Finsternis der Nacht.
-
-Da endlich wurde es stiller; der Donner rollte ferner und ferner,
-blasser und blasser leuchteten die Blitze, einzeln nur noch fielen die
-Tropfen aufs Dach, dann hörte man keinen mehr.
-
-Man öffnete die Thür der Hütte; durch die zerrissenen Wolken blickten
-einzelne Sterne, die Luft war unbeschreiblich schön und frisch, aber
-der ganze Berg nur ein einziger großer Wasserfall. Der Wirt und die
-Sennerin erklärten es für völlig unmöglich, hinabzugehen, bevor man
-Tageslicht habe. Letztere holte frische Milch herbei, erbot sich auch,
-Schmarren zu backen, wenn man es wollte. Es wurde dankend angenommen
-und fröhlich verzehrt, nur Martha lag es wie ein Alb auf der Brust und
-sie stieß mehrmals hervor: „Ach, wie sie sich zuhause ängstigen werden!“
-
-„Ich glaube nicht so sehr“, sagte Friedericke. „Mama weiß, daß wir in
-Gottes Schutz sind und bei verständigen Menschen; Anna wird ihr gewiß
-von den Sennhütten erzählen, und sie werden es sich denken, daß wir
-hier sind. Geben Sie acht, sie tröstet auch Fanny und läßt sie nicht
-von sich.“
-
-Das klang alles ganz wahrscheinlich, aber es war ihr Gewissen, das ihr
-die Zuversicht raubte; das ganze Erlebnis kam ihr vor wie eine Strafe
-ihrer Untreue und sie konnte sich die Folgen desselben nicht schwarz
-genug ausmalen. Die Vorbereitungen zur Nachtruhe waren etwas schwierig;
-die Gesellschaft bestand aus etwa zehn Personen. Die Herren mußten sich
-mit ihren Plaids in der Nähe des Herdes einrichten, die Frauen wurden
-oben im Heu untergebracht; dort war es sehr warm, und eine dicke,
-nicht mehr junge Dame, der noch dazu die Sennerin ihr eigenes Lager
-abgetreten hatte, stöhnte unaufhörlich, während zwei junge Französinnen
-durchaus nicht aus dem Lachen kommen konnten. Friedericke war bald
-eingeschlafen; Martha saß, sorgte, bat den lieben Gott um Vergebung und
-rief ihn um Hilfe für ihren Zögling an, und erst, als der Morgenschein
-durch die Ritzen des Daches drang, fielen ihr mitten in dem Gedanken:
-„Jetzt können wir bald hinunter!“ die müden Augen zu, und sie erwachte
-erst, als sie das muntere Gespräch ihrer Reisegefährten vernahm, die an
-der offenen Thür der Hütte den Heimweg berieten. Es war ein frischer,
-schöner Morgen. Zerrissene Wolkenschichten flogen, vom Winde getrieben,
-am Himmel dahin; in den Thälern zog hier und da noch ein Nebelschleier
-hin und her; die Berghäupter, so viel man deren hier sehen konnte,
-waren frei, und das Stücklein See, das sich zeigte, strahlte im
-frischesten Blau. Aus allen Klüften rieselte und rauschte es, auf allen
-Halmen perlte und glänzte es; die Kühe, die eben gemolken wurden,
-brüllten der Freiheit entgegen: es war ein lachendes Morgenbild; nur
-der Pfad, welcher hinabführte, sah noch sehr schlüpfrig und wenig
-einladend aus.
-
-Martha und Friedericke trugen tüchtige Bergschuhe, aber einige der
-älteren Herrschaften seufzten schwer und blickten mit Grauen die
-abschüssige Bahn hinunter. Nachdem man sich mit frischer Milch erquickt
-hatte, ging es hinab unter manchem „Ach“ und „Weh“, unter manchem
-Fallen und Wiederaufstehen; nur unsere jungen Freundinnen blieben fest
-auf den Füßen und konnten zuweilen noch verzagten Seelen die Hand
-reichen, um ihnen über bedenkliche Stellen fortzuhelfen. Der Senn war
-soeben mit seinem Mundschenkenamte fertig, da bogen die Wanderer in die
-Straßen von Heyden ein.
-
-Die Wirtin kam ihnen in der Thür entgegen; sie schien das Ausbleiben
-des Mannes und der Gäste mit großem Gleichmut ertragen zu haben; es
-mochte wohl schon öfter vorgekommen sein.
-
-Martha flog an ihr vorüber die Treppe hinauf und öffnete leise ihr
-Zimmer.
-
-Mit lautem, glücklichem Aufschrei streckte ihr Fanny die Arme
-entgegen, während die Präsidentin vom Lehnstuhl am Bett sich erhob und
-unbeschreiblich überwacht und elend aussah.
-
-„Siehst du, mein liebes Kind“, sagte sie, „Gott hat die Unserigen
-behütet.“
-
-Friedericke, welche ihre Mutter auf ihrem Zimmer nicht gefunden hatte,
-war auch hereingekommen und hing jetzt an ihrem Halse.
-
-„Sie haben gewiß eine recht schlimme Nacht gehabt“, rief Martha beim
-Anblick der Frau v. B. „O, wie viel Vorwürfe habe ich mir gemacht, daß
-wir gegangen sind.“
-
-„Ja, meine kleine Pflegebefohlene war gar nicht zur Ruhe zu bringen“,
-erwiderte diese, „da mußte ich mich schon entschließen, an ihrem Bette
-zu bleiben; aber daß wir uns Vorwürfe machen, finde ich überflüssig;
-die Sache war ja ganz verständig überlegt; wir konnten nicht wissen,
-daß das Gewitter kam. Komm, kleiner Wildfang ziehe deine feuchten
-Sachen aus, dann versuchen wir beide noch ein wenig nachzuschlafen.
-Thun Sie das auch, Fräulein Feldwart!“
-
-Martha hätte diesen Rat nur zu gern befolgt, aber Fanny war noch zu
-aufgeregt: „Sie müssen mir erst alles, alles erzählen!“
-
-Martha that es und versuchte dabei ein Mittel, das ihr in der Pflege
-des reizbaren Kindes schon manchmal geholfen hatte: indem sie Fannys
-Hand in der ihrigen festhielt, erzählte sie mit ganz eintöniger Stimme
-immer breiter, immer langsamer und leiser; das wirkte wie Schlafmusik,
-stimmte die überreizten Nerven des Kindes herab, und nach einer halben
-Stunde schlief es so fest, daß nun auch Martha die ersehnte Ruhe fand.
-
-Einige Stunden ruhigen Schlafes hatten sie völlig erfrischt; sie
-erhob sich leise, um das Kind nicht zu stören, sah aber mit großer
-Sorge, daß Fannys Gesicht geröteter war als sonst und die Brust sich
-hob in ungewöhnlich raschen Atemzügen. Es fand sich in der That, als
-sie erwachte, daß sie nicht fieberfrei war; der herbeigerufene Arzt
-riet, sie heute im Bette zu lassen und vollständige Ruhe um sie her zu
-erhalten. Mit Bangen empfing Martha gegen Mittag das Telegramm, welches
-die Ankunft der Frau v. Märzfeld für diesen Nachmittag meldete. Fanny
-wollte durchaus aufstehen zu ihrem Empfange, fühlte aber freilich
-gleich, daß es eine Unmöglichkeit sei. Martha war sehr betrübt darüber.
-Wie sollte sie der Mutter gegenübertreten, wenn Fanny kränker wurde,
-wie sich jemals wieder beruhigen? Ihr Herz schlug heftig, als die
-Erwarteten eintraten. Es erschien ihr als die einzige Sühne, der Mutter
-sofort den Hergang zu erzählen. Sie that es, aber sie that es nicht
-völlig; sie verschwieg, wie sie von der Präsidentin und Fanny dazu
-überredet worden war.
-
-Frau v. Märzfeld sah sie sehr befremdet von oben herab an: „Das hätte
-ich Ihnen nicht zugetraut, Fräulein Feldwart! Sie sehen, was von Ihrem
-Leichtsinn kommt; möglicherweise steht Fannys ganze Genesung auf dem
-Spiel.“
-
-Martha weinte: „Ja, gnädige Frau, es soll mir eine sehr bittere Lehre
-sein; ich werde niemals, niemals mehr von Fanny fortgehen!“
-
-„Das will ich sehr hoffen; ich könnte Sie auch sonst niemals mehr mit
-dem Kinde allein lassen.“
-
-Wahrscheinlich wäre aus diesem Auftritte bei Frau v. Märzfeld dauernde
-Erkältung erwachsen, wenn sich nicht gegen Abend die Präsidentin ihr
-hätte vorstellen lassen, um ihr den richtigen Verlauf der Sache zu
-erklären. Sie nahm alle Schuld bereitwillig auf ihre Schultern und
-unterließ es nicht, sich offen darüber auszusprechen, daß es wohl
-eigentlich Schuldigkeit sei, einem so aufopfernden Wesen wie Martha
-mitunter ein Aufatmen und eine Erholung zu gönnen. Die Präsidentin
-verkehrte in den höchsten Kreisen; sie war eine sehr angesehene, auch
-äußerlich vornehm erscheinende Persönlichkeit; deshalb verfehlten ihre
-Worte nicht, den beabsichtigten Eindruck zu machen, um so mehr, als
-Fanny am anderen Morgen nach einer ruhigen Nacht so ziemlich wieder die
-Alte war.
-
-Mit Erstaunen sahen ihre Mutter und Schwestern ihre Beweglichkeit, mit
-noch größerem ihre Heiterkeit, ihren Humor, die Lebhaftigkeit, mit der
-sie sich für jedes Gesprächsthema interessierte, und dies mußte wohl
-ein freundliches Licht auf Marthas Pflege und Erziehung werfen.
-
-„Und nun“, sagte Frau von Märzfeld, „will ich euch auch eine große
-Neuigkeit mitteilen: Wir haben eine Braut hier im Zimmer; ratet: wer?“
-
-Fannys Augen hatten schon mit Staunen den Goldreif an Luciens Hand
-gesehen; sie rief: „Lucie, Lucie! aber mit wem?“
-
-Sie war mit Graf T. verlobt; er war mit ihnen am Genfer See
-zusammengetroffen, hatte dort nach einigen Tagen um Lucie angehalten,
-und diese freudig und überrascht aus warmem Herzen „Ja“ gesagt.
-
-Martha war auch überrascht; sie hatte Graf T. oft in der Familie
-gesehen. Er hatte ihr stets einen ernsten und Vertrauen erweckenden
-Eindruck gemacht, er teilte aber seine Aufmerksamkeiten stets
-gleichmäßig zwischen beiden Schwestern, und man glaubte in M.
-allgemein, er werde sich mit Judith verloben, welche die ältere und
-bedeutendere von beiden war. Martha begriff es, daß er sich dies warme
-und anmutige Wesen gewählt hatte, das jetzt eine strahlend glückliche
-Braut zu sein schien.
-
-Judith sah sehr ernst aus und war fast unnahbarer als sonst. Die Mama
-erzählte, der Bräutigam sei jetzt nach Ragatz gereist, um eine Wohnung
-dort zu besorgen.
-
-„Aber Mama!“ rief Fanny sehr unglücklich, „ich will ja nach Pfäffers!“
-
-Friedericke stand dabei: „Ach ja, bitte, nach Pfäffers, da gehen wir
-auch hin, und da wohnen wir ganz und gar bei den Erdgeisterchen, die
-machen dann Fanny wieder gesund!“
-
-Frau v. Märzfeld lachte: „Fragen wir den Arzt!“
-
-Der meinte, Ragatz thäte vielleicht dieselbe Wirkung; aber es gäbe
-viele Kranke, welche die Bäder so nahe an der Quelle für heilkräftiger
-hielten. Die Einrichtungen wären in Pfäffers sehr gut, und er riete der
-Frau v. Märzfeld, ihre kleine Patientin dort anfangen zu lassen; sollte
-es sich zeigen, daß Luft und Sonne ihr zu sehr fehlten, könne sie ja
-jeden Tag nach Ragatz übersiedeln.
-
-Als für Martha und Fanny Wohnung in Pfäffers bestellt werden sollte,
-erklärte zu aller, am meisten zu Marthas Erstaunen Judith, sie möchte
-mit nach Pfäffers gehen, sie habe sich dies lange gewünscht, und fügte
-sehr entschieden hinzu: „Wir können uns dann ablösen in Fannys Pflege
-und jede von uns kann mitunter spazieren gehen.“
-
-Wäre ein Stückchen Himmel eingefallen, so hätte Martha nicht
-verwunderter aussehen können. Von Judiths Gerechtigkeitssinne hatte sie
-schon mehrmals Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, auch von ihrer
-Fürsorge für Fanny; aber Freundlichkeit und Rücksicht für sie -- dies
-war Martha ganz neu. Sie kam wohl der Wahrheit ziemlich nahe, wenn sie
-vermutete, daß es für Judith vielleicht jetzt nicht leicht sei, in der
-unmittelbaren Nähe des Brautpaares zu leben. Aber die Sache hatte noch
-einen anderen Grund. Judith liebte Graf T. nicht; ihr Herz war nicht
-getroffen durch seine Verlobung, ihr Stolz um so härter; sie fühlte
-sich zurückgesetzt und gedemütigt und fing an, ein wenig mit anderen
-zu fühlen, denen dasselbe begegnete. Marthas Einwirkung auf Fanny und
-besonders ihre Heiterkeit und Geduld in der Pflege derselben erfüllte
-sie mit Achtung; Frau v. B.s offene Herzensergießung hatte ihr vollends
-die Augen geöffnet; sie kam entschieden zu der Einsicht, daß sie Martha
-nicht behandelt hatte wie es billig und freundlich war, und ihre Ehre
-schien es zu fordern, dies so viel als möglich wieder gut zu machen.
-
-Martha und Fanny wären lieber mit der Präsidentin und ihrer Tochter
-allein gewesen; aber Fanny erkannte die freundliche Absicht, und
-Martha wußte, daß Gott uns die Menschen zuweist, mit denen wir leben
-sollen, und daß wir es vor ihm zu verantworten haben, wenn wir sie mit
-Kälte und Gleichgültigleit von uns stoßen; so kamen sie beide Judiths
-Wünschen freundlich entgegen.
-
-Die Reise durch das schöne Rheinthal machte allen, besonders den
-beiden, die noch nicht gereist waren, die größte Freude. Da sieht man
-die Bergriesen auf beiden Seiten ragen: Säntis, Kamor, Hohekasten,
-Altemann grüßen herunter; an der anderen Seite des Thales erheben
-sich, steil ansteigend, die österreichischen Berge, während die grünen
-Matten des Thals das Auge erfreuen und im Hintergrunde die Kalande die
-Aussicht abschließt.
-
-Fanny blieb in einem Jauchzen, bis der Zug in Ragatz hielt und der neue
-Schwager sie liebevoll aus dem Wagen hob, um sie als sein Schwesterchen
-zu begrüßen. Als man sich ein wenig erquickt hatte, sollten die Gäste
-für Pfäffers erst an Ort und Stelle gebracht werden. Es wurden zwei
-Wagen genommen; in dem einen saß die Mama mit dem Brautpaar, im anderen
-Judith, Martha und Fanny.
-
-Welch wunderbarer Weg, stellenweise fast schauerlich! Die Straße
-ist dem Felsen abgewonnen; sie führt dicht am Ufer der Tamina hin.
-Dies brausende, weißschäumende Gebirgswasser strömt daher über
-schwarzbraunes Felsgestein; an einigen Stellen so tief unter der
-schmalen Fahrstraße, daß es den darauf Fahrenden wohl ein wenig
-schwindelig werden kann. Zu beiden Seiten steigen hohe, fast senkrechte
-Felswände empor, so coulissenartig in- und voreinander geschoben,
-daß man stets glaubt, in einen engen Kessel eingeschlossen zu sein.
-Staubbäche, in Millionen kleine, feine, leuchtende Tröpfchen geteilt,
-ergießen sich von ihrer Höhe in die Tamina, mit so graziösem, kühnem
-Schwunge, daß sie über der Fahrstraße einen glänzenden Bogen bilden,
-unter welchem dieselbe völlig trocken bleibt. Oben an den Felsen
-glühte und zitterte noch das Sonnenlicht und tauchte die wallenden
-Wasserschleier in Regenbogenfarben, während über der Tamina die
-bläulichen Schatten des späteren Nachmittags lagen, denn nur von zehn
-bis vier Uhr vermag in den längsten Tagen die Sonne die Thalsohle zu
-erreichen.
-
-Fanny schmiegte sich an Martha mit glühenden Wangen; es war ihr ein
-wenig bange zwischen dem schäumenden Abgrund und dem starren Fels.
-
-„O, wie groß und schön!“ sagte Martha.
-
-„Ja, groß ist dies wirtlich“, erwiderte Judith, „schauerlich groß! Ich
-graule mich ein wenig hier; Sie auch, Martha?“
-
-„Nein!“ rief diese ernst und zuversichtlich. „Ich weiß, der diese Erde
-gründete und diese Felsschlucht auseinanderriß, der diesem Wasser rief
-und es herniederbrausen läßt, der ist mein Vater, hält mich in seiner
-liebevollen, starken Hand und hat die Haare auf meinem Haupte alle
-gezählet. Das ist so tröstlich zu denken, man wird so still dabei und
-möchte doch Psalmen singen tief aus dem Herzen heraus.“
-
-Judith sah sie ernst und wehmütig an: „Mir ist anders, ich habe das
-Gefühl: dieselbe Gewalt, die vor Jahrtausenden diese Spalten entstehen
-ließ, kann jederzeit wieder daran rütteln; mir ist, als könnten Himmel
-und Erde in Stücke gehen, und ich fühle gleichsam schon ihr Beben.“
-
-„Das werden sie ja auch einmal“, sagte Martha freundlich, „aber dann
-kommt der neue Himmel und die neue Erde, wo alles nur Friede und Freude
-ist.“
-
-Sie sprachen nun nicht mehr, aber Fanny hatte sich fest in Marthas Arm
-geschmiegt; sie schaute und schaute, auf ihren Wangen blühte zartes
-Rot auf und ihre Augen leuchteten. Auch Judiths Augen wurden immer
-größer und ernster und zuweilen senkten sich die Lider darüber, um
-aufsteigende Thränen zu verhüllen. Es war allen befremdlich, wenn
-einmal der vorausfahrende Wagen in einen solchen Winkel zu dem ihrigen
-kam, daß man heiteres Gespräch und fröhliches Lachen daraus vernahm;
-und doch ging dies natürlich zu: das bräutliche Glück überstrahlte
-selbst diese großartige Scenerie. Es kommt ja bei der Wirkung äußerer
-Eindrücke alles darauf an, wie es in dem kleinen Herzensspiegel
-aussieht, in dem sie sich abbilden.
-
-Als man vor den Gebäuden von Bad Pfäffers ausstieg, die, eingeklemmt
-zwischen die Felswände und jetzt vom letzten Sonnenstrahl in ihrer
-oberen Hälfte eben noch erreicht, auf den ersten Anblick einen mehr
-düsteren als angenehmen Eindruck machten, sahen sich die Insassen
-beider Wagen fragend an; das Ganze glich sehr einem natürlichen
-Gefängnis. Aber sie wurden freundlich hereingeführt, zunächst in die
-für die neuen Badegäste bestimmten Zimmer. In der Mitte lag eine
-größere gemeinsame Wohnstube, rechts ein Schlafzimmer für Judith,
-links eins für Martha und Fanny. Die Zimmer waren bequem und sauber
-eingerichtet und die künftigen Bewohnerinnen erklärten sich damit
-zufrieden.
-
-Die Badeeinrichtungen fand man ganz besonders blank und nett, und als
-man in eines der Versammlungszimmer trat, um den Kaffee da zu genießen,
-erhob sich am oberen Ende des Tisches ein vornehm aussehender Herr
-mit weißen Haaren und stellte sich als General E. aus Württemberg
-vor, zugleich als Bruder der lieben Präsidentin, die jährlich mit ihm
-hier zusammentreffe und die er morgen gegen Mittag mit ihrer Tochter
-Friedericke erwartete. Da war die Bekanntschaft schnell gemacht,
-und als Frau v. Märzfeld mit ihrem Brautpaar abfuhr, saßen die drei
-Zurückbleibenden zutraulich neben ihrem neuen Beschützer, erzählend und
-hörend, als wären sie schon längst miteinander bekannt. Selbst Judith
-gab der süddeutschen Treuherzigkeit gegenüber ihr steifes Wesen auf.
-Der Gang in die Schlucht, in welcher die Heilquellen entspringen, wurde
-bis morgen verschoben, da man ihn nicht ohne Fanny, die von der Reise
-angegriffen war, ja, womöglich auch nicht ohne Friedericke thun wollte,
-welche sich schon in Heyden darauf gefreut hatte, ihrer Freundin diese
-Wunder zu zeigen.
-
-Als die Dunkelheit völlig hereinbrach, erschienen sehr
-verschiedenartige Gestalten im Gesellschaftszimmer; nur die wenigsten
-schienen den höheren Ständen anzugehören; der vermögende Teil
-der bäuerlichen Bevölkerung aus der Schweiz und Oberösterreich
-war reichlich vertreten, und Judith sah sich mit nicht eben sehr
-wohlgefälligen Blicken um unter dieser Umgebung. Ihr Staunen stieg,
-als sie den ungenierten, vertrauten, heiteren Ton gewahrte, in welchem
-sich der General mit den Leuten unterhielt und auf all’ ihre Interessen
-einging.
-
-„Hier“, dachte sie, „wird es schwer sein, seine Stellung zu wahren“,
-und als ein behäbiger, freundlicher Österreicher sie fragte: „Wird es
-den schönen jungen Damen nicht zu einödig hier sein?“ erhielt er eine
-so kurze, ablehnende Antwort, daß Martha froh war, als Fannys Müdigkeit
-sie sämtlich nötigte, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen.
-
-Als Fanny ruhte, saßen Judith und Martha noch eine halbe Stunde im
-Wohnzimmer beisammen.
-
-„Ist das nicht schrecklich hier?“ rief Judith; „nimmt sich so ein
-Mensch heraus, mich anzureden, ohne daß ich es ihm erlaubt habe! Und
-dieser General! Gehört zu den ersten Kreisen in Württemberg und spricht
-mit diesen Menschen, als wären sie seinesgleichen!“
-
-„Ich glaube, Fräulein Judith, das Badeleben bringt auf ganz natürliche
-Weise den freieren Ton mit; alle sind hier um ihrer Leiden und
-Gebrechen willen, alle suchen Hilfe aus derselben Vaterhand und an
-derselben Quelle, alle sind eingeschränkt auf kleinen, engen Raum.
-Aber wenn Sie eingehend beobachten wollen, werden Sie finden, daß sich
-niemand gegen den Herrn General etwas Zudringliches oder Ungeschicktes
-erlaubt; er ist bei all’ seiner Leutseligkeit eine so wahrhaft vornehme
-Erscheinung, daß dies keiner ihm gegenüber vergessen oder verkennen
-kann!“
-
-Judith seufzte; sie hatte doch auch gedacht, eine vornehme Erscheinung
-zu sein und war sehr unbefriedigt von dem ersten Abend.
-
-Martha fand ihren Pflegling noch mit großen, offenen Augen.
-
-„Hören Sie nur, wie die Tamina rauscht!“ flüsterte Fanny. „Ach, bitte,
-lesen Sie noch einen Psalm oder ein Lied zur ‚Gute Nacht!‘“
-
-Martha griff nach der Bibel und las den 121. Psalm: „Ich hebe meine
-Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt; meine Hilfe kommt
-von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“ -- bis zum Schluß: „Der
-Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele; der Herr behüte
-deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Dann betete sie
-den Vers:
-
- Wenn der Wellen Macht
- In der trüben Nacht
- Will des Herzens Schifflein decken,
- Wollst du deine Hand ausstrecken;
- Habe auf mich acht,
- Hüter in der Nacht!
-
-Martha ging noch einmal ins Wohnzimmer zurück, ihre Arbeit zu
-holen, und fand da Judith noch, die mitten im Zimmer stand und sich
-gedankenvoll auf den großen Eichentisch stützte. Jetzt blickte sie auf
-und sagte fast weich: „Wenn Sie mit Fanny lesen, schließen Sie die Thür
-nicht, oder lassen Sie mich dabei sein!“
-
-„O, wie sehr gern!“ rief Martha aus vollem Herzen; sie wollte Judith
-die Hand geben, diese war aber schon in ihrem Schlafzimmer verschwunden.
-
-Ja, Judith fühlte, daß ihrem Dasein die rechte Erquickung mangelte;
-sie hatte auch in der letzten Zeit durch die Beobachtung ihres kranken
-Schwesterchens eine Ahnung bekommen, wo dieselbe zu finden sei, und sie
-war keine oberflächliche Natur; was sie einmal erfaßte, pflegte sie mit
-Ernst zu ergreifen.
-
-Am anderen Morgen nahm Fanny das erste Bad, und sowohl Martha als
-Judith freuten sich über die schönen, weißen Fließen, in welche die
-Bäder gefaßt waren, über die ganze wohlthuende und elegante Einrichtung
-in dieser scheinbaren Weltabgeschiedenheit, und da Fanny die angenehme
-Einwirkung des Wassers dankbar empfand, beschlossen ihre beiden
-Hüterinnen, sich diese Erquickung und Auffrischung der Nerven, so viel
-es thunlich sei, ebenfalls zu verschaffen.
-
-Gegen Mittag erschienen die Präsidentin und Friedericke, herzlich
-empfangen von dem lieben, alten Bruder und Onkel, jubelnd von Fanny.
-Gleich nach Tische kamen, wie sie es versprochen, Frau v. Märzfeld
-und ihr Brautpaar, und man beschloß, noch vor dem Kaffee den Weg in
-die Schlucht zu unternehmen, der so glatt, sicher und nahe ist, daß
-selbst Fanny, abwechselnd auf Friedericke und Martha gestützt, ohne
-Bedenken daran teilnehmen konnte. Diese Schlucht, in welcher die heißen
-Quellen entspringen, gewährt in der That einen ebenso großartigen als
-schauerlichen Anblick. Die Felsen treten hier so nahe zusammen, daß
-unten nur die schäumende, brausende Tamina zwischen ihnen Platz hat,
-und über ihr ein auf sicheren Stützen ruhender Weg, oder vielmehr
-eine lange Brücke, welche bis zu den heißen Quellen hinführt, die
-sich schon von ferne durch ihren weißen Dampf ankündigen, der in dem
-wunderbaren Unterweltslichte die sonderbarsten Gestalten anzunehmen
-scheint. Die Felsen schließen sich nämlich an ihrem oberen Ende
-so nahe zusammen, daß nur ein kleiner Spalt offen bleibt, um das
-Himmelslicht einzulassen, ja an einer Stelle führt sogar der Weg nach
-Dorf Pfäffers über diesen Spalt hin. Wenn man die Einschnitte, Ecken
-und Kanten an beiden Seiten aufmerksam miteinander vergleicht, ist
-leicht wahrzunehmen, daß sie genau ineinander passen, und es macht ganz
-den Eindruck, als habe ein gewaltiger Finger diese Wände ein wenig
-auseinander gerückt, um dem brausenden Bergwasser Platz zu schaffen.
-Friedericke und Fanny hielten sich fest umfaßt, als der Führer sie
-darauf aufmerksam machte.
-
-„Muß das gekracht haben“, sagte Friedericke, „da hätte ich nicht dabei
-sein mögen!“
-
-Als man bei der heißen Quelle ankam, zeigte sich die Thür zu einem
-Stollen, der in den Felsen getrieben ist, um mehr Wasser zu gewinnen.
-Da es aber darin natürlich heiß und dunkel war, verzichtete man darauf,
-ihn zu besuchen. Im Felsen an beiden Seiten bemerkte man Vertiefungen,
-wie zu einer Balkenlage.
-
-„Hier“, sagte der Führer, „hat früher ein kleines Haus schwebend über
-der Quelle gestanden, bevor noch ein Weg in die Schlucht hereinführte;
-die Kranken sind von oben, versehen mit Lebensmitteln, an Stricken
-heruntergelassen worden, und erst wieder heraufgezogen, wenn die Kur
-beendet war.“
-
-„Die sind dann ganz bei den Erdgeisterchen gewesen“, sagte Friedericke.
-
-„Und ich fürchte, sie hatten nicht so schönen Honig und keine
-Traubenrosinen zum Dessert, wie wir heute Mittag“, setzte Fanny hinzu.
-
-Beides, Honig und Rosinen, ist nicht nur kurgemäß in Pfäffers, sondern
-wird von den Ärzten aufs wärmste empfohlen und ist deshalb stets in
-Fülle und ungewöhnlicher Güte vorhanden, was Fannys vollen Beifall
-hatte. Sie war jetzt, wo Friedericke bei ihr war, ganz befriedigt; sie
-spielten, lasen und lernten zusammen, so viel oder vielmehr so wenig
-es Martha bei der Kur ratsam fand; Fanny machte an Friederickens Arm
-die kleinen Spaziergänge, welche sie ausführen konnte und welche
-der Arzt zu ihrer Stärkung dringend wünschte. Sie bauten sich eine
-ganze Märchenwelt in ihrer Phantasie auf, jeder Felsvorsprung, jede
-Vertiefung hatte für sie ihre Bedeutung.
-
-„Dort oben, wo niemand hinkommen kann, bei den vorgeschobenen Spitzen
-und Kanten, da ist das Zwergenschloß, da sehen sie heraus und sonnen
-sich. Dort, wo das tiefe Loch in den Felsen hineingeht, wohnt die
-Erdgeistermutter; die ist verdrießlich, man hört sie brummen, wenn der
-Wind weht. Im weißen Dampf über der Quelle tanzen die Tamina-Elfen; sie
-sind so fein, daß man nur ihre Schleier wehen sieht.“
-
-Oder sie dachten sich ganze Geschichten aus von solchen Kranken, die an
-Stricken heruntergelassen waren, wie sie sich fürchteten und graulten,
-und wie die lieben Zwerge aus dem Felsen kamen, sie zu trösten.
-
-Martha sorgte, ob solche Phantasieen nicht Fannys Nerven aufregen
-würden; aber sie schlief sanft und fest; sie brauchte zum Essen nicht
-mehr genötigt zu werden und ihre Spaziergänge konnte sie mit jedem Tage
-weiter ausdehnen. Der Annahme entgegen, daß eine Rose nur in der Sonne
-ihre schöne Farbe erhalten kann, kam auf die bleichen Kinderwangen
-mehr und mehr ein rosiger Schimmer, in die matten Augen ein Strahl
-von Jugendfreude und Mutwillen, der Martha entzückte. Sie selbst
-fühlte sich ebenfalls gekräftigt und vollkommen in Frieden. Seit den
-trüben Erfahrungen in Heyden hatte sie alle ungestümen Wünsche nach
-großartigen Ausflügen aufgegeben und war für die kleinen Spaziergänge,
-die ihr durch Judiths Freundlichkeit möglich wurden, dankbar.
-
-Das Verhältnis mit Judith erregte in hohem Grade ihr Interesse; sie
-kamen sich sehr langsam ein wenig näher, und nach dem, was sich da
-offenbarte, schien es gewiß, daß in dieser Seele noch viele verborgene
-Schätze schlummerten, die nur der richtigen Wünschelrute bedurften, um
-ans Tageslicht zu kommen.
-
-Eine nach der Eigentümlichkeit der Gäste größere oder kleinere
-Prüfung brachte ein Regentag; gottlob! gab es in diesem Sommer nicht
-viele. Wenn die Wolken wie dunkelgraue Gardinen zwischen den Felsen
-niederhingen, die Lampen in Korridor und Gesellschaftszimmer den ganzen
-Tag nicht ausgehen durften, die Badegäste entweder auf ihr Zimmer
-angewiesen oder in den Gesellschaftssaal gebannt waren, da gab es große
-Versuchungen zum Grillenfangen. Solch ein Tag kam in der zweiten Woche.
-
-Judith war eben mit ihrer Garderobe beschäftigt gewesen, jetzt folgte
-sie Martha und Fanny, die ihre Stunden beendet hatten, nach dem
-Versammlungszimmer. Dort saß beim Lampenlicht der General und spielte
-mit der Präsidentin eine Partie Schach; dort hatten sich Frauen aus
-allen Ständen und Ländern mit ihren weiblichen Handarbeiten um einen
-langen Tisch gruppiert; dort saß ein Kreis bäuerlicher Besitzer und
-unterhielt sich über Verkehrsverhältnisse, Fruchtpreise und Politik.
-Die jungen Damen nahmen am Frauentische Platz, da Fanny und Friedericke
-ein kleines, besonderes Tischchen für sich in Anspruch nahmen, um mit
-ihren Modepuppen die wunderlichsten Geschichten aufzuführen. Martha kam
-bald mit ihren Nachbarn in eine lebhafte Unterhaltung.
-
-Das Thema nach der ersten Bekanntschaft in Badeorten ist stets das
-gleiche: die Gebrechen und Krankheiten, für welche jeder hier Hilfe
-und Heilung sucht, und dieses Thema wird zwar von verschiedenen
-Persönlichkeiten in ebenso verschiedenen Variationen vorgetragen, aber
-es berührt doch die gleichen Grundaccorde in den Herzen und führt zu
-Mitleid, Mitfreude und leichter Verständigung.
-
-Martha fand neben den verschiedensten Leiden und einzelner Bitterkeit
-und Verzagtheit auch viel Demut, Geduld und Gottvertrauen, und hörte
-gern und hoffnungsvoll erzählen von manchen Erfolgen, die mit Gottes
-Hilfe durch den Gebrauch dieser Quellen erreicht worden waren.
-
-Als das Schachspiel beendet war, kam auch Frau v. B. in den
-Frauenkreis, und Martha staunte, wie sie es verstand, mit den
-einfachsten Frauen zu reden, ihr Vertrauen zu gewinnen, sie zu trösten
-und zu beraten. Der General war zu den Männern gegangen; hier entspann
-sich eine höchst lebhafte Unterhaltung über Wiesen- und Forstkultur,
-Ackerbestellung u. dergl.; je nachdem die Redenden aus verschiedenen
-Gegenden und Verhältnissen kamen, waren auch die Ansichten verschieden,
-und die Gefahr lag oft nahe, daß aus der Unterhaltung ein Streit werden
-könne. Dann hörte man stets des Generals ruhige, sichere Stimme, welche
-erklärte, vermittelte, und der sie alle sich unterzuordnen schienen.
-
-Judith langweilte sich aufs äußerste. Das Licht fiel schlecht auf ihre
-feine Arbeit; sie hatte dieselbe sinken lassen, lehnte sich nachlässig
-zurück, gähnte mehrmals, ohne es zu merken, und Verdruß und Müdigkeit
-spiegelten sich dergestalt auf ihrem sonst so schönen Gesichte, daß ein
-alter Oberbayer, der sie eine ganze Weile unbemerkt beobachtet hatte,
-zu ihr trat: „Sind Sie bös, Fräule, daß unser Herrgott schütten läßt?
-Hilft Ihnen doch nichts; er laßt’s deshalb nit; ’s macht ihm nichts,
-wenn ein jung Mädel die Stirn kraus zieht!“
-
-Judith sah ihn groß an und sehr von oben herab; sie antwortete nicht,
-verließ aber gleich danach die Halle, und als ihr Martha und Fanny
-später folgten, fanden sie sie in der schlimmsten Laune oben noch im
-Finsteren.
-
-Fanny war jetzt immer sehr müde und schlief bald ein; als Martha leise
-in das Wohnzimmer trat, ging Judith dort mit großen Schritten auf und
-ab. Martha setzte sich mit ihrer Arbeit ruhig an den Tisch zur Lampe
-und wartete das Weitere ab.
-
-Endlich blieb Judith vor ihr stehen: „Jetzt sagen Sie mir, Martha, wie
-es zugeht, daß sich die Leute solche Dinge gegen mich herausnehmen?“
-
-„Aber, liebes Fräulein, wie kann ich das wissen?“
-
-„Warum passiert dem General und der Präsidentin nie etwas Ähnliches?
-Sie sagten neulich, er habe so etwas Vornehmes; ich finde das gar
-nicht; er spricht mit allen Bauern wie mit seinesgleichen. Wenn Sie es
-wissen, wo seine Vornehmheit steckt, so sagen Sie es mir!“
-
-Martha dachte ein wenig nach: „Darf ich mich ganz offen aussprechen,
-Fräulein Judith?“
-
-„Ja, ich bitte sehr; und sagen +Sie+ nur nicht immer ‚Fräulein‘;
-von Ihnen ist mir das sehr langweilig, wissen Sie!“
-
-„Es ist eine schwierige Frage; lassen Sie mich ein wenig nachdenken.
-Einesteils ist es wohl wirklich das Übergewicht der Erfahrung, des
-Wissens, der Bildung, was die Leute empfinden, ohne es sich klar zu
-machen; aber ich glaube, der Grund der allgemeinen Achtung ist vor
-allem der, daß die beiden alten Herrschaften sich selbst vollständig
-in der Gewalt haben; daß sie sehr weit vorgeschritten sind in der
-Selbstbeherrschung und Selbstlosigkeit; ich denke mir, dies muß stets
-vorausgehen, ehe man anderen imponieren oder sie beherrschen will. Sie
-geben sich keine Blöße den Leuten gegenüber und, liebe Fräulein Judith,
-sie geben sich niemals das Ansehen, Respekt erzwingen zu wollen; das
-reizt in solchen Lagen, wie die unserige hier in dem kleinen Bade ist,
-gar so leicht zum Widerspruche!“
-
-„Ach Gott“, seufzte Judith, „wenn nur nicht das Leben mit diesen
-Menschen gar so langweilig wäre, und nicht nur mit ihnen, auch mit
-meinen Bekannten in M.; ich beneide jeden Menschen, der sich amüsieren
-kann, aber ich begreife es nicht!“
-
-„Ich wollte“, sagte Martha warm, „Sie begriffen es; gerade Sie, liebe
-Judith, würden so glücklich sein und andere so glücklich machen können,
-wenn Sie einmal anfingen, sich mit warmem Herzen für Ihre Mitmenschen,
-ihre Leiden und Freuden, ihre Ideen und Gedanken zu interessieren.
-Sie lesen so gern Schilderungen fremder Völker und Länder, und doch
-sind diese oft wunderbar gefärbt durch die eigentümliche Brille des
-Verfassers. Ich lese noch viel lieber in einem so lebendigen Buche,
-wie wir es jetzt vor uns haben; daraus kann man viel, sehr viel lernen!
-Versuchen Sie es nur; ich hoffe, die Befriedigung findet sich!“
-
-Judith stand eine Weile in tiefem Nachdenken, dann sagte sie
-freundlich: „Gute Nacht, lieber Herr Professor! ich werde über die
-Vorlesung nachdenken“, und verschwand in ihrem Zimmer.
-
- * * * * *
-
-Am anderen Morgen ward ein ähnliches Thema durchgesprochen zwischen dem
-General und der Präsidentin.
-
-„Ich verkehre gern mit allerlei Volk“, sagte der erstere, „man lernt
-eine Menge Dinge kennen, mit denen man sonst nicht in Berührung kommt.
-Ich verstehe es aber noch lange nicht so gut wie mein Georg, den Leuten
-nahe zu kommen; wenn der Junge kommt, sollst du dein Wunder sehen!“
-
-„Wenn mein Georg kommt!“ Dieses Wort hatten die Mädchen aus seinem
-Munde nachgerade so oft gehört, daß sie sich mit leichtem Lächeln
-ansahen, wenn es wiederkam. Es war dadurch allmählich „mein Georg“ eine
-Person geworden, der man mit einiger Spannung entgegen sah.
-
-Eines Abends, da es besonders schön und warm war, wanderten sie im
-Taminathal, die Kinder voran, Judith und Martha, wie es in der letzten
-Zeit öfter der Fall war, Arm in Arm.
-
-Da bog ein junger Wanderer um die Felsenecke; eine große, kräftige
-und doch bewegliche Gestalt, den leichten Sommerrock aufgeknöpft, das
-Halstuch gelockert, den Strohhut in den Nacken geschoben, daß eine
-Fülle lichtbrauner Locken frei wurde und ein heiteres, lebensvolles
-Gesicht mit blitzenden, braunen Augen, gesunder, etwas gebräunter
-Farbe, fröhlich lachendem Munde und einem Grübchen in jeder Wange,
-einrahmte; ein noch nicht eben sehr voller Bart umgab das gerundete
-Kinn.
-
-Judith sah ihn staunend an und ärgerte sich über sich selbst, daß ihr
-unwillkürlich ein Wort in den Sinn kam, das sie aus dem Munde ihrer
-Bekannten immer sehr albern gefunden hatte: „Ein junger Gott!“
-
-Der „junge Gott“ ließ ihr Zeit, ihn zu betrachten, denn er war mehrere
-Schritte vor ihnen bei Fanny und Friedericke stehen geblieben, hatte
-letztere ohne Umstände emporgehoben und geküßt, was mit dem Jubelruf:
-„Vetter Georg! lieber Vetter Georg!“ erwidert wurde.
-
-Dann beugte er sich zu Fanny: „Und hier ist ein kleines Fräulein,
-das geht ein wenig lahm. Sind Sie ein bißchen zu weit gegangen,
-Waldnymphchen!“
-
-„Ich glaube“, sagte Fanny mit weinerlicher Stimme.
-
-„Darf ich Sie tragen?“
-
-Fanny sah ihn zweifelnd an; aber er hob sie leicht auf seinen Arm, als
-sei sie eine Feder, und ging stolz mit ihr den beiden Damen entgegen.
-
-„Jetzt bin ich Ihr Ritter und Sie sind meine Dame!“
-
-„Ein Ritter! ein Ritter!“ jauchzte Friedericke. „Erdgeister haben wir,
-Zwerge, Elfen; nun haben wir auch einen Ritter -- und einen Ritter
-Georg; es ist nur schade, daß kein Drache da ist!“
-
-Friedericke stellte ihn den beiden jungen Damen vor; er hatte für jede
-ein heiteres, freundliches Wort, und da sie schon um der Kinder willen
-mit umwenden mußten, zogen sie wie im Triumphe mit dem Erwarteten im
-Bade Pfäffers ein.
-
-Natürlich wurde er von Vater und Tante sehr herzlich begrüßt, aber er
-war noch keine Stunde da, so war es, als sei ein frischer Wind in die
-ganze Gesellschaft gefahren; er plauderte mit den Alten, lachte mit den
-Kindern, verabredete gleich für den anderen Morgen einen Spaziergang
-nach der Kalandaschau und Dorf Pfäffers, für übermorgen eine Tour
-nach Ragatz und Chur; die erste sollte nach Judiths Bestimmung Martha
-mitmachen, der zweiten wollte sie selbst sich anschließen, und man
-hoffte, daß auch Frau v. Märzfeld mit dem Brautpaar von Ragatz aus
-daran teilnehmen werde.
-
-Es wurde nun alles Leben und Bewegung. „Mein Georg“ war Besitzer und
-Verwalter des Familiengutes, das in Süddeutschland lag; seine Gespräche
-mit den Landleuten waren viel eingehender als die seines Vaters; den
-Frauen machte er sich angenehm durch freundliche Besorgungen, kleine
-Erfindungen, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitrugen; mit Martha
-und Judith unterhielt er sich gern über Bücher, Bilder, über das Leben
-in der Residenz u. s. w.
-
-Die letztere erschien ihm wohl zuweilen etwas unergründlich, aber es
-reizte ihn sichtlich, ihr Wesen zu erforschen und dies schöne, stolze
-Gesicht aus seiner Ruhe und Feierlichkeit herauszusetzen. Dies gelang
-um so öfter, da Judith wirklich anfing, sich ihres Hochmuts zu schämen
-und mit Teilnahme auf die Gesellschaft zu blicken, die sie umgab. Wie
-sehr sie dadurch an Lieblichkeit und Anmut gewann, das merkte sie
-selbst nicht, andere desto mehr.
-
-Als der nächste Regentag die Gesellschaft ans Haus fesselte, kam
-„mein Georg“ mit einem jungen Oberbayer, der seine Mutter besuchte,
-aufs „Schuhplatteln“ zu sprechen; es fand sich, daß beide diesen
-oberbayerischen Nationaltanz kannten und konnten, und als der Abend
-herankam, wurden Judith und Martha bestürmt, denselben mit ihnen
-auszuführen. Ein älterer Badegast erbot sich, auf dem Flügel zu
-begleiten. Die Mädchen wollten nicht; sie hatten es ja noch nie
-gesehen.
-
-„Ach, Sie haben gar nichts dabei zu thun, als sich so graziös wie
-möglich immer im Kreise herumzudrehen, während wir schuhplatteln;
-dazwischen drehen wir Sie schon um, wie es sich gehört.“
-
-„Ja, aber bescheiden!“ bestimmte Judith.
-
-Es wurde versprochen und machte anfangs allen großes Vergnügen. Die
-beiden Tänzer waren gewandt, geübt und kräftig; es wurde ihnen gar
-nicht schwer, beim Sprung nach oben die Fußsohlen mit der flachen
-Hand zu schlagen und all’ die wunderlichen Bewegungen auszuführen,
-die der Tanz erfordert. Einen gehörigen Lärm giebt es dabei; einige
-nervenschwache Damen entflohen, alle anderen Gäste aber bildeten einen
-Kreis und sahen vergnügt und mit Spannung den Kautschukmännern zu. Der
-Bayer tanzte mit Martha, „mein Georg“ mit Judith. Sie hielten sich
-anfangs in ganz bescheidenen Grenzen und drehten ihre Damen sanft im
-Kreise herum, aber als der Georg ins Feuer kam, hatte er da vergessen,
-wen er vor sich hatte? daß Judith kein oberbayerisch Landmädel war?
-Mit raschem Griffe faßte er seine Dame fest um die Mitte, schwang sie
-mit einem lauten Juchzer hoch in die Luft und war vor Verwunderung und
-Entsetzen starr, als sie, wieder auf dem Erdboden angekommen, sich
-nicht weiter drehte, sondern mit heftigen, stolzen Schritten den Saal
-verließ und die Thür hinter sich schloß.
-
-Da stand er nun, wühlte in seinen Haaren und sah ganz verdonnert und
-unglücklich aus. Die Präsidentin war böse, der General klopfte ihm
-auf die Schulter: „Ist dir schon recht, das kommt vom Ungestüm!“ und
-Martha lief eilends der Judith nach. Sie zürnten zweistimmig, in bester
-Harmonie.
-
-„Nein, das ist nicht zu dulden! Das ist über alle Beschreibung
-unschicklich! So viel muß doch ein Edelmann sich in der Gewalt haben,
-daß er nicht vergißt, mit wem er zu thun hat! Dafür muß Strafe sein,
-das ist sicher!“
-
-Judiths erster Gedanke war, ganz und gar nach Ragatz zu entfliehen.
-Aber nein! daraus würde er sich am Ende nichts machen, oder er merkte
-es kaum, oder er könnte sich wunder was drauf einbilden, sie vertrieben
-zu haben! Nein, sie wollten ganz kalt und ganz fremd zu ihm sein, damit
-er es merkte, was er für ein schrecklicher Mensch war. Heute Abend
-wollten sie nicht mehr hinuntergehen, aber morgen früh, beim Frühstück,
-da sollte er es erleben!
-
-Martha war nur darüber verwundert, daß Judith plötzlich in Thränen
-schwamm; dies war bei ihr ganz ungewöhnlich.
-
-„Aber, Fräulein Judith“, tröstete sie, „so was entsetzlich Schlimmes
-ist es doch am Ende nicht; jeder sah ja, daß Sie nicht dafür konnten!“
-
-„Ja aber, daß Er! gerade Er!“
-
-„Das ist nun eigentlich so verwunderlich nicht“, sagte Martha ruhig;
-„so eine kleine Unbesonnenheit ist ihm schon zuzutrauen; kränken wollte
-er Sie sicher nicht.“
-
-Aber Judith war nicht zu trösten; sogar das Gotteswort und das
-liebliche Abendlied: „Der Tag ist nun vergangen“, das ihr in der
-letzten Zeit stets lieb und wert gewesen war, wollte heute nicht fassen.
-
-Am anderen Morgen ging sie mit sehr hocherhobenem Haupte zum
-Kaffeetische.
-
-„Mein Georg“ war schon da; er grüßte ein wenig verlegen, aber
-ehrfurchtsvoll und freundlich, und erhielt zum Dank eine stolze, steife
-Verbeugung. Er sprach heiter vom aufgehellten Himmel -- und erhielt
-keine Antwort! Er schlug einen Morgenspaziergang vor -- Judith und
-Martha versicherten, sie hätten Briefe zu schreiben. Er trat nach dem
-Kaffee näher, als wollte er um Verzeihung bitten -- sowie es Judith
-bemerkte, ging sie hinaus und Martha folgte ihr.
-
-„Das ist ja heute unausstehlich!“ sagte der alte General; „siehst du,
-Georg, das kommt von deinen Dummheiten! Ach, Agnes, sieh, ob du es
-wieder ins gleiche bringen kannst.“
-
-Die Präsidentin als freundliche Tante ging wirklich und klopfte am
-Märzfeldschen Wohnzimmer an, während Fanny und Friedericke, fröhlich
-plaudernd, am Kaffeetische blieben.
-
-Martha und Judith saßen sich sehr ernsthaft gegenüber; jede hatte einen
-großen Briefbogen vor sich und die eingetauchte Feder in der Hand, aber
-keine war aufgelegt zum Schreiben; der blaue Himmel sah so lockend
-herein; das Bedauern, durchaus Zorn halten zu müssen, wurde immer
-größer und die Frau v. B. wurde mit großer Zärtlichkeit und Ehrfurcht
-von ihnen empfangen, indem sie neben ihrer sonst schon geliebten Person
-die Hoffnung einer Veränderung dieses unerquicklichen Zustandes mit
-sich brachte.
-
-„Lieben Kinder!“ sagte sie, „ich komme nicht, um meinen unartigen
-Neffen zu verteidigen, sondern um Sie zu bitten, liebe Judith: nehmen
-Sie es hier in der Freiheit der Bergwildnis nicht so sehr schwer
-und verderben Sie uns allen nicht die paar freundlichen Tage des
-Zusammenseins! Ein todeswürdiges Verbrechen war’s doch am Ende nicht,
-und ich glaube, er ist schon recht gestraft; ich habe seine guten Augen
-heute noch gar nicht lachen sehen; gönnen Sie ihm wenigstens, daß er
-Ihnen selbst ein Wort der Abbitte sagt. Kommen Sie nun mit herunter und
-begleiten Sie uns auf dem Spaziergange. Sehen Sie, wie freundlich die
-Sonne lacht; da dürfen wir nicht Grillen fangen!“
-
-Ja, die Sonne lockte sehr; sie vergoldete die Ränder der Felsen
-gegenüber, und Frau v. B.s Stimme galt viel in der kleinen
-Gesellschaft. Da nun Judith vom Fenster aus den Verbrecher das
-Thal hinab wandern sah, glaubte sie, er wünschte ebenso wenig ihre
-Gesellschaft, als sie die seine, und setzte schweigend ihren Hut auf.
-Sie gingen langsam im eifrigen Gespräch der Gesellschaft nach, bis
-Martha bemerkte, daß Fanny und Friedericke sich dicht am Rande der
-Tamina vergnügten, und voll Sorge zu ihnen eilte. Nun schloß sich
-Judith der Präsidentin an, sah aber mit Schrecken, daß Georg und der
-Bayer an der nächsten Felsenecke ihrer warteten, und blieb zurück,
-scheinbar, um einen kleinen Strauß zu binden aus den feinen Halmen,
-Moosen und Kräutern, welche in den Felsenspalten wuchsen.
-
-Wie es dann gekommen, daß auf einmal Frau v. B. mit dem Bayer zehn
-Schritte vorausging und sie allein und verlassen dem gefürchteten Georg
-gegenüberstand, das ist ihr niemals klar geworden.
-
-Er sah sie weniger verlegen als ernst und traurig an: „Fräulein Judith,
-wollen Sie mir denn nicht erlauben, Sie für gestern Abend um Verzeihung
-zu bitten? Es thut mir so sehr leid, daß ich mich so vergessen und Sie
-so gekränkt habe, aber --“
-
-„Herr v. E., hier giebt es kein Aber! Ein Edelmann muß sich so viel in
-der Gewalt haben, daß er sich bewußt bleibt, mit wem er es zu thun
-hat; ich hätte Ihnen nicht zugetraut, daß Sie das vergessen könnten!“
-
-„Ach, Fräulein, das habe ich keine Minute vergessen; das war’s ja eben!“
-
-„Wie? Sie wußten, mit wem Sie tanzten, und wagten es, mich so zu
-beleidigen?“ rief Judith, indem sie die Farbe wechselte.
-
-„Immer mehr Mißverständnisse!“ rief er; „jetzt, Fräulein, muß ich
-es Ihnen ordentlich erklären. Bitte, bleiben Sie und hören Sie mich
-geduldig an!“
-
-Sie hatte eben Miene gemacht, zu entfliehen. Ein Umblick überzeugte
-sie, daß dies nicht wohl möglich war; vor ihr gingen die Freunde, in
-einiger Entfernung hinter ihr der fremdere Teil der Gesellschaft.
-Sie trug also mit Anstand, was sich nicht ändern ließ, und ging mit
-gesenktem Kopfe neben ihm, mit der Spitze ihres Sonnenschirmes Figuren
-in den feuchten Sand zeichnend.
-
-„Sehen Sie, Fräulein Judith,“ begann er, und auf der sonst so frischen
-Stimme lag es wie ein Schleier, „seitdem ich hier bin, habe ich das
-wärmste Interesse für Sie gehabt; ich betrübte mich, wenn Sie so steif
-dasaßen, und freute mich, wenn Sie lachten, und dachte schon am ersten
-Abend: ‚Was müßte das eine Freude sein, Sie so vergnügt zu machen, wie
-andere junge Mädchen sind. Sie glauben es nicht, wie ich glücklich
-war, als Sie nach und nach freier, frischer und unbefangener wurden; es
-reizte mich, immer mehr dazu zu helfen. Als ich Sie gestern Abend zu
-dem Tanz überredet hatte, glaubte ich über jede Schwierigkeit hinweg
-zu sein; ich dachte mir, ich wollte Sie durchs Leben führen und lauter
-Sonnenschein um Sie verbreiten, und ich sah Sie schon vor meinen
-Augen, Sie, die ich liebe wie niemand sonst, so schön, so fröhlich, so
-glücklich und beglückend, wie es Gott ursprünglich in Ihre Natur gelegt
-hat; o Judith, ich dachte, wir wären schon so weit! Da faßte mich ein
-innerer Sturm vor Freude; ich mußte jauchzen; ich mußte Sie in die Luft
-schwingen. O Judith, liebe Judith, können Sie mir jetzt verzeihen?“
-
-Sie ging neben ihm, der große Mousselinhut beschattete ihr Gesicht,
-doch sah Georg, daß sie sich mit dem Tuche einen Tropfen von den
-Wimpern wischte; aber er wußte nicht, was ihm derselbe bedeutete,
-nicht, daß es die Worte waren: „Sie, die ich liebe wie niemand sonst“,
-welche ihr das Herz so bewegten.
-
-„Judith, sagen Sie mir nur ein Wort, nur, daß Sie nicht mehr böse sind,
-nur, daß ich ein klein wenig hoffen darf! Sehen Sie“, fuhr er auf
-einmal, mehr in seinem alten, heiteren Tone fort, „ich hab’ so nötig
-jemanden, der mich zieht, denn ich bin ein Wildfang, Sie aber sind so
-verständig! Reizt Sie die Aufgabe nicht, liebe Judith, mich zu bessern?“
-
-Sie schwieg noch immer; er fuhr fort: „Ich weiß, ich müßte diese
-Dinge ernster sagen, aber Gott allein weiß, wie ernst sie mir sind;
-er weiß auch, daß ich mich auf seinen Beistand verlasse, wenn ich
-Ihnen verspreche: Ich will Ihnen ein treuer Gefährte sein! Jetzt,
-Judith, wenn Sie nicht sprechen wollen, geben Sie mir Ihren kleinen
-Blumenstrauß!“
-
-Zagend reichte sie ihm denselben; sie schlug die Augen auf dabei; es
-waren Thränen darin, aber ein Strahl von Glück verklärte sie.
-
-Sie sahen jetzt die anderen sich entgegenkommen. Georg umarmte seine
-Tante: „Sie ist wieder gut; ach, Tante!“
-
-„Na, Junge, erdrück’ mich nicht; ich bin zu alt, um durch die Luft
-geschwungen zu werden!“
-
-Es ging nun alles seinen natürlichen Gang. Während Judith und Martha
-eine sehr bewegte Unterhaltung hatten, schüttete Georg seinem Vater
-sein Herz aus und erstaunte sehr, daß dieser über seine Mitteilungen so
-wenig überrascht war; dann eilte er nach Ragatz zu Frau v. Märzfeld,
-und als diese am Nachmittag mit ihrem Brautpaar herüberkam, wurden die
-neuen Verlobten der erstaunten Badegesellschaft vorgestellt, zugleich
-aber auch bestimmt, daß Judith, Martha und Fanny anderen Morgens
-mit nach Ragatz übersiedeln sollten, was der Mutter mit Recht nun
-angemessen zu sein schien.
-
-„Ich dacht’ halt schon gestern“, sagte der Bayer, „’s ist schad’, daß
-sie nit seine Braut ist; wir meinen, es bringt Glück, wenn einer die
-Seinige recht hoch schwingt.“
-
-Der Abschied von Pfäffers wurde allen schwer, aber doch sehr
-erleichtert durch die Aussicht, daß der General mit seinem Sohne,
-die Präsidentin mit ihrer Friedericke in den nächsten Tagen ihnen
-nachfolgen wollten.
-
-Martha freute sich von ganzem Herzen über Judiths wie über Luciens
-Glück, wenn auch Stunden kamen, wo sie sehr die Sehnsuchtsgedanken nach
-Siegfried bekämpfen mußte. Glücklicherweise blieb ihr nicht viel Zeit
-dazu; denn da jetzt Fannys Leitung und Beaufsichtigung wieder allein
-in ihrer Hand lag und Frau v. Märzfeld für die vielen Überlegungen und
-Besorgungen, welche diese Doppelverlobung mit sich brachte, nur an
-ihr eine Stütze fand, waren ihre Kraft und Zeit reichlich in Anspruch
-genommen. Ihre Stellung in der Familie war eine ganz andere geworden;
-die Liebe ihrer Töchter zu der jungen Erzieherin, die freieren und
-billigen Ansichten der Schwiegersöhne über die Stellung derselben, das
-Beispiel des Generals und der Präsidentin wirkten mildernd auf Frau v.
-Märzfelds Benehmen, und obwohl Martha mit richtigem Takte die äußere
-respektvolle Form festhielt, war doch ihre Stellung zur ganzen Familie
-mehr die einer lieben, nahen Verwandten, als einer Untergebenen. In den
-wenigen Wochen, welche für den Aufenthalt in der Schweiz noch bestimmt
-waren, wurden nun noch fleißig hübsche Ausflüge gemacht, teils zu
-Wagen, teils per Bahn; da jetzt Fanny nicht mehr zu schwach dazu war,
-nahmen alle daran Teil, und so bekam Martha nach und nach ein schönes
-Stückchen Schweiz zu sehen; ja, auf der Heimreise rastete man auch in
-Heidelberg einige Tage, welches von Kind auf das Ziel ihrer Sehnsucht
-gewesen war.
-
- * * * * *
-
-Nach der Heimkehr oder vielmehr schon auf der Heimreise gab es
-ernstliche Beratungen darüber, was mit Fanny, die jetzt fast als
-genesen anzusehen war, weiter werden sollte. Graf T. und der General,
-die sie am unbefangensten beobachtet hatten, rieten sehr dazu, sie bald
-in eine Erziehungsanstalt zu bringen mit anderen Kindern zusammen; sie
-müsse das Glück gemeinsamer Arbeit und gemeinsamer Erholung kennen
-lernen und dürfe nicht mehr, wie bisher, der Mittelpunkt des Hauses
-sein.
-
-Die Frau Präsidentin schlug vor, sie in dieselbe Pension in der Nähe
-von Dresden zu bringen, in welcher Friedericke schon einige Jahre
-war. Dies schien allen vernünftig und gut zu sein und man beschloß,
-Martha solle sie den Winter über durch gründlicheren Unterricht auf den
-Eintritt in dieselbe vorbereiten.
-
-Frau v. Märzfeld bot dieser an, dann als Gesellschafterin bei ihr zu
-bleiben, aber Martha schlug das freundlich dankend ab. Sie hatte schon
-jetzt immer gefürchtet, sich ihrem speziellen Berufe durch die freiere
-Behandlung Fannys zu entfremden; verließ sie diese, so war es ihr klar,
-daß sie sich umsehen mußte nach einer Schulstelle.
-
-Während sie mit Fanny fleißig arbeitete und an den kleineren
-Geselligkeiten des Hauses jetzt gern Anteil nahm, wurden allerlei
-Briefe und Zeitungsannoncen ausgesandt, und schon vor dem neuen Jahre
-wurde ihr die Stelle, auf der wir sie im Anfange unserer Erzählung
-fanden, zugesagt.
-
-Sie konnte nur mit warmer Dankbarkeit aus dem Hause der Frau v.
-Märzfeld scheiden. Wie schwer war es zuerst, wie leicht wurde es dann!
-Wie schien erst alles so kalt, und nun fühlte sie sich so warm von
-Freundschaft und Liebe umgeben!
-
-Ihre Thränen flossen, auch die Thränen der anderen, als sie Abschied
-nahm; aber sie traute fest darauf in ihrem Herzen, daß Gott sie auch
-in der neuen Lebenslage an seiner Hand führen werde, und sagte leise
-und getrost, als sie einsam dahinfuhr und die lieben Gesichter, die sie
-zum Bahnhof begleitet, ihren Augen entschwanden: „In Gottes Namen!“
-
-
-
-
-11.
-
-Auf eigenen Füßen.
-
-
-Ja, was hätte das arme, junge Mädchen wohl anfangen sollen, wenn sie
-nicht ihre Zuversicht auf ihren Vater im Himmel gesetzt hätte? Sie
-machte sich jetzt keine Illusionen mehr, sie wußte, daß die neue Lage
-große Schwierigkeiten mit sich brachte. Zum erstenmale trat sie nicht
-in eine fremde Häuslichkeit als Mitglied ein, zum erstenmale sollte sie
-des unmittelbaren Schutzes entbehren!
-
-Das Leben im Märzfeldschen Hause war in den Außendingen dem sehr
-ähnlich gewesen, das sie im elterlichen Hause geführt hatte; da war
-nie ein Mangel an Speise und Trank; da war sie so gestellt, daß sie
-sich ohne Sorgen anständige Kleidung und nebenbei manch gutes Buch
-anschaffen konnte; die ganze Umgebung war fein und nett; ja, sie war
-jetzt wieder verwöhnt, recht sehr verwöhnt! Würde sie es lernen, mit
-ihrem kleinen Gehalte anständig auszukommen?
-
-Ihr erster Weg war zum Direktor der Schule; er empfing sie ernst und
-würdevoll, aber teilnehmend. Als sie ihn um seinen Rat wegen ihrer
-künftigen Wohnung bat, hatte er sie an Fräulein Klug gewiesen, und
-obgleich dieselbe ihr zuerst mehr schroff als herzlich entgegengekommen
-war, hatte doch das Bedürfnis nach irgendeinem Anschlusse gesiegt: sie
-war mit der alten Kollegin in eine Etage gezogen, und wir haben schon
-gesehen, wie sehr dies zum Besten der beiden Beteiligten war.
-
-Auch in der Schule gab es anfangs große Schwierigkeiten. Sie hatte
-sich gewöhnt, auf die Eigentümlichkeit ihrer Schülerin die größte
-Rücksicht zu nehmen, und hätte dies gern fortgesetzt; wenn aber so
-viele verschieden angelegte Kinder ein Klassenziel erreichen sollten,
-war dies nur in beschränktem Maße möglich; der Direktor mußte sich
-einmischen und sie auf geordnetere Bahnen weisen, und der Martha
-erschien es, wenn sie ihm folgen mußte, als gäbe sie ihr Allerbestes
-auf! Sie machte auch gern im Unterrichte Exkursionen, zog das
-Interessante und Anregende dem unbedingt Nötigen vor und kam dann ins
-Gedränge mit ihrem Lehrstoff. Da gab es manche Reibung, manches innere
-und äußere Unglück, bis ein unausgesprochenes Übereinkommen zustande
-kam, indem Martha einsah, daß in einem so großen, gut organisierten
-Ganzen der einzelne sich unterordnen muß, wenn es auch mit manchem
-Opfer geschieht, und der Direktor dagegen, als er Marthas beglückenden,
-erziehenden Einfluß auf ihre jungen Schülerinnen sah, ihr so viel
-Freiheit gewährte, als es sich mit seiner Schulordnung irgendwie
-vertrug.
-
-All’ diese Erfahrungen ihres jungen und doch so wechselvollen Lebens
-gingen an ihrem Geistesauge vorüber, als sie am Weihnachtsabend dem
-Verglimmen der Lichte am Tannenbaume zusah. Wie viel hatte sie erlebt,
-seitdem sie mit Siegfried im Hause der Eltern das Weihnachtslied der
-Urgroßmutter gesungen! Oft, oft hatte sie dies Lied seitdem gelesen,
-gesungen hatte sie es nie mehr; es war ihr immer gewesen, als ginge
-das nicht ohne ihn. Ja, sie hatte hindurch gemußt durch Armut, durch
-Leid, durch Niedrigkeit; sie hatte an des Todes Pforten gestanden, als
-ihre Lieben hindurchgegangen waren; aber überall hatte Gottes Hand sie
-gehalten und zärtlich wie eine Mutter sie durch die schwersten Stunden
-geführt. Aus jeder schweren Lebenslage war ihr ein Gewinn geblieben,
-viel Liebe und Freundschaft, das hatte sie in diesen Tagen erfahren.
-
-Dort lagen unterm Spiegel die Briefe ihrer Lieben; dort im Wandschranke
-waren die Schätze aufgespeichert, die Judith ihr aus ihrer Wirtschaft
-geschickt; dort in dem kleinen Kasten lagen Fannys und Luciens feine
-Arbeiten; dort sah sie auch auf Suschens letzten glücklichen Brief
-nach der Geburt ihres ersten Kindchens; und so reich und schön dies
-alles war, der innere Gewinn war doch noch größer. Die Sehnsucht kam
-wohl nach ihrem Siegfried, die Sorge: „Werde ich durchkommen? Wie wird
-es mir gehen, wenn ich alt und gebrechlich werde wie Fräulein Klug?“
-Aber nein! sie wollte nicht zittern und zagen, sie wollte sich und
-Siegfried fest in die Vaterhand legen, die den eingebornen Sohn aus
-Liebe uns geschenkt. Ja, heute, heute konnte sie, heute wollte sie das
-Lied der Urgroßmutter wieder singen; sie öffnete das Instrument und
-sang mit voller, klarer Stimme:
-
- Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht,
- Die uns das höchste Gut gebracht:
- Dich, Gottessohn, dich, Königskind,
- Das man im Stall und Kripplein find’t.
-
-
-
-
-Schluß.
-
-
-Einige Stunden früher schleppte sich der Kurierzug nach B. durch die
-verschneite Landschaft. Er machte seinem Namen heute wenig Ehre; zu
-gewaltig fielen die Schneemassen, zu heftig jagte sie der Wind in die
-Hohlwege, welche der Zug passieren mußte. So lange man durchs offene
-Land fuhr, konnten Kolonnen von Arbeitern die Schienen leidlich vom
-Schnee befreien, und wenn es auch viel langsamer ging als sonst und
-die Stationszeiten nirgends eingehalten werden konnten -- es ging doch
-vorwärts!
-
-In einem Coupé zweiter Klasse saß ein Herr mit noch jungem aber
-ernstem und gebräuntem Angesichte, das fast traurig in den Schneesturm
-hinausblickte, der seine kleinen, feinen Krystallsternchen so gegen das
-Fenster warf, daß man nur in einzelnen, seltenen Pausen einen Ausblick
-auf die Umgebung bekam; er zeigte auch nichts weiter, als ein großes
-weiß-graues Tuch, welches Häuser, Bäume, Felder und jede Ungleichheit
-des Terrains verhüllte und verdeckte. Die Wagen waren geheizt, aber
-man merkte nichts davon; der eisige Sturm drang durch alle Ritzen, und
-zwei Jünglinge, dem Pelzumhüllten gegenüber, schlugen mit den Armen
-übereinander, um sich zu erwärmen.
-
-„Ob wir heute noch nachhause kommen, Alfred?“
-
-„Wollen’s hoffen“, entgegnete der Gefragte; „es wäre ungemütlich, den
-Abend im Schnee zu verbringen statt unter dem Weihnachtsbaum.“
-
-Der Ältere sah nach seiner Uhr: „Es ist schon fast zwei Stunden über
-die Zeit, auf dem Bahnhofe kann wohl niemand mehr sein.“
-
-Da ertönte ein schriller Pfiff -- Stationslichter -- der Schaffner
-öffnet die Thür: „N., Aussteigen!“
-
-Mit einem Satz, die bunten Studentenmützen fröhlich lüftend, waren die
-beiden Jünglinge draußen; man sah zwei vermummte Mädchengestalten und
-einen etwa zehnjährigen Knaben.
-
-„Fritz, Elisabeth, Julchen, ihr alle hier? Na, kommt nur schnell
-nachhause! Da ist auch Heinrich mit dem Schlitten!“ Die Thür flog zu,
-der Zug dampfte weiter.
-
-Der Reisende in der Ecke seufzte schwer: „Nachhause! Die Glücklichen
-gehen nachhause! O, wo ist mein Zuhause auf der ganzen weiten Welt?“
-
-Heute vor fünf Jahren da hatte er zum letztenmal ein Zuhause gehabt;
-nicht bei Vater und Mutter, die lagen schon lange unterm Rasen, aber
-bei ihr; sie hatten zusammen unter dem brennenden Baum gestanden,
-sie hatten geträumt von einer süßen, gemeinsamen Heimat -- und schon
-am anderen Morgen war alles zusammengebrochen! Als sich seine heißen
-Wünsche nicht gleich erfüllt hatten, da war er fortgestürmt in die
-Ferne ohne Abschied, Zorn und Stolz im Herzen und hochfliegende
-Hoffnungen und Erwartungen auf Glück und Reichtum. Übers Weltmeer war
-er gezogen, dort in Missouri wußte er eine Thür, daran durfte er nur
-klopfen, damit Fortuna ihr Füllhorn über ihn ausgoß; dort lebte der
-einsame Oheim, der sich nach seiner Hilfe und Gesellschaft sehnte und
-den er beerben sollte.
-
-Nach mancherlei Fährlichkeiten zu Wasser und zu Lande stand er vor dem
-stattlichen Hause; der Oheim war ausgegangen; ein frisches, junges
-Weib, mit einem lustigen, kleinen Buben auf dem Arm, empfing ihn.
-Sie war nicht herzlos, nicht unfreundlich, auch der Oheim, als er
-heimkehrte, war es nicht; aber daß sich seine Aussichten hier völlig
-verändert hatten, das brauchte ihm ja niemand zu sagen.
-
-Der Onkel hatte ihm unter die Arme greifen, ihm die Wege ebnen wollen
-zum Vorwärtskommen; er hatte alles in seinem Hochmut abgelehnt und
-sich auf seine eigene Kraft verlassen. Er wurde bald inne, daß er etwas
-Schweres unternommen hatte; er suchte eine Stelle als Landwirt --
-man bot ihm Knechtsarbeit; er wollte als Kaufmann auf einem Comptoir
-arbeiten -- und fand keine Stelle.
-
-Da kam die Not. Sein kleines väterliches Vermögen war ihm im Vaterlande
-sichergestellt, daran konnte und wollte er nicht rühren; an seinen
-väterlichen Freund zu schreiben, konnte er sich nicht entschließen; da
-ging es tief hinunter mit seinen hohen Gedanken.
-
-Monatelang hatte er als Arbeitsmann sein Brot verdient, dann war er
-Sprachlehrer gewesen; er hatte sein Leben kärglich gefristet; aber
-erworben, irgendetwas erworben, das er ihr bieten konnte, das hatte er
-nicht.
-
-Darum schrieb er ihr nicht; was sollte er ihr schreiben? In einer
-elenden Nacht, da sein ganzes Geschick sehr dunkel vor ihm lag, und
-ihres auch, da wurde es ihm klar: „Mit Sorgen und mit Grämen und mit
-selbst eig’ner Pein läßt Gott ihm gar nichts nehmen, es muß erbeten
-sein!“
-
-Und er lernte wieder beten; das verirrte Kind klopfte an des rechten
-Vaters Thür und der Vater that ihm auf und tröstete ihn.
-
-Er war mit einem Deutschen zusammengekommen, der hatte ein herrliches
-Grundstück für ein industrielles Unternehmen und ein großes Kapital
-zum Anfang; aber ihm fehlte, was Siegfried besaß: Intelligenz,
-Kenntnisse, Thatkraft. Er bot eine namhafte Summe, wenn dieser ihm sein
-Geschäft in Gang bringen wolle, und fortdauernden Anteil am Gewinn.
-
-Das Unternehmen gelang; sowie dies sich zeigte, hatte Siegfried an sie
-geschrieben, an seine Martha; er erhielt keine Antwort.
-
-„Sie wollen ihr den Brief nicht zeigen“, dachte er, und als nach einem
-Vierteljahre keine Antwort kam, schrieb er noch einmal, diesmal an den
-Vater; wieder lange, lange keine Antwort. Endlich kam der Brief zurück:
-„Adressat seit Jahren tot, Angehörige verzogen.“
-
-O Gott, wie wurde nun sein Herz so schwer! Sobald sich’s thun ließ,
-ging er nach Newyork, um dort womöglich Landsleute zu treffen; es
-gelang ihm; sie brachten die Schreckenskunde vom Konkurs und dem gleich
-darauf erfolgten Tode des Kommerzienrats; aber niemand, niemand wußte,
-wo die Seinigen geblieben waren.
-
-Welche Qual! Er schrieb an den Onkel Konsul und erfuhr auch dessen Tod.
-Wie lang, wie endlos lang wurde ihm das Jahr, das er durchaus noch in
-Amerika verleben mußte, wenn das Unternehmen in sicheren Gang kommen
-sollte!
-
-Nun war er in der Heimat, bei ungünstiger Jahreszeit in Sturm und
-Wetter herübergefahren, und schon wochenlang irrte er umher und suchte
-sie, ohne eine Spur von ihr entdeckt zu haben. Auf der Post wußte
-man nichts mehr von ihrer Adresse; die Angehörigen des Onkel Konsul
-waren nach dem Süden gezogen; entferntere Bekannte erinnerten sich, in
-irgendeiner Zeitung die Todesnachricht der Frau Feldwart gelesen zu
-haben; sie wußten nicht mehr, wann und woher, und die Zeitung fand sich
-nicht. Das war ihm gewiß: er mußte in der Heimat bleiben, mußte seine
-Nachforschungen fortsetzen; es mußte ja möglich sein, sie zu finden;
-wenn es gar nicht anders ging, durchs Einrücken in die Blätter.
-
-Ach, wenn er doch damals in seinem Hochmut nicht fortgegangen wäre!
-Wie viel hätte er der Verlassenen sein können! Es konnte aber länger
-dauern, bis er sie fand, und er wollte sich einen Wirkungskreis
-schaffen, um nicht müßig zu sein, und hatte sich hier und da ein
-Besitztum angesehen, das seinen Mitteln und Ansprüchen entsprach.
-
-So verlassen, so betrübt, so voll Sehnsucht hatte er sich noch nie
-gefühlt wie heute; zum erstenmale kam ihm der Gedanke, sie könne
-gestorben sein oder -- was war schlimmer? verheiratet. Er dachte daran:
-„Es ist ja Weihnachten!“ Es fiel ihm der Engelgruß ein: „Siehe, ich
-verkündige euch große Freude!“ Ach, in seinem Herzen da war nur Leid;
-er bat den lieben Gott um einen Brosamen von der Freudenfülle, die
-sich heute über die ganze Welt ergoß, und sein Herz wurde stiller und
-ergebener, wenn es auch eben noch nicht fröhlich wurde.
-
-Der Bahnzug fuhr jetzt langsam an einer kleinen Station vorüber; hier
-hielten die Kurierzüge nicht an, es ging weiter in die Nacht hinein.
-Da auf einmal ging es langsam, immer, immer langsamer; man sah an
-den Seiten schwarze, vermummte Gestalten mit Laternen und Schaufeln
-arbeiten; man hörte durch den Sturm hindurch die Unterhaltung der
-Schaffner mit den Leuten. Aber alle Anstrengungen waren vergeblich;
-immer höher baute sich die Mauer im Hohlwege, die der Zug nicht
-durchbrechen konnte; sollte er nicht ganz darunter begraben werden,
-mußte man zurückkehren zu der kleinen Station; es geschah.
-
-Frierend stieg der Reisende aus und wollte eben in die Restauration
-treten, da klang es durch den Sturm wie Glockengeläute und durch das
-Schneetreiben schimmerte es auf einem nahen Hügel wie erleuchtete
-Fenster.
-
-„Ist hier Christvesper?“ fragte er.
-
-„Ja wohl, unsere Kinder wollen eben hin.“
-
-Der Reisende fror, er hätte sich gern erst gewärmt, aber eine deutsche
-Christvesper -- die heimelte ihn gar zu sehr an. Ach ja, es ward
-ihm auch innerlich warm und wohl, als er mitsingen durfte: „Dies
-ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit!“
-Er schmeckte den süßen Trost für alles Weh, der in der himmlischen
-Freudenbotschaft lag; aber er betete, betete aus vollem Herzen,
-Gott wolle ihm die wiederschenken, die vor fünf Jahren die letzte
-Christvesper neben ihm gefeiert.
-
-Siegfried, siehst du sie nicht, die schlanke Gestalt, die gar nicht
-weit von dir neben dem Pfeiler sich über ihr Gesangbuch beugt? Nein,
-er sah sie nicht; sie kehrte ihm den Rücken, und ihre weiße Capote
-verhüllte den jugendlichen Kopf.
-
-Als die Christvesper zu Ende war, trat er in ein Gasthaus, um sich zu
-erwärmen und etwas Speise zu sich zu nehmen; wenige Reisende fand er
-hier -- sie waren heute alle zuhause!
-
-Eine Stunde verging in gleichgültiger Unterhaltung; Siegfried trat ans
-Fenster: es hatte sich schon während des Gottesdienstes aufgehellt,
-jetzt war es völlig still. Er wollte nach dem Bahnhofe und sich
-erkundigen nach der Weiterreise. Ein schriller Pfiff der Lokomotive
-machte es ihm wahrscheinlich, daß es die höchste Zeit sei.
-
-„Ist hier der nächste Weg nach dem Bahnhofe?“ fragte er eine
-vorübereilende Frau.
-
-„Nein, gehen Sie hier durch die Schustergasse, das ist näher!“
-
-Er ging weiter, aber er ging wie im Traum; er war mit seinen Gedanken
-bei dem Weihnachtsabend vor fünf Jahren; er dachte an Urgroßmutters
-Weihnachtslied: „Du wurdest arm, daß ich würd’ reich; nun gilt mir arm
-und reich sein gleich.“ Das wußte er noch, denn daran hatte er damals
-seinen Antrag geknüpft. O, wie wünschte er, das ganze Lied noch zu
-können, jetzt könnte er’s mit anderem Sinne singen!
-
-Was war das? War es eine Geisterstimme? Hoch über ihm klang’s herab,
-und ach, mit welcher Stimme: „Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht, die uns
-das höchste Gut gebracht; dich Gottessohn, dich Königskind, das man im
-Stall und Kripplein find’t.“
-
-Einen Augenblick stand er wie in einen Traum versunken, dann kam
-Bewußtsein und Bewegung.
-
-„Wer singt da?“ fragte er einen Schusterjungen, der eilends
-vorüberlief, um noch Schuhe wegzutragen, die beschert werden sollten.
-
-„Es wird die neue Lehrerin, die Fräulein Feldwart, sein!“
-
-Ach, da war im Nu der Fremde im Hause verschwunden; unten im Flur
-brannte ein trübes Lämpchen, das ihm die Treppe zeigte. Er wollte
-sehr leise hinaufgehen, aber oben war kein Licht; er trat fehl und die
-Stufen knarrten. Martha brach mitten im zweiten Vers ab und öffnete die
-Thür.
-
-Fast erschrocken stand sie dem Manne im Reisepelz gegenüber; vorsichtig
-und schüchtern trat er näher.
-
-„Erschrecken Sie nicht, Martha, es ist ein alter, treuer Freund!“
-
-Ach, jetzt wußte sie, wer es war, jetzt hielt er sie umschlungen und
-mußte sie halten, damit sie nicht umsank, und dann hörte man lange,
-lange nichts anderes als leises Schluchzen; ja, dies Weihnachtsgeschenk
-war so groß, daß es das schwache Herz nicht gleich fassen konnte.
-
-Aber dann tauschten sie ihre Erlebnisse aus, erst abgerissen und dann
-zusammenhängender, und sahen sich dabei an und fanden, daß wohl etwas
-von der Rundung und dem Schmelz der ersten Jugend aus den Zügen fort
-war, aber dafür etwas darin, was viel, viel schöner war; und die alte
-Liebe und Treue, die war geblieben, und daran hatten sie beide niemals
-gezweifelt.
-
-„Und wo kommst du heute her, Siegfried?“
-
-„Aus einem kleinen Orte, den du wohl kaum kennst, aus Weißfeld. Der
-Amtmann dort hat sich in Schlesien ein größeres Gut gekauft und will
-Weißfeld verkaufen; ich habe Lust, den Kauf abzuschließen; es gefiel
-mir dort gar manches.“
-
-„Was gefiel dir, Siegfried?“ fragte Martha mit strahlenden Augen.
-
-„Ach, es führte mich eine alte, krumme Frau herum; das war ein
-prächtiges altes Geschöpf; ich dachte mir’s so schön, die bis zum Tode
-zu pflegen. Und dann, Martha -- ach, es ist fast ein bißchen sonderbar
--- aber du wirst es verstehen; es war da ein kleiner eiserner Tisch
-und eine Bibel darauf, und die Alte sagte, es rühre von einer früheren
-Besitzerin her, die habe gewünscht, daß es so bleiben möchte, das
-brächte dem Gute Segen. Das gefiel mir auch!“
-
-Er wunderte sich, als er ihr Gesicht von Thränen überströmt sah.
-
-„O Urgroßmutter! Urgroßmutter!“ rief sie aus.
-
-Da war denn Siegfried voll Erstaunen, als er den Zusammenhang erfuhr.
-
-„Ja“, sagte Martha, „‚denen, die mich lieben und meine Gebote halten,
-thue ich wohl bis ins tausendste Glied!‘ Das ist gewißlich wahr!
-O Siegfried! Siegfried! Es ist ein Zusammenhang da zwischen dem
-Betschemel der Urgroßmutter und dem Glück ihrer Urenkelin!“
-
-Siegfried war auch bewegt.
-
-„Das ist ein schöner Gedanke, aber auch ein ernster und
-verantwortungsvoller“, sagte er, „wenn man sich als ein Glied in einer
-so großen Kette betrachtet, beeinflußt von der Vergangenheit und weiter
-wirkend in die Zukunft hinein.“
-
-Martha wunderte sich, daß er in Weißfeld nichts von ihr gehört habe;
-aber sein Aufenthalt war nur kurz gewesen -- „und“, sagte Martha, „die
-Urgroßmutter hat uns gewiß selbst wieder zusammenführen wollen durch
-ihr Weihnachtslied.“
-
-„Wie wird sich Suschen, mein liebes Suschen freuen, wenn ich dort
-einziehe! Aber eine Bitte habe ich noch, Siegfried, eine recht große.
-Nicht wahr, wir haben ein Stübchen übrig für meine alte, liebe Freundin
-Klug?“
-
-Und als der glückliche Bräutigam vernommen, was diese seiner Braut
-gewesen war, da stimmte er mit Freuden zu; sie sollte sogleich zum
-Abendbrot gerufen werden und ihr Glück vernehmen.
-
-„Aber erst will ich alles festlich herrichten!“ sagte Martha.
-
-Sie steckte neue Lichter an das Weihnachtsbäumchen, sie deckte den
-Tisch mit einem reinen, weißen Tuch und besetzte ihn mit Judiths guten
-Gaben, denen „mein Georg“ einige Flaschen Rotwein beigefügt. Dann stand
-das Brautpaar vor der alten Freundin, die sehr überrascht und bewegt,
-aber voll Liebe und treuer Wünsche war.
-
-„Und nun müssen Sie mit uns essen“, drängte Martha, „ich muß ja doch
-eine Brautmutter haben!“
-
-Und an der fröhlichen Abendtafel da trug man ihr die schönen
-Zukunftspläne vor. Es war ihr zuerst zu neu und wunderbar, dann faltete
-sie ihre Hände wie zu einem stillen Gebete: „Ja, Kinder, wenn mir nicht
-der liebe Gott ein anderes Altenstübchen anweist, so gehe ich mit; ich
-will euch, so er hilft, nicht zur Last sein!“
-
-„Was werden meine Kinder, meine lieben Kinder sagen?“ ging wehmütig
-durch Marthas Seele; aber sie tröstete sich: „Bis Ostern bin ich
-noch bei ihnen, und Agnes, Helene und Eva müssen jedenfalls meine
-Brautjungfern sein!“
-
-Das Abendbrot war verzehrt, die Uhr zeigte auf zehn.
-
-„Und nun, Martha“, sagte Siegfried, „bevor ich gehe --“
-
-Sie fiel ihm ins Wort: „Nun, Siegfried, singen wir noch einmal zusammen
-Urgroßmutters Weihnachtslied!“
-
-„Ja, Martha, und mit mehr Verständnis als vor fünf Jahren.“
-
-Die Lichter am Baume strahlten, die Augen glänzten noch heller und die
-Herzen schlugen in heiliger Weihnachtsfreude, als sie sangen:
-
- Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht,
- Die uns das höchste Gut gebracht,
- Dich Gottessohn, dich Königskind,
- Das man im Stall und Kripplein find’t.
-
- Daß ich empfinge Kindesrecht,
- Wohnst du wie ein geringer Knecht;
- Drum will ich gern veracht’t und klein,
- Herr, Dir zu Lieb’ und Ehren sein.
-
- Dein war des Himmels Herrlichkeit,
- Aller Welt Schätze weit und breit;
- Du wurdest arm, daß ich würd’ reich,
- Nun gilt mir arm und reich sein gleich.
-
- Du kamst aus lichtem Himmelssaal
- Und gingst für mich durchs dunkle Thal;
- Ich bin zum Leid nun auch bereit,
- Da du es durch dein Leid geweiht.
-
- Für mich, mein Lebensfürst und Gott,
- Gabst du dich hin in Todesnot;
- Daß ich dem Tod verfall’nes Kind
- Durch dich das ew’ge Leben find’.
-
- Ich kniee an dein Kripplein hin
- Und fasse nicht das Wunder drin,
- Und bitte dich: O Herr, verleih,
- Daß dies mein Bitten ernstlich sei!
-
- Du giebst dich mir, Herr Christ, ich hab’
- Nur mich als arme Gegengab’.
- O nimm mich hin, Rat, Kraft und Held,
- Und mach aus mir, was dir gefällt.
-
-Ja, jetzt war ihr Bitten ernstlich; sie wußten, der Herr mußte noch
-viel an ihnen thun und viel mit seiner Liebe zudecken, wenn sie ihm
-gefallen sollten; sie wußten auch, daß er sie zu diesem Ende noch auf
-manchen sauern Weg und manche rauhe Bahn führen werde; aber sie waren
-getrost. Sie verließen sich nicht mehr auf sich selbst oder andere
-menschliche Stützen, sondern auf den, der sie mit seinen Augen geleitet
-durch alle die schweren Jahre, und:
-
-Herr Gott Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verläßt!
-
-[Illustration]
-
-
-
-
-Druck von Friedr. Andr. Perthes in Gotha.
-
-*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS WEIHNACHTSLIED ***
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-<body>
-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<p style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of <span lang='de' xml:lang='de'>Das Weihnachtslied</span>, by Lina Walther</p>
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
-at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. If you
-are not located in the United States, you will have to check the laws of the
-country where you are located before using this eBook.
-</div>
-</div>
-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: <span lang='de' xml:lang='de'>Das Weihnachtslied</span></p>
-<p style='display:block; margin-left:2em; text-indent:0; margin-top:0; margin-bottom:1em;'><span lang='de' xml:lang='de'>Eine Erzählung für junge Mädchen</span></p>
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Lina Walther</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: December 11, 2022 [eBook #69525]</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: Jens Sadowski, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)</p>
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DAS WEIHNACHTSLIED</span> ***</div>
-
-<div class="transnote mbot3">
-
-<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
-
-<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von
-1887 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
-Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
-nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
-unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.</p>
-
-<p class="p0">Der Ausdruck ‚et cetera‘ wird im ursprünglichen Text mit
-Hilfe der Tironischen Note ‚Et‘ dargestellt. Da diese Note in vielen
-Zeichensätzen nicht enthalten ist, wird in der vorliegenden Fassung die
-im Deutschen gebräuchliche Abkürzung ‚etc.‘ verwendet.</p>
-
-<p class="p0">Die gedruckte Ausgabe ist in Frakturschrift gesetzt.
-Passagen in <span class="antiqua">Antiquaschrift</span> werden hier
-kursiv dargestellt. <span class="nohtml">Abhängig von der im
-jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original
-<em class="gesperrt">gesperrt</em> gedruckten Passagen gesperrt, in
-serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt
-erscheinen.</span></p>
-
-</div>
-
-<div class="titelei">
-
-<p class="s1 center mtop3 mbot3 break-before">Das Weihnachtslied.</p>
-
-<h1>Das Weihnachtslied.</h1>
-
-<div class="figcenter illowe4" id="titel_deko">
- <img class="w100" src="images/titel_deko.png" alt="">
-</div>
-
-<p class="s2 center">Eine Erzählung für junge Mädchen</p>
-
-<p class="center">von</p>
-
-<p class="s3 center"><b>Lina Walther.</b></p>
-
-<p class="s4 center padtop5"><b>Gotha.</b></p>
-
-<p class="center"><em class="gesperrt">Friedrich Andreas Perthes.</em></p>
-
-<p class="center">1887.</p>
-
-<p class="s4 center mtop3 padtop3 break-before">Ihren drei Nichten</p>
-
-<p class="s2 center">Elisabeth Moeller</p>
-
-<p class="s2 center">Hanna Pfeifer</p>
-
-<p class="s4 center">und</p>
-
-<p class="s2 center">Anna Moeller</p>
-
-<p class="s4 center">gewidmet</p>
-
-<p class="center mleft5">von der</p>
-
-<p class="s4 center mleft10"><b>Verfasserin.</b></p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Inhalt">Inhalt.</h2>
-
-</div>
-
-<table class="toc">
- <tr>
- <td class="s5" colspan="2">
- &#160;
- </td>
- <td class="s5">
- <div class="right">Seite</div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">&#8199;1.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Einleitung</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right">&#8199;&#8199;<a href="#Kap_1">1</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">&#8199;2.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Jugendsonnenschein</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right">&#8199;<a href="#Kap_2">16</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">&#8199;3.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Sturm</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right">&#8199;<a href="#Kap_3">29</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">&#8199;4.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Not und Sorgen</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right">&#8199;<a href="#Kap_4">44</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">&#8199;5.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Suschen von drüben</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right">&#8199;<a href="#Kap_5">52</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">&#8199;6.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Die Urgroßmutter</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right">&#8199;<a href="#Kap_6">82</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">&#8199;7.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Muß man denn immer im Streit sein auf Erden</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Kap_7">120</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">&#8199;8.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Schwerer Abschied</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Kap_8">139</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">&#8199;9.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Bei Werners</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Kap_9">154</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">10.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Noch eine neue Schule</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Kap_10">192</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- <div class="center">11.</div>
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Auf eigenen Füßen</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Kap_11">285</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- &#160;
- </td>
- <td class="vat">
- <div class="left">Schluß</div>
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Schluss">289</a></div>
- </td>
- </tr>
-</table>
-
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_1">1.<br>
-Einleitung.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Die Adventszeit hatte begonnen. Am Morgen war der erste Schnee
-gefallen; jetzt erglänzte der Abendhimmel klar und rein; die mit
-den feinen Krystallen des Rauhreifs geschmückten Zweige hoben sich
-scharf ab von seinem leuchtenden Hintergrunde; vom nahen Rain herüber
-hörte man die Stimmen jubelnder Kinder, die zum erstenmal in diesem
-Jahre auf ihren Handschlitten die rasche, immer aufs neue beginnende
-Reise machten, vom Hügel zur darunter liegenden Wiese. Am Ende einer
-Lindenallee, die mit ihren feinen Zweigen ein besonders strahlendes
-Bild in der lichten Landschaft abgab, wenige Minuten nur von der
-kleinen Stadt entfernt, öffnete sich jetzt die Thüre eines großen,
-grauen Hauses, und mit leisem, fröhlichem Geplauder erschienen auf
-der Schwelle etwa 20 bis 25 jugendliche Gestalten, einige schon
-jungfräulich erscheinend, andere noch in der<span class="pagenum" id="Seite_2">[S. 2]</span> Kindheit stehend.
-Sobald sie die breite Freitreppe verließen, war es, als sei ein Trupp
-gefangener Vögel in Freiheit gesetzt worden: die älteren wanderten
-paarweis oder zu dreien plaudernd dahin; die jüngeren versuchten zu
-schlittern, und hie und da griff eine mit etwas scheuem Seitenblick
-nach den Fenstern des Hauses wohl auch nach einem Schneeball, eine
-fröhliche Kanonade zu beginnen. Da hörte man etwas lauter als
-gewöhnlich eine schlanke Blondine sagen: „Kinder (Kinder ist eine sehr
-oft gebrauchte Anrede zwischen Backfischen), sie ist reizend!“ Als ob
-das Signal zum Sammeln geblasen wäre, so flogen jetzt die Köpfe aller
-größeren Mädchen nach der Seite der Sprecherin; sie stand sofort von
-einem dichten Kreis umgeben, aus welchem immer wieder die Ausdrücke:
-„Entzückend! einzig! süß! zu lieb!“ zu hören waren.</p>
-
-<p>„Ja“, rief eine kleine runde Braune, „es giebt nur <em class="gesperrt">eine</em> Fräulein
-Feldwart. O, wie ist sie liebevoll! und so anmutig! Stundenlang kann
-man ihr mit Spannung zuhören; bei der alten Fräulein Klug wurde ich
-immer in der ersten Viertelstunde müde!“</p>
-
-<p>„Was weiß sie alles“, rief eine andere, „wie erzählt sie, wie schön
-singt sie!“</p>
-
-<p>Der Gegenstand dieser Begeisterung war die neue Lehrerin, Martha
-Feldwart, welche seit Ostern in die Schule<span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span> der Frau W., für die alte,
-gebrechlich gewordene Fräulein Klug, eingetreten war.</p>
-
-<p>Jetzt öffnete sich die Hausthüre noch einmal, und die schwärmerisch
-Verehrte erschien auf der Schwelle, in der Hand den Regenschirm und
-die Mappe mit den Zeichnungen, Noten und Büchern. Es war eine leichte,
-schlanke Gestalt, mit einem feinen, ein wenig blassen Gesichte, dessen
-dunkle Augen in lieblicher Freundlichkeit leuchteten, als die jungen
-Mädchen sie umdrängten, und von allen Seiten die Bitte ertönte:
-„Ach, lassen Sie mich Ihren Regenschirm tragen! Ihre Mappe, Fräulein
-Feldwart!“</p>
-
-<p>„Laßt es mir nur“, sagte sie mit angenehmer, herzlicher Stimme, „ich
-kann es ja doch nicht allen zugleich geben.“</p>
-
-<p>„Aber jeder ein kleines Stück, bitte, bitte!“ fing der Chor noch einmal
-an, und die Kühnsten hatten sich schnell in Besitz der fraglichen
-Gegenstände gesetzt.</p>
-
-<p>„Trugt ihr Fräulein Klug auch immer die Mappe nachhaus?“ fragte
-Fräulein Feldwart.</p>
-
-<p>Die Kinder blickten sich an mit wunderlichen Gesichtern; endlich sagte
-eine: „Ach, das hätten wir gar nicht gewagt; sie sah immer so böse aus,
-Fräulein Feldwart!“</p>
-
-<p>„O“, erwiederte diese ernst, „sie ist gewiß immer recht müde und
-matt gewesen, die Arme! Wie schwer mag ihr<span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span> der Unterricht bei ihren
-Schmerzen in letzter Zeit geworden sein. Nun hört! bis an die Ecke der
-Schustergasse dürft ihr mir die Sachen tragen, — wenn ihr es durchaus
-wollt; dann gebt ihr sie mir ohne Widerrede und laßt mich alleine
-nachhause gehn.“</p>
-
-<p>Wenn Fräulein Feldwart so bestimmt sprach, war ihr nichts abzuhandeln,
-gar nichts! das wußten die Kinder. Die Schustergasse war schnell
-erreicht, und mit herzlichem Gruße trennten sich Lehrerin und
-Schülerinnen.</p>
-
-<p>„Warum wir nicht weiter mitkommen sollen?“ fragte die kleine braune
-Helene.</p>
-
-<p>„Ich glaube, ich weiß es“, rief die blonde Eva, „es ist von wegen der
-Klug, die wohnt mit ihr in einem Hause!“</p>
-
-<p>„Hört!“ fing jetzt Agnes mit leuchtenden Augen an, „mir fällt eben
-etwas zu Schönes ein; sie ist noch so fremd hier; wir müssen ihr zu
-Weihnachten ein Bäumchen putzen, und jede von uns hängt eine kleine
-Arbeit daran.“</p>
-
-<p>Begeisterung und Zustimmung von allen Seiten! Welch neuer Stoff zur
-Unterhaltung! An jeder Straßenecke gab es vor der Trennung noch eine
-lange Konferenz, und den Müttern wurde zuhause kaum Zeit gelassen,
-sich nach der ungewöhnlichen Verzögerung des Heimwegs zu erkundigen.
-Bevor noch das sonst so ersehnte Vesperbrot angerührt<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span> wurde, waren
-sie überschüttet mit den schönen Weihnachtsplänen, und die meisten von
-ihnen, froh über den beglückenden Einfluß der jungen Lehrerin, boten
-gerne die Hand zu ihrer Ausführung.</p>
-
-<p>Indessen hatte Martha Feldwart das bescheidene Haus erreicht und die
-beiden Treppen erstiegen, welche zu ihrer einfachen Wohnung führten.
-Angenehm überrascht blieb sie einen Augenblick auf der Schwelle stehen;
-das Feuer im Ofen brannte schon und verbreitete eine behagliche
-Wärme; der Kaffeetisch war gedeckt, und die kleine Kanne stand in der
-Ofenröhre. „Die gute Fräulein Klug!“ rief die Eintretende gerührt,
-„da hat sie ’mal wieder alles für mich gethan, trotz ihrer steifen
-Glieder!“ Kaum hatte sie Hut und Mantel abgelegt, da eilte sie den
-Korridor entlang zum Stübchen der alten Kollegin, ihr Gruß und Dank für
-ihre Mühe und Sorgfalt zu bringen.</p>
-
-<p>Es war eine krumme, gebeugte Gestalt mit einem Angesichte voller
-Runzeln und Falten, die dort im Lehnstuhl ruhte, und da sie viel an
-Gliederschmerzen litt, trugen ihre Züge einen leidensvollen, grämlichen
-Ausdruck; aber aus den Augen leuchtete es doch freundlich, als sie
-ihrer jungen Nachfolgerin die welke Hand entgegenstreckte: „Ich bin ja
-froh, Fräulein Marthchen, wenn ich noch ’mal was thun darf“, erwiderte
-sie auf Marthas warmen Dank.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span></p>
-
-<p>„Sie sollten herüber kommen und den Kaffee mit trinken!“ bat diese.</p>
-
-<p>„Lassen Sie mich, liebes Kind! ich habe eben eine Lage gefunden, in
-welcher ich es ohne Schmerzen aushalten kann, und Sie müssen ja doch
-dann Hefte korrigieren; da können Sie keine Gesellschaft gebrauchen.“</p>
-
-<p>„Ich sehe aber nachher noch einmal herein und helfe Ihnen ins Bett; das
-darf ich doch?“</p>
-
-<p>„Gewiß“, lächelte die Alte, und die Jüngere kehrte in ihr ungemein
-sauberes, gemütliches Zimmer zurück.</p>
-
-<p>„Ich will mir doch morgen Wolle mitbringen zu einem Tuch für sie“,
-sagte sie leise.</p>
-
-<p>Schöne Adventszeit! Das Christkind ist nicht weit; seine Liebe dringt
-durch Paläste und Hütten, seine dienstbaren Geisterchen gehen von
-Haus zu Haus, von Herz zu Herz, erwecken Liebesgedanken, entzünden
-zu Liebesthaten: groß und klein, und alt und jung. Gar so schnell
-eilten Tage und Stunden dahin für alle die emsig schaffenden Hände;
-der Christabend erschien, bevor man sich dessen versah. Es war kein
-freundlicher Tag mit strahlendem Sonnenschein über der weißgekleideten
-Erde. Vom Morgen an tanzte der Schnee durch die Luft in so dichten
-Flocken, daß man kaum wenige Schritte weit sehen konnte; der
-Wirbelwind jagte ihn, schlug ihn an die Fensterscheiben,<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> und trieb
-ihn den mühsam dahinschreitenden, vermummten Gestalten ins Gesicht,
-welche ihre letzten Weihnachtsbesorgungen machen wollten; er warf
-an den Straßenecken Schneeberge auf, als wollte er allen Verkehr
-hindern und hemmen; er entführte die leinenen Wände der Buden auf dem
-Weihnachtsmarkte, und dort an der Ecke, wo sie seiner Gewalt am meisten
-ausgesetzt waren, stürzten mit großem Krachen zwei Honigkuchenbuden um;
-der Besitzer schimpfte und rieb sich die Glieder, die etwas getroffen
-worden waren. Mit großem Hallo! und Heisa! eilte die Straßenjugend
-herbei, wühlte im Schnee und suchte verunglückte Honigkuchenmänner,
-Pfeffernüsse und Bonbons darunter hervorzuziehen. Der Mann wehrte,
-seine Frau drohte, aber es war ja Weihnachten! Ein sehr schlimmes
-Gericht erging nicht über die Eindringlinge, und manches arme Kind
-hielt in den kalten dunkelroten Händchen mit strahlendem Angesichte ein
-süßes Beutestück. Auch Martha hatte sich gegen Abend wohl vermummt noch
-einmal hinausgewagt mit einem Korb am Arme. Ihre Waschfrau war krank
-gewesen und erst seit wenigen Tagen wieder außer Bett; ihr trug sie
-etwas Lebensmittel und selbstgestrickte Müffchen und Strümpfe für die
-Kinder hin; viel konnte sie nicht erübrigen von ihrem kleinen Gehalt,
-aber es war ja Weihnachten! da mußte sie auch die Freude des Schenkens
-haben. Sie fand<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> die Familie um ein Tannenbäumchen versammelt, an dem
-wenige Äpfel und Nüsse hingen und ein paar kleine Lichter brannten.
-Mit Jubel wurden ihre Gaben empfangen, und die Danksagungen aller
-folgten ihr, als sie von da den weiteren Weg zum Vespergottesdienst
-antrat. Es war ein rechtes Kämpfen gegen Sturm und Wetter; aber es war
-ja Weihnachten! Von rechts und links, aus kleinen Gassen und breiten
-Straßen eilten mit fliegenden Mänteln und Kleidern alte und junge
-Gestalten herbei, und als die kleine Kirche mit den lichtübersäeten,
-liliengeschmückten Weihnachtsbäumen die Wanderer in ihren Friedenshafen
-aufnahm, als ihnen entgegenklang: „Dies ist die Nacht, da mir
-erschienen des großen Gottes Freundlichkeit; das Kind, dem alle
-Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit, und dieses Welt- und
-Himmelslicht weicht hunderttausend Sonnen nicht“; — da verstärkte der
-Gegensatz von drinnen und draußen das selige Gefühl, beim Christkind
-geborgen zu sein vor allem Weh und allem Leid des Lebens. Auch in
-Marthas empfängliches Herz drang der Strahl der Weihnachtssonne, auch
-sie empfand tief das: „Siehe, ich verkündige Euch große Freude!“ und
-erhoben und erquickt trat sie den Rückweg an. Er war weit leichter als
-der Hinweg; denn, als hätte auch der Sturm die Nähe dessen gefühlt, dem
-Wind und Meer gehorsam sind: es war ganz stille geworden<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> draußen. Der
-Mond war durch die Schneewolken hindurchgebrochen; in seinem milden
-Lichte glänzten festlich die weißen Straßen und Dächer; hin und wieder
-ward jetzt ein Fenster hell und die Lichter des Christbaumes warfen
-ihren Schein hinaus auf die Straße. „Es ist doch schade, daß ich mir
-kein Weihnachtsbäumchen geschmückt habe“, dachte Martha als sie die
-enge, wohlbekannte Treppe hinaufstieg. Sie zündete ihre Lampe an und
-wollte eben das vollendete Tuch für die alte Nachbarin aus der Kommode
-nehmen, da hörte sie Flüstern und Schritte auf der Treppe; sie öffnete
-die Thüre, um zu leuchten, aber der Schein einer Laterne glänzte ihr
-entgegen, eine kleine weiße Hand schloß energisch die Thüre und eine
-liebliche junge Stimme sprach: „Ruhig drin geblieben, sonst bläst Ihnen
-das Christkind die Augen aus!“ Dann erklang, von wohlbekannten Stimmen
-gesungen, ihr Lieblingsvers:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">„Fröhlich soll mein Herze springen</div>
- <div class="verse indent0">Dieser Zeit, da vor Freud’</div>
- <div class="verse indent0">Alle Engel singen;</div>
- <div class="verse indent0">Hört, hört wie in vollen Choren</div>
- <div class="verse indent0">Alle Luft laute ruft:</div>
- <div class="verse indent0">Christus ist geboren!“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Dann öffnete sich die Thüre, und welcher Anblick war schöner? Der
-grüne zierliche Baum mit brennenden Lichtern,<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> goldenen Sternen und
-lieblichen Rosen, oder die hellen Augen, die von der Kälte geröteten
-Wangen und strahlenden Gesichter ihrer heißgeliebten Kinder? Die
-Thränen stiegen der Überraschten in die Augen; sie wußte selbst
-nicht, was ihr Herz jetzt am meisten bewegte; die himmlische oder die
-irdische Weihnachtsfreude, und sie konnte anfangs gar nichts weiter
-sagen, als: „Meine Kinder! meine lieben Kinder!“ und eine der zarten
-Mädchengestalten nach der andern in ihre Arme und an ihr Herz ziehen.
-Aber diese wünschten jetzt noch etwas anderes. Martha sollte auch
-die Arbeiten ihrer fleißigen Hände bewundern und sich über jedes der
-kleinen Geschenke einzeln freuen. Sie that es so gerne, aber mitten
-in dem fröhlichen Betrachten durchzuckte sie der Gedanke: „Ach,
-meine Klug! meine arme Klug!“ und die Kinder wußten nicht, warum sie
-auf einmal so still und nachdenklich zwischen ihnen stand und ein
-so wehmütiger Schatten über das Angesicht flog, dessen wechselnden
-Ausdruck ihre kindliche Liebe sonst so wohl verstand.</p>
-
-<p>„Liebe Kinder“, sagte Martha endlich: „Wollt ihr mich nun ganz, ganz
-glücklich machen?“ Aller Augen hingen voll Spannung an ihren Lippen.
-„Seht, neben mir wohnt Fräulein Klug. Die hat nicht nur euch, sondern
-schon vor euch, euere Mütter unterrichtet und hat viel, viel mehr
-Anspruch auf euere Dankbarkeit als ich.<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> Nichtwahr, wir tragen ihr das
-Weihnachtsbäumchen hinüber? Was gar nicht für sie paßt, das nehme ich
-mir herunter; aber die warmen Müffchen und den Ohrenwärmer und einiges
-andere, das lassen wir hängen; ist’s euch so recht?“ Ach nein! es war
-ihnen gar nicht recht; sie sahen recht niedergeschlagen und traurig
-aus. „Sie sorgt für mich, wie eine Mutter, und (hier wurde Marthas
-Stimme unsicher) ich werde auch ’mal alt und kränklich sein.“</p>
-
-<p>Da wurde es unruhig in den jungen Herzen und Gewissen, und als die
-blonde Eva schüchtern sagte: „Ja, wenn es Ihnen so die meiste Freude
-macht, Fräulein Feldwart“, da stimmten die andern getröstet ein.</p>
-
-<p>Die Jugend ist elastisch; die Kinder halfen nun selbst auswählen, was
-hier bleiben und was hinüber gebracht werden sollte, und gingen gern
-auf Marthas Wunsch ein, daß vor Fräulein Klugs Thüre nicht nur der
-erste Vers des schönen Weihnachtsliedes, sondern auch der siebente
-und der neunte gesungen werden sollte. Das wurde denn auch sehr schön
-ausgeführt; denn Marthas klare, sichere Stimme leitete den Gesang.
-„Faßt ihn wohl, er wird euch führen an den Ort, da hinfort euch kein
-Kreuz wird rühren.“ Das war der Schluß. Drinnen war es ganz still
-geblieben. Leise klopfte Martha und öffnete vorsichtig; da stand
-Fräulein Klug mitten im Zimmer, hielt sich an die Lehne ihres<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> Stuhles;
-gewaltiger Kampf war in ihren Zügen, aber mit finster abweisendem
-Blicke sah sie auf die Kinder und den geschmückten Baum. Es fühlten
-in diesem Augenblick alle, Martha am tiefsten, daß sie der Einsamen
-ein zweifelhaftes Glück bereiteten, und keines konnte sogleich eine
-passende Anrede finden.</p>
-
-<p>Fräulein Klug zeigte mit ihren dünnen Fingern auf Martha: „Sie hat es
-euch gesagt, und der Baum ist für sie, und in euere Gedanken ist das
-nicht gekommen!“</p>
-
-<p>Die arme Martha wurde blaß und rot und kämpfte mit den Thränen; konnte
-denn, was der heiße Wunsch ihres Herzens ihr schneller eingegeben
-hatte, als sie sonst Entschlüsse zu fassen pflegte, wirklich so schlimm
-sein in seiner Wirkung? Wie schwer ist es, in solchen Lagen das
-befreiende Wort zu finden! Mitunter lehrt es die Liebe.</p>
-
-<p>Evas Auge hatte fest an dem Gesicht der geliebten Lehrerin gehangen;
-jetzt zog tiefes Rot über ihre Wangen, sie trat zu Fräulein Klug,
-und sagte mit inniger Stimme: „Es war freilich sehr schlimm, liebes
-Fräulein, daß es uns erst gesagt werden mußte, wir wissen aber jetzt,
-daß wir sehr undankbar gewesen sind! Bitte, vergeben Sie es uns am
-heiligen Weihnachtsabend und nehmen Sie unser Bäumchen freundlich an,
-von uns oder von Fräulein Feldwart, von wem Sie es lieber wollen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p>
-
-<p>Da ging eine große Bewegung über das alte Gesicht: „Nein, Kinder!
-das Bäumchen, das habt ihr für Martha geputzt; das soll ihr Stübchen
-schmücken in den Feiertagen; ich komme schon hinüber und sehe es mir
-an; aber singt mir dann das schöne Lied noch einmal; das wird mir
-wohlthun.“</p>
-
-<p>Der milde Ton ermutigte die Kinder, sie wurden jetzt ganz eifrig im
-Zureden: „Aber die Honigkuchen müssen Sie nehmen; meine Mutter hat sie
-selbst gebacken, und Fräulein Feldwart hat die andere Hälfte!“</p>
-
-<p>„Und die Müffchen!“</p>
-
-<p>„Und die warmen Handschuhe!“</p>
-
-<p>Das alte Herz war erweicht; dies und jenes nützliche Stück blieb
-in ihren Händen; teils konnte sie den bittenden Kinderaugen nicht
-widerstehen, teils nahm sie es ihrer jungen Gefährtin zuliebe. Nun ward
-das schöne Lied noch einmal gesungen, das alte Fräulein gab ernst aber
-freundlich jedem Kinde die Hand; der Tannenbaum wurde wieder in Marthas
-Zimmer getragen; dann eilte das junge Voll nachhause, dem eigenen
-Weihnachtsbaum und der Bescherung der Eltern entgegen.</p>
-
-<p>Martha aber ging mit ihrem Tuche noch einmal zu ihrer alten Freundin
-hinein. Als sie es ihr um die Schultern legte, fiel aus dem jungen Auge
-eine Thräne<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> auf die alte runzelige Hand. Sie sprachen beide nicht;
-Martha setzte sich auf einen Schemel der Alten zu Füßen; diese legte
-ihre Hand auf den reichen braunen Scheitel und erst nach einer Weile
-sagte sie: „Ich war recht schlecht; es war ja so natürlich, und Sie
-meinten es so gut, Marthchen! Aber es ist auch schwer, wenn man einmal
-jung war und tüchtig und geliebt, und nach und nach fühlt man, daß die
-Kräfte schwinden, und daß man seinen Platz nicht mehr ausfüllen kann!
-Wenn man dann beiseite geschoben wird und vergessen, da giebt es einen
-harten Kampf um Demut und Geduld und um Liebe! Gott schenke Ihnen ein
-leichteres Los, mein liebes Kind!“</p>
-
-<p>Marthas Herz war zu voll zum reden; der Mond schien ins Zimmer; sie
-saßen beide eine Viertelstunde still in seinem milden Lichte; da
-hörte Martha die alte Freundin leise sagen: „Faßt ihn wohl, er wird
-euch führen an den Ort, da hinfort euch kein Kreuz wird rühren.“ Sie
-merkte, daß ihre Seele dahingegangen war, wo man des Menschentrostes
-gern entbehrt und am liebsten allein ist; so ging sie hinüber in ihr
-Stübchen.</p>
-
-<p>Die Lichter am Tannenbaum brannten noch; sie waren aber sehr kurz
-geworden; mitunter entzündeten sich einzelne Tannennadeln und sandten
-ihren einzigen, lieben Weihnachtsduft durch das Zimmer. Wem bringt
-dieser Duft nicht<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> die süßesten Bilder aus seiner Jugendzeit mit?
-Martha saß mit gefalteten Händen, ihr Herz war bewegt. Süße und
-schmerzliche Gedanken zogen durch ihre Seele; die Erinnerungen ihres
-ganzen Lebens gingen an ihrem inneren Auge vorüber. Die Gedanken
-haben schnellere Flügel als Wolken und Winde; eine kurze halbe Stunde
-genügte für die Reise durch ihr Leben. Wir, meine liebe junge Leserin,
-gebrauchen längere Zeit, wenn wir sie auf derselben begleiten wollen,
-und ich bitte dich dazu um deine freundliche Aufmerksamkeit und um ein
-wenig Geduld.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_2">2.<br>
-Jugendsonnenschein.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Im Herzen einer deutschen Residenzstadt lag das stattliche Haus des
-Kommerzienrat Feldwart. Es erschien nicht als Palast, sondern als
-geräumiges Wohnhaus; es war von außen nicht überladen mit Schmuck, aber
-geschmackvoll und harmonisch in seinen Formen. Hinter den hohen hellen
-Spiegelscheiben fielen reiche Gardinen herab, dazwischen erblickte man
-prächtige, ausländische Gewächse mit ihrem mannigfachen Grün, und wer
-den Hausflur betrat, dem sagte die feine Mosaikarbeit des Fußbodens,
-die köstlichen bronzenen Flurlampen, von Statuetten gehalten, der
-weiche Teppich, der die Stufen der Treppe bedeckte, das stilvolle
-Geländer aus Schmiedeeisen und die schweren, eichenen, polierten Thüren
-an beiden Seiten, daß er sich im Hause des Reichtums befand. Dies
-schöne Haus ward bewohnt von dem wohlwollend aber ernst aussehenden
-Hausherrn,<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> seiner etwas starken aber elegant und vornehm erscheinenden
-Frau, und Martha, der einzigen Tochter beider, dem schönen, fröhlichen
-und klugen Mädchen, das noch nicht lange aus den Kinderschuhen
-herausgetreten war, und, wie man es zu nennen pflegt, diesen Winter
-in die Welt eingeführt werden sollte. Ja, wollte denn Martha wirklich
-in die Welt? War sie ein Weltkind, das nur am Irdischen Freude fand?
-O nein! Marthas Seele war jedem höheren geistigen Interesse offen;
-die Eltern hatten sich bemüht, ihr die besten Lehrer zu geben, die
-wertvollsten Bücher in ihre Hände zu legen; wo es etwas Nützliches und
-Gutes zu hören gab, da mußte Martha dabei sein, und als die Zeit ihrer
-Einsegnung gekommen war, war sie einem treuen Seelsorger anvertraut
-worden; dem war es, da sein eigenes Herz in aufrichtiger Liebe zu
-Gott und dem Heilande brannte, leicht geworden, in dem empfänglichen
-Kinderherzen die gleiche Flamme anzufachen. Martha ging, auch nachdem
-sie den Unterricht verlassen hatte, gern und freudig zur Kirche; sie
-las andächtig in Gottes Wort und ihren schönen Erbauungsbüchern, sie
-sang mit Begeisterung fromme, geistliche Lieder und hob mit kindlichem
-Sinne morgens und abends ihre Hände betend auf. Aber Martha ging
-auch eben so gern ins Konzert und Theater, Martha zog sich auch gern
-hübsch an und hatte Geschmack darin, schnell<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> auszuwählen, was für sie
-paßte; denn stundenlanges Beschäftigen mit Toilettengegenständen war
-ihre Sache eben nicht; Martha tanzte auch gerne. Es war so sehr der
-natürliche Ausdruck der Jugendkraft und Jugendlust, wenn sie nach dem
-Rhythmus der Musik durch den glattgebohnten Saal flog, und es brauchte
-zu ihrem Vergnügen gar kein Ball zu sein; wenn die Mutter einen Walzer
-spielte, nahm sie ihr kleines, weißes Seidenhündchen auf den Arm und
-tanzte fast mit noch größerer Lust durch das Zimmer, wie in der größten
-Gesellschaft.</p>
-
-<p>Sie mußte auch in ihrer Art fleißig sein, denn ihre Zeit war sehr
-besetzt; es gab noch französische und englische Stunde; einen
-italienischen Abend, Klavier- und Singunterricht, Gesangverein,
-Vorlesungen, Lesekränzchen, Proben und Konzerte — jeden Tag etwas
-anderes. Dazu kam eine angenehme Geselligkeit. Langeweile kannte sie
-nicht; es war ihr nur zuweilen, als ob dies vielerlei sie abhielte,
-das einzelne so gründlich zu treiben, wie sie es gerne gethan hätte;
-aber Gott hatte ihr einen klaren Kopf, gute Anlagen und frische Kräfte
-gegeben, und so schwamm sie doch eigentlich in den Wellen dieser
-verschiedenen Eindrücke wie ein Fischlein im Wasser oder ein Vogel in
-der Luft, mit glücklichem Herzen und fröhlichem Angesichte; brauchten
-ihr doch all die Arbeiten und Mühen des alltäglichen<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> Lebens, die
-man zusammen Wirtschaft nennt, keine Sorge zu machen; die ruhten
-sicher in den Händen einer wohlgeschulten Dienerschaft und waren in
-den behaglichen Wohnzimmern, in denen sich Martha bewegte, nur wenig
-zu merken. Der einzige Wunsch, der ihrem jungen Herzen unerfüllt
-geblieben, war der: o, hätte ich doch Geschwister! Sie hatte Bekannte,
-viele Bekannte; sie nannte sie Freundinnen; aber sie hatte ein Gefühl
-davon, die wahre Freundschaft müßte noch anders, noch tiefer und
-reicher sein. O, dachte sie oft: eine Schwester, ein Bruder wäre mehr
-als sie alle!</p>
-
-<p>Der Vater Feldwart war oft sehr versunken in seine Geschäfte,
-die Mutter eine stille, bequeme Dame; da war ihr der Wunsch nach
-jugendlicher Gesellschaft nicht zu verdenken und siehe, seit einigen
-Jahren war auch diese ins Haus gekommen und hatte ihr einen großen
-Zuwachs an Lebensfreude mitgebracht. Der Vater hatte einen einzigen
-Jugendfreund gehabt, einen Doktor Kraus; der war Arzt in einem
-Provinzialstädtchen und lebte dort, seit Gott ihm seine Frau genommen,
-ganz der Erziehung seines einzigen Sohnes Siegfried. So lange er
-rüstig war, hatte er sich jedes Jahr einige Wochen frei gemacht und
-sich an irgendeinem schönen Ort im Gebirge, bald im Harz, bald im
-Thüringer Wald, bald im Schwarzwald, mit der Feldwartschen<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> Familie
-zur Sommerfrische vereinigt, und dies war für beide Freunde, sowie
-für ihre wilden fröhlichen Kinder stets eine ersehnte und genußreiche
-Zeit; der schlank aufgeschossene Siegfried war dann der Ritter der
-kleinen Martha, und da er um 6 Jahre älter war als sie, galt er als
-ihr Beschützer auf allen Wegen. Aber schon seit Jahren hatte Herr
-Kraus nicht mehr reisen können; ein schweres inneres Leiden fesselte
-ihn zuerst ans Haus, dann an sein Lager, und niemand wußte besser
-als er, daß es ihn seinem Ende entgegen führte. Sein Freund Feldwart
-hatte ihn auf seinem Schmerzenslager noch einmal besucht und ihm das
-Versprechen gegeben, sich nach seinem Tode des verwaisten Sohnes
-anzunehmen. Als nun das erwartete Ende eintrat, erhielt Herr Feldwart
-mit der Todesnachricht zugleich ein Schreiben des Entschlafenen,
-welches die Pläne und Wünsche desselben für die fernere Laufbahn
-seines Siegfried enthielt. Ein Bruder des Doktor war als junger
-Mann nach Amerika gegangen und hatte dort in Missouri verschiedene
-landwirtschaftliche Etablissements und Fabriken angelegt. Er war ein
-sehr begüterter Mann, und da er unverheiratet geblieben war, wünschte
-er dringend, daß Siegfried zu ihm kommen, ihm in seiner Thätigkeit
-beistehen und schließlich sein Erbe werden möge. Für den jugendlichen
-Siegfried, so ungern er sich von seinem Vater trennte, hatte die
-Aussicht<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> auf dies fremde Land und die unbekannten Verhältnisse etwas
-Verlockendes; Herr Kraus fühlte, daß seine Lebenszeit bald verflossen
-sein würde, er konnte Siegfried nur ein kleines Erbe hinterlassen;
-so machte er nur die Bedingung, daß dieser erst seine Ausbildung in
-Deutschland vollenden, einen praktischen Kursus in der Landwirtschaft
-durchmachen, seiner Militärpflicht genügen und einige Jahre in der
-Hauptstadt Kollegien über Physik, Chemie und andere dahin einschlagende
-Wissenschaften hören sollte. Die praktische Landwirtschaft hatte er
-noch beim Leben seines Vaters erlernt; seit dem Tode desselben war er
-in B., und wenn er auch nicht bei Feldwarts wohnte, brachte er doch
-fast alle seine freie Zeit daselbst zu; und wie er sich mit Martha
-als Kind gejagt hatte und mit ihr über den Graben gesprungen war, so
-teilte er nun gern ihre ernsteren Beschäftigungen, las mit ihr gute
-englische und deutsche Bücher, begleitete ihre liebliche Singstimme auf
-dem Klavier, oder mit seinem kräftigen, gut geschulten Baß. Die Eltern
-wurden es kaum gewahr, daß aus den Kindern Leute geworden waren, und
-sie selbst hatten bis dahin einen so geschwisterlichen Ton, wenn sie zu
-einander sprachen, daß sowohl die Dienerschaft des Hauses, als auch die
-Freunde desselben den unbefangenen Verkehr durchaus natürlich fanden.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span></p>
-
-<p>Seit dem Frühjahr hatte Siegfried seine Studien vollendet, machte
-sein Militärjahr durch und kam nach dem Manöver als braungebrannter,
-wohlbestallter Unteroffizier bei Feldwarts an. Martha empfing ihn
-höchst fröhlich. Wenn ihm auch das Dienstjahr weniger freie Zeit
-ließ, — einige Mußestunden gab es immer, und sie hatte ihm soviel
-mitzuteilen — soviel neue Bücher, soviel schöne Lieder, die sie nun
-mit ihm zusammen einstudieren wollte. Auch Frau Feldwart war ganz die
-Alte; aber nicht ohne Grund hingen ihre Augen zuweilen mit Besorgnis
-an den welken, eingefallenen Zügen und matten Augen ihres Mannes. Er
-klagte nicht viel; er mochte nicht einmal leiden, daß man über seinen
-Zustand sprach. Der Arzt sagte: „Er hat angegriffene Nerven, er muß ins
-Seebad!“</p>
-
-<p>Der Kranke lächelte grämlich: „Ich werde alt, das ist alles!“</p>
-
-<p>Martha hatte noch nichts Schweres erlebt; sie tröstete sich: Es wird
-schon wieder anders werden! Für jetzt kam die schöne Adventszeit,
-brachte Arbeit für ihre Hände und freundliche Beschäftigung für ihre
-Gedanken; wenn Siegfried Kraus kam, hatte sie ihm immer allerlei neue
-Pläne mitzuteilen oder kleine Aufträge zu geben.</p>
-
-<p>„Sehen Sie nur, Siegfried!“ sagte sie eines Abends, „Mama hat mir nun
-wirklich die schöne Rokoko-Kommode<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> von der Urgroßmutter geschenkt,
-die ich so lange schon gern haben wollte; ich habe all meine kleinen
-Überraschungen eingeräumt. Dabei habe ich noch eine Menge Briefe,
-Papiere und Stammbuchblätter gefunden; auch auf ganz gelbem Papier ein
-Weihnachtslied; das können wir gleich zusammen einüben!“</p>
-
-<p>Wann hätte jemals Siegfried „Nein!“ gesagt, wenn sie um etwas bat?
-Das Lied wurde zweistimmig gesungen und klang gar rein, frisch und
-andächtig von den jungen Stimmen. Am heiligen Abend kam Siegfried
-zeitig; Frau Feldwart hatte noch in der Bescherstube zu thun, der
-Kommerzienrat im Geschäft.</p>
-
-<p>„Wie werde ich übers Jahr Weihnachten feiern“, fragte Siegfried ernst.</p>
-
-<p>Marthas Herz wurde ganz schwer, und in ihren Augen standen Thränen. Sie
-hatte die Trennung nur immer in weiter Ferne gesehn, hatte vielleicht
-auch heimlich gehofft, es sollte noch etwas dazwischen kommen; nun
-war sie so nah! Es kam ihr vor, als wären auf einmal alle Blumen in
-ihrem Garten verhagelt; sie konnte sich gar kein Leben mehr denken
-ohne Siegfried. Aber am heiligen Weihnachtsabend durfte man doch nicht
-weinen. „Kommen Sie, Siegfried!“ sagte sie, „ehe die Eltern fertig
-sind zur Christvesper, können wir noch einmal Urgroßmutterchens Lied
-singen!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p>
-
-<p>Sie sangen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">„Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht,</div>
- <div class="verse indent0">Die uns das höchste Gut gebracht,</div>
- <div class="verse indent0">Dich Gottessohn, dich Königskind,</div>
- <div class="verse indent0">Das man im Stall und Kripplein find’t.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">„Daß ich empfinge Kindesrecht,</div>
- <div class="verse indent0">Wohnst du wie ein geringer Knecht,</div>
- <div class="verse indent0">D’rum will ich gern gering und klein,</div>
- <div class="verse indent0">Herr, dir zu Lieb’ und Ehren sein.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">„Dein war des Himmels Herrlichkeit,</div>
- <div class="verse indent0">Aller Welt Schätze weit und breit,</div>
- <div class="verse indent0">Du wurdest arm, daß ich würd’ reich,</div>
- <div class="verse indent0">Nun gilt mir arm und reich sein gleich!</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">„Du kamst aus lichtem Himmelssaal</div>
- <div class="verse indent0">Und gingst für mich durchs dunkle Thal;</div>
- <div class="verse indent0">Ich bin zum Leid nun auch bereit,</div>
- <div class="verse indent0">Da du es durch dein Leid geweiht.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">„Für mich, mein Lebensfürst und Gott,</div>
- <div class="verse indent0">Gabst du dich hin in Todesnot,</div>
- <div class="verse indent0">Daß ich dem Tod verfall’nes Kind,</div>
- <div class="verse indent0">Durch dich das ew’ge Leben find’t.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">„Ich kniee an dein Kripplein hin</div>
- <div class="verse indent0">Und fasse nicht das Wunder d’rin,</div>
- <div class="verse indent0">Und bitte dich, o Herr, verleih</div>
- <div class="verse indent0">Daß dies mein Bitten ernstlich sei.</div><span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">„Du giebst dich mir, Herr Christ! ich hab’</div>
- <div class="verse indent0">Nur mich als arme Gegengab’,</div>
- <div class="verse indent0">So nimm mich hin, Rat, Kraft und Held,</div>
- <div class="verse indent0">Und mach aus mir, was dir gefällt.“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Die Eltern standen schon in der Thüre, als der letzte Ton verklang; die
-Mutter war zum Ausgehen angekleidet, Herr Feldwart hatte Thränen in
-den Augen: „Ich will lieber hier bleiben“, sagte er, „ich habe etwas
-Kopfweh!“</p>
-
-<p>Martha war schnell in ihren hübschen Winteranzug gehüllt. Siegfried
-ging mit den Damen zur Kirche. Aus der nächsten Hausthüre trat Frau
-Geh.-Rat D., und schloß sich ihnen an. Man hatte erst eine Droschke
-nehmen wollen, aber die Sterne glänzten so freundlich, die Winterluft
-wehte frisch, und es war noch zeitig; da ließen sich die älteren
-Damen gern bereden, den Weg zu Fuße zurückzulegen. Sie gingen voraus,
-Siegfried und Martha hinter ihnen; der Weg führte eine ganze Strecke
-weit am Rande des Parkes hin; hier war es verhältnismäßig still und
-einsam.</p>
-
-<p>„Martha“, sagte Siegfried, „wir haben’s nun so oft gesungen; ‚Nun will
-ich gern gering und klein, Herr, dir zu Lieb und Ehren sein‘, und: ‚Nun
-gilt mir arm und reich sein gleich‘; ich möchte wissen, ob das so ganz
-und gar Ihr Ernst ist!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p>
-
-<p>„Natürlich“, sagte sie, und schlug die Augen zuversichtlich zu ihm auf.</p>
-
-<p>Das war ja gewiß; sie hatte in ehrlicher Begeisterung das Lied mit
-ihm gesungen, aber: was dachte sie sich wohl unter: arm sein? Was
-man gar nicht kennt, das fürchtet man nicht. Statt Sammet und Seide
-Wolle tragen, statt Kaviarsemmeln nur Butterbrot essen; in einer recht
-reizenden rosenumrankten Hütte wohnen — warum denn nicht? Es fragte
-sich nur, mit wem?</p>
-
-<p>„Sehen Sie, Martha“, fuhr er fort (sie begegneten jetzt einer Schar
-lärmender junger Leute, und er legte ihren Arm in den seinigen): „Sehen
-Sie, den ganzen Tag ist mir so weh gewesen bei dem Gedanken, daß ich so
-weit von Ihnen fort soll, als könnte ich das gar nicht ertragen. Wenn
-Sie wirklich möchten klein und arm sein, vielleicht brauchten wir uns
-nicht zu trennen; vielleicht könnte ich die liebe kleine Hand in meiner
-behalten ein ganzes Leben lang.“</p>
-
-<p>Wie glückselig blitzten Marthas Augen auf; aber es war nur ein rascher
-Blitz, ein tiefer Schreck verscheuchte den leuchtenden Ausdruck: „Aber
-Siegfried! meine Eltern, und Amerika!“</p>
-
-<p>„Darüber sein Sie ruhig, Martha, ich denke, es soll gehen ohne den
-Oheim in Missouri.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span></p>
-
-<p>Martha dachte nach: „Sie meinen, der Vater könnte uns hier ein Gut
-kaufen?“</p>
-
-<p>„Nein, Martha, das nicht! Das wäre sehr unbescheiden gedacht und
-ganz gegen meine Ehre. Wissen Sie, ich denke es mir so: Ein kleines
-Vermögen besitze ich selbst; jetzt ist die Pacht vom Rosenhof frei;
-ich besah das Gut neulich, als unser Regiment in der Nähe rastete; die
-Verhältnisse sind sehr günstig; wenn mir Ihr Vater mit einem mäßigen
-Vorschuß und seinem Kredit helfen wollte, daß ich es übernehmen könnte,
-und wir fingen dann recht klein und fleißig an, und wenn wir leidlich
-gute Jahre hätten, zahlten wir es nach und nach ab; das sollte doch
-wohl gehen!“</p>
-
-<p>„Rosenhof!“ herrlicher Name! „Gutsfrau sein, und <em class="gesperrt">seine</em>
-Gutsfrau!“ entzückender Gedanke! Sie sah sich schon im rosa
-Satinmorgenrock mit frisurenbesetzter Schleppe, feinem Morgenhäubchen,
-weißer gestickter Batistschürze, den blanken Fülllöffel in der Hand
-zwischen lauter weißen, rahmbedeckten Milchsatten stehen, und als er
-fragte: „Nun Marthchen, wie ist es, willst du es mit mir wagen?“ da
-sah sie ihn glückselig an und drückte leise seine Hand; sie konnte
-auch weiter nichts sagen, denn die Kirche war erreicht, und der volle
-Orgelton klang ihnen entgegen.</p>
-
-<p>Ob die beiden heute Abend sehr, sehr andächtig waren?<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> Glücklich und
-hoffnungsvoll waren sie und trugen auch dem lieben Gott immer wieder
-ihren Herzensdank und ihre stillen Wünsche vor; aber die echte rechte
-Weihnachtsfreude war heute nicht in ihren Herzen. Auf dem Heimwege
-gesellten sich Bekannte zu ihnen, da konnten sie wenig reden. Nur
-bat Martha: „Sage heute Abend dem Vater noch nichts; er kann niemals
-schlafen, wenn er sich abends aufregt; komme lieber morgen nach der
-Kirche“.</p>
-
-<p>Sie kamen nachhause; der Weihnachtsbaum beleuchtete reiche, köstliche
-Gaben, vier strahlende Augen und zwei glückselige Herzen. Morgen,
-morgen sollte es offenbar werden, was heute geknüpft war! Kein Zweifel
-trübte ihre Freude; wußten sie sich doch beide gleich geliebt von dem
-Elternpaar. So schön, so schön war es bisher gewesen, nun sollte es
-noch viel, viel schöner sein. Kam denn in dieser Nacht kein dunkler
-Traum, um die beiden, die bisher im Maiensonnenschein gewandelt waren,
-vorzubereiten auf das erste schwere Gewitter?</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_3">3.<br>
-Sturm.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Der Kommerzienrat Feldwart saß in seinem Lehnstuhl, als Siegfried
-gegen Mittag bei ihm eintrat; zum erstenmal fiel diesem die bleiche,
-tonlose Farbe und die Schlaffheit der Züge seines väterlichen Freundes
-auf. Müde öffnete derselbe die halb geschlossenen Augen, aber als
-er Siegfried erkannte, flog ein freundliches Lächeln über das welke
-Gesicht: „Tritt näher, lieber Siegfried, du störst mich nicht!“</p>
-
-<p>Siegfried trat näher, er nahm auch auf einen Augenblick den ihm
-gebotenen Stuhl; aber als er von seiner Liebe zu Martha anfing zu
-sprechen, da stand er vor dem Vater, eine schöne, kräftige jugendliche
-Gestalt, die wohl geeignet schien, ein zartes Mädchen zu stützen.</p>
-
-<p>Herr Feldwart mochte Ähnliches denken; er sah ihn mit wehmütigem
-Wohlgefallen an, als sein warmes Herz die Worte rasch und fließend
-über die Lippen trieb, aber er<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> unterbrach ihn bald mit demselben
-Schreckensruf, wie gestern die Tochter: „Aber Siegfried: Amerika!“</p>
-
-<p>„Herr Feldwart“, sagte dieser, „ich denke, wenn Sie mir nur ein wenig
-mit Rat und That beistehen wollen, so wird es ohne den Oheim in
-Missouri gehen!“</p>
-
-<p>„Kindskopf!“ rief der alte Herr ungeduldig, schob seinen Stuhl zurück,
-ging einigemal mit großen Schritten heftig durchs Zimmer und blieb dann
-vor Siegfried stehen, „Kindskopf! willst du deine ganze Zukunft einem
-Mädchen opfern, das noch ein Kind ist und noch gar nicht weiß, was es
-thun oder lassen soll? Da wird nichts daraus, mein Lieber!“</p>
-
-<p>„Ich denke, Martha weiß, daß sie mich lieb hat, das ist mir genug. O
-bitte, hören Sie mich an, Herr Feldwart; der Oheim in Missouri schrieb
-seit meines Vaters Tode nicht wieder; er wollte mich damals bestimmen,
-sogleich zu ihm zu kommen; ich schlug ihm das ab, vielleicht mit etwas
-kurzen Worten. Er wird sich indessen andere Hilfe gesucht haben, und es
-widersteht mir, hinüber zu gehen und mich ihm anzubieten, gewissermaßen
-in der Absicht, ihn zu beerben; ich kann dies erwarten und möchte mir
-weit lieber hier durch meine eigene Thätigkeit eine Existenz gründen.“</p>
-
-<p>„Sehr großartig“, sagte der Kommerzienrat ein wenig ironisch, „und wie,
-wenn ich fragen darf?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p>
-
-<p>Da kam denn wieder Rosenhof zutage.</p>
-
-<p>„Verstehen Sie mich nicht falsch; ich möchte keinerlei Ansprüche an
-Ihre Hilfe machen; aber Martha und ich lieben uns sehr. Wenn Sie mir
-mit einem kleinen Vorschuß und Ihrem Kredit helfen wollten, könnte ich
-das Gut übernehmen. Martha und ich würden sehr fleißig und sparsam sein
-und es nach und nach abtragen; Sie wissen, ich bin kein schlechter,
-leichtsinniger Wirt, und ich habe das Meinige gelernt, und Martha will
-mir gerne dabei helfen.“</p>
-
-<p>„Ist auch ganz dafür erzogen, versteht recht viel von der Wirtschaft“,
-fuhr der Vater auf.</p>
-
-<p>Er hatte während Siegfrieds Worten das Zimmer ruhelos durchmessen;
-dennoch war dem Jüngling der Wechsel der Farbe auf seinem Gesichte,
-der Ausdruck von Kampf und Qual in seinen Zügen nicht entgangen. Jetzt
-standen sie sich gegenüber.</p>
-
-<p>Herr Feldwart war totenbleich aber ernst und gefaßt: „Ich kann Ihnen
-nicht helfen, Siegfried! und ich werde es nicht thun, auch nicht mit
-einem einzigen Pfennig; das Beste ist, ihr seht euch gar nicht wieder!“</p>
-
-<p>„Das ist nicht Ihr Ernst, das können Sie nicht wollen?“</p>
-
-<p>„Siegfried, du weißt, was ich deinem Vater versprochen habe; du weißt,
-wie ich dich lieb gehabt habe diese ganze<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> Zeit; Gott weiß, daß es
-mir schwer wird! ich kann es dir auch nicht erklären, später wirst
-du es einmal verstehen: Siegfried, dies ist mein letztes Wort! Ich
-werde niemals, niemals meine Erlaubnis zu deiner Verheiratung mit
-Martha geben; ich werde dir keinen Heller vorstrecken zur Übernahme
-von Rosenhof; wenn du mich nicht töten oder um meinen Verstand bringen
-willst (der Arme sah aus, als sei dies sehr leicht möglich), so
-verlasse jetzt das Haus, sieh Martha nicht wieder, lege das Weltmeer
-zwischen dich und sie, da wirst du ruhiger werden.“</p>
-
-<p>„Und Martha?“ fragte Siegfried tonlos.</p>
-
-<p>„Martha“, sprach der Kommerzienrat, und es klang wie Schluchzen in
-seiner Stimme, „Martha ist jung, es geht nicht anders, Siegfried!“</p>
-
-<p>Siegfried liebte, aber Siegfried war auch stolz; er wandte sich und
-ging zur Thüre, und der Vater, hingesunken in den Lehnstuhl, bleich und
-zitternd, hörte ihn die Treppe hinunterstürmen und das Haus verlassen.</p>
-
-<p>Martha saß indessen mit heißen Wangen neben der Mutter, der sie ihr
-süßes Geheimnis anvertraut hatte; sie lauschten beide auf des Vaters
-Ruf; auch die Mutter zweifelte nicht an der glücklichsten Lösung; jetzt
-kamen eilige Schritte über den Korridor; Martha flog auf, wie sie
-glaubte dem Geliebten entgegen. Er stürmte vorüber. Sie<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> hörten die
-Hausthüre sich öffnen und schließen, sie sahen ihn fortstürmen, ohne
-sich umzusehn: „Ach Mutter, liebe Mutter, was ist das?“</p>
-
-<p>Frau Feldwart war eben so bestürzt als Martha. Als eine halbe Stunde
-lang in des Vaters Zimmer kein Ton zu hören war, ging sie leise zu
-ihm hinein. Martha saß mit angehaltenem Atem; es schien ihr eine
-Ewigkeit vergangen zu sein, bevor die Mutter zurückkam. Sie sah blaß
-und verweint aus, setzte sich neben Martha, nahm ihre Hände und sagte:
-„Mein gutes, armes Kind, du mußt dich darein finden; dein Vater hat
-dem Siegfried nein gesagt. Ich verstehe es nicht, ich verstehe es gar
-nicht; aber er muß sehr ernsthafte Gründe haben; er ist selbst so
-erschüttert, ich fürchte, es wird ihm schaden.“</p>
-
-<p>Martha starrte die Mutter an und schüttelte ganz langsam den Kopf: „Es
-kann ja nicht sein, es kann ja gar nicht sein!“</p>
-
-<p>Sie saßen eine Weile starr und stumm.</p>
-
-<p>„Martha“, sagte die Mutter nach einiger Zeit, „versprich mir eins: sei
-jetzt ruhig und quäle den Vater nicht; ich fürchte, es steht nicht zum
-besten um seine Gesundheit; ihr seid beide noch jung, Siegfried hat
-dich sehr lieb. Wenn die Hindernisse, welche zwischen euch liegen,
-überwunden werden können, so überwindet er sie mit der Zeit; es ist<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span>
-irgendetwas dabei, was ich nicht begreife. — Hörst du, Martha? füge
-dich und quäle den armen Vater in diesen Tagen nicht!“</p>
-
-<p>Martha versprach es unter heißen Thränen. Der Gedanke, Siegfried
-werde alles versuchen, ihre Hand zu erlangen, war ihr tröstlich. Das
-Wiedersehn mit dem Vater erschütterte beide sehr; er drückte sie immer
-wieder ans Herz: „Mein armes Kind, es geht ja nicht anders! Martha,
-sei ruhig! mach mir das Herz nicht noch schwerer!“ Er sah so unsäglich
-elend aus, daß Martha wirklich den Versuch machte, sich äußerlich zu
-bezwingen. Langsam und trübe schlich die Festwoche dahin; die geplanten
-Vergnügungen wurden abgesagt mit dem Bemerken, daß Herr Feldwart unwohl
-sei. Die Freunde, welche ins Haus kamen, fanden Frau Feldwart nur etwas
-ernster als sonst, und Martha ließ sich nicht sehen.</p>
-
-<p>Mit den Neujahrskarten kam ein Brief von Siegfried:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p class="mleft2">„Meine liebe Martha!</p>
-
-<p>„Da mich Dein Vater abgewiesen hat, ohne mir auch nur die geringste
-Hoffnung zu lassen, so eile ich nun dahin, wo ich sicher glaube,
-mir so viel zu erwerben, daß ich, so Gott will, später mit größerem
-Rechte vor ihn hintreten und meinen Wünschen Geltung verschaffen
-kann. Bis dahin behüte Dich Gott: ich will kein Versprechen und gebe
-Dir<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> keins, aber, daß ich Dich fort und fort lieben werde wie heute
-— das weiß ich! Der Vater meines Freundes und Kameraden, General
-W., war mir behilflich, meine hiesigen Verpflichtungen schnell zu
-lösen, und wenn Du diese Zeilen liesest, bin ich bereits auf dem Wege
-nach Bremen, wo ich mich einschiffen will nach meiner neuen Heimat.
-Sei tapfer und hoffe, meine liebe Martha, wie Dein betrübter, treuer
-Siegfried Kraus.“</p>
-</div>
-
-<p>Einen Augenblick war sie glücklich; es war ja ein Lebenszeichen von
-ihm; im andern wurde es ihr klar: er war ja fort, weit fort! Wie
-lange würde sie ihn nun nicht sehen, vielleicht nicht einmal von ihm
-hören; es war ihr, als wäre ihr ganzes Jugendglück, aller Sonnenschein
-und jede Hoffnung ihres Lebens mit ihm eingeschifft und zöge von ihr
-fort in unabsehbare Ferne. Sie weinte — weinte, als sollte ihr das
-Herz brechen. Dann bezwang sie sich, so lange sie bei den Eltern war;
-aber abends in ihrem sonst so trauten Stübchen, da brach der Schmerz
-aufs neue aus. Sie wollte sich Trost suchen, sie holte ihre Bibel,
-aber die Worte verschwammen vor ihren umflorten Augen; sie dachte des
-Weihnachtsliedes: „Ich bin zum Leid nun auch bereit, da du es durch
-dein Leid geweiht!“ Aber dies Leid war ja zu schwer, an solche Trübsal
-hatte sie dabei nicht gedacht. Sie suchte ihr Lager; vor acht Tagen
-war sie so glückselig<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> eingeschlafen; konnte man denn in einer Woche
-so unglücklich werden? Das Kopfkissen war naß von ihren Thränen, und
-Mitternacht war lange, lange vorüber, da erst trat mit leichtem, leisen
-Schritte der Schlummerengel ins Zimmer und deckte sie und ihren heißen
-Schmerz mit seinem kühlen, weichen Flügel zu.</p>
-
-<p>Als Martha am andern Morgen erwachte, drang schon das Morgenlicht
-durch die halbgeöffneten Jalousieen. Wie schwer ist das Erwachen, wenn
-über Nacht das ganze Leben eine andere Gestalt angenommen hat. Langsam
-und mechanisch kleidete sie sich an zu einem Leben ohne ihn und ohne
-Freude. Daß es unten im Hofe unruhiger war als sonst, hörte sie anfangs
-nicht, und als sie es wahrnahm, schob sie es auf die vorgerückte
-Tageszeit. Ihr Zimmerchen lag nach dem Hofe heraus; an der gegenüber
-liegenden Seite desselben zogen sich die Comptoirräume hin. Als sie
-die Fenster öffnete, fiel ihr eine hohe, kräftige Männergestalt in
-die Augen, welche mit eiligem Schritt ins Geschäftslokal trat: „Onkel
-Konsul, so früh am Morgen?“ Der erste Buchhalter lief mit Briefen
-hin und her; einige der jungen Kaufleute, die sonst um diese Zeit
-fest im Comptoir saßen, standen im eifrigsten Gespräche mitten im
-Hof; das Bild war ganz anders, als sie es sonst zu sehen gewohnt war,
-eine unbestimmte Sorge stieg in ihrem Herzen auf, und sie<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> eilte ins
-Frühstückszimmer. Hier war keine Veränderung zu bemerken, als daß die
-Mutter sie mißmutiger als gewöhnlich begrüßte.</p>
-
-<p>„Es ist heute ein ungemütliches Frühstücken“, sagte sie. „Der Vater ist
-schon seit einer Stunde fort; er hat nicht einmal seine Tasse Kaffee
-ausgetrunken, und nun kommst du so spät! Ich dachte schon, du kämest
-gar nicht mehr.“</p>
-
-<p>„Ich schlief so spät ein“, sagte Martha betrübt, „und beim Papa ist
-schon Onkel Konsul zum Besuch.“</p>
-
-<p>„Onkel Konsul? Was muß der wollen? Der kommt ja sonst doch nicht so
-früh!“</p>
-
-<p>Konsul M. war ein Vetter der Frau Feldwart und der nächste Freund
-ihres Mannes. Sie sollten nicht lange auf die Erklärung warten, schon
-nach einer halben Stunde erschien der Erwähnte mit ganz ungewöhnlich
-ernstem, feierlichem Gesichte, schnitt die Begrüßung seiner Cousine
-kurz ab, setzte sich zu den Damen und sagte: „Ich habe euch leider eine
-sehr ernste Mitteilung zu machen, ihr Lieben.“</p>
-
-<p>„Ist Papa krank?“ rief Martha und eilte zur Thür.</p>
-
-<p>„Nein, Martha, bleib! Er ist sehr angegriffen, aber krank ist er bis
-jetzt nicht. Ihr versteht nichts von Geschäften, aber das wißt ihr, daß
-in London zwei große Handelshäuser gefallen sind. Es waren Häuser, mit
-denen Feldwart in fortwährender Verbindung stand, und es trafen<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> ihn
-infolge davon Verluste auf Verluste. Doch hatte er bis gestern immer
-noch einige Hoffnung, daß er sie ausgleichen und seine Handlung retten
-könne. Ein Brief am heutigen Morgen zeigt ihm den Fall einer Firma in
-Hamburg an, mit welcher er noch viel enger verbunden war. Es ist nun
-keine Hoffnung mehr, daß er sich halten kann, und er schickte zu mir,
-daß ich ihm helfen soll, alle die schlimmen Schritte zu thun, welche
-nötig sind bei der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit.“</p>
-
-<p>Frau Feldwart saß auf ihrem Stuhle und starrte den Sprecher an, als
-könnte sie nicht fassen, was er sagte.</p>
-
-<p>Martha sprang auf: „Mein Vater! mein lieber Vater! ich muß zu ihm!“</p>
-
-<p>In diesem Augenblick trat er herein, von seinem alten Kutscher geführt
-— ein Bild des Jammers! Der alte Johann setzte ihn in seinen Lehnstuhl
-und einen Augenblick verließ ihn das Bewußtsein; eine tiefe Ohnmacht
-umschleierte seine Sinne; unter Marthas Bemühungen kam er wieder zu
-sich. Sie kniete neben ihm und stützte seinen Kopf, als er allmählich
-sich seiner Umgebung bewußt wurde. Er sah sie schmerzlich an: „Mein
-Kind, mein armes Kind! verstehst du es nun? ich durfte ihn ja nicht mit
-hineinziehen; ich versprach seinem Vater, für ihn zu sorgen.“</p>
-
-<p>Ja, sie verstand alles; aber ihr ganzes Herz bebte jetzt<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> nur im
-Mitgefühl mit dem Vater, der in wenigen Stunden ein Greis geworden war.
-Er fing jetzt an zu weinen, zu weinen wie ein Kind. Martha hatte ihn
-noch nie weinen sehen. Sie netzte seine Schläfen mit wohlriechendem
-Wasser, sie holte Wein vom Frühstückstische und nötigte ihn zu trinken.
-Arme Martha! Ein wenig Beruhigung für sein Herz wäre die beste Medizin
-gewesen. Die Mutter konnte ihm diese nicht geben, sie saß noch immer
-stumm und rang die Hände; aber sein Freund trat zu ihm und sagte:
-„Feldwart, willst du die ganze Sache in meine Hände legen? Willst du
-mir Vollmacht geben, mit deinen Gläubigern zu unterhandeln und Verträge
-abzuschließen?“</p>
-
-<p>„Ja, M., ich danke dir tausendmal!“</p>
-
-<p>Die gerichtliche Vollmacht wurde noch an demselben Morgen ausgestellt,
-und es zeigte sich bald, daß dies gut war, denn es stellte sich beim
-Kommerzienrat ein schlummerartiger, fieberhafter Zustand ein; er mußte
-zu Bett gebracht werden und fing an zu phantasieren. Martha verlebte
-acht schwere und sorgenvolle Tage und Nächte an seinem Lager, nur
-unterstützt von dem treuen, alten Johann. Frau Feldwart ging ab und
-zu, ordnete auch wohl dieses und jenes an; aber es schien, als sei in
-dem furchtbaren Augenblicke, da die Stütze des Reichtums in ihrer Hand
-zerbrach, alle Ruhe und Haltung von ihr gewichen. <em class="gesperrt">Sie</em><span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> ging von
-Zimmer zu Zimmer, stand hier einmal am Fenster und dort einmal und
-starrte ins Leere; sie sah keinen Zielpunkt für ihre Augen, keinen
-Stab, an dem sie sich halten und aufrichten konnte. „Arm, arm, ganz
-arm!“ hörte man sie immer wieder sagen.</p>
-
-<p>Es war der Vermittelung und Fürsorge des Konsuls zu danken, daß für
-jetzt noch die Wirtschaft im alten Gange blieb.</p>
-
-<p>Am neunten Tage saß Martha des Morgens an ihres Vaters Bett, als er die
-Augen matt aufschlug: „Wo ist die Mutter?“</p>
-
-<p>Sie trat im selben Augenblick herein.</p>
-
-<p>Einen Augenblick sah der Kranke beide freundlich an, dann ging eine
-Erschütterung über sein Gesicht: noch ein leiser Seufzer, ein Zittern,
-und er war aller Angst und Not entrückt. Aber für die Seinen begann
-sie in doppelter Weise. Bis zum Begräbnis gelang es dem Konsul, die
-Ruhe um die beiden Trauernden zu erhalten; sie waren sehr verschieden,
-diese beiden! Bei der Mutter mischte sich die Angst vor der drückenden
-Lage, welcher sie entgegenging, so sehr mit der Trauer über den Verlust
-ihres Gatten, daß all’ ihre Klagen mit Bitterkeit gemischt waren und
-sie zu einer reinen, wohlthuenden Empfindung ihres Schmerzes gar
-nicht kommen konnte, noch viel weniger zu dem Entschluß,<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> irgendeinen
-Plan für ihre Zukunft zu entwerfen. Martha fühlte, wenn sie an ihren
-zärtlich geliebten Vater dachte, eine solche Beruhigung, ihn aller
-Not entrückt zu wissen, daß ihre Thränen oft recht sanft und lind
-flossen; sie fühlte auch Mut für die Zukunft, sie hatte den ernstlichen
-Willen, ihrer verzagten Mutter das Leben nicht schwer, sondern leicht
-zu machen, zu tragen, zu arbeiten, so viel sie konnte, aber freilich:
-über das Wie? war sie ganz im unklaren; hier hoffte sie ganz auf
-den Beistand des Onkel Konsul, und dieser wurde ihnen ja auch nach
-Möglichkeit zuteil. Kaum war das Begräbnis seines Freundes vorüber,
-als er bei den betrübten Frauen eintrat, um ihnen ihre Verhältnisse
-klar darzulegen und über ihre nächste Zukunft zu beraten. Das Vermögen
-der Frau Feldwart war ganz mit im Geschäft gewesen und nicht zu
-retten. Aber der Verstorbene hatte in sehr hoher Achtung bei seinen
-Berufsgenossen gestanden; so kam den Bemühungen seines Freundes
-von allen Seiten viel guter Wille entgegen, und es wurde dadurch
-möglich, nach dem Vergleich mit den Gläubigern eine kleine Summe zu
-erübrigen, von welcher die Witwe, mit einer Leibrente, welche sie
-besaß, notdürftig leben konnte; auch wurde ihr auf demselben Wege so
-viel an Hausrat und Wäsche zugestanden, als sie zur ersten Einrichtung
-notwendig brauchte.</p>
-
-<p>Das war ja klar, daß die Verwaisten sich einen kleineren<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> und
-billigeren Wohnort suchen mußten. Frau Feldwart war auf einem großen
-Gute erzogen in der Nähe der nicht ganz unbedeutenden Kreisstadt H.,
-die freundlich zwischen Feldern, Wiesen und baumreichen Gärten lag.
-Konsul M. kannte dort einen älteren Beamten, dem er den Auftrag gab,
-eine bescheidene Wohnung zu mieten, auch dort am Orte ein Mädchen zu
-besorgen, da bei der ganzen bisherigen Lebensweise der Frauen nicht zu
-hoffen war, daß sie sich ohne ein solches behelfen könnten. Es kam denn
-auch bald die Nachricht, daß beides geschehen sei. So wurde mit des
-alten, betrübten Johanns Hilfe und unter Leitung des Onkels Konsul der
-Möbelwagen gepackt, und die Frauen durften abreisen, bevor das schöne
-Haus mit seiner trauten, prächtigen Einrichtung unter den Hammer kam.</p>
-
-<p>Konsul M. brachte seine Verwandten zur Bahn; Frau Feldwart sah starr,
-bleich und unglücklich aus, sie hatte in den letzten Tagen kaum ein
-Wort gesprochen; Martha hing weinend an des Vetters Halse. Nun saßen
-sie im Coupé, langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Die Mutter
-schloß die Augen, während Marthas umflorte Blicke jeden lieben,
-bekannten Gegenstand gleichsam noch einmal mit Liebe umfaßten, bevor
-sie sich von ihm losrissen. Dort entschwanden die Straßen, in denen
-sie so fröhlich gewandelt war; da in der Ferne die Linden, unter deren
-Schatten<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> der Vater schlummerte; hier die Bäume, unter denen Er, ach,
-vor so kurzen Wochen, ihr gesagt, daß er sie liebe; er wußte nicht,
-daß sie ins Elend zog; ihn trugen jetzt die Meereswellen hinaus, weit
-hinaus, einer glänzenden Zukunft entgegen! Wenn er es gewußt hätte,
-wie es um ihren Vater stand — er wäre nicht gegangen! Er durfte es
-niemals, niemals erfahren; er mußte dort im fernen Westen glücklich
-werden. Und sie? ach, sie kam sich vor wie ein losgerissenes Blatt,
-ratlos, kraftlos, willenlos vom Sturm der Zukunft entgegengetrieben.
-Hilfesuchend falteten sich ihre Hände und unwillkürlich kamen ihr die
-Worte auf die Lippen, die sie zuletzt mit ihm gesungen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">„So nimm mich hin, Rat, Kraft und Held,</div>
- <div class="verse indent0">Und mach’ aus mir, was dir gefällt.“</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_4">4.<br>
-Not und Sorgen.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Johann war abgereist, nachdem unter Marthas Leitung und mit seiner
-treuen Hilfe die kleine Wohnung in möglichst behaglichen Stand
-gebracht war. Er hatte noch Holz und Kohlen herbeigeschafft, hatte
-dem Mädchen sämtliche Wirtschaftsgeräte, Eimer, Besen und Bürsten
-mit den eindringlichsten Ermahnungen übergeben, und dann mit tausend
-Segenswünschen und heißen Thränen von seiner Herrschaft Abschied
-genommen. Mutter und Tochter saßen in der freundlichen, behaglich
-durchwärmten Wohnstube und überblickten ihr neues Reich; Martha nicht
-ohne das befriedigende Gefühl, durch ihren Geschmack ein so nettes
-Ganze geschaffen zu haben; die Mutter immer noch traurig und still.
-Die Wohnung lag in einem Hinterhause; aber nur die Fenster von Küche
-und Speisekammer öffneten sich nach dem nicht ganz kleinen und völlig
-sauberen Hof; die beiden Wohnstuben<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> boten die freundlichste Aussicht
-auf einen reich mit Bäumen bepflanzten, jetzt freilich unter weißer
-Schneedecke ruhenden Grasgarten, und dicht hinter demselben floß ein
-klarer Bach durch Ellerngebüsch, welches das dahinter liegende Feld zum
-Teil verdeckte.</p>
-
-<p>„Ist es nicht ganz nett, liebe Mama?“ fragte Martha sanft.</p>
-
-<p>„Es ist ja gut so“, sagte diese in einem so gleichgültigen, traurigen
-Tone, daß es Martha schwer wurde, die Thränen niederzukämpfen.</p>
-
-<p>Freilich: Vergleiche durfte man ja nicht anstellen mit den Räumen, die
-noch vor so kurzer Zeit sie umfangen hatten. Die Zimmer waren niedrig,
-die Fensterscheiben klein; es fehlte die Fülle herrlicher Blumen und
-Blattpflanzen, es fehlten die weichen, dicken Teppiche am Fußboden, die
-schweren, sammetnen Übergardinen, die reichen Tischdecken, reizenden
-Statuetten und Kronleuchter; außer einigen Familienphotographieen
-war die Wand nur von einem einzigen Bilde geschmückt, einem guten
-Kupferstich der Sixtinischen Madonna, welchen Herr Feldwart seiner
-Frau zu ihrem letzten Geburtstage geschenkt und Onkel Konsul für
-sie aus dem Zusammensturz gerettet hatte; aber es war durch Johanns
-Aufmerksamkeit doch auch noch einiges Freundliche mit hergekommen,
-das wohl imstande war, die Umgebung heimisch<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> zu machen. In seinem
-gewöhnlichen Messingbauer hing über Marthas Nähtisch ihr kleiner,
-lieber Kanarienvogel; um die Bilder ihrer Eltern schlang sich, neu
-aufgebunden, der selbstgezogene Epheu, und unter dem Tische lag auf
-seinem alten Polster Ajax, das weiße Seidenhündchen. Er schlug jetzt
-an, man hörte die Küchenthür gehen.</p>
-
-<p>„Mama“, sagte Martha, „Thekla wird jetzt hereinkommen; möchtest du ihr
-nicht Bescheid sagen?“</p>
-
-<p>„Ich kann nicht, thue du das, Martha!“</p>
-
-<p>Thekla erschien. Es war ein hübsches, gutgewachsenes Mädchen mit
-lebhaften Augen und gewandten Bewegungen, und jedenfalls älter als
-Martha. Diese stand ihr schüchtern gegenüber. Ach, sie war sich ihrer
-eigenen Unzulänglichkeit nur zu sehr bewußt; ihre Fragen nach den
-Leistungen der Gemieteten kamen nur zögernd über ihre Lippen; die
-Antwort desto frischer und dreister aus Theklas Munde: „Ja, ich kann
-alles, reinmachen, kochen und waschen.“</p>
-
-<p>Dies klang tröstlich; zuerst sollte sie einholen, was nötig war.</p>
-
-<p>„Bringen Sie Brot, Butter, Suppenfleisch und irgendeinen hübschen
-Braten; bekommen Sie kein Geflügel, so nehmen Sie Filet!“</p>
-
-<p>„Wie viel denn, Fräulein?“</p>
-
-<p>„Ach, Sie werden ja sehen, ein Stück, das für uns paßt.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span></p>
-
-<p>Thekla erinnerte noch an einige dringende Bedürfnisse; es wurde eine
-lange, lange Liste, und als das Mädchen fort war, fühlte Martha
-erschrocken, wie leer ihr Beutelchen geworden war.</p>
-
-<p>„Mama“, begann sie nach einer Weile schüchtern, „müßten wir nicht doch
-einmal berechnen, wie viel wir eigentlich jede Woche ausgeben dürfen?“</p>
-
-<p>Frau Feldwart hielt sich den Kopf: „Ich kann gar nichts; rechne du!“</p>
-
-<p>Sie hatte ihrem großen Haushalte in ihrer Weise pünktlich und
-ordentlich vorgestanden, aber sie hatte stets über sehr große Summen zu
-verfügen gehabt; sie konnte es sich gar nicht denken, wie es möglich
-zu machen sei, mit so wenigem auszukommen; dazu war das Unglück so
-unerwartet über sie hereingebrochen; ihre Leibes- und Seelenkräfte
-waren wie gelähmt.</p>
-
-<p>„Hier im Buche steht alles“, sagte sie.</p>
-
-<p>Martha nahm das Buch und rechnete, rechnete, bis ihr der Kopf heiß war,
-aber ach, sie kam zu keinem Resultat. Wenn sie nur hätte teilen dürfen
-in 12 Monate oder 52 Wochen; aber da war so vieles, das kam nur einmal
-im Jahre.</p>
-
-<p>Die Miete, ja, das stand hier: 300 Mark; Kohlen hatte Johann gekauft:
-20 Ctr. Kohlen 17 Mark, 1 Meter<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> Holz 7 Mk. 50 Pf.; aber was konnte
-ihr das helfen? Hatte sie denn eine Ahnung, wie lange diese Portion
-reichen würde? Dies arme Kind fühlte tief ihre Unzulänglichkeit. Ach,
-es war gewiß noch vieles auszugeben, an das sie jetzt gar nicht dachte;
-also mit dem Einteilen ging es heute noch nicht! Sie versuchte es auf
-eine andere Weise; sie überlegte: „Wie kann ich sparen? Natürlich,
-Gesellschaften geben wir jetzt nicht; Schmuck, Bilder, Noten, Bücher
-dürfen wir nicht anschaffen; aber sonst haben wir zuhause doch einfach
-gelebt: es gab nach der Suppe nur zwei Gerichte und ein Dessert. Ein
-Gericht werden wir wohl streichen müssen, vielleicht auch das Dessert;
-aber ihren Tischwein muß Mama natürlich behalten; wenn ich nur eine
-Ahnung hätte, was die einzelnen Sachen kosten! Wenn mir doch nur Mama
-etwas helfen wollte; ach, es ist so schwer, so schwer! Mein Siegfried,
-mein armer, lieber Papa, ich habe nicht einmal so viel Ruhe, an euch zu
-denken!“</p>
-
-<p>Sie hatte ja den besten und treuesten Willen, ihre Schuldigkeit zu thun
-und trotz ihrer doppelten Trauer einen reichen Springquell jugendlicher
-Frische und Thatkraft in ihrem Herzen. Aber wie sehr wurde derselbe
-auch in Anspruch genommen! Thekla zeigte wohl am ersten Morgen, daß
-ihr die Hausarbeit nicht völlig fremd war, auch brannte nach langen,
-vergeblichen Bemühungen endlich das<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> Feuer in Stube und Küche. Aber nun
-sollte gekocht werden! Ach, da wurde es klar, daß weder Fräulein noch
-Mädchen auch nur den entferntesten Begriff von dieser Kunst hatten.</p>
-
-<p>„Aber Thekla, Sie sagten doch, Sie könnten kochen, sieden und braten!“</p>
-
-<p>„Nun ja, Fräulein, für uns zuhause; da kommt alles zusammen in einen
-Topf, der wird morgens in die heiße Asche gesetzt, da kocht sich’s ganz
-alleine. Aber hier, da ist noch nicht einmal ein Aschenloch, nur ein
-Ofen, da verstehe ich nichts von!“</p>
-
-<p>Da war guter Rat teuer. Wenn nur Martha irgendjemanden hätte fragen
-können! Halt! eine Freundin ihrer Mutter hatte ihr einmal das Kochbuch
-von Henriette Davidis geschenkt; das fand sie endlich nach langem
-Suchen und studierte darin Bouillonsuppe und Lendenbraten. Aber es ist
-mit der Kochkunst eine eigene Sache; wo alle Erfahrung und Anschauung
-fehlt, gerät es auch nach dem besten Buche nur mangelhaft, und wer
-all’ die kleinen, nötigen Handgriffe nicht übte, dem geht die Arbeit
-sehr langsam von statten. Das Feuer meldete sich verdrießlich, weil
-eine Hand darüber kam, die es noch niemals geschürt hatte; der Ofen
-rauchte, weil eine Klappe geschlossen war, die geöffnet sein wollte;
-und als nach langen, schweren Mühen nichts weniger<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> als pünktlich das
-Mittagsbrot auf den Tisch kam, schmeckte es jedenfalls ganz anders
-als in B., und Frau Feldwart, die ohnehin wenig Appetit hatte, legte
-verdrießlich ihren Löffel hin und schaute mit entsetzten Blicken auf
-die große Menge Suppe und den noch größeren Braten, welche eine sehr
-unliebsame Wiederholung auf morgen versprachen.</p>
-
-<p>„Wir haben heute wirklich zu viel gekocht“, dachte Martha. Sie wollte
-ja gern den Kopf oben behalten und sah es als ihre Aufgabe an, der
-Mutter eine Stütze zu sein; hätte ihr ein erfahrenes und treues Mädchen
-zur Seite gestanden, so würde sie vielleicht die Schwierigkeiten
-überwunden haben. Aber ach! von ihrer Hauswirtin aufmerksam gemacht,
-mußte sie bald entdecken, daß Thekla kein redliches Mädchen war, und
-als einmal in der Nacht Frau Feldwart nach Kaffee verlangte und Thekla
-geweckt werden sollte, um Feuer zu machen, zeigte es sich, daß sie zum
-Tanze gegangen war und das Haus offen gelassen hatte. Hiervon mußte
-Frau Feldwart erfahren.</p>
-
-<p>„Sie darf nicht bei uns bleiben“, sagte sie, „schon um des Hauswirts
-willen dürfen wir sie nicht behalten.“</p>
-
-<p>Martha sah dies ein; sie fühlte, daß sie nicht die Erfahrung besaß,
-welche dazu gehört hätte, das Mädchen auf besseren Weg zu bringen, und
-so ging am anderen Morgen Thekla, und Martha sah ihr halb mitleidig,
-halb schmerzlich<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> bewegt nach mit dem demütigenden Gedanken: „Ich
-konnte ihr gar nichts sein; ach, ich taste ja auch noch im Dunkeln
-umher, und Gott mag geben, daß ich meinen Weg finde. Es ist eigentlich
-gut, wir können ohne sie sparsamer sein!“</p>
-
-<p>Es zeigte sich bald, wie nötig das war; Martha hatte gar nicht gedacht,
-daß zum Leben so viel Bedürfnisse gehörten; das Geld verschwand unter
-ihren Händen. Sie wollte sich bei der Mutter Rat und Anweisung holen,
-aber die war innerlich wie gebrochen und schüttelte nur den Kopf: „Thu,
-was du willst!“ Ach, da kamen für die Tochter auch recht mutlose,
-dunkle Stunden. Nein, arm und reich sein galt ihr gar nicht gleich! In
-der Phantasie war das recht schön, in der Wirklichkeit um so bitterer.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_5">5.<br>
-Suschen von drüben.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Sie mußte sich nun ermannen und die Arbeit allein angreifen. Herr
-Reinhold, ihr Wirt, hatte ihr versprochen, Erkundigungen nach einem
-Mädchen oder einer Aufwärterin einzuziehen, aber sie auch darauf
-vorbereitet, daß es einige Tage dauern könne, bevor sich Hilfe fände.</p>
-
-<p>„Es schadet auch nichts, Fräulein! Der Laufbursche holt Ihnen Kohlen
-und Wasser und kann auch in der Stadt was mit besorgen.“</p>
-
-<p>Das war nun recht dankenswert, aber dennoch blieb eine große
-Sorgenlast auf Marthas Herzen, und sie stand recht traurig in der
-Küche und musterte die Reste vom vergangenen Tage, ob sich vielleicht
-ein Mittagsbrot daraus zusammensetzen ließe; da klopfte es an die
-Küchenthür, und als Martha dieselbe öffnete, erschien in ihrem Rahmen
-ein Frauenkopf, braun gebrannt von der Sonne, mit hundert<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> kleinen
-Fältchen gezeichnet; das weiße Haar schimmerte nur wenig hervor unter
-einem neuen, karrierten Kopftuche, das, am Hinterkopfe regelrecht
-gebunden, in zwei gleichen, glatten Zipfeln nach beiden Seiten abstand,
-und mitten aus den freundlichen Zügen leuchtete ein ungemein helles,
-strahlendes Augenpaar die verwunderte Martha an: „Ach, ist’s denn
-möglich? nein, gar nicht verändert, noch ganz und gar wie sonst, mein
-liebes, liebes Fräulein!“</p>
-
-<p>Marthas Verwunderung stieg: „Wen suchen Sie denn eigentlich, liebe
-Frau?“</p>
-
-<p>„Aber, mein Fräulein Riekchen, oder meine liebe Frau Feldwart, kennen
-Sie mich denn nicht? Es sind ja nun wohl schon ein- oder zweiundzwanzig
-Jahre, daß wir nicht zusammengekommen sind; aber Ihre alte Trude, die
-sollten Sie denn doch wohl nicht vergessen haben.“ Martha fing an zu
-begreifen. Trude! den Namen hatte sie von ihrer Mutter oft nennen
-hören; sie lächelte: „Ja, was vor zweiundzwanzig Jahren war, kann ich
-freilich nicht wissen; ich werde im Sommer erst achtzehn. Sehe ich
-vielleicht aus wie meine Mutter damals aussah?“</p>
-
-<p>Nun war das Lachen an der Alten.</p>
-
-<p>„Ach freilich, freilich, Kind, accurat so! Wo dachte ich auch hin? Und
-die Sprache, wie Sie sich ’rumdrehen und alles! Sehen Sie, gleich wie
-ich aus der Schule kam,<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> wurde ich bei ihr Kindermädchen; ich habe sie
-auf meinen Armen groß getragen, dann nachher war ich Zimmermädchen auf
-dem Gute. Als sie zum erstenmal zu Gottes Tische ging, da habe ich
-ihr das schwarze Kleid angezogen und an ihrem Hochzeitstage Kranz und
-Schleier gesteckt; ach, was war sie eine schöne Braut! All’ die Jahre
-daher habe ich mich gesehnt, sie einmal wiederzusehen. Nun sagte mir
-neulich der alte Herr, der die Wohnung hier gemietet hat, daß der Herr
-Vater tot ist und daß sie hierhergezogen ist, weil es ihr schlecht
-geht. Na, dachte ich, da mußt du hin, Trude, da mußt du hin! Ach, nicht
-wahr, Fräulein, ich darf mit meiner alten Herrschaft sprechen?“</p>
-
-<p>Es wurde der Martha feucht in den Augen und weich um das Herz; sie
-war sich eben noch so grenzenlos verlassen vorgekommen, setzt sah sie
-wieder ein wenig Licht und Hilfe. Sie ging hinein zur Mutter: „Mama,
-deine alte Trude ist da; nicht wahr, du läßt sie hereinkommen? sie
-würde sonst zu traurig sein.“</p>
-
-<p>Frau Feldwart sah erst sehr erschrocken aus; aber all’ ihre
-Jugenderinnerungen wurden lebendig; Trudens Güte und Treue spielte
-darin eine große Rolle. Nein, die konnte sie nicht abweisen — sie
-nickte still und traurig mit dem Kopfe.</p>
-
-<p>Trude setzte ihre Kiepe in der Küche nieder, breitete<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> sorgsam ihren
-dunkelblauen Mantel darüber und trat ins Zimmer. Frau Feldwart wollte
-ihr entgegengehen.</p>
-
-<p>„Ne, bleiben Se sitzen, bleiben Se ruhig sitzen, mein liebes Fräulein
-Riekchen, und nehmen Sie es nicht für ungut, daß ich komme. Ich hörte,
-daß der liebe Gott Sie so geprüft hat, und da mußte ich doch ’mal
-nach Ihnen sehen. Wenn Sie als kleine Krabbe zu mir geweint kamen, da
-konnte ich Sie wohl leichte trösten, und jetzt mag das ja schwer sein;
-aber unsereiner kann doch sagen, daß man Anteil nimmt, und solche alte
-Bekannte, wie wir sind, die sprechen sich doch gern ’mal aus.“</p>
-
-<p>Frau Feldwart reichte der Alten die Hand und winkte ihr, sich zu
-setzen: „Ja, Trude, wir sind sehr unglücklich geworden.“</p>
-
-<p>„Nu, meine liebe Frau Feldwarten: welche der Herr lieb hat, die
-züchtiget er; ich habe es auch erfahren. Ich habe einen Mann und zwei
-Söhne begraben, und habe mich durchschlagen müssen mit drei schwachen,
-kleinen Mädchen; da weiß ich wohl, wie Ihnen das zu Sinne ist.“</p>
-
-<p>„Ach, Trude, es ist zu schwer: mein Mann tot und alles mit ihm
-zusammengebrochen; nun in Armut sitzen und nicht wissen, wovon man am
-andern Tage leben soll, und das arme Kind, die Martha, ach Gott, ach
-Gott!“</p>
-
-<p>Es waren die ersten Worte der Klage, die über Frau<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> Feldwarts Lippen
-kamen, so lange sie hier war; es waren die ersten Thränen, die jetzt
-über ihre Wangen stürzten seit ihres Mannes Tode; sie kamen nun wie ein
-unaufhaltsamer, nicht endenwollender Strom. Trude stand leise auf, nahm
-den Kopf ihrer ehemaligen Herrin in ihren Arm, wie sie es gethan hatte,
-als dieselbe noch ein Kind war, und strich mit ihrer welken Hand sanft
-über das ergrauende Haar.</p>
-
-<p>„Ja, weinen Se nur, weinen Se nur, Frau Feldwarten — immer zu! Die
-Thränen hat uns der liebe Gott gegeben; die fließen ab aus dem Herzen,
-wenn es zu voll wird, daß es nicht bricht, und glauben Sie nur, der
-liebe Gott hilft schon durch. Der Reichtum hat seine Freuden und seine
-Lasten, und die Armut hat ihre Freuden und ihre Lasten; die Hauptsache
-ist, daß der liebe Gott mit seiner barmherzigen Hand immer dazwischen
-ist; hat doch der Heiland auch nicht im Schlosse gewohnt, sondern im
-Stalle; ich meine, da ist’s noch lange nicht so fein gewesen wie hier
-in der Stube.“</p>
-
-<p>Martha war hereingekommen, das Wort traf sie tief! Die Alte sah, daß
-die Thränen ihres Pflegekindes sanfter flossen — sie stand auf.</p>
-
-<p>„Darf ich denn ’mal wieder kommen, Frau Feldwart?“</p>
-
-<p>„Ach, Trude, komme ja, so oft du kannst; aber wo wohnst du denn
-eigentlich und was treibst du?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span></p>
-
-<p>„Ach, mir geht’s jetzt ganz gut; zwei von meinen Töchtern sind
-verheiratet, die älteste ist in recht guten Verhältnissen, die jüngste
-dient auf dem Amte, und mir hat der Herr Amtmann das Häuschen beim
-Thore gegeben, wo sonst der alte Boten-Ferdinand wohnte; ich thue die
-Botengänge nach L. und nach hier; ich bin glücklich auf meine alten
-Tage.“</p>
-
-<p>Frau Feldwart sah hinaus; der Februarsturm peitschte den Regen gegen
-die Scheiben.</p>
-
-<p>„Aber bei solchem Wetter gehst du auch? Wirst du da nicht krank?“</p>
-
-<p>Die Alte lachte: „Ach, das wird man alles gewohnt. Sehen Sie, beim
-Schmied wird die Hand hart, daß er keine Hitze mehr fühlt, und beim
-Tischler wird die Hand hart, daß ihm der Hobel nicht mehr weh thut, und
-bei mir da ist nachgerade das ganze alte Fell hart geworden, daß mir
-Wind und Wetter nichts mehr anhaben kann; man glaubt nicht, was sich
-alles lernt im Leben.“</p>
-
-<p>Sie ging; Martha begleitete sie, um ihr den Korb mit aufheben zu
-helfen; sie erzählte ihr das Unglück mit dem Mädchen, und die Alte
-versprach ebenfalls, ihre Augen und Ohren danach aufzuthun.</p>
-
-<p>„Jetzt aber, Fräulein, jetzt müssen Sie mir noch die Liebe thun und die
-zwei Paar jungen Tauben annehmen;<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> bei meiner Kathrine sitzen sie über
-dem Kuhstall, da brüten sie bald.“</p>
-
-<p>Martha dankte herzlich, aber sie faßte die Thierchen mit einem
-ängstlichen Blick auf Trude.</p>
-
-<p>Diese lachte: „Ach so! das Fräulein hat gewiß noch keine geschlachtet;
-da will ich die Köpfe nur gleich noch abreißen — so! Nun behüte Sie
-der liebe Gott, und halten Sie Ihren jungen, hübschen Kopf oben, daß
-die Mutter keine betrübten Gesichter sieht, es geht alles in der Welt
-mit der Gotteshilfe.“</p>
-
-<p>Martha war ganz mit ihr einverstanden im tiefsten Innern, besonders
-was die großen Sorgen des Lebens betraf; wie es jetzt aber weiter
-gehen sollte mit ihrer Wirtschaft und speziell mit diesen zwei Paar
-Tauben, das war ihr sehr unklar. Für das Große, meinte sie, da könnte
-man doch den lieben Gott recht anrufen, aber für solche Lappalien, die
-man noch dazu durch seine Dummheit verschuldet hat, da erschien es
-ihr fast, als dürfte sie es nicht. Zunächst, das schien ihr gewiß zu
-sein, mußten die Tauben gerupft werden; sie setzte sich auf den Rand
-des Küchentisches dicht ans Fenster und begann die ungewohnte Arbeit.
-Es ging sehr langsam; sowie sie sich bemühte, etwas schneller vorwärts
-zu kommen, riß die feine Haut ein; dazu war ihr das Herz so schwer.
-Was sie schon längst bedrückt hatte, das war<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> ihr heute vor dem leeren
-Kohlenstalle zur Gewißheit geworden; sie hatte schlecht gewirtschaftet,
-und ihre Gelder mußten zu Ende sein, bevor dieser Monat zu Ende war;
-vor dem ersten April war nichts Neues zu erwarten, und sie quälte
-sich mit dem Gedanken, wie es bis dahin werden sollte; sie hatte sich
-zusammengenommen diese ganze Zeit; jetzt tropfte langsam eine Thräne
-nach der anderen herab aus ihren Augen, und sie mußte immer wieder die
-Arbeit sinken lassen, um diese zu trocknen. Ohne es zu wissen, hatte
-sie dabei zwei teilnehmende Zuschauerinnen. Der Feldwartschen Küche
-gegenüber lag die Küche der großen Wohnung im Vorderhause; dort hatte
-Martha bis gestern neben dem Dienstmädchen nur eine schlanke Dame
-wirtschaften sehen, und zuweilen bemerkt, daß die Blicke derselben
-freundlich und teilnehmend auf ihr ruhten. Heute zeigte sich neben
-der Dame ein junges, behendes Mädchen, ohngefähr in Marthas Alter.
-Als Martha von ihrer Arbeit aufblickte, sah sie die junge Gestalt am
-Fenster stehen, und als sie nach einiger Zeit zum zweitenmale hinsah,
-grüßte dieselbe freundlich, und Martha dankte ihr. Jetzt bemerkte sie,
-wie Mutter und Tochter — das waren sie sicher — eifrig miteinander
-sprachen: die Mutter lachte, die Tochter verschwand, und einige Minuten
-später klingelte es an Feldwarts Korridorthür.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span></p>
-
-<p>Als Martha öffnete, stand das junge Mädchen mit hocherrötendem,
-verlegenen Gesichte ihr gegenüber: „Ach, verzeihen Sie, ich bin ja nur
-das Suschen von drüben.“</p>
-
-<p>Martha wollte ihr die Zimmerthür öffnen.</p>
-
-<p>„Ach bitte, nein! ich kann ja nicht ins Zimmer, so wie ich bin!“
-sagte Suschen und lachte, indem sie auf ihren Morgenrock und ihre
-blaugedruckte Küchenschürze zeigte. Martha dachte, daß die zierliche
-Gestalt mit dem glatten, blonden Köpfchen, den klaren, blauen Augen
-und Grübchen in den Wangen an jedem Platze hübsch aussehen müßte, aber
-Visitenkostüm trug sie freilich nicht.</p>
-
-<p>„Ich wollte, ach, wenn es nicht unbescheiden ist, ich wollte Ihnen
-Tauben rupfen helfen.“</p>
-
-<p>Martha streckte ihr beide Hände entgegen: „Wie freundlich, wie sehr
-freundlich ist das! Wenn Sie mir zeigen wollen, wie es am besten
-anzufangen ist, so werde ich Ihnen sehr, sehr dankbar sein; ich bin
-noch so gar dumm in solchen Sachen.“</p>
-
-<p>„Und ich“, lachte das Suschen, „bin vorigen Sommer schrecklich klug
-darin geworden, denn ich war bis vorgestern bei der Tante Pastor in S.,
-die hatte einen großen Taubenschlag; da gab es zu manchen Zeiten mehr
-Tauben, als uns lieb war: einen Tag Frikassee und den andern Tag Suppe
-und den dritten Braten. Alt und jung und Kind und Kegel<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> mußte dann
-rupfen, und als ich vorhin sah, wie Sie sich damit quälten, da konnte
-ich’s nicht aushalten und lief herüber.“</p>
-
-<p>Während dieser Erklärung waren sie in der Küche angelangt; Suschen
-sah sich einen Augenblick darin um: „Jetzt müssen wir uns auf zwei
-Stühle nebeneinander setzen, damit meine Küchenschürze für uns beide
-ausreicht; Ihr dünnes, weißes Schürzchen taugt dazu nichts, Fräulein
-Feldwart.“</p>
-
-<p>„Ich heiße Martha“, sagte diese lächelnd.</p>
-
-<p>„Nun also, Martha, kommen Sie und machen Sie mir alles nach.“</p>
-
-<p>Martha sah einige Zeit mit Verwunderung zu, wie die Federn unter
-Suschens runden Fingern verschwanden, dann ließ sie sich erklären,
-worauf es ankam, und da sie von Natur nicht ungeschickt war, eiferte
-sie bald der jungen Gefährtin nach. Als sie nun auch mit schnelleren
-Bewegungen an die gefährliche Stelle unter dem Flügel kam, gab es
-freilich noch einmal einen großen Riß, der wurde diesmal aber nicht
-beweint, sondern herzlich belacht.</p>
-
-<p>„Ich bin so froh, daß ich endlich glücklich hier bin“, sagte Suschen.
-„Sehen Sie, mein Vater ist Direktor an dem Gymnasium hier, seine
-Kollegen haben alle nur ganz kleine Kinder, da fürchtete ich mich
-ordentlich, nachhause zu<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> kommen, denn bei der Tante waren viel junge
-Mädchen. Mama schrieb mir vor vierzehn Tagen schon, daß Sie hier
-eingezogen wären, und ich habe die ganze Zeit Pläne geschmiedet, wie
-ich zu Ihnen gelangen wollte; nun sind die lieben Tauben so gefällig
-und vermitteln es.“</p>
-
-<p>„Können Sie auch Tauben ausnehmen und zurecht machen?“ fragte Martha
-zaghaft.</p>
-
-<p>„Freilich“, versicherte Suschen, „soll gleich geschehen: Wann sollen
-sie denn gegessen werden? Heute doch nicht mehr, sie sind ja noch warm!“</p>
-
-<p>Martha wurde verlegen: „Ich war aber so froh, daß ich etwas zu Mittag
-hatte!“</p>
-
-<p>„Na“, tröstete Suschen, „es geht am Ende auch. Wenn Sie nur ein wenig
-Spiritus im Hause haben, brennen wir sie damit ab; die Tante sagt,
-das thäten sie immer in Karlsbad, wenn die Hähnchen eine Stunde vor
-dem Essen noch umherliefen. Dann nehmen Sie heute wenigstens nur zwei
-und kochen sie zur Suppe, und morgen braten Sie die anderen; für zwei
-Personen reicht das ganz gut.“</p>
-
-<p>Jetzt wollte Martha Feuer unter der großen Platte anbrennen.</p>
-
-<p>„Haben Sie denn keinen Petroleumkocher?“ fragte Suschen. „So ein großes
-Feuer für zwei Tauben ist doch schade!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span></p>
-
-<p>Martha hatte keinen.</p>
-
-<p>„Ich hole so lange unseren herüber, damit Sie nur erst ’mal sehen, wie
-hübsch das ist, und dann, wenn Sie es erlauben, werde ich die Mama
-fragen, ob ich nicht hier erst einmal mit fertig kochen darf.“</p>
-
-<p>Martha sprach ihre Freude über diesen Gedanken aus: „Ich will ja alles
-so gern lernen“, sagte sie, „aber ein wenig Anleitung muß man doch
-haben.“</p>
-
-<p>Wie gemütlich war es ihr, dieselbe von einer so lieblichen
-Altersgenossin zu empfangen! Als Suschen weggegangen war, erschien Frau
-Feldwart in der Küche.</p>
-
-<p>„Wer war bei dir?“</p>
-
-<p>„Das Suschen von drüben.“</p>
-
-<p>„Wer ist das?“</p>
-
-<p>„Ach Mama, hier unser <span class="antiqua">vis à vis</span>; sie hatte gesehen, daß ich
-nicht Tauben rupfen konnte, da kam sie und zeigte es mir; sie will mir
-auch kochen helfen.“</p>
-
-<p>Frau Feldwart schüttelte den Kopf. Die schnelle Freundschaft war ihr
-sehr verwunderlich; aber sie hatte Martha zum erstenmale wieder lachen
-hören, und ihr Mutterherz lebte noch, wenn es auch jetzt im Banne der
-Traurigkeit lag.</p>
-
-<p>„Woher hast du die Tauben?“</p>
-
-<p>„Trude hat sie gebracht von ihrer Tochter, die hat einen Taubenschlag.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p>
-
-<p>Suschen kam jetzt wieder und Frau Feldwart zog sich zurück.</p>
-
-<p>„Ich habe mir etwas ganz Reizendes ausgedacht“, sagte die kleine
-Nachbarin, „und meine Mama hat nichts dagegen: ich will Ihnen, wenn Sie
-es erlauben, früh jetzt immer ein wenig helfen; da kommen sie nach und
-nach in Übung und ich nicht heraus; darf ich das?“</p>
-
-<p>Sie sah Martha so lieblich bittend an, daß diese sie gerührt umarmte.</p>
-
-<p>„Ach, ich kann darüber ja nur ganz glücklich sein, und ich weiß ja
-ohnehin nicht, wann ich wieder ein Mädchen haben werde.“</p>
-
-<p>„Ach“, sagte Suschen, „ich nähme mir gar keins wieder. Es ist doch zu
-erwarten, daß wir beide in der ersten Zeit noch allerlei Dummheiten
-machen; da ist es viel besser, wenn uns niemand dabei zusieht, und
-dann brauchen wir ja auch viel weniger zu kochen und können es feiner
-einrichten. Sie werden schon eine Frau finden, die morgens ein paar
-Stunden kommt und nach Tische noch ’mal; das ist viel billiger als ein
-Mädchen.“</p>
-
-<p>„Ja, das wäre sehr gut“, sagte Martha, „ich muß mich so erst
-einwirtschaften. Meine Thränen heute Morgen galten viel weniger den
-Tauben, als der Angst und dem Kummer, daß ich viel mehr verbraucht
-habe, als ich eigentlich durfte.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p>
-
-<p>„Ach, da kann Ihnen gewiß meine Mutter raten; wir sind acht Kinder, da
-muß sie auch recht sparen, wo sie immer kann.“</p>
-
-<p>Es erhob sich nun noch eine kleine Schwierigkeit. Martha meinte: nur
-Tauben in der Suppe — das würde ihrer Mutter doch nicht recht sein.</p>
-
-<p>„Gut“, sagte Suschen, „so schneiden wir die Tauben in Viertel, machen
-eine Frikasseesauce darüber, und braten die Kartoffeln, da haben wir
-gleich noch einen besonderen Gang für unser Diner.“</p>
-
-<p>Martha staunte Suschens Erfahrungen an. Es war schließlich alles
-wohlgeraten, und als sich die beiden Köchinnen trennten, geschah es
-mit einer fröhlichen Umarmung, und beide brachen zugleich in die Worte
-aus: „Wollen wir uns nicht lieber ‚du‘ nennen?“ Dies wurde mit einem
-herzlichen Kusse besiegelt, und die Freundschaft war geschlossen. Frau
-Feldwart war zum erstenmale befriedigt von ihrem Mittagsbrot, von dem
-sie heute nach des Mädchens Abgang nur wenig erwartet hatte.</p>
-
-<p>Als sie ihre Mittagsruhe hielt, saß Martha still an ihrem Fenster und
-staunte darüber, daß sie jetzt so fröhlich und getrost war. Sie hatte
-den lieben Gott heute nicht um seine Hilfe gebeten, weil ihre Anliegen
-ihr zu klein dazu erschienen; waren ihre unausgesprochenen Seufzer
-doch vor<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> seinen Thron gekommen? Ach ja! was unsere Herzen unruhig
-macht, das ist ihm nie zu groß oder zu klein, und wenn er seine Kinder
-auf sehr rauhe Pfade und durch sehr dunkle Stunden führt, thut er wie
-eine gute Mutter, die dem Kleinsten Süßigkeiten oder Spielwerk vorhält
-zu dem ersten schweren Schritte; er läßt mitten durch die dunklen
-Wolken einen Sonnenstrahl fallen, eine Gebetserhörung ein freundliches
-Erlebnis, um der Seele zu sagen: „Ich verlasse dich nicht; ich bin
-dennoch bei dir und halte dich an meiner Hand, wenn du mich auch nicht
-immer gleich finden kannst.“ An solchen Erfahrungen stärkt sich dann
-der Mut und das Gottvertrauen, und der Fuß lernt wieder getroste und
-gewisse Schritte thun. Martha hatte sich von jeher eine echte, rechte
-Freundin gewünscht; Suschen sah so sehr lieb und treu aus: vielleicht
-hatte sie in ihr gefunden, was sie suchte.</p>
-
-<p>Es schien heute der Tag aller Besuche zu sein. Gegen Abend kam die Frau
-Direktorin selbst und bat Martha, sie bei ihrer Mutter zu melden. Frau
-Feldwart hatte außer Trude noch niemanden empfangen; aber sie fühlte
-wohl, daß sie sich nicht ablehnend oder unfreundlich gegen die Mutter
-verhalten durfte, nachdem die freundliche Hilfe der Tochter dankend
-angenommen war. Die geselligen Gewohnheiten ihres Lebens machten ihr
-die Sache leichter, und sie kam der<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> Frau Werner, deren ernstes,
-teilnehmendes Gesicht sehr vertrauenerweckend aussah, rücksichtsvoll
-und artig entgegen.</p>
-
-<p>„Verzeihen Sie“, sagte diese mit sanfter Stimme, „daß ich zu Ihnen
-komme, ohne zu wissen, ob es Ihnen jetzt schon angenehm ist, Besuche
-zu empfangen; ich wollte nur das Eindringen meines ungeduldigen Kindes
-entschuldigen und mich überzeugen, ob Ihnen die Pläne der beiden jungen
-Mädchen nicht lästig oder störend sind. Ich kann mir so sehr denken,
-wie Ruhe und Stille Ihnen jetzt vor allem wohlthun.“</p>
-
-<p>„O ja“, sagte Frau Feldwart, „für mich haben Sie ja wohl recht, aber
-für Martha sehe ich es doch sehr gern, wenn sie junge Gesellschaft und
-etwas Erheiterung hat, und Ihr liebes Töchterchen kam heute in Marthas
-Ratlosigkeit hinein wie eine gute Fee. Ich kann Ihnen nur von Herzen
-dankbar sein, wenn Sie erlauben wollen, daß sie meinem armen Kinde
-ferner mit Rat und That beisteht; Martha ist noch so ganz unbewandert
-im Häuslichen, und ich“ — Frau Feldwarts Thränen waren heute einmal
-in Bewegung gebracht, sie flossen jetzt aufs neue — „und ich bin ja
-ebenso unwissend als sie.“</p>
-
-<p>„Ich glaube es“, sagte Frau Werner sanft, „es ist jetzt ein sehr
-schwerer Übergang mit all’ dem Kummer im<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> Herzen. Aber diese Dinge sind
-wirklich nicht so schwierig zu erlernen, als es scheint. Sie sollen
-sehen: wenn unsere beiden Kinder die Sache zusammen angreifen, haben
-sie schließlich noch die größte Freude davon. Würden Sie denn Ihrer
-Martha erlauben, manchmal ein Stündchen zu uns zu kommen? Es ist viel
-Leben bei uns: acht Kinder, von denen Suschen das älteste ist.“</p>
-
-<p>Frau Feldwart sah etwas bedenklich aus; ihr freundlicher Besuch fuhr
-fort: „Ich hatte nicht daran gedacht, Ihnen die Gesellschaft Ihres
-Töchterchens zu entziehen; ich denke mir aber, Sie bedürfen so gut
-als mein Mann und ich der Mittagsruhe. Während dieser Zeit ist meine
-unruhige Schar im Sommer auf dem Hof oder im Grasgarten, im Winter in
-dem großen Hinterzimmer; sie versichern, es sei dies die fröhlichste
-Stunde des Tages. Da könnte Martha mit vergnügt sein.“</p>
-
-<p>Die Einladung ward angenommen; Frau Werner erbot sich zu allem guten
-Beistande, falls derselbe gewünscht werde, und Frau Feldwart dankte ihr
-herzlich, bat aber, ihr noch einige Zeit den Gegenbesuch zu erlassen.</p>
-
-<p>Kaum hatte Martha die gütige Nachbarin hinausbegleitet, als es abermals
-klingelte. Es war jetzt schon dämmerig, und Martha erschrak fast vor
-der großen, kraftvollen Frauengestalt, welche den Rahmen der Flurthür
-fast ausfüllte. Sie<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> zündete schnell die Lampe an, und als ihr Licht
-das breite, von Güte und Freundlichkeit strahlende Gesicht der
-Eingetretenen beleuchtete, da konnte von Furcht oder Beklemmung keine
-Rede mehr sein.</p>
-
-<p>„Ich bin die Warburgerin“, sagte die Riesin. „Die Trude schickt mich,
-und ich möchte hier Aufwartefrau werden. Sehen Sie, ich habe fünfe;
-mein Mann geht auf Arbeit in die Fabrik, und ich kann nicht mitgehen,
-sonst verlottert die Wirtschaft und die armen Würmer verkommen; aber
-so ein paar Stunden früh und nachmittags, da nimmt sich schon meine
-alte Nachbarin der Kinder an. Alles kann einer für sieben doch nicht
-schaffen.“</p>
-
-<p>Die verschiedenen Eindrücke des Tages hatten Frau Feldwart doch so
-weit aus ihrer Müdigkeit und Niedergeschlagenheit aufgerüttelt, daß
-sie die Verhandlungen mit der Warburgerin selbst übernahm; man wurde
-bald handelseinig, und kaum war dies geschehen, so hing mit unfaßbarer
-Geschwindigkeit der Mantel der eben Gemieteten am Nagel; sie ergriff
-die Brunneneimer, fragte mit einem Blick auf den Kohlenkasten nach dem
-Kohlen- und Holzstall, und es war noch keine halbe Stunde vergangen,
-da war alles Nötige für den andern Morgen vorbereitet. Frau Warburger
-fragte, ob noch etwas in der Stadt zu bestellen sei, und ging dann, um
-Mutter und Tochter in einem so befriedigten<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> Zustande zurückzulassen,
-wie es beide an diesem Morgen noch nicht für möglich gehalten hatten.</p>
-
-<p>Martha sehnte sich zum erstenmale wieder nach einer stillen
-Beschäftigung; am liebsten hätte sie ein ernstes Lied gesungen, sie
-wußte aber, daß dies die Mutter jetzt noch nicht ertrug. Sie griff
-zu einer leichten, angefangenen Häkelei, aber ihre Hände sanken
-immer wieder nieder, weil ihre Gedanken so weit umherwanderten.
-Zum erstenmale dachte sie, daß doch wohl Gott in seiner Weisheit
-sie davor bewahrt habe, jetzt schon zu heiraten und ernstere und
-reichere Pflichten auf sich zu nehmen, und zwar wehmütig, aber gar
-nicht unlieblich erschien ihr die Aufgabe, während Siegfried im
-fernen Lande bemüht war, die Mittel zur Gründung eines häuslichen
-Herdes zu erwerben, sich hier allmählich ausbilden zu können zu einer
-tüchtigen und brauchbaren Lebensgefährtin für ihn. Süße Bilder der
-Zukunft umschwebten sie, aber das Bewußtsein, wie ungewiß, ja wie
-unwahrscheinlich ihre Verwirklichung sei, wollte ihr Herz wieder in
-Traurigkeit versenken.</p>
-
-<p>Aber nein! sie hatte ja heute so viel zu danken, sie mußte den Kopf
-oben behalten. „Ich werde mir jetzt eine Arbeit suchen, die meine
-Gedanken voll in Anspruch nimmt“, dachte sie, „ich will Suschen zum
-Andenken an den heutigen Tag etwas malen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p>
-
-<p>Als sie sich der Mutter gegenüber mit ihren Zeichengerätschaften
-eingerichtet hatte, holte sich diese ein Buch zum Lesen, und es
-war das erste Mal, daß beide gemütlich zusammensaßen in den neuen
-Räumen. Konnte man doch nun auch dem anderen Morgen mit größerer
-Ruhe entgegensehen. Die Warburgerin fand sich zum verwundern schnell
-zurecht. Als die notwendige Arbeit gethan war, scheuerte sie freiwillig
-noch die Hintertreppe, die von Thekla sehr vernachlässigt worden war.
-Als sie dann ihre Hände gewaschen und ihren Mantel umgethan hatte,
-stellte sie sich mit untergeschlagenen Armen noch einmal auf die
-oberste Stufe, blickte mit einer Art verklärter Zärtlichkeit auf das
-eben vollendete Werk und sagte: „Ne, was schöneres giebt es doch auf
-der Welt nicht, wie so ’ne schloh-blütenweiße Treppe!“</p>
-
-<p>Martha hatte sie mit ihren Augen auf Schritt und Tritt begleitet; sie
-sah, daß sie eine geübte Arbeiterin vor sich hatte, und wollte von ihr
-lernen. „Welche verschiedenen Lose haben doch die Menschen!“ dachte
-sie; „es ist eigentlich hart, immer nur zu scheuern, zu fegen und zu
-putzen!“ Bei Frau Warburgers entzückter Anbetung der gescheuerten
-Treppe tröstete sie sich: „Es ist am Ende einerlei, was man thut, wenn
-es nur mit solcher Befriedigung lohnt!“</p>
-
-<p>Zum Kochen kam wieder das Suschen und brachte eine Schüssel Spinat mit:
-„damit wir auch Gemüse zum Braten<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> haben.“ Als nach Tische die Mutter
-in der Sofaecke saß, ging Martha zu Direktors, um ihr Versprechen zu
-halten. Sie wunderte sich, daß nicht ihre Freundin, sondern das Mädchen
-ihr die Thür öffnete, und sie durch den Korridor zu dem Hinterzimmer
-brachte. Hier stand sie staunend einem feierlichen, lebenden Bilde
-gegenüber. Suschens Geschwister waren in einem Halbkreis aufgestellt,
-der sechszehnjährige Bruder in der Mitte; von da ging es nach beiden
-Seiten abwärts; an einer Seite saß das Kleinste an der Erde. Jedes
-Kind hielt ein Schneeglöckchen in der Hand, Suschen stand vor ihnen
-mit dem Rücken nach der Thür, hielt einen Weidenzweig mit Kätzchen als
-Taktstock, kommandierte, eins, zwei, drei — und nun ging der Lärm los.
-Sie sangen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Heil sei dem Tag, an welchem du bei uns erschienen!</div>
- <div class="verse indent0">(Die Jungen intonierten: didelum, didelum, didelum),</div>
- <div class="verse indent0">’s ist gar nicht lange her</div>
- <div class="verse indent8">(Didelum, didelum, didelum),</div>
- <div class="verse indent0">Wir brauchen uns nicht erst drauf zu besinnen</div>
- <div class="verse indent8">(Didelum, didelum, didelum),</div>
- <div class="verse indent0">Das freut uns desto mehr,</div>
- <div class="verse indent0">Das freut uns desto mehr.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Hierauf marschierten sie an Martha vorüber, und jedes Kind reichte
-ihr sein Schneeglöckchen, auch das zweijährige Mariechen wackelte den
-anderen nach. Martha wußte nicht,<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> ob sie lachen oder weinen sollte, es
-war für ihre jetzige Gemütsverfassung etwas viel; aber das Ganze sah so
-reizend aus, die Kindergesichter strahlten fröhlich, und es war mit so
-viel Liebe erdacht, daß sie sich doch von Herzen freuen mußte und die
-kleine Marie und ihr Suschen abwechselnd umarmen. Die anderen wollten
-aber auch berücksichtigt sein. Da war zuerst der sechszehnjährige
-Sekundaner Wilhelm, die vierzehnjährige Luise, die zwölfjährigen
-Zwillinge Arthur und Hans, die achtjährige, schmächtige Anna, der
-vierjährige Gottfried und die zweijährige Marie. Alle umdrängten sie
-Martha, eins überschrie das andere, sie waren offenbar aufgeregt durch
-die Empfangsfeierlichkeit: „Hast du dieses Jahr schon Schneeglöckchen
-gesehen? Sie sind ganz hinten aus dem Garten, Hans hat sie unterm
-Schnee hervorgesucht.“ „Kannst du auch singen?“ „Kannst du Post-
-und Reisespiel?“ „Kannst du Zwickmühle?“ „Sieh ’mal, das ist meine
-Puppenstube!“ „Haben Sie ‚Die Ahnen‘ schon gelesen, Fräulein Feldwart?“</p>
-
-<p>Sie wußte in der That nicht, wem sie zuerst antworten sollte, ja,
-zuweilen kamen Momente, wo sie sich am liebsten die Ohren zugehalten
-hätte, denn solch ein Trubel war ihr gänzlich ungewohnt. Aber sie fand
-sich schnell darin zurecht.</p>
-
-<p>„Kommt“, sagte Suschen, „jetzt schlachten wir zuerst<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> Martha zu Ehren
-die beiden Apfelsinen, die der Vater mitgebracht hat; jeder bekommt ein
-Viertel und Mariechen ein kleines Biskuit. Dann spielen wir; Luischen
-soll sagen, was?“</p>
-
-<p>„Ach, ich kann gar nicht spielen“, sagte Luischen, „ich muß mein
-englisches Gedicht noch ’mal überlernen; das ist heute so schwer.“</p>
-
-<p>„Wir müssen auch arbeiten“, erklärten Hans und Arthur; „die Probe auf
-unser Exempel paßt nie.“</p>
-
-<p>„Ach“, sagte Martha fröhlich, „da kann ich mich vielleicht dankbar
-erweisen für den schönen Empfang, und euch ein wenig helfen.“</p>
-
-<p>Es zeigte sich, daß Luischen erst um drei Uhr in die Schule mußte;
-Martha vertiefte sich also zuerst mit den Zwillingen in die Exempel.
-Es gelang ihr bald, den wunden Punkt zu finden, und von da aus war die
-Sache bald berichtigt.</p>
-
-<p>Darauf setzte sie sich zu Luischen: „Nun lies mir ’mal zuerst dein
-Gedicht. Nein, liebes Luischen, so geht es wirklich nicht, du sprichst
-noch sehr falsch aus, und mir scheint, daß du an einigen Stellen auch
-den Sinn nicht recht verstehst, ich will dir jetzt immer Strophe für
-Strophe vorsagen, du sprichst mir langsam nach, und am Ende jedes
-Verses übersetzest du, was du gesagt hast.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p>
-
-<p>Es geschah, und Martha gelang es bald, der etwas flüchtigen Schülerin
-ihre Aufgabe klar zu machen: sie hatte nun selbst ihre große Freude
-daran, als dieselbe nach und nach alle Schwierigkeiten überwand.</p>
-
-<p>„Bitte“, sagte Luischen, „nun lies du es noch ’mal ganz; das klingt so
-hübsch.“</p>
-
-<p>Martha that es. Während ihres Lesens hatte sich leise hinter ihr
-die Thür geöffnet und Direktor Werners kluger Kopf war in derselben
-erschienen. Er sah recht wohlgefällig auf die Leserin.</p>
-
-<p>„Das ist ja eine sehr gute Aussprache“, sagte er, als Martha fertig war.</p>
-
-<p>Sie stand errötend auf.</p>
-
-<p>„Seien Sie mir, willkommen, Fräulein Feldwart; ich wollte nur hier
-meine junge Gesellschaft an die Schulzeit erinnern; ich denke, wir
-sprechen uns bald länger.“</p>
-
-<p>Er hatte schon die Hefte unterm Arm, den Hut in der Hand und empfahl
-sich schnell.</p>
-
-<p>Martha eilte zu ihrer Mutter; sie fing nun an, Licht und Luft um
-sich zu sehen; sie fühlte, daß sie sich bald einarbeiten werde mit
-der Freundin zusammen. Die Mutter war nicht mehr so teilnahmlos wie
-früher, und die fröhliche Kindergesellschaft drüben versprach so viel
-Erheiterung und Zuwachs an Interesse, wie Martha eben jetzt bedurfte
-und<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> gebrauchen konnte. Nur ein großer Sorgenstein lag noch auf ihrer
-Seele und bedrückte dieselbe täglich mehr. Es war am 1. März, als das
-letzte Fünfmarkstück aus ihrem Beutelchen herauswanderte, und vor dem
-1. April war an keine neue Einnahme zu denken. Sie überlegte lange: sie
-glaubte wohl, daß Fleischer, Bäcker und Kaufmann, die von ihr bis jetzt
-pünktlich bezahlt worden waren, einige Wochen gern leihen würden; aber
-wenn sie in diesem Vierteljahre vom nächsten schon zehrte, wie in aller
-Welt sollte sie da künftig auskommen? Dazu hatte sich so viel Wäsche
-gesammelt; es würde auch teuer sein, sie waschen zu lassen.</p>
-
-<p>Die Mutter war eben erst wieder ein wenig teilnehmender geworden; sie
-beschloß, Frau Werner um Rat zu fragen.</p>
-
-<p>Diese hörte mit der wärmsten Teilnahme Marthas Klagen an und dachte
-lange darüber nach: „Du mußt das doch deiner Mutter sagen, liebes
-Kind! Es giebt eine wahre und eine falsche Schonung. Wie willst du es
-anfangen, dich noch mehr einzuschränken, wenn deine Mutter keine Ahnung
-von euerer Lage hat? Über die Wäsche sei ruhig, das wird sich mit Hilfe
-der Warburgerin billig einrichten lassen; die feinen Sachen wäscht
-Suschen mit dir allein und lehrt dich das Stärken und Plätten! Gehe
-nur<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> jetzt und sprich mit deiner Mutter ordentlich und ehrlich über
-euere Lage.“</p>
-
-<p>Es wurde Martha recht schwer, und Frau Feldwart war sehr erschrocken;
-aber nach einigem Nachdenken fand sie einen Ausweg. Sie hatte einen
-Brillantschmuck, der ihr freies Eigentum war, für Notfälle mitgenommen;
-der wurde mit Hilfe der Frau Werner bei einem soliden Goldschmied
-verkauft und ergab immerhin so viel Einnahme, daß der nächsten,
-dringendsten Not damit gewehrt war. Aber Werners hatten bei dieser
-Gelegenheit einen tieferen Einblick in die Lage ihrer Nachbarn bekommen
-und dachten von dem Augenblicke ernstlich darüber nach, womöglich
-einige Erwerbsquellen für Martha zu finden.</p>
-
-<p>Die Karte, welche dieselbe für Suschen gemalt hatte, war vollendet.
-Aus jeder Ecke schwebte eine Taube; alle vier hielten im Schnabel
-ein blaues Band, an welchem sie zwei Herzen, als kleine Personen
-dargestellt, eines mit einer Distel — das andere mit einem
-Rosenkranze, einander entgegenzogen. Dazwischen stand geschrieben:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Am 26. Februar</div>
- <div class="verse indent0">Da haben uns zwei Taubenpaar’</div>
- <div class="verse indent0">Verbunden.</div>
- <div class="verse indent0">Der Tag stets unvergessen sei,</div>
- <div class="verse indent0">Da wir uns bei der Rupferei</div>
- <div class="verse indent0">Gefunden.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-<p><span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span></p>
-<p>Das ganze Bildchen war mit Vergißmeinnicht durchschlungen und sah
-allerliebst aus. Suschen war entzückt darüber. Ihr Vater betrachtete es
-lange; dann sagte er: „Suschen, die Karte mußt du mir ein wenig borgen,
-Du sollst sie richtig wieder haben; ich habe eine Absicht damit.“</p>
-
-<p>Frau Feldwart fand den Umgang mit Werners so entschieden erfrischend
-und erheiternd für Martha, daß sie bald nichts mehr dagegen hatte, wenn
-diese auch einmal zu einer anderen Zeit eine Viertelstunde zu Suschen
-ging, und sie fing auch an, sich an dem fröhlichen Geplauder der
-Mädchen zu erfreuen, wenn diese herüber kam. Eines Sonnabends erschien
-sie mit der Bitte, Martha möge doch am Nachmittag einige Stunden mit
-ihnen spazieren gehen, die Eltern gingen auch mit; es sollten im
-Stadthölzchen Schneeglöckchen, Leberblumen und Anemonen gesucht werden.
-Es war einer jener wunderlieblichen Märztage, da die Sonne mit ihren
-warmen Strahlen die letzten Schneestreifen wegküßt und durch die Milde
-der Luft die Täuschung hervorgebracht wird, als sei man schon viel
-weiter in der Jahreszeit vorgerückt.</p>
-
-<p>Man zog sehr fröhlich hinaus; die Mädchen trugen im Strickkörbchen, die
-Knaben in der Botanisiertrommel ihr Vesperbrot. Mariechen wurde vom
-Kindermädchen im Wagen vorausgeschoben, Gottfried ging meistens an der
-Hand der Mutter, die wie eine richtige Gluckhenne ihre Augen überall<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span>
-hatte, damit keines der Kleinen zu Schaden kommen sollte; die anderen
-schwärmten umher, lachend, singend und springend. Der Vater examinierte
-scherzhaft bald dieses, bald jenes Kind, bald deutsch, bald lateinisch.</p>
-
-<p>Suschen ging an Marthas Arme, in höchst vertrauliche Mitteilungen
-vertieft, als plötzlich der Direktor rief: „Fräulein Martha, sehen Sie
-wohl dort den Turm?“</p>
-
-<p>Sie sah ihn.</p>
-
-<p>„Dort ist das Dorf und Gut, wo Ihre liebe Mutter geboren und erzogen
-ist und die alte Trude jetzt noch ihre Heimat hat; auch Ihre
-Urgroßeltern liegen dort begraben.“</p>
-
-<p>„Ach, da möchte ich hin“, sagte Martha. „Aber freilich, es würde der
-Mutter zu schwer sein“, fügte sie traurig hinzu.</p>
-
-<p>Martha stand jetzt neben Direktor Werner, und er fing sogleich ein
-Gespräch mit ihr an, das sie neben ihm festhielt. Er fragte nach
-ihrer Ausbildung, ihren Lehrern, nach dem Gange ihres Unterrichtes,
-und fuhr dann fort: „Ich stelle dies Examen absichtlich mit Ihnen an,
-Fräulein Martha. Meine Frau und ich möchten so gern ein Mittel finden,
-um Ihre Lage zu erleichtern. Ich weiß wohl, daß Sie bei dem jetzigen
-Zustande Ihrer lieben Mutter nicht daran denken können, Ihr Examen zu
-machen und eine Stelle als Lehrerin anzunehmen; aber es ist eine ganze
-Anzahl junger<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> Mädchen hier, die eine englische Konversationsstunde
-dringend wünschen; mein Suschen und die Töchter dort vom Amt sind
-auch dazwischen; ebenso suchen wir für Luise und ihren Bekanntenkreis
-Unterweisung im Zeichnen und Malen; würden Sie bereit sein, beides zu
-übernehmen? Ein Honorar wollte ich Ihnen schon ausmachen; es würde
-immerhin eine Hilfe für Ihre Kasse werden.“</p>
-
-<p>Martha sah ihn fröhlich an: „Wenn es meine Mutter erlaubt, thue ich das
-sehr gern; besonders wenn Sie mir behilflich sind, passende Lektüre zu
-finden.“</p>
-
-<p>Er versprach es, und Martha war glücklich. Sie hatte noch nie daran
-gedacht, daß sie imstande sein könne, etwas zu verdienen; der Gedanke
-war zu schön; sie schwärmte sich mit Suschen beinahe wie die berühmte
-Milchfrau in sehr schöne Zukunftsträume hinein, so daß beide, im
-Wäldchen angelangt, erst aus ihrem Phantasiehimmel heruntergeholt
-werden mußten, bevor sie die lieblichen Frühlingskinder erblickten, die
-wie eine reiche Stickerei aus dem dunklen Moosteppich hervorglänzten.</p>
-
-<p>Frau Feldwart war am Abend nicht so leicht für die neuen Pläne zu
-begeistern; sie war zuerst entsetzt über die Idee, daß Martha etwas
-verdienen sollte, und klagte hart ihr Schicksal an; aber sie kannte den
-Ernst ihrer Lage, und die große Freudigkeit ihres Kindes besiegte sie
-zuletzt.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span></p>
-
-<p>Nach einigen Tagen kam Suschen strahlend; der Direktor hatte die
-Taubenkarte nach M. geschickt; sie hatte dort Beifall gefunden, und
-Martha erhielt den Auftrag, mehr solcher Karten zu malen, unter
-Bedingungen, die immerhin einigen Vorteil versprachen — lauter
-tröstliche Aussichten!</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_6">6.<br>
-Die Urgroßmutter.</h2>
-
-</div>
-
-<p>In den ersten Wochen ihres Aufenthaltes in H. hatte das Befinden der
-Mutter Marthas Sorge so in Anspruch genommen, daß der Gedanke, sie auch
-nur auf Stunden zu verlassen, gar nicht aufkam.</p>
-
-<p>Suschen hatte schon öfter von den schönen Gottesdiensten in der nahen
-Pfarrkirche und ihrem lieben Pastor erzählt. Jetzt klangen die Glocken
-so feierlich herüber und luden zur Fastenkirche.</p>
-
-<p>„Mama, möchten wir nicht auch einmal hingehen?“</p>
-
-<p>„Gehe du, Martha, ich kann noch nicht unter Menschen!“</p>
-
-<p>Martha rief Werners und Suschen ab und ging mit ihnen. Der Kirchgang
-am heiligen Weihnachtsabend war ihr letzter gewesen. Damals hatte sie
-vor Glückseligkeit nicht ordentlich gehört, was gesungen und gesagt
-wurde; heute verlangte ihre gebeugte Seele Trost und Kraft von oben<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span>
-und öffnete wie eine durstige Blüte den Kelch, um den Himmelstau
-aufzunehmen. Die schönen, wohlbekannten Fastenlieder bewegten ihr Herz
-und hoben es empor. Der Prediger war ein Greis mit weißen Haaren, sein
-Angesicht bestrahlt vom Morgenrot einer besseren Welt. Sein Thema war
-heute: „Wie man dem Herrn sein Kreuz nachtragen soll.“</p>
-
-<p>„Das paßt sehr für mich“, dachte Martha, „ich muß ja auch mein Kreuz
-tragen.“ Sie erfuhr aber bald, daß noch etwas Besonderes dabei war,
-woran sie noch nicht gedacht hatte.</p>
-
-<p>„Denkt nicht“, sagte der alte Pfarrer, „wenn euch Gott Leiden schickt
-und ihr müßt sie ertragen, weil ihr sie nicht los werden könnt,
-daß dies schon heißt: dem Herrn sein Kreuz nachtragen; o nein! das
-müssen auch die Heiden und die Ungläubigen thun. Dem Herrn sein Kreuz
-nachtragen, d.&#160;h. die Last, die er uns darreicht, willig auf unsere
-Schultern nehmen mit dem Gebete: ‚Herr, du hast dein Kreuz getragen für
-mich und meine Sünden, und hast die Nägel, die in meinem Kreuze waren,
-dadurch herausgezogen; nun hilf, daß ich mein Kreuz dir nachtrage ohne
-Murren, in dankbarer Liebe, in stillem, geduldigem Gehorsam, so wie du
-es von mir willst und mir es vorgetragen hast, als dein Kind und zu
-deiner Ehre! Dann glaubt<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> mir, grünt das Kreuzholz auf euerer Schulter,
-blüht und trägt Früchte, davon ihr noch genießen könnt in der seligen
-Ewigkeit.“</p>
-
-<p>Martha fühlte sich tief ins Herz getroffen. Nein, in dieser Weise hatte
-sie ihr Kreuz noch nicht getragen, davon war sie noch weit entfernt;
-aber sie folgte mit zagendem Herzen dem Schlußgebet, daß Gott die
-Seelen bereiten möge zu solchem Kreuzestrost und solcher Kraft zum
-Tragen, und sie konnte nicht anders, als nach der Heimkehr der Mutter
-von dem Eindruck sprechen.</p>
-
-<p>„Mutter, ich möchte dich um etwas bitten. Darf ich nun manchmal wieder
-ein Lied singen?“</p>
-
-<p>Die Mutter erlaubte es; zuerst flossen ihre Thränen heftiger dabei,
-dann verlangte sie danach, sie erinnerte auch Martha am nächsten
-Sonntage selbst daran, in die Kirche zu gehen; die ging so gerne, und
-als wieder die Glocken zur Abendkirche riefen, holte Frau Feldwart
-selbst ihren Mantel und begleitete ihr Kind.</p>
-
-<p>Trude war fast jede Woche gekommen; gegen Ende März brachte sie Grüße
-vom Herrn Amtsrat Rösner, und ob er nicht einmal dürfe seinen Wagen
-schicken, Frau Feldwart und das Fräulein darin holen zu lassen, damit
-sie die alte Heimat wieder begrüßten.</p>
-
-<p>Frau Feldwart konnte sich nicht entschließen: „Ja, wenn<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> ich früher
-einmal hätte dort sein können! Aber in diesem Zustande? nein!“</p>
-
-<p>Am andern Tage fuhren des Amtsrats Töchter, frische, blühende Mädchen,
-vor, und baten kindlich, doch zu erlauben, daß Martha sie für die
-Nachmittags- und Abendstunden mit Suschen nach dem Gute begleite; es
-wären all’ die jungen Mädchen dort versammelt, die an den englischen
-Stunden teilnehmen wollten; sie wünschten Martha kennen zu lernen.</p>
-
-<p>Dagegen ließ sich nichts sagen. Martha fuhr hinaus in den freundlichen
-Frühlingstag in Gesellschaft der munteren Mädchen; sie freute sich,
-all’ die Stätten zu sehen, wo Urgroßeltern und Großeltern gelebt
-hatten, und ihre Mutter aufgewachsen war. Der joviale Gutsherr und
-seine freundliche Frau empfingen sie sehr freundlich; der Kreis von
-jungen Mädchen, die zum Teil noch bedeutend jünger waren als Martha,
-versetzte sie in ihr früheres, glückliches Leben zurück; sie bewegte
-sich ungezwungen und anmutig zwischen ihnen und gewann schnell das
-allgemeine Zutrauen. Es ward Zeit und Ort der englischen Stunde
-verabredet, Direktors wollten ihr großes Hinterzimmer dazu hergeben,
-und nur an besonders schönen Nachmittagen wollte der Amtsrat die
-Gesellschaft herausholen lassen.</p>
-
-<p>Nach dem Kaffee eilte alles in den großen Garten, dessen<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> feiner Rasen
-im ersten Grün schimmerte, um am Rain und im Gebüsch nach Veilchen zu
-suchen.</p>
-
-<p>Hier wartete Trude: „Nun, Fräulein Martha, nun kommen Sie ’mal mit,
-nun will ich Ihnen zeigen, wo die Mutter groß geworden ist; die Frau
-Amtsrätin wollte es selbst thun, aber ich habe so lange gebeten, bis
-sie es mir erlaubte; ich weiß das ja doch natürlich noch viel besser!
-So? Fräulein Werner will auch mit? Na, meinetwegen.“</p>
-
-<p>Das Haus, wo Amtsrat Rösner wohnte, war ein Anbau, den er sich selbst
-erst eingerichtet, da ihm das alte Wohnhaus zu kühl und düster
-erschienen war; in dieses führte jetzt Trude die beiden Mädchen.</p>
-
-<p>„Sehen Sie, hier, was jetzt die große Wirtschaftsstube ist, das war
-der Saal; da ist die Hochzeitstafel gewesen, als der Herr Vater mit
-der Frau Mutter getraut worden waren, und hier, wo jetzt die Stube vom
-Inspektor ist, da war die beste Wohnstube; Sie können hineinsehen,
-er ist draußen beim Bestellen. Da über dem Flur drüben das war dem
-Großvater seine Arbeitsstube, die hat jetzt Mamsell Hannchen. Und nun
-kommen Sie ’mal mit die Treppe hinauf.“</p>
-
-<p>Im oberen Stockwerk waren zwei Stübchen, die Marthas Interesse
-vorzugsweise in Anspruch nahmen: das ehemalige Zimmerchen ihrer Mutter,
-was jetzt sehr niedlich<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> als Logierstube eingerichtet war, und das
-Gastzimmer daneben.</p>
-
-<p>„Sehen Sie, hier hat nun die Frau Urgroßmutter gewohnt. Da hier in der
-Ecke stand ihre große, bunte Kommode und da am Fenster steht noch ihr
-Lehnstuhl und ihr eiserner, kleiner Tisch. Das war ’mal eine gewaltige
-Frau! Die Leute im Dorfe wissen noch viel Geschichten von ihr, und ich
-kann mich noch ganz gut auf sie besinnen. Sie ist die Mutter gewesen
-von allen Kranken und Armen, und in den Kriegsjahren hat sie immer
-den Kopf oben gehabt und mehr als einmal durch ihre Ruhe und ihr
-Auftreten den Hof vor Plünderung und Schaden bewahrt. Der Urgroßvater
-war kränklich und litt viel am Magen und an der Leber, da hat sie jung
-schon die Zügel mit halten müssen. Hier oben aber da hat sie gesessen
-eine halbe Stunde vor Tag und eine halbe Stunde des Abends, und hat
-gelesen und so gewaltig gebetet, daß sie es manchmal draußen verstanden
-haben, und in ihrem Testamente hat sie es bestimmt: der Stuhl, der
-Tisch und darauf die Bibel und das Starkenbuch das soll hier am Fenster
-bleiben und nicht verrückt werden, zum Zeugnis, daß der Segen von oben
-kommt.“</p>
-
-<p>Martha war zumute, als hörte sie die Stimme, die aus dem feurigen
-Busche zu Mose sprach: „Ziehe deine<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> Schuhe aus; der Ort, da deine Füße
-stehen, das ist ein heilig Land.“ Mit scheuer Ehrfurcht schlug sie
-die alte Bilderbibel auf, deren vergilbte Blätter mit Randbemerkungen
-bedeckt waren; sie hatte aufgeschlagen und las: „Ebr. 12, 1: Darum
-auch wir, dieweil wir solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasset uns
-ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, und lasset
-uns laufen durch Geduld in dem Kampfe, der uns verordnet ist.“ Es war,
-als hörte sie die Urgroßmutter selbst diese Worte sagen, als empfinge
-sie von ihr in dieser Minute gewissermaßen innerlich den Ritterschlag;
-jetzt hätte sie lieber selbst Truden und Suschen nicht neben sich
-gehabt; sie konnte sich lange, lange nicht trennen. Draußen vor dem
-Fenster spielte der Wind in den eben erst knospenden Zweigen der alten
-Linden, die hatten auch schon herübergerauscht in der Jugend der
-Urgroßmutter, und dahinter erglänzte der kleine, klare Landsee, in dem
-die Mittagssonne sich spiegelte; das war alles ebenso wie sonst.</p>
-
-<p>„Jetzt möchte ich ihr Grab sehen“, sagte sie endlich. Sie wanderte mit
-Suschen Arm in Arm durchs Dorf, Trude voran. Auf einem grünen Hügel,
-von Kastanien umgeben, lag die freundliche, saubere Kirche, rings
-um sie her unter ihren weißen Steinen und Kreuzen die schlafenden
-Gemeindeglieder. Ganz nahe dem Eingange ins Gotteshaus schliefen
-Urgroßvater und Urgroßmutter dicht nebeneinander. Die<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> Leichensteine
-stellten, wie es damals Sitte war, abgebrochene Säulen dar; auf der des
-Urgroßvaters stand: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen; ich
-gehe hin, euch die Stätte zu bereiten“; auf dem seiner Gattin: „Ich
-weiß, daß mein Erlöser lebt!“</p>
-
-<p>„Das hat sie selbst so bestimmt“, sagte Trude, „sonst hätte doch wohl
-was von allen ihren Gutthaten drauf stehen müssen.“</p>
-
-<p>Die Gräber waren sehr gut gehalten, die dürren Blätter sauber
-abgeharkt; ein Kranz von Schneeglöckchen faßte die obere Fläche ein,
-sie läuteten mit all ihren feinen Glocken; schon zeigten sich auch
-die blauen Blüten der Amaryllis und die dunklen Köpfchen kleiner
-Tulpen fingen an, sich zu färben. Vom Turme klang jetzt feierlich das
-Feierabendgeläute, die Sonne wollte soeben zur Ruhe gehen, ihre roten
-Strahlen gossen flüssiges Gold auf die Grabsteine und das Gras, und
-eine sanfte Abendluft spielte geheimnisvoll in den welken Blättern, die
-an der Kirchhofsmauer noch aufgeschichtet lagen.</p>
-
-<p>Die beiden jungen Mädchen hatten sich fest an der Hand gefaßt, Trude
-stand mit gefalteten Händen. Vom Abendläuten war der letzte Ton
-verklungen, da hörte man Schritte im Kieswege; die Mädchen wandten sich
-und standen einem jungen Manne in geistlicher Kleidung gegenüber, der
-offenbar<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> den schmalen Pfad benutzen wollte, um zum nahen Pfarrhause
-zu gelangen. Martha und Suschen traten einen Schritt zurück; er grüßte
-Suschen, wie man eine alte Bekannte grüßt, und wollte dann schnell
-vorüber; aber Trude gab sich so noch nicht zufrieden.</p>
-
-<p>„Herr Pastor! sehen Sie doch nur, das ist ja die Urenkelin hier von der
-seligen Frau.“</p>
-
-<p>Der Pastor blieb stehen und Suschen übernahm die Vorstellung: „Herr
-Pastor Frank, Fräulein Feldwart!“</p>
-
-<p>„Und Sie waren noch niemals hier?“ fragte der Pastor.</p>
-
-<p>„Niemals!“ erwiderte Martha.</p>
-
-<p>„Dann müssen Sie aber auch all’ unsere schönen Altargedecke und
-heiligen Geräte sehen; die rühren meistens von der Frau Urgroßmutter
-her.“</p>
-
-<p>O ja, das wollte Martha gern. Der Pastor sprang nach seinem Hause, um
-die Schlüssel zu holen, und nahm dann die Erfreuten mit sich in die
-Kirche und in die Sakristei.</p>
-
-<p>Dort schloß er eine schwere, eichene Truhe auf: „Die stammt auch
-von der Urgroßmutter!“ Dann enthüllte er die schönen, schweren
-Altargedecke: „Sehen Sie, bei jedem Stücke liegt in dem kleinen
-Kästchen an der Seite das Dokument der Schenkung.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span></p>
-
-<p>Martha beugte sich über die alten Papiere: sie waren offenbar von
-derselben Hand geschrieben wie ihr Weihnachtslied. Zuerst kam die
-Schenkung der Truhe: „Anno 1801 bei der Geburt ihres ältesten Sohnes
-schenkte Frau Anna Martha Waldheim aus Dankbarkeit für Gottes
-unverdiente Gnade und zum Gedächtnis seiner Wunder diese Truhe zur
-Aufbewahrung der Kanzel- und Altarbekleidungen.“ Dann kam 1806 bei der
-Geburt eines zweiten Sohnes das erste Gedeck. „Das blaue Laken mit dem
-Lamme stickte ich mit meiner eigenen Hand.“ Dieser Hans Waldheim, der
-hier erwähnt war, war Marthas Großvater. „1812 bei der Geburt einer
-Tochter Margarete schenkte ich eine Bekleidung für den Taufstein aus
-schwarzem Sammet und Golde: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott!
-zu unsern Zeiten!“</p>
-
-<p>„Nun sollen Sie auch die Geräte sehen“, sagte der Pastor und öffnete
-ein Doppelschloß in der Mauer. 1824 war ein schöner, goldener Kelch
-geschenkt: „Zum Angedenken an die sel. Heimfahrt meines ältesten
-Sohnes, der sich im Sterben hat mit dem Sakrament erquicket“; 1828
-„eine güldene Weinkanne, da mir mein Herr den bitteren Trank des
-Witwenleides hat eingeschenket. Dein teures Blut, dein Lebenssaft giebt
-mir stets neue Lebenskraft!“ „Anno 1830 bei der Taufe meiner lieben
-Enkelin Anna Marie ein neu<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> Taufbecken: Wer da glaubet und getauft
-wird, der wird selig!“</p>
-
-<p>Anna Marie! das war ja ihre liebe Mutter! Martha war es sonderbar ums
-Herz; so wohl, als sei sie in dem kleinen Gotteshause zuhause; so weh,
-daß von der Familie, die hier so feste Wurzeln geschlagen hatte, jetzt
-hier kein einziges Reislein mehr grünte. Im Amtsstuhl war noch der
-kleine, geschnitzte Gesangbuchsschrank der Urgroßeltern mit ihrem Namen
-und dem Datum ihres Einzuges. Martha fand es sehr schwer, sich von all
-diesen Erinnerungen loszureißen, aber die Tageszeit nötigte dazu.</p>
-
-<p>Als sie ins Freie traten, war die Sonne hinunter und ein feiner, weißer
-Nebel zog durchs Thal. Sie dankten dem Pastor freundlich, er erkundigte
-sich noch nach Suschens Eltern, und dann stiegen die drei verschiedenen
-weiblichen Gestalten still den Hügel hinab. Pastor Frank stand an
-der Kirchhofsmauer und sah ihnen nach, bis das braune Kopftuch, das
-schwarze und das helle Kleid im Schatten der Häuser verschwanden.</p>
-
-<p>„Kanntest du den Pastor Frank schon länger?“ fragte Martha.</p>
-
-<p>„Ja wohl“, erwiderte Suschen; „er gab als Kandidat den deutschen
-Unterricht an unserer Schule; wir schwärmten damals alle für ihn.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span></p>
-
-<p>Daß Martha dann bei Tische und auf der Rückfahrt stiller war, wunderte
-Suschen eben nicht. Frau Feldwart hatte schon sehr ungeduldig nach
-ihrem Kinde ausgesehen.</p>
-
-<p>„Mama“, sagte die Tochter, nachdem sie nur eben ihre Sachen abgelegt
-hatte, „kannst du dich noch ganz ordentlich auf die Urgroßmutter
-besinnen?“</p>
-
-<p>„Freilich“, sagte Frau Feldwart; „ich war ja schon ganz erwachsen, als
-sie starb! An meinem Einsegnungsmorgen da hat sie an ihrem eisernen
-Tischchen noch mit mir gelesen und gebetet und hat mir die Bilderbibel
-mit dem silbernen Schloß geschenkt, die ich jetzt noch habe.“</p>
-
-<p>„Mama, das Tischchen steht noch und der Lehnstuhl, und Urgroßmutters
-Bibel und das Starkenbuch sind auch noch da.“</p>
-
-<p>„Wie mich das freut!“ rief Frau Feldwart; „sie hatte es ja im
-Testamente so bestimmt, und so lange meine Eltern dort waren, blieb
-natürlich alles so. Als wir Schwestern dann aber heirateten und die
-Eltern das Gut verkauften, um uns nachzuziehen nach B., da mußten wir
-es dem neuen Besitzer überlassen, ob er diesen Wunsch noch ferner
-erfüllen wollte.“</p>
-
-<p>„Mama, all’ die Altardecken und heiligen Geräte sind auch noch da, auch
-das Taufbecken, woraus du zuerst getauft bist; du mußt mir noch viel
-von der Urgroßmutter erzählen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span></p>
-
-<p>„Das thue ich schon gern; du kannst auch vielleicht in ihren alten
-Papieren manches finden.“</p>
-
-<p>Der Martha war zumute, als habe sie die Urgroßmutter heute erst
-geschenkt bekommen; ein Pastellbildchen aus der Jugendzeit derselben
-hing über dem Nähtisch ihrer Mutter; das mußte sie immer ansehen;
-die klaren Augen und festen, bestimmten Züge waren ihr nun erst
-verständlich, und ihr eigener Name: Anna Martha, den sie bis dahin ganz
-alltäglich gefunden hatte, wurde ihr jetzt lieb als Erbstück von der
-Urgroßmutter.</p>
-
-<p>Von Ostern ab begann nun für sie eine sehr fleißige Zeit. Unter
-Suschens Leitung nahm sie mit eigener Hand die Änderungen an ihrer
-Garderobe und der ihrer Mutter vor, welche die wärmere Jahreszeit nötig
-machte; die Besorgung der kleinen Wirtschaft fing an ihr Freude zu
-machen, auch das Einteilen und Sparen, als sie es nach Frau Werners
-Anleitung mit Erfolg that, gewann seinen Reiz für sie. Daneben begannen
-die englischen Übungsstunden, auf die sie sich ordentlich vorbereiten
-mußte; die Zeichenstunden mit den jüngeren Mädchen nahmen ihren Anfang;
-jede Mußestunde wurde zur Vollendung niedlicher Karten und Lesezeichen
-verwendet; da hieß es die Minuten benutzen und die Zeit aufs äußerste
-auskaufen. Frau Feldwart sah anfangs mit Befriedigung Marthas erhöhte
-Thätigkeit und<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> wiederkehrende Energie, aber mit der Zeit ward es ihr
-lästig, die Tochter, welche bisher nur für sie allein gelebt, so in
-Anspruch genommen zu sehen. Seitdem sie sich in die ungewöhnlich milde
-Frühlingsluft einmal hinausgewagt hatte, regte sich das Bedürfnis zum
-Spazierengehen öfter bei ihr; wenn dann Martha sagte: „Nein, Mama,
-heute kann ich nicht ausgehen, heute muß das Kleid fertig werden“,
-oder: „Ach, ich bin eben mitten im Malen mit meinem Lesezeichen, jetzt
-kann ich’s unmöglich liegen lassen!“ da wurde die Mutter verdrießlich
-und es gab zwischen beiden darüber so manchen kleinen Zwist. Es wurden
-allmählich auch die Abendstunden zur Arbeit mit herangezogen, in
-denen Martha der Mutter früher vorgelesen hatte; Frau Feldwart, deren
-Augen schwach waren, nickte dann ein beim Stricken und machte bittere
-Bemerkungen. Dann legte Martha wohl Bücher und Zeichengeräte fort und
-las vor, bis die Mutter zu Bette ging, um dann bis 1 Uhr nachts zu
-arbeiten und müde und überwacht am anderen Morgen aufzustehen.</p>
-
-<p>„Ich weiß nicht, Martha“, sagte Suschen, „Du bist jetzt viel unruhiger
-wie zu Anfang.“</p>
-
-<p>„Ich finde es selbst“, erwiderte diese nachdenklich, „ich war noch
-nie so aufgeregt und zerstreut wie jetzt; ich weiß nicht, woran es
-eigentlich liegt.“</p>
-
-<p>Es fiel ihr ein, daß Trude gesagt hatte, die Urgroßmutter<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> hätte
-zweimal so viel als andere fertig gebracht. Sie nahm sich vor,
-am nächsten Sonntag ’mal in ihren Briefen zu studieren. Sie fand
-verschiedene Briefe, die von Krankheiten, Arbeiten, Kriegsunruhen
-handelten; endlich öffnete sie einen Brief, den Frau Anna Martha ihrer
-Schwiegertochter, Marthas Großmutter, geschrieben:</p>
-
-<p>„Meine herzliebe Frau Tochter! Dein Brief hat mir recht viel Nachdenken
-und auch Sorgen gemacht, weil er klingt, als wüßtest Du vor Not und
-Arbeit von früh bis spät nicht aus noch ein! Ich kann mir wohl denken,
-wie die Obst- und Kartoffelernte, die Krankheit der beiden Kinder, das
-Schlachten und der viele Besuch zu der Hasenjagd alle deine Kräfte
-verbraucht haben, und ich will auch, so schnell ich kann, heimkommen,
-um Dir zu helfen; aber ich habe oft ebenso viel und noch mehr, sogar
-mit Feinden durchgemacht, und bin doch ruhig verblieben. Versäumt denn
-meine liebe Frau Schwiegertochter auch die Hauptsachen nicht? Ich
-las neulich in einem Buche, daß ein gelehrter Mann, ein Sterngucker,
-gesagt hat: ‚Gebt mir einen Standpunkt außerhalb der Welt, und ich will
-sie aus den Angeln heben.‘ Das hat mir ganz gewaltig gefallen. All’
-unsere Arbeiten, alle Mühen, Sorgen und Erdenlasten, die unsere Herzen
-drücken, die können wir nur regieren und bewegen von einem Standpunkt
-außerhalb der Welt, und gottlob! geht es darin uns<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> Christenleuten
-besser als dem armen Kerl in meinem Buche; wir haben den Standpunkt
-wahrhaftig; wir brauchen nur zu unserem Vater in dem Himmel zu gehen.
-Er hat’s erlaubt; wenn wir es nicht thun, ist es unsere Schuld. Frau
-Schwiegertochter! Wenn ich in meinem Leben etwas erreicht und fertig
-gebracht habe, so ist es nur dadurch geschehen, daß ich jeden Tag
-zweimal eine halbe Stunde vor Gottes Thron gegangen bin. Wenn doch
-alle Menschen wüßten, wie viel das Mühe, Not und Zeit erspart! Mit
-schwerem Herzen, matten Gliedern, unruhigem Gemüte geht man hin; mit
-freier Seele, gestärkten Füßen, wackeren Händen, geordnetem Willen und
-verständigen Gedanken kommt man wieder. Frau Schwiegertochter! Des
-Sonntags im Gottesdienst und des Alltags in der Betkammer da kriegt
-man das meiste fertig, denn da wird man selbst fertig gemacht, daß man
-nicht umherfährt wie eine Brummfliege, sondern fein gerade auf sein
-Ziel lossteuert wie ein Schiff mit reinen, vollen Segeln, in welche der
-richtige Wind bläst. Frau Schwiegertochter! Unter das Rezept kann man
-gewißlich setzen, was meistens unter denen Kuchen- und Seifen-Rezepten
-in den Kochbüchern stehet: <span class="antiqua">probatum est</span>! Und damit Gott
-befohlen!“</p>
-
-<p>Martha hielt lange den Brief in der Hand. Das war es!</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p>
-
-<p>Wenn ein junges, begabtes Wesen zuerst seine Leistungsfähigkeit
-entdeckt, empfindet es natürlich Freude darüber und das Verlangen,
-seine Thätigkeit fort und fort reicher zu entfalten und zu steigern.</p>
-
-<p>Dieser Trieb ist gewiß an und für sich nicht zu tadeln, aber es
-geschieht dann leicht, daß man sich fest auf die eigenen Füße stellt,
-der Quelle vergißt, aus der man seine Kraft empfing und erst durch die
-Lahmheit seiner Flügel und die Unruhe des ganzen Getriebes vom lieben
-Gott die Erinnerung bekommen muß: „Ohne mich könnet ihr nichts thun!“
-So war es Martha ergangen.</p>
-
-<p>„Was liest du da, Martha, worin du so ganz versunken bist?“ fragte die
-Mutter.</p>
-
-<p>Martha reichte ihr den Brief hinüber.</p>
-
-<p>„Ach“, sagte Frau Feldwart, nachdem sie ihn gelesen, „das ist ganz und
-gar meine Großmutter! Rezepte schrieb sie gar zu gern. Als ich aus
-meiner Freiheit auf dem Gute in die Stadt in Pension kam, hatte ich
-’mal einen großen Klagebrief nachhause geschrieben, weil ich nun alles
-zugleich lernen sollte und niemals fertig wurde; da hat sie mir auch
-’mal so ein Rezept geschickt, es war kurz vor ihrem Tode. Warte, ich
-will es dir gleich holen.“</p>
-
-<p>Sie nahm es aus ihrem Schreibtische und Martha las:</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span></p>
-
-<p class="center mtop1"><em class="gesperrt">Rezept für unser Mariechen in der Stadt.</em></p>
-
-<p>1) stehe die Jungfer früh auf; sie ist kerngesund und schläfet in der
-Nacht; da wird es ihr nichts schaden, wenn sie sich frühzeitig aus
-den Federn hebet. Frisch heraus, kalt gewaschen, rasch und ordentlich
-angezogen, ein Kapitel aus der Bibel gelesen, gebetet und an die
-Arbeit! Das lange Herumdrehen in den Federn mit wachen Augen ist
-schädlich; da gewöhnt man sich an das Träumen bei Tage, und es wird
-schwer sein, sich über diese verdämmerten Stunden zu entschuldigen,
-wenn man sich darüber einmal beim lieben Gott verantworten soll, wie
-man seine Zeit angewendet hat. Jeden Tag eine Stunde, giebt im Jahr
-365 Stunden, also 15 Tage und 5 Stunden; sollte Dich der liebe Gott
-70 Jahre leben lassen, werden 2 Jahre und 334 Tage daraus, ohne die
-Schalttage, also beinahe 3 Jahre; das bedenke man ordentlich, damit man
-die Minuten zurate hält!</p>
-
-<p>2) fasse man seinen Verstand zusammen und frage sich, was zu jeder
-Stunde das Nötigste ist. Eine Viertelstunde dieses betrieben, die
-andere Viertelstunde jenes — das schafft nicht. Was man treibt, treibe
-man ganz, lasse alle anderen Gedanken fahren und richte seinen ganzen
-Fleiß darauf, nicht, so schnell wie möglich fertig zu werden, sondern
-so gründlich und schön als möglich seine Arbeit zu vollenden; dabei
-wächst die Zufriedenheit und die Tüchtigkeit;</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span></p>
-
-<p>3) bedenke man all’ seine Sachen zur rechten Zeit und Stunde, und zwar,
-so viel es möglich ist, immer auf einige Tage voraus; man kann sich
-dann mit seinen Aufgaben viel besser einrichten. Wenn Du z.&#160;B. bei
-Deinen weiten Wegen in B. ausgehest und vergissest die Hälfte von dem,
-was Du nächstens gebrauchst, mitzubringen, und mußt dann noch einmal
-unnützlich rennen, so sind einige Stunden weg, die weder Dir noch
-anderen Vorteil bringen;</p>
-
-<p>4) gewöhne man sich, das nur Erwünschte und Angenehme von dem
-Nützlichen und Nötigen zu unterscheiden und beides nach seinem Werte
-zu behandeln. Zum Beispiel, Du darfst Sorgfalt und guten Geschmack
-auf Deinen Anzug verwenden, darfst Dir ansehen, welche Haarfrisur und
-Kleidung für Dich passend ist; der liebe Gott will nicht, daß wir
-uns vernachlässigen oder verunstalten sollen; seine Werke sind alle
-schön und wohlgeordnet und lieget der Zauber der Anmut darüber. Aber
-Du sollst nicht stundenlang vor dem Spiegel stehen, die Locken nach
-rechts und links drehen, die Schleifchen hierhin und dorthin wenden,
-und die edlen Stunden, die Deinem inwendigen Menschen und dem Wohle
-des Nächsten zugute kommen sollen, verthun mit „Firlefanz.“ Ja, liebes
-Kind, so nannte unsere Mutter all’ die Modethorheiten, die man sich
-jeden Tag neu ausdenket, die viel Zeit und Geld kosten und keinen
-Menschen glücklich und zufrieden<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> machen; Du glaubst nicht, wie viel
-man davon entbehren kann und wie glücklich man ist, wenn man so wenig
-als immer möglich davon gebraucht;</p>
-
-<p>5) darf man sehr wohl ein gutes Buch zur Unterhaltung lesen; nur daß
-man sich in Deinem Alter von erwachsenen, verständigen Personen muß
-raten lassen, welches ein gut und nützlich Buch sei. Aber, mein Kind,
-lies vernünftig. Sich den Kopf heiß lesen, um nur schnell vorwärts zu
-kommen und zu erfahren, ob der Liebste die Liebste auch kriegt, —
-blättern, bald hinten, bald vorne; überschlagen, was auf den ersten
-Augenblick nicht so ansprechend erscheinet; sich verlesen, wenn andere
-Pflichten rufen: das ist schlimmer, als hätte man nie ein Buch in der
-Hand gehabt, und macht den ganzen Charakter zucht- und haltlos. Langsam
-lesen, ordentlich in sich aufnehmen, bedenken, was der Verfasser von
-Dir will; zuweilen ein bißchen stille halten, wenn Dich was ins Herz
-trifft, das fördert und bringet unversehens weiter.</p>
-
-<p>6) Du darfst auch mit einer Freundin umgehen, ja wohl, es ist sehr
-schön, wenn Du eine hast; ich gönne sie Dir von Herzen. Aber wenn
-Du sie willst auf eine Stunde oder mehr besuchen, dann nimm Dein
-Strickzeug oder Nähzeug mit, oder spielet, springet, leset und singet
-meinetwegen zusammen; willst Du ihr aber nur auf einige Minuten<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> etwas
-bestellen, so laß dies wirklich nur Minuten sein; das Stehen und
-Schwätzen beim Gehen und Kommen, so zwischen Thür und Angel, daß keiner
-weiß, ob es jemals enden wird, das bringet die Töchter um ihre Zeit und
-die Mütter um ihre Geduld — das merke Dir!</p>
-
-<hr class="tb">
-
-<p>Martha war sehr hingenommen von den Lehren der Urgroßmutter. Sie waren
-natürlich nicht alle gerade für ihr eigentümliches Wesen zutreffend,
-aber vieles stimmte auffallend. Sie erinnerte sich sehr deutlich, daß
-Frau Direktor Werner gestern dreimal „Suschen!“ gerufen hatte, als sie
-an der Hinterthür voneinander Abschied nahmen, und wie oft, ach, wie
-oft! hatte sie weite Wege machen müssen, weil sie am Morgen vergaß,
-der Warburgerin das Nötige aufzutragen. Das Frühaufstehen war auch ein
-wunder Punkt, ein recht wunder! der sollte morgen früh zuerst geändert
-werden.</p>
-
-<p>Als Martha der Dienerin um sechs Uhr die Thür geöffnet hatte, legte
-sie sich nicht nach ihrer Gewohnheit noch einmal nieder, sondern sie
-kleidete sich ganz nach dem Rezept der Urgroßmutter leise und rasch an,
-und die Wohnstube war kaum fertig, so erschien sie in derselben, setzte
-sich ans Fenster und schlug ihre Bibel auf. Es war sehr feierlich<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span>
-um sie her. Drüben im Grasgarten schlugen die Finken; sie hatte
-die Fenster geöffnet, um die köstliche Maienluft zu atmen, und auf
-ihren Flügeln strömte der Duft von Flieder und Jasmin zu ihr herein;
-die blütenbedeckten Apfelbäume waren von der Morgensonne rötlich
-angeleuchtet; im Grase glänzte der Tau in tausend Perlen.</p>
-
-<p>„Wie schön solch ein Morgen ist!“ dachte Martha. Das Lied fiel ihr
-ein, das sie stets so gern gesungen: „Morgenglanz der Ewigkeit, Licht
-vom unerschöpften Lichte, Schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen
-zu Gesichte etc.“ Singen durfte sie es jetzt nicht, um die Mutter nicht
-zu wecken. Sie schlug ihre Bibel auf. Ach, die ganze Natur war heute
-nur ein Loblied; sie mußte sich auch hier in Gottes Wort eins suchen;
-sie las den 103. Psalm: „Lobe den Herrn, meine Seele! und was in mir
-ist seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß
-nicht, was er dir Gutes gethan hat etc.“ Dieser köstlichste aller
-Lobgesänge trug ihr Herz hoch empor, und ob sie es auch in der letzten
-Zeit oftmals versäumt hatte, mit ihrem Vater im Himmel zu reden, die
-Stimme des Psalmisten weckte verwandte Stimmen in ihrer Seele; sie
-konnte danken, sie konnte bitten, sie konnte ihr Leben und Streben im
-Lichte des Wortes Gottes stille betrachten. Wie verschwindet so vieles
-in diesem Lichte, was uns wichtig erschien; wie verklärt<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> erscheint
-manches, was wir für klein und unwichtig gehalten hatten; wie viel
-klarer wird die Richtschnur für unser Thun und Lassen, wenn Gottes
-helle Sonne darauf scheint.</p>
-
-<p>Martha hatte bis jetzt ihr rastloses Arbeiten für nichts als Tugend
-und ihre Mutter für sehr ungerecht gehalten, wenn sie diese Thätigkeit
-hemmen und ihr Kind für sich in Anspruch nehmen wollte; jetzt auf
-einmal wurde es ihr klar, daß die Erfüllung des vierten Gebotes ihre
-nächste Aufgabe sei, und ihrer Mutter das Leben leicht zu machen das
-höchste Ziel, das sie sich stecken mußte.</p>
-
-<p>So lange wir hier auf Erden leben, werden wir immer mehr oder
-weniger beunruhigt werden durch den scheinbaren Widerstreit unserer
-verschiedenen Pflichten, und das Bestreben, sie in Harmonie zu bringen,
-geht durch alle unsere Tage. Dies hat aber seinen Grund zumeist
-darin, daß wir unsere Lieblingsneigungen und Lieblingsbeschäftigungen
-selbstsüchtig festhalten und nicht unterordnen wollen; je mehr uns dies
-mit Gottes Hilfe gelingt, desto stiller und geordneter fließt unser
-Leben dahin.</p>
-
-<p>Martha fing jetzt wirklich ernstlich an, zu kämpfen und zu ringen,
-um dieses Ziel zu erreichen, und die Morgenstunden, welche ihr dazu
-verhelfen sollten, waren ihr bald so lieb und unentbehrlich wie einst
-der Urgroßmutter. Sie<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> war darin nicht immer in so gehobener Stimmung;
-ach nein! solche Stunden sind, so lange wir hier unten weilen, selten.
-Recht oft klagte sie, statt zu danken, wenn all’ die Sorgen ums
-tägliche Brot auf sie einstürmten, wenn die sehr wechselnde Stimmung
-der Mutter ihr Not machte, wenn die Sehnsucht nach Siegfried, von dem
-sie kein Wort wieder gehört hatte, allzu schmerzlich in ihr emporstieg.
-Martha hatte nicht versäumt, ihre neue Adresse in Berlin zu melden,
-damit ein Brief sie erreichen könne; sie hatte kein Lebenszeichen
-erhalten, wußte nicht, wo sie ihn mit ihren Gedanken aufsuchen sollte;
-auch in dieser Not war ihre einzige Beruhigung: „Er ist in Gottes Hand,
-wie ich es bin; wenn es zu unserem Frieden dient, bringt er uns wieder
-zusammen!“ Oft bat sie den Herrn mit Thränen darum, oft suchte sie nach
-Ergebung, wenn es anders beschlossen sei; aber so wenig sie jemals ganz
-mit ihrem alten Menschen fertig wurde, so kam doch nach und nach immer
-größere Ruhe und Sammlung in ihr Herz, und dies konnte man an ihrem
-Thun und Treiben gar wohl bemerken. Ohne daß sie eine der angefangenen
-Arbeiten vernachlässigte, gewann sie nun Zeit, sich mit der Mutter im
-Freien zu ergehen, ihr am Abend vorzulesen, sie in die erbaulichen
-Gottesdienste der nahen Pfarrkirche zu begleiten.</p>
-
-<p>Als Pastor Wohlgemuth die beiden Frauengestalten so<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> regelmäßig unter
-seinen Zuhörern erblickte, fing er an, ihnen mitunter einen Besuch zu
-machen, wie er es bei Direktor Werners schon seit langer Zeit that.
-Seine herzliche, ernste und doch getroste Weise, mit der er die trüben
-Dinge des Lebens ins heitere Himmelslicht zu setzen wußte, thaten
-der Mutter und Tochter wohl. Martha und Suschen verehrten ihn beide;
-seine Erscheinung im Hause war ein Fest für sie, ein beneidenswertes
-Ereignis, wenn er bei einer Begegnung freundliche Worte zu ihnen
-sprach, und alle Blumen, welche sie in Wald und Flur pflückten, mußte
-Luischen dem alten Herrn in die Konfirmandenstunde mitnehmen.</p>
-
-<p>Zu Pfingsten entschloß sich Frau Feldwart zum erstenmale, einer
-Einladung der Frau Amtmann Rösner zu folgen und einige Tage in Weißfeld
-zuzubringen. Es ging dies nicht ohne große Herzensbewegung ab, aber
-dieselbe war überwiegend freudiger Art. Ihr eigenes früheres Stübchen
-war für sie und Martha zum Schlafzimmer, das der Urgroßmutter zur
-Wohnstube eingerichtet. Sie sah die alte Heimat im lieblichsten Lichte:
-alle Häuser, auch das Gutshaus, mit Maien geschmückt, Narzissen und
-Tulpen, Flieder und Goldregen in voller Blüte, die Linden im schönsten,
-lichtgrünen Schmuck. Trude war überglücklich, ihre alte Herrin zu
-empfangen; von Amtmanns wurde sie mit der zartesten Liebe aufgenommen
-und gepflegt, und gleich am<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> Morgen nach der Ankunft hielten Mutter
-und Tochter zum erstenmal gemeinsam ihre Andacht am Plätzchen der
-Urgroßmutter. Die Mutter saß im Lehnstuhl; Martha, die Bilderbibel auf
-den Knieen, auf einem niedrigen Schemel davor; sie las auf Wunsch der
-Mutter den Lieblingspsalm der Frau, die hier so oft gebetet hatte,
-den 90. Psalm: „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für etc.“,
-den Psalm, der Ewigkeit und Vergänglichkeit ergreifend nebeneinander
-stellt, mit seiner kindlichen Bitte am Schlusse: „Erfreue uns nun
-wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück
-leiden; zeige deinen Knechten deine Werke, und deine Ehre ihren
-Kindern; und der Herr unser Gott sei uns freundlich und fördere das
-Werk unsrer Hände bei uns; ja, das Werk unsrer Hände wolle er fördern!“</p>
-
-<p>Sie saßen noch lange mit gefalteten Händen, als Martha gelesen hatte,
-und der Pfingstgeist, der Geist des Friedens und des Trostes, zog in
-ihre Herzen ein. Sie wanderten dann mit den geschmückten Landbewohnern
-zusammen dem Kirchlein zu.</p>
-
-<p>Frau Feldwart saß an derselben Stelle, wo sie mit ihren Eltern
-sonntäglich gesessen hatte. Ach, um sie her saß eine fremde Gemeinde!
-Trude und der gebückt einhergehende alte Kirchendiener waren die
-einzigen Gestalten, deren sie<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> sich erinnerte. Pastor Frank predigte in
-einer schönen Sprache, gar nicht ungläubig, aber noch recht jugendlich.
-Martha meinte, ihr alter Pastor Wohlgemuth gäbe ihr mehr, und geriet
-darüber mit Suschen, die am Morgen erst gekommen war, beinahe in Streit.</p>
-
-<p>„Ich weiß gar nicht, was du willst, Martha; noch schöner wie der Pastor
-Frank kann doch gar kein Mensch predigen!“</p>
-
-<p>„Er predigt mir eben zu schön“, sagte diese.</p>
-
-<p>„Aber wie kannst du nur solchen Unsinn sagen!“ rief Suschen ganz
-gereizt und ärgerlich.</p>
-
-<p>Gegen Abend kam Pastor Frank und blieb zum Abendbrot da. Es wurde
-musiziert; die beiden Töchter des Amtmanns spielten vierhändig, Pastor
-Frank sang mit seiner schönen Tenorstimme: „Tröstet, tröstet mein Volk“
-aus Händels „Messias“, er begleitete Martha das schöne Lied: „Du bist
-die Ruh, der Friede mild, die Sehnsucht du und was sie stillt etc.“, und
-das war wirklich recht erquicklich. Dann, nach Tisch, wanderten alle
-in der lieblichen Dämmerung des duftenden Gartens; Pastor Frank schloß
-sich an Martha und Suschen an; er erzählte, daß am dritten Festtage
-großes Kinderfest sein werde, auch eine Stiftung der Urgroßmutter. Er
-berichtete von mancherlei Einrichtungen zum Wohl der Arbeitsleute aus
-alter und aus neuer Zeit.<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> Martha interessierte sich lebhaft dafür
-und forderte ihn durch Fragen zu weiteren Mitteilungen auf. Er freute
-sich der eifrigen Zuhörerin, sie kamen in ein sehr lebhaftes Gespräch;
-Martha war aus der reichen Geselligkeit der Residenz gewohnt, sich
-leicht und fließend auszudrücken; Suschen hatte Respektspersonen und
-Fremden gegenüber noch ganz ihre kindliche Schüchternheit; sie hing an
-Marthas Arme und sagte gar nichts.</p>
-
-<p>Als sie sich am Abend trennten, fiel es Martha auf, daß ihre Freundin
-nicht so heiter war als sonst.</p>
-
-<p>„Was hast du, Suschen? Du warst heute Abend so still!“</p>
-
-<p>„Ich weiß nicht, ich war wohl müde von dem Morgenweg in der Sonne.“</p>
-
-<p>„Das ist ja möglich“, dachte Martha, „auch der Duft von Flieder und
-Goldlack macht müde; ich bin es ja auch.“</p>
-
-<p>Am zweiten Festtage kamen gegen Abend einige Familien aus der
-Nachbarschaft; Frau Feldwart zog sich auf ihr Zimmer zurück; Martha
-wurde von den jungen weiblichen Gliedern der Gesellschaft, die meistens
-schon ihre Schülerinnen waren, schnell umringt, und war, ohne daß sie
-es wollte, eigentlich der Mittelpunkt aller.</p>
-
-<p>Pastor Frank erschien auf eine Stunde, um zu verabreden, wie es morgen
-beim Brezelfest werden sollte; die<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> Brezeln wurden vor dem Schulhause
-aus zwei Körben verteilt, und er wünschte, daß die Urenkelin der
-Stifterin mit ihrer Freundin zusammen dies Amt übernehmen möge.</p>
-
-<p>Sie sagte gern zu: „Wenn es sich paßt in meinem schwarzen Anzug?“</p>
-
-<p>„Gewiß“, sagte Pastor Frank; „auf dem Lande ist Schwarz immer ein
-Festkleid, und wenn Fräulein Suschen vielleicht wie heute in Weiß
-erscheint, so stellen Sie daneben zusammen die preußischen Farben dar,
-und das paßt ganz gut zu den Vaterlandsliedern der Knaben.“</p>
-
-<p>Am dritten Feiertag nachmittags zog alles nach dem Schulhause. Trude
-zupfte Martha am Kleide, als sie vom Hofe gehen wollte, und stellte
-einen etwa achtjährigen Jungen und ein sechsjähriges dralles Mädchen
-vor sie hin, die in Festfreude und Festschmuck strahlten.</p>
-
-<p>„Das sind meiner Kathrine ihre, Fräulein: Hans und Mariechen! So, gebt
-auch hübsch ein Händchen, so ist’s recht!“</p>
-
-<p>Martha sah mit Wohlgefallen auf die frischen, zutraulichen Kinder, die
-nun dem Versammlungsplatze zueilten, und ging selbst, um mit Suschen
-an den weißgedeckten Tischen Platz zu nehmen, die vor dem Schulhause
-aufgestellt waren zu beiden Seiten der Eingangsthür.</p>
-
-<p>Schön geschmückt, jedes Kind einen großen Strauß vor<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> der Brust
-und eine Maie in der Hand, kam die Schuljugend gezogen, erst die
-Knaben paarweis, dann die Mädchen; niedliche Fahnen in den deutschen
-Farben trugen die ältesten Knaben vor; ihnen folgten einige
-Musikanten mit Blasinstrumenten und einer Trommel. Sie zogen auf
-den lindenbeschatteten Platz vor dem Schulhause unter dem Gesang,
-den ebenfalls die Urgroßmutter bestimmt hatte: „O heiliger Geist, o
-heiliger Gott etc.“</p>
-
-<p>Der Pastor sprach ein kurzes Gebet und sagte den Kindern in einfachen
-Worten, der Pfingstgeist sei ein Geist der Freude und der Liebe,
-deshalb habe ihnen die Liebe dieses Fest bereitet; sie möchten nun
-in Gottes Namen fröhlich sein und mit Dankbarkeit an die alte Frau
-gedenken, die dieses Fest gestiftet habe, als ihr ältestes Söhnlein,
-sechs Jahre alt, zur Schule gekommen sei. „Und seht, dort steht ihre
-Urenkelin, die will euch die Brezeln heute selbst geben!“</p>
-
-<p>So waren denn natürlich aller Augen auf Martha gerichtet; weil es aber
-strahlende Kinderaugen waren, fühlte sie sich nicht dadurch belästigt.</p>
-
-<p>Der kleine Hans zupfte sie am Kleide: „Du, was ist denn eine Urenkelin?“</p>
-
-<p>„Weißt du denn, was eine Enkelin ist?“</p>
-
-<p>„Ne!“</p>
-
-<p>„Aber, was eine Großmutter ist, das weißt du!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span></p>
-
-<p>„Ja“, sagte der Junge lustig, „ich habe zweie!“</p>
-
-<p>„Na, siehst du! wenn deiner Großmutter ihre Mutter noch lebte, das wäre
-deine Urgroßmutter, und du wärst ihr Urenkel.“</p>
-
-<p>Der Junge sah noch nicht ganz befriedigt aus: „Da müßte sie mir doch
-noch erst eine Uhr schenken.“</p>
-
-<p>Martha lachte: „Junge, ein Urenkel kann man auch ohne Uhr sein; ich
-habe auch keine.“</p>
-
-<p>Aus dem Schulhause wurden nun gewaltig große Chokoladenkannen
-herausgebracht; jedes Kind nestelte den kleinen Becher los, den es am
-Gürtel trug, und nun ward gefüllt und getrunken nach Herzenslust. Dann
-ging es ans Spielen.</p>
-
-<p>Für die Knaben waren Kletterstangen da; ein Sackhüpfen wurde
-angestellt, und es gab allerlei kleine Preise: Tücher, Messer, Kreisel
-etc. Die Mädchen liefen nach einem Ziele, mußten mit einem an einer
-Schnur schwebenden Ringe nach einem Haken werfen und wurden dann
-ebenfalls mit Scheren, Fingerhüten, Bändern und dergleichen belohnt.
-Suschen zeigte sich im Anordnen solcher Spiele sehr behilflich und
-gewandt; sie kannte dieselben von ihren Geschwistern. Dazwischen sangen
-die Knaben: „Die Wacht am Rhein“ und andere Vaterlandslieder; die
-Mädchen: „Alle Vögel sind schon da“, „Wer hat die Blumen nur erdacht“
-u.&#160;s.&#160;w.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span></p>
-
-<p>Martha merkte jetzt, daß verschiedene Kinder müde waren vom Laufen;
-sie setzte sich auf eine der Bänke unter der Linde, ein Kind nach
-dem anderen kam zu ihr heran, und sie fing an, sich mit ihnen zu
-unterhalten.</p>
-
-<p>„Riech einmal“, sagte Hänschen und hielt ihr einen Strauß von
-Pfingstrosen (eine gelbe Wiesenblume, gestaltet wie eine recht volle
-Rose, in Farbe und Blatt der Butterblume gleich) und Sternblumen unter
-die Nase.</p>
-
-<p>„Danke“, sagte Martha, „das riecht schön.“</p>
-
-<p>„Ja, sie sind auch viel schöner als Butterblumen und Gänseblümchen.“</p>
-
-<p>„Weißt du denn, Hänschen, wie sie so schön geworden sind?“</p>
-
-<p>„Ne“, sagte Hänschen, legte beide Arme auf ihre Kniee und sah sie mit
-offenem Munde an.</p>
-
-<p>„Soll ich’s dir erzählen?“</p>
-
-<p>„Ja, woher weißt du es denn?“</p>
-
-<p>„Ei, so etwas erzählt mir der Morgenwind, wenn er mich früh am offenen
-Fenster besucht.“</p>
-
-<p>„Na, nu erzähle!“ sagte Hänschen.</p>
-
-<p>Sie hatte nur wenige Kinder um sich gehabt; jetzt kamen immer mehr
-an sie heran, bis sich ein dichter Kreis gebildet hatte; über den
-Kinderköpfen schauten auch einige alte mit Wohlgefallen auf sie, als
-sie begann:</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p>
-
-<p>„Als es zum erstenmale Pfingsten wurde im deutschen Lande, da jubelte
-die ganze Erde. Im Walde bewegten die Birken ihre grünen Fähnchen, mit
-feinen, langen Kätzchen behangen; die Buche schmückte ihren weißen
-Stamm mit hellgrünen Kränzen, und die zierlichen Maiblumen läuteten,
-daß es eine helle Lust war!</p>
-
-<p>„Aus den Büschen klang die Stimme des Buchfinken und der Nachtigall;
-der Pfingstvogel im gelb und schwarzen Röcklein ließ seinen Lockruf
-ertönen; der Kuckuck rief Tag aus und Tag ein, und die Lerche stieg
-aus der Furche gerade zum Himmel hinauf: ‚Tirrerillerie! Tirrerillera!
-Pfingsten, das schöne Pfingsten ist da!‘</p>
-
-<p>„Im Garten zogen die Blumen ihre allerschönsten Kleider an; die
-Tulpen schmückten sich mit allen Farben; glänzend weiß standen die
-Narzissen; der Flieder hing seine großen, blauen Trauben aus, der
-Goldregen seine gelben; ja, sogar eine Rose öffnete schon ihre Knospe:
-es ist ja Pfingsten, da möchte ich dabei sein! Am Bache standen die
-Vergißmeinnicht und wuschen sich, um ganz schön himmelblau zu sein zu
-Pfingsten. Auf der Wiese standen ein Gänseblümchen und eine Butterblume
-nebeneinander, als am Pfingstsonnabend die Sonne unterging. ‚Weißt du
-es schon‘, sagte die Butterblume, ‚morgen ist Pfingsten.‘ ‚Ich weiß!‘
-sagte das Gänseblümchen, ‚die Menschen sagen, es<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> sei das schönste
-Fest, denn da sei der Geist des Trostes und des Friedens auf die Erde
-gekommen. Sieh nur, wie die Blumen im Garten sich putzen!‘ ‚Ich möchte
-mich auch schmücken‘, sagte die Butterblume, ‚aber ich weiß gar nicht,
-wie ich es anfangen soll.‘ ‚Ich habe mich schon im Abendtau gebadet,
-aber klein bin ich und klein bleibe ich‘, seufzte die Gänseblume.</p>
-
-<p>„Die Sterne zogen auf; Butterblume und Gänseblümchen hatten sonst
-längst um diese Zeit ihre Blättchen oben zusammengeschlossen und
-schliefen; — heute wollte ihnen der Schlaf nicht kommen. Sie sahen
-zu den leuchtenden Sternen auf und sprachen: ‚Ihr schönen, goldenen
-Sterne! wir wollten gern schön werden, dem Pfingstfest zu Ehren; könnt
-ihr uns nicht dazu helfen?‘</p>
-
-<p>„Die Sterne sahen freundlich herunter und die Blümchen sahen sehnend
-hinauf, und erst als die Sterne blaß wurden und ein kleines Streifchen
-Morgenrot am Himmel erschien, da schliefen die Blümchen ein, und als
-am anderen Morgen die Sonne sie weckte, da sahen sie sich an und sahen
-sich wieder an, denn aus der Butterblume war eine runde, volle, süß
-duftende Pfingstrose geworden, und aus dem Gänseblümchen eine prächtige
-Sternblume. Da weinten und lachten sie vor Freude, daß die Sterne ihnen
-auch ein so schönes Pfingstkleid beschert hatten. Seitdem kommen und<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span>
-blühen sie immer zu Pfingsten. Gänseblümchen und Butterblumen kommen
-früher, sobald der Lenz auf die Erde tritt: aber wenn es zu Pfingsten
-läutet, erwachen die Sternblumen und Pfingstrosen auf den Wiesen, denn
-die beiden haben viele, viele Kinder bekommen, die feiern alle mit, und
-Hänschens Strauß gehört auch dazu!“</p>
-
-<p>„Hänschens Strauß gehört auch dazu! Hänschens Strauß gehört auch dazu!“
-riefen die Kinder. „Erzähle noch was, erzähle noch was!“</p>
-
-<p>„Ach ich kann nicht immer erzählen; jetzt könnt ihr ein Rätsel raten:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Eine kleine,</div>
- <div class="verse indent0">Weiße, reine</div>
- <div class="verse indent0">Schäfchenherde</div>
- <div class="verse indent0">Weidet hoch, hoch über der Erde,</div>
- <div class="verse indent0">Nicht auf grünen Auen,</div>
- <div class="verse indent0">Nein, auf blauen!</div>
- <div class="verse indent0">Der Hirt ist nicht zu sehen,</div>
- <div class="verse indent0">Wird hinter den Schäfchen stehen.</div>
- <div class="verse indent0">Nun sag mir, liebes Kind,</div>
- <div class="verse indent0">Wer und wo die Schäfchen sind.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Da, da!“ riefen die Kinder und zeigten auf die durchsichtigen
-Lämmerwolken, die in der blauen Luft über ihren Häuptern schwammen.
-Die Mädchen stimmten an: „Wer hat die schönsten Schäfchen? Die hat der
-goldne Mond etc.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span></p>
-
-<p>Aber nun läutete die Feierabendglocke; alles stand mit gefalteten
-Händen, bis das Anschlagen verklungen war; dann sprach Pastor Frank
-noch ein kurzes Dankgebet, die Großen und Kleinen sangen zusammen: „Nun
-danket alle Gott!“ und dann eilten sie erfreut und ermüdet nachhause.</p>
-
-<p>Pastor Frank war einige Augenblicke verschwunden; in der Nähe des
-Pfarrhauses holte er unsere Freundinnen ein und überreichte Martha ein
-zierliches Sträußchen.</p>
-
-<p>„Die Blumen aus meinem Garten sind auch Pfingstblumen,“ sagte er.</p>
-
-<p>Martha dankte etwas überrascht; sie hätte sich noch mehr gefreut, wenn
-Suschen auch Blumen erhalten hätte; aber sie dachte, es bezöge sich auf
-ihre Geschichte, und beruhigte sich dabei.</p>
-
-<p>Im Gutshofe stand Trude, und Martha ging zu ihr.</p>
-
-<p>„Ach, Fräulein, die schönen Blumen, die sind aus dem Pfarrgarten; so
-dunklen Flieder hat nur unser Herr Pastor. Ach, sehen Sie! wenn ich das
-erleben sollte, daß Sie ’mal wieder hier einzögen, wenn es auch nicht
-auf dem Amte wäre!“</p>
-
-<p>Martha sah sie erstaunt an; sie verstand anfangs durchaus nicht, was
-sie meinte, dann erschrak sie.</p>
-
-<p>„Was redest du, Trude? Das fällt ja keinem Menschen ein!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span></p>
-
-<p>Aber sie war innerlich betrübt; die Unbefangenheit war weg. Als sie
-ging, ihre Sachen abzulegen, sah sie Suschen am Fenster ihres offenen
-Stübchens stehen. Sie ging zu ihr und legte den Arm um ihren Hals; es
-schien fast, als habe die sonst so Fröhliche geweint, obgleich sie es
-nicht merken lassen wollte.</p>
-
-<p>„Suschen“, sagte Martha, „komme nach Tische noch ein wenig in den
-Garten, ich muß dir etwas erzählen.“</p>
-
-<p>Suschen schrak zusammen.</p>
-
-<p>„Alte Geschichten“, sagte Martha, „aber traurige.“</p>
-
-<p>Und als sie zwischen den duftenden Beeten im letzten Abendschein
-wandelten, erzählte Martha von Siegfried alles, alles! Sie hatte es
-längst gern gewollt, es war ihr immer zu schwer gewesen.</p>
-
-<p>Sie konnte sich nicht über Mangel an Teilnahme von Suschens Seite
-beklagen; aber zuletzt sagte diese: „Martha, es ist doch schlimm, daß
-das keiner weiß; es könnte sich mancher Hoffnungen machen.“</p>
-
-<p>„Ich glaube nicht, daß dies einer thut“, sagte Martha, „aber ich will
-an die Möglichkeit mehr als bisher denken, und morgen stecke ich mir
-Urgroßmutters Trauring an.“</p>
-
-<p>Am anderen Morgen kehrten Feldwarts und Suschen nach H. zurück, und
-Martha war völlig beruhigt, als sie ihren Vorsatz wegen des Ringes
-ausgeführt hatte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span></p>
-
-<p>„Ich glaube“, sagte sie bei sich selbst, „Trude hat in ihren
-überschwenglichen Wünschen für mein Wohl Gespenster gesehen; jedenfalls
-kann in diesen paar Tagen höchstens ein flüchtiges Interesse entstanden
-sein. Suschen paßt viel besser dahin als ich, und wie würde ich mich
-freuen, sie dort zu sehen!“</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_7">7.<br>
-Muß man denn immer im Streit sein auf Erden?.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Aber Trude hatte nicht nur Gespenster gesehen! Marthas frisches,
-lebendiges Wesen hatte um so mehr Eindruck auf Pastor Frank gemacht,
-als seine Gedanken, seitdem er in Weißfeld lebte, so vielfach auf die
-Urgroßmutter hingelenkt worden waren, und er nun in Marthas warmem
-Interesse, in ihrer Gewandtheit, ihrem Verkehr mit den Dorfbewohnern,
-in der Energie, mit der sie sich in schwierigen Verhältnissen
-zurechtfand, gleichsam das Bild verkörpert vor sich zu sehen meinte,
-das seine Phantasie sich von der längst entschlafenen Wohlthäterin
-geschaffen. Schon in der nächsten Woche machte er, angeblich, um sich
-nach dem Befinden der Mutter zu erkundigen, den Damen einen Besuch.
-Martha begegnete ihm ruhig und ernst und verschwand in der Küche,
-so lange dies möglich war; aber da<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> er offenbar nicht fortging, um
-ihre Rückkehr zu erwarten, blieb ihr schließlich doch nichts übrig,
-als wieder ins Zimmer zu gehen. Sie spielte vor seinen Augen mit
-Urgroßmutters Trauring; er schien es nicht zu bemerken und Frau
-Feldwart ebenso wenig.</p>
-
-<p>So oft in den schönen Sommertagen der Amtsrat die Mitglieder der
-englischen Stunde nach Weißfeld holen ließ, war Pastor Frank gewiß am
-Abend da, hatte auch stets einen besonderen Grund, sich mit Martha
-angelegentlich zu unterhalten. Auch Suschen redete er gern an; aber
-es war sehr deutlich zu bemerken, daß er sie immer noch halb als sein
-Schulkind betrachtete.</p>
-
-<p>Martha merkte ganz gut, daß diese darüber verstimmt war, und fürchtete,
-es könne sich dadurch eine Scheidewand zwischen ihr und der Freundin
-aufbauen, zumal da dieser zarte Punkt von ihnen nicht besprochen werden
-konnte. Manchmal glaubte sie entschieden, sich geirrt zu haben, da sie
-noch niemals ein ungleiches oder aufgeregtes Wesen an Pastor Frank
-bemerkt hatte; aber viele zarte Aufmerksamkeiten, welche er ihr und der
-Mutter erwies, machten sie doch wieder ängstlich und besorgt. Es war
-schlimm, daß Trude damals voreilig gesprochen hatte; sie hätte sonst
-sicherlich unbesorgt und unbefangen alles hingenommen.</p>
-
-<p>Suschen war eine Zeit lang sichtlich bedrückt; aber von<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> Jugend
-auf gewöhnt, sich in den gegebenen Schranken zu halten, und so in
-unausgesetzter Thätigkeit lebend, daß ihr keine Zeit zum Träumen
-blieb, suchte sie die ungewohnte Fessel ihrer Seele abzuschütteln,
-indem sie sich immer neue Gegenstände der Liebe und Fürsorge für ihr
-teilnehmendes Herz und ihre fleißigen Hände suchte.</p>
-
-<p>In dem kleinen H. war, seit Pastor Wohlgemuth da wirkte, ein warmes
-christliches Leben erwacht; allerlei Werke der inneren Mission waren
-in Angriff genommen worden, und Suschens Herz schlug bald für diese
-Thätigkeit, als sie aus der Fremde in die Heimat zurückgekehrt war.
-Da ihre Mutter sich einer großen Arbeitskraft und guten Gesundheit
-erfreute, erlaubte sie der Tochter gern, bei der Kinderschule zu
-helfen und Arme und Kranke unter dem Rat und der Leitung ihres lieben,
-verehrten Seelsorgers zu besuchen. Es kam Suschen zuweilen vor, als sei
-sie dazu besser imstande, seitdem sie selbst eine kaum verstandene Last
-auf der Seele trug; sie war ernster, weicher und mitleidiger geworden.</p>
-
-<p>Eines Sonntags nach der Nachmittagskirche forderte Pastor Wohlgemuth
-die jungen Mädchen auf, noch etwas zu bleiben, und teilte ihnen
-dann mit, daß er den Plan habe, eine Sonntagsschule einzurichten;
-seine jungen Freundinnen sollten ihm dabei helfen, sie sollten die
-Lehrerinnen der kleinen Mädchen werden, und er versprach, sie in jeder<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span>
-Woche zu unterrichten und vorzubereiten auf solche Arbeit. Dieser Plan
-zündete ganz gleich bei Suschen und bei Martha; es war ja Marthas
-besondere Gabe, das Unterrichten! Und wie schön würden die Stunden sein
-beim lieben Pastor Wohlgemuth!</p>
-
-<p>Beide Mädchen versprachen schnell und unbedenklich ihre Teilnahme und
-waren auf dem Heimwege voller Vorfreude und Begeisterung für die Sache.
-Suschen wußte, daß ihr die Eltern ihre Zustimmung gern geben würden;
-Martha zweifelte nicht daran, daß ihre Mutter damit zufrieden sei. Aber
-darin hatte sie sich geirrt.</p>
-
-<p>Frau Feldwart war seit den heißen Julitagen überhaupt wieder sehr
-aufgeregt, schlief schlecht, verlor den Appetit, wurde bei dem
-kleinsten Ausgange leicht atemlos, und obwohl sie eigentlich über
-keinen Schmerz klagte, war doch ihre Stimmung gedrückter und reizbarer
-als sonst. Martha trug ihr die schönen Pläne am anderen Morgen mit
-jugendlicher Begeisterung vor; sie seufzte tief auf.</p>
-
-<p>„Ach, Kind, noch was! Ich meine, du hast übergenug für deine Kräfte!“</p>
-
-<p>„Aber Mutterchen, ich bin ja ganz frisch und gesund, und die Stunden
-bei Pastor Wohlgemuth werden mich so erquicken!“</p>
-
-<p>„Ach, Martha, und dann sitze ich des Sonntags allein,<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> gerade nach der
-Vormittagskirche, wo doch gekocht werden muß!“</p>
-
-<p>„Ei, Mama, dann wärmen wir!“</p>
-
-<p>„Und dann willst du jede Woche noch eine Stunde fort zu Pastor
-Wohlgemuth, und du weißt nicht, wie mir die Stunden lang werden, die du
-ohnehin geben mußt! Nein, Kind, wenn du auch nur noch etwas auf deine
-Mutter hältst, dann gehst du nicht hin.“</p>
-
-<p>„Aber Mama, ich habe es dem Herrn Pastor schon versprochen; was soll er
-denken, wenn ich es jetzt absage?“</p>
-
-<p>„Nun, so vernünftig ist er, daß er weiß, daß ein Kind seiner Mutter
-gehorchen muß!“</p>
-
-<p>Ja, das glaubte freilich Martha auch, aber sie sagte es nicht. Sie
-eilte vorläufig noch nicht zu ihm, um abzusagen, sondern ging den
-ganzen Tag wie eine graue Wolke im Hause umher, war stumm und einsilbig
-und verbesserte dadurch die Stimmung der Mutter durchaus nicht.</p>
-
-<p>Zu allem Unglück erschien am Nachmittag auch noch Pastor Frank, brachte
-einen reizenden Strauß aus Rosen, Nelken, Astern und Pelargonien, und
-überreichte denselben diesmal nicht, wie er es sonst gethan hatte, der
-Mutter, sondern der Tochter.</p>
-
-<p>Frau Feldwart lächelte ganz wohlgefällig dazu. Martha war innerlich
-ärgerlich. Konnte sie ihm denn gar nicht<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> begreiflich machen, daß sie
-kein Gegenstand für so zarte Aufmerksamkeiten sei?</p>
-
-<p>Während Pastor Frank die Mutter begrüßte, rang sie ratlos die Hände,
-und da die Unruhe der Seele auf die Bewegungen einzuwirken pflegt,
-und wohl auch die Urgroßmutter stärker war als die Enkelin, flog der
-bewußte Ring ihr vom Finger und rollte durchs Zimmer, sehr in Gefahr,
-in einer der tiefen Ritzen zwischen den alten Dielen zu verschwinden.
-Ihr angstvoller Ruf: „Mein Ring, mein lieber Ring!“ veranlaßte den
-Gast, das Kleinod zu erhaschen. Als er es ihr zurückgab, sah er sie
-ernst und fragend an und sein Gesicht war bleich geworden.</p>
-
-<p>Martha war jetzt nicht mehr in Zweifel über seine Gefühle und nahm sich
-vor, ihm womöglich bald noch einen deutlicheren Wink zu geben. Als
-sie ihn bis zur Korridorthür begleitete, stand er still, ohne sich zu
-verabschieden.</p>
-
-<p>„Fräulein Martha, der Ring war Ihnen sehr lieb, nicht wahr? Es ist sehr
-unbescheiden, daß ich danach frage, aber wenn Sie wüßten —“</p>
-
-<p>Martha ließ ihn nicht ausreden: „Ich will Ihnen gern sagen, was
-der Ring für mich bedeutet. Es ist zwar nur der Trauring meiner
-Urgroßmutter, und als solcher mir schon sehr lieb; aber ich trage ihn
-zum Zeichen, daß ich seit beinahe einem Jahre verlobt bin; und wenn
-über unserem<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> Geschick auch jetzt noch dunkle Wolken stehen: Gott kann
-sie hinwegnehmen, und mein Herz ist fest, ganz fest gebunden fürs
-Leben.“</p>
-
-<p>Sie hatte es mit zitternder Stimme gesagt, aber ihn ernst und fest
-dabei angesehen. Er verneigte sich.</p>
-
-<p>„Ich danke für Ihre Offenheit, Fräulein Martha! Gott behüte Sie!“</p>
-
-<p>Sehr erleichtert und doch wehmütig kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.</p>
-
-<p>„Nun sag ’mal, Martha, was das für ein Ring ist, um den du so viel
-Umstände machst“, rief ihr die Mutter entgegen; „Pastor Frank konnte
-doch wirklich denken, daß es ein Verlobungsring sei.“</p>
-
-<p>„Das ist er ja auch, Mütterchen, wenn auch nur der von der
-Urgroßmutter; da mir aber Siegfried keinen geben konnte, trage ich ihn
-jetzt als Verlobungsring.“</p>
-
-<p>„Siegfried?“ rief die Mutter wie enttäuscht; „Du denkst noch an
-Siegfried?“</p>
-
-<p>„Aber liebe Mama! natürlich denke ich an Siegfried; er ist des Morgens
-mein erster und am Abend mein letzter Gedanke!“</p>
-
-<p>Die Mutter sah sie eine Weile sehr erschrocken an: „Also darum warst du
-so abweisend gegen den Pastor Frank?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span></p>
-
-<p>„Ich weiß nicht, ob ich abweisend war, Mama, aber es schien mir fast
-Schuldigkeit zu sein, ihn nicht im unklaren darüber zu lassen, daß mein
-Herz und meine Hand nicht mehr zu haben sind. Es ist ja sehr möglich,
-daß er ohnehin niemals danach verlangt hätte.“</p>
-
-<p>„Martha, Martha!“ rief die Mutter schmerzvoll, „wie kannst du so
-festhalten an einem Traumbilde, das sich niemals, niemals verwirklichen
-wird. Du weißt, daß dein Vater Siegfried abgewiesen hat; er selbst hat
-dir geschrieben, er fordere kein Versprechen und gäbe dir keins; wer
-weiß, wo er jetzt ist und ob er überhaupt noch an dich denkt. Ach, wie
-war ich so glücklich in der letzten Zeit; wie hoffte ich, all’ unsere
-Not und Sorge sei am Ende, und ich könnte mein Kind wohlbeschützt
-zurücklassen, wenn Gott mich abriefe! Es ist doch eine Fügung Gottes,
-daß er dir gerade in Weißfeld begegnen mußte; du konntest da sein und
-da wirken, wo deine Urgroßmutter geschaltet und gewaltet hat. Martha,
-laß diesen kindischen Gedanken fahren; ihr waret ja beide noch viel zu
-jung.“</p>
-
-<p>„Ja, Mama, wir sind beide noch jung, aber alt genug, um zu wissen,
-was wir aneinander haben, und uns in Treue festzuhalten auch übers
-Meer hinweg. Sieh, ich bin in diesem einen Jahre um vier Jahre älter
-geworden, aber wenn ich es schon vor der Trennung wußte: jetzt weiß<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span>
-ich es noch viel gewisser, daß ich keinen so lieben kann wie meinen
-Siegfried!“</p>
-
-<p>„Ach, Martha, das ist Jugendüberschwenglichkeit; denke doch an deine
-arme Mutter! Was soll werden, wenn ich noch elender werde, und du deine
-Stunden aufgeben mußt, um mich zu pflegen? Ich weiß es: Frank nähme
-mich gern unter sein Dach; ich würde es gut bei ihm haben. Wenn du ihn
-auch nicht so feurig lieb hast, du achtest ihn doch und wirst ihn mit
-jedem Tage lieber gewinnen. Es giebt ja so viele Ehen, wo die Leute
-sich ruhig gegenüberstehen und dennoch glücklich und zufrieden sind!“</p>
-
-<p>Martha hatte bleich und lautlos zugehört, aber in ihrem Innern brauste
-ein gewaltiger Sturm; ihr ganzes Herz, all ihr Wille bäumte sich auf,
-als so an ihre innersten Gefühle gerührt wurde. Sie bedachte nicht,
-daß die Mutter krank, schwach und unglücklich war, und es brach nun
-auch wie ein wettergeschwollener Waldbach die Rede von ihren Lippen —
-leidenschaftlich, rücksichtslos, verletzend: „Alles habe ich stille
-getragen, gearbeitet, geduldet, meinen Schmerz überwunden, so viel ich
-konnte, und dafür willst du mir nun mein einziges Kleinod nehmen? Ich
-soll dem einen untreu werden und den andern betrügen, wenn ich ihm
-meine Hand ohne mein Herz gebe! O, Mutter! Mutter! wie kannst du so
-grausam und ungerecht sein!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span></p>
-
-<p>Frau Feldwart war ganz entsetzt — Martha war noch nie so heftig und
-unkindlich gewesen —; sie rang die Hände und brach in Thränen aus.
-Martha, obwohl innerlich gewiß, daß sie diesen Wunsch der Mutter
-nicht erfüllen dürfe, war doch tief erschrocken darüber, daß sie sich
-so weit hatte fortreißen lassen, und weinte ebenfalls; es war ein
-recht unglücklicher Nachmittag. Sie hätte sich so gern ausgeklagt und
-ausgeweint; aber ihr liebes Suschen durfte ja von diesem Leid nichts
-erfahren. Wenn sie sich hätte überwinden können, der Mutter ihre
-Heftigkeit abzubitten, wäre beiden geholfen gewesen; aber dazu kamen
-ihr die Regungen ihrer eigenen Seele jetzt noch zu hoch und erhaben,
-die Wünsche der Mutter viel zu unnatürlich und grausam vor. Dennoch
-hatte sie das Verlangen, die Mutter wieder zufriedener zu wissen, ihr
-irgendetwas zuliebe zu thun, und als die Sonne schon am Sinken war,
-sagte sie kleinlaut: „Mama, ich möchte dem Pastor Wohlgemuth noch
-sagen, daß ich nicht mit unterrichten soll.“</p>
-
-<p>Frau Feldwart nickte stumm, und Martha ging. Es war sonderbar: sie
-hatte nicht nur Pastor Wohlgemuth, sondern auch seine freundliche Frau
-herzlich lieb, und war sonst immer wie auf Flügeln hingeeilt; heute
-schien es ihr, als könne sie dem Ehepaar nicht so frei entgegentreten
-wie früher. Schüchtern fragte sie das Mädchen nach ihrem alten<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span>
-Freunde; er war im Garten, seine Frau zu ihrer Schwiegertochter
-gegangen. Martha kannte den freundlichen Hausgarten und suchte dort
-den Pfarrherrn auf. Im Mittelwege wandelte er langsam auf und nieder;
-ein bequemer Hausrock umschloß seine hohe, schlanke Gestalt; das
-würdige Haupt mit den feinen Zügen und dem spärlichen Silberhaar deckte
-ein Sammetmützchen; die leichten, vom Abendlicht goldig gefärbten
-Dampfwölkchen aus seiner langen Pfeife umschwebten es. Er schien in
-freundliche Gedanken versunken zu sein, wenn er sich bald rechts, bald
-links zu seinen Blumen niederbeugte, hier ein Pflänzchen aufrichtend
-und befestigend, dort den Duft einer Blüte mit Wohlgefallen einatmend.
-Jetzt wandte er sich und erblickte Martha.</p>
-
-<p>„Ei, willkommen! Das ist ja herrlich; je später der Abend, je schöner
-die Gäste!“ rief er heiter. „Nun kommen Sie ’mal gleich hierher; die
-feurige Bandnelke ist gerade so schön angeleuchtet, und sehen Sie nur
-diese weiß und braune an, die hat mir mein Nachbar dort drüben im
-Frühling geschenkt.“</p>
-
-<p>Martha beugte sich zu den Blumen; sie war aber zum Sprechen und
-Bewundern nicht aufgelegt, und da das bei ihrer lebendigen Teilnahme
-für die kleinen Liebhabereien des Pastors ganz ungewöhnlich war, wurde
-dieser schnell aufmerksam.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span></p>
-
-<p>„Aber verzeihen Sie, liebe Martha, Sie sehen traurig aus; ich fragte
-noch gar nicht, ob ich Ihnen irgendwie dienen oder beistehen kann!
-Kommen Sie hier in die Laube, da sitzt es sich sehr friedlich, und
-sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben!“</p>
-
-<p>„Ach, Herr Pastor, ich hatte mich so sehr gefreut, bei den
-Kindergottesdiensten zu helfen, und nun will es mir die Mutter nicht
-erlauben.“</p>
-
-<p>Martha hatte das Herz sehr voll Weh; sie brach in Thränen aus.</p>
-
-<p>„Nun, nun, liebes Kind, das ist denn doch noch keine Veranlassung zu so
-bitteren Thränen. Ich kenne die Gründe der Mutter nicht, aber da heißt
-es: ‚Gehorsam ist besser denn Opfer.‘“</p>
-
-<p>Martha erzählte, warum es der Mutter so schwer erschien; aber sie
-sprach anders, mit weit weniger Respekt und Schonung und viel erregter
-als sonst; und der erfahrene Seelsorger merkte bald, daß noch andere
-Beunruhigungen im Grunde ihrer Seele lagen.</p>
-
-<p>„Mein liebes Kind“, sagte er, „es kann nicht dies allein sein, was Sie
-so aufregt. Können Sie mir sagen, was Ihnen sonst noch Not macht, daß
-ich versuchen kann, Ihnen zu helfen?“</p>
-
-<p>Ach, Martha sehnte sich, sich auszusprechen und innerlich<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> womöglich
-wieder klar und fest zu werden; hier, wußte sie, war alles wohl
-aufgehoben, und so erzählte sie: ihre Verlobung, Siegfrieds Abschied,
-die kleinen Aufmerksamkeiten des Pastor Frank und die schlimmen Worte
-der Mutter; ach, als sie derselben erwähnte, wurde sie wieder ebenso
-bitter und heftig wie am Nachmittage. Pastor Wohlgemuth saß stille
-neben ihr, schickte manchmal einen Ring aus seiner Pfeife in die klare
-Luft, und ließ sie völlig sich aussprechen und ausklagen. Dann setzte
-er die Pfeife fort, ging einige Male im Garten auf und nieder und
-stellte sich endlich Martha gegenüber.</p>
-
-<p>„Mein liebes Kind“, sagte er, „bevor wir die Außendinge betrachten,
-müssen wir wohl erst inwendig Ordnung machen. Wenn Sie sich zum
-Kindergottesdienst bei mir gemeldet hätten, würde ich zuerst die zehn
-Gebote mit Ihnen durchgenommen haben, und wir wären dann sehr bald an
-das Gebot gekommen, das Verheißung hat; Sie wissen doch, liebe Martha,
-welches ich meine? Fragen Sie sich einmal selbst, ob Sie dieses Gebot
-heute gehalten haben.“</p>
-
-<p>„Herr Pastor, Sie können nicht wollen, daß ich Siegfried untreu werden
-soll!“</p>
-
-<p>„Das steht auf einem ganz anderen Blatte; darüber steht meine Ansicht
-noch gar nicht fest. Aber das werden Sie sich selbst wohl gestehen, daß
-Sie heute recht unkindliche<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> Gedanken und Gefühle genährt und gehegt
-haben; dafür müssen Sie zuerst den lieben Gott und dann Ihre Mutter um
-Verzeihung bitten, eher kommt der Friede nicht wieder hinein in ihre
-Seele.“</p>
-
-<p>Martha sah ihn traurig an: „Wenn ich thun wollte, was die Mutter will,
-und meinem Verlobten entsagen, würde ich dies aber als ein so schweres
-Unrecht empfinden, daß von Frieden gar keine Rede sein könnte.“</p>
-
-<p>„Das ist möglich!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber denken Sie jetzt
-einmal nicht so viel an das, was Sie empfinden oder empfinden würden,
-sondern machen Sie sich einmal klar, was Ihre liebe Mutter dabei
-gedacht und empfunden hat, die Mutter, der Sie Ehrerbietung und Liebe
-schuldig sind, selbst wenn es Ihnen nicht möglich sein sollte, den
-Weg einzuschlagen, den sie wünscht. Als ich neulich allein bei ihr
-war, klagte sie mir, sie fühle, wie ihre Gesundheit durch alle die
-Schicksalsschläge gelitten habe, und daß beim Gedanken an ihren Tod
-die schwere Sorge ihr Herz bedrücke, wie sich Ihre Zukunft gestalten
-werde, wenn dann die Leibrente wegfiele und Sie genötigt sein würden,
-unter Fremden Ihr Brot zu suchen, ohne die genügende Vorbereitung dazu
-erhalten zu haben. Das Verhältnis, in welchem Sie zum jungen Kraus
-gestanden haben, sieht Ihre Mutter, wie es scheint, nicht mehr als
-bindend<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> an, und wenn man die Sache äußerlich ansieht, hat sie ja darin
-recht. Nun sieht sie einen jungen, tüchtigen Mann kommen, der sich mit
-aufrichtigem Herzen um Sie bewirbt, der Ihnen ein bescheidenes aber
-sicheres Los bietet, und durch dessen Treue und Pietät sie selbst einen
-friedlichen Lebensabend zu erlangen hofft. Ich selbst gestehe, daß ich
-ähnliche Wünsche und Vermutungen schon gehegt habe und vielleicht Ihrer
-Mutter gegenüber unvorsichtig in meinen Äußerungen gewesen bin. Sind,
-so betrachtet, die Wünsche der Mutter nicht zu entschuldigen, sind sie
-nicht sogar gut und verständig? Meine liebe Martha, wenn man innerlich
-so aufgebracht und entrüstet ist, thut man immer wohl, sich im Geiste
-auf den Standpunkt des Gegners zu stellen und von dort aus die Sache
-einmal anzusehen; man wird dann jedenfalls die Andersdenkenden
-begreifen, selbst wenn man nicht für ihre Ansicht gewonnen wird.“</p>
-
-<p>Martha seufzte: „Wenn Gott die Erfüllung des vierten Gebotes verlangt,
-warum läßt er dann so schwere Konflikte kommen?“</p>
-
-<p>„Liebes Kind, mit dem ‚Warum‘ kommen wir unserem Herrgott gegenüber
-nicht weit; da heißt es immer: ‚hernachmals — hernachmals wirst
-du es erfahren.‘ Gerade diesem Gebote gegenüber giebt es viele und
-schwere Versuchungen. Die Kinder wachsen heran, gestalten sich zu
-selbständigen<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> Persönlichkeiten, die dem Herrn im Himmel und der Welt
-gegenüber ihre eigene Verantwortlichkeit tragen müssen. Da ist denn oft
-der Gehorsam eine recht schwere Sache; er ist aber auch eine schöne,
-liebe Martha! die den Lohn in sich trägt. Die Jugend stürmt oft in
-dunklem Thatendrange vorwärts; das Alter steht dem entgegen mit seinen
-vielfachen Erfahrungen und seiner Ruhebedürftigkeit; Gott hat sie beide
-nebeneinander gestellt, damit eines das andere ausgleiche. Wenn die
-Jugend aufmerkt und annimmt, und das Alter in Milde und Gottesfurcht
-etwas nachgiebt, kommt die rechte harmonische Mitte heraus. Weil unser
-Herrgott weiß, daß dies schwer ist, hat er dem Gebot die Verheißung
-zugegeben, und er hält sie, er hält sie, Martha! das bestätigt die
-Erfahrung allezeit.“</p>
-
-<p>Ein leidendes, erregtes Herz bezieht alles auf seinen besonderen Fall:
-„Aber Herr Pastor, ich kann keinen anderen als Siegfried nehmen!“</p>
-
-<p>„Das ist möglich, liebe Martha! darüber kann in der That kein anderer
-als Sie selbst entscheiden. Wenn Sie aber Ihrem Verlobten die Treue
-halten wollen, müssen Sie sich zuvor ganz klar machen, welche Opfer
-diese Treue von Ihnen fordern kann. Gott kann Ihnen die Mutter nehmen,
-da müssen Sie vielleicht unter Fremden ein kümmerliches Brot suchen;
-ganz andere, viel schwerere Konflikte können<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> über Sie kommen, als dies
-jetzt der Fall ist. Sie müssen es sich gefallen lassen, sehr niedrig
-und klein zu sein, und das wird gerade Ihrer Natur schwer werden.
-Sie müssen sich auch darauf gefaßt machen, nichts wieder von Ihrem
-Verlobten zu hören, ja, Sie können eines Tages die Nachricht bekommen,
-daß er glücklich verheiratet ist, und dürfen dann nicht sagen: ‚O,
-hätte ich anders gehandelt, so wäre ich nun statt eines verlassenen
-Mädchens eine glückliche Frau!‘“</p>
-
-<p>„Ich habe mir das alles schon gesagt, Herr Pastor! das heißt, nicht
-alles, denn daß er mit einer anderen vermählt ist, werde ich nie hören,
-und ich bin darin ganz ruhig und fest, daß ich ihm treu bleibe, so
-lange ich atme!“</p>
-
-<p>„Nun, so sei Gott mit Ihnen!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber nur
-vergessen Sie nicht, daß jetzt Ehrerbietung, Liebe, zarte Schonung
-gegen Ihre Mutter zur doppelten Pflicht wird. Bitten Sie gleich,
-sowie Sie nachhause kommen, der Mutter Ihre Heftigkeit ab; wenn Sie
-genötigt werden, für Ihre Überzeugung einzutreten, so thun Sie das mit
-kindlichen, sanften, bittenden Worten, und bitten Sie den lieben Gott
-dazu um seinen Segen; der weiß für aufrichtige Herzen alle Konflikte
-zum rechten Ende zu bringen. Mein armer,<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> junger Amtsbruder! Ich hatte
-es besser mit ihm im Sinn!“</p>
-
-<p>„Herr Pastor“, sagte Martha und sah ihn mit einem Blicke an, der
-in seiner fröhlichen Schalkhaftigkeit an frühere glückliche Zeiten
-erinnerte, „glauben Sie mir, er ist nur in meine Urgroßmutter verliebt!
-Nun gute Nacht und besten Dank! Sie sind mir doch der Stunden wegen
-nicht böse?“</p>
-
-<p>„Wie könnte ich? Hier hat auch wohl Ihre liebe Mutter recht: Sie sind
-reichlich in Anspruch genommen mit Ihrer Zeit und Kraft! Gott hat
-nicht jedem alles befohlen, und Ihnen befiehlt er durch den Mund Ihrer
-Mutter, diesem Werke zu entsagen, — also bescheiden wir uns!“</p>
-
-<hr class="tb">
-
-<p>Es dämmerte, als Martha ging; sie fand die Mutter am Fenster sitzend
-und ihrer wartend.</p>
-
-<p>Martha konnte jetzt mit demütigem Herzen der Mutter nahen.</p>
-
-<p>„Ach, liebe Mutter, ich bitte dich, verzeihe! Ich war sehr heftig und
-unartig; aber diese Sache ist mir ja so schwer!“</p>
-
-<p>Die Mutter strich über ihr Haar.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span></p>
-
-<p>„Meine arme Martha, so wirst du tragen müssen, was danach kommt!“</p>
-
-<p>Der Friede war hergestellt, und er wurde am besten dadurch erhalten,
-daß Pastor Frank sich vorläufig im Städtchen nicht sehen ließ.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_8">8.<br>
-Schwerer Abschied.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Ein Wort des treuen Pastors war tief in Marthas Herz gedrungen: die
-Mutter sorgte, was aus ihrem Kinde werden sollte, wenn sie stürbe.
-Martha hatte an diese Möglichkeit noch niemals gedacht; jetzt fielen
-ihr zum erstenmale die eingefallenen Wangen, die blauen Ringe unter
-den Augen der Mutter auf; jetzt erregte es ihre Besorgnis, wenn diese
-beim Ersteigen der Treppe nach Atem rang. Ach nein, das durfte,
-das konnte Gott nicht thun! Es ist diese Zuversicht, mit der fast
-jedes ungeschulte Herz einem schweren, drohenden Schicksalsschlag
-entgegentritt, mit der es immer wieder seine Hoffnung stärkt und
-stählt, bis endlich die Überzeugung Raum gewinnen muß: dein Hoffen
-ist vergeblich, du sollst nach Gottes Willen diesen schweren Weg
-gehen! Dann giebt es noch einen harten, sehr harten Kampf mit dem
-eigenen Willen, bis sich das Herz zur Ergebung<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> und Stille durchringt,
-und erst, wenn dieses geschehen ist, kommt die Zeit, wo man auch an
-Sterbebetten schöne, ja glückliche Stunden verleben kann, wo die Pflege
-zu einem sehr süßen Geschäft wird, wo man, ohne den geliebten Kranken
-mit falschen Hoffnungen zu täuschen, ihn doch recht wohl erheitern
-und erfrischen kann, um ihn zuletzt gleichsam hinüberzubegleiten in
-die Wohnungen des ewigen Friedens. Dieser schwere, schöne Weg lag vor
-Martha.</p>
-
-<p>Der Herbst brachte manchen Wechsel im Befinden; ein frischer, klarer
-Tag belebte die Hoffnungen von Mutter und Tochter, daß das Unwohlsein
-wohl vorübergehen könne; aber als die Tage kurz wurden und die
-Herbststürme ums Haus brausten, da sanken sichtlich die Kräfte, die
-Beängstigungen nahmen zu und kamen häufiger. Der Arzt schüttelte den
-Kopf: „Es ist ein Herzleiden, das sich schon sehr weit ausgebildet hat.“</p>
-
-<p>Bis in den Advent hinein hatte Martha ihre Stunden und
-Konversationsnachmittage festhalten können; dann aber fand sie die
-Mutter nach jeder Abwesenheit so unglücklich und aufgeregt, daß sie
-sich überzeugen mußte: so geht es nicht mehr weiter. Suschen hatte
-versucht, ihre Stelle zu vertreten und war gern angenommen worden;
-aber Frau Feldwart, beängstigt durch ihr Leiden, war reizbar und
-eigensinnig, und verlangte sofort sehnsüchtig wieder nach Martha.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span></p>
-
-<p>„Es hilft nichts“, sagte diese, „ich muß die Stunden jetzt aufgeben;
-Gott wird ja helfen, daß es geht!“</p>
-
-<p>Ja, er verlangt nichts Unmögliches; es ging wirklich! Alle die Eltern,
-deren Töchter Martha unterrichtet hatte, fühlten herzliche Teilnahme;
-Stärkungsmittel, guter Wein, feine Speisen kamen von allen Seiten
-herbei; ab und zu sahen die hellen, freundlichen Gesichter der jungen
-Mädchen selbst herein.</p>
-
-<p>Pastor Wohlgemuth war sehr treu in seinen Besuchen; er verstand
-die Kranke und sie verstand ihn; er hielt keine langen Reden: ein
-Schriftwort, das auf ihren Zustand paßte, ein Vers aus einem unserer
-schönen Trost- und Glaubenslieder, ein kurzes, warmes, herzliches
-Gebet — das waren die Erquickungen, welche er ihr zurückließ, und
-sein heiteres Gesicht, sein klares Auge, seine getroste Stimme wirkten
-allezeit wie eine belebende Arzenei nicht nur auf die Mutter, nein!
-auch auf den gesunkenen Mut ihres Kindes.</p>
-
-<p>So kam Weihnachten recht ernst heran. Die Mutter litt mehr als je.
-Werners Kinder hätten so gern der Martha ein Bäumchen geputzt, aber sie
-hätten es ihr doch nicht bringen dürfen; der armen Kranken mußte auch
-die leiseste Unruhe erspart werden.</p>
-
-<p>Als die Glocken zur Kirche läuteten, saß Martha an<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> ihrem Bette und las
-die Weihnachtsgeschichte. Ach! Das „Siehe, ich verkündige euch große
-Freude“, es war heute schwer zu fassen; ihre Stimme stockte beim Lesen.</p>
-
-<p>Die Mutter hielt die Hand vor die Augen; nach einer Weile sagte sie:
-„Heute vor einem Jahre hatten wir unseren letzten glücklichen Abend,
-Martha! Dann ging das Elend an. Wenn uns damals einer gesagt hätte, wie
-Schreckliches wir erleben sollten!“ Sie seufzte tief.</p>
-
-<p>Martha nahm sich zusammen, so viel sie konnte: „Ja, Mutter, wir haben
-viel durchgemacht, aber Gott hat uns auch recht dabei geholfen; wenn
-uns jemand vorher gesagt hätte, wie gut wir das Schwere ertragen
-würden, das hätten wir auch nicht geglaubt.“</p>
-
-<p>„Es kommt noch schwerer, liebe Martha!“ fuhr die Mutter mit Anstrengung
-fort, „viel schwerer!“</p>
-
-<p>Martha zitterte innerlich, aber sie kämpfte tapfer ihre Aufregung
-nieder.</p>
-
-<p>„So wird er uns auch durch das Schwerste helfen“, sagte sie leise.</p>
-
-<p>„Weißt du denn auch wohl, was ich meine, mein armes Kind?“</p>
-
-<p>„Ja, liebe Mama, ich glaube, ich weiß es. Ach, ich sehe manchmal nichts
-vor mir als Dunkelheit; aber das Christkind ist ja da; seine Hand kann
-ich auch im Dunkel<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span> fassen, und es wird mich schon durchbringen, und
-dich auch, Mama.“</p>
-
-<p>„Ich glaube, sie singen drüben bei Werners; möchtest du nicht dort
-sein?“</p>
-
-<p>„Nein, Mama, heute bleiben wir zusammen.“</p>
-
-<p>Leise Schritte näherten sich bald darauf. Martha sah hinaus; es waren
-Suschen und Luischen: „Dürfen wir nur einen Augenblick kommen und
-bescheren?“</p>
-
-<p>Frau Feldwart hatte die freundliche Frage gehört: „Ja, kommt nur!“</p>
-
-<p>„Ja, aber da müssen Sie und Martha die Augen schließen, bis wir sagen:
-‚Nanu!‘“</p>
-
-<p>Es ward bewilligt. Ein leises Flüstern und ein süßer Duft ging durchs
-Zimmer. Als die Augen sich öffnen durften, sahen sie auf einen
-wunderbar schönen, blühenden Rosenstock; darunter lagen neben allerlei
-zierlichen Näschereien Gerocks erbauliche Lieder und ein von Suschen
-feingestricktes Kopftuch für Martha.</p>
-
-<p>Gerührt wurden die schönen Gaben bewundert; Frau Feldwart war sehr
-freundlich: „Nun singt mir aber: ‚Es ist ein Ros’ entsprungen‘, das
-gehört zu dem schönen Rosenstrauch.“</p>
-
-<p>Sie thaten das sehr gern und Martha sang mit. Als Suschen bat,
-hier bleiben zu dürfen, damit Martha etwas<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> hinüberginge unter den
-Weihnachtsbaum, schlug es diese dankbar und freundlich ab; sie
-fühlte, daß es so besser sei! Aber es wurde ein friedlicher Abend,
-weihnachtlich im höchsten und schönsten Sinne.</p>
-
-<p>„Vielleicht feiere ich übers Jahr droben mit deinem Vater!“ sagte Frau
-Feldwart und sah sehr fröhlich dabei aus.</p>
-
-<p>Marthas Gedanken wanderten, wohin sie oft gingen — zu Siegfried! Sie
-wußte nicht mehr, was sie denken und wo sie ihn suchen sollte; aber sie
-bat, daß Gott ihm einen schönen, gesegneten Weihnachtsabend schenken
-möge, und die Gewißheit kam als ein süßer Trost über sie, daß ihr
-Vater droben im Himmel, ihre Mutter auf dem Krankenlager, Siegfried in
-der weiten Ferne und sie selbst mit ihrem betrübten, zagenden Herzen,
-alle in einer Vaterhand ruhten, sich alle des einen heiligen Christ
-getrösten und hoffen durften, nach dieser Zeit Leiden in eine selige
-Heimat einzuziehen, wo keine Trennung und kein Schmerz mehr sein wird.
-Beide, Mutter und Tochter, fühlten es als eine große Wohlthat, daß nun
-das Wort ausgesprochen war, vor dem sie sich immer gefürchtet hatten,
-daß sie nun offen und gemeinsam dem entgegensahen, was kommen sollte,
-und sich auch gemeinsam dazu stärken konnten. Es kamen ernste, sehr
-schwere, aber friedliche Tage, während in der Nacht<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> mehr und mehr
-ein Angstanfall den anderen ablöste, so daß sich Martha nach Beistand
-umsehen mußte. Wenn es sich mit ihren Botengängen vereinigen ließ,
-blieb Trude manchmal eine Nacht; dann durfte Martha ruhig schlafen,
-denn die Kranke fühlte sich bei ihr geborgen wie ein Kind im Mutterarm;
-aber dies konnte doch nur selten geschehen. Da bot sich die Warburgerin
-zur Hilfe an, und je kränker Frau Feldwart wurde, desto mehr war ihre
-gleichmäßige Ruhe und große Körperkraft am Platze, mit der sie die
-Kranke hob und zurechtlegte, während ihre Heiterkeit und Frische die
-Krankenstube zu erhellen schien.</p>
-
-<p>Man denkt oft, Tage, die so einförmig unter Sorge und Not hinfließen,
-müssen langsam vorübergehen; o nein! das Gegenteil ist der Fall. In
-diesem steten, stillen Aufmerken und Sorgen für den nächsten Augenblick
-vergeht die Zeit unmerkbar wie im Fluge.</p>
-
-<p>Martha wunderte sich, als die Tage anfingen, länger zu werden, und die
-Sonnenstrahlen früher durchs Fenster blickten. Frau Feldwart freute
-sich daran, — Martha sah es mit Bangen; sie wußte, daß der März das
-letzte welke Laub von den Bäumen schüttelt. Wenn sie die Angst der
-Mutter sah, sehnte sie sich mit ihr nach Erlösung; aber was dann aus
-ihr selbst werden sollte — in diesen Gedanken durfte sie sich gar
-nicht hineinwagen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span></p>
-
-<p>Stellte sie sich einmal ganz ihre verlassene und hilflose Lage vor, so
-kam wohl der Gedanke an Pastor Frank, an das friedliche und geschätzte
-Leben unter seinem Dache wie eine Versuchung über sie. Aber nein! Sie
-konnte nicht bereuen, was sie gethan hatte; immer wieder trat vor ihr
-inneres Auge das Bild ihres Siegfried; daneben hatte kein anderes Platz!</p>
-
-<p>Es war ein ganz wunderlieblicher 1. März; die Sonne schien so erwärmend
-und freundlich auf die schwellenden braunen Knospen, als könne sie es
-kaum erwarten, dieselben zu sprengen. Frau Feldwart war durch eine
-schwere Angstnacht gegangen; jetzt, gegen Mittag, ließ sie die Fenster
-öffnen und atmete mit sichtlicher Erleichterung und Freude die linde
-Frühlingsluft ein.</p>
-
-<p>„Vielleicht könnte ich jetzt ein wenig schlafen“, sagte sie, „versuche
-du es auch, Martha! du wachtest die ganze Nacht.“</p>
-
-<p>Martha richtete der Mutter die Kissen zurecht; diese zog ihren Kopf zu
-sich hernieder und sagte freundlich: „Gott segne dich, mein liebes,
-liebes Kind! Gute Nacht!“</p>
-
-<p>Es war nicht Nacht, es war heller, strahlender Tag; Martha zog sorglich
-hinter den offenen Fenstern die Gardinen zu, setzte sich in den
-Lehnstuhl und beobachtete noch eine Weile den Schlummer der Mutter,
-der sehr süß und<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span> fest zu sein schien; und wie sie auf das friedlich
-ruhende Angesicht blickte, verschleierten sich allmählich auch ihre
-Gedanken, allerlei Traumbilder umgaukelten sie; nach kurzer Zeit
-schlief sie so fest, wie die Mutter ihr gegenüber. Doch nein! <em class="gesperrt">so</em>
-fest schlief sie nicht, denn als sie nach einer Stunde erwachte und
-auf den Zehen näher schlich, um nach der lieben Kranken zu sehen, da
-lag diese noch ebenso friedlich und freundlich da, aber das Antlitz
-war marmorweiß, kein Atemzug hob mehr die sonst so gequälte Brust, und
-die Hände, die auf der Decke lagen, waren erkaltet. Es währte lange,
-bis es der armen Martha ganz zum Bewußtsein kam, daß die Mutter dahin
-gegangen, wo kein Leid, kein Geschrei und keine Qual mehr ist.</p>
-
-<p>Als es ihr endlich zur Gewißheit wurde, schrie sie nicht auf, sie
-klingelte nicht um Hilfe; sie kniete am Bette, schickte ihre Seufzer
-zu Gott hinauf und weinte heiße, recht heiße Thränen. Sie wußte ihre
-Eltern am Throne Gottes vereint, aber sie war allein gelassen auf Erden
-und fühlte das mit tiefem, tiefem Schmerz.</p>
-
-<p>Suschen, die einzige, die stets einen Drücker zur Korridorthür hatte
-und unbemerkt kommen und gehen konnte, fand sie so. O, wie herzlich
-weinte sie mit ihr! Dann rief sie ihre Eltern, und als Frau Werner
-Martha in die Arme schloß und ihr Gemahl so warme, teilnehmende Worte<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span>
-sprach, fühlte das verwaiste Kind, daß es doch nicht ganz verlassen sei.</p>
-
-<p>Der Direktor besorgte mit großer Aufopferung all’ die schweren
-Außendinge, die ein solcher Todesfall mit sich führt; seine Frau
-sagte: „Du kommst jetzt mit uns, liebe Martha. Sobald die Frau kommt,
-die dazu beauftragt ist, helfe ich dir mit Suschen zusammen, deiner
-lieben Mutter die letzten Dienste zu erweisen; denke du jetzt an nichts
-weiter, als daß deine Mutter im Himmel und unser Herrgott ein Vater der
-Waisen ist; alles andere findet sich zu seiner Zeit; jetzt wohnst du
-bis auf weiteres mit in Suschens Stübchen.“</p>
-
-<p>Das Begräbnis war vorüber; Martha hatte sich bis dahin wunderbar
-aufrecht gehalten, aber es war noch kein Schlaf wieder in ihre
-Augen gekommen. Sie hatte sich sehr getröstet gefühlt durch Pastor
-Wohlgemuths glaubensvolle Grabrede über den Text: „Ich weiß, daß mein
-Erlöser lebt.“ Aber als sie nun an Suschens Arme langsam nachhause
-ging, kam eine solche Abspannung und Müdigkeit über sie, daß Frau
-Werner sie sogleich nach dem freundlichen Schlafstübchen führte;
-schon während des Auskleidens fielen die nassen Augen zu, und als die
-mütterliche Freundin noch ein Weilchen mit gefalteten Händen am Bette
-ihres Pfleglings stand, hörte sie schon die sanften Atemzüge, welche
-den Schlummer der Kindheit und Jugend zu begleiten pflegen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p>
-
-<p>Suschen benutzte diese Ruhestunden, um mit Frau Warburger frische
-Luft in die verödete Wohnung zu lassen und die Spuren von Staub und
-Unordnung zu beseitigen, welche ein jedes Begräbnis hinterläßt. Sie
-stand in ihrem langen, schwarzen Kleide mitten im Sterbezimmer, und
-während sie mit ruhiger Stimme die Arbeiten der Dienerin leitete,
-begoß sie die Blumen, die sich in Frau Feldwarts Krankheit durch die
-Freundlichkeit der Bekannten in Fülle zusammengefunden hatten, lockte
-das Hündchen an sich, das winselnd unter dem Tische lag und nur schwer
-zu bewegen war, Milch und Brot aus ihren Händen zu nehmen, und gab hier
-und da einem verschobenen Gegenstande seine richtige Stellung und Lage
-wieder.</p>
-
-<p>Pastor Frank, der die Entschlafene zur letzten Ruhestätte begleitet
-hatte, überraschte sie bei diesem Geschäfte; er kam, um der verwaisten
-Tochter ein paar freundliche Worte zu sagen. Er hatte die Thür offen
-gefunden, weil Frau Warburger viel hin und wieder gegangen war, und
-stand jetzt Suschen gegenüber.</p>
-
-<p>„Es thut mir leid, Herr Pastor!“ sagte diese, „ich kann jetzt Martha
-nicht rufen; nach vielen durchwachten Nächten schläft sie soeben zum
-erstenmal sanft; aber sie wird sich gewiß freuen, wenn Sie ein andermal
-vorsprechen wollen; nur müssen Sie dann zu meinen Eltern kommen,<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> denn
-meine Freundin wird in der nächsten Zeit bei uns wohnen!“</p>
-
-<p>Der Pastor empfahl sich und Suschen setzte ihre stille Arbeit fort. In
-der Korridorthür sah sich der Davoneilende noch einmal um: „Sonderbar!
-das Suschen sah heute recht erwachsen aus mit dem schwarzen Kleide und
-mit dem ernsten Gesicht; sie ist doch wohl eigentlich kein Kind mehr!“</p>
-
-<p>Direktor Werner hätte der Martha gern noch einige Tage stiller
-Erinnerung und friedlichen Ausruhens gewährt, aber er bemerkte bald,
-daß sie sehr unruhig war beim Gedanken an ihre Zukunft, und so fragte
-er sie, als sie an einem der nächsten Morgen ihm und seiner Frau nach
-dem Frühstück allein gegenüber saß: „Nun, liebes Kind, nun lassen Sie
-uns erfahren, was Sie für Ihre Zukunft denken und wünschen.“</p>
-
-<p>Martha sah ihn traurig an: „Was soll ich denken? Meine Nahrungsquelle
-versiegt jetzt, denn die Leibrente der Mutter ist mit ihrem Tode
-verfallen; mir bleibt nichts übrig, als mir so schnell als möglich
-eine Stelle zu suchen als Jungfer oder Stütze der Hausfrau, oder“
-— setzte sie etwas zögernd hinzu — „vielleicht könnte ich in ein
-Diakonissenhaus gehen!“</p>
-
-<p>„Das ist ein schöner Beruf“, sagte der Direktor ernst;<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> „aber haben Sie
-früher wohl jemals daran gedacht, denselben zu ergreifen?“</p>
-
-<p>„Nein“, erwiderte Martha aufrichtig.</p>
-
-<p>„Nur um eine Versorgung zu haben, geht man nicht in ein
-Diakonissenhaus, da gehört ein tieferer Beruf dazu. Ich meine, liebes
-Kind, man muß bei solcher Überlegung die Fingerzeige Gottes beobachten.
-Meinem Suschen habe ich gestern noch ganz ernstlich abgeredet, Lehrerin
-zu werden; ihre Befähigung weist auf andere Gebiete hin; ich könnte
-sie mir eher als Diakonisse, ja als Stütze der Hausfrau denken; Ihnen
-aber möchte ich dringend raten: Werden Sie Lehrerin! Sie haben vom
-lieben Gott genau die Gaben erhalten, die zu einer solchen Wirksamkeit
-gehören, während man Ihnen als Stütze der Hausfrau wenigstens
-in der ersten Zeit noch anmerken würde, daß Sie bei dergleichen
-Beschäftigungen nicht aufgewachsen sind.“</p>
-
-<p>Martha seufzte: „Wie gern würde ich Ihrem Rate folgen! Aber ich müßte
-doch erst ein Examen machen; das kostet Geld — woher soll ich das
-nehmen?“</p>
-
-<p>„Da läßt sich wohl Rat schaffen“, sagte der Hausherr freundlich; „ich
-habe mit meiner Frau gesprochen und will Ihnen sagen, wie wir denken.
-Unser Wirt hat eine sehr gut ausgebaute Bodenkammer, die wird er Ihnen
-für einen sehr geringen Preis geben, und Sie räumen Ihre Möbel<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> und
-Sachen da hinein; wir sehen dann zu, daß wir Ihre Wohnung zum April
-noch weiter vermieten können. Sie ziehen zu uns, teilen Suschens
-Stübchen und sind unser lieber Gast. Gold und Silber haben wir leider
-selbst nicht, aber was wir haben, das geben wir gern, nämlich Obdach,
-Heimat, Verpflegung, so lange Sie es gebrauchen. Doktor W., mein
-Freund, bildet eine ganze Schar junger Mädchen fürs Lehrerinnenexamen
-aus. Sie sind so sehr viel besser vorbereitet durch Ihren trefflichen
-Jugendunterricht, als die meisten seiner Schülerinnen, daß ich
-überzeugt bin, Sie können das Ziel in ein und einem halben Jahre
-erreichen, besonders wenn ernster Wille und redliche Anstrengung dazu
-kommen. Nun, haben Sie wohl Mut, diesen Weg zu gehen? Es ist wohl
-möglich, daß etwas von Ihrem kleinen Notpfennig dabei noch aufgezehrt
-werden muß; aber ich denke, er trägt so die besten Zinsen.“</p>
-
-<p>Martha konnte nur danken, mit tiefgerührtem Herzen danken für so viel
-Güte.</p>
-
-<p>„Ist nicht nötig, ist gar nicht nötig“, sagte der Direktor, „es wird
-ein ganz angenehmer Zuwachs für unsere Familie sein. So, nun schlagen
-Sie ein! Und nun werde ich dich, liebe Martha, ganz als meine älteste
-Tochter betrachten, so lange du bei uns bist. Sage du von heute an:
-Onkel und Tante Werner! da wird es uns allen behaglich sein!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span></p>
-
-<p>Martha mußte durch ihre Thränen lächeln, und Suschen, die eben
-hereingeschlüpft war, umarmte sie so stürmisch, daß sie fast erdrückt
-wurde. In den Kreis ihrer Geschwister kam bei der Nachricht, daß Martha
-jetzt hier bleiben würde, eine so freudige Aufregung, daß Suschen und
-Frau Werner Mühe hatten, sie so ruhig zu erhalten, wie es bei der
-traurigen Gemütsstimmung ihres Gastes nötig war.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_9">9.<br>
-Bei Werners.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Da in H. Wohnungsmangel war, wurde die Wohnung, welche Frau Feldwart
-innegehabt hatte, noch im Laufe des Monats weiter vermietet. Es
-kamen für Martha die schweren Tage des Ausräumens, und Suschen half
-ihr mit Arbeit und Teilnahme, so viel sie immer konnte. Die Kommode
-der Urgroßmutter, der Nähtisch, Ajax und das Vögelchen wanderten
-mit zu Werners, um es der Verwaisten dort heimisch zu machen; alle
-Familienglieder trugen ihr Mitgefühl und Liebe entgegen und suchten
-ihr dieselbe auf alle mögliche Weise zu zeigen. Dennoch vergingen
-Wochen, bevor sie sich in den neuen Verhältnissen zurecht fand. Die
-Stunden kamen nicht selten, wo der Anblick des reichen Familienkreises
-ihr die eigene Verlassenheit noch deutlicher und schwerer zum
-Bewußtsein brachte und die Sehnsucht nach ihren Lieben so mächtig
-erregte, daß sie kaum darüber<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Herr werden konnte. Die neue, ernste
-Thätigkeit, in welche sie sofort eingetreten war, half ihr wohl dabei,
-kostete ihr aber, so gern sie von Jugend auf gelernt hatte, doch oft
-Überwindung. Ihr Wissen war auf vielen Gebieten reicher, als es für das
-bevorstehende Examen verlangt wurde, und Doktor W. hatte seine große
-Freude daran, aber in manchen Dingen war es mangelhaft. Sie hatte,
-besonders seitdem sie der Schule entwachsen war, volle Freiheit gehabt,
-zu lernen und zu treiben, was sie innerlich zumeist anzog; jetzt mußte
-es nun systematisch vorwärts gehen, gleichmäßig in allen Fächern, in
-ganz bestimmten, ziemlich engen Schranken; das kostete ihrer lebendigen
-Natur manchen Kampf und manchen Seufzer.</p>
-
-<p>„Wenn ich später Kinder zu erziehen habe, lasse ich ihnen gewiß mehr
-Freiheit!“ dachte sie. Dennoch konnte sie nicht umhin, anzuerkennen,
-daß solche ins System gebrachte, fest geregelte Thätigkeit auf den
-inwendigen Menschen beruhigend wirkt. Auch das Arbeiten in Gemeinschaft
-mußte sie erst lernen; da sie das einzige Kind war, hatte sie für
-solche Beschäftigungen ihr Zimmer und vollständige Stille um sich her
-gehabt. Dies ging bei Werners nicht an, wenigstens jetzt nicht. Der
-April und der Anfang des Mai brachten rauhe, kalte Luft; man mußte
-heizen. Im großen Speisezimmer arbeitete der Sekundaner mit Luise<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span>
-und den Zwillingen; der Martha ward an derselben langen Tafel ihr
-Platz angewiesen. Da zuckte sie manchmal zusammen, wenn sie im Denken
-und Lernen durch ein unerwartetes Tischbeben oder eine sehr unnütze
-Bemerkung unterbrochen wurde. Seitdem aber Wilhelm lachend gefragt:
-„Sind Sie nervös, Martha?“ nahm sie sich sehr zusammen; als nervös
-mochte sie durchaus nicht gelten; sie fand auch in der That, daß die
-Gewohnheit sie nach und nach gegen solche Eindrücke weniger empfindlich
-machte.</p>
-
-<p>„Du arme Martha!“ sagte Frau Werner mitleidig, „im Sommer wird es
-besser, da kannst du auf deinem Stübchen allein sein.“</p>
-
-<p>„Ach, ich glaube, bis dahin bin ich ganz daran gewöhnt“, sagte Martha
-freundlich.</p>
-
-<p>„Dann ist es desto besser“, erwiderte die Mama sehr zufrieden; „wir
-Frauen erlangen ungestörte Muße für unsere Arbeiten nur in den
-seltensten Fällen, in den glücklichsten Verhältnissen am wenigsten;
-da ist es ein großes Glück, wenn man lernt, in der äußeren Unruhe die
-innere Ruhe festzuhalten; stilles Ertragen kleiner Störungen kräftigt
-mehr als man denkt, und trägt viel dazu bei, den Lebensweg zu ebnen.“</p>
-
-<p>Auch das Verhältnis zu den verschiedenen Familiengliedern brachte
-manche Schwierigkeit. Jede neue Lebenslage<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> bietet solche dar; schwache
-und selbstsüchtige Naturen steigern sie für sich und andere oft bis zur
-Unerträglichkeit; kräftige und treue überwinden sie mit Gottes Hilfe
-und finden darin die beste Schule und den größten Reichtum fürs Leben.</p>
-
-<p>Der Sekundaner hatte eben angefangen, ein wenig über die Zeit
-hinauszukommen, wo es heißt: „Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe.“
-In solcher Zeit pflegen zwischen großen Brüdern und erwachsenen
-Schwestern intime Freundschaften zu entstehen. Er war gewohnt gewesen,
-all’ seine Erlebnisse Suschen mitzuteilen, wie sie seine Heimkehr
-aus der Schule kaum erwarten konnte, um all’ die Dinge mit ihm zu
-besprechen, die für ein achtzehnjähriges Herz Bedeutung und Wichtigkeit
-haben. Nun kam Martha und nahm Suschens Neigung und in jeder freien
-Stunde auch Suschens Zeit so in Beschlag, wie er es nicht für möglich
-gehalten hatte. Der junge, sehr hübsche Gast war ihm keineswegs
-gleichgültig; er versuchte sehr ernstlich, auf Spaziergängen oder
-abends im Garten der dritte im Bunde zu sein; da man ihn aber nicht
-gerade huldvoll aufnahm, ward er verstimmt und kam in Versuchung, zu
-den eben überwundenen Gewohnheiten der Flegeljahre zurückzukehren. Er
-entwickelte eine merkwürdige Geschicklichkeit darin, auf den Zehen
-näherzuschleichen, Bruchstücke aus der Unterhaltung<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> der Mädchen zu
-erlauschen und dieselben in der verdrehtesten Gestalt wieder zutage
-zu bringen, gerade, wenn es die beiden Freundinnen am meisten in
-Verlegenheit brachte. Er band auch wohl heimlich Suschens langen Zopf
-an Marthas Taillenband fest, wodurch sehr unangenehme, ja manchmal auch
-schmerzhafte Verwickelungen entstanden, und die ärgerlichen Ermahnungen
-der Frau Direktorin halfen immer nur auf kurze Zeit. Eine treue
-Bundesgenossin hatte er, nicht in seinen Ungezogenheiten, aber in der
-Eifersucht auf Marthas Freundschaft mit Suschen, an seiner Schwester
-Luise, die es gar nicht begreifen konnte, warum sie in letzter Zeit so
-ganz in den Hintergrund gedrängt wurde, und die beiden redeten sich
-recht geflissentlich gegenseitig in den Ärger hinein.</p>
-
-<p>Frau Werner sprach anfangs nur zum Frieden: „Bedenkt doch, wie die
-arme Martha noch so fremd hier ist; sie hat jetzt eine Freundin nötig;
-wenn sie ihre Traurigkeit erst etwas überwunden hat, wird das ganz von
-selbst besser.“</p>
-
-<p>Der Direktor sah die Sache mit heimlicher Belustigung; die kleinen
-Konflikte machten ihm Spaß, weil er eine glückliche Lösung voraussah;
-aber er konnte es nicht lassen, zuweilen etwas ironisch zu werden.
-Auf Spaziergängen, wenn alle sich an einer schönen Baumgruppe oder
-freundlichen Aussicht<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> erfreuten, störte er das eifrige Zwiegespräch
-der Mädchen: „Nun, ihr Geistesabwesenden, thut nur auch einmal euere
-Augen auf, damit ihr etwas von Gottes Schöpfung gewahr werdet!“ Oder
-er läutete hinter ihren vereinigten Köpfen mit der großen Tischglocke:
-„Versunkenheit, Versunkenheit weiche! Das Abendbrot soll in den Garten
-gebracht werden.“</p>
-
-<p>Gerade, weil Martha fühlte, daß die freundliche Rüge von ihr verdient
-war, traf sie dieselbe oft recht empfindlich; sie war als einziges Kind
-an große Schonung gewöhnt.</p>
-
-<p>Die Sache erreichte ihren Höhepunkt, als eine Cousine von Suschen,
-Josephine, in schöner Abkürzung nur „Phine“ genannt, auf Besuch kam.
-Sie war eine sehr wenig anmutige Erscheinung, eckig im Benehmen,
-wortkarg, wenig angeregt zu geistigen Interessen, mit einem Worte:
-den beiden Unzertrennlichen sehr unsympathisch. Dies ließen sie auf
-eine sehr unliebenswürdige Weise dem Gaste merken; sie wußten mit
-wunderbarer Geschicklichkeit denselben von ihren Zwiegesprächen
-auszuschließen, und Phine ging auf gemeinsamen Wanderungen, wenn
-nicht etwa der Direktor oder die Hausmutter sich ihrer annahm, mit
-gefurchter Stirne ihren Weg allein. Die Eltern beide sahen dies mit
-wirklichem Schmerz; des Direktors humoristische Bemerkungen wurden
-bitter und beißend; seine Frau nahm eines Morgens,<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> als Phine noch
-schlief, die beiden Freundinnen beiseite, und sagte ihnen ganz
-gründlich die Wahrheit: „Alles, was recht ist, lobt Gott! ihr Kinder.
-Ich habe euerer Freundschaft viele Rechte eingeräumt, aber wenn ihr
-mir die Gastfreundschaft verletzt, bin ich sehr böse. Ja, ja! seht
-mich nur erstaunt an; jede Freundschaft, jedes Verhältnis, welches
-so ausschließlich wird, daß man gar nicht mehr daran denkt, was man
-seinem Nächsten schuldig ist, wird Leidenschaft und Egoismus, und das
-muß bekämpft werden. Ich bitte mir von heute an aus, daß ihr euch
-ordentlich betragt, sonst trenne ich euch und schicke Suschen wieder
-auf Reisen!“</p>
-
-<p>Martha empfand es sehr tief, daß sie hier Ursache zur Unzufriedenheit
-gegeben hatte; Suschen gab sich noch nicht gleich: „Aber Mama! was
-sollen wir denn mit ihr anfangen?“</p>
-
-<p>„Das wird sich schon finden, wenn ihr ernstlich wollt; wie es in den
-Wald schallt, so schallt es wieder heraus; ich glaube, ihr habt noch
-nicht einmal ernstlich mit dem Hammer der Liebe bei ihr angeklopft; wer
-weiß, welche Goldstufen ihr findet, wenn ihr es thut!“</p>
-
-<p>Martha war sehr erschüttert von dieser Strafpredigt; sie hatte selten
-Scheltworte bekommen im Leben, und obgleich sie der Frau Werner in
-ihrem Herzen beipflichten mußte, fühlte sie sich doch sehr unglücklich
-und verlassen und griff<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> zum Trost nach Urgroßmutters Briefen.
-Sonderbar! das erste, was ihr in die Hand fiel, war ein kleines Gedicht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Gastfrei zu sein vergesset nicht!</div>
- <div class="verse indent0">Der heilige Apostel spricht;</div>
- <div class="verse indent0">Bei manchem hat ganz unbeachtet</div>
- <div class="verse indent0">Ein Gottesengel übernachtet.</div>
- <div class="verse indent0">Drum hört, was der Apostel spricht:</div>
- <div class="verse indent0">Gastfrei zu sein vergesset nicht!</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Drum sollst du auch ganz freundlich sein,</div>
- <div class="verse indent0">Tritt unerwünscht ein Gast herein;</div>
- <div class="verse indent0">Manch Englein hat die Flügel innen,</div>
- <div class="verse indent0">Du würdest’s herzlich liebgewinnen,</div>
- <div class="verse indent0">Sähst du ihm tief ins Herz hinein;</div>
- <div class="verse indent0">Drum sollst du jedem freundlich sein.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Gar mancher, der dir nicht gefällt,</div>
- <div class="verse indent0">Ist recht zum Engel dir bestellt;</div>
- <div class="verse indent0">Es sind nicht immer Sympathieen,</div>
- <div class="verse indent0">Die ’s Herz nach Gottes Willen ziehen.</div>
- <div class="verse indent0">Es thut gar wohl, so schwer’s oft fällt:</div>
- <div class="verse indent0">Gut sein dem, der dir nicht gefällt!</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Nun es die Urgroßmutter sagte, mußte es wohl wahr sein! Martha prüfte
-sich ernstlich und kam auf manchen Punkt, der sie verklagte. Wo waren
-denn die lustigen Mittagsstunden geblieben, seitdem Suschen und sie
-im entferntesten Gartenweg wanderten und sich um die anderen<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> nicht
-bekümmerten? Als sie abends allein auf ihrem Stübchen waren, gab Martha
-Suschen das Gedichtchen zu lesen; ausführliche Besprechungen und gute
-Vorsätze schlossen sich daran, die mit aufrichtigem Herzen gefaßt
-wurden.</p>
-
-<p>„Wenn ich nur erst wüßte, wie man Phinen näher kommen könnte!“ sagte
-Suschen.</p>
-
-<p>„Wir müssen es versuchen!“ sagte Martha seufzend.</p>
-
-<p>Nun ist nichts schwerer, als den richtigen Anfang einer Unterhaltung zu
-finden, wenn man mit der feierlichen Absicht, eine solche zu beginnen,
-an jemanden herantritt.</p>
-
-<p>Phine, teils beleidigt durch die erfahrene Zurücksetzung, teils bequem,
-war einsilbig und schien die Annäherung ihrer Altersgenossinnen fast
-nur mit gnädiger Herablassung zu dulden; Suschen kehrte ihr bald den
-Rücken und verschwand. Martha versuchte jedes mögliche Thema.</p>
-
-<p>„Haben Sie Geschwister?“</p>
-
-<p>„Ja.“</p>
-
-<p>„Brüder oder Schwestern?“</p>
-
-<p>„Von beiden.“</p>
-
-<p>„Ist T. ein angenehmer Ort?“</p>
-
-<p>„Es geht!“</p>
-
-<p>„Kommen Sie viel in Gesellschaft?“</p>
-
-<p>„Manchmal!“</p>
-
-<p>„Wird dort auch musiziert?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span></p>
-
-<p>„Himmel, wie kommen Sie nur darauf, mich in einem fort zu fragen!
-Lassen Sie mich doch zufrieden; es interessiert Sie ja alles nicht!“</p>
-
-<p>Es war eigentlich wahr, Martha gestand sich’s zu ihrer Beschämung; aber
-wie in aller Welt sollte sie da eine Annäherung beginnen?</p>
-
-<p>Gegen Abend wanderten alle in den Garten; der Gärtner hatte
-verschiedene Beete neu bepflanzt, eins derselben recht geschmacklos mit
-lauter gleich großen Pflanzen, von denen keine zur Geltung kam und jede
-der anderen Luft und Sonne wegnahm. Josephine ging einigemal um das
-Beet herum und schien in seine Betrachtung völlig versunken zu sein.</p>
-
-<p>„Ich dächte, das Beet wäre nicht eben schön“, sagte Martha.</p>
-
-<p>Das erste freundliche, verständnisvolle Lächeln erschien auf Phinens
-Gesicht: „Nein, das ist es wirklich nicht; wenn da in der Mitte nur
-ein einziges Heracleum oder eine Staude Zuckerrohr und ein paar
-Maispflanzen ständen; dann etwa diese Gladiolus, ringsum vielleicht
-noch Astern und am Rande weiße Vergißmeinnicht — das wäre ein hübsches
-Beet. Ja, das verstand mein Großvater so schön! Ich wollte, Onkel
-Werner erlaubte mir, es einmal so einzurichten!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span></p>
-
-<p>„Das würde er vielleicht thun; aber wäre es nicht schade um die
-hübschen Wicken und Winden?“</p>
-
-<p>„Ei, die könnten wir dort an der Laube anbringen; da fehlt etwas.“</p>
-
-<p>„Fragen Sie doch!“ riet Martha.</p>
-
-<p>„Ach, das wage ich nicht!“</p>
-
-<p>Beim Abendbrot redete Martha den Hausherrn an: „Onkel Werner, Phine und
-ich haben einen sehr großen Wunsch!“</p>
-
-<p>„Nun, und welchen?“ fragte er freundlich.</p>
-
-<p>Martha trug die Sache vor; der Onkel lachte: „Wenn ich da nur nicht aus
-dem Regen in die Traufe komme!“</p>
-
-<p>„Sie könnten es doch versuchen!“ bat Martha weiter. „Phine versteht
-sich darauf und wir könnten ihr helfen.“</p>
-
-<p>„Ja, wir alle! wir alle!“ riefen die Zwillinge.</p>
-
-<p>„Meinetwegen, versucht die Sache!“ entschied der Direktor. „Das
-Heracleum giebt euch Freund Friedhelm umsonst.“</p>
-
-<p>Wilhelm holte es, brachte auch noch einige Maispflanzen und ein
-Körbchen voll Vergißmeinnicht mit; Phine hob sorglich die überflüssigen
-Pflanzen aus; sie kamen unter die Aufsicht von Luise; Arthur und Hans
-durften an der Laube unter Suschens Aufsicht Löcher ausarbeiten,
-und Martha setzte die Pflänzchen mit geschickter Hand ein. Phine
-arrangierte indessen<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> das Mittelbeet und Anna trug ihr in der kleinen
-Gießkanne immer wieder frisches Wasser zu. Die kräftige Mittelpflanze,
-obgleich sie ihre Höhe noch nicht erreicht hatte und jetzt die Blätter
-hing, hob das Beet sehr.</p>
-
-<p>„Ihr sollt ’mal sehen, wenn alles ordentlich anwächst, wie reizend
-es wird“, rief die Obergärtnerin; sie war ganz aufgelebt und nicht
-wiederzuerkennen.</p>
-
-<p>Die Garderobe war nun zwar nicht ganz ohne Schaden weggekommen, aber
-die Freude über das gemeinsam Geschaffene strahlte allen aus den Augen.</p>
-
-<p>Dies war der Anfang vieler Vergnügungen; abends mußte man gießen;
-hier und da wurden noch Verbesserungen für nötig befunden; die
-ganze junge Familie entwickelte ein nie gekanntes Interesse an der
-Gärtnerei, und Josephine gab eine sehr geschickte Lehrmeisterin ab.
-Auch verstand es niemand so gut wie sie, die Ranken des wilden Weines
-und des Geisblattes zierlich aufzubinden oder aus wenigen Blumen einen
-anmutigen Strauß zu schaffen.</p>
-
-<p>„Woher kannst du das alles, Phine?“</p>
-
-<p>„Von meinem Großvater“, erwiderte sie; „sein Garten war sein Liebstes,
-und ich war, bis er starb, sein Gehilfe darin; ich liebe die Pflanzen
-gar zu sehr! Es fehlt mir hier nur eine sehr zierliche, feine
-Blattpflanze, die wir zuhause in Fülle hatten.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span></p>
-
-<p>„Weißt du den Namen nicht?“</p>
-
-<p>„Nein, aber ich habe oben einige gepreßte Exemplare.“</p>
-
-<p>Sie holte dieselben, um sie den Kindern zu zeigen, und alle waren
-erstaunt, wie schön sie gepreßt waren, wie unverletzt die Farben.</p>
-
-<p>„Können wir das auch lernen?“ fragte Luischen.</p>
-
-<p>„Freilich, das kann jeder lernen; ich werde heute Nachmittag recht viel
-Löschpapier holen und euch das Verfahren zeigen.“</p>
-
-<p>Es ging nun mit Eifer ans Einlegen und Pressen; auch Martha trieb es,
-um die Ränder ihrer Zeichnungen mit dem getrockneten Gras und Moos zu
-schmücken; die Kinder suchten das nachzuahmen, und alle fühlten, wie
-schön es sei, wenn eins vom anderen nimmt und einer dem anderen giebt,
-viel schöner, als seinen Gedanken nachzuhängen und unbekümmert um die
-anderen seine einsame Straße zu ziehen. Ja, Martha und Suschen merkten
-zu ihrem Erstaunen, daß ihre einsamen Plauderstunden am Abend und
-Morgen nicht an Reiz verloren und viel an Reichtum gewannen, seitdem
-sie sich mehr den Interessen der anderen Hausgenossen anschlossen. Als
-Martha einmal teilnehmend Josephinen nach dem Großvater fragte, da kam
-die Goldstufe in dem Herzen der Enkelin wirklich zutage; hier verstand
-sie Martha nur zu gut; und als endlich der Gast<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> wieder seiner Heimat
-zufuhr, schied er mit Thränen und wurde mit Thränen entlassen.</p>
-
-<p>„Die Urgroßmutter hat doch wieder recht behalten“, sagte Martha.</p>
-
-<p>Ja, die Urgroßmutter! ihre Papiere und Briefe lieferten reichen Stoff
-zu den Unterhaltungen der beiden Mädchen; denn Suschen durfte jetzt mit
-darin studieren. Sie interessierte sich besonders für die praktische
-Armenpflege, die oft darin erwähnt wurde, und wenn sie, ihr Körbchen am
-Arm auf Pastor Wohlgemuths Geheiß zu seinen Kranken ging, that sie dies
-fast nie ohne eine stille Erinnerung an die ehrwürdige Frau, und ohne
-die Freude, auf ihren Wegen zu gehen. Ihre Lieblingspatientin war eine
-junge Frau, aus Weißfeld stammend, welche bald nach ihrer Verheiratung
-eine Brustentzündung bekommen hatte und infolge davon schwindsüchtig
-geworden war. Sie sah Suschens Besuchen stets mit großer Sehnsucht
-entgegen; diese fühlte sich ihr gegenüber besonders frei, da die
-Leidende nur um wenige Jahre älter war als sie.</p>
-
-<p>Eines Abends, nachdem Suschen die Kranke besorgt, umgebettet und
-erquickt hatte, klagte diese noch: „Ach, Fräulein! Mein armer Mann!
-heute hat er müssen eine Stunde vor Tage auf die Fabrik gehen, hat
-keine Zeit behalten, den Topf in die Grube zu setzen; Mittag ist er gar
-nicht nachhause<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> gekommen, und nun findet er abends auch nichts Warmes!
-Er ist auch zu schlimm dran!“</p>
-
-<p>„Könnte ich denn etwas für ihn kochen?“ fragte Suschen.</p>
-
-<p>„Ach, das ist doch zu viel verlangt; aber Bier ist im Hause, gleich
-auf der obersten Kellerstufe, und Brot und Milch und ein Ei und Kümmel
-auch; ach, Fräulein, wenn Sie es thun wollten!“</p>
-
-<p>Suschen bereitete die Suppe und setzte sie auf dem Ofen warm.</p>
-
-<p>Pastor Frank, der sein früheres Gemeindeglied besuchen wollte, hatte
-ihrem liebevollen, anmutigen Thun eine Weile unbemerkt zugesehen. Als
-sie in den Hausflur trat, begrüßte er die junge Schülerin freundlich:
-„Wie freut es mich, daß Sie der Käthe so beistehen! Haben Sie ihr auch
-wohl etwas vorgelesen oder ernst mit ihr geredet?“</p>
-
-<p>Suschen errötete ein wenig: „O nein! lesen kann die Käthe für sich,
-wenn ich nicht da bin, und sprechen von so ernsten Dingen — Herr
-Pastor, das wird mir schwer: ich kann viel besser mit meinen Händen
-helfen!“</p>
-
-<p>Er sah ihr in die hellen Augen und schwieg; er hatte sie erst ermahnen
-wollen, zu lernen, was sie nicht konnte; aber wie sie so vor ihm stand
-mit den klaren Augen und der demütigen Haltung, vermochte er’s nicht;
-er dachte:<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> „Die Gaben sind verschieden; ihre bloße Erscheinung ist
-eine Erquickung; und das ist gewiß: ein Kind ist sie jetzt nicht mehr!“</p>
-
-<p>In mancher Beziehung war sie aber doch noch ein Kind.</p>
-
-<p>In Urgroßmutters Kommode fanden sich viele Flachs- und Webe-Rechnungen;
-das stimmte so ganz mit dem Lobe der Spinnekunst in manchem neuen
-Journal, und als der Herbst kam und der Weihnachtswünsche gedacht
-wurde, kannte Suschen keinen größeren als: „Ach, ein Spinnrad! und
-einen großen Haufen Flachs!“</p>
-
-<p>Frau Werner lachte darüber: „Von mir bekommst du das sicher nicht, mein
-Suschen!“</p>
-
-<p>„Aber Mama, warum nicht?“</p>
-
-<p>„Weil es für eine Spielerei zu teuer ist, und mehr als Spielerei in
-unserer unruhigen Zeit doch niemals wird!“</p>
-
-<p>„Aber Mama!“</p>
-
-<p>„Ja, liebes Kind, es ist ganz wie ich sage: An unsere Großmutter und
-Mütter wurden lange nicht so viel Anforderungen gestellt wie an uns;
-der Verkehr war ein viel langsamerer; es gab nicht so viel Stunden,
-Vereine und Vorlesungen; wenn sie ihr Spinnrad vor sich hatten, saßen
-sie tagelang hintereinander und zogen Faden auf Faden; da wurde was
-fertig fürs Haus. Sie konnten wohl recht hübsch dabei denken und
-sinnen; aber einem Kinde des 19. Jahrhunderts<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> könnte es doch wohl
-etwas langweilig sein. Es würde auch ein teueres Leinen werden, mein
-Töchterchen; die Hände kommen eben den Maschinen doch nicht nach.“</p>
-
-<p>„Wie schade!“ seufzte Suschen.</p>
-
-<p>„Ja, liebes Kind, das läßt sich nun nicht ändern; wir können doch nicht
-Erfindungen und Industrie zurückdrehen, bis wir wieder ins adamitische
-Zeitalter kommen. Den Sinn des Fleißes, der Häuslichkeit, der Treue,
-der die Mütter bei ihrer Arbeit leitete — den sollen wir pflegen, aber
-ihn mit Vernunft in Einklang bringen mit den Anforderungen der neuen
-Zeit; es gefällt euch ja doch gar nicht übel, daß ihr jetzt mehr Anteil
-habt am geistigen Leben; das möchtet ihr doch gewiß nicht beseitigen!“</p>
-
-<p>„Aber Rösners haben auch ihre Rädchen!“</p>
-
-<p>„Ja, die treiben es eben als eine hübsche Erinnerung an die
-großmütterliche Thätigkeit und eine nette Spielerei. Da es bei ihnen
-gerade nicht viel darauf ankommt, was sie vornehmen, so ist das nicht
-zu tadeln, und hätte ich ein altes Rad, so solltest du es meinetwegen
-zu gleichem Zwecke haben. Aber es darf niemand meinen, daß damit in
-unserer Zeit ein wirklicher Nutzen für den Haushalt geschafft wird, und
-besonders in unserem giebt es der nützlichen und nötigen Arbeiten so
-viel, daß man sich der überflüssigen lieber enthält.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span></p>
-
-<p>Es war und blieb aber Suschen sehr niederschlagend. Als die beiden
-Mädchen in den Herbstferien bei Rösners waren, hatte Martha auf Trudens
-Boden das Spinnrad der Urgroßmutter gesehen, das auf die Dienerin
-vererbt war.</p>
-
-<p>„Ich spinne nicht darauf“, hatte diese gesagt, „wenn mir die Frau
-Amtsrätin auch im Winter noch Flachs giebt. Weil ich eben nichts
-anderes mehr thun kann, so verspinne ich den auf meinem zweispuligen,
-das trägt mehr ein!“</p>
-
-<p>Es war nicht schwer, Truden zu bewegen, das Rad an die Urenkelin
-abzutreten; in Weißfeld wohnte noch ein alter, geschickter Drechsler,
-dem ward es zur Reparatur übergeben, und wenn für Martha der Blick auf
-die äußere Weihnachtsfeier von irgendeinem freundlichen Strahl erhellt
-wurde, so war es die Aussicht, Suschen mit diesem Rade zu beglücken.
-Frau Amtsrätin hatte den Flachs dazu zu liefern versprochen und hielt
-ihr Wort.</p>
-
-<p>Die Überraschung gelang aufs beste. Als die Bescherung bei Werners am
-heiligen Abend vorüber war, kam Hans als Knecht Ruprecht und brachte
-im Namen der Urgroßmutter das feingeschmückte Rädchen; der Flachs war
-durch Trudens geübte Hand kunstgerecht aufgelegt; ein schönes, buntes
-Wockenband umgab ihn. Suschen wurde<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> ganz rot vor Freude. Sie hatte ja
-alle Vernunftgründe in der Rede der Mutter eingesehen; aber Vernunft
-treibt Herzenswünsche selten aus, und als sie nun vollends vernahm,
-daß es das Rad der Frau Anna Martha Waldheim war, deren Name, allen
-sichtbar, am Querbrett prangte, kannte der Jubel gar keine Grenzen, und
-es wurde ihr schwer, dem Knecht Ruprecht zu gehorchen, der ihr gesagt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Aber von Weihnachten bis zum hohen Neujahr</div>
- <div class="verse indent0">Muß ruhen das Spinnrädlein ganz und gar;</div>
- <div class="verse indent0">Hört man es da nur einmal schwirren,</div>
- <div class="verse indent0">So müssen die Hexen den Wocken verwirren.</div>
- <div class="verse indent0">Erst wenn die hochheil’gen zwölf Nächte vorbei,</div>
- <div class="verse indent0">Ist das Spinnen wieder gesegnet und frei.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Die Eltern und Geschwister freuten sich mit ihr, und auch Martha,
-der die Erinnerung an die beiden letzten Weihnachtsfeste natürlich
-schwer auf der Seele lag, war dennoch glücklich über die gelungene
-Überraschung und konnte sich dem Glanz der Weihnachtssonne, der so
-besonders lieblich hineinstrahlt in einen großen Familienkreis, nicht
-entziehen.</p>
-
-<p>Als endlich die Zeit gekommen war und Trude der gelehrigen Schülerin
-Handgriff und Tritt beigebracht hatte, saß Suschen stolz auf ihrem
-Schemel, zog Faden auf Faden, und erschien sich, als sei sie nun
-ganz auf den Pfaden der<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> Urgroßmutter. Sie fing auch gleich an zu
-überlegen, wie viel sie weben lassen wollte, erkundigte sich, wie viel
-oder vielmehr wie wenig der Weber gebrauche, um ein Dutzend Handtücher
-fertigzustellen; als sie dann aber ihre Thaten mit seiner Forderung
-verglich, gestand sie sich heimlich, nur ganz heimlich, daß es ziemlich
-lange dauern würde, bevor das Gewünschte zusammen sei, und mußte es als
-ein großes Glück ansehen, daß die Familie mit dem Trocknen ihrer Hände
-nicht darauf zu warten brauchte. Das mußte man ja sagen: lieblich sah
-das Suschen aus, wenn sie hinter dem blanken Spinnrad saß; recht wie
-ein deutsches Mädchen mit ihrem klaren Gesichtchen und blonden Zopf.
-Pastor Frank, der jetzt wieder häufiger und ruhiger kam und sie eines
-Tages bei der neuen Arbeit überraschte, konnte sich auf dem Heimwege
-gar nicht losmachen von dem Bilde der Spinnerin, obgleich er halb und
-halb ärgerlich darüber war.</p>
-
-<p>„Sie macht wirklich einen sehr lieblichen Eindruck“, dachte er; „es ist
-schade, daß sie so wenig aus sich herausgeht; aber vielleicht schadet
-es nicht so viel; wenn der Pastor spricht und die Pastorfrau praktisch
-hilft, sollte es wohl auch gehen!“</p>
-
-<p>Der Winter ging friedlich und fleißig dahin, und nun in voller
-Harmonie. Die Scene während Josephinens Dasein hatte auf die beiden
-Freundinnen den besten Einfluß<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> gehabt; sie bemühten sich jetzt mit
-aufrichtigem Herzen, gegen alle Familienglieder liebenswürdig zu
-sein. Daß Wilhelm nun wirklich als dritter in den Freundschaftsbund
-aufgenommen war, führte demselben einen großen Zuwachs an Ideen zu.
-Sein Herz war sehr warm für das allgemeine Wohl, sein Interesses
-groß für alles, was eben die Zeit bewegte: Stöckers Arbeitervereine,
-Bismarcks große Ideen waren Gegenstände seiner Schwärmerei; der
-Primaner konnte lange Reden halten, von Suschen und Martha höchlich
-angestaunt, obgleich sie oft noch recht jugendlich unreife Gedanken
-enthielten. Natürlich kam dergleichen auch am Mittags- oder Abendtische
-zutage, und machte die liebe Hausfrau ungeduldig.</p>
-
-<p>„Jetzt krähen die Hähnchen, wenn sie eben aus dem Ei gekrochen sind“,
-pflegte sie zu klagen; „ich kann es manchmal gar nicht anhören, wenn
-sie so unreifes Zeug vorbringen; und auch die Mädchen! Wir mußten uns
-ganz still verhalten, wenn von solchen Dingen die Rede war!“</p>
-
-<p>Der Direktor dachte anders darüber: „Natürlich müssen sie reifer
-werden; aber nur, was überhaupt existiert, kann wachsen und gedeihen;
-ich möchte keinen Sohn haben, der nicht seine Ideale in dieser
-Beziehung hätte, und eine Ansicht über diese Dinge müssen sich
-schließlich doch auch die Frauen bilden. Sie sind ja doch bescheiden
-erzogen, unter<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> Fremden hören sie und schweigen. Laß du sie ja im
-Familienkreise sich aussprechen. Du glaubst auch nicht, wie es mich
-interessiert; ich bekomme dadurch ein genaues Bild von dem, was mehr
-oder weniger in all meinen Schülern lebt; es sind die Keime der
-Gedanken und Thaten einer kommenden Generation, die müssen wir Alten
-wohl beachten, mit unseren Erfahrungen stützen und schützen und mit
-unserer Liebe pflegen.“</p>
-
-<p>Frau Werner staunte oft, wie es ihr Mann verstand, sich auf den
-Standpunkt der Jugend zu versetzen und von da aus leise Irrtümer zu
-berichtigen und auf unreife Ansichten einzuwirken.</p>
-
-<p>„Auf manchen Gebieten“, dachte sie, „sind Männer geduldiger als
-Frauen, das macht, weil sie die Dinge mehr im großen und nach ihrem
-Zusammenhange fassen; es ist schön, das wir das von ihnen lernen
-können!“</p>
-
-<p>Auch die Kleinen wurden jetzt von Martha zärtlich beachtet; sie bemühte
-sich, ihre Eigentümlichkeiten kennen zu lernen, sie zu verstehen
-und ihnen etwas zu sein. Sie fand dies sehr lohnend. Jedes Kind war
-anders geartet, eines durch Freundlichkeit, das andere durch Ernst zu
-gewinnen; eines nahm die Dinge zu leicht, das andere zu schwer. „So
-werden meine Schülerinnen später auch sein“, dachte sie und machte ein
-völliges Studium daraus, ein jedes nach<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> seinem innersten Wesen zu
-lieben und zu behandeln. Dies gelang ihr vortrefflich und Eltern und
-Kinder waren innig dankbar dafür. Alle fürchteten sich vor der Zeit, wo
-Martha ihnen entrissen werden sollte, und doch rückte sie unaufhaltsam
-näher.</p>
-
-<p>Im Sommer vor ihrem Examen fing ihre sonst so große Frische an zu
-schwinden unter den vermehrten Anstrengungen. Eine ernste Betrübnis kam
-dazu. Onkel Konsul, der ihr immer mitunter einmal geschrieben hatte
-und auf dessen treue Teilnahme sie sich allezeit verlassen konnte, war
-plötzlich gestorben. Seine Hinterlassenschaft kam in die Hände eines
-entfernt wohnenden Neffen, zu welchem Martha gar keine Beziehungen
-hatte, und so war das letzte Band gelöst, das sie noch an B. knüpfte,
-und das sie so gern festgehalten hätte, schon um Siegfrieds willen: „Wo
-soll er mich nun suchen, wenn er wirklich wiederkommt?“</p>
-
-<p>Rösners, die Martha herzlich liebten, baten sie sich in den
-Sommerferien aus; sie sollte in Weißfeld frische Milch trinken,
-fleißig spazieren gehen und auf alle Weise gepflegt werden. Es schlug
-auch leidlich an; sie bewohnte Urgroßmutters Stübchen und fühlte sich
-ungemein wohl und geborgen darin.</p>
-
-<p>Pastor Frank kam jetzt unbefangen und schien wieder heiter zu sein,
-versank aber manchmal in tiefe Gedanken:<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> war ihm vielleicht auch jetzt
-klar, daß er sich in das Phantasiebild der Urgroßmutter verliebt hatte?
-O, es war ihm noch etwas anderes klar geworden, und dies versetzte
-Martha und Rösners in die größte Freude. Werners hatten versprochen,
-am nächsten Sonntag herauszukommen, und man rüstete freudig zu ihrem
-Empfange. Freitag war Pastor Frank zur Stadt gegangen und erst spät
-am Abend heimgekehrt. Sonnabend früh schickte er Martha einen Brief
-ihrer Freundin; sie öffnete ihn mit Spannung, fürchtete fast schon eine
-Absage, aber Suschen schrieb:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>„O Martha! liebe Martha! Du sollst es ja zuerst und bis morgen ganz
-allein erfahren, was sich heute begeben hat und was ich ganz und
-gar noch nicht begreifen kann. Denke Dir, ich bin seit einer Stunde
-Braut, <em class="gesperrt">seine</em> Braut! ach, und eine so glückliche! Ich wollte es
-ja erst gar nicht glauben, als Frank mir sagte, er habe mich lieb;
-aber zuletzt merkte ich es doch, und ich glaube es ja zu gern. Morgen
-früh nach der Vormittagskirche wird das Geheimnis enthüllt; bis dahin
-schweige wie ein Stummer! Ich kann es eigentlich gar nicht erwarten,
-bis Ihr Euch alle mit mir freut. Lobe den Herrn, meine Seele!</p>
-
-<p class="right mright2">Deine glückselige Suse.“</p>
-
-</div>
-
-<p>Leicht wurde es der Martha nicht, zu schweigen wie ein Stummer, und
-obgleich sie mit keinem Worte sich verriet,<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> wurde es doch Rösners an
-ihrem erregten, oft gedankenvollen, dann wieder freudigen Wesen klar,
-daß etwas Außergewöhnliches in der Luft sei, und besonders die jungen
-Mädchen kamen in ihren Vermutungen der Wirklichkeit ziemlich nahe. Die
-Erwarteten erschienen zeitig am Sonntagmorgen, Suschen im blendendsten
-Weiß. Vor dem Gottesdienste, den alle gemeinsam besuchten, blieb alles
-im gewöhnlichen Geleis. Pastor Frank predigte über den Spruch: „Danket
-dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“ Man
-merkte ihm an, daß der Dank sehr warm aus seinem Herzen kam, und als
-die Eltern nach der Kirche ihn und Suschen als Brautpaar vorstellten,
-wußten es alle, wofür er zu danken hatte, und der Jubel wollte gar kein
-Ende nehmen.</p>
-
-<p>Jetzt konnte der Bräutigam nicht lange verweilen, da er den
-Nachmittagsgottesdienst noch vor sich hatte; aber beim Abendbrot
-da ging es an ein Feiern und Gesundheittrinken! Besonders Suschens
-Geschwister wurden es gar nicht müde, „Hoch!“ zu rufen, und der
-Bräutigam sah durchaus nicht aus, als hätte er schmerzliche Erfahrungen
-begraben müssen, um zur Freude dieser Stunde zu kommen; die liebliche
-Braut aber strahlte.</p>
-
-<p>Als man nach Tische im duftenden Garten wanderte, sagte Suschen
-zu Martha: „Ich lasse es mir nicht ausreden<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> — das Spinnrad der
-Urgroßmutter hat mir Segen gebracht!“</p>
-
-<p>„Das ist möglich!“ bestätigte Frank vergnügt. „Gefallen hattest du mir
-sonst schon; aber daß du meine liebe Frau Pastorin werden möchtest,
-wünschte ich zum erstenmale, als ich dich hatte spinnen sehen.“</p>
-
-<p>„Siehst du, Mama“, rief Suschen, „das Spinnen ist doch gut!“</p>
-
-<p>„Das sollst du mir auch tüchtig weiter treiben, mein Suschen!“
-versicherte der Bräutigam.</p>
-
-<p>Diese sah ihn etwas zweifelhaft an: „Ob das möglich ist, wenn ich nun
-richtig was zu thun bekomme?“</p>
-
-<p>„Ja, ist denn das Spinnen nicht etwas Ordentliches? Warum spinnst du
-denn?“</p>
-
-<p>„Ei, aus Vergnügen und zum Andenken an die Urgroßmutter.“</p>
-
-<p>Die Mutter und Frau Rösner machten dem Pastor die Sache klar.</p>
-
-<p>„Also auch nur eine Phantasie!“ sagte er nachdenklich. „Nun gottlob!
-unsere Verlobung ist doch keine, und in Ehren halten können wir das
-alte Spinnrad immer, wenn du auch nicht viel darauf fertig bringst!“</p>
-
-<p>Als Werners abgereist waren, faßte Frau Rösner auf den Rat ihres
-Hausarztes den schnellen Entschluß, mit ihrer<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> jüngsten, etwas
-bleichsüchtigen Tochter Agnes noch einige Wochen nach einem kleinen
-Stahlbade zu gehen, und nahm Martha dahin mit.</p>
-
-<p>Lieblich gelegen zwischen waldigen Bergen sprudelten die stärkenden
-Quellen, köstlicher Tannenduft durchwehte den frischen Grund; das
-Wetter war herrlich, und die beiden Mädchen erblühten wie die Rosen
-und waren sehr vergnügt. Das männliche Geschlecht war in dem kleinen
-Bade nur spärlich vertreten; meistens sah man nur Mütter und Töchter
-hier wandern, und die schlank aufgeschossenen, jugendlichen Gestalten
-mit blassen Lippen waren weitaus in der Überzahl. Unser Kleeblatt
-hatte kein Verlangen nach weiterem Anschluß; es fühlte sich im Genusse
-der Natur und gegenseitiger Gesellschaft befriedigt. Die beiden
-Mädchen hatten die größte Freude daran, auf den kleinen Felspartieen
-umherzuklettern, Spireen und lilienartige Blüten zu sammeln, die
-dort in reicher Fülle wuchsen, um ihr Stübchen mit den zierlichen
-Waldkindern zu schmücken. Dann brachte ein leichter, zuweilen etwas
-gewagter Sprung sie wieder auf den Weg, und Frau Rösner sah ihren
-anmutigen, geschickten Bewegungen mit Wohlgefallen zu, bis eines
-Abends, da es etwas geregnet hatte, Martha an einer glatten Steinkante
-abglitt und sich den Fuß so verstauchte, daß der Arzt ihr für die erste
-Nacht Arnika-Umschläge und für einige Tage<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> völlige Ruhe verordnete. So
-kam es, daß sie am nächsten Nachmittage, als fast alle Gäste des Hauses
-ausgeflogen waren, einsam mit ihrer Arbeit unter der Veranda saß,
-während ihr kranker Fuß wohl umwickelt auf einem weichen Schemel ruhte.</p>
-
-<p>Nicht weit von ihr hatten sich zwei kleine Mädchen auf der Schwelle
-der Veranda niedergelassen, eifrig lesend über ein Buch gebeugt, und
-noch etwas entfernter lag ein leichenblasses Kind von etwa zehn Jahren
-in einem Fahrstuhl, neben einem Tischchen, auf dem Bilder, Bücher,
-Spielzeug aufgehäuft waren.</p>
-
-<p>Die Kleine schien sich nicht darum zu kümmern; mit einem unendlich
-verdrießlichen Ausdrucke auf dem elenden Gesichte blickte sie nach
-einer älteren Person, die wie eine Bonne oder Wärterin aussah und sich
-nicht weit von ihr in ein abgegriffenes Bibliothekbuch vertieft hatte.</p>
-
-<p>„Sie sollen jetzt herkommen, Katharine, und mit mir spielen!“</p>
-
-<p>„Ach, ich habe es heute satt; ich habe zwei Stunden mit Ihnen gespielt,
-und Sie wollen doch alle Viertelstunden etwas anderes.“</p>
-
-<p>Das kleine Ding sah sie wütend an: „Ich sage es Mama, wenn Sie mich
-nicht unterhalten!“</p>
-
-<p>„Das können Sie immerhin thun; ich habe ihr schon<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> gesagt, daß ich nur
-bis Michaelis bleibe, weil ich das Gequäle nicht aushalten kann.“</p>
-
-<p>Auf der Schwelle ging es auch eben nicht sehr friedlich zu: „Elli, du
-reißest mir ja das Buch fort!“</p>
-
-<p>„Ja, es gehört mir, Sophiechen, und ich will’s haben; ich kann sonst
-nichts sehen!“</p>
-
-<p>Bevor es sich Martha versah, entspann sich ein Streit, der an
-Heftigkeit zunahm und den begehrten Gegenstand aufs äußerste bedrohte.</p>
-
-<p>„Lest euch doch vor!“ riet Martha.</p>
-
-<p>„Das sollen wir nicht, weil wir öfter Halsschmerzen haben!“</p>
-
-<p>„Wenn ich euch aber nun vorlese?“</p>
-
-<p>Der Vorschlag fand Beifall.</p>
-
-<p>Martha öffnete das Buch von Johanna Spyri: ‚Was aus Gritlis Kindern
-geworden ist.‘ Sie begann, fühlte sich angezogen und las mit wachsendem
-Vergnügen.</p>
-
-<p>„Ach, Fräulein, Fräulein!“ rief die kleine Elende, „kommen Sie doch
-hierher!“</p>
-
-<p>„Das kann ich nicht, meines Fußes wegen; aber vielleicht ist deine
-Wärterin so freundlich, deinen Fahrstuhl zu uns zu bringen.“</p>
-
-<p>Es geschah. Die Kinder lauschten gespannt; nur zuweilen entspann sich
-eine ergötzliche Unterhaltung über die<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> Abenteuer der Doktorskinder,
-und nicht nur die Zuhörer bedauerten es, sondern auch Martha, als
-die Erscheinung einer sehr vornehm aussehenden Dame die Unterhaltung
-unterbrach.</p>
-
-<p>„Wie kommst du hierher, Fanny?“</p>
-
-<p>„Ach, Mama, es wurde hier so schön vorgelesen!“</p>
-
-<p>Die Dame sah Martha sehr scharf beobachtend an: „Darf ich vielleicht
-fragen, mit wem ich die Ehre habe?“</p>
-
-<p>Martha nannte ihren Namen und sagte, daß sie als Gast von Frau
-Amtsrätin Rösner und zu ihrer Erholung hier sei.</p>
-
-<p>Zwei Fräulein, wie Martha schon bei Tisch bemerkt, die Töchter der
-Dame, traten jetzt herzu; die eine in sehr gerader, vornehmer Haltung,
-die andere anmutig grüßend und dann liebevoll über ihr krankes
-Schwesterchen gebeugt, mit demselben plaudernd und kosend.</p>
-
-<p>Frau v. Märzfeld, der Name war Martha aus der Badeliste bekannt, ließ
-sich das Buch reichen; da sie sich zu überzeugen schien, daß es keinen
-gefahrdrohenden Inhalt hatte, gab sie es huldvoll zurück und verschwand
-mit einem Wink an die Töchter, sie zu begleiten.</p>
-
-<p>Am anderen Nachmittage waren Elli und Sophiechen mit ihren Eltern
-ausgefahren und Martha mit Fanny und ihrer Wärterin allein. Erstere
-konnte sich schon ein wenig<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> mehr bewegen und nahm absichtlich ihren
-Platz ganz dicht beim Fahrstuhl der Kleinen.</p>
-
-<p>„Wie schlecht“, sagte Fanny, „das Buch mitzunehmen!“</p>
-
-<p>„Aber Fanny, das ist doch nicht schlecht, das Buch gehört den Kindern!“</p>
-
-<p>„Sie können aber im Walde ohne Buch vergnügt sein, und ich langweile
-mich hier.“</p>
-
-<p>„Hast du denn schon all’ diese Bücher und Bilder besehen?“</p>
-
-<p>„Ach, die mag ich nicht!“</p>
-
-<p>„Vielleicht interessieren sie dich mehr, wenn du sie mir zeigst.“</p>
-
-<p>Es lag ein ganzes Heft mit Bildern aus B. obenauf. Martha kannte
-jedes Gebäude, wußte von jedem einzelnen etwas zu erzählen, was ihrer
-kleinen Zuhörerin Freude machte, bis diese ihr Leid vergaß und der
-unliebenswürdige Zug in ihrem Gesichtchen dem Ausdruck von Spannung,
-Interesse und Fröhlichkeit wich.</p>
-
-<p>Frau v. Märzfeld trat mit Frau Amtsrätin Rösner zugleich später in die
-Veranda; es erfolgte die gegenseitige Vorstellung und dann begann ein
-Gespräch, aus dem Frau v. Märzfeld Marthas Lebenslage und ihre Pläne
-erfuhr.</p>
-
-<p>Am anderen Morgen nach dem Bade bat sie Martha um eine Unterredung
-und schlug ihr vor, im Herbst als<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> Lehrerin bei Fanny einzutreten:
-„Der Arzt sagt mir heute, daß ich das Kind nach dem Süden bringen muß;
-ich denke mit ihr im Winter nach der Schweiz zu gehen und möchte eine
-Deutsche mitnehmen, die sie unterrichtet und sich ihrer Pflege widmet;
-und da Fanny Vertrauen zu Ihnen zu haben scheint, wäre es mir lieb,
-wenn Sie die Stelle annähmen. Sie müßten dann natürlich die leibliche
-Pflege des Kindes ganz mit übernehmen, denn zwei Personen kann ich
-nicht für sie halten!“</p>
-
-<p>Wie umfangreich die Pflichten sein würden, die sie hierdurch übernahm,
-konnte Martha natürlich jetzt noch nicht übersehen, aber es erschien
-ihr natürlich als eine Erleichterung, die unangenehme Wärterin los zu
-werden. Der Gedanke, die Schweiz zu besuchen, vielleicht den Genfer See
-mit seinen großartigen Umgebungen zu sehen, hatte für ihre jugendliche
-Phantasie viel Verlockendes; Fanny selbst schien große Freude an der
-Aussicht zu haben, und so versprach Martha, gleich nach der Heimkehr
-mit Werners zu reden und mit ihnen zu überlegen, ob es geraten sei, den
-Vorschlag anzunehmen.</p>
-
-<p>Suschen war betrübt: „Ich hoffte, du solltest bei uns bleiben bis zu
-meiner Hochzeit!“ Aber ihre Eltern, so gern sie Martha noch behalten
-hätten, fanden es doch verständig, auf die Sache einzugehen, die so
-ungesucht sich bot,<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> natürlich unter der Bedingung, daß erst das Examen
-gut vollendet sei.</p>
-
-<p>Dies geschah; es wurde trefflich bestanden. Vierzehn Tage hatte Martha
-danach noch in dem gastlichen Wernerschen Hause verlebt; morgen sollte
-sie nach M. reisen, um die neue Stelle anzutreten. Sie saß noch einmal
-mit allen Wernerschen Geschwistern nach Tische in der Hinterstube in
-wehmütigen Abschiedsgesprächen.</p>
-
-<p>„Den Ajax lasse ich Ihnen, Wilhelm! Sie haben ihn immer gern
-gehabt; du, Suschen, bekommst meine Vögel.“ Für die anderen hatte
-sie Blumenstöcke, Bücher, Bildchen. Die Nußbaumkommode kam in die
-Dachkammer zu den anderen Möbeln, um dort geborgen zu werden, bis ihre
-Besitzerin sie wieder gebrauchen konnte.</p>
-
-<p>Gegen Abend wanderte Martha an Suschens Arme hinaus zum Grabe der
-Mutter und weinte dort heiß und lange; beim Abschied von Berlin hatte
-sie die Mutter noch zur Seite gehabt; beim Abschied von dieser hatten
-Werners sie in ihre Arme genommen; zum erstenmale zog sie jetzt allein
-hinaus in eine unbekannte Fremde; das war sehr schwer, und es währte
-lange, bis durch die dunklen Wolken ihrer Trübsal das Verheißungswort
-wie ein klarer Stern schimmerte: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der
-Welt Ende.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span></p>
-
-<p>Die Kinder hielten indessen zuhause große Beratung: „Wir müssen doch
-heute Abend eine Abschiedsfeier halten. Es ist schade, daß Suse ganz
-bei Martha ist, die wüßte schon was!“</p>
-
-<p>„Wenn wir was sängen?“ sagte Luischen.</p>
-
-<p>„Ja, aber was?“</p>
-
-<p>Arthur stimmte an: „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein.“</p>
-
-<p>„Das geht nicht“, sagte Wilhelm, „wir werden schwerlich welchen
-bekommen heute Abend.“</p>
-
-<p>„So leb’ denn wohl, du altes Haus!“ riet Anna.</p>
-
-<p>„Na, dies noch“, rief Hans, „da könnte sie ja denken, sie wäre mit dem
-alten Hause gemeint.“</p>
-
-<p>„Morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen.“</p>
-
-<p>„Nein, das ist zu traurig. Hört“, sagte Wilhelm wichtig, „wir machen
-ein Lied! Ich fange jetzt an und jeder liefert eine Strophe:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Will sich Martha ewig von uns wenden —</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Nein, Wilhelm, das geht nicht! Das ist viel zu traurig; da weinen
-wir.“ Arthur begann:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Weil unsre Martha scheiden will,</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Will? Still?“</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">So stehet uns der Atem still.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-<p><span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span></p>
-<p>„Na, dir scheint der Verstand still zu stehen“, sagte Wilhelm
-brüderlich galant.</p>
-
-<p>„Nein“, rief Annchen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Weil unsre Martha scheiden will,</div>
- <div class="verse indent0">Ich sie mit Blumen kränzen will.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Ach, da ist zweimal ‚will‘, und du willst es ja auch nicht allein, wir
-wollen’s ja alle; das geht nicht!“</p>
-
-<p>„Nein, jetzt hab’ ich’s!“ rief Luischen; gleich ganz viel auf einmal.“</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Wir wollen dich gerne feiern</div>
- <div class="verse indent0">Mit Liedern und mit Leyern,</div>
- <div class="verse indent0">Und wissen doch nicht wie?</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Arthur fuhr fort:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Wir hatten dich so gerne,</div>
- <div class="verse indent0">Nun ziehst du in die Ferne,</div>
- <div class="verse indent0">Und kehrest wieder nie —</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Na, Arthur, sie wird doch ’mal wiederkommen?“</p>
-
-<p>Dieser zählte an den Fingern: „nie! sieh! Poesie! flieh! zieh! sie!
-hie! Das geht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Und wir, wir bleiben hie!</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Schön ist’s eigentlich nicht“, sagte Hans; „wir wollen’s aber stehen
-lassen, wir sind sonst nicht fertig, bis sie kommen.“</p>
-
-<p>„Nun muß aber noch was von Blumen hinein“,<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> sagte Luischen; „wir müssen
-sie zum Schlusse doch bekränzen.“</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Wir kränzen dich mit Blumen —</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Blumen? Blüten? Es will wieder nicht!“</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Komm, laß dich jetzt bekränzen</div>
- <div class="verse indent0">Mit Blumen, die da glänzen.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Ach was, das ist langweilig; jetzt so!“ rief Hans.</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Drum suchten wir im Garten</div>
- <div class="verse indent0">Blumen von allen Arten</div>
- <div class="verse indent0">Zu einem schönen Kranz.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>„Na, was reimt sich denn nun? Glanz — ganz — Schwanz?“</p>
-
-<p>„Nein, behüte! Schwanz!! Es geht ganz gut mit ganz.“</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Wir nehmen dich in die Mitten,</div>
- <div class="verse indent0">Bekränzen dich und bitten:</div>
- <div class="verse indent0">Vergiß uns nur nicht ganz!</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Sie waren sehr stolz auf ihr Machwerk, nur der Primaner schüttelte
-seinen Kopf; aber Arthur entschied: „Mitunter ist eine Silbe zu lang
-oder zu kurz, aber im ganzen ist es sehr schön. Das müssen wir singen!
-Wonach geht es denn?“</p>
-
-<p>„Ein bißchen nach ‚Ich hatt’ einen Kameraden‘, aber nicht ganz.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p>
-
-<p>Wilhelm überlegte: „Wir singen es nach der zweiten Hälfte von ‚Ich
-hatt’ einen Kameraden‘ und wiederholen das immerzu; da paßt es
-vorzüglich.“</p>
-
-<p>Als die Freundinnen nachhause kamen, war der Kranz gewunden, die
-Musikanten aufgestellt und die Musik begann; aber so wenig die Scene
-auf Rührung angelegt war, sie erinnerte Martha an die Empfangsmusik
-vor zwei und einem halben Jahre; sie konnte dem nicht wehren, daß ihre
-Augen feucht wurden, und dies steckte an.</p>
-
-<p>Der Direktor trat herein.</p>
-
-<p>„Na, Kinder, macht euch das Herz nicht schwer; mir thut es auch leid,
-daß meine Pflegetochter fortgeht; aber hoffentlich denkt sie daran, daß
-sie hier stets ein Elternhaus und Elternherzen finden kann, so lange
-wir leben, und da giebt es ja doch wohl manches Wiedersehen. Heute
-Abend gebe ich eine Flasche Wein zum besten, da trinken wir Marthas
-Gesundheit!“</p>
-
-<p>Großer Jubel!</p>
-
-<p>„Dann können wir wirklich singen: ‚Wohlauf noch getrunken den
-funkelnden Wein!‘“</p>
-
-<p>„Ja, das könnt ihr!“ versicherte der Vater.</p>
-
-<p>Martha fühlte in dem allen die Liebe, die ihr hier eine Heimat
-bereitet, und das machte ihr das Scheiden so schwer.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span></p>
-
-<p>Als sie mit Suschen abends allein in dem trauten Stübchen war, das so
-viele Herzensergüsse belauscht hatte, da flossen freilich reichliche
-Thränen; aber Martha konnte nicht anders als danken, immer wieder
-danken für allen Segen, der ihr unter diesem Dache widerfahren war.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_10">10.<br>
-Noch eine neue Schule.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Als der nächste Abend dämmerte, bemerkte Martha, die still und einsam
-in der Ecke eines Damencoupés saß, in der Ferne die Türme von M. So
-sehr sie des Fahrens durch die einförmige Gegend unter dem grauen
-Herbsthimmel müde war, fing doch ihr Herz jetzt an, sehr ängstlich zu
-klopfen, und sie hätte gern den Flug der Lokomotive aufgehalten. Wußte
-sie denn, was dort unter den Türmen ihr begegnen würde? Wußte sie, in
-welches Verhältnis sie treten sollte zu den ihr so wenig bekannten
-Menschen? Eine Ängstlichkeit, die ihr bis dahin fremd war, kam über
-sie; jetzt wurde gehemmt, die Lokomotive gab das Signal, der Zug hielt.
-Zögernd und zitternd stieg sie aus; dichtes Menschengewühl umwogte sie
-— und kein bekanntes Angesicht darunter!</p>
-
-<p>Frau v. Märzfeld hatte ihr geschrieben, in welchen Hotelwagen sie
-einsteigen sollte. Als sie sich demselben näherte,<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> trat ihr ein feiner
-Diener entgegen, fragte nach ihrem Namen und besorgte ihr Gepäck.</p>
-
-<p>In einer breiten, aber wenig lebhaften Straße hielt der Wagen vor
-einem großen, eleganten Hause. Der Bediente führte sie hinein und die
-erleuchtete Treppe hinauf in ein sehr sauber und nett eingerichtetes
-Stübchen.</p>
-
-<p>„Gnädige Frau lassen bitten, daß Sie es sich hier bequem machen.“</p>
-
-<p>Eine Dienerin kam und brachte Kaffee und feines Weißbrot. Martha war
-erquickungsbedürftig und nahm etwas weniges; aber es wurde ihr schwer,
-das wenige zu verzehren; sie fühlte sich gar so einsam und elend.</p>
-
-<p>Nach einer halben Stunde erschien der Diener aufs neue: „Gnädige Frau
-befehlen jetzt!“</p>
-
-<p>Martha folgte ihm. Sie hatte, nachdem Frau v. Märzfeld ihr den Antrag
-gemacht, Fannys Lehrerin zu werden, noch einige Tage mit den Damen
-zusammen in dem kleinen Badeorte verlebt; aber es erschien ihr in
-der Erinnerung, als sei sie dadurch denselben nicht näher, sondern
-ferner gekommen. Zwar die zweite Tochter Lucie hatte zuweilen recht
-freundliche Blicke und Worte mit ihr gewechselt, und manchmal war es
-Martha vorgekommen, als hielte irgendein unbekanntes Etwas dieselbe
-zurück, sich noch näher an sie anzuschließen; die ältere Tochter aber
-war vom Anfang<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> an sehr zurückhaltend gewesen, und Frau v. Märzfeld
-eigentlich unnahbar. So hatte es denn durchaus nicht den Anschein eines
-Wiedersehens zwischen Bekannten, als Martha jetzt mit beklommenem
-Herzen ins Empfangszimmer trat.</p>
-
-<p>Die gnädige Frau saß steif und gerade in der Ecke ihres Sofas und
-musterte die Eintretende durch ihr Augenglas; zu beiden Seiten hatten
-auf Plüschsesseln Judith und Lucie Platz genommen, feine Stickereien in
-der Hand.</p>
-
-<p>Lucie erhob sich unwillkürlich, um der Eintretenden entgegenzugehen;
-Frau v. Märzfeld legte ihre Hand auf den Arm ihrer Tochter: „Nicht so,
-mein Kind! Fräulein Feldwart wird sich zu uns setzen.“ Damit zeigte sie
-auf einen Sessel, und Martha fühlte sich genötigt, nach einer ebenfalls
-steifen Verbeugung darin Platz zu nehmen.</p>
-
-<p>Nach einigen Redensarten, Marthas Reise betreffend, schien die Mama
-einen großen Anlauf zum Reden zu nehmen. Lucie wollte entfliehen; ein
-Blick ihrer Mutter zwang sie, sich wieder zu setzen, und diese begann
-jetzt nach einem kleinen Anfall von Verlegenheitshusten: „Fräulein
-Feldwart, wir haben uns in der Freiheit des Badelebens kennen gelernt;
-wir waren dort vollständig gleichberechtigte Personen. Sie stehen
-wahrscheinlich auch in der Bildung meinen Töchtern ziemlich gleich;
-dies hat seine wohlthuenden, aber auch seine schwierigen Seiten, und
-ich sehe es bei Ihrem Eintritt<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> als meine erste Pflicht an, unsere
-gegenseitige Stellung ganz klarzulegen. Hätten wir unverweilt nach dem
-Süden gehen können, so hätte sich manches von selbst eingerichtet, oder
-wir hätten es nicht so genau zu nehmen brauchen. Unser Hausarzt wünscht
-aber, daß Fanny zuerst noch eine elektrische Kur gebrauchen soll, und
-ich habe hier so viel Geschäfte vorgefunden, daß wir vor dem Frühjahr
-schwerlich reisen können. Nun wollte ich Ihnen Folgendes sagen; nicht
-weil es mir Vergnügen macht, sondern weil ich es für nötig halte:
-Erwarten Sie als Fannys Lehrerin nicht, daß ich Sie meinen Töchtern
-gleichstellen und Sie zu unseren Zirkeln und unserer Geselligkeit
-heranziehen soll; dies paßt sich nicht. Sie werden stets die Stellung
-einer Untergebenen haben, und ich sage Ihnen das gleich, um Sie vor
-Täuschung zu bewahren. An unseren Mittags- und Abendmahlzeiten würde
-ich Sie gern teilnehmen lassen, wenn nicht Fanny durch ihre Schwäche
-genötigt wäre, im Kinderzimmer zu speisen; ich wünsche, daß Sie dies
-mit ihr gemeinsam thun und überhaupt das Kind so wenig als immer
-möglich verlassen. Was ihren Unterricht betrifft, so müssen Sie sehen,
-wo Sie anknüpfen und wie Sie durchkommen können; es versteht sich, daß
-das kranke Kind nicht angestrengt werden darf; aber so unwissend, wie
-sie jetzt ist, darf sie nicht bleiben.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p>
-
-<p>Martha hörte still zu; die Farbe auf ihrem Gesichte wechselte
-einigemal; sie bezwang sich aber, und die Ruhe und Bestimmtheit der
-Prinzipalin gab ihr den Mut, ebenso ruhig zu bitten, daß man ihr
-gestatten möge, vorausgesetzt, daß Fanny nicht kränker sei, sonntäglich
-einmal zur Kirche und täglich eine Stunde spazieren zu gehen, was der
-Arzt ihr zur Pflicht gemacht habe.</p>
-
-<p>Es wurde ihr bedingungsweise gewährt: „Wenn es gutes Wetter ist,
-wird Fanny jeden Tag ausgefahren; dann wünsche ich, daß Sie in ihrer
-Begleitung gehen. Jetzt wird Lucie Sie hinauf zu Fanny bringen; ich
-habe diese Unterredung in Gegenwart meiner Töchter geführt, damit sie
-meinen Willen wissen; meine zweite Tochter hat große Neigung, sich über
-die nötigen Formen hinwegzusetzen.“</p>
-
-<p>Martha verbeugte sich und folgte ihrer Führerin die Treppe hinauf in
-einem sonderbaren Zustande: nicht aufgebracht, nicht entrüstet, aber
-wie mit Wasser begossen und kühl bis ans Herz hinan.</p>
-
-<p>Vor Fannys Thür wandte sich Lucie um: „Wir können uns doch lieb haben,
-Fräulein Martha, ganz gewiß!“ sagte sie, und Martha glaubte Thränen
-in ihren Augen zu sehen. Sie war etwas verwundert über dies schnelle
-Entgegenkommen, es machte sie beinahe verlegen.</p>
-
-<p>„Ja, Fräulein Lucie, aber wir müssen durchaus die<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> Grenzen dabei
-festhalten, die Ihre Frau Mutter uns gesteckt hat; ich würde sonst ihr
-gegenüber in eine schiefe und unhaltbare Stellung kommen.“</p>
-
-<p>„Ach, und lieben Sie Fanny ein wenig; sie ist so unglücklich durch ihre
-Kränklichkeit!“</p>
-
-<p>„Gewiß will ich das!“ sagte Martha warm und trat über die Schwelle
-einer einfachen aber freundlichen Stube, hinter deren breitem Fenster,
-dessen Gardinen jetzt zugezogen waren, Fanny, von einer Hängelampe
-beleuchtet, in ihrem Rollstuhle lag.</p>
-
-<p>„Nun, guten Tag, liebe Fanny! Siehst du, hier bin ich; nun sage mir,
-wie es dir ergangen ist, seitdem wir uns zuletzt gesehen haben!“</p>
-
-<p>„Schlecht“, sagte sie, aber sie reichte Martha die Hand.</p>
-
-<p>„Wie so, schlecht? Hattest du vermehrte Schmerzen?“</p>
-
-<p>„Manchmal auch; aber das Elektrisieren ist so schrecklich, und
-Katharine war die ganze Zeit so schlimm zu mir, und das Hausmädchen
-thut mir immer so weh, wenn sie mich ankleidet!“</p>
-
-<p>„Vielleicht kann ich das lernen!“ sagte Martha freundlich.</p>
-
-<p>Es klingelte jetzt, und Lucie wußte, daß dies für sie das Signal sei,
-das Schwesterchen zu verlassen. Sie umarmte Fanny etwas stürmisch zum
-Abschied; das blasse Gesichtchen verzog sich schmerzlich.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span></p>
-
-<p>„Lucie ist gut zu mir“, sagte sie, sobald dieselbe das Zimmer verlassen
-hatte, „aber sie denkt nicht daran, wo es mir weh thut. Sie kann auch
-wenig bei mir sein; sie muß sich noch so viel üben im Singen und
-Zeichnen und muß auch viel in Gesellschaft gehen; Mama sagt, das sei
-für ein Fräulein nötig.“</p>
-
-<p>„Was thatest du denn heute Nachmittag?“</p>
-
-<p>„Was sollte ich thun? Ich sah in die Wolken; die bekommen immer
-andere Gestalten; man kann sich Riesen, Ritter und Drachen darunter
-vorstellen, die führen Krieg, laufen hintereinander her und fressen
-sich auf; das ist so unterhaltend!“</p>
-
-<p>„Kannst du nicht etwas lesen?“</p>
-
-<p>„O, lesen kann ich gut; als ich gesund war, hatte ich Stunde. Aber es
-ist in den Büchern immer so vieles, das ich nicht verstehe, und es ist
-niemand da, der mir ordentlich antwortet, wenn ich frage, als höchstens
-manchmal Judith; aber sie hat sehr wenig Zeit.“</p>
-
-<p>„Wie lange bist du denn so krank?“</p>
-
-<p>„Ich glaube, seit zwei Jahren; da war ich einmal, heiß vom Spielen, ins
-Wasser gefallen. Der Gärtner holte mich wieder heraus, aber ich wurde
-nie mehr gesund; ist das nicht schändlich?“</p>
-
-<p>„Schmerzlich, Fanny, oder betrübt! Siehst du, was<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> uns der liebe Vater
-im Himmel schickt, das kann wohl schwer und bitter für uns sein, aber
-schändlich gewiß nicht!“</p>
-
-<p>„Das verstehe ich nicht, du sprichst ganz wie Margaretchen!“</p>
-
-<p>„Wer ist Margaretchen?“</p>
-
-<p>„Ach, die alte Näherin, die manchmal kommt; sie sitzt dann dort in der
-Nebenstube und speist mit mir! Die sagt auch, Gott habe mich lieb! Aber
-warum läßt er mich denn krank werden?“</p>
-
-<p>„Das wirst du auch noch einmal erfahren, Fanny! Jetzt können wir das
-noch nicht wissen!“</p>
-
-<p>Das Mädchen kam jetzt, deckte den Tisch und setzte Thee und kalte
-Speisen auf.</p>
-
-<p>„Werden Sie hier essen?“ fragte Fanny gespannt.</p>
-
-<p>Martha nickte.</p>
-
-<p>„Das ist schön! Katharine ging dann immer hinüber in die Gesindestube
-und kam nicht eher wieder, bis der Thee ganz kalt war.“</p>
-
-<p>Martha betrachtete sich die Sache: „Ich werde deinen Rollstuhl dicht
-an den Tisch heranbringen, das ist gemütlicher für uns beide. Du sagst
-mir jetzt, wie du die Butterbrötchen am liebsten hast, so richte ich
-sie dir ein. Meinst du nicht, daß so ein weiches Ei und etwas roher
-Schinken dir wohlthun würde? Siehst du, ich bin hungrig von der<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> Reise,
-mir wird es auch schmecken. Aber erst wollen wir beten.“</p>
-
-<p>„Beten?“ fragte das Kind verwundert.</p>
-
-<p>„Ei, wir müssen uns doch beim lieben Gott bedanken für alle die guten
-Gaben, und müssen ihn bitten, daß er uns ferner nicht verläßt!“</p>
-
-<p>Fanny nickte ernsthaft.</p>
-
-<p>Martha sprach einfach: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und
-seine Güte währet ewiglich!“ Dann begann das Souper.</p>
-
-<p>Die Kleine hatte keinen frischen Appetit; Martha mußte ihr zureden, ein
-wenig zu nehmen; aber das half zuweilen.</p>
-
-<p>Man hörte jetzt Räder rollen und verschiedene Kutschen vor dem Hause
-anfahren; es wurde unruhig unter ihnen.</p>
-
-<p>„Mama hat heute Gesellschaft; ich schlafe auch nicht eher, bis Lucie
-mir Eis und Konfekt heraufgebracht hat; das thut sie jedesmal!“</p>
-
-<p>Martha zweifelte, ob es weise sei, dem kränklichen Kinde, das kein
-Verlangen nach einfacher, nützlicher Nahrung hatte, Dinge zu bringen,
-die ihr den Magen noch mehr verderben mußten; aber für heute mußte sie
-sich ja noch aller Eingriffe enthalten. Sie bat nur: „Lege dich immer
-einstweilen nieder, Fanny. Du ruhst besser, und ich bleibe hier neben
-deinem Bette!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span></p>
-
-<p>Das Hausmädchen kam jetzt und Martha ließ sich das Nachtzeug des Kindes
-bringen.</p>
-
-<p>„Ich will sie heute einmal selbst auskleiden!“ sagte sie. Ihre leichte,
-geschickte Hand bewährte sich auch hier; Fanny jammerte wenig und
-erklärte sich zufrieden mit ihrem Beistande.</p>
-
-<p>„Bleiben Sie auch die Nacht über hier?“</p>
-
-<p>„Ich weiß noch nicht Bescheid im Hause; aber ich glaube, mein hübsches
-Zimmerchen muß ganz in der Nähe sein!“</p>
-
-<p>„Vielleicht ist es nebenan, Fräulein Feldwart? O bitte, öffnen Sie
-einmal die Thür und sehen Sie zu, ob es so ist!“</p>
-
-<p>Es war so! zu Fannys großem Jubel!</p>
-
-<p>„O nicht wahr, Sie lassen die Thür ein klein, klein wenig offen?
-Katharine schläft zwar hier in der kleinen Kammer und giebt mir, was
-ich gebrauche; aber es wäre zu schön, Sie so nahe zu haben!“</p>
-
-<p>Martha versprach dies gerne. Nichts hätte sie am heutigen Abend so sehr
-trösten können, als die Überzeugung, daß sie der kleinen Kranken lieb
-und nötig sei, und sie bat Gott innig, er möge ihr Kraft geben, dem
-Kinde in der rechten Weise beizustehen.</p>
-
-<p>Jetzt rauschte es auf der Treppe, und in einem schweren,<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> dunkelblauen
-Seidenkleide, äußerst passend und geschmackvoll angethan, erschien Frau
-v. Märzfeld, um ihrer Kleinsten „gute Nacht“ zu sagen. Sie war wirklich
-eine auffallend stattliche Erscheinung, besonders fand Martha dies, als
-sie sich mit zärtlichem Mitleid über das kranke Kind beugte. Sie sah
-freundlich auf Martha, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war, um der
-Mutter Platz zu machen.</p>
-
-<p>„Nun, haben Sie sich schon ein wenig zusammen befreundet?“</p>
-
-<p>„Ich denke, gnädige Frau, und ich hoffe, wir werden es mit jedem Tage
-mehr thun.“</p>
-
-<p>„Das würde mir ganz außerordentlich lieb sein; dies kleine Wesen kann
-Licht und Hitze und Geräusch nur wenig ertragen, und doch ist es meine
-Pflicht, um ihrer Schwestern willen in der Gesellschaft zu leben. Es
-wäre mir eine große Beruhigung, sie nicht verlassen zu wissen. Aber
-plaudern sie nicht zu lange mit ihr, nach zehn Uhr muß sie schlafen.“</p>
-
-<p>„O Mama, heut’ ein wenig nach zehn; Lucie bringt mir erst noch Eis!“</p>
-
-<p>„Meinetwegen!“ sagte die Mutter freundlich, indem sie die Kleine zum
-Abschied küßte. „Fräulein Feldwart, Sie stehen mir dafür, daß es nicht
-zu lange wird!“</p>
-
-<p>Martha versprach es.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p>
-
-<p>„Bitte, erzählen Sie mir etwas“, bat Fanny, als sie allein waren.</p>
-
-<p>„Hat dir jemand schon aus der biblischen Geschichte erzählt?“</p>
-
-<p>„Jetzt lange nicht, früher wohl; ich glaube, Katharine wußte nichts
-davon.“</p>
-
-<p>„Weißt du, wer Jakob war?“</p>
-
-<p>„Ein wenig; ich glaube, er vertrug sich nicht mit seinem Bruder Esau.“</p>
-
-<p>Martha erzählte von Jakob; seinen Ausgang aus dem Vaterhause; seine
-Angst vor seinem Bruder, den er um sein Erstgeburtsrecht gebracht; wie
-er sich am Abend niederlegte auf einen Stein mit seinem Kopf, und ihm
-dann im Traume die Himmelsleiter erschien, an der die Engel hinauf- und
-herabstiegen.</p>
-
-<p>„O, das muß schön gewesen sein!“ sagte Fanny. „Giebt’s jetzt auch noch
-Engel?“</p>
-
-<p>„Freilich! Christus sagt von den Kindern: ‚Ihre Engel sehen allezeit
-das Angesicht meines himmlischen Vaters.‘“</p>
-
-<p>„Hab’ ich auch einen?“</p>
-
-<p>„Gewiß, Fanny, hast du deinen Engel, der an deinem Bette wacht, wenn du
-schläfst, und dich behütet, wenn du in deinem Rollstuhl liegst.“</p>
-
-<p>„Kann er mich auch gesund machen?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p>
-
-<p>„Er wohl nicht; aber der Vater im Himmel, der den Engel sendet, und
-wenn es dir gut ist, thut er es gewiß; wir dürfen ihn alle Tage darum
-bitten.“</p>
-
-<p>„Ach, das wollen wir thun!“</p>
-
-<p>Das Gespräch wurde jetzt unterbrochen; von unten herauf drang nicht
-mehr das Gemurmel sprechender Stimmen, sondern silberklare Töne eines
-sehr schönen Flügels; es ertönte eine Sonate von Beethoven, dies konnte
-man deutlich unterscheiden, obgleich von den feineren Tönen natürlich
-viel verschwand.</p>
-
-<p>„Sie hören gern Musik?“ fragte Fanny.</p>
-
-<p>„Sehr gern!“</p>
-
-<p>„Ich sah es Ihnen an; Sie verstehen auch, was die Töne miteinander
-sprechen.“</p>
-
-<p>„Verstehst du das auch, Fanny?“</p>
-
-<p>„Natürlich; es ist eine andere Sprache als die, in der wir uns
-unterhalten; aber man fühlt ganz deutlich im Herzen, wie es gemeint
-ist.“</p>
-
-<p>Jetzt wurde präludiert; eine sehr frische, jugendliche Stimme sang
-reizende Lieder von Franz und Schumann; beide Zuhörerinnen lauschten.</p>
-
-<p>„O, das ist schön!“ rief Martha.</p>
-
-<p>„Geben Sie acht, wenn Judith singt, ist es noch schöner; das war
-Lucie!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p>
-
-<p>Ja! Jetzt ertönte es unten: „Leise, leise, fromme Weise, Schwing dich
-auf zum Sternenkreise etc.“ Welche edlen, vollen, weichen Töne, welche
-vollendete Auffassung! Sie hätte kaum der stolz erscheinenden Judith
-solchen Gesang zugetraut; das kam aus dem Innersten — daran war nicht
-zu zweifeln! Es war eine solche Wärme im Vortrag, daß Martha mit
-Entzücken zuhörte. Es war ihr sonderbar zumute; sie war zu lange und zu
-gern in der großen Geselligkeit zuhause gewesen, um nicht das Gefühl
-zu haben, daß sie dort unten ganz an ihrem Platze sein würde und ihre
-frische Singstimme wohl auch zur allgemeinen Freude erschallen lassen
-könne.</p>
-
-<p>„Wären Sie gern unten?“ fragte Fanny.</p>
-
-<p>Martha fuhr aus ihrem Traume empor, dem sie einige Minuten nachgehangen
-hatte: „Ich bin auch gern hier bei dir, Fanny!“</p>
-
-<p>„Ja, und Sie sind auch noch viel besser dran als ich; Sie haben doch
-Beine und könnten hinuntergehen, und würde Ihnen auch nicht gleich
-schlecht von all dem Lärm.“</p>
-
-<p>Man hörte jetzt unten vermehrte Bewegung.</p>
-
-<p>„Jetzt geht es zu Tische“, sagte die Kleine; „nun dauert es nicht mehr
-sehr lange, bis Lucie kommt mit dem Eis.“</p>
-
-<p>Nach einer kleinen Stunde erschien diese auch wirklich<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> mit einem
-ganzen Präsentierteller voll der süßen Herrlichkeiten.</p>
-
-<p>„Ihr müßt jetzt beide schmausen; das sind ganz unschädliche Sachen, und
-ich bleibe so lange hier und sehe euch zu.“</p>
-
-<p>Martha sah mit großer Sorge die großen, süßen Vorräte: „Wird es auch
-Fanny nicht schaden, wenn Sie dies alles heute Abend verzehrt?“</p>
-
-<p>„O, was soll ihr das schaden?“ rief Lucie; „sie ist ja doch nur von
-Erkältung krank!“</p>
-
-<p>„Aber wir könnten ein wenig aufheben auf morgen“, begann Martha aufs
-neue.</p>
-
-<p>Lucie lachte: „Sie wissen nicht, was dies für ein kleiner Naschvogel
-ist!“</p>
-
-<p>Martha wurde überstimmt; erst, als alles aufgezehrt und Lucie zu ihrer
-Gesellschaft zurückgekehrt war, machte Fanny Anstalt, einzuschlafen.</p>
-
-<p>Martha sprach über sie mit gefalteten Händen den Vers:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Breit aus die Flügel beide,</div>
- <div class="verse indent0">O Jesu, meine Freude,</div>
- <div class="verse indent0">und nimm dein Küchlein ein.</div>
- <div class="verse indent0">Will Satan mich verschlingen,</div>
- <div class="verse indent0">So laß die Englein singen:</div>
- <div class="verse indent0">Dies Kind soll unverletzet sein!</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-<p><span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span></p>
-<p>Fanny sah sie anfangs verwundert an, dann legte es sich wie Frieden
-über ihre unruhigen Züge.</p>
-
-<p>„Ja“, sagte sie beim Schluß, „jetzt will ich schlafen; ich sehe sie
-hinauf- und heruntersteigen, und sie singen schon.“</p>
-
-<p>Martha ging nun in ihr Stübchen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
-Es war ihr noch nicht klar, wie es hier weiter gehen würde; sie sah
-manches Schwierigkeit, manche Demütigung für ihre stolze Natur auf
-ihrem Wege liegen; aber sie empfand es als ein großes Glück, daß Fanny
-sichtlich ihr vertraute; und des Kindes Herz mehr und mehr zu gewinnen,
-ihr hartes Los zu erleichtern, ihr eine Freundin zu werden, das war
-eine Aufgabe, die wohl geeignet war, sie mit ihrer Lage auszusöhnen,
-und als sie endlich ermüdet ihr Lager suchte, war ihre Zuversicht so
-stark, daß Gottes Schutz und Obhut über ihrem Haupte sei, daß sie mit
-dem Kinde hätte sagen mögen: „Ich höre es, die Engel singen schon!“</p>
-
-<p>Am anderen Morgen brachte denn nun freilich das neue Tagewerk
-Schwierigkeiten genug. Zuerst wurde sie von ihrer Morgenandacht
-aufgeschreckt durch Fannys Jammergeschrei, die sich vom Mädchen
-ankleiden lassen sollte. Sie schien große Schmerzen dabei zu haben, und
-Martha eilte hinüber, um zu sehen, ob sie ihr nicht eine Erleichterung
-gewähren<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> könne. Sie versuchte dem Mädchen Anleitung zu geben, die
-schmerzenden Glieder nach Möglichkeit zu schonen; diese gab sich auch
-die erdenklichste Mühe, aber vergebens; Fanny schrie weiter. Sobald
-Martha Hand anlegte, beruhigte sie sich sofort, und obwohl es unschwer
-zu durchschauen war, daß neben den Schmerzen ein nicht geringes Maß
-von Eigensinn der Grund des Jammers sei, blieb doch für Martha keine
-Wahl: sie schickte das Mädchen fort und suchte allein fertig zu werden.
-„Heute muß ich den Eigensinn ignorieren“, dachte sie; „bleibt es so,
-dann muß er natürlich bekämpft werden; aber wie?“</p>
-
-<p>Sie war jetzt erst 21 Jahre alt. So wechselvoll und zum Teil so schwer
-ihr Leben bis dahin gewesen war, so hatte sie doch bis gestern stets
-unter der liebevollsten Obhut gestanden; jetzt sollte sie auf eigenen
-Füßen stehen unter recht schwierigen Verhältnissen. Hätte Frau v.
-Märzfeld sie an sich herangezogen, hätte sie ihr mit Rat und That
-beigestanden, so wäre ihre Aufgabe leichter zu lösen gewesen; wie die
-Sachen jetzt lagen, konnte sie sich nur auf Gottes Hilfe verlassen.</p>
-
-<p>Gleich nach dem Frühstück kam Judith in sehr sauberem, elegantem
-Morgenanzuge, um zu fragen, wie ihr Schwesterlein geschlafen habe, und
-brachte einen sehr fein gebundenen Blumenstrauß mit. Fanny klagte, sie
-habe viel geträumt,<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> Martha mußte bestätigen, daß sie recht unruhig
-gelegen und oft im Traume geseufzt habe.</p>
-
-<p>„Das haben Sie durch die Thür hören können, Fräulein Feldwart?“</p>
-
-<p>„O nein“, antwortete Martha, „ich ließ dieselbe ein wenig zwischen uns
-offen.“</p>
-
-<p>„Hast du das gewünscht, Fanny?“</p>
-
-<p>Fanny nickte.</p>
-
-<p>Judith dachte ein wenig nach: „Das geht durchaus nicht; wenn Fräulein
-Feldwart den ganzen Tag über bei dir sein soll, muß sie in der Nacht
-völlige Ruhe haben; hörst du, Fanny?“</p>
-
-<p>Martha bat: „Ich bin jung und gesund und würde doch nach Fanny
-hinhören, wenn auch die Thür zwischen uns geschlossen wäre! Vielleicht
-schläft auch mein armer, kleiner Zögling ruhiger, wenn sie diesen Abend
-nicht so viel Zuckerwerk und Eis bekömmt.“</p>
-
-<p>„Also doch wieder!“ sagte Judith nachdenklich und ging nach einer
-kleinen Weile.</p>
-
-<p>Fanny war verdrießlich: „Sie sind gerade so streng wie Judith, die will
-mir auch immer kein Zuckerwerk geben!“</p>
-
-<p>„Ja, Fanny, weil wir beide wünschen, du mögest bald gesund werden; da
-möchten wir dir nichts geben, was dir schaden kann.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p>
-
-<p>Zunächst kam es nun für Martha darauf an, zu ergründen, wie weit
-Fanny auf den verschiedenen Gebieten des Wissens gekommen war; sie
-machte natürlich sehr unbefriedigende Entdeckungen. Lesen konnte sie,
-schreiben wegen ihrer schmerzenden Glieder nur sehr mangelhaft. Das
-Rechnen schien ihr ganz fremd und obendrein sehr zuwider zu sein;
-auch vor der Geographie mit ihren vielen Namen und Zahlen empfand sie
-große Scheu, und sowohl aus der weltlichen als biblischen Geschichte
-hatte sie nur einzelne Episoden behalten, welche das Gefühl und die
-Phantasie in besonderer Weise in Anspruch nahmen. Diese faßte sie, wie
-neulich die Geschichte von der Jakobsleiter, mit großer Lebendigkeit
-und Innigkeit auf; aber alles, was sich nur an den Verstand wendete
-und eigentliche Arbeit und Anstrengung erforderte, wies sie beharrlich
-zurück. Wäre ihr Leiden von der Art gewesen, daß man ein frühes Ende
-hätte befürchten müssen, so würde Martha gedacht haben: „Fliege du,
-fliege du bis in den Himmel hinein!“ denn Martha flog selbst gern. Aber
-abgesehen davon, daß ihr eigenes Herz nur schwer den Gedanken hätte
-fassen können, die junge Blüte unrettbar dahinwelken zu sehen, sprach
-auch der Arzt die sichere Hoffnung aus, sie werde das Leiden in einigen
-Jahren überwinden. „Dann“, sagte Martha, „darf sie nicht nur fliegen,
-dann muß sie auch gehen lernen“, und sie versuchte<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> auf jede mögliche
-Weise, sie nach und nach an eine geregelte Thätigkeit zu gewöhnen.
-Methodisch, wie sie es gelernt und wie es in vollen Schulklassen
-meist so trefflich fördert, durfte sie hier nicht vorgehen. Hatte sie
-Fanny mit unsagbarer Mühe dahin gebracht, aufmerksam zuzuhören und
-vier bis sechs Fragen zu beantworten, so erklärte dieselbe dann aufs
-bestimmteste: „Ich kann nicht mehr, mein Kopf thut mir weh“, und war
-weder mit Güte noch mit Ernst auch nur einen Schritt weiterzubringen.</p>
-
-<p>Martha mußte förmlich auf neue Wege studieren. Sie fing an, Fanny im
-Gespräch für einen Gegenstand zu interessieren und suchte auf diese
-Weise die Begierde in ihr zu wecken, mehr von demselben zu erfahren.
-Sie benutzte ihre Ausgänge, um in den Buchhandlungen nach Reise-
-oder Lebensbeschreibungen zu suchen, welche für das kindliche Alter
-geeignet waren, aber auch hier ermüdete die schwache und verwöhnte
-Schülerin schnell. Martha fand bald, daß es besser ging, wenn sie
-sich über ein Land, ein Volk, eine Episode aus der Geschichte so viel
-als möglich Kenntnisse aneignete oder vergegenwärtigte und dieselben
-ihrer Schülerin dann frei und in möglichst angenehmer Form vortrug.
-Es war nicht zu leugnen, daß die junge Lehrerin auf diese Weise
-eine höhere Stufe erstieg; es kostete aber viel Zeit und Kraft, und
-inbezug auf Fannys eigene Anstrengungen<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> war wenig gewonnen. Oft
-dachte Martha: „Wenn man doch nur die Grenze genau sehen könnte, wo
-das ‚Ich kann nicht!‘ in das ‚Ich will nicht!‘ übergeht!“ Der treue
-Hausarzt selbst war in dieser Beziehung unsicher; es ist schon bei
-erwachsenen Nervenkranken nicht leicht, die Grenze zu finden, wo man
-ihnen nachgeben und wo man ihnen widerstehen oder sie zu kräftigen und
-zu stärken suchen muß. Martha kam darin zu keiner rechten Klarheit; daß
-sie selbst jung, gesund und lebhaft war, riß die Kleine mitunter zu
-Anstrengungen fort, die ihr wohl bekamen, aber eine gründlichere Hilfe
-kam zuletzt auf eine andere Weise.</p>
-
-<p>Fanny hatte für religiöse Eindrücke, wie schon gesagt, ein
-empfängliches Gemüt; aber als ihre Lehrerin in der Religionsstunde
-den gewöhnlichen Weg einschlagen wollte, zuerst die zehn Gebote mit
-allen Erklärungen durchzunehmen, stieß sie wieder auf entschiedenen
-Widerstand: „Das kann ich nicht! das ist zu schwer!“ Die nahe
-Adventszeit richtete von selbst den Blick auf das Kommen des Heilandes;
-Martha nahm in den Frühstunden alle Verheißungen auf Christi
-Erscheinung, seine Geburt, sein Leben, seine Wunder, sein Leiden,
-Sterben und Auferstehen durch; und hier war nichts, was Fanny nicht
-mit ganzem Herzen erfaßt hätte; von hier aus war es leicht, Licht auf
-alle bis dahin dunklen Gebiete fallen zu lassen; eine neue Welt ging
-für Fanny auf, eine<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> Welt der Liebe und des Friedens, die ihr bisher
-verborgen geblieben war, die ihr liebliches Licht hineinsandte in ihr
-Leiden und in ihr Herz und alle Bitterkeit daraus vertrieb. Mit ihrer
-Liebe zu dem Quell aller Liebe wuchs auch ihre Liebe für Martha, die
-ihr das neue Leben erschlossen hatte, und an die Stelle des bisherigen
-Widerstrebens trat das Verlangen, in allen Stücken zu thun, was diese
-wünschte, und obgleich leibliche Schwäche und große Verwöhnung ihr dies
-schwer machten, war es doch deutlich zu sehen, daß sie allmählich etwas
-vorwärts kam. Martha freute sich innig, daß ihre Thätigkeit sichtlich
-mit Erfolg gekrönt wurde; aber dieselbe forderte ein Aufbieten all
-ihrer Kräfte, und sie sehnte sich oft nach einer Ausspannung und
-Erquickung für ihr eigenes Herz.</p>
-
-<p>Die beiden älteren Töchter des Hauses fingen je mehr und mehr an,
-ihr Interesse zu erregen. Lucie war stets anmutig und freundlich,
-wenn sie ins Krankenzimmer kam; ja sie hatte anfangs ganz herzliche
-Anwandlungen! aber wenn ihr Martha mit sanfter Bitte entgegentrat, so
-oft sie das Schwesterchen mit Leckereien überschütten wollte, wurde
-sie verstimmt und verstimmte Fanny mit. Erst als einmal der Hausarzt
-sich ganz streng gegen solche Diät ausgesprochen hatte, unterblieben
-die Versuche dazu, und Martha wußte, daß sein Verbot durch Judith
-veranlaßt war, die ihre Sorge<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> teilte. Judith behielt ihr ernstes,
-zurückhaltendes Wesen, sowohl dem Schwesterchen als Martha gegenüber,
-lange Zeit unverändert bei; aber wenn Martha es wagte, ihr Vorschläge
-zu machen, wie Fannys Lage in Wahrheit zu erleichtern sei, war dies nie
-vergebens; Judith dachte darüber nach und suchte zustande zu bringen,
-was Martha wünschte.</p>
-
-<p>Der Gärtner hatte bis jetzt jede Woche andere blühende Gewächse
-gebracht und die abgeblühten mit zurückgenommen, und Martha hatte
-mit Betrübnis gesehen, daß Fanny von ihrem reizenden Blumenfenster
-nur sehr wenig Freude hatte. Judith war eine große Blumenliebhaberin
-und betrübte sich über Fannys Gleichgültigleit ebenfalls. Als sie
-dies eines Morgens aussprach, sagte Martha: „Ich glaube, Fräulein
-Judith, Fanny würde viel größere Freude haben, wenn sie die Pflanzen
-pflegen und gedeihen sehen könnte und wenn sie selbst etwas zur Blüte
-brächte!“ Gleich am anderen Morgen erschien Judith in Gesellschaft
-eines Gärtnerburschen und brachte die verschiedensten jungen Pflänzchen
-mit; sie hatte sich beim Gärtner sehr sorgsam erkundigt, wie jedes
-zu behandeln sei, und weihte das Schwesterchen in das Geheimnis ein,
-indem sie ihr anschaulich schilderte, wie die Blüte und die weitere
-Entwickelung sein werde. Nun gab es jeden Morgen eine halbe Stunde
-der Thätigkeit und gespannten Aufmerksamkeit; die Pflänzchen wuchsen
-natürlich<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> dem ungeduldigen Kinde lange nicht schnell genug; aber jedes
-neu hervorsprießende Blatt, jede Knospe und aufbrechende Blüte erregte
-Jubel.</p>
-
-<p>Martha sah Lucie fast nur in Gegenwart ihrer Mutter, und wenn sie
-heruntergeholt wurde, den Gesang der Schwestern zu begleiten; Frau v.
-Märzfeld wußte sie dann aber unter irgendeinem Vorwande sofort wieder
-zu entfernen. Auf Fannys Bitte hatte Martha dieser das Mozartsche
-„Veilchen“ und einige von den reizenden Taubertschen Kinderliedern
-vorgesungen, als Frau v. Märzfeld in das Zimmer trat.</p>
-
-<p>„Ich wußte nicht, daß Sie singen!“ sagte sie.</p>
-
-<p>„Ich sprach nicht davon, weil ich nur ein einziges Jahr Stunden hatte
-und abbrechen mußte, bevor der Unterricht irgendwie beendet war.“</p>
-
-<p>„Ich höre wenigstens, daß Sie sicher sind, und Sie sollen uns heute
-Abend aus einer großen Verlegenheit helfen. Judith ist leider heiser
-geworden; wir hatten für sie auf ein Duett und die erste Stimme eines
-Quartetts gerechnet; ich bitte, daß Sie ihre Stelle vertreten.“</p>
-
-<p>„Das thue ich gern“, sagte Martha; „nur möchte ich beides noch einmal
-durchsingen, und dann“ — setzte sie fast verlegen hinzu — „habe ich
-kaum ein Kleid, in solcher Gesellschaft zu erscheinen.“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span></p>
-
-<p>„Das wird niemand von Ihnen verlangen, indem Sie ja nicht als Glied der
-Gesellschaft kommen, sondern als die Lehrerin meines Kindes, die uns
-eine Gefälligkeit erweist.“</p>
-
-<p>Martha fühlte wieder den Sturz kalten Wassers, aber sie beherrschte
-sich. Sie hatte mit Lucie das Lied zu singen: „O, säh’ ich auf der
-Heide dort im Sturme dich etc.“ Beide durften es bei Fanny probieren und
-diese war entzückt davon: „Ich möchte sehen, wie sich alle über euch
-freuen.“</p>
-
-<p>Erst als sie gerufen wurde, und zwar sehr sauber, aber sehr einfach
-gekleidet, trat Martha in die Gesellschaft ein. Frau v. Märzfeld
-stellte sie vor: „Die Gouvernante meiner Fanny!“ Ihr wurde niemand
-vorgestellt. Ein junger Mann saß am Flügel, bereit, sie zu begleiten.
-Die ersten Töne, welche Martha sang, zitterten ein wenig; aber dann
-riß die Musik sie mit sich fort, und ihre weiche, biegsame Stimme
-entfaltete all’ ihre Fülle und Macht. Beifall erklang von allen Seiten,
-und als auch das Quartett zur höchsten Zufriedenheit beendet war, trat
-ein vornehm aussehender junger Herr zu Martha und fragte: „Wo hatten
-Sie Singstunde, mein Fräulein?“</p>
-
-<p>„In B., aber nur kurze Zeit.“</p>
-
-<p>„Man merkt das nicht; Sie singen allerdings mit mehr Freiheit, als eine
-junge Dame, die sich noch mitten im<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> Lernen befindet, aber durchaus
-nicht, als wären Sie mit der Schule nicht fertig geworden.“</p>
-
-<p>Der Herr schien einiges von der Musik zu verstehen; sie kamen auf ihre
-Lieblingskomponisten, und da er ernst und gehaltvoll sprach, antwortete
-ihm Martha gern und freute sich der lebhaften Unterhaltung.</p>
-
-<p>Frau v. Märzfeld rauschte heran: „Graf T., vielleicht helfen Sie mir
-etwas, die Plätze zu arrangieren. Fräulein Feldwart, Ihre Schülerin
-wird nach Ihnen verlangen.“</p>
-
-<p>Martha verneigte sich und ging; es wurde ihr aber heute Abend schwer,
-sich mit Fanny zu unterhalten; immer wieder trat der wenig angenehme
-Auftritt vor ihr inneres Auge; sie schämte sich so sehr, daß sie nach
-dem Gesange auch nur eine Minute unten geblieben war. Sie ertappte
-sich einigemal dabei, daß eine Thräne auf ihre Arbeit fiel, und doch
-mußte sie sich eingestehen, daß ihr eigentlich nichts Schlimmes
-widerfahren sei — sie war ja die Gouvernante; Frau v. Märzfeld hatte
-das Recht, zu wünschen, daß sie bei ihrem Kinde bleibe. Sie hatte
-sich auch vollkommen davon überzeugt, daß dieser nichts ferner lag,
-als sie kränken zu wollen, denn sie war zu anderen Zeiten aufrichtig
-dankbar für Marthas Bemühungen um das Wohl ihres Kindes. Sie hielt
-es offenbar für ihre heilige gesellschaftliche Pflicht, die Lehrerin
-auf der Stufe zu erhalten, die sie für angemessen<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> hielt; aber fast
-nichts war dieser so schwer geworden, als dies ruhige, geflissentliche
-Hinausgetrieben-werden aus der Stellung, welche sie bisher im Leben
-eingenommen hatte. Sie mußte hart kämpfen, dies zu überwinden; es wurde
-ihr nicht erleichtert durch Luciens Entrüstung darüber und sie dachte
-lebhaft an Pastor Wohlgemuths Worte: „Sie werden klein und niedrig sein
-müssen, und das wird gerade für Ihre Natur sehr schwer sein!“ „Darum
-schickt es mir der liebe Gott“, dachte sie; „ich will es aus seiner
-Hand nehmen und desto mehr für Fanny sein, die es mir sichtlich dankt.“</p>
-
-<p>Frau v. Märzfeld liebte ihr kleines Mädchen wirklich und sorgte für
-dasselbe, so viel es möglich war, ohne in dem gestört zu werden, was
-sie als ihre Lebensaufgabe ansah, nämlich ihrer geselligen Stellung
-zu genügen und für ihre erwachsenen Töchter gute Partieen zustande zu
-bringen. Keine Ausgabe war ihr zu groß, wenn Martha Vorschläge machte,
-Fannys Lage zu verbessern und ihr Dasein auszuschmücken. Sie erkannte
-auch Marthas Thätigkeit und ihre Erfolge völlig an und sprach dies
-sogar zuweilen recht freundlich aus; nur die Kluft zu überbrücken, die
-nach ihrer Meinung zwischen ihrer Familie und Martha bestand, das fiel
-ihr niemals ein.</p>
-
-<p>Eines Tages, als Margaretchen im Nebenzimmer nähte,<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> kam diese auf eine
-arme Familie zu sprechen, die den Vater plötzlich verloren hatte und
-nun in der größten Not war. Fannys weiches Herz war gerührt; sie hätte
-gern ihre reich ausgestattete Sparbüchse bis zum letzten Heller den
-Armen gegeben. Martha machte ihr begreiflich, daß es nicht richtig und
-schön sei, unüberlegt zu verfahren; sie versprach, sich morgen früh
-selbst nach den dringendsten Bedürfnissen der Leute zu erkundigen. „Und
-dann“, sagte sie, „müssen wir rechnen, ordentlich rechnen; denn wir
-müssen etwas behalten für die Geburtstage von Mutter und Schwestern,
-für die Missionskasse, für das Rettungshaus u.&#160;s.&#160;w.“ Und Fanny
-rechnete; sie rechnete hier, wo sie einen Zweck vor Augen hatte, mit
-Vergnügen, und Martha schöpfte Hoffnung, sie auch in dieser ihr bisher
-sehr widerwärtigen Kunst nach und nach weiter zu bringen. Da ihre
-kranken Fingerchen nicht imstande waren, Strümpfe für die verwaisten
-Kinder zu stricken, lernte sie wenigstens das leichtere Häkeln, um die
-Knaben mit Shawls zu versorgen.</p>
-
-<p>So verging der Winter unter vielerlei Anstrengungen, aber nicht
-fruchtlos und nicht freudenlos. Die angefangene Kur hatte die kleine
-Patientin so gekräftigt, daß sie nicht mehr gehoben und getragen werden
-mußte, sondern sich einige Schritte weit selbständig fortbewegen
-konnte. Die Tage wurden, sonnig, die Wege trocken; Fanny ward vom
-Diener<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> jeden Tag ausgefahren, und Martha ging dann neben ihr, um sie
-aufmerksam zu machen auf Blumen, Bäume, Menschen, schöne Gegenstände in
-den Schaufenstern, und all’ die tausend Fragen zu beantworten, welche
-das Kind, angeregt durch so viel neue Eindrücke, an sie stellte. Sie
-that dies sehr gern, aber sie fühlte doch, daß ihr auf diese Weise die
-einzige Zeit zum Ausruhen, zur stillen Sammlung und zum Nachdenken
-über ihren nicht leichten Beruf genommen wurde. Der März befreite sie
-von diesen Wegen, aber nicht zu ihrer Freude. Fanny bekam den Husten,
-und dieser wollte keiner Arzenei oder sonstigen Verordnung des Arztes
-weichen; sie war wiederum aufs Zimmer angewiesen und war jetzt, an
-mehr Abwechselung gewöhnt, ein eigensinniger Patient. Am ersten April
-ging das Hausmädchen ab, um sich zu verheiraten, und Fanny war so
-unglücklich bei dem Gedanken, sich einer anderen Hand anzuvertrauen,
-daß Martha versprach, sie fortan allein zu pflegen. Das Glück des
-Kindes war ein großer Lohn; aber die Nerven, selbst Marthas kräftige
-Nerven ließen sich solche Überanstrengung nicht gutwillig gefallen;
-sie war zum erstenmal im Leben matt und reizbar, mußte gegen trübe
-Gedanken kämpfen und sehnte sich herzlich nach der versprochenen
-Übersiedelung nach dem Süden. Sie gehörte nicht zu denen, die viel
-über ihr leibliches Befinden zu grübeln pflegen und sich selbst große<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span>
-Wichtigkeit beilegen; aber sie empfand es mehr, als sie es sich
-eingestand, wie schwer es war, daß keiner mehr mit zarter, liebevoller
-Fürsorge sie beobachtete und ihr zu helfen suchte, wenn sich in ihren
-Gesichtszügen Abspannung, Müdigkeit, Kränklichkeit abmalte. Es wird den
-Eheleuten am Altar gesagt, daß ihr Stand „nicht ohne Kreuz“ ist; ach,
-ebenso gewiß und fast gewisser kann man vom Stand einer jungen Lehrerin
-sagen, daß er „Dornen in die Menge und manches Kreuz trägt“. Ist der
-innere Beruf und die volle Fähigkeit dafür vorhanden, dann werden
-solche Leidensstunden und Schwierigkeiten überwunden; hat nur Verlangen
-nach Freiheit und Selbständigkeit auf diese Bahn gedrängt, so entstehen
-daraus schwere Kämpfe, denen oftmals Leib und Seele unterliegen.</p>
-
-<p>Gegen Ostern kam der Hausarzt, um die Sommerkur mit Frau v. Märzfeld zu
-besprechen; seine Entscheidung lautete: „O, Sie brauchen gar nicht so
-sehr weit fortzugehen; gehen Sie Mitte Mai mit dem Kinde zur Molkenkur
-nach Heyden an den Bodensee, und ist dann etwa nach sechs Wochen der
-Husten ganz fort, so bringen Sie Fanny nach Ragatz oder noch lieber
-nach Pfäffers in der Taminaschlucht; da wird sie wahrscheinlich bald
-erstarken und beweglich werden.“</p>
-
-<p>Martha schwärmte für schöne Natur; sie wäre gern noch<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> tiefer
-hineingekommen in die Wunderwelt der Schweiz; dennoch sah sie der Reise
-mit Spannung und großen Erwartungen entgegen. Sobald der Mai erschienen
-war, brach man auf. Frau v. Märzfeld hatte ein ganzes Coupé genommen,
-um es Fanny bequem zu machen. Am ersten Tage fuhr man bis Frankfurt am
-Main bei rieselndem Regen; die Leidende klagte viel über Schmerzen;
-Martha bemühte sich, ihre Gedanken davon abzuziehen, indem sie ihr von
-den Orten, an welchen sie vorüberfuhren, mancherlei erzählte. Aber so
-leise dies geschah, störte es doch Lucie in ihrer Reiselektüre, und sie
-äußerte dies sehr vernehmlich durch verwunderte Blicke und ungeduldige
-Bewegungen; Judith versuchte anfangs Martha beizustehen, aber das
-eintönige Grau rings umher, das Anschlagen der Tropfen an die Fenster
-ermüdete sie, und sie schlief bald fest in der einen Ecke, während
-in der anderen die Mutter ihre Stirn unaufhörlich mit wohlriechendem
-Wasser wusch. In Frankfurt hatte man versäumt, sich Wohnung zu
-bestellen, Westendhall war besetzt; man mußte noch am späten Abend von
-einem Gasthaus zum anderen fahren, bis man endlich gegen Mitternacht
-ein wenig befriedigendes Unterkommen fand.</p>
-
-<p>Am anderen Morgen ward es heller. Judith und Lucie baten die
-Mutter, sich einige Stunden in Heidelberg aufzuhalten und dann in
-Ulm Nachtquartier zu nehmen; aber<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> Frau v. Märzfeld wollte lieber
-Friedrichshafen erreichen. Alle jungen Köpfe bemühten sich, möglichst
-viel aus dem Fenster zu sehen, als der Zug in Heidelberg hielt. Scharen
-von Studenten mit ihren großen Hunden konnte man bewundern, wenn man
-wollte; aber von der schönen Lage und Umgebung des berühmten Ortes war
-vom Coupé aus wenig zu bemerken. Der Tag wurde schwül, die Glieder
-schmerzten von der langen Fahrt; die ganze Gesellschaft hatte nur
-noch wenig Kraft, die Umgebungen zu betrachten: Fanny weinte, Lucie
-stieß ungeduldige Ausrufe aus, Judith seufzte und Frau v. Märzfeld lag
-abgespannt in ihrer Ecke. Wie eine Himmelsbotschaft klang endlich spät
-am Abend die Stimme des Schaffners: „Friedrichshafen, aussteigen!“
-Sie waren bald in dem geräumigen, sauberen Gasthofe untergebracht,
-und Fanny streckte sich recht mit Wohlbehagen in ihrem Bette aus, als
-Martha ihr sagte: „Morgen fahren wir nur noch mit dem Dampfschiff
-über den See, da sehen wir den Säntis und die Appenzeller Berge alle
-vor uns, dann geht es eine kleine Stunde mit der Zahnradbahn den Berg
-hinauf nach Heyden.“ Martha wachte noch lange und seufzte: „Ach; wenn
-nur morgen, nur morgen schönes Wetter ist!“</p>
-
-<p>Sie lauschte; lauschte: es klang wie ein leises Rauschen; war das der
-See? Mit dem ersten Tageslichte erhob sie<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> sich und zog leise die
-Gardine vom Fenster. Grauer Nebel wogte draußen, die Fenster gingen
-nach einem Rasenplatze, vom See war nichts zu sehen. „Es muß noch sehr
-früh sein“, dachte sie, legte sich wieder nieder und schlief ermüdet
-ein. Als das Hausmädchen, wie es versprochen, um 6 Uhr anklopfte, war
-das Wetter noch ebenso. Martha war sehr betrübt darüber: sie hätte so
-gern den Säntis gesehen. Fanny freute sich auf das Dampfschiff; sie war
-ruhiger.</p>
-
-<p>Als man nach einer Stunde aufs Schiff kam, hatte der Regen, der sich
-die ganze Nacht über ergossen, nachgelassen, und der See wurde nach und
-nach nebelfrei; seine Wellen kräuselten sich im frischen Morgenwinde.
-An der östlichen Ecke des weiten Wasserbeckens tauchte Bregenz auf,
-aber die Vorarlberge, an deren Fuße es liegt, waren noch verhüllt, und
-vom Schweizer Ufer konnte man nur dämmernde Umrisse erkennen. Erst
-als man sich Rorschach näherte, zerriß die Wolkenhülle, aber nun war
-man den Bergen zu nahe, um mehr als die Vorhügel zu überblicken. Das
-weite, jetzt blaue Wasserbecken übte dennoch einen großen Reiz aus,
-und besonders Fanny war glücklich, mitten auf dem Verdeck in ihrem
-Rollstuhl ruhend, so sanft hinüberzugleiten ans andere Ufer. Der Weg
-nach Heyden hinauf war lieblich und kurz. Wie blau erschien der See
-bei dem Dorfe Wynachten! In Heyden war ihnen durch den dortigen<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> Arzt
-Wohnung bestellt, eine der älteren Pensionen nahm unsere Reisenden auf.
-Martha teilte ihr Zimmer mit Fanny; es hatte die lieblichste Aussicht
-von der Welt. Dicht unter dem Fenster begannen die grünen Matten,
-die in der schönsten Frühlingsüppigkeit standen, hin und wieder von
-bewaldeten Hügeln, Gesträuch und Obstbäumen unterbrochen, aus deren
-Mitte die hellen Wände niedlicher Häuser hervorglänzten; tief unten
-und doch so nahe erscheinend, als könne man ihn mit wenigen Schritten
-erreichen, lag wie ein aufgeschlagenes, schimmerndes, blaues Auge der
-See, an seinem gegenüberliegenden Ufer Lindau und Friedrichshafen,
-so deutlich, daß man jedes Fenster unterscheiden konnte; rechts die
-Vorarlberge und Bregenz, links schweifte der Blick übers Württemberger
-Land. Die beiden Mädchen konnten sich nicht satt sehen; sie öffneten
-das Fenster und sogen die unbeschreiblich milde Luft mit Wohlbehagen
-ein. Sie sollten heute noch auf ihrem Zimmer speisen; zum Vesperbrot
-wollte dann Fanny versuchen, die wenigen Schritte bis zum Speisesaal zu
-gehen.</p>
-
-<p>Ein freundliches, älteres Mädchen in einfacher Kleidung brachte gute
-Suppe, Rindfleisch mit einem Gemüse von getrockneten Äpfeln und
-gerösteter Semmel, und Braten, den sie im ersten Augenblicke seiner
-hohen Fettkruste wegen für Schweinebraten hielten, der sich aber dann
-als der Rücken<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> eines gut gemästeten Kalbes auswies. Es schmeckte
-den beiden Gereisten trefflich, und selbst die Zusammenstellung von
-Rindfleisch und Äpfeln, die ihnen neu war, fanden sie ganz schmackhaft,
-als sie davon gekostet.</p>
-
-<p>Während Frau v. Märzfeld schlief, erschienen Judith und Lucie.</p>
-
-<p>„Nun, das muß man sagen“, rief die erstere entrüstet, „in eine feine
-Pension hat uns der Doktor K. gebracht! Nicht ’mal ein Kellner! Der
-Wirt wartet selbst auf; ein Mädchen mit einer dicken, rotgestreiften
-Schürze bringt die Speisen herein, — und dieser Küchenzettel! Nein, —
-und Lucie, sieh hier dieses Möbel!“</p>
-
-<p>Lucie mußte auch lachen, als sie sich im Zimmer umsah; es war
-weißgestrichen mit einer grauen Kante und kleinen, grünen Blumen. In
-der Ecke desselben stand ein mächtig großer, zweithüriger Schrank,
-himmelblau angestrichen, an der Seite mit den schönsten Blumen-
-und Fruchtstücken in den leuchtendsten Farben verziert, vorn die
-Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall deutlich abgebildet. Ein Sofa
-hatte das Zimmer nicht, aber zwei Betten mit guten Matratzen und einen
-alten, bequemen Lehnstuhl, mit buntem Kattun überzogen, in dem Fanny
-behaglich saß.</p>
-
-<p>„Ich weiß nicht, Judith, mir gefällt alles sehr; es ist einmal anders
-wie sonst, und es schmeckt mir viel besser,<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> als jemals zuhause!“
-Martha hatte Ähnliches gedacht; die Aufwärterin mit ihrem guten,
-teilnehmenden Gesichte erschien ihr viel gemütlicher als ein befrackter
-Kellner, und ein Blick aus dem Fenster ließ die Dekorationen im Inneren
-des Zimmers nur wenig vermissen.</p>
-
-<p>Am Nachmittag ging Fanny mit in den Speisesaal; sie waren heute noch
-allein darin, weil die anderen Gäste ausgeflogen waren. Frau v.
-Märzfeld betrachtete mit sehr unzufriedenen Blicken die Tischdecke aus
-braungeblümtem Kattun, aber was darauf stand: Kaffee, Milch, Weißbrot,
-Butter und Honig, das war unübertrefflich. Noch bevor es ans Auspacken
-ging, erschien der Arzt.</p>
-
-<p>„Mein bester Doktor“, sagte Frau v. Märzfeld, nachdem man sich ins
-gemeinsame Wohnzimmer zurückgezogen hatte, „in was für eine Pension
-haben Sie uns gebracht! Sollte es in dem großen Heyden keine elegantere
-und anständigere geben?“</p>
-
-<p>„Gewiß haben wir elegantere, gnädige Frau; für anständig halte ich
-aber diese sehr, und ich weiß keine, die ihre Patienten gewissenhafter
-und besser versorgt; überdem ist hier gerade die Luft und die Aussicht
-besonders schön; ich dachte, es würde unserer jungen Patientin hier
-wohl sein. Wie steht es damit, Fräulein?“ fragte er, zu Fanny gewendet.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span></p>
-
-<p>„O, mir gefällt’s ganz gut!“ sagte diese; „ich möchte gar nicht fort
-von hier!“</p>
-
-<p>„Glauben Sie, daß ich meine Tochter mit ihrer Erzieherin bei diesen
-Leuten allein zurücklassen kann?“</p>
-
-<p>„Gewiß, es sind ganz zuverlässige Wirte, und das Dienstmädchen, die
-Anna aus Oberösterreich, die ist ein wahrer Schatz; je kränker einer
-ist, desto lieber hat sie ihn.“</p>
-
-<p>„Dann werde ich mich nur wenige Tage hier aufhalten; ich bin in der
-That ganz andere Umgebungen gewohnt!“</p>
-
-<p>Es blieb dabei! Am zweiten Morgen nahm die Mama mit den beiden ältesten
-Töchtern Abschied, um eine größere Reise anzutreten nach den schönsten
-Punkten der Schweiz. Fanny winkte ihnen mit ihrem Taschentuche
-Grüße zu, die sie freundlich erwiderten; Martha sah ihnen nach mit
-sonderbaren Gedanken und Gefühlen: sie war noch in den Jahren, wo
-man sich gern Illusionen macht! Nach der Schweiz, nach der Schweiz
-hatte ihr Sinn gestanden, so lange sie lebte; und nun war sie hier,
-festgebunden an diesen zwar lieblichen, aber wenig großartigen Fleck.
-Da Fanny jetzt kein Mädchen hatte, wagte sie auch nicht auf Stunden
-dieselbe zu verlassen. Sie war gefesselt an den Rollstuhl ihrer
-Schülerin, den ein dazu gemieteter Diener jeden Morgen zum Trinkplatz,
-jeden Nachmittag zu dem kleinen Gehölze hinausschob, in welchem man zur
-Bequemlichkeit der Sommergäste<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> Wege und Bänke angelegt hatte. Es war
-dies fast der einzige Ort, wo man im Schatten wandeln konnte! Es ist
-schwerer als man denkt, mit voller Gesundheit und rüstiger Kraft mitten
-hinein gesetzt zu sein in eine so schöne Natur, zu wissen: dürftest du
-jetzt eine Stunde oder zwei steigen, so hättest du alle Herrlichkeit
-der Alpenwelt vor Augen, nach der du dich lebenslang gesehnt; und dann
-all dies Verlangen zügeln zu müssen, ja, es verbergen vor den Augen
-eines geliebten Kranken!</p>
-
-<p>Martha strebte hiernach mit dem besten Willen; aber ungerufen tauchten
-wieder und wieder Gedanken in ihr auf, deren sie sich schämte.</p>
-
-<p>„Warum muß ich nur hier sitzen bei der kleinen Kranken? würde ich
-nicht mehr Genuß haben an den Bergen, Gletschern und Seen als Frau
-v. Märzfeld und Lucie, die schließlich doch nur nach den Außendingen
-fragen?“</p>
-
-<p>Es sitzt in jedem natürlichen Menschen, wenn auch noch so verborgen,
-ein kleiner Sozialdemokrat. Man mag nur auf sich achten! Man ist
-darum noch nicht zufrieden und genügsam, wenn man prächtige Kleider,
-feine Speisen, eine bequeme Lebensweise gern entbehrt; dies ist für
-manche Naturen gar nicht schwer; aber fast für jeden giebt es einen
-Punkt, nach welchem seine Wünsche besonders lebhaft gehen, nach dem
-seine innerste Neigung gerichtet ist; gewöhnlich<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> faßt der liebe Gott
-in der Lebensschule seine Kinder bei diesem Punkte an, und nur wenn
-es gelingt, sich zu unterwerfen und den innern Rebellen zu besiegen,
-giebt es vollen Frieden in der Brust. Martha hatte an Fanny ein gutes
-Vorbild. Seitdem ihre Sehnsucht nach genügender Teilnahme, Unterhaltung
-und Beschäftigung gestillt war, konnte man nicht zufriedener sein als
-sie. Heyden brachte ihr überdies eine Menge neuer Eindrücke, die sie
-fortwährend anregten und erheiterten.</p>
-
-<p>Am Morgen zwischen sechs und sieben Uhr kam der „Schottenfranzerl“
-— Schotten nennt man dort die Molken — mit seiner heißen Butte von
-der Ebenalp herunter, doppelte wollene Decken zwischen der Butte und
-dem Rücken, damit er sich nicht verbrenne. Zwischen zwei und drei Uhr
-morgens ging er vom Säntis weg, um sechs Uhr erschien er in Heyden —
-welch eine beschwerliche Tour! nur die stärksten Männer konnten dazu
-verwendet werden. Der Franz sah gar schön aus, wenn er mit seiner
-Last so leicht auftrat, als ginge es zum Tanze; den spitzigen Hut mit
-der Auerhahnfeder auf dem Kopfe, unter der roten Weste den breiten
-Ledergurt, auf dem das liebe Hornvieh sich im blanksten Messing
-getrieben präsentierte, ein Abzeichen seines Standes. Die Molke war
-beim Ausschenken noch zu heiß, um sie sogleich zu trinken, und Fanny,
-die so viel Sinn<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> für Humor hatte, belustigte sich im stillen über
-die verschiedenen Auffassungen und Anstrengungen der Gäste bei ihrem
-Genusse. Einige schluckten verdrießlich und widerwillig, andere,
-als besorgten sie die wichtigste Arbeit ihres Lebens; noch andere
-scherzten und lachten dabei; und je besser Luft und Kur ihr bekamen,
-je größer die Strecken wurden, welche sie jetzt an Marthas Arme
-zurücklegen konnte, desto mehr Lust bekam sie, sich dem heiteren Teile
-der Gesellschaft zuzugesellen. Das Frühstücksnäpfchen mit der braunen
-Mehlsuppe darin hatten beide Mädchen zuerst sehr bedenklich angesehen,
-doch redete die Anna aus Oberösterreich zu: „Esse Sie nur, ’s ischt
-gut, ’s ischt sehr gut!“ Sie aßen und es bekam ihnen wohl.</p>
-
-<p>Bei ihren kleinen Reisen durch den Ort zogen die Gardinenweberinnen,
-die man durch die niedrigen Fenster arbeiten sehen konnte, meist
-noch junge Mädchen, ihre Aufmerksamkeit auf sich; auch die alten,
-ungemein sauber gekleideten Weiblein, die Gardinen stickten, und
-die geschickten Stickerinnen, welche die superfeinen Taschentücher
-und Kragen lieferten, die „beim Sturzenegger“ auslagen. Manche
-Regenstunde wurde dort in dem anziehenden Geschäfte zugebracht, manches
-Geldstück wanderte aus Fannys Sparbüchse, indem sie sich hier mit
-Geburtstagsgeschenken für Mutter und Schwestern versorgte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p>
-
-<p>Eine neue Freude war ihr der Sonntag; sie hatte in M. nicht mit zur
-Kirche gehen können; hier in Heyden kam der Wirt am Sonntagmorgen,
-brachte jedem seiner Gäste ein Gesangbuch und teilte mit, um neun
-Uhr werde man zur Kirche gehen. Nun wurde ihm von manchem Gaste das
-Gesangbuch dankend zurückgegeben; das nahm er freundlich und ruhig hin;
-er hatte nun seine Schuldigkeit gethan.</p>
-
-<p>Martha und Fanny, letztere in ihrem Rollstuhle, schlossen sich gern dem
-Zug der Kirchgänger an, den der Wirt anführte. Obgleich die ziemlich
-neue Kirche nur Stahlglocken hatte, erschien es doch beiden Mädchen,
-als hätten sie nie so etwas Schönes gehört als dies Geläute, wie es in
-der frischen Morgenluft über den blauen See hinüber klang; so recht
-volle Sonntagsfreude zog in ihre Herzen ein, und sie lernten bald
-sich zurechtfinden in dem vollen vierstimmigen Gemeindegesang. Auch
-der Pastor verstand es wohl, die Herzen auf das Eine hinzuweisen, was
-notthut, und so meinte Fanny, der Sonntag könne wohl in der ganzen Welt
-nicht so schön sein, wie hier oben in Heyden.</p>
-
-<p>Des Abends, wenn die anderen Hausgenossen teils noch promenierten,
-teils nach dem Kurhause gegangen waren, um in größerer Gesellschaft zu
-sein, saßen unsere beiden Mädchen mit dem Wirt, der Wirtin und der Anna
-aus Oberösterreich vor der Thür oder im Zimmer; der Wirt hatte<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> dann
-eine blaue Schürze um und rüstete mit seiner Frau zusammen das Gemüse
-oder Obst für den anderen Tag, wobei Martha gern half; eine Köchin
-gab’s in der Pension nicht. Dann erzählte der Wirt aus seinem bewegten
-Leben. Er stammte aus Vorarlberg, war schon als Knabe hinausgezogen
-ins Land mit Quirlen und Löffeln, hatte Menschen, Gegenden und
-Verhältnisse kennen gelernt, und seitdem er die Margaret in St. Gallen
-zuerst gesehen, da war er sehr sparsam geworden und hatte es zuletzt
-so weit gebracht, sich in Heyden ein Häuschen zu kaufen, in das er
-diese Margaret geführt; aus dem Häuschen war ein Haus geworden und eine
-bekannte und angesehene Pension. Beide Mädchen hörten ihm gern zu;
-Martha machte die Bemerkung, daß man mit offenen Augen und gesundem
-Sinne auch ohne Bücher recht viel lernen kann.</p>
-
-<p>Die Pension hatte sich indessen mehr und mehr mit Fremden gefüllt;
-mittags erschienen außerdem noch Gäste aus dem Ort, und da sie aus
-aller Herren Ländern zusammenkamen, wurde die Unterhaltung abwechselnd
-französisch, englisch und deutsch geführt.</p>
-
-<p>Marthas Nachbar war ein Amerikaner, der sich englisch mit ihr
-unterhielt. Fanny hatte zwar einige englische Stunden gehabt, es aber
-nicht so weit gebracht, den Fremden zu verstehen, und da er sehr
-interessant zu erzählen<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> pflegte, so übersetzte es Martha gewöhnlich
-ihrem Zögling.</p>
-
-<p>Eines Mittags bemerkte es der Fremde: „O, ich kann es der kleinen Dame
-gleich deutsch erzählen.“</p>
-
-<p>„Sie sprechen nicht wie ein Ausländer“, sagte Martha.</p>
-
-<p>„O, ich stamme aus Deutschland, bin freilich schon in der Jugend nach
-den Vereinigten Staaten gegangen, und hätte gewiß meine Muttersprache
-verlernt, wenn ich mich nicht mit meinen Nachbarn Eichhorn und Kraus in
-St. Joseph grundsätzlich nur deutsch unterhielte.“</p>
-
-<p>Kraus! St. Joseph! Ach, das mußte Siegfrieds Onkel sein!</p>
-
-<p>„Stammt Ihr Nachbar Kraus aus Sachsen?“</p>
-
-<p>„Ja wohl, aus der Nähe von Leipzig.“</p>
-
-<p>Marthas Herz klopfte, sie konnte kaum sprechen.</p>
-
-<p>„Ich kenne einige Glieder seiner Familie; geht es ihm wohl?“</p>
-
-<p>„Sehr wohl“, sagte der Nachbar. „Er hat vor etwa fünf Jahren in seinem
-Alter noch geheiratet und hat jetzt zwei prächtige Buben.“</p>
-
-<p>Es wurde Martha schwer, weiter zu fragen; aber die Qual der Ungewißheit
-war zu groß.</p>
-
-<p>„Ich hörte, er habe sich seinen Neffen nachkommen lassen!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span></p>
-
-<p>„Dies muß ein Irrtum sein; ich habe ihn vor meiner Abreise noch
-besucht; er hatte niemand bei sich als seine Frau und Kinder, hat auch
-nie von einem Neffen gesprochen. Doch — warten Sie! Ja, vor langer
-Zeit, ehe er heiratete, sagte er mir, er habe einen Neffen gebeten, zu
-ihm zu kommen, aber der Schlingel wollte nicht.“</p>
-
-<p>Arme Martha! Für das, was man nun noch sprach, war sie taub und gab dem
-Nachbar einige recht verkehrte Antworten. Was war das? War Siegfried
-unterwegs verunglückt? Hatte er von der Verheiratung des Onkels gehört
-und sich wo anders hingewendet? Bis jetzt hatte sie wenigstens für
-ihre Gedanken einen Zielpunkt gehabt, die Gegend, in welcher sein
-Onkel sich niedergelassen; nun war auch dies vorüber. Ach, so oft
-hatte sie versucht, sich innerlich gefaßt zu machen auf ein Leben ohne
-ihn; jetzt merkte sie, wie die Hoffnung im Hintergrunde ihres Herzens
-immer noch gewohnt und ihre Zauberfäden gesponnen hatte. Sie sehnte
-sich ganz unaussprechlich nach einem Wesen, dem sie sich mitteilen,
-bei dem sie sich ausweinen könnte. Sie ergriff die Feder, um Suschen
-alles zu erzählen; da kam der Briefträger und brachte ihr einen Brief
-der Freundin. Sie zeigte den Tag ihrer Hochzeit an und bat, daß Martha
-ihrer fürbittend gedenken möge, da sie doch leider, leider nicht
-dabei sein könne. Auf diesen Brief konnte sie keine<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> klagende Antwort
-schicken; er war so glücklich, so strahlend glücklich bei allem Ernst.</p>
-
-<p>Fanny ruhte auf ihrem Lager, wie gewöhnlich nach Tische, Martha schlich
-sich ins grüne Hausgärtchen; nicht weit vom Bienenstand war eine Laube,
-da konnte sie sich ausweinen.</p>
-
-<p>Ach, ihre Thränen flossen unaufhaltsam! All’ die zurückgedrängte
-Sehnsucht der letzten Jahre wollte zu ihrem Rechte kommen. Sie
-schluchzte wie ein Kind und erschrak sehr, als der Eingang der Laube
-durch einen Schatten verdunkelt wurde. Es war nur die Anna.</p>
-
-<p>„Haben das Fräulein Kummer?“</p>
-
-<p>„Ja, Anna, den hab’ ich!“</p>
-
-<p>„Ist Euch was Liebes tot, oder sollt Ihr Euer Schatzerl nit haben?
-Sagt’s den lieben Heiligen, die hab’n schon oft geholfen. Jetzt hab’ i
-halt kai Zeit zum Bete; aber wenn i na Haus komm’, will ich’s wohl der
-heiligen Anna sagen; die ist sehr gut und hilft schon!“</p>
-
-<p>Martha hätte sagen können, daß sie lieber Gott anrufen solle; aber Anna
-hatte eine so kindliche Zuversicht auf die heilige Schutzpatronin, daß
-sie es nicht übers Herz brachte, sie darin irre zu machen; sie dachte:
-wenn sie so warm und gläubig zur heiligen Anna spricht, sieht es
-vielleicht der himmlische Vater an, als sei es ihm gesagt, und so sagte
-sie: „Ich danke Ihnen, Anna, thun Sie das!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span></p>
-
-<p>Als aber Anna fort war, kam es doch wie eine stille Freude über sie,
-daß sie ja keine heilige Fürsprecherin brauchte, daß sie konnte und
-durfte gerade zu ihrem Vater gehen und ihr Herz vor ihm ausschütten;
-sie that es, und das hilft jedesmal. Wenn auch ihr Herz nicht leicht
-danach wurde, es wurde doch stille und ergeben, und sie konnte mit dem
-warmen, aufrichtigen Vorsatze zu ihrer Pflegebefohlenen zurückkehren,
-die Wolken und das Weh für sich zu behalten und so viel Sonnenschein
-als möglich auf Fannys Lebensweg auszugießen. Wenn sich der Sturm im
-Innern gelegt hat, tritt auch die Besinnung und verständige Überlegung
-wieder in ihr Recht und entkleidet das Erlebte von allen Übertreibungen
-der Phantasie. Was hatte sie denn so Schlimmes vernommen? Nur, daß
-Siegfried nicht bei seinem Onkel war; konnte er nicht an irgendeinem
-anderen Orte sich eine Existenz gegründet haben? War es denn unmöglich,
-daß er dennoch zu ihr zurückkehrte?</p>
-
-<p>Um vieles beruhigt holte Martha ihre Schülerin ab zum Kaffee in dem
-kleinen Saal. Sie fanden neue Ankömmlinge: eine sehr durchsichtig und
-zart aussehende Mutter und ein rosiges Töchterchen von etwa dreizehn
-Jahren; Frau Präsidentin v. B. und ihre Tochter Friedericke.</p>
-
-<p>Die beiden Kinder betrachteten sich schüchtern, aber mit sehr
-vergnügten Gesichtern. Frau v. B. sah mit mütterlicher<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> Teilnahme
-auf das zarte, hilfsbedürftige Mädchen, und nachdem es Martha ihrem
-Zöglinge so bequem als möglich gemacht, veranlaßte sie die gegenseitige
-Vorstellung.</p>
-
-<p>„Siehst du, Friedericke, da ist ja ein junges Mädchen, wie du es dir
-gewünscht hast.“</p>
-
-<p>Friedericke nickte.</p>
-
-<p>„Ich kann freilich noch nicht mit herumspringen“, sagte Fanny, „aber
-ich lerne es bald; ich kann jetzt schon vom Freihof bis zur Kegelbahn
-laufen.“ Dabei sah sie sehr stolz und glücklich aus.</p>
-
-<p>Frau v. B. erkundigte sich sehr teilnehmend nach dem Leiden der Kleinen
-und erfuhr, daß sie von hier nach Ragatz oder Pfäffers gebracht werden
-sollte.</p>
-
-<p>„Ach, wenn es doch Pfäffers wäre“, rief Friedericke; „dort badet Mama
-einige Wochen, und dort ist es so — ach so — ich weiß gar nicht, wie
-ich sagen soll — so geheimnisvoll und schauerlich und doch so schön!
-Man wohnt eigentlich bei den Erdgeisterchen selber. Ach, Fanny, bitte
-immer zu, daß ihr nach Pfäffers kommt; es wird so sehr hübsch sein,
-dort Gesellschaft zu haben.“</p>
-
-<p>Friederickens lebhafte Schilderungen waren ganz dazu gemacht, Fannys
-Verlangen nach dieser Wunderwelt zu steigern, und sie hoffte ihre
-Mutter zu überreden, auf ihre Wünsche einzugehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p>
-
-<p>Es war sehr ergötzlich, zu sehen, wie die beiden Kinder sich mit
-jedem Tage näher kamen. Friedericke kannte bald keine größere Lust,
-als ihrer schwachen Gefährtin all’ die kleinen Dienste zu leisten,
-deren sie bedurfte, sie an ihrem Arm auf ihr Zimmer zu führen oder
-aus demselben abzuholen. Fanny ließ sich das sehr gern gefallen,
-aber der Wunsch erwachte in ihr, es vergelten zu können, und als die
-Präsidentin eines Tages sehnend nach ihrer Handarbeit ausschaute,
-welche auf einem fernen Tische lag, stand sie leise und unbemerkt auf
-und fühlte mit innerlichem Frohlocken, daß es nicht mehr zu schwer für
-sie war, dieselbe zu holen und der Eigentümerin zu bringen. Diese sah
-sie überrascht und sehr erfreut an, aber das Kind erglühte förmlich
-in Wonne; es war das erste Mal, daß sie jemandem einen Dienst hatte
-leisten können.</p>
-
-<p>Die Unterrichtsstunden mußten natürlich hier in freierer Gestalt
-gegeben werden wie zuhause, aber Martha hatte sie nie ganz fallen
-lassen. Jetzt fragte Frau v. B., ob Friedericke nicht daran teilnehmen
-dürfe; sie war natürlich viel weiter, aber immerhin ließen sich
-Gegenstände auffinden, die beide Kinder gleichmäßig interessierten, und
-Martha fand, daß die Gemeinschaft ein herrlicher Sporn für Fanny war.</p>
-
-<p>Frau v. Märzfeld und ihre Töchter hatten häufig Nachricht gegeben; sie
-hatten den Züricher See besucht, den Vierwaldstädter<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> See mit seinen
-herrlichen Umgebungen, auf dem Rigi mehrere Tage zugebracht, und waren
-jetzt seit einigen Wochen in Montreux am Genfer See.</p>
-
-<p>„Aber nun“, schrieb Lucie, „kommen wir auf dem nächsten Wege. Wir
-sehnen uns nach dem Kinde und etwas mehr Ruhe, und werden im Laufe
-der nächsten Woche eintreffen, um mit Euch nach Ragatz oder Pfäffers
-überzusiedeln.“</p>
-
-<p>Fanny jubelte, und auch Martha, obgleich sie sich sagen mußte, daß ihr
-Leben ferner nicht in so angenehmer Ruhe verlaufen werde, wie es jetzt
-der Fall war, freute sich doch mit aufrichtigem Herzen darauf, der
-Mutter und den Schwestern die Fortschritte zu zeigen, welche des Kindes
-Genesung inzwischen gemacht hatte.</p>
-
-<p>Ein wunderbar schöner Tag stieg nach mehreren recht unfreundlichen
-über Heyden auf; die sämtlichen beweglichen Pensionsgäste beschlossen
-eine Tour auf den Kaien zu machen, unter Führung ihres Wirtes; da oben
-sollte eine herrliche Aussicht auf das Gebirge sein. Marthas Herz
-schlug in großem Verlangen. Eine Stunde vor Tische ließ Frau v. B. sie
-rufen.</p>
-
-<p>„Mein liebes Fräulein Martha“, sagte sie, „ich habe eine große Bitte.
-Mein Kind ist nun schon wochenlang hier und hat noch keinen Blick aufs
-Gebirge gehabt. Ich möchte<span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span> ihr so gern den Spaziergang heute gönnen,
-aber sie nicht allein mit den fremden Gästen gehen lassen. Ihr kleiner
-Zögling brennt ebenfalls vor Verlangen, Ihnen den Genuß der Bergfahrt
-zu verschaffen; und so haben wir uns zusammen ausgedacht, wir wollten
-diesen Nachmittag tauschen: Sie nehmen meine Wilde unter Ihren Schutz
-bei der Bergbesteigung, und Fanny kommt als meine Tochter zu mir, bis
-Sie wieder da sind.“</p>
-
-<p>Dies war verlockend. Es stiegen wohl Bedenken in Martha auf: „Wenn ich
-nur hätte Frau v. Märzfeld fragen können!“ Aber das ging ja nicht.
-Fanny und Friedericke baten und drängten; sie selbst war überzeugt,
-daß Frau v. B.s Aufsicht die ihrige überreich ersetzte. Ach, und sie
-war so glücklich in Erwartung der Gebirgsaussicht — sie gab nach und
-ging mit. Der Wirt führte so an der Berglehne hinauf, daß man unterwegs
-keine andere Fernsicht hatte als den Rückblick auf Heyden; der Pfad
-war meistens sehr steil und oft schattenlos; die Sonne brannte, aber
-die Aussicht winkte und die Gesellschaft überstand die Strapazen mit
-fröhlichem Mute. Jetzt noch durch dies Buschwerk, jetzt diesen Rand
-hinauf! und Martha stand oben und legte die Hände zusammen und ihre
-Augen füllten sich mit Thränen, denn sie umfaßten in ihrem engen Rahmen
-ein Bild, wie es die Phantasie nicht schöner hätte malen können.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span></p>
-
-<p>Da lagen sie ihr gegenüber, die Schneefelder des Säntis; da ragten die
-riesigen Nachbarn desselben, der Kamor, Hohekasten, Altemann, Tödi in
-die blaue Luft; weiter östlich die Vorarlberger und Lichtensteiner
-Gebirge; in der Ferne die weiße Kette des Rhätikon mit der Sasaplana.
-Auf der anderen Seite dehnte sich am weiten, blauen See der Thurgau
-aus mit Trogen, Vöggeliseck, Speicher; darüber weit in der Ferne der
-Pilatus und der Rigi.</p>
-
-<p>„O, hätt’ ich Flügel, hätt’ ich Flügel!“</p>
-
-<p>Friedericke neben ihr sprang hoch in die Luft und stieß einen Juchzer
-aus, als habe sie denselben vom Senn erlernt; Martha konnte nicht
-sprechen. O, dieses eine Bild, war’s nicht genug, um lebenslang manche
-einsame Stunde mit seinem Lichte zu erhellen? Sie sah und sah; sie
-hätte nichts davon verlieren mögen, auch nicht das Kleinste.</p>
-
-<p>„Komme Sie doch hier hinter den Stein und nehme Sie a Schöppeli
-Markgräfler!“ rief der Wirt wieder und wieder.</p>
-
-<p>Der Rat war gut, aber es dauerte lange, ehe unsere jungen Gefährtinnen
-den Entschluß faßten, sich von der herrlichen Aussicht loszureißen
-und Ruhe und Erquickung zu suchen. Dann war es behaglich, nach
-der Anstrengung im Schatten zu sitzen, sich an den mitgebrachten
-Erfrischungen zu laben und mit den Reisegenossen heitere Gespräche
-zu<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> führen. Die Gesellschaft wurde sehr vergnügt und niemand merkte,
-daß sich der Himmel umzogen hatte, bis die Stimme aus den Wolken
-vernehmlich zu reden anfing. Da sprang denn freilich alles auf die
-Füße; noch einmal ward die Rundschau genossen, aber nur sehr flüchtig.
-Das Wetter zog vom Rheinthal herauf, und der Wirt meinte, es könne „a
-rechts“ Wetter werden; von da könnt’ es oft nicht über den See: „Wir
-müssen auf die Sennhütten zu halten!“</p>
-
-<p>Dies geschah ohne Besinnen; sie lagen nicht allzu weit unterhalb der
-Berghöhe, und mit den ersten schweren Tropfen wurde man eingelassen
-in den zwar nicht mit Bequemlichkeiten ausgestatteten, aber immerhin
-trockenen und geschützten Raum. Es war sehr gut, ein Dach über sich
-zu haben; der Regen fiel in Strömen nieder und prasselte auf das
-Schindeldach und gegen die kleinen Fenster; der Sturm brüllte, als
-wollte er das Häuschen mit sich entführen; ein leuchtender, greller
-Blitz jagte den anderen und der Donner rollte majestätisch durch den
-Aufruhr hin, seine Stimme pausierte höchstens minutenlang, wie um Atem
-zu schöpfen. Die Gesellschaft lauschte still der großartigen Musik;
-selbst Friedericke, die so gern lachte, schmiegte sich ernsthaft an
-Martha an. Diese, äußerlich gefaßt und ruhig, wurde innerlich sehr
-gequält durch die Sorge um Fannys Angst und infolge davon um ihre
-Gesundheit. Sie sah mit Sehnsucht<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> nach dem kleinen Streifchen Himmel,
-welches zu sehen war, ob es noch nicht heller werden wollte, —
-vergebens! Wenn der Sturm eine Minute geschwiegen, brüllte er in der
-nächsten mit vermehrter Gewalt; wenn die Stimme des Donners ferner zu
-klingen schien, grollte sie gleich danach aus einer anderen Ecke um so
-näher. Stunde auf Stunde verrann: zur Finsternis des Himmels gesellte
-sich bald das Dunkel des hereinbrechenden Abends und endlich die
-Finsternis der Nacht.</p>
-
-<p>Da endlich wurde es stiller; der Donner rollte ferner und ferner,
-blasser und blasser leuchteten die Blitze, einzeln nur noch fielen die
-Tropfen aufs Dach, dann hörte man keinen mehr.</p>
-
-<p>Man öffnete die Thür der Hütte; durch die zerrissenen Wolken blickten
-einzelne Sterne, die Luft war unbeschreiblich schön und frisch, aber
-der ganze Berg nur ein einziger großer Wasserfall. Der Wirt und die
-Sennerin erklärten es für völlig unmöglich, hinabzugehen, bevor man
-Tageslicht habe. Letztere holte frische Milch herbei, erbot sich auch,
-Schmarren zu backen, wenn man es wollte. Es wurde dankend angenommen
-und fröhlich verzehrt, nur Martha lag es wie ein Alb auf der Brust und
-sie stieß mehrmals hervor: „Ach, wie sie sich zuhause ängstigen werden!“</p>
-
-<p>„Ich glaube nicht so sehr“, sagte Friedericke. „Mama<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> weiß, daß wir in
-Gottes Schutz sind und bei verständigen Menschen; Anna wird ihr gewiß
-von den Sennhütten erzählen, und sie werden es sich denken, daß wir
-hier sind. Geben Sie acht, sie tröstet auch Fanny und läßt sie nicht
-von sich.“</p>
-
-<p>Das klang alles ganz wahrscheinlich, aber es war ihr Gewissen, das ihr
-die Zuversicht raubte; das ganze Erlebnis kam ihr vor wie eine Strafe
-ihrer Untreue und sie konnte sich die Folgen desselben nicht schwarz
-genug ausmalen. Die Vorbereitungen zur Nachtruhe waren etwas schwierig;
-die Gesellschaft bestand aus etwa zehn Personen. Die Herren mußten sich
-mit ihren Plaids in der Nähe des Herdes einrichten, die Frauen wurden
-oben im Heu untergebracht; dort war es sehr warm, und eine dicke,
-nicht mehr junge Dame, der noch dazu die Sennerin ihr eigenes Lager
-abgetreten hatte, stöhnte unaufhörlich, während zwei junge Französinnen
-durchaus nicht aus dem Lachen kommen konnten. Friedericke war bald
-eingeschlafen; Martha saß, sorgte, bat den lieben Gott um Vergebung und
-rief ihn um Hilfe für ihren Zögling an, und erst, als der Morgenschein
-durch die Ritzen des Daches drang, fielen ihr mitten in dem Gedanken:
-„Jetzt können wir bald hinunter!“ die müden Augen zu, und sie erwachte
-erst, als sie das muntere Gespräch ihrer Reisegefährten vernahm, die an
-der offenen Thür der Hütte den Heimweg<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> berieten. Es war ein frischer,
-schöner Morgen. Zerrissene Wolkenschichten flogen, vom Winde getrieben,
-am Himmel dahin; in den Thälern zog hier und da noch ein Nebelschleier
-hin und her; die Berghäupter, so viel man deren hier sehen konnte,
-waren frei, und das Stücklein See, das sich zeigte, strahlte im
-frischesten Blau. Aus allen Klüften rieselte und rauschte es, auf allen
-Halmen perlte und glänzte es; die Kühe, die eben gemolken wurden,
-brüllten der Freiheit entgegen: es war ein lachendes Morgenbild; nur
-der Pfad, welcher hinabführte, sah noch sehr schlüpfrig und wenig
-einladend aus.</p>
-
-<p>Martha und Friedericke trugen tüchtige Bergschuhe, aber einige der
-älteren Herrschaften seufzten schwer und blickten mit Grauen die
-abschüssige Bahn hinunter. Nachdem man sich mit frischer Milch erquickt
-hatte, ging es hinab unter manchem „Ach“ und „Weh“, unter manchem
-Fallen und Wiederaufstehen; nur unsere jungen Freundinnen blieben fest
-auf den Füßen und konnten zuweilen noch verzagten Seelen die Hand
-reichen, um ihnen über bedenkliche Stellen fortzuhelfen. Der Senn war
-soeben mit seinem Mundschenkenamte fertig, da bogen die Wanderer in die
-Straßen von Heyden ein.</p>
-
-<p>Die Wirtin kam ihnen in der Thür entgegen; sie schien das Ausbleiben
-des Mannes und der Gäste mit großem<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> Gleichmut ertragen zu haben; es
-mochte wohl schon öfter vorgekommen sein.</p>
-
-<p>Martha flog an ihr vorüber die Treppe hinauf und öffnete leise ihr
-Zimmer.</p>
-
-<p>Mit lautem, glücklichem Aufschrei streckte ihr Fanny die Arme
-entgegen, während die Präsidentin vom Lehnstuhl am Bett sich erhob und
-unbeschreiblich überwacht und elend aussah.</p>
-
-<p>„Siehst du, mein liebes Kind“, sagte sie, „Gott hat die Unserigen
-behütet.“</p>
-
-<p>Friedericke, welche ihre Mutter auf ihrem Zimmer nicht gefunden hatte,
-war auch hereingekommen und hing jetzt an ihrem Halse.</p>
-
-<p>„Sie haben gewiß eine recht schlimme Nacht gehabt“, rief Martha beim
-Anblick der Frau v. B. „O, wie viel Vorwürfe habe ich mir gemacht, daß
-wir gegangen sind.“</p>
-
-<p>„Ja, meine kleine Pflegebefohlene war gar nicht zur Ruhe zu bringen“,
-erwiderte diese, „da mußte ich mich schon entschließen, an ihrem Bette
-zu bleiben; aber daß wir uns Vorwürfe machen, finde ich überflüssig;
-die Sache war ja ganz verständig überlegt; wir konnten nicht wissen,
-daß das Gewitter kam. Komm, kleiner Wildfang ziehe deine feuchten
-Sachen aus, dann versuchen wir beide noch ein wenig nachzuschlafen.
-Thun Sie das auch, Fräulein Feldwart!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span></p>
-
-<p>Martha hätte diesen Rat nur zu gern befolgt, aber Fanny war noch zu
-aufgeregt: „Sie müssen mir erst alles, alles erzählen!“</p>
-
-<p>Martha that es und versuchte dabei ein Mittel, das ihr in der Pflege
-des reizbaren Kindes schon manchmal geholfen hatte: indem sie Fannys
-Hand in der ihrigen festhielt, erzählte sie mit ganz eintöniger Stimme
-immer breiter, immer langsamer und leiser; das wirkte wie Schlafmusik,
-stimmte die überreizten Nerven des Kindes herab, und nach einer halben
-Stunde schlief es so fest, daß nun auch Martha die ersehnte Ruhe fand.</p>
-
-<p>Einige Stunden ruhigen Schlafes hatten sie völlig erfrischt; sie
-erhob sich leise, um das Kind nicht zu stören, sah aber mit großer
-Sorge, daß Fannys Gesicht geröteter war als sonst und die Brust sich
-hob in ungewöhnlich raschen Atemzügen. Es fand sich in der That, als
-sie erwachte, daß sie nicht fieberfrei war; der herbeigerufene Arzt
-riet, sie heute im Bette zu lassen und vollständige Ruhe um sie her zu
-erhalten. Mit Bangen empfing Martha gegen Mittag das Telegramm, welches
-die Ankunft der Frau v. Märzfeld für diesen Nachmittag meldete. Fanny
-wollte durchaus aufstehen zu ihrem Empfange, fühlte aber freilich
-gleich, daß es eine Unmöglichkeit sei. Martha war sehr betrübt darüber.
-Wie sollte sie der Mutter gegenübertreten, wenn Fanny<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> kränker wurde,
-wie sich jemals wieder beruhigen? Ihr Herz schlug heftig, als die
-Erwarteten eintraten. Es erschien ihr als die einzige Sühne, der Mutter
-sofort den Hergang zu erzählen. Sie that es, aber sie that es nicht
-völlig; sie verschwieg, wie sie von der Präsidentin und Fanny dazu
-überredet worden war.</p>
-
-<p>Frau v. Märzfeld sah sie sehr befremdet von oben herab an: „Das hätte
-ich Ihnen nicht zugetraut, Fräulein Feldwart! Sie sehen, was von Ihrem
-Leichtsinn kommt; möglicherweise steht Fannys ganze Genesung auf dem
-Spiel.“</p>
-
-<p>Martha weinte: „Ja, gnädige Frau, es soll mir eine sehr bittere Lehre
-sein; ich werde niemals, niemals mehr von Fanny fortgehen!“</p>
-
-<p>„Das will ich sehr hoffen; ich könnte Sie auch sonst niemals mehr mit
-dem Kinde allein lassen.“</p>
-
-<p>Wahrscheinlich wäre aus diesem Auftritte bei Frau v. Märzfeld dauernde
-Erkältung erwachsen, wenn sich nicht gegen Abend die Präsidentin ihr
-hätte vorstellen lassen, um ihr den richtigen Verlauf der Sache zu
-erklären. Sie nahm alle Schuld bereitwillig auf ihre Schultern und
-unterließ es nicht, sich offen darüber auszusprechen, daß es wohl
-eigentlich Schuldigkeit sei, einem so aufopfernden Wesen wie Martha
-mitunter ein Aufatmen und eine Erholung zu gönnen. Die Präsidentin
-verkehrte in den höchsten Kreisen; sie<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span> war eine sehr angesehene, auch
-äußerlich vornehm erscheinende Persönlichkeit; deshalb verfehlten ihre
-Worte nicht, den beabsichtigten Eindruck zu machen, um so mehr, als
-Fanny am anderen Morgen nach einer ruhigen Nacht so ziemlich wieder die
-Alte war.</p>
-
-<p>Mit Erstaunen sahen ihre Mutter und Schwestern ihre Beweglichkeit, mit
-noch größerem ihre Heiterkeit, ihren Humor, die Lebhaftigkeit, mit der
-sie sich für jedes Gesprächsthema interessierte, und dies mußte wohl
-ein freundliches Licht auf Marthas Pflege und Erziehung werfen.</p>
-
-<p>„Und nun“, sagte Frau von Märzfeld, „will ich euch auch eine große
-Neuigkeit mitteilen: Wir haben eine Braut hier im Zimmer; ratet: wer?“</p>
-
-<p>Fannys Augen hatten schon mit Staunen den Goldreif an Luciens Hand
-gesehen; sie rief: „Lucie, Lucie! aber mit wem?“</p>
-
-<p>Sie war mit Graf T. verlobt; er war mit ihnen am Genfer See
-zusammengetroffen, hatte dort nach einigen Tagen um Lucie angehalten,
-und diese freudig und überrascht aus warmem Herzen „Ja“ gesagt.</p>
-
-<p>Martha war auch überrascht; sie hatte Graf T. oft in der Familie
-gesehen. Er hatte ihr stets einen ernsten und Vertrauen erweckenden
-Eindruck gemacht, er teilte aber seine Aufmerksamkeiten stets
-gleichmäßig zwischen beiden Schwestern,<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> und man glaubte in M.
-allgemein, er werde sich mit Judith verloben, welche die ältere und
-bedeutendere von beiden war. Martha begriff es, daß er sich dies warme
-und anmutige Wesen gewählt hatte, das jetzt eine strahlend glückliche
-Braut zu sein schien.</p>
-
-<p>Judith sah sehr ernst aus und war fast unnahbarer als sonst. Die Mama
-erzählte, der Bräutigam sei jetzt nach Ragatz gereist, um eine Wohnung
-dort zu besorgen.</p>
-
-<p>„Aber Mama!“ rief Fanny sehr unglücklich, „ich will ja nach Pfäffers!“</p>
-
-<p>Friedericke stand dabei: „Ach ja, bitte, nach Pfäffers, da gehen wir
-auch hin, und da wohnen wir ganz und gar bei den Erdgeisterchen, die
-machen dann Fanny wieder gesund!“</p>
-
-<p>Frau v. Märzfeld lachte: „Fragen wir den Arzt!“</p>
-
-<p>Der meinte, Ragatz thäte vielleicht dieselbe Wirkung; aber es gäbe
-viele Kranke, welche die Bäder so nahe an der Quelle für heilkräftiger
-hielten. Die Einrichtungen wären in Pfäffers sehr gut, und er riete der
-Frau v. Märzfeld, ihre kleine Patientin dort anfangen zu lassen; sollte
-es sich zeigen, daß Luft und Sonne ihr zu sehr fehlten, könne sie ja
-jeden Tag nach Ragatz übersiedeln.</p>
-
-<p>Als für Martha und Fanny Wohnung in Pfäffers bestellt werden sollte,
-erklärte zu aller, am meisten zu Marthas<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> Erstaunen Judith, sie möchte
-mit nach Pfäffers gehen, sie habe sich dies lange gewünscht, und fügte
-sehr entschieden hinzu: „Wir können uns dann ablösen in Fannys Pflege
-und jede von uns kann mitunter spazieren gehen.“</p>
-
-<p>Wäre ein Stückchen Himmel eingefallen, so hätte Martha nicht
-verwunderter aussehen können. Von Judiths Gerechtigkeitssinne hatte sie
-schon mehrmals Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, auch von ihrer
-Fürsorge für Fanny; aber Freundlichkeit und Rücksicht für sie — dies
-war Martha ganz neu. Sie kam wohl der Wahrheit ziemlich nahe, wenn sie
-vermutete, daß es für Judith vielleicht jetzt nicht leicht sei, in der
-unmittelbaren Nähe des Brautpaares zu leben. Aber die Sache hatte noch
-einen anderen Grund. Judith liebte Graf T. nicht; ihr Herz war nicht
-getroffen durch seine Verlobung, ihr Stolz um so härter; sie fühlte
-sich zurückgesetzt und gedemütigt und fing an, ein wenig mit anderen
-zu fühlen, denen dasselbe begegnete. Marthas Einwirkung auf Fanny und
-besonders ihre Heiterkeit und Geduld in der Pflege derselben erfüllte
-sie mit Achtung; Frau v. B.s offene Herzensergießung hatte ihr vollends
-die Augen geöffnet; sie kam entschieden zu der Einsicht, daß sie Martha
-nicht behandelt hatte wie es billig und freundlich war, und ihre Ehre
-schien es zu fordern, dies so viel als möglich wieder gut zu machen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p>
-
-<p>Martha und Fanny wären lieber mit der Präsidentin und ihrer Tochter
-allein gewesen; aber Fanny erkannte die freundliche Absicht, und
-Martha wußte, daß Gott uns die Menschen zuweist, mit denen wir leben
-sollen, und daß wir es vor ihm zu verantworten haben, wenn wir sie mit
-Kälte und Gleichgültigleit von uns stoßen; so kamen sie beide Judiths
-Wünschen freundlich entgegen.</p>
-
-<p>Die Reise durch das schöne Rheinthal machte allen, besonders den
-beiden, die noch nicht gereist waren, die größte Freude. Da sieht man
-die Bergriesen auf beiden Seiten ragen: Säntis, Kamor, Hohekasten,
-Altemann grüßen herunter; an der anderen Seite des Thales erheben
-sich, steil ansteigend, die österreichischen Berge, während die grünen
-Matten des Thals das Auge erfreuen und im Hintergrunde die Kalande die
-Aussicht abschließt.</p>
-
-<p>Fanny blieb in einem Jauchzen, bis der Zug in Ragatz hielt und der neue
-Schwager sie liebevoll aus dem Wagen hob, um sie als sein Schwesterchen
-zu begrüßen. Als man sich ein wenig erquickt hatte, sollten die Gäste
-für Pfäffers erst an Ort und Stelle gebracht werden. Es wurden zwei
-Wagen genommen; in dem einen saß die Mama mit dem Brautpaar, im anderen
-Judith, Martha und Fanny.</p>
-
-<p>Welch wunderbarer Weg, stellenweise fast schauerlich! Die Straße
-ist dem Felsen abgewonnen; sie führt dicht am<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> Ufer der Tamina hin.
-Dies brausende, weißschäumende Gebirgswasser strömt daher über
-schwarzbraunes Felsgestein; an einigen Stellen so tief unter der
-schmalen Fahrstraße, daß es den darauf Fahrenden wohl ein wenig
-schwindelig werden kann. Zu beiden Seiten steigen hohe, fast senkrechte
-Felswände empor, so coulissenartig in- und voreinander geschoben,
-daß man stets glaubt, in einen engen Kessel eingeschlossen zu sein.
-Staubbäche, in Millionen kleine, feine, leuchtende Tröpfchen geteilt,
-ergießen sich von ihrer Höhe in die Tamina, mit so graziösem, kühnem
-Schwunge, daß sie über der Fahrstraße einen glänzenden Bogen bilden,
-unter welchem dieselbe völlig trocken bleibt. Oben an den Felsen
-glühte und zitterte noch das Sonnenlicht und tauchte die wallenden
-Wasserschleier in Regenbogenfarben, während über der Tamina die
-bläulichen Schatten des späteren Nachmittags lagen, denn nur von zehn
-bis vier Uhr vermag in den längsten Tagen die Sonne die Thalsohle zu
-erreichen.</p>
-
-<p>Fanny schmiegte sich an Martha mit glühenden Wangen; es war ihr ein
-wenig bange zwischen dem schäumenden Abgrund und dem starren Fels.</p>
-
-<p>„O, wie groß und schön!“ sagte Martha.</p>
-
-<p>„Ja, groß ist dies wirtlich“, erwiderte Judith, „schauerlich groß! Ich
-graule mich ein wenig hier; Sie auch, Martha?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span></p>
-
-<p>„Nein!“ rief diese ernst und zuversichtlich. „Ich weiß, der diese Erde
-gründete und diese Felsschlucht auseinanderriß, der diesem Wasser rief
-und es herniederbrausen läßt, der ist mein Vater, hält mich in seiner
-liebevollen, starken Hand und hat die Haare auf meinem Haupte alle
-gezählet. Das ist so tröstlich zu denken, man wird so still dabei und
-möchte doch Psalmen singen tief aus dem Herzen heraus.“</p>
-
-<p>Judith sah sie ernst und wehmütig an: „Mir ist anders, ich habe das
-Gefühl: dieselbe Gewalt, die vor Jahrtausenden diese Spalten entstehen
-ließ, kann jederzeit wieder daran rütteln; mir ist, als könnten Himmel
-und Erde in Stücke gehen, und ich fühle gleichsam schon ihr Beben.“</p>
-
-<p>„Das werden sie ja auch einmal“, sagte Martha freundlich, „aber dann
-kommt der neue Himmel und die neue Erde, wo alles nur Friede und Freude
-ist.“</p>
-
-<p>Sie sprachen nun nicht mehr, aber Fanny hatte sich fest in Marthas Arm
-geschmiegt; sie schaute und schaute, auf ihren Wangen blühte zartes
-Rot auf und ihre Augen leuchteten. Auch Judiths Augen wurden immer
-größer und ernster und zuweilen senkten sich die Lider darüber, um
-aufsteigende Thränen zu verhüllen. Es war allen befremdlich, wenn
-einmal der vorausfahrende Wagen in einen solchen Winkel zu dem ihrigen
-kam, daß man heiteres Gespräch und fröhliches Lachen daraus vernahm;
-und doch ging dies natürlich<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> zu: das bräutliche Glück überstrahlte
-selbst diese großartige Scenerie. Es kommt ja bei der Wirkung äußerer
-Eindrücke alles darauf an, wie es in dem kleinen Herzensspiegel
-aussieht, in dem sie sich abbilden.</p>
-
-<p>Als man vor den Gebäuden von Bad Pfäffers ausstieg, die, eingeklemmt
-zwischen die Felswände und jetzt vom letzten Sonnenstrahl in ihrer
-oberen Hälfte eben noch erreicht, auf den ersten Anblick einen mehr
-düsteren als angenehmen Eindruck machten, sahen sich die Insassen
-beider Wagen fragend an; das Ganze glich sehr einem natürlichen
-Gefängnis. Aber sie wurden freundlich hereingeführt, zunächst in die
-für die neuen Badegäste bestimmten Zimmer. In der Mitte lag eine
-größere gemeinsame Wohnstube, rechts ein Schlafzimmer für Judith,
-links eins für Martha und Fanny. Die Zimmer waren bequem und sauber
-eingerichtet und die künftigen Bewohnerinnen erklärten sich damit
-zufrieden.</p>
-
-<p>Die Badeeinrichtungen fand man ganz besonders blank und nett, und als
-man in eines der Versammlungszimmer trat, um den Kaffee da zu genießen,
-erhob sich am oberen Ende des Tisches ein vornehm aussehender Herr
-mit weißen Haaren und stellte sich als General E. aus Württemberg
-vor, zugleich als Bruder der lieben Präsidentin, die jährlich mit ihm
-hier zusammentreffe und die er morgen gegen Mittag<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> mit ihrer Tochter
-Friedericke erwartete. Da war die Bekanntschaft schnell gemacht,
-und als Frau v. Märzfeld mit ihrem Brautpaar abfuhr, saßen die drei
-Zurückbleibenden zutraulich neben ihrem neuen Beschützer, erzählend und
-hörend, als wären sie schon längst miteinander bekannt. Selbst Judith
-gab der süddeutschen Treuherzigkeit gegenüber ihr steifes Wesen auf.
-Der Gang in die Schlucht, in welcher die Heilquellen entspringen, wurde
-bis morgen verschoben, da man ihn nicht ohne Fanny, die von der Reise
-angegriffen war, ja, womöglich auch nicht ohne Friedericke thun wollte,
-welche sich schon in Heyden darauf gefreut hatte, ihrer Freundin diese
-Wunder zu zeigen.</p>
-
-<p>Als die Dunkelheit völlig hereinbrach, erschienen sehr
-verschiedenartige Gestalten im Gesellschaftszimmer; nur die wenigsten
-schienen den höheren Ständen anzugehören; der vermögende Teil
-der bäuerlichen Bevölkerung aus der Schweiz und Oberösterreich
-war reichlich vertreten, und Judith sah sich mit nicht eben sehr
-wohlgefälligen Blicken um unter dieser Umgebung. Ihr Staunen stieg,
-als sie den ungenierten, vertrauten, heiteren Ton gewahrte, in welchem
-sich der General mit den Leuten unterhielt und auf all’ ihre Interessen
-einging.</p>
-
-<p>„Hier“, dachte sie, „wird es schwer sein, seine Stellung zu wahren“,
-und als ein behäbiger, freundlicher Österreicher<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> sie fragte: „Wird es
-den schönen jungen Damen nicht zu einödig hier sein?“ erhielt er eine
-so kurze, ablehnende Antwort, daß Martha froh war, als Fannys Müdigkeit
-sie sämtlich nötigte, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen.</p>
-
-<p>Als Fanny ruhte, saßen Judith und Martha noch eine halbe Stunde im
-Wohnzimmer beisammen.</p>
-
-<p>„Ist das nicht schrecklich hier?“ rief Judith; „nimmt sich so ein
-Mensch heraus, mich anzureden, ohne daß ich es ihm erlaubt habe! Und
-dieser General! Gehört zu den ersten Kreisen in Württemberg und spricht
-mit diesen Menschen, als wären sie seinesgleichen!“</p>
-
-<p>„Ich glaube, Fräulein Judith, das Badeleben bringt auf ganz natürliche
-Weise den freieren Ton mit; alle sind hier um ihrer Leiden und
-Gebrechen willen, alle suchen Hilfe aus derselben Vaterhand und an
-derselben Quelle, alle sind eingeschränkt auf kleinen, engen Raum.
-Aber wenn Sie eingehend beobachten wollen, werden Sie finden, daß sich
-niemand gegen den Herrn General etwas Zudringliches oder Ungeschicktes
-erlaubt; er ist bei all’ seiner Leutseligkeit eine so wahrhaft vornehme
-Erscheinung, daß dies keiner ihm gegenüber vergessen oder verkennen
-kann!“</p>
-
-<p>Judith seufzte; sie hatte doch auch gedacht, eine vornehme Erscheinung
-zu sein und war sehr unbefriedigt von dem ersten Abend.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p>
-
-<p>Martha fand ihren Pflegling noch mit großen, offenen Augen.</p>
-
-<p>„Hören Sie nur, wie die Tamina rauscht!“ flüsterte Fanny. „Ach, bitte,
-lesen Sie noch einen Psalm oder ein Lied zur ‚Gute Nacht!‘“</p>
-
-<p>Martha griff nach der Bibel und las den 121. Psalm: „Ich hebe meine
-Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt; meine Hilfe kommt
-von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“ — bis zum Schluß: „Der
-Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele; der Herr behüte
-deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Dann betete sie
-den Vers:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Wenn der Wellen Macht</div>
- <div class="verse indent0">In der trüben Nacht</div>
- <div class="verse indent0">Will des Herzens Schifflein decken,</div>
- <div class="verse indent0">Wollst du deine Hand ausstrecken;</div>
- <div class="verse indent0">Habe auf mich acht,</div>
- <div class="verse indent0">Hüter in der Nacht!</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Martha ging noch einmal ins Wohnzimmer zurück, ihre Arbeit zu
-holen, und fand da Judith noch, die mitten im Zimmer stand und sich
-gedankenvoll auf den großen Eichentisch stützte. Jetzt blickte sie auf
-und sagte fast weich: „Wenn Sie mit Fanny lesen, schließen Sie die Thür
-nicht, oder lassen Sie mich dabei sein!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span></p>
-
-<p>„O, wie sehr gern!“ rief Martha aus vollem Herzen; sie wollte Judith
-die Hand geben, diese war aber schon in ihrem Schlafzimmer verschwunden.</p>
-
-<p>Ja, Judith fühlte, daß ihrem Dasein die rechte Erquickung mangelte;
-sie hatte auch in der letzten Zeit durch die Beobachtung ihres kranken
-Schwesterchens eine Ahnung bekommen, wo dieselbe zu finden sei, und sie
-war keine oberflächliche Natur; was sie einmal erfaßte, pflegte sie mit
-Ernst zu ergreifen.</p>
-
-<p>Am anderen Morgen nahm Fanny das erste Bad, und sowohl Martha als
-Judith freuten sich über die schönen, weißen Fließen, in welche die
-Bäder gefaßt waren, über die ganze wohlthuende und elegante Einrichtung
-in dieser scheinbaren Weltabgeschiedenheit, und da Fanny die angenehme
-Einwirkung des Wassers dankbar empfand, beschlossen ihre beiden
-Hüterinnen, sich diese Erquickung und Auffrischung der Nerven, so viel
-es thunlich sei, ebenfalls zu verschaffen.</p>
-
-<p>Gegen Mittag erschienen die Präsidentin und Friedericke, herzlich
-empfangen von dem lieben, alten Bruder und Onkel, jubelnd von Fanny.
-Gleich nach Tische kamen, wie sie es versprochen, Frau v. Märzfeld
-und ihr Brautpaar, und man beschloß, noch vor dem Kaffee den Weg in
-die Schlucht zu unternehmen, der so glatt, sicher und nahe ist, daß
-selbst Fanny, abwechselnd auf Friedericke und Martha gestützt,<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> ohne
-Bedenken daran teilnehmen konnte. Diese Schlucht, in welcher die heißen
-Quellen entspringen, gewährt in der That einen ebenso großartigen als
-schauerlichen Anblick. Die Felsen treten hier so nahe zusammen, daß
-unten nur die schäumende, brausende Tamina zwischen ihnen Platz hat,
-und über ihr ein auf sicheren Stützen ruhender Weg, oder vielmehr
-eine lange Brücke, welche bis zu den heißen Quellen hinführt, die
-sich schon von ferne durch ihren weißen Dampf ankündigen, der in dem
-wunderbaren Unterweltslichte die sonderbarsten Gestalten anzunehmen
-scheint. Die Felsen schließen sich nämlich an ihrem oberen Ende
-so nahe zusammen, daß nur ein kleiner Spalt offen bleibt, um das
-Himmelslicht einzulassen, ja an einer Stelle führt sogar der Weg nach
-Dorf Pfäffers über diesen Spalt hin. Wenn man die Einschnitte, Ecken
-und Kanten an beiden Seiten aufmerksam miteinander vergleicht, ist
-leicht wahrzunehmen, daß sie genau ineinander passen, und es macht ganz
-den Eindruck, als habe ein gewaltiger Finger diese Wände ein wenig
-auseinander gerückt, um dem brausenden Bergwasser Platz zu schaffen.
-Friedericke und Fanny hielten sich fest umfaßt, als der Führer sie
-darauf aufmerksam machte.</p>
-
-<p>„Muß das gekracht haben“, sagte Friedericke, „da hätte ich nicht dabei
-sein mögen!“</p>
-
-<p>Als man bei der heißen Quelle ankam, zeigte sich die<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> Thür zu einem
-Stollen, der in den Felsen getrieben ist, um mehr Wasser zu gewinnen.
-Da es aber darin natürlich heiß und dunkel war, verzichtete man darauf,
-ihn zu besuchen. Im Felsen an beiden Seiten bemerkte man Vertiefungen,
-wie zu einer Balkenlage.</p>
-
-<p>„Hier“, sagte der Führer, „hat früher ein kleines Haus schwebend über
-der Quelle gestanden, bevor noch ein Weg in die Schlucht hereinführte;
-die Kranken sind von oben, versehen mit Lebensmitteln, an Stricken
-heruntergelassen worden, und erst wieder heraufgezogen, wenn die Kur
-beendet war.“</p>
-
-<p>„Die sind dann ganz bei den Erdgeisterchen gewesen“, sagte Friedericke.</p>
-
-<p>„Und ich fürchte, sie hatten nicht so schönen Honig und keine
-Traubenrosinen zum Dessert, wie wir heute Mittag“, setzte Fanny hinzu.</p>
-
-<p>Beides, Honig und Rosinen, ist nicht nur kurgemäß in Pfäffers, sondern
-wird von den Ärzten aufs wärmste empfohlen und ist deshalb stets in
-Fülle und ungewöhnlicher Güte vorhanden, was Fannys vollen Beifall
-hatte. Sie war jetzt, wo Friedericke bei ihr war, ganz befriedigt; sie
-spielten, lasen und lernten zusammen, so viel oder vielmehr so wenig
-es Martha bei der Kur ratsam fand; Fanny machte an Friederickens Arm
-die kleinen Spaziergänge, welche<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> sie ausführen konnte und welche
-der Arzt zu ihrer Stärkung dringend wünschte. Sie bauten sich eine
-ganze Märchenwelt in ihrer Phantasie auf, jeder Felsvorsprung, jede
-Vertiefung hatte für sie ihre Bedeutung.</p>
-
-<p>„Dort oben, wo niemand hinkommen kann, bei den vorgeschobenen Spitzen
-und Kanten, da ist das Zwergenschloß, da sehen sie heraus und sonnen
-sich. Dort, wo das tiefe Loch in den Felsen hineingeht, wohnt die
-Erdgeistermutter; die ist verdrießlich, man hört sie brummen, wenn der
-Wind weht. Im weißen Dampf über der Quelle tanzen die Tamina-Elfen; sie
-sind so fein, daß man nur ihre Schleier wehen sieht.“</p>
-
-<p>Oder sie dachten sich ganze Geschichten aus von solchen Kranken, die an
-Stricken heruntergelassen waren, wie sie sich fürchteten und graulten,
-und wie die lieben Zwerge aus dem Felsen kamen, sie zu trösten.</p>
-
-<p>Martha sorgte, ob solche Phantasieen nicht Fannys Nerven aufregen
-würden; aber sie schlief sanft und fest; sie brauchte zum Essen nicht
-mehr genötigt zu werden und ihre Spaziergänge konnte sie mit jedem Tage
-weiter ausdehnen. Der Annahme entgegen, daß eine Rose nur in der Sonne
-ihre schöne Farbe erhalten kann, kam auf die bleichen Kinderwangen
-mehr und mehr ein rosiger Schimmer, in die matten Augen ein Strahl
-von Jugendfreude und Mutwillen, der<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> Martha entzückte. Sie selbst
-fühlte sich ebenfalls gekräftigt und vollkommen in Frieden. Seit den
-trüben Erfahrungen in Heyden hatte sie alle ungestümen Wünsche nach
-großartigen Ausflügen aufgegeben und war für die kleinen Spaziergänge,
-die ihr durch Judiths Freundlichkeit möglich wurden, dankbar.</p>
-
-<p>Das Verhältnis mit Judith erregte in hohem Grade ihr Interesse; sie
-kamen sich sehr langsam ein wenig näher, und nach dem, was sich da
-offenbarte, schien es gewiß, daß in dieser Seele noch viele verborgene
-Schätze schlummerten, die nur der richtigen Wünschelrute bedurften, um
-ans Tageslicht zu kommen.</p>
-
-<p>Eine nach der Eigentümlichkeit der Gäste größere oder kleinere
-Prüfung brachte ein Regentag; gottlob! gab es in diesem Sommer nicht
-viele. Wenn die Wolken wie dunkelgraue Gardinen zwischen den Felsen
-niederhingen, die Lampen in Korridor und Gesellschaftszimmer den ganzen
-Tag nicht ausgehen durften, die Badegäste entweder auf ihr Zimmer
-angewiesen oder in den Gesellschaftssaal gebannt waren, da gab es große
-Versuchungen zum Grillenfangen. Solch ein Tag kam in der zweiten Woche.</p>
-
-<p>Judith war eben mit ihrer Garderobe beschäftigt gewesen, jetzt folgte
-sie Martha und Fanny, die ihre Stunden beendet hatten, nach dem
-Versammlungszimmer. Dort saß<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> beim Lampenlicht der General und spielte
-mit der Präsidentin eine Partie Schach; dort hatten sich Frauen aus
-allen Ständen und Ländern mit ihren weiblichen Handarbeiten um einen
-langen Tisch gruppiert; dort saß ein Kreis bäuerlicher Besitzer und
-unterhielt sich über Verkehrsverhältnisse, Fruchtpreise und Politik.
-Die jungen Damen nahmen am Frauentische Platz, da Fanny und Friedericke
-ein kleines, besonderes Tischchen für sich in Anspruch nahmen, um mit
-ihren Modepuppen die wunderlichsten Geschichten aufzuführen. Martha kam
-bald mit ihren Nachbarn in eine lebhafte Unterhaltung.</p>
-
-<p>Das Thema nach der ersten Bekanntschaft in Badeorten ist stets das
-gleiche: die Gebrechen und Krankheiten, für welche jeder hier Hilfe
-und Heilung sucht, und dieses Thema wird zwar von verschiedenen
-Persönlichkeiten in ebenso verschiedenen Variationen vorgetragen, aber
-es berührt doch die gleichen Grundaccorde in den Herzen und führt zu
-Mitleid, Mitfreude und leichter Verständigung.</p>
-
-<p>Martha fand neben den verschiedensten Leiden und einzelner Bitterkeit
-und Verzagtheit auch viel Demut, Geduld und Gottvertrauen, und hörte
-gern und hoffnungsvoll erzählen von manchen Erfolgen, die mit Gottes
-Hilfe durch den Gebrauch dieser Quellen erreicht worden waren.</p>
-
-<p>Als das Schachspiel beendet war, kam auch Frau v. B.<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> in den
-Frauenkreis, und Martha staunte, wie sie es verstand, mit den
-einfachsten Frauen zu reden, ihr Vertrauen zu gewinnen, sie zu trösten
-und zu beraten. Der General war zu den Männern gegangen; hier entspann
-sich eine höchst lebhafte Unterhaltung über Wiesen- und Forstkultur,
-Ackerbestellung u.&#160;dergl.; je nachdem die Redenden aus verschiedenen
-Gegenden und Verhältnissen kamen, waren auch die Ansichten verschieden,
-und die Gefahr lag oft nahe, daß aus der Unterhaltung ein Streit werden
-könne. Dann hörte man stets des Generals ruhige, sichere Stimme, welche
-erklärte, vermittelte, und der sie alle sich unterzuordnen schienen.</p>
-
-<p>Judith langweilte sich aufs äußerste. Das Licht fiel schlecht auf ihre
-feine Arbeit; sie hatte dieselbe sinken lassen, lehnte sich nachlässig
-zurück, gähnte mehrmals, ohne es zu merken, und Verdruß und Müdigkeit
-spiegelten sich dergestalt auf ihrem sonst so schönen Gesichte, daß ein
-alter Oberbayer, der sie eine ganze Weile unbemerkt beobachtet hatte,
-zu ihr trat: „Sind Sie bös, Fräule, daß unser Herrgott schütten läßt?
-Hilft Ihnen doch nichts; er laßt’s deshalb nit; ’s macht ihm nichts,
-wenn ein jung Mädel die Stirn kraus zieht!“</p>
-
-<p>Judith sah ihn groß an und sehr von oben herab; sie antwortete nicht,
-verließ aber gleich danach die Halle, und<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> als ihr Martha und Fanny
-später folgten, fanden sie sie in der schlimmsten Laune oben noch im
-Finsteren.</p>
-
-<p>Fanny war jetzt immer sehr müde und schlief bald ein; als Martha leise
-in das Wohnzimmer trat, ging Judith dort mit großen Schritten auf und
-ab. Martha setzte sich mit ihrer Arbeit ruhig an den Tisch zur Lampe
-und wartete das Weitere ab.</p>
-
-<p>Endlich blieb Judith vor ihr stehen: „Jetzt sagen Sie mir, Martha, wie
-es zugeht, daß sich die Leute solche Dinge gegen mich herausnehmen?“</p>
-
-<p>„Aber, liebes Fräulein, wie kann ich das wissen?“</p>
-
-<p>„Warum passiert dem General und der Präsidentin nie etwas Ähnliches?
-Sie sagten neulich, er habe so etwas Vornehmes; ich finde das gar
-nicht; er spricht mit allen Bauern wie mit seinesgleichen. Wenn Sie es
-wissen, wo seine Vornehmheit steckt, so sagen Sie es mir!“</p>
-
-<p>Martha dachte ein wenig nach: „Darf ich mich ganz offen aussprechen,
-Fräulein Judith?“</p>
-
-<p>„Ja, ich bitte sehr; und sagen <em class="gesperrt">Sie</em> nur nicht immer ‚Fräulein‘;
-von Ihnen ist mir das sehr langweilig, wissen Sie!“</p>
-
-<p>„Es ist eine schwierige Frage; lassen Sie mich ein wenig nachdenken.
-Einesteils ist es wohl wirklich das Übergewicht der Erfahrung, des
-Wissens, der Bildung, was die Leute<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> empfinden, ohne es sich klar zu
-machen; aber ich glaube, der Grund der allgemeinen Achtung ist vor
-allem der, daß die beiden alten Herrschaften sich selbst vollständig
-in der Gewalt haben; daß sie sehr weit vorgeschritten sind in der
-Selbstbeherrschung und Selbstlosigkeit; ich denke mir, dies muß stets
-vorausgehen, ehe man anderen imponieren oder sie beherrschen will. Sie
-geben sich keine Blöße den Leuten gegenüber und, liebe Fräulein Judith,
-sie geben sich niemals das Ansehen, Respekt erzwingen zu wollen; das
-reizt in solchen Lagen, wie die unserige hier in dem kleinen Bade ist,
-gar so leicht zum Widerspruche!“</p>
-
-<p>„Ach Gott“, seufzte Judith, „wenn nur nicht das Leben mit diesen
-Menschen gar so langweilig wäre, und nicht nur mit ihnen, auch mit
-meinen Bekannten in M.; ich beneide jeden Menschen, der sich amüsieren
-kann, aber ich begreife es nicht!“</p>
-
-<p>„Ich wollte“, sagte Martha warm, „Sie begriffen es; gerade Sie, liebe
-Judith, würden so glücklich sein und andere so glücklich machen können,
-wenn Sie einmal anfingen, sich mit warmem Herzen für Ihre Mitmenschen,
-ihre Leiden und Freuden, ihre Ideen und Gedanken zu interessieren.
-Sie lesen so gern Schilderungen fremder Völker und Länder, und doch
-sind diese oft wunderbar gefärbt durch die eigentümliche Brille des
-Verfassers. Ich lese noch viel lieber in<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> einem so lebendigen Buche,
-wie wir es jetzt vor uns haben; daraus kann man viel, sehr viel lernen!
-Versuchen Sie es nur; ich hoffe, die Befriedigung findet sich!“</p>
-
-<p>Judith stand eine Weile in tiefem Nachdenken, dann sagte sie
-freundlich: „Gute Nacht, lieber Herr Professor! ich werde über die
-Vorlesung nachdenken“, und verschwand in ihrem Zimmer.</p>
-
-<hr class="tb">
-
-<p>Am anderen Morgen ward ein ähnliches Thema durchgesprochen zwischen dem
-General und der Präsidentin.</p>
-
-<p>„Ich verkehre gern mit allerlei Volk“, sagte der erstere, „man lernt
-eine Menge Dinge kennen, mit denen man sonst nicht in Berührung kommt.
-Ich verstehe es aber noch lange nicht so gut wie mein Georg, den Leuten
-nahe zu kommen; wenn der Junge kommt, sollst du dein Wunder sehen!“</p>
-
-<p>„Wenn mein Georg kommt!“ Dieses Wort hatten die Mädchen aus seinem
-Munde nachgerade so oft gehört, daß sie sich mit leichtem Lächeln
-ansahen, wenn es wiederkam. Es war dadurch allmählich „mein Georg“ eine
-Person geworden, der man mit einiger Spannung entgegen sah.</p>
-
-<p>Eines Abends, da es besonders schön und warm war, wanderten sie im
-Taminathal, die Kinder voran, Judith<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> und Martha, wie es in der letzten
-Zeit öfter der Fall war, Arm in Arm.</p>
-
-<p>Da bog ein junger Wanderer um die Felsenecke; eine große, kräftige
-und doch bewegliche Gestalt, den leichten Sommerrock aufgeknöpft, das
-Halstuch gelockert, den Strohhut in den Nacken geschoben, daß eine
-Fülle lichtbrauner Locken frei wurde und ein heiteres, lebensvolles
-Gesicht mit blitzenden, braunen Augen, gesunder, etwas gebräunter
-Farbe, fröhlich lachendem Munde und einem Grübchen in jeder Wange,
-einrahmte; ein noch nicht eben sehr voller Bart umgab das gerundete
-Kinn.</p>
-
-<p>Judith sah ihn staunend an und ärgerte sich über sich selbst, daß ihr
-unwillkürlich ein Wort in den Sinn kam, das sie aus dem Munde ihrer
-Bekannten immer sehr albern gefunden hatte: „Ein junger Gott!“</p>
-
-<p>Der „junge Gott“ ließ ihr Zeit, ihn zu betrachten, denn er war mehrere
-Schritte vor ihnen bei Fanny und Friedericke stehen geblieben, hatte
-letztere ohne Umstände emporgehoben und geküßt, was mit dem Jubelruf:
-„Vetter Georg! lieber Vetter Georg!“ erwidert wurde.</p>
-
-<p>Dann beugte er sich zu Fanny: „Und hier ist ein kleines Fräulein,
-das geht ein wenig lahm. Sind Sie ein bißchen zu weit gegangen,
-Waldnymphchen!“</p>
-
-<p>„Ich glaube“, sagte Fanny mit weinerlicher Stimme.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span></p>
-
-<p>„Darf ich Sie tragen?“</p>
-
-<p>Fanny sah ihn zweifelnd an; aber er hob sie leicht auf seinen Arm, als
-sei sie eine Feder, und ging stolz mit ihr den beiden Damen entgegen.</p>
-
-<p>„Jetzt bin ich Ihr Ritter und Sie sind meine Dame!“</p>
-
-<p>„Ein Ritter! ein Ritter!“ jauchzte Friedericke. „Erdgeister haben wir,
-Zwerge, Elfen; nun haben wir auch einen Ritter — und einen Ritter
-Georg; es ist nur schade, daß kein Drache da ist!“</p>
-
-<p>Friedericke stellte ihn den beiden jungen Damen vor; er hatte für jede
-ein heiteres, freundliches Wort, und da sie schon um der Kinder willen
-mit umwenden mußten, zogen sie wie im Triumphe mit dem Erwarteten im
-Bade Pfäffers ein.</p>
-
-<p>Natürlich wurde er von Vater und Tante sehr herzlich begrüßt, aber er
-war noch keine Stunde da, so war es, als sei ein frischer Wind in die
-ganze Gesellschaft gefahren; er plauderte mit den Alten, lachte mit den
-Kindern, verabredete gleich für den anderen Morgen einen Spaziergang
-nach der Kalandaschau und Dorf Pfäffers, für übermorgen eine Tour
-nach Ragatz und Chur; die erste sollte nach Judiths Bestimmung Martha
-mitmachen, der zweiten wollte sie selbst sich anschließen, und man
-hoffte, daß auch Frau v. Märzfeld mit dem Brautpaar von Ragatz aus
-daran teilnehmen werde.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span></p>
-
-<p>Es wurde nun alles Leben und Bewegung. „Mein Georg“ war Besitzer und
-Verwalter des Familiengutes, das in Süddeutschland lag; seine Gespräche
-mit den Landleuten waren viel eingehender als die seines Vaters; den
-Frauen machte er sich angenehm durch freundliche Besorgungen, kleine
-Erfindungen, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitrugen; mit Martha
-und Judith unterhielt er sich gern über Bücher, Bilder, über das Leben
-in der Residenz u.&#160;s.&#160;w.</p>
-
-<p>Die letztere erschien ihm wohl zuweilen etwas unergründlich, aber es
-reizte ihn sichtlich, ihr Wesen zu erforschen und dies schöne, stolze
-Gesicht aus seiner Ruhe und Feierlichkeit herauszusetzen. Dies gelang
-um so öfter, da Judith wirklich anfing, sich ihres Hochmuts zu schämen
-und mit Teilnahme auf die Gesellschaft zu blicken, die sie umgab. Wie
-sehr sie dadurch an Lieblichkeit und Anmut gewann, das merkte sie
-selbst nicht, andere desto mehr.</p>
-
-<p>Als der nächste Regentag die Gesellschaft ans Haus fesselte, kam
-„mein Georg“ mit einem jungen Oberbayer, der seine Mutter besuchte,
-aufs „Schuhplatteln“ zu sprechen; es fand sich, daß beide diesen
-oberbayerischen Nationaltanz kannten und konnten, und als der Abend
-herankam, wurden Judith und Martha bestürmt, denselben mit ihnen
-auszuführen. Ein älterer Badegast erbot sich, auf dem Flügel zu
-begleiten. Die Mädchen wollten nicht; sie hatten es ja noch nie
-gesehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p>
-
-<p>„Ach, Sie haben gar nichts dabei zu thun, als sich so graziös wie
-möglich immer im Kreise herumzudrehen, während wir schuhplatteln;
-dazwischen drehen wir Sie schon um, wie es sich gehört.“</p>
-
-<p>„Ja, aber bescheiden!“ bestimmte Judith.</p>
-
-<p>Es wurde versprochen und machte anfangs allen großes Vergnügen. Die
-beiden Tänzer waren gewandt, geübt und kräftig; es wurde ihnen gar
-nicht schwer, beim Sprung nach oben die Fußsohlen mit der flachen
-Hand zu schlagen und all’ die wunderlichen Bewegungen auszuführen,
-die der Tanz erfordert. Einen gehörigen Lärm giebt es dabei; einige
-nervenschwache Damen entflohen, alle anderen Gäste aber bildeten einen
-Kreis und sahen vergnügt und mit Spannung den Kautschukmännern zu. Der
-Bayer tanzte mit Martha, „mein Georg“ mit Judith. Sie hielten sich
-anfangs in ganz bescheidenen Grenzen und drehten ihre Damen sanft im
-Kreise herum, aber als der Georg ins Feuer kam, hatte er da vergessen,
-wen er vor sich hatte? daß Judith kein oberbayerisch Landmädel war?
-Mit raschem Griffe faßte er seine Dame fest um die Mitte, schwang sie
-mit einem lauten Juchzer hoch in die Luft und war vor Verwunderung und
-Entsetzen starr, als sie, wieder auf dem Erdboden angekommen, sich
-nicht weiter drehte, sondern mit heftigen, stolzen Schritten den Saal
-verließ und die Thür hinter sich schloß.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span></p>
-
-<p>Da stand er nun, wühlte in seinen Haaren und sah ganz verdonnert und
-unglücklich aus. Die Präsidentin war böse, der General klopfte ihm
-auf die Schulter: „Ist dir schon recht, das kommt vom Ungestüm!“ und
-Martha lief eilends der Judith nach. Sie zürnten zweistimmig, in bester
-Harmonie.</p>
-
-<p>„Nein, das ist nicht zu dulden! Das ist über alle Beschreibung
-unschicklich! So viel muß doch ein Edelmann sich in der Gewalt haben,
-daß er nicht vergißt, mit wem er zu thun hat! Dafür muß Strafe sein,
-das ist sicher!“</p>
-
-<p>Judiths erster Gedanke war, ganz und gar nach Ragatz zu entfliehen.
-Aber nein! daraus würde er sich am Ende nichts machen, oder er merkte
-es kaum, oder er könnte sich wunder was drauf einbilden, sie vertrieben
-zu haben! Nein, sie wollten ganz kalt und ganz fremd zu ihm sein, damit
-er es merkte, was er für ein schrecklicher Mensch war. Heute Abend
-wollten sie nicht mehr hinuntergehen, aber morgen früh, beim Frühstück,
-da sollte er es erleben!</p>
-
-<p>Martha war nur darüber verwundert, daß Judith plötzlich in Thränen
-schwamm; dies war bei ihr ganz ungewöhnlich.</p>
-
-<p>„Aber, Fräulein Judith“, tröstete sie, „so was entsetzlich Schlimmes
-ist es doch am Ende nicht; jeder sah ja, daß Sie nicht dafür konnten!“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span></p>
-
-<p>„Ja aber, daß Er! gerade Er!“</p>
-
-<p>„Das ist nun eigentlich so verwunderlich nicht“, sagte Martha ruhig;
-„so eine kleine Unbesonnenheit ist ihm schon zuzutrauen; kränken wollte
-er Sie sicher nicht.“</p>
-
-<p>Aber Judith war nicht zu trösten; sogar das Gotteswort und das
-liebliche Abendlied: „Der Tag ist nun vergangen“, das ihr in der
-letzten Zeit stets lieb und wert gewesen war, wollte heute nicht fassen.</p>
-
-<p>Am anderen Morgen ging sie mit sehr hocherhobenem Haupte zum
-Kaffeetische.</p>
-
-<p>„Mein Georg“ war schon da; er grüßte ein wenig verlegen, aber
-ehrfurchtsvoll und freundlich, und erhielt zum Dank eine stolze, steife
-Verbeugung. Er sprach heiter vom aufgehellten Himmel — und erhielt
-keine Antwort! Er schlug einen Morgenspaziergang vor — Judith und
-Martha versicherten, sie hätten Briefe zu schreiben. Er trat nach dem
-Kaffee näher, als wollte er um Verzeihung bitten — sowie es Judith
-bemerkte, ging sie hinaus und Martha folgte ihr.</p>
-
-<p>„Das ist ja heute unausstehlich!“ sagte der alte General; „siehst du,
-Georg, das kommt von deinen Dummheiten! Ach, Agnes, sieh, ob du es
-wieder ins gleiche bringen kannst.“</p>
-
-<p>Die Präsidentin als freundliche Tante ging wirklich und<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> klopfte am
-Märzfeldschen Wohnzimmer an, während Fanny und Friedericke, fröhlich
-plaudernd, am Kaffeetische blieben.</p>
-
-<p>Martha und Judith saßen sich sehr ernsthaft gegenüber; jede hatte einen
-großen Briefbogen vor sich und die eingetauchte Feder in der Hand, aber
-keine war aufgelegt zum Schreiben; der blaue Himmel sah so lockend
-herein; das Bedauern, durchaus Zorn halten zu müssen, wurde immer
-größer und die Frau v. B. wurde mit großer Zärtlichkeit und Ehrfurcht
-von ihnen empfangen, indem sie neben ihrer sonst schon geliebten Person
-die Hoffnung einer Veränderung dieses unerquicklichen Zustandes mit
-sich brachte.</p>
-
-<p>„Lieben Kinder!“ sagte sie, „ich komme nicht, um meinen unartigen
-Neffen zu verteidigen, sondern um Sie zu bitten, liebe Judith: nehmen
-Sie es hier in der Freiheit der Bergwildnis nicht so sehr schwer
-und verderben Sie uns allen nicht die paar freundlichen Tage des
-Zusammenseins! Ein todeswürdiges Verbrechen war’s doch am Ende nicht,
-und ich glaube, er ist schon recht gestraft; ich habe seine guten Augen
-heute noch gar nicht lachen sehen; gönnen Sie ihm wenigstens, daß er
-Ihnen selbst ein Wort der Abbitte sagt. Kommen Sie nun mit herunter und
-begleiten Sie uns auf dem Spaziergange. Sehen Sie, wie freundlich die
-Sonne lacht; da dürfen wir nicht Grillen fangen!“</p>
-
-<p>Ja, die Sonne lockte sehr; sie vergoldete die Ränder<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> der Felsen
-gegenüber, und Frau v. B.s Stimme galt viel in der kleinen
-Gesellschaft. Da nun Judith vom Fenster aus den Verbrecher das
-Thal hinab wandern sah, glaubte sie, er wünschte ebenso wenig ihre
-Gesellschaft, als sie die seine, und setzte schweigend ihren Hut auf.
-Sie gingen langsam im eifrigen Gespräch der Gesellschaft nach, bis
-Martha bemerkte, daß Fanny und Friedericke sich dicht am Rande der
-Tamina vergnügten, und voll Sorge zu ihnen eilte. Nun schloß sich
-Judith der Präsidentin an, sah aber mit Schrecken, daß Georg und der
-Bayer an der nächsten Felsenecke ihrer warteten, und blieb zurück,
-scheinbar, um einen kleinen Strauß zu binden aus den feinen Halmen,
-Moosen und Kräutern, welche in den Felsenspalten wuchsen.</p>
-
-<p>Wie es dann gekommen, daß auf einmal Frau v. B. mit dem Bayer zehn
-Schritte vorausging und sie allein und verlassen dem gefürchteten Georg
-gegenüberstand, das ist ihr niemals klar geworden.</p>
-
-<p>Er sah sie weniger verlegen als ernst und traurig an: „Fräulein Judith,
-wollen Sie mir denn nicht erlauben, Sie für gestern Abend um Verzeihung
-zu bitten? Es thut mir so sehr leid, daß ich mich so vergessen und Sie
-so gekränkt habe, aber —“</p>
-
-<p>„Herr v. E., hier giebt es kein Aber! Ein Edelmann muß sich so viel in
-der Gewalt haben, daß er sich bewußt<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> bleibt, mit wem er es zu thun
-hat; ich hätte Ihnen nicht zugetraut, daß Sie das vergessen könnten!“</p>
-
-<p>„Ach, Fräulein, das habe ich keine Minute vergessen; das war’s ja eben!“</p>
-
-<p>„Wie? Sie wußten, mit wem Sie tanzten, und wagten es, mich so zu
-beleidigen?“ rief Judith, indem sie die Farbe wechselte.</p>
-
-<p>„Immer mehr Mißverständnisse!“ rief er; „jetzt, Fräulein, muß ich
-es Ihnen ordentlich erklären. Bitte, bleiben Sie und hören Sie mich
-geduldig an!“</p>
-
-<p>Sie hatte eben Miene gemacht, zu entfliehen. Ein Umblick überzeugte
-sie, daß dies nicht wohl möglich war; vor ihr gingen die Freunde, in
-einiger Entfernung hinter ihr der fremdere Teil der Gesellschaft.
-Sie trug also mit Anstand, was sich nicht ändern ließ, und ging mit
-gesenktem Kopfe neben ihm, mit der Spitze ihres Sonnenschirmes Figuren
-in den feuchten Sand zeichnend.</p>
-
-<p>„Sehen Sie, Fräulein Judith,“ begann er, und auf der sonst so frischen
-Stimme lag es wie ein Schleier, „seitdem ich hier bin, habe ich das
-wärmste Interesse für Sie gehabt; ich betrübte mich, wenn Sie so steif
-dasaßen, und freute mich, wenn Sie lachten, und dachte schon am ersten
-Abend: ‚Was müßte das eine Freude sein, Sie so vergnügt zu machen, wie
-andere junge Mädchen sind. Sie glauben<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> es nicht, wie ich glücklich
-war, als Sie nach und nach freier, frischer und unbefangener wurden; es
-reizte mich, immer mehr dazu zu helfen. Als ich Sie gestern Abend zu
-dem Tanz überredet hatte, glaubte ich über jede Schwierigkeit hinweg
-zu sein; ich dachte mir, ich wollte Sie durchs Leben führen und lauter
-Sonnenschein um Sie verbreiten, und ich sah Sie schon vor meinen
-Augen, Sie, die ich liebe wie niemand sonst, so schön, so fröhlich, so
-glücklich und beglückend, wie es Gott ursprünglich in Ihre Natur gelegt
-hat; o Judith, ich dachte, wir wären schon so weit! Da faßte mich ein
-innerer Sturm vor Freude; ich mußte jauchzen; ich mußte Sie in die Luft
-schwingen. O Judith, liebe Judith, können Sie mir jetzt verzeihen?“</p>
-
-<p>Sie ging neben ihm, der große Mousselinhut beschattete ihr Gesicht,
-doch sah Georg, daß sie sich mit dem Tuche einen Tropfen von den
-Wimpern wischte; aber er wußte nicht, was ihm derselbe bedeutete,
-nicht, daß es die Worte waren: „Sie, die ich liebe wie niemand sonst“,
-welche ihr das Herz so bewegten.</p>
-
-<p>„Judith, sagen Sie mir nur ein Wort, nur, daß Sie nicht mehr böse sind,
-nur, daß ich ein klein wenig hoffen darf! Sehen Sie“, fuhr er auf
-einmal, mehr in seinem alten, heiteren Tone fort, „ich hab’ so nötig
-jemanden, der mich zieht, denn ich bin ein Wildfang, Sie aber sind so<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span>
-verständig! Reizt Sie die Aufgabe nicht, liebe Judith, mich zu bessern?“</p>
-
-<p>Sie schwieg noch immer; er fuhr fort: „Ich weiß, ich müßte diese
-Dinge ernster sagen, aber Gott allein weiß, wie ernst sie mir sind;
-er weiß auch, daß ich mich auf seinen Beistand verlasse, wenn ich
-Ihnen verspreche: Ich will Ihnen ein treuer Gefährte sein! Jetzt,
-Judith, wenn Sie nicht sprechen wollen, geben Sie mir Ihren kleinen
-Blumenstrauß!“</p>
-
-<p>Zagend reichte sie ihm denselben; sie schlug die Augen auf dabei; es
-waren Thränen darin, aber ein Strahl von Glück verklärte sie.</p>
-
-<p>Sie sahen jetzt die anderen sich entgegenkommen. Georg umarmte seine
-Tante: „Sie ist wieder gut; ach, Tante!“</p>
-
-<p>„Na, Junge, erdrück’ mich nicht; ich bin zu alt, um durch die Luft
-geschwungen zu werden!“</p>
-
-<p>Es ging nun alles seinen natürlichen Gang. Während Judith und Martha
-eine sehr bewegte Unterhaltung hatten, schüttete Georg seinem Vater
-sein Herz aus und erstaunte sehr, daß dieser über seine Mitteilungen so
-wenig überrascht war; dann eilte er nach Ragatz zu Frau v. Märzfeld,
-und als diese am Nachmittag mit ihrem Brautpaar herüberkam, wurden die
-neuen Verlobten der erstaunten Badegesellschaft vorgestellt, zugleich
-aber auch bestimmt, daß Judith, Martha<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span> und Fanny anderen Morgens
-mit nach Ragatz übersiedeln sollten, was der Mutter mit Recht nun
-angemessen zu sein schien.</p>
-
-<p>„Ich dacht’ halt schon gestern“, sagte der Bayer, „’s ist schad’, daß
-sie nit seine Braut ist; wir meinen, es bringt Glück, wenn einer die
-Seinige recht hoch schwingt.“</p>
-
-<p>Der Abschied von Pfäffers wurde allen schwer, aber doch sehr
-erleichtert durch die Aussicht, daß der General mit seinem Sohne,
-die Präsidentin mit ihrer Friedericke in den nächsten Tagen ihnen
-nachfolgen wollten.</p>
-
-<p>Martha freute sich von ganzem Herzen über Judiths wie über Luciens
-Glück, wenn auch Stunden kamen, wo sie sehr die Sehnsuchtsgedanken nach
-Siegfried bekämpfen mußte. Glücklicherweise blieb ihr nicht viel Zeit
-dazu; denn da jetzt Fannys Leitung und Beaufsichtigung wieder allein
-in ihrer Hand lag und Frau v. Märzfeld für die vielen Überlegungen und
-Besorgungen, welche diese Doppelverlobung mit sich brachte, nur an
-ihr eine Stütze fand, waren ihre Kraft und Zeit reichlich in Anspruch
-genommen. Ihre Stellung in der Familie war eine ganz andere geworden;
-die Liebe ihrer Töchter zu der jungen Erzieherin, die freieren und
-billigen Ansichten der Schwiegersöhne über die Stellung derselben, das
-Beispiel des Generals und der Präsidentin wirkten mildernd auf Frau v.
-Märzfelds Benehmen, und obwohl Martha<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> mit richtigem Takte die äußere
-respektvolle Form festhielt, war doch ihre Stellung zur ganzen Familie
-mehr die einer lieben, nahen Verwandten, als einer Untergebenen. In den
-wenigen Wochen, welche für den Aufenthalt in der Schweiz noch bestimmt
-waren, wurden nun noch fleißig hübsche Ausflüge gemacht, teils zu
-Wagen, teils per Bahn; da jetzt Fanny nicht mehr zu schwach dazu war,
-nahmen alle daran Teil, und so bekam Martha nach und nach ein schönes
-Stückchen Schweiz zu sehen; ja, auf der Heimreise rastete man auch in
-Heidelberg einige Tage, welches von Kind auf das Ziel ihrer Sehnsucht
-gewesen war.</p>
-
-<hr class="tb">
-
-<p>Nach der Heimkehr oder vielmehr schon auf der Heimreise gab es
-ernstliche Beratungen darüber, was mit Fanny, die jetzt fast als
-genesen anzusehen war, weiter werden sollte. Graf T. und der General,
-die sie am unbefangensten beobachtet hatten, rieten sehr dazu, sie bald
-in eine Erziehungsanstalt zu bringen mit anderen Kindern zusammen; sie
-müsse das Glück gemeinsamer Arbeit und gemeinsamer Erholung kennen
-lernen und dürfe nicht mehr, wie bisher, der Mittelpunkt des Hauses
-sein.</p>
-
-<p>Die Frau Präsidentin schlug vor, sie in dieselbe Pension<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> in der Nähe
-von Dresden zu bringen, in welcher Friedericke schon einige Jahre
-war. Dies schien allen vernünftig und gut zu sein und man beschloß,
-Martha solle sie den Winter über durch gründlicheren Unterricht auf den
-Eintritt in dieselbe vorbereiten.</p>
-
-<p>Frau v. Märzfeld bot dieser an, dann als Gesellschafterin bei ihr zu
-bleiben, aber Martha schlug das freundlich dankend ab. Sie hatte schon
-jetzt immer gefürchtet, sich ihrem speziellen Berufe durch die freiere
-Behandlung Fannys zu entfremden; verließ sie diese, so war es ihr klar,
-daß sie sich umsehen mußte nach einer Schulstelle.</p>
-
-<p>Während sie mit Fanny fleißig arbeitete und an den kleineren
-Geselligkeiten des Hauses jetzt gern Anteil nahm, wurden allerlei
-Briefe und Zeitungsannoncen ausgesandt, und schon vor dem neuen Jahre
-wurde ihr die Stelle, auf der wir sie im Anfange unserer Erzählung
-fanden, zugesagt.</p>
-
-<p>Sie konnte nur mit warmer Dankbarkeit aus dem Hause der Frau v.
-Märzfeld scheiden. Wie schwer war es zuerst, wie leicht wurde es dann!
-Wie schien erst alles so kalt, und nun fühlte sie sich so warm von
-Freundschaft und Liebe umgeben!</p>
-
-<p>Ihre Thränen flossen, auch die Thränen der anderen, als sie Abschied
-nahm; aber sie traute fest darauf in ihrem<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> Herzen, daß Gott sie auch
-in der neuen Lebenslage an seiner Hand führen werde, und sagte leise
-und getrost, als sie einsam dahinfuhr und die lieben Gesichter, die sie
-zum Bahnhof begleitet, ihren Augen entschwanden: „In Gottes Namen!“</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Kap_11">11.<br>
-Auf eigenen Füßen.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Ja, was hätte das arme, junge Mädchen wohl anfangen sollen, wenn sie
-nicht ihre Zuversicht auf ihren Vater im Himmel gesetzt hätte? Sie
-machte sich jetzt keine Illusionen mehr, sie wußte, daß die neue Lage
-große Schwierigkeiten mit sich brachte. Zum erstenmale trat sie nicht
-in eine fremde Häuslichkeit als Mitglied ein, zum erstenmale sollte sie
-des unmittelbaren Schutzes entbehren!</p>
-
-<p>Das Leben im Märzfeldschen Hause war in den Außendingen dem sehr
-ähnlich gewesen, das sie im elterlichen Hause geführt hatte; da war
-nie ein Mangel an Speise und Trank; da war sie so gestellt, daß sie
-sich ohne Sorgen anständige Kleidung und nebenbei manch gutes Buch
-anschaffen konnte; die ganze Umgebung war fein und nett; ja, sie war
-jetzt wieder verwöhnt, recht sehr verwöhnt! Würde sie es lernen, mit
-ihrem kleinen Gehalte anständig auszukommen?</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p>
-
-<p>Ihr erster Weg war zum Direktor der Schule; er empfing sie ernst und
-würdevoll, aber teilnehmend. Als sie ihn um seinen Rat wegen ihrer
-künftigen Wohnung bat, hatte er sie an Fräulein Klug gewiesen, und
-obgleich dieselbe ihr zuerst mehr schroff als herzlich entgegengekommen
-war, hatte doch das Bedürfnis nach irgendeinem Anschlusse gesiegt: sie
-war mit der alten Kollegin in eine Etage gezogen, und wir haben schon
-gesehen, wie sehr dies zum Besten der beiden Beteiligten war.</p>
-
-<p>Auch in der Schule gab es anfangs große Schwierigkeiten. Sie hatte
-sich gewöhnt, auf die Eigentümlichkeit ihrer Schülerin die größte
-Rücksicht zu nehmen, und hätte dies gern fortgesetzt; wenn aber so
-viele verschieden angelegte Kinder ein Klassenziel erreichen sollten,
-war dies nur in beschränktem Maße möglich; der Direktor mußte sich
-einmischen und sie auf geordnetere Bahnen weisen, und der Martha
-erschien es, wenn sie ihm folgen mußte, als gäbe sie ihr Allerbestes
-auf! Sie machte auch gern im Unterrichte Exkursionen, zog das
-Interessante und Anregende dem unbedingt Nötigen vor und kam dann ins
-Gedränge mit ihrem Lehrstoff. Da gab es manche Reibung, manches innere
-und äußere Unglück, bis ein unausgesprochenes Übereinkommen zustande
-kam, indem Martha einsah, daß in einem so großen, gut organisierten
-Ganzen der einzelne sich unterordnen muß,<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> wenn es auch mit manchem
-Opfer geschieht, und der Direktor dagegen, als er Marthas beglückenden,
-erziehenden Einfluß auf ihre jungen Schülerinnen sah, ihr so viel
-Freiheit gewährte, als es sich mit seiner Schulordnung irgendwie
-vertrug.</p>
-
-<p>All’ diese Erfahrungen ihres jungen und doch so wechselvollen Lebens
-gingen an ihrem Geistesauge vorüber, als sie am Weihnachtsabend dem
-Verglimmen der Lichte am Tannenbaume zusah. Wie viel hatte sie erlebt,
-seitdem sie mit Siegfried im Hause der Eltern das Weihnachtslied der
-Urgroßmutter gesungen! Oft, oft hatte sie dies Lied seitdem gelesen,
-gesungen hatte sie es nie mehr; es war ihr immer gewesen, als ginge
-das nicht ohne ihn. Ja, sie hatte hindurch gemußt durch Armut, durch
-Leid, durch Niedrigkeit; sie hatte an des Todes Pforten gestanden, als
-ihre Lieben hindurchgegangen waren; aber überall hatte Gottes Hand sie
-gehalten und zärtlich wie eine Mutter sie durch die schwersten Stunden
-geführt. Aus jeder schweren Lebenslage war ihr ein Gewinn geblieben,
-viel Liebe und Freundschaft, das hatte sie in diesen Tagen erfahren.</p>
-
-<p>Dort lagen unterm Spiegel die Briefe ihrer Lieben; dort im Wandschranke
-waren die Schätze aufgespeichert, die Judith ihr aus ihrer Wirtschaft
-geschickt; dort in dem kleinen Kasten lagen Fannys und Luciens feine
-Arbeiten; dort sah<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> sie auch auf Suschens letzten glücklichen Brief
-nach der Geburt ihres ersten Kindchens; und so reich und schön dies
-alles war, der innere Gewinn war doch noch größer. Die Sehnsucht kam
-wohl nach ihrem Siegfried, die Sorge: „Werde ich durchkommen? Wie wird
-es mir gehen, wenn ich alt und gebrechlich werde wie Fräulein Klug?“
-Aber nein! sie wollte nicht zittern und zagen, sie wollte sich und
-Siegfried fest in die Vaterhand legen, die den eingebornen Sohn aus
-Liebe uns geschenkt. Ja, heute, heute konnte sie, heute wollte sie das
-Lied der Urgroßmutter wieder singen; sie öffnete das Instrument und
-sang mit voller, klarer Stimme:</p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent0">Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht,</div>
- <div class="verse indent0">Die uns das höchste Gut gebracht:</div>
- <div class="verse indent0">Dich, Gottessohn, dich, Königskind,</div>
- <div class="verse indent0">Das man im Stall und Kripplein find’t.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Schluss">Schluß.</h2>
-
-</div>
-
-<p>Einige Stunden früher schleppte sich der Kurierzug nach B. durch die
-verschneite Landschaft. Er machte seinem Namen heute wenig Ehre; zu
-gewaltig fielen die Schneemassen, zu heftig jagte sie der Wind in die
-Hohlwege, welche der Zug passieren mußte. So lange man durchs offene
-Land fuhr, konnten Kolonnen von Arbeitern die Schienen leidlich vom
-Schnee befreien, und wenn es auch viel langsamer ging als sonst und
-die Stationszeiten nirgends eingehalten werden konnten — es ging doch
-vorwärts!</p>
-
-<p>In einem Coupé zweiter Klasse saß ein Herr mit noch jungem aber
-ernstem und gebräuntem Angesichte, das fast traurig in den Schneesturm
-hinausblickte, der seine kleinen, feinen Krystallsternchen so gegen das
-Fenster warf, daß man nur in einzelnen, seltenen Pausen einen Ausblick
-auf die Umgebung bekam; er zeigte auch nichts weiter, als ein großes
-weiß-graues Tuch, welches Häuser, Bäume, Felder und<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> jede Ungleichheit
-des Terrains verhüllte und verdeckte. Die Wagen waren geheizt, aber
-man merkte nichts davon; der eisige Sturm drang durch alle Ritzen, und
-zwei Jünglinge, dem Pelzumhüllten gegenüber, schlugen mit den Armen
-übereinander, um sich zu erwärmen.</p>
-
-<p>„Ob wir heute noch nachhause kommen, Alfred?“</p>
-
-<p>„Wollen’s hoffen“, entgegnete der Gefragte; „es wäre ungemütlich, den
-Abend im Schnee zu verbringen statt unter dem Weihnachtsbaum.“</p>
-
-<p>Der Ältere sah nach seiner Uhr: „Es ist schon fast zwei Stunden über
-die Zeit, auf dem Bahnhofe kann wohl niemand mehr sein.“</p>
-
-<p>Da ertönte ein schriller Pfiff — Stationslichter — der Schaffner
-öffnet die Thür: „N., Aussteigen!“</p>
-
-<p>Mit einem Satz, die bunten Studentenmützen fröhlich lüftend, waren die
-beiden Jünglinge draußen; man sah zwei vermummte Mädchengestalten und
-einen etwa zehnjährigen Knaben.</p>
-
-<p>„Fritz, Elisabeth, Julchen, ihr alle hier? Na, kommt nur schnell
-nachhause! Da ist auch Heinrich mit dem Schlitten!“ Die Thür flog zu,
-der Zug dampfte weiter.</p>
-
-<p>Der Reisende in der Ecke seufzte schwer: „Nachhause! Die Glücklichen
-gehen nachhause! O, wo ist mein Zuhause auf der ganzen weiten Welt?“</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span></p>
-
-<p>Heute vor fünf Jahren da hatte er zum letztenmal ein Zuhause gehabt;
-nicht bei Vater und Mutter, die lagen schon lange unterm Rasen, aber
-bei ihr; sie hatten zusammen unter dem brennenden Baum gestanden,
-sie hatten geträumt von einer süßen, gemeinsamen Heimat — und schon
-am anderen Morgen war alles zusammengebrochen! Als sich seine heißen
-Wünsche nicht gleich erfüllt hatten, da war er fortgestürmt in die
-Ferne ohne Abschied, Zorn und Stolz im Herzen und hochfliegende
-Hoffnungen und Erwartungen auf Glück und Reichtum. Übers Weltmeer war
-er gezogen, dort in Missouri wußte er eine Thür, daran durfte er nur
-klopfen, damit Fortuna ihr Füllhorn über ihn ausgoß; dort lebte der
-einsame Oheim, der sich nach seiner Hilfe und Gesellschaft sehnte und
-den er beerben sollte.</p>
-
-<p>Nach mancherlei Fährlichkeiten zu Wasser und zu Lande stand er vor dem
-stattlichen Hause; der Oheim war ausgegangen; ein frisches, junges
-Weib, mit einem lustigen, kleinen Buben auf dem Arm, empfing ihn.
-Sie war nicht herzlos, nicht unfreundlich, auch der Oheim, als er
-heimkehrte, war es nicht; aber daß sich seine Aussichten hier völlig
-verändert hatten, das brauchte ihm ja niemand zu sagen.</p>
-
-<p>Der Onkel hatte ihm unter die Arme greifen, ihm die Wege ebnen wollen
-zum Vorwärtskommen; er hatte alles<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> in seinem Hochmut abgelehnt und
-sich auf seine eigene Kraft verlassen. Er wurde bald inne, daß er etwas
-Schweres unternommen hatte; er suchte eine Stelle als Landwirt —
-man bot ihm Knechtsarbeit; er wollte als Kaufmann auf einem Comptoir
-arbeiten — und fand keine Stelle.</p>
-
-<p>Da kam die Not. Sein kleines väterliches Vermögen war ihm im Vaterlande
-sichergestellt, daran konnte und wollte er nicht rühren; an seinen
-väterlichen Freund zu schreiben, konnte er sich nicht entschließen; da
-ging es tief hinunter mit seinen hohen Gedanken.</p>
-
-<p>Monatelang hatte er als Arbeitsmann sein Brot verdient, dann war er
-Sprachlehrer gewesen; er hatte sein Leben kärglich gefristet; aber
-erworben, irgendetwas erworben, das er ihr bieten konnte, das hatte er
-nicht.</p>
-
-<p>Darum schrieb er ihr nicht; was sollte er ihr schreiben? In einer
-elenden Nacht, da sein ganzes Geschick sehr dunkel vor ihm lag, und
-ihres auch, da wurde es ihm klar: „Mit Sorgen und mit Grämen und mit
-selbst eig’ner Pein läßt Gott ihm gar nichts nehmen, es muß erbeten
-sein!“</p>
-
-<p>Und er lernte wieder beten; das verirrte Kind klopfte an des rechten
-Vaters Thür und der Vater that ihm auf und tröstete ihn.</p>
-
-<p>Er war mit einem Deutschen zusammengekommen, der hatte ein herrliches
-Grundstück für ein industrielles Unternehmen<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> und ein großes Kapital
-zum Anfang; aber ihm fehlte, was Siegfried besaß: Intelligenz,
-Kenntnisse, Thatkraft. Er bot eine namhafte Summe, wenn dieser ihm sein
-Geschäft in Gang bringen wolle, und fortdauernden Anteil am Gewinn.</p>
-
-<p>Das Unternehmen gelang; sowie dies sich zeigte, hatte Siegfried an sie
-geschrieben, an seine Martha; er erhielt keine Antwort.</p>
-
-<p>„Sie wollen ihr den Brief nicht zeigen“, dachte er, und als nach einem
-Vierteljahre keine Antwort kam, schrieb er noch einmal, diesmal an den
-Vater; wieder lange, lange keine Antwort. Endlich kam der Brief zurück:
-„Adressat seit Jahren tot, Angehörige verzogen.“</p>
-
-<p>O Gott, wie wurde nun sein Herz so schwer! Sobald sich’s thun ließ,
-ging er nach Newyork, um dort womöglich Landsleute zu treffen; es
-gelang ihm; sie brachten die Schreckenskunde vom Konkurs und dem gleich
-darauf erfolgten Tode des Kommerzienrats; aber niemand, niemand wußte,
-wo die Seinigen geblieben waren.</p>
-
-<p>Welche Qual! Er schrieb an den Onkel Konsul und erfuhr auch dessen Tod.
-Wie lang, wie endlos lang wurde ihm das Jahr, das er durchaus noch in
-Amerika verleben mußte, wenn das Unternehmen in sicheren Gang kommen
-sollte!</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span></p>
-
-<p>Nun war er in der Heimat, bei ungünstiger Jahreszeit in Sturm und
-Wetter herübergefahren, und schon wochenlang irrte er umher und suchte
-sie, ohne eine Spur von ihr entdeckt zu haben. Auf der Post wußte
-man nichts mehr von ihrer Adresse; die Angehörigen des Onkel Konsul
-waren nach dem Süden gezogen; entferntere Bekannte erinnerten sich, in
-irgendeiner Zeitung die Todesnachricht der Frau Feldwart gelesen zu
-haben; sie wußten nicht mehr, wann und woher, und die Zeitung fand sich
-nicht. Das war ihm gewiß: er mußte in der Heimat bleiben, mußte seine
-Nachforschungen fortsetzen; es mußte ja möglich sein, sie zu finden;
-wenn es gar nicht anders ging, durchs Einrücken in die Blätter.</p>
-
-<p>Ach, wenn er doch damals in seinem Hochmut nicht fortgegangen wäre!
-Wie viel hätte er der Verlassenen sein können! Es konnte aber länger
-dauern, bis er sie fand, und er wollte sich einen Wirkungskreis
-schaffen, um nicht müßig zu sein, und hatte sich hier und da ein
-Besitztum angesehen, das seinen Mitteln und Ansprüchen entsprach.</p>
-
-<p>So verlassen, so betrübt, so voll Sehnsucht hatte er sich noch nie
-gefühlt wie heute; zum erstenmale kam ihm der Gedanke, sie könne
-gestorben sein oder — was war schlimmer? verheiratet. Er dachte daran:
-„Es ist ja Weihnachten!“ Es fiel ihm der Engelgruß ein: „Siehe, ich
-verkündige<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> euch große Freude!“ Ach, in seinem Herzen da war nur Leid;
-er bat den lieben Gott um einen Brosamen von der Freudenfülle, die
-sich heute über die ganze Welt ergoß, und sein Herz wurde stiller und
-ergebener, wenn es auch eben noch nicht fröhlich wurde.</p>
-
-<p>Der Bahnzug fuhr jetzt langsam an einer kleinen Station vorüber; hier
-hielten die Kurierzüge nicht an, es ging weiter in die Nacht hinein.
-Da auf einmal ging es langsam, immer, immer langsamer; man sah an
-den Seiten schwarze, vermummte Gestalten mit Laternen und Schaufeln
-arbeiten; man hörte durch den Sturm hindurch die Unterhaltung der
-Schaffner mit den Leuten. Aber alle Anstrengungen waren vergeblich;
-immer höher baute sich die Mauer im Hohlwege, die der Zug nicht
-durchbrechen konnte; sollte er nicht ganz darunter begraben werden,
-mußte man zurückkehren zu der kleinen Station; es geschah.</p>
-
-<p>Frierend stieg der Reisende aus und wollte eben in die Restauration
-treten, da klang es durch den Sturm wie Glockengeläute und durch das
-Schneetreiben schimmerte es auf einem nahen Hügel wie erleuchtete
-Fenster.</p>
-
-<p>„Ist hier Christvesper?“ fragte er.</p>
-
-<p>„Ja wohl, unsere Kinder wollen eben hin.“</p>
-
-<p>Der Reisende fror, er hätte sich gern erst gewärmt, aber eine deutsche
-Christvesper — die heimelte ihn gar zu sehr an.<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> Ach ja, es ward
-ihm auch innerlich warm und wohl, als er mitsingen durfte: „Dies
-ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit!“
-Er schmeckte den süßen Trost für alles Weh, der in der himmlischen
-Freudenbotschaft lag; aber er betete, betete aus vollem Herzen,
-Gott wolle ihm die wiederschenken, die vor fünf Jahren die letzte
-Christvesper neben ihm gefeiert.</p>
-
-<p>Siegfried, siehst du sie nicht, die schlanke Gestalt, die gar nicht
-weit von dir neben dem Pfeiler sich über ihr Gesangbuch beugt? Nein,
-er sah sie nicht; sie kehrte ihm den Rücken, und ihre weiße Capote
-verhüllte den jugendlichen Kopf.</p>
-
-<p>Als die Christvesper zu Ende war, trat er in ein Gasthaus, um sich zu
-erwärmen und etwas Speise zu sich zu nehmen; wenige Reisende fand er
-hier — sie waren heute alle zuhause!</p>
-
-<p>Eine Stunde verging in gleichgültiger Unterhaltung; Siegfried trat ans
-Fenster: es hatte sich schon während des Gottesdienstes aufgehellt,
-jetzt war es völlig still. Er wollte nach dem Bahnhofe und sich
-erkundigen nach der Weiterreise. Ein schriller Pfiff der Lokomotive
-machte es ihm wahrscheinlich, daß es die höchste Zeit sei.</p>
-
-<p>„Ist hier der nächste Weg nach dem Bahnhofe?“ fragte er eine
-vorübereilende Frau.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span></p>
-
-<p>„Nein, gehen Sie hier durch die Schustergasse, das ist näher!“</p>
-
-<p>Er ging weiter, aber er ging wie im Traum; er war mit seinen Gedanken
-bei dem Weihnachtsabend vor fünf Jahren; er dachte an Urgroßmutters
-Weihnachtslied: „Du wurdest arm, daß ich würd’ reich; nun gilt mir arm
-und reich sein gleich.“ Das wußte er noch, denn daran hatte er damals
-seinen Antrag geknüpft. O, wie wünschte er, das ganze Lied noch zu
-können, jetzt könnte er’s mit anderem Sinne singen!</p>
-
-<p>Was war das? War es eine Geisterstimme? Hoch über ihm klang’s herab,
-und ach, mit welcher Stimme: „Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht, die uns
-das höchste Gut gebracht; dich Gottessohn, dich Königskind, das man im
-Stall und Kripplein find’t.“</p>
-
-<p>Einen Augenblick stand er wie in einen Traum versunken, dann kam
-Bewußtsein und Bewegung.</p>
-
-<p>„Wer singt da?“ fragte er einen Schusterjungen, der eilends
-vorüberlief, um noch Schuhe wegzutragen, die beschert werden sollten.</p>
-
-<p>„Es wird die neue Lehrerin, die Fräulein Feldwart, sein!“</p>
-
-<p>Ach, da war im Nu der Fremde im Hause verschwunden; unten im Flur
-brannte ein trübes Lämpchen, das ihm<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span> die Treppe zeigte. Er wollte
-sehr leise hinaufgehen, aber oben war kein Licht; er trat fehl und die
-Stufen knarrten. Martha brach mitten im zweiten Vers ab und öffnete die
-Thür.</p>
-
-<p>Fast erschrocken stand sie dem Manne im Reisepelz gegenüber; vorsichtig
-und schüchtern trat er näher.</p>
-
-<p>„Erschrecken Sie nicht, Martha, es ist ein alter, treuer Freund!“</p>
-
-<p>Ach, jetzt wußte sie, wer es war, jetzt hielt er sie umschlungen und
-mußte sie halten, damit sie nicht umsank, und dann hörte man lange,
-lange nichts anderes als leises Schluchzen; ja, dies Weihnachtsgeschenk
-war so groß, daß es das schwache Herz nicht gleich fassen konnte.</p>
-
-<p>Aber dann tauschten sie ihre Erlebnisse aus, erst abgerissen und dann
-zusammenhängender, und sahen sich dabei an und fanden, daß wohl etwas
-von der Rundung und dem Schmelz der ersten Jugend aus den Zügen fort
-war, aber dafür etwas darin, was viel, viel schöner war; und die alte
-Liebe und Treue, die war geblieben, und daran hatten sie beide niemals
-gezweifelt.</p>
-
-<p>„Und wo kommst du heute her, Siegfried?“</p>
-
-<p>„Aus einem kleinen Orte, den du wohl kaum kennst, aus Weißfeld. Der
-Amtmann dort hat sich in Schlesien ein größeres Gut gekauft und will
-Weißfeld verkaufen; ich<span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span> habe Lust, den Kauf abzuschließen; es gefiel
-mir dort gar manches.“</p>
-
-<p>„Was gefiel dir, Siegfried?“ fragte Martha mit strahlenden Augen.</p>
-
-<p>„Ach, es führte mich eine alte, krumme Frau herum; das war ein
-prächtiges altes Geschöpf; ich dachte mir’s so schön, die bis zum Tode
-zu pflegen. Und dann, Martha — ach, es ist fast ein bißchen sonderbar
-— aber du wirst es verstehen; es war da ein kleiner eiserner Tisch
-und eine Bibel darauf, und die Alte sagte, es rühre von einer früheren
-Besitzerin her, die habe gewünscht, daß es so bleiben möchte, das
-brächte dem Gute Segen. Das gefiel mir auch!“</p>
-
-<p>Er wunderte sich, als er ihr Gesicht von Thränen überströmt sah.</p>
-
-<p>„O Urgroßmutter! Urgroßmutter!“ rief sie aus.</p>
-
-<p>Da war denn Siegfried voll Erstaunen, als er den Zusammenhang erfuhr.</p>
-
-<p>„Ja“, sagte Martha, „‚denen, die mich lieben und meine Gebote halten,
-thue ich wohl bis ins tausendste Glied!‘ Das ist gewißlich wahr!
-O Siegfried! Siegfried! Es ist ein Zusammenhang da zwischen dem
-Betschemel der Urgroßmutter und dem Glück ihrer Urenkelin!“</p>
-
-<p>Siegfried war auch bewegt.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p>
-
-<p>„Das ist ein schöner Gedanke, aber auch ein ernster und
-verantwortungsvoller“, sagte er, „wenn man sich als ein Glied in einer
-so großen Kette betrachtet, beeinflußt von der Vergangenheit und weiter
-wirkend in die Zukunft hinein.“</p>
-
-<p>Martha wunderte sich, daß er in Weißfeld nichts von ihr gehört habe;
-aber sein Aufenthalt war nur kurz gewesen — „und“, sagte Martha, „die
-Urgroßmutter hat uns gewiß selbst wieder zusammenführen wollen durch
-ihr Weihnachtslied.“</p>
-
-<p>„Wie wird sich Suschen, mein liebes Suschen freuen, wenn ich dort
-einziehe! Aber eine Bitte habe ich noch, Siegfried, eine recht große.
-Nicht wahr, wir haben ein Stübchen übrig für meine alte, liebe Freundin
-Klug?“</p>
-
-<p>Und als der glückliche Bräutigam vernommen, was diese seiner Braut
-gewesen war, da stimmte er mit Freuden zu; sie sollte sogleich zum
-Abendbrot gerufen werden und ihr Glück vernehmen.</p>
-
-<p>„Aber erst will ich alles festlich herrichten!“ sagte Martha.</p>
-
-<p>Sie steckte neue Lichter an das Weihnachtsbäumchen, sie deckte den
-Tisch mit einem reinen, weißen Tuch und besetzte ihn mit Judiths guten
-Gaben, denen „mein Georg“ einige Flaschen Rotwein beigefügt. Dann stand
-das Brautpaar<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> vor der alten Freundin, die sehr überrascht und bewegt,
-aber voll Liebe und treuer Wünsche war.</p>
-
-<p>„Und nun müssen Sie mit uns essen“, drängte Martha, „ich muß ja doch
-eine Brautmutter haben!“</p>
-
-<p>Und an der fröhlichen Abendtafel da trug man ihr die schönen
-Zukunftspläne vor. Es war ihr zuerst zu neu und wunderbar, dann faltete
-sie ihre Hände wie zu einem stillen Gebete: „Ja, Kinder, wenn mir nicht
-der liebe Gott ein anderes Altenstübchen anweist, so gehe ich mit; ich
-will euch, so er hilft, nicht zur Last sein!“</p>
-
-<p>„Was werden meine Kinder, meine lieben Kinder sagen?“ ging wehmütig
-durch Marthas Seele; aber sie tröstete sich: „Bis Ostern bin ich
-noch bei ihnen, und Agnes, Helene und Eva müssen jedenfalls meine
-Brautjungfern sein!“</p>
-
-<p>Das Abendbrot war verzehrt, die Uhr zeigte auf zehn.</p>
-
-<p>„Und nun, Martha“, sagte Siegfried, „bevor ich gehe —“</p>
-
-<p>Sie fiel ihm ins Wort: „Nun, Siegfried, singen wir noch einmal zusammen
-Urgroßmutters Weihnachtslied!“</p>
-
-<p>„Ja, Martha, und mit mehr Verständnis als vor fünf Jahren.“</p>
-
-<p>Die Lichter am Baume strahlten, die Augen glänzten noch heller und die
-Herzen schlugen in heiliger Weihnachtsfreude, als sie sangen:</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span></p>
-
-<div class="poetry-container">
-<div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht,</div>
- <div class="verse indent0">Die uns das höchste Gut gebracht,</div>
- <div class="verse indent0">Dich Gottessohn, dich Königskind,</div>
- <div class="verse indent0">Das man im Stall und Kripplein find’t.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Daß ich empfinge Kindesrecht,</div>
- <div class="verse indent0">Wohnst du wie ein geringer Knecht;</div>
- <div class="verse indent0">Drum will ich gern veracht’t und klein,</div>
- <div class="verse indent0">Herr, Dir zu Lieb’ und Ehren sein.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Dein war des Himmels Herrlichkeit,</div>
- <div class="verse indent0">Aller Welt Schätze weit und breit;</div>
- <div class="verse indent0">Du wurdest arm, daß ich würd’ reich,</div>
- <div class="verse indent0">Nun gilt mir arm und reich sein gleich.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Du kamst aus lichtem Himmelssaal</div>
- <div class="verse indent0">Und gingst für mich durchs dunkle Thal;</div>
- <div class="verse indent0">Ich bin zum Leid nun auch bereit,</div>
- <div class="verse indent0">Da du es durch dein Leid geweiht.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Für mich, mein Lebensfürst und Gott,</div>
- <div class="verse indent0">Gabst du dich hin in Todesnot;</div>
- <div class="verse indent0">Daß ich dem Tod verfall’nes Kind</div>
- <div class="verse indent0">Durch dich das ew’ge Leben find’.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Ich kniee an dein Kripplein hin</div>
- <div class="verse indent0">Und fasse nicht das Wunder drin,</div>
- <div class="verse indent0">Und bitte dich: O Herr, verleih,</div>
- <div class="verse indent0">Daß dies mein Bitten ernstlich sei!</div><span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse indent2">Du giebst dich mir, Herr Christ, ich hab’</div>
- <div class="verse indent0">Nur mich als arme Gegengab’.</div>
- <div class="verse indent0">O nimm mich hin, Rat, Kraft und Held,</div>
- <div class="verse indent0">Und mach aus mir, was dir gefällt.</div>
- </div>
-</div>
-</div>
-
-<p>Ja, jetzt war ihr Bitten ernstlich; sie wußten, der Herr mußte noch
-viel an ihnen thun und viel mit seiner Liebe zudecken, wenn sie ihm
-gefallen sollten; sie wußten auch, daß er sie zu diesem Ende noch auf
-manchen sauern Weg und manche rauhe Bahn führen werde; aber sie waren
-getrost. Sie verließen sich nicht mehr auf sich selbst oder andere
-menschliche Stützen, sondern auf den, der sie mit seinen Augen geleitet
-durch alle die schweren Jahre, und:</p>
-
-<p>Herr Gott Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verläßt!</p>
-
-<div class="figcenter illowe8" id="schluss_deko">
- <img class="w100" src="images/schluss_deko.png" alt="Dekoration">
-</div>
-
-<div class="chapter padtop5">
-
-<hr class="r5">
-
-<p class="s5 center">Druck von Friedr. Andr. Perthes in Gotha.</p>
-
-<hr class="r5">
-
-</div>
-
-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DAS WEIHNACHTSLIED</span> ***</div>
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-
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-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
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-Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
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-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation&#8217;s EIN or federal tax identification
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-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state&#8217;s laws.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
-Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
-to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
-and official page at www.gutenberg.org/contact
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
-public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
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-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
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-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
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-visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg&#8482; concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg&#8482; eBooks with only a loose network of
-volunteer support.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
-necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
-edition.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Most people start at our website which has the main PG search
-facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This website includes information about Project Gutenberg&#8482;,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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