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If you are not located in the United States, you -will have to check the laws of the country where you are located before -using this eBook. - -Title: Das Weihnachtslied - Eine Erzählung für junge Mädchen - -Author: Lina Walther - -Release Date: December 11, 2022 [eBook #69525] - -Language: German - -Produced by: Jens Sadowski, Reiner Ruf, and the Online Distributed - Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was - produced from images generously made available by The - Internet Archive) - -*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS WEIHNACHTSLIED *** - - - #################################################################### - - Anmerkungen zur Transkription - - Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1887 so weit - wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler - wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr - verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; - fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert. - - Der Ausdruck ‚et cetera‘ wird im ursprünglichen Text mit Hilfe - der Tironischen Note ‚Et‘ dargestellt. Da diese Note in vielen - Zeichensätzen nicht enthalten ist, wird in der vorliegenden Fassung - die im Deutschen gebräuchliche Abkürzung ‚etc.‘ verwendet. - - Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt; besondere - Schriftschnitte werden im vorliegenden Text mit Hilfe der folgenden - Sonderzeichen gekennzeichnet: - - gesperrt: +Pluszeichen+ - Antiqua: ~Tilden~ - - #################################################################### - - - - - Das Weihnachtslied. - - - - - Das Weihnachtslied. - - [Illustration] - - Eine Erzählung für junge Mädchen - - von - - Lina Walther. - - - Gotha. - - Friedrich Andreas Perthes. - - 1887. - - - - - Ihren drei Nichten - - Elisabeth Moeller - - Hanna Pfeifer - - und - - Anna Moeller - - gewidmet - - von der - - Verfasserin. - - - - -Inhalt. - - - Seite - - 1. Einleitung 1 - - 2. Jugendsonnenschein 16 - - 3. Sturm 29 - - 4. Not und Sorgen 44 - - 5. Suschen von drüben 52 - - 6. Die Urgroßmutter 82 - - 7. Muß man denn immer im Streit sein auf Erden 120 - - 8. Schwerer Abschied 139 - - 9. Bei Werners 154 - - 10. Noch eine neue Schule 192 - - 11. Auf eigenen Füßen 285 - - Schluß 289 - - - - -1. - -Einleitung. - - -Die Adventszeit hatte begonnen. Am Morgen war der erste Schnee -gefallen; jetzt erglänzte der Abendhimmel klar und rein; die mit -den feinen Krystallen des Rauhreifs geschmückten Zweige hoben sich -scharf ab von seinem leuchtenden Hintergrunde; vom nahen Rain herüber -hörte man die Stimmen jubelnder Kinder, die zum erstenmal in diesem -Jahre auf ihren Handschlitten die rasche, immer aufs neue beginnende -Reise machten, vom Hügel zur darunter liegenden Wiese. Am Ende einer -Lindenallee, die mit ihren feinen Zweigen ein besonders strahlendes -Bild in der lichten Landschaft abgab, wenige Minuten nur von der -kleinen Stadt entfernt, öffnete sich jetzt die Thüre eines großen, -grauen Hauses, und mit leisem, fröhlichem Geplauder erschienen auf -der Schwelle etwa 20 bis 25 jugendliche Gestalten, einige schon -jungfräulich erscheinend, andere noch in der Kindheit stehend. -Sobald sie die breite Freitreppe verließen, war es, als sei ein Trupp -gefangener Vögel in Freiheit gesetzt worden: die älteren wanderten -paarweis oder zu dreien plaudernd dahin; die jüngeren versuchten zu -schlittern, und hie und da griff eine mit etwas scheuem Seitenblick -nach den Fenstern des Hauses wohl auch nach einem Schneeball, eine -fröhliche Kanonade zu beginnen. Da hörte man etwas lauter als -gewöhnlich eine schlanke Blondine sagen: „Kinder (Kinder ist eine sehr -oft gebrauchte Anrede zwischen Backfischen), sie ist reizend!“ Als ob -das Signal zum Sammeln geblasen wäre, so flogen jetzt die Köpfe aller -größeren Mädchen nach der Seite der Sprecherin; sie stand sofort von -einem dichten Kreis umgeben, aus welchem immer wieder die Ausdrücke: -„Entzückend! einzig! süß! zu lieb!“ zu hören waren. - -„Ja“, rief eine kleine runde Braune, „es giebt nur +eine+ Fräulein -Feldwart. O, wie ist sie liebevoll! und so anmutig! Stundenlang kann -man ihr mit Spannung zuhören; bei der alten Fräulein Klug wurde ich -immer in der ersten Viertelstunde müde!“ - -„Was weiß sie alles“, rief eine andere, „wie erzählt sie, wie schön -singt sie!“ - -Der Gegenstand dieser Begeisterung war die neue Lehrerin, Martha -Feldwart, welche seit Ostern in die Schule der Frau W., für die alte, -gebrechlich gewordene Fräulein Klug, eingetreten war. - -Jetzt öffnete sich die Hausthüre noch einmal, und die schwärmerisch -Verehrte erschien auf der Schwelle, in der Hand den Regenschirm und -die Mappe mit den Zeichnungen, Noten und Büchern. Es war eine leichte, -schlanke Gestalt, mit einem feinen, ein wenig blassen Gesichte, dessen -dunkle Augen in lieblicher Freundlichkeit leuchteten, als die jungen -Mädchen sie umdrängten, und von allen Seiten die Bitte ertönte: -„Ach, lassen Sie mich Ihren Regenschirm tragen! Ihre Mappe, Fräulein -Feldwart!“ - -„Laßt es mir nur“, sagte sie mit angenehmer, herzlicher Stimme, „ich -kann es ja doch nicht allen zugleich geben.“ - -„Aber jeder ein kleines Stück, bitte, bitte!“ fing der Chor noch einmal -an, und die Kühnsten hatten sich schnell in Besitz der fraglichen -Gegenstände gesetzt. - -„Trugt ihr Fräulein Klug auch immer die Mappe nachhaus?“ fragte -Fräulein Feldwart. - -Die Kinder blickten sich an mit wunderlichen Gesichtern; endlich sagte -eine: „Ach, das hätten wir gar nicht gewagt; sie sah immer so böse aus, -Fräulein Feldwart!“ - -„O“, erwiederte diese ernst, „sie ist gewiß immer recht müde und -matt gewesen, die Arme! Wie schwer mag ihr der Unterricht bei ihren -Schmerzen in letzter Zeit geworden sein. Nun hört! bis an die Ecke der -Schustergasse dürft ihr mir die Sachen tragen, -- wenn ihr es durchaus -wollt; dann gebt ihr sie mir ohne Widerrede und laßt mich alleine -nachhause gehn.“ - -Wenn Fräulein Feldwart so bestimmt sprach, war ihr nichts abzuhandeln, -gar nichts! das wußten die Kinder. Die Schustergasse war schnell -erreicht, und mit herzlichem Gruße trennten sich Lehrerin und -Schülerinnen. - -„Warum wir nicht weiter mitkommen sollen?“ fragte die kleine braune -Helene. - -„Ich glaube, ich weiß es“, rief die blonde Eva, „es ist von wegen der -Klug, die wohnt mit ihr in einem Hause!“ - -„Hört!“ fing jetzt Agnes mit leuchtenden Augen an, „mir fällt eben -etwas zu Schönes ein; sie ist noch so fremd hier; wir müssen ihr zu -Weihnachten ein Bäumchen putzen, und jede von uns hängt eine kleine -Arbeit daran.“ - -Begeisterung und Zustimmung von allen Seiten! Welch neuer Stoff zur -Unterhaltung! An jeder Straßenecke gab es vor der Trennung noch eine -lange Konferenz, und den Müttern wurde zuhause kaum Zeit gelassen, -sich nach der ungewöhnlichen Verzögerung des Heimwegs zu erkundigen. -Bevor noch das sonst so ersehnte Vesperbrot angerührt wurde, waren -sie überschüttet mit den schönen Weihnachtsplänen, und die meisten von -ihnen, froh über den beglückenden Einfluß der jungen Lehrerin, boten -gerne die Hand zu ihrer Ausführung. - -Indessen hatte Martha Feldwart das bescheidene Haus erreicht und die -beiden Treppen erstiegen, welche zu ihrer einfachen Wohnung führten. -Angenehm überrascht blieb sie einen Augenblick auf der Schwelle stehen; -das Feuer im Ofen brannte schon und verbreitete eine behagliche -Wärme; der Kaffeetisch war gedeckt, und die kleine Kanne stand in der -Ofenröhre. „Die gute Fräulein Klug!“ rief die Eintretende gerührt, -„da hat sie ’mal wieder alles für mich gethan, trotz ihrer steifen -Glieder!“ Kaum hatte sie Hut und Mantel abgelegt, da eilte sie den -Korridor entlang zum Stübchen der alten Kollegin, ihr Gruß und Dank für -ihre Mühe und Sorgfalt zu bringen. - -Es war eine krumme, gebeugte Gestalt mit einem Angesichte voller -Runzeln und Falten, die dort im Lehnstuhl ruhte, und da sie viel an -Gliederschmerzen litt, trugen ihre Züge einen leidensvollen, grämlichen -Ausdruck; aber aus den Augen leuchtete es doch freundlich, als sie -ihrer jungen Nachfolgerin die welke Hand entgegenstreckte: „Ich bin ja -froh, Fräulein Marthchen, wenn ich noch ’mal was thun darf“, erwiderte -sie auf Marthas warmen Dank. - -„Sie sollten herüber kommen und den Kaffee mit trinken!“ bat diese. - -„Lassen Sie mich, liebes Kind! ich habe eben eine Lage gefunden, in -welcher ich es ohne Schmerzen aushalten kann, und Sie müssen ja doch -dann Hefte korrigieren; da können Sie keine Gesellschaft gebrauchen.“ - -„Ich sehe aber nachher noch einmal herein und helfe Ihnen ins Bett; das -darf ich doch?“ - -„Gewiß“, lächelte die Alte, und die Jüngere kehrte in ihr ungemein -sauberes, gemütliches Zimmer zurück. - -„Ich will mir doch morgen Wolle mitbringen zu einem Tuch für sie“, -sagte sie leise. - -Schöne Adventszeit! Das Christkind ist nicht weit; seine Liebe dringt -durch Paläste und Hütten, seine dienstbaren Geisterchen gehen von -Haus zu Haus, von Herz zu Herz, erwecken Liebesgedanken, entzünden -zu Liebesthaten: groß und klein, und alt und jung. Gar so schnell -eilten Tage und Stunden dahin für alle die emsig schaffenden Hände; -der Christabend erschien, bevor man sich dessen versah. Es war kein -freundlicher Tag mit strahlendem Sonnenschein über der weißgekleideten -Erde. Vom Morgen an tanzte der Schnee durch die Luft in so dichten -Flocken, daß man kaum wenige Schritte weit sehen konnte; der -Wirbelwind jagte ihn, schlug ihn an die Fensterscheiben, und trieb -ihn den mühsam dahinschreitenden, vermummten Gestalten ins Gesicht, -welche ihre letzten Weihnachtsbesorgungen machen wollten; er warf -an den Straßenecken Schneeberge auf, als wollte er allen Verkehr -hindern und hemmen; er entführte die leinenen Wände der Buden auf dem -Weihnachtsmarkte, und dort an der Ecke, wo sie seiner Gewalt am meisten -ausgesetzt waren, stürzten mit großem Krachen zwei Honigkuchenbuden um; -der Besitzer schimpfte und rieb sich die Glieder, die etwas getroffen -worden waren. Mit großem Hallo! und Heisa! eilte die Straßenjugend -herbei, wühlte im Schnee und suchte verunglückte Honigkuchenmänner, -Pfeffernüsse und Bonbons darunter hervorzuziehen. Der Mann wehrte, -seine Frau drohte, aber es war ja Weihnachten! Ein sehr schlimmes -Gericht erging nicht über die Eindringlinge, und manches arme Kind -hielt in den kalten dunkelroten Händchen mit strahlendem Angesichte ein -süßes Beutestück. Auch Martha hatte sich gegen Abend wohl vermummt noch -einmal hinausgewagt mit einem Korb am Arme. Ihre Waschfrau war krank -gewesen und erst seit wenigen Tagen wieder außer Bett; ihr trug sie -etwas Lebensmittel und selbstgestrickte Müffchen und Strümpfe für die -Kinder hin; viel konnte sie nicht erübrigen von ihrem kleinen Gehalt, -aber es war ja Weihnachten! da mußte sie auch die Freude des Schenkens -haben. Sie fand die Familie um ein Tannenbäumchen versammelt, an dem -wenige Äpfel und Nüsse hingen und ein paar kleine Lichter brannten. -Mit Jubel wurden ihre Gaben empfangen, und die Danksagungen aller -folgten ihr, als sie von da den weiteren Weg zum Vespergottesdienst -antrat. Es war ein rechtes Kämpfen gegen Sturm und Wetter; aber es war -ja Weihnachten! Von rechts und links, aus kleinen Gassen und breiten -Straßen eilten mit fliegenden Mänteln und Kleidern alte und junge -Gestalten herbei, und als die kleine Kirche mit den lichtübersäeten, -liliengeschmückten Weihnachtsbäumen die Wanderer in ihren Friedenshafen -aufnahm, als ihnen entgegenklang: „Dies ist die Nacht, da mir -erschienen des großen Gottes Freundlichkeit; das Kind, dem alle -Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit, und dieses Welt- und -Himmelslicht weicht hunderttausend Sonnen nicht“; -- da verstärkte der -Gegensatz von drinnen und draußen das selige Gefühl, beim Christkind -geborgen zu sein vor allem Weh und allem Leid des Lebens. Auch in -Marthas empfängliches Herz drang der Strahl der Weihnachtssonne, auch -sie empfand tief das: „Siehe, ich verkündige Euch große Freude!“ und -erhoben und erquickt trat sie den Rückweg an. Er war weit leichter als -der Hinweg; denn, als hätte auch der Sturm die Nähe dessen gefühlt, dem -Wind und Meer gehorsam sind: es war ganz stille geworden draußen. Der -Mond war durch die Schneewolken hindurchgebrochen; in seinem milden -Lichte glänzten festlich die weißen Straßen und Dächer; hin und wieder -ward jetzt ein Fenster hell und die Lichter des Christbaumes warfen -ihren Schein hinaus auf die Straße. „Es ist doch schade, daß ich mir -kein Weihnachtsbäumchen geschmückt habe“, dachte Martha als sie die -enge, wohlbekannte Treppe hinaufstieg. Sie zündete ihre Lampe an und -wollte eben das vollendete Tuch für die alte Nachbarin aus der Kommode -nehmen, da hörte sie Flüstern und Schritte auf der Treppe; sie öffnete -die Thüre, um zu leuchten, aber der Schein einer Laterne glänzte ihr -entgegen, eine kleine weiße Hand schloß energisch die Thüre und eine -liebliche junge Stimme sprach: „Ruhig drin geblieben, sonst bläst Ihnen -das Christkind die Augen aus!“ Dann erklang, von wohlbekannten Stimmen -gesungen, ihr Lieblingsvers: - - „Fröhlich soll mein Herze springen - Dieser Zeit, da vor Freud’ - Alle Engel singen; - Hört, hört wie in vollen Choren - Alle Luft laute ruft: - Christus ist geboren!“ - -Dann öffnete sich die Thüre, und welcher Anblick war schöner? Der -grüne zierliche Baum mit brennenden Lichtern, goldenen Sternen und -lieblichen Rosen, oder die hellen Augen, die von der Kälte geröteten -Wangen und strahlenden Gesichter ihrer heißgeliebten Kinder? Die -Thränen stiegen der Überraschten in die Augen; sie wußte selbst -nicht, was ihr Herz jetzt am meisten bewegte; die himmlische oder die -irdische Weihnachtsfreude, und sie konnte anfangs gar nichts weiter -sagen, als: „Meine Kinder! meine lieben Kinder!“ und eine der zarten -Mädchengestalten nach der andern in ihre Arme und an ihr Herz ziehen. -Aber diese wünschten jetzt noch etwas anderes. Martha sollte auch -die Arbeiten ihrer fleißigen Hände bewundern und sich über jedes der -kleinen Geschenke einzeln freuen. Sie that es so gerne, aber mitten -in dem fröhlichen Betrachten durchzuckte sie der Gedanke: „Ach, -meine Klug! meine arme Klug!“ und die Kinder wußten nicht, warum sie -auf einmal so still und nachdenklich zwischen ihnen stand und ein -so wehmütiger Schatten über das Angesicht flog, dessen wechselnden -Ausdruck ihre kindliche Liebe sonst so wohl verstand. - -„Liebe Kinder“, sagte Martha endlich: „Wollt ihr mich nun ganz, ganz -glücklich machen?“ Aller Augen hingen voll Spannung an ihren Lippen. -„Seht, neben mir wohnt Fräulein Klug. Die hat nicht nur euch, sondern -schon vor euch, euere Mütter unterrichtet und hat viel, viel mehr -Anspruch auf euere Dankbarkeit als ich. Nichtwahr, wir tragen ihr das -Weihnachtsbäumchen hinüber? Was gar nicht für sie paßt, das nehme ich -mir herunter; aber die warmen Müffchen und den Ohrenwärmer und einiges -andere, das lassen wir hängen; ist’s euch so recht?“ Ach nein! es war -ihnen gar nicht recht; sie sahen recht niedergeschlagen und traurig -aus. „Sie sorgt für mich, wie eine Mutter, und (hier wurde Marthas -Stimme unsicher) ich werde auch ’mal alt und kränklich sein.“ - -Da wurde es unruhig in den jungen Herzen und Gewissen, und als die -blonde Eva schüchtern sagte: „Ja, wenn es Ihnen so die meiste Freude -macht, Fräulein Feldwart“, da stimmten die andern getröstet ein. - -Die Jugend ist elastisch; die Kinder halfen nun selbst auswählen, was -hier bleiben und was hinüber gebracht werden sollte, und gingen gern -auf Marthas Wunsch ein, daß vor Fräulein Klugs Thüre nicht nur der -erste Vers des schönen Weihnachtsliedes, sondern auch der siebente -und der neunte gesungen werden sollte. Das wurde denn auch sehr schön -ausgeführt; denn Marthas klare, sichere Stimme leitete den Gesang. -„Faßt ihn wohl, er wird euch führen an den Ort, da hinfort euch kein -Kreuz wird rühren.“ Das war der Schluß. Drinnen war es ganz still -geblieben. Leise klopfte Martha und öffnete vorsichtig; da stand -Fräulein Klug mitten im Zimmer, hielt sich an die Lehne ihres Stuhles; -gewaltiger Kampf war in ihren Zügen, aber mit finster abweisendem -Blicke sah sie auf die Kinder und den geschmückten Baum. Es fühlten -in diesem Augenblick alle, Martha am tiefsten, daß sie der Einsamen -ein zweifelhaftes Glück bereiteten, und keines konnte sogleich eine -passende Anrede finden. - -Fräulein Klug zeigte mit ihren dünnen Fingern auf Martha: „Sie hat es -euch gesagt, und der Baum ist für sie, und in euere Gedanken ist das -nicht gekommen!“ - -Die arme Martha wurde blaß und rot und kämpfte mit den Thränen; konnte -denn, was der heiße Wunsch ihres Herzens ihr schneller eingegeben -hatte, als sie sonst Entschlüsse zu fassen pflegte, wirklich so schlimm -sein in seiner Wirkung? Wie schwer ist es, in solchen Lagen das -befreiende Wort zu finden! Mitunter lehrt es die Liebe. - -Evas Auge hatte fest an dem Gesicht der geliebten Lehrerin gehangen; -jetzt zog tiefes Rot über ihre Wangen, sie trat zu Fräulein Klug, -und sagte mit inniger Stimme: „Es war freilich sehr schlimm, liebes -Fräulein, daß es uns erst gesagt werden mußte, wir wissen aber jetzt, -daß wir sehr undankbar gewesen sind! Bitte, vergeben Sie es uns am -heiligen Weihnachtsabend und nehmen Sie unser Bäumchen freundlich an, -von uns oder von Fräulein Feldwart, von wem Sie es lieber wollen.“ - -Da ging eine große Bewegung über das alte Gesicht: „Nein, Kinder! -das Bäumchen, das habt ihr für Martha geputzt; das soll ihr Stübchen -schmücken in den Feiertagen; ich komme schon hinüber und sehe es mir -an; aber singt mir dann das schöne Lied noch einmal; das wird mir -wohlthun.“ - -Der milde Ton ermutigte die Kinder, sie wurden jetzt ganz eifrig im -Zureden: „Aber die Honigkuchen müssen Sie nehmen; meine Mutter hat sie -selbst gebacken, und Fräulein Feldwart hat die andere Hälfte!“ - -„Und die Müffchen!“ - -„Und die warmen Handschuhe!“ - -Das alte Herz war erweicht; dies und jenes nützliche Stück blieb -in ihren Händen; teils konnte sie den bittenden Kinderaugen nicht -widerstehen, teils nahm sie es ihrer jungen Gefährtin zuliebe. Nun ward -das schöne Lied noch einmal gesungen, das alte Fräulein gab ernst aber -freundlich jedem Kinde die Hand; der Tannenbaum wurde wieder in Marthas -Zimmer getragen; dann eilte das junge Voll nachhause, dem eigenen -Weihnachtsbaum und der Bescherung der Eltern entgegen. - -Martha aber ging mit ihrem Tuche noch einmal zu ihrer alten Freundin -hinein. Als sie es ihr um die Schultern legte, fiel aus dem jungen Auge -eine Thräne auf die alte runzelige Hand. Sie sprachen beide nicht; -Martha setzte sich auf einen Schemel der Alten zu Füßen; diese legte -ihre Hand auf den reichen braunen Scheitel und erst nach einer Weile -sagte sie: „Ich war recht schlecht; es war ja so natürlich, und Sie -meinten es so gut, Marthchen! Aber es ist auch schwer, wenn man einmal -jung war und tüchtig und geliebt, und nach und nach fühlt man, daß die -Kräfte schwinden, und daß man seinen Platz nicht mehr ausfüllen kann! -Wenn man dann beiseite geschoben wird und vergessen, da giebt es einen -harten Kampf um Demut und Geduld und um Liebe! Gott schenke Ihnen ein -leichteres Los, mein liebes Kind!“ - -Marthas Herz war zu voll zum reden; der Mond schien ins Zimmer; sie -saßen beide eine Viertelstunde still in seinem milden Lichte; da -hörte Martha die alte Freundin leise sagen: „Faßt ihn wohl, er wird -euch führen an den Ort, da hinfort euch kein Kreuz wird rühren.“ Sie -merkte, daß ihre Seele dahingegangen war, wo man des Menschentrostes -gern entbehrt und am liebsten allein ist; so ging sie hinüber in ihr -Stübchen. - -Die Lichter am Tannenbaum brannten noch; sie waren aber sehr kurz -geworden; mitunter entzündeten sich einzelne Tannennadeln und sandten -ihren einzigen, lieben Weihnachtsduft durch das Zimmer. Wem bringt -dieser Duft nicht die süßesten Bilder aus seiner Jugendzeit mit? -Martha saß mit gefalteten Händen, ihr Herz war bewegt. Süße und -schmerzliche Gedanken zogen durch ihre Seele; die Erinnerungen ihres -ganzen Lebens gingen an ihrem inneren Auge vorüber. Die Gedanken -haben schnellere Flügel als Wolken und Winde; eine kurze halbe Stunde -genügte für die Reise durch ihr Leben. Wir, meine liebe junge Leserin, -gebrauchen längere Zeit, wenn wir sie auf derselben begleiten wollen, -und ich bitte dich dazu um deine freundliche Aufmerksamkeit und um ein -wenig Geduld. - - - - -2. - -Jugendsonnenschein. - - -Im Herzen einer deutschen Residenzstadt lag das stattliche Haus des -Kommerzienrat Feldwart. Es erschien nicht als Palast, sondern als -geräumiges Wohnhaus; es war von außen nicht überladen mit Schmuck, aber -geschmackvoll und harmonisch in seinen Formen. Hinter den hohen hellen -Spiegelscheiben fielen reiche Gardinen herab, dazwischen erblickte man -prächtige, ausländische Gewächse mit ihrem mannigfachen Grün, und wer -den Hausflur betrat, dem sagte die feine Mosaikarbeit des Fußbodens, -die köstlichen bronzenen Flurlampen, von Statuetten gehalten, der -weiche Teppich, der die Stufen der Treppe bedeckte, das stilvolle -Geländer aus Schmiedeeisen und die schweren, eichenen, polierten Thüren -an beiden Seiten, daß er sich im Hause des Reichtums befand. Dies -schöne Haus ward bewohnt von dem wohlwollend aber ernst aussehenden -Hausherrn, seiner etwas starken aber elegant und vornehm erscheinenden -Frau, und Martha, der einzigen Tochter beider, dem schönen, fröhlichen -und klugen Mädchen, das noch nicht lange aus den Kinderschuhen -herausgetreten war, und, wie man es zu nennen pflegt, diesen Winter -in die Welt eingeführt werden sollte. Ja, wollte denn Martha wirklich -in die Welt? War sie ein Weltkind, das nur am Irdischen Freude fand? -O nein! Marthas Seele war jedem höheren geistigen Interesse offen; -die Eltern hatten sich bemüht, ihr die besten Lehrer zu geben, die -wertvollsten Bücher in ihre Hände zu legen; wo es etwas Nützliches und -Gutes zu hören gab, da mußte Martha dabei sein, und als die Zeit ihrer -Einsegnung gekommen war, war sie einem treuen Seelsorger anvertraut -worden; dem war es, da sein eigenes Herz in aufrichtiger Liebe zu -Gott und dem Heilande brannte, leicht geworden, in dem empfänglichen -Kinderherzen die gleiche Flamme anzufachen. Martha ging, auch nachdem -sie den Unterricht verlassen hatte, gern und freudig zur Kirche; sie -las andächtig in Gottes Wort und ihren schönen Erbauungsbüchern, sie -sang mit Begeisterung fromme, geistliche Lieder und hob mit kindlichem -Sinne morgens und abends ihre Hände betend auf. Aber Martha ging -auch eben so gern ins Konzert und Theater, Martha zog sich auch gern -hübsch an und hatte Geschmack darin, schnell auszuwählen, was für sie -paßte; denn stundenlanges Beschäftigen mit Toilettengegenständen war -ihre Sache eben nicht; Martha tanzte auch gerne. Es war so sehr der -natürliche Ausdruck der Jugendkraft und Jugendlust, wenn sie nach dem -Rhythmus der Musik durch den glattgebohnten Saal flog, und es brauchte -zu ihrem Vergnügen gar kein Ball zu sein; wenn die Mutter einen Walzer -spielte, nahm sie ihr kleines, weißes Seidenhündchen auf den Arm und -tanzte fast mit noch größerer Lust durch das Zimmer, wie in der größten -Gesellschaft. - -Sie mußte auch in ihrer Art fleißig sein, denn ihre Zeit war sehr -besetzt; es gab noch französische und englische Stunde; einen -italienischen Abend, Klavier- und Singunterricht, Gesangverein, -Vorlesungen, Lesekränzchen, Proben und Konzerte -- jeden Tag etwas -anderes. Dazu kam eine angenehme Geselligkeit. Langeweile kannte sie -nicht; es war ihr nur zuweilen, als ob dies vielerlei sie abhielte, -das einzelne so gründlich zu treiben, wie sie es gerne gethan hätte; -aber Gott hatte ihr einen klaren Kopf, gute Anlagen und frische Kräfte -gegeben, und so schwamm sie doch eigentlich in den Wellen dieser -verschiedenen Eindrücke wie ein Fischlein im Wasser oder ein Vogel in -der Luft, mit glücklichem Herzen und fröhlichem Angesichte; brauchten -ihr doch all die Arbeiten und Mühen des alltäglichen Lebens, die -man zusammen Wirtschaft nennt, keine Sorge zu machen; die ruhten -sicher in den Händen einer wohlgeschulten Dienerschaft und waren in -den behaglichen Wohnzimmern, in denen sich Martha bewegte, nur wenig -zu merken. Der einzige Wunsch, der ihrem jungen Herzen unerfüllt -geblieben, war der: o, hätte ich doch Geschwister! Sie hatte Bekannte, -viele Bekannte; sie nannte sie Freundinnen; aber sie hatte ein Gefühl -davon, die wahre Freundschaft müßte noch anders, noch tiefer und -reicher sein. O, dachte sie oft: eine Schwester, ein Bruder wäre mehr -als sie alle! - -Der Vater Feldwart war oft sehr versunken in seine Geschäfte, -die Mutter eine stille, bequeme Dame; da war ihr der Wunsch nach -jugendlicher Gesellschaft nicht zu verdenken und siehe, seit einigen -Jahren war auch diese ins Haus gekommen und hatte ihr einen großen -Zuwachs an Lebensfreude mitgebracht. Der Vater hatte einen einzigen -Jugendfreund gehabt, einen Doktor Kraus; der war Arzt in einem -Provinzialstädtchen und lebte dort, seit Gott ihm seine Frau genommen, -ganz der Erziehung seines einzigen Sohnes Siegfried. So lange er -rüstig war, hatte er sich jedes Jahr einige Wochen frei gemacht und -sich an irgendeinem schönen Ort im Gebirge, bald im Harz, bald im -Thüringer Wald, bald im Schwarzwald, mit der Feldwartschen Familie -zur Sommerfrische vereinigt, und dies war für beide Freunde, sowie -für ihre wilden fröhlichen Kinder stets eine ersehnte und genußreiche -Zeit; der schlank aufgeschossene Siegfried war dann der Ritter der -kleinen Martha, und da er um 6 Jahre älter war als sie, galt er als -ihr Beschützer auf allen Wegen. Aber schon seit Jahren hatte Herr -Kraus nicht mehr reisen können; ein schweres inneres Leiden fesselte -ihn zuerst ans Haus, dann an sein Lager, und niemand wußte besser -als er, daß es ihn seinem Ende entgegen führte. Sein Freund Feldwart -hatte ihn auf seinem Schmerzenslager noch einmal besucht und ihm das -Versprechen gegeben, sich nach seinem Tode des verwaisten Sohnes -anzunehmen. Als nun das erwartete Ende eintrat, erhielt Herr Feldwart -mit der Todesnachricht zugleich ein Schreiben des Entschlafenen, -welches die Pläne und Wünsche desselben für die fernere Laufbahn -seines Siegfried enthielt. Ein Bruder des Doktor war als junger -Mann nach Amerika gegangen und hatte dort in Missouri verschiedene -landwirtschaftliche Etablissements und Fabriken angelegt. Er war ein -sehr begüterter Mann, und da er unverheiratet geblieben war, wünschte -er dringend, daß Siegfried zu ihm kommen, ihm in seiner Thätigkeit -beistehen und schließlich sein Erbe werden möge. Für den jugendlichen -Siegfried, so ungern er sich von seinem Vater trennte, hatte die -Aussicht auf dies fremde Land und die unbekannten Verhältnisse etwas -Verlockendes; Herr Kraus fühlte, daß seine Lebenszeit bald verflossen -sein würde, er konnte Siegfried nur ein kleines Erbe hinterlassen; -so machte er nur die Bedingung, daß dieser erst seine Ausbildung in -Deutschland vollenden, einen praktischen Kursus in der Landwirtschaft -durchmachen, seiner Militärpflicht genügen und einige Jahre in der -Hauptstadt Kollegien über Physik, Chemie und andere dahin einschlagende -Wissenschaften hören sollte. Die praktische Landwirtschaft hatte er -noch beim Leben seines Vaters erlernt; seit dem Tode desselben war er -in B., und wenn er auch nicht bei Feldwarts wohnte, brachte er doch -fast alle seine freie Zeit daselbst zu; und wie er sich mit Martha -als Kind gejagt hatte und mit ihr über den Graben gesprungen war, so -teilte er nun gern ihre ernsteren Beschäftigungen, las mit ihr gute -englische und deutsche Bücher, begleitete ihre liebliche Singstimme auf -dem Klavier, oder mit seinem kräftigen, gut geschulten Baß. Die Eltern -wurden es kaum gewahr, daß aus den Kindern Leute geworden waren, und -sie selbst hatten bis dahin einen so geschwisterlichen Ton, wenn sie zu -einander sprachen, daß sowohl die Dienerschaft des Hauses, als auch die -Freunde desselben den unbefangenen Verkehr durchaus natürlich fanden. - -Seit dem Frühjahr hatte Siegfried seine Studien vollendet, machte -sein Militärjahr durch und kam nach dem Manöver als braungebrannter, -wohlbestallter Unteroffizier bei Feldwarts an. Martha empfing ihn -höchst fröhlich. Wenn ihm auch das Dienstjahr weniger freie Zeit -ließ, -- einige Mußestunden gab es immer, und sie hatte ihm soviel -mitzuteilen -- soviel neue Bücher, soviel schöne Lieder, die sie nun -mit ihm zusammen einstudieren wollte. Auch Frau Feldwart war ganz die -Alte; aber nicht ohne Grund hingen ihre Augen zuweilen mit Besorgnis -an den welken, eingefallenen Zügen und matten Augen ihres Mannes. Er -klagte nicht viel; er mochte nicht einmal leiden, daß man über seinen -Zustand sprach. Der Arzt sagte: „Er hat angegriffene Nerven, er muß ins -Seebad!“ - -Der Kranke lächelte grämlich: „Ich werde alt, das ist alles!“ - -Martha hatte noch nichts Schweres erlebt; sie tröstete sich: Es wird -schon wieder anders werden! Für jetzt kam die schöne Adventszeit, -brachte Arbeit für ihre Hände und freundliche Beschäftigung für ihre -Gedanken; wenn Siegfried Kraus kam, hatte sie ihm immer allerlei neue -Pläne mitzuteilen oder kleine Aufträge zu geben. - -„Sehen Sie nur, Siegfried!“ sagte sie eines Abends, „Mama hat mir nun -wirklich die schöne Rokoko-Kommode von der Urgroßmutter geschenkt, -die ich so lange schon gern haben wollte; ich habe all meine kleinen -Überraschungen eingeräumt. Dabei habe ich noch eine Menge Briefe, -Papiere und Stammbuchblätter gefunden; auch auf ganz gelbem Papier ein -Weihnachtslied; das können wir gleich zusammen einüben!“ - -Wann hätte jemals Siegfried „Nein!“ gesagt, wenn sie um etwas bat? -Das Lied wurde zweistimmig gesungen und klang gar rein, frisch und -andächtig von den jungen Stimmen. Am heiligen Abend kam Siegfried -zeitig; Frau Feldwart hatte noch in der Bescherstube zu thun, der -Kommerzienrat im Geschäft. - -„Wie werde ich übers Jahr Weihnachten feiern“, fragte Siegfried ernst. - -Marthas Herz wurde ganz schwer, und in ihren Augen standen Thränen. Sie -hatte die Trennung nur immer in weiter Ferne gesehn, hatte vielleicht -auch heimlich gehofft, es sollte noch etwas dazwischen kommen; nun -war sie so nah! Es kam ihr vor, als wären auf einmal alle Blumen in -ihrem Garten verhagelt; sie konnte sich gar kein Leben mehr denken -ohne Siegfried. Aber am heiligen Weihnachtsabend durfte man doch nicht -weinen. „Kommen Sie, Siegfried!“ sagte sie, „ehe die Eltern fertig -sind zur Christvesper, können wir noch einmal Urgroßmutterchens Lied -singen!“ - -Sie sangen: - - „Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht, - Die uns das höchste Gut gebracht, - Dich Gottessohn, dich Königskind, - Das man im Stall und Kripplein find’t. - - „Daß ich empfinge Kindesrecht, - Wohnst du wie ein geringer Knecht, - D’rum will ich gern gering und klein, - Herr, dir zu Lieb’ und Ehren sein. - - „Dein war des Himmels Herrlichkeit, - Aller Welt Schätze weit und breit, - Du wurdest arm, daß ich würd’ reich, - Nun gilt mir arm und reich sein gleich! - - „Du kamst aus lichtem Himmelssaal - Und gingst für mich durchs dunkle Thal; - Ich bin zum Leid nun auch bereit, - Da du es durch dein Leid geweiht. - - „Für mich, mein Lebensfürst und Gott, - Gabst du dich hin in Todesnot, - Daß ich dem Tod verfall’nes Kind, - Durch dich das ew’ge Leben find’t. - - „Ich kniee an dein Kripplein hin - Und fasse nicht das Wunder d’rin, - Und bitte dich, o Herr, verleih - Daß dies mein Bitten ernstlich sei. - - „Du giebst dich mir, Herr Christ! ich hab’ - Nur mich als arme Gegengab’, - So nimm mich hin, Rat, Kraft und Held, - Und mach aus mir, was dir gefällt.“ - -Die Eltern standen schon in der Thüre, als der letzte Ton verklang; die -Mutter war zum Ausgehen angekleidet, Herr Feldwart hatte Thränen in -den Augen: „Ich will lieber hier bleiben“, sagte er, „ich habe etwas -Kopfweh!“ - -Martha war schnell in ihren hübschen Winteranzug gehüllt. Siegfried -ging mit den Damen zur Kirche. Aus der nächsten Hausthüre trat Frau -Geh.-Rat D., und schloß sich ihnen an. Man hatte erst eine Droschke -nehmen wollen, aber die Sterne glänzten so freundlich, die Winterluft -wehte frisch, und es war noch zeitig; da ließen sich die älteren -Damen gern bereden, den Weg zu Fuße zurückzulegen. Sie gingen voraus, -Siegfried und Martha hinter ihnen; der Weg führte eine ganze Strecke -weit am Rande des Parkes hin; hier war es verhältnismäßig still und -einsam. - -„Martha“, sagte Siegfried, „wir haben’s nun so oft gesungen; ‚Nun will -ich gern gering und klein, Herr, dir zu Lieb und Ehren sein‘, und: ‚Nun -gilt mir arm und reich sein gleich‘; ich möchte wissen, ob das so ganz -und gar Ihr Ernst ist!“ - -„Natürlich“, sagte sie, und schlug die Augen zuversichtlich zu ihm auf. - -Das war ja gewiß; sie hatte in ehrlicher Begeisterung das Lied mit -ihm gesungen, aber: was dachte sie sich wohl unter: arm sein? Was -man gar nicht kennt, das fürchtet man nicht. Statt Sammet und Seide -Wolle tragen, statt Kaviarsemmeln nur Butterbrot essen; in einer recht -reizenden rosenumrankten Hütte wohnen -- warum denn nicht? Es fragte -sich nur, mit wem? - -„Sehen Sie, Martha“, fuhr er fort (sie begegneten jetzt einer Schar -lärmender junger Leute, und er legte ihren Arm in den seinigen): „Sehen -Sie, den ganzen Tag ist mir so weh gewesen bei dem Gedanken, daß ich so -weit von Ihnen fort soll, als könnte ich das gar nicht ertragen. Wenn -Sie wirklich möchten klein und arm sein, vielleicht brauchten wir uns -nicht zu trennen; vielleicht könnte ich die liebe kleine Hand in meiner -behalten ein ganzes Leben lang.“ - -Wie glückselig blitzten Marthas Augen auf; aber es war nur ein rascher -Blitz, ein tiefer Schreck verscheuchte den leuchtenden Ausdruck: „Aber -Siegfried! meine Eltern, und Amerika!“ - -„Darüber sein Sie ruhig, Martha, ich denke, es soll gehen ohne den -Oheim in Missouri.“ - -Martha dachte nach: „Sie meinen, der Vater könnte uns hier ein Gut -kaufen?“ - -„Nein, Martha, das nicht! Das wäre sehr unbescheiden gedacht und -ganz gegen meine Ehre. Wissen Sie, ich denke es mir so: Ein kleines -Vermögen besitze ich selbst; jetzt ist die Pacht vom Rosenhof frei; -ich besah das Gut neulich, als unser Regiment in der Nähe rastete; die -Verhältnisse sind sehr günstig; wenn mir Ihr Vater mit einem mäßigen -Vorschuß und seinem Kredit helfen wollte, daß ich es übernehmen könnte, -und wir fingen dann recht klein und fleißig an, und wenn wir leidlich -gute Jahre hätten, zahlten wir es nach und nach ab; das sollte doch -wohl gehen!“ - -„Rosenhof!“ herrlicher Name! „Gutsfrau sein, und +seine+ -Gutsfrau!“ entzückender Gedanke! Sie sah sich schon im rosa -Satinmorgenrock mit frisurenbesetzter Schleppe, feinem Morgenhäubchen, -weißer gestickter Batistschürze, den blanken Fülllöffel in der Hand -zwischen lauter weißen, rahmbedeckten Milchsatten stehen, und als er -fragte: „Nun Marthchen, wie ist es, willst du es mit mir wagen?“ da -sah sie ihn glückselig an und drückte leise seine Hand; sie konnte -auch weiter nichts sagen, denn die Kirche war erreicht, und der volle -Orgelton klang ihnen entgegen. - -Ob die beiden heute Abend sehr, sehr andächtig waren? Glücklich und -hoffnungsvoll waren sie und trugen auch dem lieben Gott immer wieder -ihren Herzensdank und ihre stillen Wünsche vor; aber die echte rechte -Weihnachtsfreude war heute nicht in ihren Herzen. Auf dem Heimwege -gesellten sich Bekannte zu ihnen, da konnten sie wenig reden. Nur -bat Martha: „Sage heute Abend dem Vater noch nichts; er kann niemals -schlafen, wenn er sich abends aufregt; komme lieber morgen nach der -Kirche“. - -Sie kamen nachhause; der Weihnachtsbaum beleuchtete reiche, köstliche -Gaben, vier strahlende Augen und zwei glückselige Herzen. Morgen, -morgen sollte es offenbar werden, was heute geknüpft war! Kein Zweifel -trübte ihre Freude; wußten sie sich doch beide gleich geliebt von dem -Elternpaar. So schön, so schön war es bisher gewesen, nun sollte es -noch viel, viel schöner sein. Kam denn in dieser Nacht kein dunkler -Traum, um die beiden, die bisher im Maiensonnenschein gewandelt waren, -vorzubereiten auf das erste schwere Gewitter? - - - - -3. - -Sturm. - - -Der Kommerzienrat Feldwart saß in seinem Lehnstuhl, als Siegfried -gegen Mittag bei ihm eintrat; zum erstenmal fiel diesem die bleiche, -tonlose Farbe und die Schlaffheit der Züge seines väterlichen Freundes -auf. Müde öffnete derselbe die halb geschlossenen Augen, aber als -er Siegfried erkannte, flog ein freundliches Lächeln über das welke -Gesicht: „Tritt näher, lieber Siegfried, du störst mich nicht!“ - -Siegfried trat näher, er nahm auch auf einen Augenblick den ihm -gebotenen Stuhl; aber als er von seiner Liebe zu Martha anfing zu -sprechen, da stand er vor dem Vater, eine schöne, kräftige jugendliche -Gestalt, die wohl geeignet schien, ein zartes Mädchen zu stützen. - -Herr Feldwart mochte Ähnliches denken; er sah ihn mit wehmütigem -Wohlgefallen an, als sein warmes Herz die Worte rasch und fließend -über die Lippen trieb, aber er unterbrach ihn bald mit demselben -Schreckensruf, wie gestern die Tochter: „Aber Siegfried: Amerika!“ - -„Herr Feldwart“, sagte dieser, „ich denke, wenn Sie mir nur ein wenig -mit Rat und That beistehen wollen, so wird es ohne den Oheim in -Missouri gehen!“ - -„Kindskopf!“ rief der alte Herr ungeduldig, schob seinen Stuhl zurück, -ging einigemal mit großen Schritten heftig durchs Zimmer und blieb dann -vor Siegfried stehen, „Kindskopf! willst du deine ganze Zukunft einem -Mädchen opfern, das noch ein Kind ist und noch gar nicht weiß, was es -thun oder lassen soll? Da wird nichts daraus, mein Lieber!“ - -„Ich denke, Martha weiß, daß sie mich lieb hat, das ist mir genug. O -bitte, hören Sie mich an, Herr Feldwart; der Oheim in Missouri schrieb -seit meines Vaters Tode nicht wieder; er wollte mich damals bestimmen, -sogleich zu ihm zu kommen; ich schlug ihm das ab, vielleicht mit etwas -kurzen Worten. Er wird sich indessen andere Hilfe gesucht haben, und es -widersteht mir, hinüber zu gehen und mich ihm anzubieten, gewissermaßen -in der Absicht, ihn zu beerben; ich kann dies erwarten und möchte mir -weit lieber hier durch meine eigene Thätigkeit eine Existenz gründen.“ - -„Sehr großartig“, sagte der Kommerzienrat ein wenig ironisch, „und wie, -wenn ich fragen darf?“ - -Da kam denn wieder Rosenhof zutage. - -„Verstehen Sie mich nicht falsch; ich möchte keinerlei Ansprüche an -Ihre Hilfe machen; aber Martha und ich lieben uns sehr. Wenn Sie mir -mit einem kleinen Vorschuß und Ihrem Kredit helfen wollten, könnte ich -das Gut übernehmen. Martha und ich würden sehr fleißig und sparsam sein -und es nach und nach abtragen; Sie wissen, ich bin kein schlechter, -leichtsinniger Wirt, und ich habe das Meinige gelernt, und Martha will -mir gerne dabei helfen.“ - -„Ist auch ganz dafür erzogen, versteht recht viel von der Wirtschaft“, -fuhr der Vater auf. - -Er hatte während Siegfrieds Worten das Zimmer ruhelos durchmessen; -dennoch war dem Jüngling der Wechsel der Farbe auf seinem Gesichte, -der Ausdruck von Kampf und Qual in seinen Zügen nicht entgangen. Jetzt -standen sie sich gegenüber. - -Herr Feldwart war totenbleich aber ernst und gefaßt: „Ich kann Ihnen -nicht helfen, Siegfried! und ich werde es nicht thun, auch nicht mit -einem einzigen Pfennig; das Beste ist, ihr seht euch gar nicht wieder!“ - -„Das ist nicht Ihr Ernst, das können Sie nicht wollen?“ - -„Siegfried, du weißt, was ich deinem Vater versprochen habe; du weißt, -wie ich dich lieb gehabt habe diese ganze Zeit; Gott weiß, daß es -mir schwer wird! ich kann es dir auch nicht erklären, später wirst -du es einmal verstehen: Siegfried, dies ist mein letztes Wort! Ich -werde niemals, niemals meine Erlaubnis zu deiner Verheiratung mit -Martha geben; ich werde dir keinen Heller vorstrecken zur Übernahme -von Rosenhof; wenn du mich nicht töten oder um meinen Verstand bringen -willst (der Arme sah aus, als sei dies sehr leicht möglich), so -verlasse jetzt das Haus, sieh Martha nicht wieder, lege das Weltmeer -zwischen dich und sie, da wirst du ruhiger werden.“ - -„Und Martha?“ fragte Siegfried tonlos. - -„Martha“, sprach der Kommerzienrat, und es klang wie Schluchzen in -seiner Stimme, „Martha ist jung, es geht nicht anders, Siegfried!“ - -Siegfried liebte, aber Siegfried war auch stolz; er wandte sich und -ging zur Thüre, und der Vater, hingesunken in den Lehnstuhl, bleich und -zitternd, hörte ihn die Treppe hinunterstürmen und das Haus verlassen. - -Martha saß indessen mit heißen Wangen neben der Mutter, der sie ihr -süßes Geheimnis anvertraut hatte; sie lauschten beide auf des Vaters -Ruf; auch die Mutter zweifelte nicht an der glücklichsten Lösung; jetzt -kamen eilige Schritte über den Korridor; Martha flog auf, wie sie -glaubte dem Geliebten entgegen. Er stürmte vorüber. Sie hörten die -Hausthüre sich öffnen und schließen, sie sahen ihn fortstürmen, ohne -sich umzusehn: „Ach Mutter, liebe Mutter, was ist das?“ - -Frau Feldwart war eben so bestürzt als Martha. Als eine halbe Stunde -lang in des Vaters Zimmer kein Ton zu hören war, ging sie leise zu -ihm hinein. Martha saß mit angehaltenem Atem; es schien ihr eine -Ewigkeit vergangen zu sein, bevor die Mutter zurückkam. Sie sah blaß -und verweint aus, setzte sich neben Martha, nahm ihre Hände und sagte: -„Mein gutes, armes Kind, du mußt dich darein finden; dein Vater hat -dem Siegfried nein gesagt. Ich verstehe es nicht, ich verstehe es gar -nicht; aber er muß sehr ernsthafte Gründe haben; er ist selbst so -erschüttert, ich fürchte, es wird ihm schaden.“ - -Martha starrte die Mutter an und schüttelte ganz langsam den Kopf: „Es -kann ja nicht sein, es kann ja gar nicht sein!“ - -Sie saßen eine Weile starr und stumm. - -„Martha“, sagte die Mutter nach einiger Zeit, „versprich mir eins: sei -jetzt ruhig und quäle den Vater nicht; ich fürchte, es steht nicht zum -besten um seine Gesundheit; ihr seid beide noch jung, Siegfried hat -dich sehr lieb. Wenn die Hindernisse, welche zwischen euch liegen, -überwunden werden können, so überwindet er sie mit der Zeit; es ist -irgendetwas dabei, was ich nicht begreife. -- Hörst du, Martha? füge -dich und quäle den armen Vater in diesen Tagen nicht!“ - -Martha versprach es unter heißen Thränen. Der Gedanke, Siegfried -werde alles versuchen, ihre Hand zu erlangen, war ihr tröstlich. Das -Wiedersehn mit dem Vater erschütterte beide sehr; er drückte sie immer -wieder ans Herz: „Mein armes Kind, es geht ja nicht anders! Martha, -sei ruhig! mach mir das Herz nicht noch schwerer!“ Er sah so unsäglich -elend aus, daß Martha wirklich den Versuch machte, sich äußerlich zu -bezwingen. Langsam und trübe schlich die Festwoche dahin; die geplanten -Vergnügungen wurden abgesagt mit dem Bemerken, daß Herr Feldwart unwohl -sei. Die Freunde, welche ins Haus kamen, fanden Frau Feldwart nur etwas -ernster als sonst, und Martha ließ sich nicht sehen. - -Mit den Neujahrskarten kam ein Brief von Siegfried: - - „Meine liebe Martha! - - „Da mich Dein Vater abgewiesen hat, ohne mir auch nur die geringste - Hoffnung zu lassen, so eile ich nun dahin, wo ich sicher glaube, - mir so viel zu erwerben, daß ich, so Gott will, später mit größerem - Rechte vor ihn hintreten und meinen Wünschen Geltung verschaffen - kann. Bis dahin behüte Dich Gott: ich will kein Versprechen und gebe - Dir keins, aber, daß ich Dich fort und fort lieben werde wie heute - -- das weiß ich! Der Vater meines Freundes und Kameraden, General - W., war mir behilflich, meine hiesigen Verpflichtungen schnell zu - lösen, und wenn Du diese Zeilen liesest, bin ich bereits auf dem Wege - nach Bremen, wo ich mich einschiffen will nach meiner neuen Heimat. - Sei tapfer und hoffe, meine liebe Martha, wie Dein betrübter, treuer - Siegfried Kraus.“ - -Einen Augenblick war sie glücklich; es war ja ein Lebenszeichen von -ihm; im andern wurde es ihr klar: er war ja fort, weit fort! Wie -lange würde sie ihn nun nicht sehen, vielleicht nicht einmal von ihm -hören; es war ihr, als wäre ihr ganzes Jugendglück, aller Sonnenschein -und jede Hoffnung ihres Lebens mit ihm eingeschifft und zöge von ihr -fort in unabsehbare Ferne. Sie weinte -- weinte, als sollte ihr das -Herz brechen. Dann bezwang sie sich, so lange sie bei den Eltern war; -aber abends in ihrem sonst so trauten Stübchen, da brach der Schmerz -aufs neue aus. Sie wollte sich Trost suchen, sie holte ihre Bibel, -aber die Worte verschwammen vor ihren umflorten Augen; sie dachte des -Weihnachtsliedes: „Ich bin zum Leid nun auch bereit, da du es durch -dein Leid geweiht!“ Aber dies Leid war ja zu schwer, an solche Trübsal -hatte sie dabei nicht gedacht. Sie suchte ihr Lager; vor acht Tagen -war sie so glückselig eingeschlafen; konnte man denn in einer Woche -so unglücklich werden? Das Kopfkissen war naß von ihren Thränen, und -Mitternacht war lange, lange vorüber, da erst trat mit leichtem, leisen -Schritte der Schlummerengel ins Zimmer und deckte sie und ihren heißen -Schmerz mit seinem kühlen, weichen Flügel zu. - -Als Martha am andern Morgen erwachte, drang schon das Morgenlicht -durch die halbgeöffneten Jalousieen. Wie schwer ist das Erwachen, wenn -über Nacht das ganze Leben eine andere Gestalt angenommen hat. Langsam -und mechanisch kleidete sie sich an zu einem Leben ohne ihn und ohne -Freude. Daß es unten im Hofe unruhiger war als sonst, hörte sie anfangs -nicht, und als sie es wahrnahm, schob sie es auf die vorgerückte -Tageszeit. Ihr Zimmerchen lag nach dem Hofe heraus; an der gegenüber -liegenden Seite desselben zogen sich die Comptoirräume hin. Als sie -die Fenster öffnete, fiel ihr eine hohe, kräftige Männergestalt in -die Augen, welche mit eiligem Schritt ins Geschäftslokal trat: „Onkel -Konsul, so früh am Morgen?“ Der erste Buchhalter lief mit Briefen -hin und her; einige der jungen Kaufleute, die sonst um diese Zeit -fest im Comptoir saßen, standen im eifrigsten Gespräche mitten im -Hof; das Bild war ganz anders, als sie es sonst zu sehen gewohnt war, -eine unbestimmte Sorge stieg in ihrem Herzen auf, und sie eilte ins -Frühstückszimmer. Hier war keine Veränderung zu bemerken, als daß die -Mutter sie mißmutiger als gewöhnlich begrüßte. - -„Es ist heute ein ungemütliches Frühstücken“, sagte sie. „Der Vater ist -schon seit einer Stunde fort; er hat nicht einmal seine Tasse Kaffee -ausgetrunken, und nun kommst du so spät! Ich dachte schon, du kämest -gar nicht mehr.“ - -„Ich schlief so spät ein“, sagte Martha betrübt, „und beim Papa ist -schon Onkel Konsul zum Besuch.“ - -„Onkel Konsul? Was muß der wollen? Der kommt ja sonst doch nicht so -früh!“ - -Konsul M. war ein Vetter der Frau Feldwart und der nächste Freund -ihres Mannes. Sie sollten nicht lange auf die Erklärung warten, schon -nach einer halben Stunde erschien der Erwähnte mit ganz ungewöhnlich -ernstem, feierlichem Gesichte, schnitt die Begrüßung seiner Cousine -kurz ab, setzte sich zu den Damen und sagte: „Ich habe euch leider eine -sehr ernste Mitteilung zu machen, ihr Lieben.“ - -„Ist Papa krank?“ rief Martha und eilte zur Thür. - -„Nein, Martha, bleib! Er ist sehr angegriffen, aber krank ist er bis -jetzt nicht. Ihr versteht nichts von Geschäften, aber das wißt ihr, daß -in London zwei große Handelshäuser gefallen sind. Es waren Häuser, mit -denen Feldwart in fortwährender Verbindung stand, und es trafen ihn -infolge davon Verluste auf Verluste. Doch hatte er bis gestern immer -noch einige Hoffnung, daß er sie ausgleichen und seine Handlung retten -könne. Ein Brief am heutigen Morgen zeigt ihm den Fall einer Firma in -Hamburg an, mit welcher er noch viel enger verbunden war. Es ist nun -keine Hoffnung mehr, daß er sich halten kann, und er schickte zu mir, -daß ich ihm helfen soll, alle die schlimmen Schritte zu thun, welche -nötig sind bei der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit.“ - -Frau Feldwart saß auf ihrem Stuhle und starrte den Sprecher an, als -könnte sie nicht fassen, was er sagte. - -Martha sprang auf: „Mein Vater! mein lieber Vater! ich muß zu ihm!“ - -In diesem Augenblick trat er herein, von seinem alten Kutscher geführt --- ein Bild des Jammers! Der alte Johann setzte ihn in seinen Lehnstuhl -und einen Augenblick verließ ihn das Bewußtsein; eine tiefe Ohnmacht -umschleierte seine Sinne; unter Marthas Bemühungen kam er wieder zu -sich. Sie kniete neben ihm und stützte seinen Kopf, als er allmählich -sich seiner Umgebung bewußt wurde. Er sah sie schmerzlich an: „Mein -Kind, mein armes Kind! verstehst du es nun? ich durfte ihn ja nicht mit -hineinziehen; ich versprach seinem Vater, für ihn zu sorgen.“ - -Ja, sie verstand alles; aber ihr ganzes Herz bebte jetzt nur im -Mitgefühl mit dem Vater, der in wenigen Stunden ein Greis geworden war. -Er fing jetzt an zu weinen, zu weinen wie ein Kind. Martha hatte ihn -noch nie weinen sehen. Sie netzte seine Schläfen mit wohlriechendem -Wasser, sie holte Wein vom Frühstückstische und nötigte ihn zu trinken. -Arme Martha! Ein wenig Beruhigung für sein Herz wäre die beste Medizin -gewesen. Die Mutter konnte ihm diese nicht geben, sie saß noch immer -stumm und rang die Hände; aber sein Freund trat zu ihm und sagte: -„Feldwart, willst du die ganze Sache in meine Hände legen? Willst du -mir Vollmacht geben, mit deinen Gläubigern zu unterhandeln und Verträge -abzuschließen?“ - -„Ja, M., ich danke dir tausendmal!“ - -Die gerichtliche Vollmacht wurde noch an demselben Morgen ausgestellt, -und es zeigte sich bald, daß dies gut war, denn es stellte sich beim -Kommerzienrat ein schlummerartiger, fieberhafter Zustand ein; er mußte -zu Bett gebracht werden und fing an zu phantasieren. Martha verlebte -acht schwere und sorgenvolle Tage und Nächte an seinem Lager, nur -unterstützt von dem treuen, alten Johann. Frau Feldwart ging ab und -zu, ordnete auch wohl dieses und jenes an; aber es schien, als sei in -dem furchtbaren Augenblicke, da die Stütze des Reichtums in ihrer Hand -zerbrach, alle Ruhe und Haltung von ihr gewichen. +Sie+ ging von -Zimmer zu Zimmer, stand hier einmal am Fenster und dort einmal und -starrte ins Leere; sie sah keinen Zielpunkt für ihre Augen, keinen -Stab, an dem sie sich halten und aufrichten konnte. „Arm, arm, ganz -arm!“ hörte man sie immer wieder sagen. - -Es war der Vermittelung und Fürsorge des Konsuls zu danken, daß für -jetzt noch die Wirtschaft im alten Gange blieb. - -Am neunten Tage saß Martha des Morgens an ihres Vaters Bett, als er die -Augen matt aufschlug: „Wo ist die Mutter?“ - -Sie trat im selben Augenblick herein. - -Einen Augenblick sah der Kranke beide freundlich an, dann ging eine -Erschütterung über sein Gesicht: noch ein leiser Seufzer, ein Zittern, -und er war aller Angst und Not entrückt. Aber für die Seinen begann -sie in doppelter Weise. Bis zum Begräbnis gelang es dem Konsul, die -Ruhe um die beiden Trauernden zu erhalten; sie waren sehr verschieden, -diese beiden! Bei der Mutter mischte sich die Angst vor der drückenden -Lage, welcher sie entgegenging, so sehr mit der Trauer über den Verlust -ihres Gatten, daß all’ ihre Klagen mit Bitterkeit gemischt waren und -sie zu einer reinen, wohlthuenden Empfindung ihres Schmerzes gar -nicht kommen konnte, noch viel weniger zu dem Entschluß, irgendeinen -Plan für ihre Zukunft zu entwerfen. Martha fühlte, wenn sie an ihren -zärtlich geliebten Vater dachte, eine solche Beruhigung, ihn aller -Not entrückt zu wissen, daß ihre Thränen oft recht sanft und lind -flossen; sie fühlte auch Mut für die Zukunft, sie hatte den ernstlichen -Willen, ihrer verzagten Mutter das Leben nicht schwer, sondern leicht -zu machen, zu tragen, zu arbeiten, so viel sie konnte, aber freilich: -über das Wie? war sie ganz im unklaren; hier hoffte sie ganz auf -den Beistand des Onkel Konsul, und dieser wurde ihnen ja auch nach -Möglichkeit zuteil. Kaum war das Begräbnis seines Freundes vorüber, -als er bei den betrübten Frauen eintrat, um ihnen ihre Verhältnisse -klar darzulegen und über ihre nächste Zukunft zu beraten. Das Vermögen -der Frau Feldwart war ganz mit im Geschäft gewesen und nicht zu -retten. Aber der Verstorbene hatte in sehr hoher Achtung bei seinen -Berufsgenossen gestanden; so kam den Bemühungen seines Freundes -von allen Seiten viel guter Wille entgegen, und es wurde dadurch -möglich, nach dem Vergleich mit den Gläubigern eine kleine Summe zu -erübrigen, von welcher die Witwe, mit einer Leibrente, welche sie -besaß, notdürftig leben konnte; auch wurde ihr auf demselben Wege so -viel an Hausrat und Wäsche zugestanden, als sie zur ersten Einrichtung -notwendig brauchte. - -Das war ja klar, daß die Verwaisten sich einen kleineren und -billigeren Wohnort suchen mußten. Frau Feldwart war auf einem großen -Gute erzogen in der Nähe der nicht ganz unbedeutenden Kreisstadt H., -die freundlich zwischen Feldern, Wiesen und baumreichen Gärten lag. -Konsul M. kannte dort einen älteren Beamten, dem er den Auftrag gab, -eine bescheidene Wohnung zu mieten, auch dort am Orte ein Mädchen zu -besorgen, da bei der ganzen bisherigen Lebensweise der Frauen nicht zu -hoffen war, daß sie sich ohne ein solches behelfen könnten. Es kam denn -auch bald die Nachricht, daß beides geschehen sei. So wurde mit des -alten, betrübten Johanns Hilfe und unter Leitung des Onkels Konsul der -Möbelwagen gepackt, und die Frauen durften abreisen, bevor das schöne -Haus mit seiner trauten, prächtigen Einrichtung unter den Hammer kam. - -Konsul M. brachte seine Verwandten zur Bahn; Frau Feldwart sah starr, -bleich und unglücklich aus, sie hatte in den letzten Tagen kaum ein -Wort gesprochen; Martha hing weinend an des Vetters Halse. Nun saßen -sie im Coupé, langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Die Mutter -schloß die Augen, während Marthas umflorte Blicke jeden lieben, -bekannten Gegenstand gleichsam noch einmal mit Liebe umfaßten, bevor -sie sich von ihm losrissen. Dort entschwanden die Straßen, in denen -sie so fröhlich gewandelt war; da in der Ferne die Linden, unter deren -Schatten der Vater schlummerte; hier die Bäume, unter denen Er, ach, -vor so kurzen Wochen, ihr gesagt, daß er sie liebe; er wußte nicht, -daß sie ins Elend zog; ihn trugen jetzt die Meereswellen hinaus, weit -hinaus, einer glänzenden Zukunft entgegen! Wenn er es gewußt hätte, -wie es um ihren Vater stand -- er wäre nicht gegangen! Er durfte es -niemals, niemals erfahren; er mußte dort im fernen Westen glücklich -werden. Und sie? ach, sie kam sich vor wie ein losgerissenes Blatt, -ratlos, kraftlos, willenlos vom Sturm der Zukunft entgegengetrieben. -Hilfesuchend falteten sich ihre Hände und unwillkürlich kamen ihr die -Worte auf die Lippen, die sie zuletzt mit ihm gesungen: - - „So nimm mich hin, Rat, Kraft und Held, - Und mach’ aus mir, was dir gefällt.“ - - - - -4. - -Not und Sorgen. - - -Johann war abgereist, nachdem unter Marthas Leitung und mit seiner -treuen Hilfe die kleine Wohnung in möglichst behaglichen Stand -gebracht war. Er hatte noch Holz und Kohlen herbeigeschafft, hatte -dem Mädchen sämtliche Wirtschaftsgeräte, Eimer, Besen und Bürsten -mit den eindringlichsten Ermahnungen übergeben, und dann mit tausend -Segenswünschen und heißen Thränen von seiner Herrschaft Abschied -genommen. Mutter und Tochter saßen in der freundlichen, behaglich -durchwärmten Wohnstube und überblickten ihr neues Reich; Martha nicht -ohne das befriedigende Gefühl, durch ihren Geschmack ein so nettes -Ganze geschaffen zu haben; die Mutter immer noch traurig und still. -Die Wohnung lag in einem Hinterhause; aber nur die Fenster von Küche -und Speisekammer öffneten sich nach dem nicht ganz kleinen und völlig -sauberen Hof; die beiden Wohnstuben boten die freundlichste Aussicht -auf einen reich mit Bäumen bepflanzten, jetzt freilich unter weißer -Schneedecke ruhenden Grasgarten, und dicht hinter demselben floß ein -klarer Bach durch Ellerngebüsch, welches das dahinter liegende Feld zum -Teil verdeckte. - -„Ist es nicht ganz nett, liebe Mama?“ fragte Martha sanft. - -„Es ist ja gut so“, sagte diese in einem so gleichgültigen, traurigen -Tone, daß es Martha schwer wurde, die Thränen niederzukämpfen. - -Freilich: Vergleiche durfte man ja nicht anstellen mit den Räumen, die -noch vor so kurzer Zeit sie umfangen hatten. Die Zimmer waren niedrig, -die Fensterscheiben klein; es fehlte die Fülle herrlicher Blumen und -Blattpflanzen, es fehlten die weichen, dicken Teppiche am Fußboden, die -schweren, sammetnen Übergardinen, die reichen Tischdecken, reizenden -Statuetten und Kronleuchter; außer einigen Familienphotographieen -war die Wand nur von einem einzigen Bilde geschmückt, einem guten -Kupferstich der Sixtinischen Madonna, welchen Herr Feldwart seiner -Frau zu ihrem letzten Geburtstage geschenkt und Onkel Konsul für -sie aus dem Zusammensturz gerettet hatte; aber es war durch Johanns -Aufmerksamkeit doch auch noch einiges Freundliche mit hergekommen, -das wohl imstande war, die Umgebung heimisch zu machen. In seinem -gewöhnlichen Messingbauer hing über Marthas Nähtisch ihr kleiner, -lieber Kanarienvogel; um die Bilder ihrer Eltern schlang sich, neu -aufgebunden, der selbstgezogene Epheu, und unter dem Tische lag auf -seinem alten Polster Ajax, das weiße Seidenhündchen. Er schlug jetzt -an, man hörte die Küchenthür gehen. - -„Mama“, sagte Martha, „Thekla wird jetzt hereinkommen; möchtest du ihr -nicht Bescheid sagen?“ - -„Ich kann nicht, thue du das, Martha!“ - -Thekla erschien. Es war ein hübsches, gutgewachsenes Mädchen mit -lebhaften Augen und gewandten Bewegungen, und jedenfalls älter als -Martha. Diese stand ihr schüchtern gegenüber. Ach, sie war sich ihrer -eigenen Unzulänglichkeit nur zu sehr bewußt; ihre Fragen nach den -Leistungen der Gemieteten kamen nur zögernd über ihre Lippen; die -Antwort desto frischer und dreister aus Theklas Munde: „Ja, ich kann -alles, reinmachen, kochen und waschen.“ - -Dies klang tröstlich; zuerst sollte sie einholen, was nötig war. - -„Bringen Sie Brot, Butter, Suppenfleisch und irgendeinen hübschen -Braten; bekommen Sie kein Geflügel, so nehmen Sie Filet!“ - -„Wie viel denn, Fräulein?“ - -„Ach, Sie werden ja sehen, ein Stück, das für uns paßt.“ - -Thekla erinnerte noch an einige dringende Bedürfnisse; es wurde eine -lange, lange Liste, und als das Mädchen fort war, fühlte Martha -erschrocken, wie leer ihr Beutelchen geworden war. - -„Mama“, begann sie nach einer Weile schüchtern, „müßten wir nicht doch -einmal berechnen, wie viel wir eigentlich jede Woche ausgeben dürfen?“ - -Frau Feldwart hielt sich den Kopf: „Ich kann gar nichts; rechne du!“ - -Sie hatte ihrem großen Haushalte in ihrer Weise pünktlich und -ordentlich vorgestanden, aber sie hatte stets über sehr große Summen zu -verfügen gehabt; sie konnte es sich gar nicht denken, wie es möglich -zu machen sei, mit so wenigem auszukommen; dazu war das Unglück so -unerwartet über sie hereingebrochen; ihre Leibes- und Seelenkräfte -waren wie gelähmt. - -„Hier im Buche steht alles“, sagte sie. - -Martha nahm das Buch und rechnete, rechnete, bis ihr der Kopf heiß war, -aber ach, sie kam zu keinem Resultat. Wenn sie nur hätte teilen dürfen -in 12 Monate oder 52 Wochen; aber da war so vieles, das kam nur einmal -im Jahre. - -Die Miete, ja, das stand hier: 300 Mark; Kohlen hatte Johann gekauft: -20 Ctr. Kohlen 17 Mark, 1 Meter Holz 7 Mk. 50 Pf.; aber was konnte -ihr das helfen? Hatte sie denn eine Ahnung, wie lange diese Portion -reichen würde? Dies arme Kind fühlte tief ihre Unzulänglichkeit. Ach, -es war gewiß noch vieles auszugeben, an das sie jetzt gar nicht dachte; -also mit dem Einteilen ging es heute noch nicht! Sie versuchte es auf -eine andere Weise; sie überlegte: „Wie kann ich sparen? Natürlich, -Gesellschaften geben wir jetzt nicht; Schmuck, Bilder, Noten, Bücher -dürfen wir nicht anschaffen; aber sonst haben wir zuhause doch einfach -gelebt: es gab nach der Suppe nur zwei Gerichte und ein Dessert. Ein -Gericht werden wir wohl streichen müssen, vielleicht auch das Dessert; -aber ihren Tischwein muß Mama natürlich behalten; wenn ich nur eine -Ahnung hätte, was die einzelnen Sachen kosten! Wenn mir doch nur Mama -etwas helfen wollte; ach, es ist so schwer, so schwer! Mein Siegfried, -mein armer, lieber Papa, ich habe nicht einmal so viel Ruhe, an euch zu -denken!“ - -Sie hatte ja den besten und treuesten Willen, ihre Schuldigkeit zu thun -und trotz ihrer doppelten Trauer einen reichen Springquell jugendlicher -Frische und Thatkraft in ihrem Herzen. Aber wie sehr wurde derselbe -auch in Anspruch genommen! Thekla zeigte wohl am ersten Morgen, daß -ihr die Hausarbeit nicht völlig fremd war, auch brannte nach langen, -vergeblichen Bemühungen endlich das Feuer in Stube und Küche. Aber nun -sollte gekocht werden! Ach, da wurde es klar, daß weder Fräulein noch -Mädchen auch nur den entferntesten Begriff von dieser Kunst hatten. - -„Aber Thekla, Sie sagten doch, Sie könnten kochen, sieden und braten!“ - -„Nun ja, Fräulein, für uns zuhause; da kommt alles zusammen in einen -Topf, der wird morgens in die heiße Asche gesetzt, da kocht sich’s ganz -alleine. Aber hier, da ist noch nicht einmal ein Aschenloch, nur ein -Ofen, da verstehe ich nichts von!“ - -Da war guter Rat teuer. Wenn nur Martha irgendjemanden hätte fragen -können! Halt! eine Freundin ihrer Mutter hatte ihr einmal das Kochbuch -von Henriette Davidis geschenkt; das fand sie endlich nach langem -Suchen und studierte darin Bouillonsuppe und Lendenbraten. Aber es ist -mit der Kochkunst eine eigene Sache; wo alle Erfahrung und Anschauung -fehlt, gerät es auch nach dem besten Buche nur mangelhaft, und wer -all’ die kleinen, nötigen Handgriffe nicht übte, dem geht die Arbeit -sehr langsam von statten. Das Feuer meldete sich verdrießlich, weil -eine Hand darüber kam, die es noch niemals geschürt hatte; der Ofen -rauchte, weil eine Klappe geschlossen war, die geöffnet sein wollte; -und als nach langen, schweren Mühen nichts weniger als pünktlich das -Mittagsbrot auf den Tisch kam, schmeckte es jedenfalls ganz anders -als in B., und Frau Feldwart, die ohnehin wenig Appetit hatte, legte -verdrießlich ihren Löffel hin und schaute mit entsetzten Blicken auf -die große Menge Suppe und den noch größeren Braten, welche eine sehr -unliebsame Wiederholung auf morgen versprachen. - -„Wir haben heute wirklich zu viel gekocht“, dachte Martha. Sie wollte -ja gern den Kopf oben behalten und sah es als ihre Aufgabe an, der -Mutter eine Stütze zu sein; hätte ihr ein erfahrenes und treues Mädchen -zur Seite gestanden, so würde sie vielleicht die Schwierigkeiten -überwunden haben. Aber ach! von ihrer Hauswirtin aufmerksam gemacht, -mußte sie bald entdecken, daß Thekla kein redliches Mädchen war, und -als einmal in der Nacht Frau Feldwart nach Kaffee verlangte und Thekla -geweckt werden sollte, um Feuer zu machen, zeigte es sich, daß sie zum -Tanze gegangen war und das Haus offen gelassen hatte. Hiervon mußte -Frau Feldwart erfahren. - -„Sie darf nicht bei uns bleiben“, sagte sie, „schon um des Hauswirts -willen dürfen wir sie nicht behalten.“ - -Martha sah dies ein; sie fühlte, daß sie nicht die Erfahrung besaß, -welche dazu gehört hätte, das Mädchen auf besseren Weg zu bringen, und -so ging am anderen Morgen Thekla, und Martha sah ihr halb mitleidig, -halb schmerzlich bewegt nach mit dem demütigenden Gedanken: „Ich -konnte ihr gar nichts sein; ach, ich taste ja auch noch im Dunkeln -umher, und Gott mag geben, daß ich meinen Weg finde. Es ist eigentlich -gut, wir können ohne sie sparsamer sein!“ - -Es zeigte sich bald, wie nötig das war; Martha hatte gar nicht gedacht, -daß zum Leben so viel Bedürfnisse gehörten; das Geld verschwand unter -ihren Händen. Sie wollte sich bei der Mutter Rat und Anweisung holen, -aber die war innerlich wie gebrochen und schüttelte nur den Kopf: „Thu, -was du willst!“ Ach, da kamen für die Tochter auch recht mutlose, -dunkle Stunden. Nein, arm und reich sein galt ihr gar nicht gleich! In -der Phantasie war das recht schön, in der Wirklichkeit um so bitterer. - - - - -5. - -Suschen von drüben. - - -Sie mußte sich nun ermannen und die Arbeit allein angreifen. Herr -Reinhold, ihr Wirt, hatte ihr versprochen, Erkundigungen nach einem -Mädchen oder einer Aufwärterin einzuziehen, aber sie auch darauf -vorbereitet, daß es einige Tage dauern könne, bevor sich Hilfe fände. - -„Es schadet auch nichts, Fräulein! Der Laufbursche holt Ihnen Kohlen -und Wasser und kann auch in der Stadt was mit besorgen.“ - -Das war nun recht dankenswert, aber dennoch blieb eine große -Sorgenlast auf Marthas Herzen, und sie stand recht traurig in der -Küche und musterte die Reste vom vergangenen Tage, ob sich vielleicht -ein Mittagsbrot daraus zusammensetzen ließe; da klopfte es an die -Küchenthür, und als Martha dieselbe öffnete, erschien in ihrem Rahmen -ein Frauenkopf, braun gebrannt von der Sonne, mit hundert kleinen -Fältchen gezeichnet; das weiße Haar schimmerte nur wenig hervor unter -einem neuen, karrierten Kopftuche, das, am Hinterkopfe regelrecht -gebunden, in zwei gleichen, glatten Zipfeln nach beiden Seiten abstand, -und mitten aus den freundlichen Zügen leuchtete ein ungemein helles, -strahlendes Augenpaar die verwunderte Martha an: „Ach, ist’s denn -möglich? nein, gar nicht verändert, noch ganz und gar wie sonst, mein -liebes, liebes Fräulein!“ - -Marthas Verwunderung stieg: „Wen suchen Sie denn eigentlich, liebe -Frau?“ - -„Aber, mein Fräulein Riekchen, oder meine liebe Frau Feldwart, kennen -Sie mich denn nicht? Es sind ja nun wohl schon ein- oder zweiundzwanzig -Jahre, daß wir nicht zusammengekommen sind; aber Ihre alte Trude, die -sollten Sie denn doch wohl nicht vergessen haben.“ Martha fing an zu -begreifen. Trude! den Namen hatte sie von ihrer Mutter oft nennen -hören; sie lächelte: „Ja, was vor zweiundzwanzig Jahren war, kann ich -freilich nicht wissen; ich werde im Sommer erst achtzehn. Sehe ich -vielleicht aus wie meine Mutter damals aussah?“ - -Nun war das Lachen an der Alten. - -„Ach freilich, freilich, Kind, accurat so! Wo dachte ich auch hin? Und -die Sprache, wie Sie sich ’rumdrehen und alles! Sehen Sie, gleich wie -ich aus der Schule kam, wurde ich bei ihr Kindermädchen; ich habe sie -auf meinen Armen groß getragen, dann nachher war ich Zimmermädchen auf -dem Gute. Als sie zum erstenmal zu Gottes Tische ging, da habe ich -ihr das schwarze Kleid angezogen und an ihrem Hochzeitstage Kranz und -Schleier gesteckt; ach, was war sie eine schöne Braut! All’ die Jahre -daher habe ich mich gesehnt, sie einmal wiederzusehen. Nun sagte mir -neulich der alte Herr, der die Wohnung hier gemietet hat, daß der Herr -Vater tot ist und daß sie hierhergezogen ist, weil es ihr schlecht -geht. Na, dachte ich, da mußt du hin, Trude, da mußt du hin! Ach, nicht -wahr, Fräulein, ich darf mit meiner alten Herrschaft sprechen?“ - -Es wurde der Martha feucht in den Augen und weich um das Herz; sie -war sich eben noch so grenzenlos verlassen vorgekommen, setzt sah sie -wieder ein wenig Licht und Hilfe. Sie ging hinein zur Mutter: „Mama, -deine alte Trude ist da; nicht wahr, du läßt sie hereinkommen? sie -würde sonst zu traurig sein.“ - -Frau Feldwart sah erst sehr erschrocken aus; aber all’ ihre -Jugenderinnerungen wurden lebendig; Trudens Güte und Treue spielte -darin eine große Rolle. Nein, die konnte sie nicht abweisen -- sie -nickte still und traurig mit dem Kopfe. - -Trude setzte ihre Kiepe in der Küche nieder, breitete sorgsam ihren -dunkelblauen Mantel darüber und trat ins Zimmer. Frau Feldwart wollte -ihr entgegengehen. - -„Ne, bleiben Se sitzen, bleiben Se ruhig sitzen, mein liebes Fräulein -Riekchen, und nehmen Sie es nicht für ungut, daß ich komme. Ich hörte, -daß der liebe Gott Sie so geprüft hat, und da mußte ich doch ’mal -nach Ihnen sehen. Wenn Sie als kleine Krabbe zu mir geweint kamen, da -konnte ich Sie wohl leichte trösten, und jetzt mag das ja schwer sein; -aber unsereiner kann doch sagen, daß man Anteil nimmt, und solche alte -Bekannte, wie wir sind, die sprechen sich doch gern ’mal aus.“ - -Frau Feldwart reichte der Alten die Hand und winkte ihr, sich zu -setzen: „Ja, Trude, wir sind sehr unglücklich geworden.“ - -„Nu, meine liebe Frau Feldwarten: welche der Herr lieb hat, die -züchtiget er; ich habe es auch erfahren. Ich habe einen Mann und zwei -Söhne begraben, und habe mich durchschlagen müssen mit drei schwachen, -kleinen Mädchen; da weiß ich wohl, wie Ihnen das zu Sinne ist.“ - -„Ach, Trude, es ist zu schwer: mein Mann tot und alles mit ihm -zusammengebrochen; nun in Armut sitzen und nicht wissen, wovon man am -andern Tage leben soll, und das arme Kind, die Martha, ach Gott, ach -Gott!“ - -Es waren die ersten Worte der Klage, die über Frau Feldwarts Lippen -kamen, so lange sie hier war; es waren die ersten Thränen, die jetzt -über ihre Wangen stürzten seit ihres Mannes Tode; sie kamen nun wie ein -unaufhaltsamer, nicht endenwollender Strom. Trude stand leise auf, nahm -den Kopf ihrer ehemaligen Herrin in ihren Arm, wie sie es gethan hatte, -als dieselbe noch ein Kind war, und strich mit ihrer welken Hand sanft -über das ergrauende Haar. - -„Ja, weinen Se nur, weinen Se nur, Frau Feldwarten -- immer zu! Die -Thränen hat uns der liebe Gott gegeben; die fließen ab aus dem Herzen, -wenn es zu voll wird, daß es nicht bricht, und glauben Sie nur, der -liebe Gott hilft schon durch. Der Reichtum hat seine Freuden und seine -Lasten, und die Armut hat ihre Freuden und ihre Lasten; die Hauptsache -ist, daß der liebe Gott mit seiner barmherzigen Hand immer dazwischen -ist; hat doch der Heiland auch nicht im Schlosse gewohnt, sondern im -Stalle; ich meine, da ist’s noch lange nicht so fein gewesen wie hier -in der Stube.“ - -Martha war hereingekommen, das Wort traf sie tief! Die Alte sah, daß -die Thränen ihres Pflegekindes sanfter flossen -- sie stand auf. - -„Darf ich denn ’mal wieder kommen, Frau Feldwart?“ - -„Ach, Trude, komme ja, so oft du kannst; aber wo wohnst du denn -eigentlich und was treibst du?“ - -„Ach, mir geht’s jetzt ganz gut; zwei von meinen Töchtern sind -verheiratet, die älteste ist in recht guten Verhältnissen, die jüngste -dient auf dem Amte, und mir hat der Herr Amtmann das Häuschen beim -Thore gegeben, wo sonst der alte Boten-Ferdinand wohnte; ich thue die -Botengänge nach L. und nach hier; ich bin glücklich auf meine alten -Tage.“ - -Frau Feldwart sah hinaus; der Februarsturm peitschte den Regen gegen -die Scheiben. - -„Aber bei solchem Wetter gehst du auch? Wirst du da nicht krank?“ - -Die Alte lachte: „Ach, das wird man alles gewohnt. Sehen Sie, beim -Schmied wird die Hand hart, daß er keine Hitze mehr fühlt, und beim -Tischler wird die Hand hart, daß ihm der Hobel nicht mehr weh thut, und -bei mir da ist nachgerade das ganze alte Fell hart geworden, daß mir -Wind und Wetter nichts mehr anhaben kann; man glaubt nicht, was sich -alles lernt im Leben.“ - -Sie ging; Martha begleitete sie, um ihr den Korb mit aufheben zu -helfen; sie erzählte ihr das Unglück mit dem Mädchen, und die Alte -versprach ebenfalls, ihre Augen und Ohren danach aufzuthun. - -„Jetzt aber, Fräulein, jetzt müssen Sie mir noch die Liebe thun und die -zwei Paar jungen Tauben annehmen; bei meiner Kathrine sitzen sie über -dem Kuhstall, da brüten sie bald.“ - -Martha dankte herzlich, aber sie faßte die Thierchen mit einem -ängstlichen Blick auf Trude. - -Diese lachte: „Ach so! das Fräulein hat gewiß noch keine geschlachtet; -da will ich die Köpfe nur gleich noch abreißen -- so! Nun behüte Sie -der liebe Gott, und halten Sie Ihren jungen, hübschen Kopf oben, daß -die Mutter keine betrübten Gesichter sieht, es geht alles in der Welt -mit der Gotteshilfe.“ - -Martha war ganz mit ihr einverstanden im tiefsten Innern, besonders -was die großen Sorgen des Lebens betraf; wie es jetzt aber weiter -gehen sollte mit ihrer Wirtschaft und speziell mit diesen zwei Paar -Tauben, das war ihr sehr unklar. Für das Große, meinte sie, da könnte -man doch den lieben Gott recht anrufen, aber für solche Lappalien, die -man noch dazu durch seine Dummheit verschuldet hat, da erschien es -ihr fast, als dürfte sie es nicht. Zunächst, das schien ihr gewiß zu -sein, mußten die Tauben gerupft werden; sie setzte sich auf den Rand -des Küchentisches dicht ans Fenster und begann die ungewohnte Arbeit. -Es ging sehr langsam; sowie sie sich bemühte, etwas schneller vorwärts -zu kommen, riß die feine Haut ein; dazu war ihr das Herz so schwer. -Was sie schon längst bedrückt hatte, das war ihr heute vor dem leeren -Kohlenstalle zur Gewißheit geworden; sie hatte schlecht gewirtschaftet, -und ihre Gelder mußten zu Ende sein, bevor dieser Monat zu Ende war; -vor dem ersten April war nichts Neues zu erwarten, und sie quälte -sich mit dem Gedanken, wie es bis dahin werden sollte; sie hatte sich -zusammengenommen diese ganze Zeit; jetzt tropfte langsam eine Thräne -nach der anderen herab aus ihren Augen, und sie mußte immer wieder die -Arbeit sinken lassen, um diese zu trocknen. Ohne es zu wissen, hatte -sie dabei zwei teilnehmende Zuschauerinnen. Der Feldwartschen Küche -gegenüber lag die Küche der großen Wohnung im Vorderhause; dort hatte -Martha bis gestern neben dem Dienstmädchen nur eine schlanke Dame -wirtschaften sehen, und zuweilen bemerkt, daß die Blicke derselben -freundlich und teilnehmend auf ihr ruhten. Heute zeigte sich neben -der Dame ein junges, behendes Mädchen, ohngefähr in Marthas Alter. -Als Martha von ihrer Arbeit aufblickte, sah sie die junge Gestalt am -Fenster stehen, und als sie nach einiger Zeit zum zweitenmale hinsah, -grüßte dieselbe freundlich, und Martha dankte ihr. Jetzt bemerkte sie, -wie Mutter und Tochter -- das waren sie sicher -- eifrig miteinander -sprachen: die Mutter lachte, die Tochter verschwand, und einige Minuten -später klingelte es an Feldwarts Korridorthür. - -Als Martha öffnete, stand das junge Mädchen mit hocherrötendem, -verlegenen Gesichte ihr gegenüber: „Ach, verzeihen Sie, ich bin ja nur -das Suschen von drüben.“ - -Martha wollte ihr die Zimmerthür öffnen. - -„Ach bitte, nein! ich kann ja nicht ins Zimmer, so wie ich bin!“ -sagte Suschen und lachte, indem sie auf ihren Morgenrock und ihre -blaugedruckte Küchenschürze zeigte. Martha dachte, daß die zierliche -Gestalt mit dem glatten, blonden Köpfchen, den klaren, blauen Augen -und Grübchen in den Wangen an jedem Platze hübsch aussehen müßte, aber -Visitenkostüm trug sie freilich nicht. - -„Ich wollte, ach, wenn es nicht unbescheiden ist, ich wollte Ihnen -Tauben rupfen helfen.“ - -Martha streckte ihr beide Hände entgegen: „Wie freundlich, wie sehr -freundlich ist das! Wenn Sie mir zeigen wollen, wie es am besten -anzufangen ist, so werde ich Ihnen sehr, sehr dankbar sein; ich bin -noch so gar dumm in solchen Sachen.“ - -„Und ich“, lachte das Suschen, „bin vorigen Sommer schrecklich klug -darin geworden, denn ich war bis vorgestern bei der Tante Pastor in S., -die hatte einen großen Taubenschlag; da gab es zu manchen Zeiten mehr -Tauben, als uns lieb war: einen Tag Frikassee und den andern Tag Suppe -und den dritten Braten. Alt und jung und Kind und Kegel mußte dann -rupfen, und als ich vorhin sah, wie Sie sich damit quälten, da konnte -ich’s nicht aushalten und lief herüber.“ - -Während dieser Erklärung waren sie in der Küche angelangt; Suschen -sah sich einen Augenblick darin um: „Jetzt müssen wir uns auf zwei -Stühle nebeneinander setzen, damit meine Küchenschürze für uns beide -ausreicht; Ihr dünnes, weißes Schürzchen taugt dazu nichts, Fräulein -Feldwart.“ - -„Ich heiße Martha“, sagte diese lächelnd. - -„Nun also, Martha, kommen Sie und machen Sie mir alles nach.“ - -Martha sah einige Zeit mit Verwunderung zu, wie die Federn unter -Suschens runden Fingern verschwanden, dann ließ sie sich erklären, -worauf es ankam, und da sie von Natur nicht ungeschickt war, eiferte -sie bald der jungen Gefährtin nach. Als sie nun auch mit schnelleren -Bewegungen an die gefährliche Stelle unter dem Flügel kam, gab es -freilich noch einmal einen großen Riß, der wurde diesmal aber nicht -beweint, sondern herzlich belacht. - -„Ich bin so froh, daß ich endlich glücklich hier bin“, sagte Suschen. -„Sehen Sie, mein Vater ist Direktor an dem Gymnasium hier, seine -Kollegen haben alle nur ganz kleine Kinder, da fürchtete ich mich -ordentlich, nachhause zu kommen, denn bei der Tante waren viel junge -Mädchen. Mama schrieb mir vor vierzehn Tagen schon, daß Sie hier -eingezogen wären, und ich habe die ganze Zeit Pläne geschmiedet, wie -ich zu Ihnen gelangen wollte; nun sind die lieben Tauben so gefällig -und vermitteln es.“ - -„Können Sie auch Tauben ausnehmen und zurecht machen?“ fragte Martha -zaghaft. - -„Freilich“, versicherte Suschen, „soll gleich geschehen: Wann sollen -sie denn gegessen werden? Heute doch nicht mehr, sie sind ja noch warm!“ - -Martha wurde verlegen: „Ich war aber so froh, daß ich etwas zu Mittag -hatte!“ - -„Na“, tröstete Suschen, „es geht am Ende auch. Wenn Sie nur ein wenig -Spiritus im Hause haben, brennen wir sie damit ab; die Tante sagt, -das thäten sie immer in Karlsbad, wenn die Hähnchen eine Stunde vor -dem Essen noch umherliefen. Dann nehmen Sie heute wenigstens nur zwei -und kochen sie zur Suppe, und morgen braten Sie die anderen; für zwei -Personen reicht das ganz gut.“ - -Jetzt wollte Martha Feuer unter der großen Platte anbrennen. - -„Haben Sie denn keinen Petroleumkocher?“ fragte Suschen. „So ein großes -Feuer für zwei Tauben ist doch schade!“ - -Martha hatte keinen. - -„Ich hole so lange unseren herüber, damit Sie nur erst ’mal sehen, wie -hübsch das ist, und dann, wenn Sie es erlauben, werde ich die Mama -fragen, ob ich nicht hier erst einmal mit fertig kochen darf.“ - -Martha sprach ihre Freude über diesen Gedanken aus: „Ich will ja alles -so gern lernen“, sagte sie, „aber ein wenig Anleitung muß man doch -haben.“ - -Wie gemütlich war es ihr, dieselbe von einer so lieblichen -Altersgenossin zu empfangen! Als Suschen weggegangen war, erschien Frau -Feldwart in der Küche. - -„Wer war bei dir?“ - -„Das Suschen von drüben.“ - -„Wer ist das?“ - -„Ach Mama, hier unser ~vis à vis~; sie hatte gesehen, daß ich -nicht Tauben rupfen konnte, da kam sie und zeigte es mir; sie will mir -auch kochen helfen.“ - -Frau Feldwart schüttelte den Kopf. Die schnelle Freundschaft war ihr -sehr verwunderlich; aber sie hatte Martha zum erstenmale wieder lachen -hören, und ihr Mutterherz lebte noch, wenn es auch jetzt im Banne der -Traurigkeit lag. - -„Woher hast du die Tauben?“ - -„Trude hat sie gebracht von ihrer Tochter, die hat einen Taubenschlag.“ - -Suschen kam jetzt wieder und Frau Feldwart zog sich zurück. - -„Ich habe mir etwas ganz Reizendes ausgedacht“, sagte die kleine -Nachbarin, „und meine Mama hat nichts dagegen: ich will Ihnen, wenn Sie -es erlauben, früh jetzt immer ein wenig helfen; da kommen sie nach und -nach in Übung und ich nicht heraus; darf ich das?“ - -Sie sah Martha so lieblich bittend an, daß diese sie gerührt umarmte. - -„Ach, ich kann darüber ja nur ganz glücklich sein, und ich weiß ja -ohnehin nicht, wann ich wieder ein Mädchen haben werde.“ - -„Ach“, sagte Suschen, „ich nähme mir gar keins wieder. Es ist doch zu -erwarten, daß wir beide in der ersten Zeit noch allerlei Dummheiten -machen; da ist es viel besser, wenn uns niemand dabei zusieht, und -dann brauchen wir ja auch viel weniger zu kochen und können es feiner -einrichten. Sie werden schon eine Frau finden, die morgens ein paar -Stunden kommt und nach Tische noch ’mal; das ist viel billiger als ein -Mädchen.“ - -„Ja, das wäre sehr gut“, sagte Martha, „ich muß mich so erst -einwirtschaften. Meine Thränen heute Morgen galten viel weniger den -Tauben, als der Angst und dem Kummer, daß ich viel mehr verbraucht -habe, als ich eigentlich durfte.“ - -„Ach, da kann Ihnen gewiß meine Mutter raten; wir sind acht Kinder, da -muß sie auch recht sparen, wo sie immer kann.“ - -Es erhob sich nun noch eine kleine Schwierigkeit. Martha meinte: nur -Tauben in der Suppe -- das würde ihrer Mutter doch nicht recht sein. - -„Gut“, sagte Suschen, „so schneiden wir die Tauben in Viertel, machen -eine Frikasseesauce darüber, und braten die Kartoffeln, da haben wir -gleich noch einen besonderen Gang für unser Diner.“ - -Martha staunte Suschens Erfahrungen an. Es war schließlich alles -wohlgeraten, und als sich die beiden Köchinnen trennten, geschah es -mit einer fröhlichen Umarmung, und beide brachen zugleich in die Worte -aus: „Wollen wir uns nicht lieber ‚du‘ nennen?“ Dies wurde mit einem -herzlichen Kusse besiegelt, und die Freundschaft war geschlossen. Frau -Feldwart war zum erstenmale befriedigt von ihrem Mittagsbrot, von dem -sie heute nach des Mädchens Abgang nur wenig erwartet hatte. - -Als sie ihre Mittagsruhe hielt, saß Martha still an ihrem Fenster und -staunte darüber, daß sie jetzt so fröhlich und getrost war. Sie hatte -den lieben Gott heute nicht um seine Hilfe gebeten, weil ihre Anliegen -ihr zu klein dazu erschienen; waren ihre unausgesprochenen Seufzer -doch vor seinen Thron gekommen? Ach ja! was unsere Herzen unruhig -macht, das ist ihm nie zu groß oder zu klein, und wenn er seine Kinder -auf sehr rauhe Pfade und durch sehr dunkle Stunden führt, thut er wie -eine gute Mutter, die dem Kleinsten Süßigkeiten oder Spielwerk vorhält -zu dem ersten schweren Schritte; er läßt mitten durch die dunklen -Wolken einen Sonnenstrahl fallen, eine Gebetserhörung ein freundliches -Erlebnis, um der Seele zu sagen: „Ich verlasse dich nicht; ich bin -dennoch bei dir und halte dich an meiner Hand, wenn du mich auch nicht -immer gleich finden kannst.“ An solchen Erfahrungen stärkt sich dann -der Mut und das Gottvertrauen, und der Fuß lernt wieder getroste und -gewisse Schritte thun. Martha hatte sich von jeher eine echte, rechte -Freundin gewünscht; Suschen sah so sehr lieb und treu aus: vielleicht -hatte sie in ihr gefunden, was sie suchte. - -Es schien heute der Tag aller Besuche zu sein. Gegen Abend kam die Frau -Direktorin selbst und bat Martha, sie bei ihrer Mutter zu melden. Frau -Feldwart hatte außer Trude noch niemanden empfangen; aber sie fühlte -wohl, daß sie sich nicht ablehnend oder unfreundlich gegen die Mutter -verhalten durfte, nachdem die freundliche Hilfe der Tochter dankend -angenommen war. Die geselligen Gewohnheiten ihres Lebens machten ihr -die Sache leichter, und sie kam der Frau Werner, deren ernstes, -teilnehmendes Gesicht sehr vertrauenerweckend aussah, rücksichtsvoll -und artig entgegen. - -„Verzeihen Sie“, sagte diese mit sanfter Stimme, „daß ich zu Ihnen -komme, ohne zu wissen, ob es Ihnen jetzt schon angenehm ist, Besuche -zu empfangen; ich wollte nur das Eindringen meines ungeduldigen Kindes -entschuldigen und mich überzeugen, ob Ihnen die Pläne der beiden jungen -Mädchen nicht lästig oder störend sind. Ich kann mir so sehr denken, -wie Ruhe und Stille Ihnen jetzt vor allem wohlthun.“ - -„O ja“, sagte Frau Feldwart, „für mich haben Sie ja wohl recht, aber -für Martha sehe ich es doch sehr gern, wenn sie junge Gesellschaft und -etwas Erheiterung hat, und Ihr liebes Töchterchen kam heute in Marthas -Ratlosigkeit hinein wie eine gute Fee. Ich kann Ihnen nur von Herzen -dankbar sein, wenn Sie erlauben wollen, daß sie meinem armen Kinde -ferner mit Rat und That beisteht; Martha ist noch so ganz unbewandert -im Häuslichen, und ich“ -- Frau Feldwarts Thränen waren heute einmal -in Bewegung gebracht, sie flossen jetzt aufs neue -- „und ich bin ja -ebenso unwissend als sie.“ - -„Ich glaube es“, sagte Frau Werner sanft, „es ist jetzt ein sehr -schwerer Übergang mit all’ dem Kummer im Herzen. Aber diese Dinge sind -wirklich nicht so schwierig zu erlernen, als es scheint. Sie sollen -sehen: wenn unsere beiden Kinder die Sache zusammen angreifen, haben -sie schließlich noch die größte Freude davon. Würden Sie denn Ihrer -Martha erlauben, manchmal ein Stündchen zu uns zu kommen? Es ist viel -Leben bei uns: acht Kinder, von denen Suschen das älteste ist.“ - -Frau Feldwart sah etwas bedenklich aus; ihr freundlicher Besuch fuhr -fort: „Ich hatte nicht daran gedacht, Ihnen die Gesellschaft Ihres -Töchterchens zu entziehen; ich denke mir aber, Sie bedürfen so gut -als mein Mann und ich der Mittagsruhe. Während dieser Zeit ist meine -unruhige Schar im Sommer auf dem Hof oder im Grasgarten, im Winter in -dem großen Hinterzimmer; sie versichern, es sei dies die fröhlichste -Stunde des Tages. Da könnte Martha mit vergnügt sein.“ - -Die Einladung ward angenommen; Frau Werner erbot sich zu allem guten -Beistande, falls derselbe gewünscht werde, und Frau Feldwart dankte ihr -herzlich, bat aber, ihr noch einige Zeit den Gegenbesuch zu erlassen. - -Kaum hatte Martha die gütige Nachbarin hinausbegleitet, als es abermals -klingelte. Es war jetzt schon dämmerig, und Martha erschrak fast vor -der großen, kraftvollen Frauengestalt, welche den Rahmen der Flurthür -fast ausfüllte. Sie zündete schnell die Lampe an, und als ihr Licht -das breite, von Güte und Freundlichkeit strahlende Gesicht der -Eingetretenen beleuchtete, da konnte von Furcht oder Beklemmung keine -Rede mehr sein. - -„Ich bin die Warburgerin“, sagte die Riesin. „Die Trude schickt mich, -und ich möchte hier Aufwartefrau werden. Sehen Sie, ich habe fünfe; -mein Mann geht auf Arbeit in die Fabrik, und ich kann nicht mitgehen, -sonst verlottert die Wirtschaft und die armen Würmer verkommen; aber -so ein paar Stunden früh und nachmittags, da nimmt sich schon meine -alte Nachbarin der Kinder an. Alles kann einer für sieben doch nicht -schaffen.“ - -Die verschiedenen Eindrücke des Tages hatten Frau Feldwart doch so -weit aus ihrer Müdigkeit und Niedergeschlagenheit aufgerüttelt, daß -sie die Verhandlungen mit der Warburgerin selbst übernahm; man wurde -bald handelseinig, und kaum war dies geschehen, so hing mit unfaßbarer -Geschwindigkeit der Mantel der eben Gemieteten am Nagel; sie ergriff -die Brunneneimer, fragte mit einem Blick auf den Kohlenkasten nach dem -Kohlen- und Holzstall, und es war noch keine halbe Stunde vergangen, -da war alles Nötige für den andern Morgen vorbereitet. Frau Warburger -fragte, ob noch etwas in der Stadt zu bestellen sei, und ging dann, um -Mutter und Tochter in einem so befriedigten Zustande zurückzulassen, -wie es beide an diesem Morgen noch nicht für möglich gehalten hatten. - -Martha sehnte sich zum erstenmale wieder nach einer stillen -Beschäftigung; am liebsten hätte sie ein ernstes Lied gesungen, sie -wußte aber, daß dies die Mutter jetzt noch nicht ertrug. Sie griff -zu einer leichten, angefangenen Häkelei, aber ihre Hände sanken -immer wieder nieder, weil ihre Gedanken so weit umherwanderten. -Zum erstenmale dachte sie, daß doch wohl Gott in seiner Weisheit -sie davor bewahrt habe, jetzt schon zu heiraten und ernstere und -reichere Pflichten auf sich zu nehmen, und zwar wehmütig, aber gar -nicht unlieblich erschien ihr die Aufgabe, während Siegfried im -fernen Lande bemüht war, die Mittel zur Gründung eines häuslichen -Herdes zu erwerben, sich hier allmählich ausbilden zu können zu einer -tüchtigen und brauchbaren Lebensgefährtin für ihn. Süße Bilder der -Zukunft umschwebten sie, aber das Bewußtsein, wie ungewiß, ja wie -unwahrscheinlich ihre Verwirklichung sei, wollte ihr Herz wieder in -Traurigkeit versenken. - -Aber nein! sie hatte ja heute so viel zu danken, sie mußte den Kopf -oben behalten. „Ich werde mir jetzt eine Arbeit suchen, die meine -Gedanken voll in Anspruch nimmt“, dachte sie, „ich will Suschen zum -Andenken an den heutigen Tag etwas malen.“ - -Als sie sich der Mutter gegenüber mit ihren Zeichengerätschaften -eingerichtet hatte, holte sich diese ein Buch zum Lesen, und es -war das erste Mal, daß beide gemütlich zusammensaßen in den neuen -Räumen. Konnte man doch nun auch dem anderen Morgen mit größerer -Ruhe entgegensehen. Die Warburgerin fand sich zum verwundern schnell -zurecht. Als die notwendige Arbeit gethan war, scheuerte sie freiwillig -noch die Hintertreppe, die von Thekla sehr vernachlässigt worden war. -Als sie dann ihre Hände gewaschen und ihren Mantel umgethan hatte, -stellte sie sich mit untergeschlagenen Armen noch einmal auf die -oberste Stufe, blickte mit einer Art verklärter Zärtlichkeit auf das -eben vollendete Werk und sagte: „Ne, was schöneres giebt es doch auf -der Welt nicht, wie so ’ne schloh-blütenweiße Treppe!“ - -Martha hatte sie mit ihren Augen auf Schritt und Tritt begleitet; sie -sah, daß sie eine geübte Arbeiterin vor sich hatte, und wollte von ihr -lernen. „Welche verschiedenen Lose haben doch die Menschen!“ dachte -sie; „es ist eigentlich hart, immer nur zu scheuern, zu fegen und zu -putzen!“ Bei Frau Warburgers entzückter Anbetung der gescheuerten -Treppe tröstete sie sich: „Es ist am Ende einerlei, was man thut, wenn -es nur mit solcher Befriedigung lohnt!“ - -Zum Kochen kam wieder das Suschen und brachte eine Schüssel Spinat mit: -„damit wir auch Gemüse zum Braten haben.“ Als nach Tische die Mutter -in der Sofaecke saß, ging Martha zu Direktors, um ihr Versprechen zu -halten. Sie wunderte sich, daß nicht ihre Freundin, sondern das Mädchen -ihr die Thür öffnete, und sie durch den Korridor zu dem Hinterzimmer -brachte. Hier stand sie staunend einem feierlichen, lebenden Bilde -gegenüber. Suschens Geschwister waren in einem Halbkreis aufgestellt, -der sechszehnjährige Bruder in der Mitte; von da ging es nach beiden -Seiten abwärts; an einer Seite saß das Kleinste an der Erde. Jedes -Kind hielt ein Schneeglöckchen in der Hand, Suschen stand vor ihnen -mit dem Rücken nach der Thür, hielt einen Weidenzweig mit Kätzchen als -Taktstock, kommandierte, eins, zwei, drei -- und nun ging der Lärm los. -Sie sangen: - - Heil sei dem Tag, an welchem du bei uns erschienen! - (Die Jungen intonierten: didelum, didelum, didelum), - ’s ist gar nicht lange her - (Didelum, didelum, didelum), - Wir brauchen uns nicht erst drauf zu besinnen - (Didelum, didelum, didelum), - Das freut uns desto mehr, - Das freut uns desto mehr. - -Hierauf marschierten sie an Martha vorüber, und jedes Kind reichte -ihr sein Schneeglöckchen, auch das zweijährige Mariechen wackelte den -anderen nach. Martha wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, es -war für ihre jetzige Gemütsverfassung etwas viel; aber das Ganze sah so -reizend aus, die Kindergesichter strahlten fröhlich, und es war mit so -viel Liebe erdacht, daß sie sich doch von Herzen freuen mußte und die -kleine Marie und ihr Suschen abwechselnd umarmen. Die anderen wollten -aber auch berücksichtigt sein. Da war zuerst der sechszehnjährige -Sekundaner Wilhelm, die vierzehnjährige Luise, die zwölfjährigen -Zwillinge Arthur und Hans, die achtjährige, schmächtige Anna, der -vierjährige Gottfried und die zweijährige Marie. Alle umdrängten sie -Martha, eins überschrie das andere, sie waren offenbar aufgeregt durch -die Empfangsfeierlichkeit: „Hast du dieses Jahr schon Schneeglöckchen -gesehen? Sie sind ganz hinten aus dem Garten, Hans hat sie unterm -Schnee hervorgesucht.“ „Kannst du auch singen?“ „Kannst du Post- -und Reisespiel?“ „Kannst du Zwickmühle?“ „Sieh ’mal, das ist meine -Puppenstube!“ „Haben Sie ‚Die Ahnen‘ schon gelesen, Fräulein Feldwart?“ - -Sie wußte in der That nicht, wem sie zuerst antworten sollte, ja, -zuweilen kamen Momente, wo sie sich am liebsten die Ohren zugehalten -hätte, denn solch ein Trubel war ihr gänzlich ungewohnt. Aber sie fand -sich schnell darin zurecht. - -„Kommt“, sagte Suschen, „jetzt schlachten wir zuerst Martha zu Ehren -die beiden Apfelsinen, die der Vater mitgebracht hat; jeder bekommt ein -Viertel und Mariechen ein kleines Biskuit. Dann spielen wir; Luischen -soll sagen, was?“ - -„Ach, ich kann gar nicht spielen“, sagte Luischen, „ich muß mein -englisches Gedicht noch ’mal überlernen; das ist heute so schwer.“ - -„Wir müssen auch arbeiten“, erklärten Hans und Arthur; „die Probe auf -unser Exempel paßt nie.“ - -„Ach“, sagte Martha fröhlich, „da kann ich mich vielleicht dankbar -erweisen für den schönen Empfang, und euch ein wenig helfen.“ - -Es zeigte sich, daß Luischen erst um drei Uhr in die Schule mußte; -Martha vertiefte sich also zuerst mit den Zwillingen in die Exempel. -Es gelang ihr bald, den wunden Punkt zu finden, und von da aus war die -Sache bald berichtigt. - -Darauf setzte sie sich zu Luischen: „Nun lies mir ’mal zuerst dein -Gedicht. Nein, liebes Luischen, so geht es wirklich nicht, du sprichst -noch sehr falsch aus, und mir scheint, daß du an einigen Stellen auch -den Sinn nicht recht verstehst, ich will dir jetzt immer Strophe für -Strophe vorsagen, du sprichst mir langsam nach, und am Ende jedes -Verses übersetzest du, was du gesagt hast.“ - -Es geschah, und Martha gelang es bald, der etwas flüchtigen Schülerin -ihre Aufgabe klar zu machen: sie hatte nun selbst ihre große Freude -daran, als dieselbe nach und nach alle Schwierigkeiten überwand. - -„Bitte“, sagte Luischen, „nun lies du es noch ’mal ganz; das klingt so -hübsch.“ - -Martha that es. Während ihres Lesens hatte sich leise hinter ihr -die Thür geöffnet und Direktor Werners kluger Kopf war in derselben -erschienen. Er sah recht wohlgefällig auf die Leserin. - -„Das ist ja eine sehr gute Aussprache“, sagte er, als Martha fertig war. - -Sie stand errötend auf. - -„Seien Sie mir, willkommen, Fräulein Feldwart; ich wollte nur hier -meine junge Gesellschaft an die Schulzeit erinnern; ich denke, wir -sprechen uns bald länger.“ - -Er hatte schon die Hefte unterm Arm, den Hut in der Hand und empfahl -sich schnell. - -Martha eilte zu ihrer Mutter; sie fing nun an, Licht und Luft um -sich zu sehen; sie fühlte, daß sie sich bald einarbeiten werde mit -der Freundin zusammen. Die Mutter war nicht mehr so teilnahmlos wie -früher, und die fröhliche Kindergesellschaft drüben versprach so viel -Erheiterung und Zuwachs an Interesse, wie Martha eben jetzt bedurfte -und gebrauchen konnte. Nur ein großer Sorgenstein lag noch auf ihrer -Seele und bedrückte dieselbe täglich mehr. Es war am 1. März, als das -letzte Fünfmarkstück aus ihrem Beutelchen herauswanderte, und vor dem -1. April war an keine neue Einnahme zu denken. Sie überlegte lange: sie -glaubte wohl, daß Fleischer, Bäcker und Kaufmann, die von ihr bis jetzt -pünktlich bezahlt worden waren, einige Wochen gern leihen würden; aber -wenn sie in diesem Vierteljahre vom nächsten schon zehrte, wie in aller -Welt sollte sie da künftig auskommen? Dazu hatte sich so viel Wäsche -gesammelt; es würde auch teuer sein, sie waschen zu lassen. - -Die Mutter war eben erst wieder ein wenig teilnehmender geworden; sie -beschloß, Frau Werner um Rat zu fragen. - -Diese hörte mit der wärmsten Teilnahme Marthas Klagen an und dachte -lange darüber nach: „Du mußt das doch deiner Mutter sagen, liebes -Kind! Es giebt eine wahre und eine falsche Schonung. Wie willst du es -anfangen, dich noch mehr einzuschränken, wenn deine Mutter keine Ahnung -von euerer Lage hat? Über die Wäsche sei ruhig, das wird sich mit Hilfe -der Warburgerin billig einrichten lassen; die feinen Sachen wäscht -Suschen mit dir allein und lehrt dich das Stärken und Plätten! Gehe -nur jetzt und sprich mit deiner Mutter ordentlich und ehrlich über -euere Lage.“ - -Es wurde Martha recht schwer, und Frau Feldwart war sehr erschrocken; -aber nach einigem Nachdenken fand sie einen Ausweg. Sie hatte einen -Brillantschmuck, der ihr freies Eigentum war, für Notfälle mitgenommen; -der wurde mit Hilfe der Frau Werner bei einem soliden Goldschmied -verkauft und ergab immerhin so viel Einnahme, daß der nächsten, -dringendsten Not damit gewehrt war. Aber Werners hatten bei dieser -Gelegenheit einen tieferen Einblick in die Lage ihrer Nachbarn bekommen -und dachten von dem Augenblicke ernstlich darüber nach, womöglich -einige Erwerbsquellen für Martha zu finden. - -Die Karte, welche dieselbe für Suschen gemalt hatte, war vollendet. -Aus jeder Ecke schwebte eine Taube; alle vier hielten im Schnabel -ein blaues Band, an welchem sie zwei Herzen, als kleine Personen -dargestellt, eines mit einer Distel -- das andere mit einem -Rosenkranze, einander entgegenzogen. Dazwischen stand geschrieben: - - Am 26. Februar - Da haben uns zwei Taubenpaar’ - Verbunden. - Der Tag stets unvergessen sei, - Da wir uns bei der Rupferei - Gefunden. - -Das ganze Bildchen war mit Vergißmeinnicht durchschlungen und sah -allerliebst aus. Suschen war entzückt darüber. Ihr Vater betrachtete es -lange; dann sagte er: „Suschen, die Karte mußt du mir ein wenig borgen, -Du sollst sie richtig wieder haben; ich habe eine Absicht damit.“ - -Frau Feldwart fand den Umgang mit Werners so entschieden erfrischend -und erheiternd für Martha, daß sie bald nichts mehr dagegen hatte, wenn -diese auch einmal zu einer anderen Zeit eine Viertelstunde zu Suschen -ging, und sie fing auch an, sich an dem fröhlichen Geplauder der -Mädchen zu erfreuen, wenn diese herüber kam. Eines Sonnabends erschien -sie mit der Bitte, Martha möge doch am Nachmittag einige Stunden mit -ihnen spazieren gehen, die Eltern gingen auch mit; es sollten im -Stadthölzchen Schneeglöckchen, Leberblumen und Anemonen gesucht werden. -Es war einer jener wunderlieblichen Märztage, da die Sonne mit ihren -warmen Strahlen die letzten Schneestreifen wegküßt und durch die Milde -der Luft die Täuschung hervorgebracht wird, als sei man schon viel -weiter in der Jahreszeit vorgerückt. - -Man zog sehr fröhlich hinaus; die Mädchen trugen im Strickkörbchen, die -Knaben in der Botanisiertrommel ihr Vesperbrot. Mariechen wurde vom -Kindermädchen im Wagen vorausgeschoben, Gottfried ging meistens an der -Hand der Mutter, die wie eine richtige Gluckhenne ihre Augen überall -hatte, damit keines der Kleinen zu Schaden kommen sollte; die anderen -schwärmten umher, lachend, singend und springend. Der Vater examinierte -scherzhaft bald dieses, bald jenes Kind, bald deutsch, bald lateinisch. - -Suschen ging an Marthas Arme, in höchst vertrauliche Mitteilungen -vertieft, als plötzlich der Direktor rief: „Fräulein Martha, sehen Sie -wohl dort den Turm?“ - -Sie sah ihn. - -„Dort ist das Dorf und Gut, wo Ihre liebe Mutter geboren und erzogen -ist und die alte Trude jetzt noch ihre Heimat hat; auch Ihre -Urgroßeltern liegen dort begraben.“ - -„Ach, da möchte ich hin“, sagte Martha. „Aber freilich, es würde der -Mutter zu schwer sein“, fügte sie traurig hinzu. - -Martha stand jetzt neben Direktor Werner, und er fing sogleich ein -Gespräch mit ihr an, das sie neben ihm festhielt. Er fragte nach -ihrer Ausbildung, ihren Lehrern, nach dem Gange ihres Unterrichtes, -und fuhr dann fort: „Ich stelle dies Examen absichtlich mit Ihnen an, -Fräulein Martha. Meine Frau und ich möchten so gern ein Mittel finden, -um Ihre Lage zu erleichtern. Ich weiß wohl, daß Sie bei dem jetzigen -Zustande Ihrer lieben Mutter nicht daran denken können, Ihr Examen zu -machen und eine Stelle als Lehrerin anzunehmen; aber es ist eine ganze -Anzahl junger Mädchen hier, die eine englische Konversationsstunde -dringend wünschen; mein Suschen und die Töchter dort vom Amt sind -auch dazwischen; ebenso suchen wir für Luise und ihren Bekanntenkreis -Unterweisung im Zeichnen und Malen; würden Sie bereit sein, beides zu -übernehmen? Ein Honorar wollte ich Ihnen schon ausmachen; es würde -immerhin eine Hilfe für Ihre Kasse werden.“ - -Martha sah ihn fröhlich an: „Wenn es meine Mutter erlaubt, thue ich das -sehr gern; besonders wenn Sie mir behilflich sind, passende Lektüre zu -finden.“ - -Er versprach es, und Martha war glücklich. Sie hatte noch nie daran -gedacht, daß sie imstande sein könne, etwas zu verdienen; der Gedanke -war zu schön; sie schwärmte sich mit Suschen beinahe wie die berühmte -Milchfrau in sehr schöne Zukunftsträume hinein, so daß beide, im -Wäldchen angelangt, erst aus ihrem Phantasiehimmel heruntergeholt -werden mußten, bevor sie die lieblichen Frühlingskinder erblickten, die -wie eine reiche Stickerei aus dem dunklen Moosteppich hervorglänzten. - -Frau Feldwart war am Abend nicht so leicht für die neuen Pläne zu -begeistern; sie war zuerst entsetzt über die Idee, daß Martha etwas -verdienen sollte, und klagte hart ihr Schicksal an; aber sie kannte den -Ernst ihrer Lage, und die große Freudigkeit ihres Kindes besiegte sie -zuletzt. - -Nach einigen Tagen kam Suschen strahlend; der Direktor hatte die -Taubenkarte nach M. geschickt; sie hatte dort Beifall gefunden, und -Martha erhielt den Auftrag, mehr solcher Karten zu malen, unter -Bedingungen, die immerhin einigen Vorteil versprachen -- lauter -tröstliche Aussichten! - - - - -6. - -Die Urgroßmutter. - - -In den ersten Wochen ihres Aufenthaltes in H. hatte das Befinden der -Mutter Marthas Sorge so in Anspruch genommen, daß der Gedanke, sie auch -nur auf Stunden zu verlassen, gar nicht aufkam. - -Suschen hatte schon öfter von den schönen Gottesdiensten in der nahen -Pfarrkirche und ihrem lieben Pastor erzählt. Jetzt klangen die Glocken -so feierlich herüber und luden zur Fastenkirche. - -„Mama, möchten wir nicht auch einmal hingehen?“ - -„Gehe du, Martha, ich kann noch nicht unter Menschen!“ - -Martha rief Werners und Suschen ab und ging mit ihnen. Der Kirchgang -am heiligen Weihnachtsabend war ihr letzter gewesen. Damals hatte sie -vor Glückseligkeit nicht ordentlich gehört, was gesungen und gesagt -wurde; heute verlangte ihre gebeugte Seele Trost und Kraft von oben -und öffnete wie eine durstige Blüte den Kelch, um den Himmelstau -aufzunehmen. Die schönen, wohlbekannten Fastenlieder bewegten ihr Herz -und hoben es empor. Der Prediger war ein Greis mit weißen Haaren, sein -Angesicht bestrahlt vom Morgenrot einer besseren Welt. Sein Thema war -heute: „Wie man dem Herrn sein Kreuz nachtragen soll.“ - -„Das paßt sehr für mich“, dachte Martha, „ich muß ja auch mein Kreuz -tragen.“ Sie erfuhr aber bald, daß noch etwas Besonderes dabei war, -woran sie noch nicht gedacht hatte. - -„Denkt nicht“, sagte der alte Pfarrer, „wenn euch Gott Leiden schickt -und ihr müßt sie ertragen, weil ihr sie nicht los werden könnt, -daß dies schon heißt: dem Herrn sein Kreuz nachtragen; o nein! das -müssen auch die Heiden und die Ungläubigen thun. Dem Herrn sein Kreuz -nachtragen, d. h. die Last, die er uns darreicht, willig auf unsere -Schultern nehmen mit dem Gebete: ‚Herr, du hast dein Kreuz getragen für -mich und meine Sünden, und hast die Nägel, die in meinem Kreuze waren, -dadurch herausgezogen; nun hilf, daß ich mein Kreuz dir nachtrage ohne -Murren, in dankbarer Liebe, in stillem, geduldigem Gehorsam, so wie du -es von mir willst und mir es vorgetragen hast, als dein Kind und zu -deiner Ehre! Dann glaubt mir, grünt das Kreuzholz auf euerer Schulter, -blüht und trägt Früchte, davon ihr noch genießen könnt in der seligen -Ewigkeit.“ - -Martha fühlte sich tief ins Herz getroffen. Nein, in dieser Weise hatte -sie ihr Kreuz noch nicht getragen, davon war sie noch weit entfernt; -aber sie folgte mit zagendem Herzen dem Schlußgebet, daß Gott die -Seelen bereiten möge zu solchem Kreuzestrost und solcher Kraft zum -Tragen, und sie konnte nicht anders, als nach der Heimkehr der Mutter -von dem Eindruck sprechen. - -„Mutter, ich möchte dich um etwas bitten. Darf ich nun manchmal wieder -ein Lied singen?“ - -Die Mutter erlaubte es; zuerst flossen ihre Thränen heftiger dabei, -dann verlangte sie danach, sie erinnerte auch Martha am nächsten -Sonntage selbst daran, in die Kirche zu gehen; die ging so gerne, und -als wieder die Glocken zur Abendkirche riefen, holte Frau Feldwart -selbst ihren Mantel und begleitete ihr Kind. - -Trude war fast jede Woche gekommen; gegen Ende März brachte sie Grüße -vom Herrn Amtsrat Rösner, und ob er nicht einmal dürfe seinen Wagen -schicken, Frau Feldwart und das Fräulein darin holen zu lassen, damit -sie die alte Heimat wieder begrüßten. - -Frau Feldwart konnte sich nicht entschließen: „Ja, wenn ich früher -einmal hätte dort sein können! Aber in diesem Zustande? nein!“ - -Am andern Tage fuhren des Amtsrats Töchter, frische, blühende Mädchen, -vor, und baten kindlich, doch zu erlauben, daß Martha sie für die -Nachmittags- und Abendstunden mit Suschen nach dem Gute begleite; es -wären all’ die jungen Mädchen dort versammelt, die an den englischen -Stunden teilnehmen wollten; sie wünschten Martha kennen zu lernen. - -Dagegen ließ sich nichts sagen. Martha fuhr hinaus in den freundlichen -Frühlingstag in Gesellschaft der munteren Mädchen; sie freute sich, -all’ die Stätten zu sehen, wo Urgroßeltern und Großeltern gelebt -hatten, und ihre Mutter aufgewachsen war. Der joviale Gutsherr und -seine freundliche Frau empfingen sie sehr freundlich; der Kreis von -jungen Mädchen, die zum Teil noch bedeutend jünger waren als Martha, -versetzte sie in ihr früheres, glückliches Leben zurück; sie bewegte -sich ungezwungen und anmutig zwischen ihnen und gewann schnell das -allgemeine Zutrauen. Es ward Zeit und Ort der englischen Stunde -verabredet, Direktors wollten ihr großes Hinterzimmer dazu hergeben, -und nur an besonders schönen Nachmittagen wollte der Amtsrat die -Gesellschaft herausholen lassen. - -Nach dem Kaffee eilte alles in den großen Garten, dessen feiner Rasen -im ersten Grün schimmerte, um am Rain und im Gebüsch nach Veilchen zu -suchen. - -Hier wartete Trude: „Nun, Fräulein Martha, nun kommen Sie ’mal mit, -nun will ich Ihnen zeigen, wo die Mutter groß geworden ist; die Frau -Amtsrätin wollte es selbst thun, aber ich habe so lange gebeten, bis -sie es mir erlaubte; ich weiß das ja doch natürlich noch viel besser! -So? Fräulein Werner will auch mit? Na, meinetwegen.“ - -Das Haus, wo Amtsrat Rösner wohnte, war ein Anbau, den er sich selbst -erst eingerichtet, da ihm das alte Wohnhaus zu kühl und düster -erschienen war; in dieses führte jetzt Trude die beiden Mädchen. - -„Sehen Sie, hier, was jetzt die große Wirtschaftsstube ist, das war -der Saal; da ist die Hochzeitstafel gewesen, als der Herr Vater mit -der Frau Mutter getraut worden waren, und hier, wo jetzt die Stube vom -Inspektor ist, da war die beste Wohnstube; Sie können hineinsehen, -er ist draußen beim Bestellen. Da über dem Flur drüben das war dem -Großvater seine Arbeitsstube, die hat jetzt Mamsell Hannchen. Und nun -kommen Sie ’mal mit die Treppe hinauf.“ - -Im oberen Stockwerk waren zwei Stübchen, die Marthas Interesse -vorzugsweise in Anspruch nahmen: das ehemalige Zimmerchen ihrer Mutter, -was jetzt sehr niedlich als Logierstube eingerichtet war, und das -Gastzimmer daneben. - -„Sehen Sie, hier hat nun die Frau Urgroßmutter gewohnt. Da hier in der -Ecke stand ihre große, bunte Kommode und da am Fenster steht noch ihr -Lehnstuhl und ihr eiserner, kleiner Tisch. Das war ’mal eine gewaltige -Frau! Die Leute im Dorfe wissen noch viel Geschichten von ihr, und ich -kann mich noch ganz gut auf sie besinnen. Sie ist die Mutter gewesen -von allen Kranken und Armen, und in den Kriegsjahren hat sie immer -den Kopf oben gehabt und mehr als einmal durch ihre Ruhe und ihr -Auftreten den Hof vor Plünderung und Schaden bewahrt. Der Urgroßvater -war kränklich und litt viel am Magen und an der Leber, da hat sie jung -schon die Zügel mit halten müssen. Hier oben aber da hat sie gesessen -eine halbe Stunde vor Tag und eine halbe Stunde des Abends, und hat -gelesen und so gewaltig gebetet, daß sie es manchmal draußen verstanden -haben, und in ihrem Testamente hat sie es bestimmt: der Stuhl, der -Tisch und darauf die Bibel und das Starkenbuch das soll hier am Fenster -bleiben und nicht verrückt werden, zum Zeugnis, daß der Segen von oben -kommt.“ - -Martha war zumute, als hörte sie die Stimme, die aus dem feurigen -Busche zu Mose sprach: „Ziehe deine Schuhe aus; der Ort, da deine Füße -stehen, das ist ein heilig Land.“ Mit scheuer Ehrfurcht schlug sie -die alte Bilderbibel auf, deren vergilbte Blätter mit Randbemerkungen -bedeckt waren; sie hatte aufgeschlagen und las: „Ebr. 12, 1: Darum -auch wir, dieweil wir solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasset uns -ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, und lasset -uns laufen durch Geduld in dem Kampfe, der uns verordnet ist.“ Es war, -als hörte sie die Urgroßmutter selbst diese Worte sagen, als empfinge -sie von ihr in dieser Minute gewissermaßen innerlich den Ritterschlag; -jetzt hätte sie lieber selbst Truden und Suschen nicht neben sich -gehabt; sie konnte sich lange, lange nicht trennen. Draußen vor dem -Fenster spielte der Wind in den eben erst knospenden Zweigen der alten -Linden, die hatten auch schon herübergerauscht in der Jugend der -Urgroßmutter, und dahinter erglänzte der kleine, klare Landsee, in dem -die Mittagssonne sich spiegelte; das war alles ebenso wie sonst. - -„Jetzt möchte ich ihr Grab sehen“, sagte sie endlich. Sie wanderte mit -Suschen Arm in Arm durchs Dorf, Trude voran. Auf einem grünen Hügel, -von Kastanien umgeben, lag die freundliche, saubere Kirche, rings -um sie her unter ihren weißen Steinen und Kreuzen die schlafenden -Gemeindeglieder. Ganz nahe dem Eingange ins Gotteshaus schliefen -Urgroßvater und Urgroßmutter dicht nebeneinander. Die Leichensteine -stellten, wie es damals Sitte war, abgebrochene Säulen dar; auf der des -Urgroßvaters stand: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen; ich -gehe hin, euch die Stätte zu bereiten“; auf dem seiner Gattin: „Ich -weiß, daß mein Erlöser lebt!“ - -„Das hat sie selbst so bestimmt“, sagte Trude, „sonst hätte doch wohl -was von allen ihren Gutthaten drauf stehen müssen.“ - -Die Gräber waren sehr gut gehalten, die dürren Blätter sauber -abgeharkt; ein Kranz von Schneeglöckchen faßte die obere Fläche ein, -sie läuteten mit all ihren feinen Glocken; schon zeigten sich auch -die blauen Blüten der Amaryllis und die dunklen Köpfchen kleiner -Tulpen fingen an, sich zu färben. Vom Turme klang jetzt feierlich das -Feierabendgeläute, die Sonne wollte soeben zur Ruhe gehen, ihre roten -Strahlen gossen flüssiges Gold auf die Grabsteine und das Gras, und -eine sanfte Abendluft spielte geheimnisvoll in den welken Blättern, die -an der Kirchhofsmauer noch aufgeschichtet lagen. - -Die beiden jungen Mädchen hatten sich fest an der Hand gefaßt, Trude -stand mit gefalteten Händen. Vom Abendläuten war der letzte Ton -verklungen, da hörte man Schritte im Kieswege; die Mädchen wandten sich -und standen einem jungen Manne in geistlicher Kleidung gegenüber, der -offenbar den schmalen Pfad benutzen wollte, um zum nahen Pfarrhause -zu gelangen. Martha und Suschen traten einen Schritt zurück; er grüßte -Suschen, wie man eine alte Bekannte grüßt, und wollte dann schnell -vorüber; aber Trude gab sich so noch nicht zufrieden. - -„Herr Pastor! sehen Sie doch nur, das ist ja die Urenkelin hier von der -seligen Frau.“ - -Der Pastor blieb stehen und Suschen übernahm die Vorstellung: „Herr -Pastor Frank, Fräulein Feldwart!“ - -„Und Sie waren noch niemals hier?“ fragte der Pastor. - -„Niemals!“ erwiderte Martha. - -„Dann müssen Sie aber auch all’ unsere schönen Altargedecke und -heiligen Geräte sehen; die rühren meistens von der Frau Urgroßmutter -her.“ - -O ja, das wollte Martha gern. Der Pastor sprang nach seinem Hause, um -die Schlüssel zu holen, und nahm dann die Erfreuten mit sich in die -Kirche und in die Sakristei. - -Dort schloß er eine schwere, eichene Truhe auf: „Die stammt auch -von der Urgroßmutter!“ Dann enthüllte er die schönen, schweren -Altargedecke: „Sehen Sie, bei jedem Stücke liegt in dem kleinen -Kästchen an der Seite das Dokument der Schenkung.“ - -Martha beugte sich über die alten Papiere: sie waren offenbar von -derselben Hand geschrieben wie ihr Weihnachtslied. Zuerst kam die -Schenkung der Truhe: „Anno 1801 bei der Geburt ihres ältesten Sohnes -schenkte Frau Anna Martha Waldheim aus Dankbarkeit für Gottes -unverdiente Gnade und zum Gedächtnis seiner Wunder diese Truhe zur -Aufbewahrung der Kanzel- und Altarbekleidungen.“ Dann kam 1806 bei der -Geburt eines zweiten Sohnes das erste Gedeck. „Das blaue Laken mit dem -Lamme stickte ich mit meiner eigenen Hand.“ Dieser Hans Waldheim, der -hier erwähnt war, war Marthas Großvater. „1812 bei der Geburt einer -Tochter Margarete schenkte ich eine Bekleidung für den Taufstein aus -schwarzem Sammet und Golde: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott! -zu unsern Zeiten!“ - -„Nun sollen Sie auch die Geräte sehen“, sagte der Pastor und öffnete -ein Doppelschloß in der Mauer. 1824 war ein schöner, goldener Kelch -geschenkt: „Zum Angedenken an die sel. Heimfahrt meines ältesten -Sohnes, der sich im Sterben hat mit dem Sakrament erquicket“; 1828 -„eine güldene Weinkanne, da mir mein Herr den bitteren Trank des -Witwenleides hat eingeschenket. Dein teures Blut, dein Lebenssaft giebt -mir stets neue Lebenskraft!“ „Anno 1830 bei der Taufe meiner lieben -Enkelin Anna Marie ein neu Taufbecken: Wer da glaubet und getauft -wird, der wird selig!“ - -Anna Marie! das war ja ihre liebe Mutter! Martha war es sonderbar ums -Herz; so wohl, als sei sie in dem kleinen Gotteshause zuhause; so weh, -daß von der Familie, die hier so feste Wurzeln geschlagen hatte, jetzt -hier kein einziges Reislein mehr grünte. Im Amtsstuhl war noch der -kleine, geschnitzte Gesangbuchsschrank der Urgroßeltern mit ihrem Namen -und dem Datum ihres Einzuges. Martha fand es sehr schwer, sich von all -diesen Erinnerungen loszureißen, aber die Tageszeit nötigte dazu. - -Als sie ins Freie traten, war die Sonne hinunter und ein feiner, weißer -Nebel zog durchs Thal. Sie dankten dem Pastor freundlich, er erkundigte -sich noch nach Suschens Eltern, und dann stiegen die drei verschiedenen -weiblichen Gestalten still den Hügel hinab. Pastor Frank stand an -der Kirchhofsmauer und sah ihnen nach, bis das braune Kopftuch, das -schwarze und das helle Kleid im Schatten der Häuser verschwanden. - -„Kanntest du den Pastor Frank schon länger?“ fragte Martha. - -„Ja wohl“, erwiderte Suschen; „er gab als Kandidat den deutschen -Unterricht an unserer Schule; wir schwärmten damals alle für ihn.“ - -Daß Martha dann bei Tische und auf der Rückfahrt stiller war, wunderte -Suschen eben nicht. Frau Feldwart hatte schon sehr ungeduldig nach -ihrem Kinde ausgesehen. - -„Mama“, sagte die Tochter, nachdem sie nur eben ihre Sachen abgelegt -hatte, „kannst du dich noch ganz ordentlich auf die Urgroßmutter -besinnen?“ - -„Freilich“, sagte Frau Feldwart; „ich war ja schon ganz erwachsen, als -sie starb! An meinem Einsegnungsmorgen da hat sie an ihrem eisernen -Tischchen noch mit mir gelesen und gebetet und hat mir die Bilderbibel -mit dem silbernen Schloß geschenkt, die ich jetzt noch habe.“ - -„Mama, das Tischchen steht noch und der Lehnstuhl, und Urgroßmutters -Bibel und das Starkenbuch sind auch noch da.“ - -„Wie mich das freut!“ rief Frau Feldwart; „sie hatte es ja im -Testamente so bestimmt, und so lange meine Eltern dort waren, blieb -natürlich alles so. Als wir Schwestern dann aber heirateten und die -Eltern das Gut verkauften, um uns nachzuziehen nach B., da mußten wir -es dem neuen Besitzer überlassen, ob er diesen Wunsch noch ferner -erfüllen wollte.“ - -„Mama, all’ die Altardecken und heiligen Geräte sind auch noch da, auch -das Taufbecken, woraus du zuerst getauft bist; du mußt mir noch viel -von der Urgroßmutter erzählen.“ - -„Das thue ich schon gern; du kannst auch vielleicht in ihren alten -Papieren manches finden.“ - -Der Martha war zumute, als habe sie die Urgroßmutter heute erst -geschenkt bekommen; ein Pastellbildchen aus der Jugendzeit derselben -hing über dem Nähtisch ihrer Mutter; das mußte sie immer ansehen; -die klaren Augen und festen, bestimmten Züge waren ihr nun erst -verständlich, und ihr eigener Name: Anna Martha, den sie bis dahin ganz -alltäglich gefunden hatte, wurde ihr jetzt lieb als Erbstück von der -Urgroßmutter. - -Von Ostern ab begann nun für sie eine sehr fleißige Zeit. Unter -Suschens Leitung nahm sie mit eigener Hand die Änderungen an ihrer -Garderobe und der ihrer Mutter vor, welche die wärmere Jahreszeit nötig -machte; die Besorgung der kleinen Wirtschaft fing an ihr Freude zu -machen, auch das Einteilen und Sparen, als sie es nach Frau Werners -Anleitung mit Erfolg that, gewann seinen Reiz für sie. Daneben begannen -die englischen Übungsstunden, auf die sie sich ordentlich vorbereiten -mußte; die Zeichenstunden mit den jüngeren Mädchen nahmen ihren Anfang; -jede Mußestunde wurde zur Vollendung niedlicher Karten und Lesezeichen -verwendet; da hieß es die Minuten benutzen und die Zeit aufs äußerste -auskaufen. Frau Feldwart sah anfangs mit Befriedigung Marthas erhöhte -Thätigkeit und wiederkehrende Energie, aber mit der Zeit ward es ihr -lästig, die Tochter, welche bisher nur für sie allein gelebt, so in -Anspruch genommen zu sehen. Seitdem sie sich in die ungewöhnlich milde -Frühlingsluft einmal hinausgewagt hatte, regte sich das Bedürfnis zum -Spazierengehen öfter bei ihr; wenn dann Martha sagte: „Nein, Mama, -heute kann ich nicht ausgehen, heute muß das Kleid fertig werden“, -oder: „Ach, ich bin eben mitten im Malen mit meinem Lesezeichen, jetzt -kann ich’s unmöglich liegen lassen!“ da wurde die Mutter verdrießlich -und es gab zwischen beiden darüber so manchen kleinen Zwist. Es wurden -allmählich auch die Abendstunden zur Arbeit mit herangezogen, in -denen Martha der Mutter früher vorgelesen hatte; Frau Feldwart, deren -Augen schwach waren, nickte dann ein beim Stricken und machte bittere -Bemerkungen. Dann legte Martha wohl Bücher und Zeichengeräte fort und -las vor, bis die Mutter zu Bette ging, um dann bis 1 Uhr nachts zu -arbeiten und müde und überwacht am anderen Morgen aufzustehen. - -„Ich weiß nicht, Martha“, sagte Suschen, „Du bist jetzt viel unruhiger -wie zu Anfang.“ - -„Ich finde es selbst“, erwiderte diese nachdenklich, „ich war noch -nie so aufgeregt und zerstreut wie jetzt; ich weiß nicht, woran es -eigentlich liegt.“ - -Es fiel ihr ein, daß Trude gesagt hatte, die Urgroßmutter hätte -zweimal so viel als andere fertig gebracht. Sie nahm sich vor, -am nächsten Sonntag ’mal in ihren Briefen zu studieren. Sie fand -verschiedene Briefe, die von Krankheiten, Arbeiten, Kriegsunruhen -handelten; endlich öffnete sie einen Brief, den Frau Anna Martha ihrer -Schwiegertochter, Marthas Großmutter, geschrieben: - -„Meine herzliebe Frau Tochter! Dein Brief hat mir recht viel Nachdenken -und auch Sorgen gemacht, weil er klingt, als wüßtest Du vor Not und -Arbeit von früh bis spät nicht aus noch ein! Ich kann mir wohl denken, -wie die Obst- und Kartoffelernte, die Krankheit der beiden Kinder, das -Schlachten und der viele Besuch zu der Hasenjagd alle deine Kräfte -verbraucht haben, und ich will auch, so schnell ich kann, heimkommen, -um Dir zu helfen; aber ich habe oft ebenso viel und noch mehr, sogar -mit Feinden durchgemacht, und bin doch ruhig verblieben. Versäumt denn -meine liebe Frau Schwiegertochter auch die Hauptsachen nicht? Ich -las neulich in einem Buche, daß ein gelehrter Mann, ein Sterngucker, -gesagt hat: ‚Gebt mir einen Standpunkt außerhalb der Welt, und ich will -sie aus den Angeln heben.‘ Das hat mir ganz gewaltig gefallen. All’ -unsere Arbeiten, alle Mühen, Sorgen und Erdenlasten, die unsere Herzen -drücken, die können wir nur regieren und bewegen von einem Standpunkt -außerhalb der Welt, und gottlob! geht es darin uns Christenleuten -besser als dem armen Kerl in meinem Buche; wir haben den Standpunkt -wahrhaftig; wir brauchen nur zu unserem Vater in dem Himmel zu gehen. -Er hat’s erlaubt; wenn wir es nicht thun, ist es unsere Schuld. Frau -Schwiegertochter! Wenn ich in meinem Leben etwas erreicht und fertig -gebracht habe, so ist es nur dadurch geschehen, daß ich jeden Tag -zweimal eine halbe Stunde vor Gottes Thron gegangen bin. Wenn doch -alle Menschen wüßten, wie viel das Mühe, Not und Zeit erspart! Mit -schwerem Herzen, matten Gliedern, unruhigem Gemüte geht man hin; mit -freier Seele, gestärkten Füßen, wackeren Händen, geordnetem Willen und -verständigen Gedanken kommt man wieder. Frau Schwiegertochter! Des -Sonntags im Gottesdienst und des Alltags in der Betkammer da kriegt -man das meiste fertig, denn da wird man selbst fertig gemacht, daß man -nicht umherfährt wie eine Brummfliege, sondern fein gerade auf sein -Ziel lossteuert wie ein Schiff mit reinen, vollen Segeln, in welche der -richtige Wind bläst. Frau Schwiegertochter! Unter das Rezept kann man -gewißlich setzen, was meistens unter denen Kuchen- und Seifen-Rezepten -in den Kochbüchern stehet: ~probatum est~! Und damit Gott -befohlen!“ - -Martha hielt lange den Brief in der Hand. Das war es! - -Wenn ein junges, begabtes Wesen zuerst seine Leistungsfähigkeit -entdeckt, empfindet es natürlich Freude darüber und das Verlangen, -seine Thätigkeit fort und fort reicher zu entfalten und zu steigern. - -Dieser Trieb ist gewiß an und für sich nicht zu tadeln, aber es -geschieht dann leicht, daß man sich fest auf die eigenen Füße stellt, -der Quelle vergißt, aus der man seine Kraft empfing und erst durch die -Lahmheit seiner Flügel und die Unruhe des ganzen Getriebes vom lieben -Gott die Erinnerung bekommen muß: „Ohne mich könnet ihr nichts thun!“ -So war es Martha ergangen. - -„Was liest du da, Martha, worin du so ganz versunken bist?“ fragte die -Mutter. - -Martha reichte ihr den Brief hinüber. - -„Ach“, sagte Frau Feldwart, nachdem sie ihn gelesen, „das ist ganz und -gar meine Großmutter! Rezepte schrieb sie gar zu gern. Als ich aus -meiner Freiheit auf dem Gute in die Stadt in Pension kam, hatte ich -’mal einen großen Klagebrief nachhause geschrieben, weil ich nun alles -zugleich lernen sollte und niemals fertig wurde; da hat sie mir auch -’mal so ein Rezept geschickt, es war kurz vor ihrem Tode. Warte, ich -will es dir gleich holen.“ - -Sie nahm es aus ihrem Schreibtische und Martha las: - - -+Rezept für unser Mariechen in der Stadt.+ - -1) stehe die Jungfer früh auf; sie ist kerngesund und schläfet in der -Nacht; da wird es ihr nichts schaden, wenn sie sich frühzeitig aus -den Federn hebet. Frisch heraus, kalt gewaschen, rasch und ordentlich -angezogen, ein Kapitel aus der Bibel gelesen, gebetet und an die -Arbeit! Das lange Herumdrehen in den Federn mit wachen Augen ist -schädlich; da gewöhnt man sich an das Träumen bei Tage, und es wird -schwer sein, sich über diese verdämmerten Stunden zu entschuldigen, -wenn man sich darüber einmal beim lieben Gott verantworten soll, wie -man seine Zeit angewendet hat. Jeden Tag eine Stunde, giebt im Jahr -365 Stunden, also 15 Tage und 5 Stunden; sollte Dich der liebe Gott -70 Jahre leben lassen, werden 2 Jahre und 334 Tage daraus, ohne die -Schalttage, also beinahe 3 Jahre; das bedenke man ordentlich, damit man -die Minuten zurate hält! - -2) fasse man seinen Verstand zusammen und frage sich, was zu jeder -Stunde das Nötigste ist. Eine Viertelstunde dieses betrieben, die -andere Viertelstunde jenes -- das schafft nicht. Was man treibt, treibe -man ganz, lasse alle anderen Gedanken fahren und richte seinen ganzen -Fleiß darauf, nicht, so schnell wie möglich fertig zu werden, sondern -so gründlich und schön als möglich seine Arbeit zu vollenden; dabei -wächst die Zufriedenheit und die Tüchtigkeit; - -3) bedenke man all’ seine Sachen zur rechten Zeit und Stunde, und zwar, -so viel es möglich ist, immer auf einige Tage voraus; man kann sich -dann mit seinen Aufgaben viel besser einrichten. Wenn Du z. B. bei -Deinen weiten Wegen in B. ausgehest und vergissest die Hälfte von dem, -was Du nächstens gebrauchst, mitzubringen, und mußt dann noch einmal -unnützlich rennen, so sind einige Stunden weg, die weder Dir noch -anderen Vorteil bringen; - -4) gewöhne man sich, das nur Erwünschte und Angenehme von dem -Nützlichen und Nötigen zu unterscheiden und beides nach seinem Werte -zu behandeln. Zum Beispiel, Du darfst Sorgfalt und guten Geschmack -auf Deinen Anzug verwenden, darfst Dir ansehen, welche Haarfrisur und -Kleidung für Dich passend ist; der liebe Gott will nicht, daß wir -uns vernachlässigen oder verunstalten sollen; seine Werke sind alle -schön und wohlgeordnet und lieget der Zauber der Anmut darüber. Aber -Du sollst nicht stundenlang vor dem Spiegel stehen, die Locken nach -rechts und links drehen, die Schleifchen hierhin und dorthin wenden, -und die edlen Stunden, die Deinem inwendigen Menschen und dem Wohle -des Nächsten zugute kommen sollen, verthun mit „Firlefanz.“ Ja, liebes -Kind, so nannte unsere Mutter all’ die Modethorheiten, die man sich -jeden Tag neu ausdenket, die viel Zeit und Geld kosten und keinen -Menschen glücklich und zufrieden machen; Du glaubst nicht, wie viel -man davon entbehren kann und wie glücklich man ist, wenn man so wenig -als immer möglich davon gebraucht; - -5) darf man sehr wohl ein gutes Buch zur Unterhaltung lesen; nur daß -man sich in Deinem Alter von erwachsenen, verständigen Personen muß -raten lassen, welches ein gut und nützlich Buch sei. Aber, mein Kind, -lies vernünftig. Sich den Kopf heiß lesen, um nur schnell vorwärts zu -kommen und zu erfahren, ob der Liebste die Liebste auch kriegt, -- -blättern, bald hinten, bald vorne; überschlagen, was auf den ersten -Augenblick nicht so ansprechend erscheinet; sich verlesen, wenn andere -Pflichten rufen: das ist schlimmer, als hätte man nie ein Buch in der -Hand gehabt, und macht den ganzen Charakter zucht- und haltlos. Langsam -lesen, ordentlich in sich aufnehmen, bedenken, was der Verfasser von -Dir will; zuweilen ein bißchen stille halten, wenn Dich was ins Herz -trifft, das fördert und bringet unversehens weiter. - -6) Du darfst auch mit einer Freundin umgehen, ja wohl, es ist sehr -schön, wenn Du eine hast; ich gönne sie Dir von Herzen. Aber wenn -Du sie willst auf eine Stunde oder mehr besuchen, dann nimm Dein -Strickzeug oder Nähzeug mit, oder spielet, springet, leset und singet -meinetwegen zusammen; willst Du ihr aber nur auf einige Minuten etwas -bestellen, so laß dies wirklich nur Minuten sein; das Stehen und -Schwätzen beim Gehen und Kommen, so zwischen Thür und Angel, daß keiner -weiß, ob es jemals enden wird, das bringet die Töchter um ihre Zeit und -die Mütter um ihre Geduld -- das merke Dir! - - * * * * * - -Martha war sehr hingenommen von den Lehren der Urgroßmutter. Sie waren -natürlich nicht alle gerade für ihr eigentümliches Wesen zutreffend, -aber vieles stimmte auffallend. Sie erinnerte sich sehr deutlich, daß -Frau Direktor Werner gestern dreimal „Suschen!“ gerufen hatte, als sie -an der Hinterthür voneinander Abschied nahmen, und wie oft, ach, wie -oft! hatte sie weite Wege machen müssen, weil sie am Morgen vergaß, -der Warburgerin das Nötige aufzutragen. Das Frühaufstehen war auch ein -wunder Punkt, ein recht wunder! der sollte morgen früh zuerst geändert -werden. - -Als Martha der Dienerin um sechs Uhr die Thür geöffnet hatte, legte -sie sich nicht nach ihrer Gewohnheit noch einmal nieder, sondern sie -kleidete sich ganz nach dem Rezept der Urgroßmutter leise und rasch an, -und die Wohnstube war kaum fertig, so erschien sie in derselben, setzte -sich ans Fenster und schlug ihre Bibel auf. Es war sehr feierlich -um sie her. Drüben im Grasgarten schlugen die Finken; sie hatte -die Fenster geöffnet, um die köstliche Maienluft zu atmen, und auf -ihren Flügeln strömte der Duft von Flieder und Jasmin zu ihr herein; -die blütenbedeckten Apfelbäume waren von der Morgensonne rötlich -angeleuchtet; im Grase glänzte der Tau in tausend Perlen. - -„Wie schön solch ein Morgen ist!“ dachte Martha. Das Lied fiel ihr -ein, das sie stets so gern gesungen: „Morgenglanz der Ewigkeit, Licht -vom unerschöpften Lichte, Schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen -zu Gesichte etc.“ Singen durfte sie es jetzt nicht, um die Mutter nicht -zu wecken. Sie schlug ihre Bibel auf. Ach, die ganze Natur war heute -nur ein Loblied; sie mußte sich auch hier in Gottes Wort eins suchen; -sie las den 103. Psalm: „Lobe den Herrn, meine Seele! und was in mir -ist seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß -nicht, was er dir Gutes gethan hat etc.“ Dieser köstlichste aller -Lobgesänge trug ihr Herz hoch empor, und ob sie es auch in der letzten -Zeit oftmals versäumt hatte, mit ihrem Vater im Himmel zu reden, die -Stimme des Psalmisten weckte verwandte Stimmen in ihrer Seele; sie -konnte danken, sie konnte bitten, sie konnte ihr Leben und Streben im -Lichte des Wortes Gottes stille betrachten. Wie verschwindet so vieles -in diesem Lichte, was uns wichtig erschien; wie verklärt erscheint -manches, was wir für klein und unwichtig gehalten hatten; wie viel -klarer wird die Richtschnur für unser Thun und Lassen, wenn Gottes -helle Sonne darauf scheint. - -Martha hatte bis jetzt ihr rastloses Arbeiten für nichts als Tugend -und ihre Mutter für sehr ungerecht gehalten, wenn sie diese Thätigkeit -hemmen und ihr Kind für sich in Anspruch nehmen wollte; jetzt auf -einmal wurde es ihr klar, daß die Erfüllung des vierten Gebotes ihre -nächste Aufgabe sei, und ihrer Mutter das Leben leicht zu machen das -höchste Ziel, das sie sich stecken mußte. - -So lange wir hier auf Erden leben, werden wir immer mehr oder -weniger beunruhigt werden durch den scheinbaren Widerstreit unserer -verschiedenen Pflichten, und das Bestreben, sie in Harmonie zu bringen, -geht durch alle unsere Tage. Dies hat aber seinen Grund zumeist -darin, daß wir unsere Lieblingsneigungen und Lieblingsbeschäftigungen -selbstsüchtig festhalten und nicht unterordnen wollen; je mehr uns dies -mit Gottes Hilfe gelingt, desto stiller und geordneter fließt unser -Leben dahin. - -Martha fing jetzt wirklich ernstlich an, zu kämpfen und zu ringen, -um dieses Ziel zu erreichen, und die Morgenstunden, welche ihr dazu -verhelfen sollten, waren ihr bald so lieb und unentbehrlich wie einst -der Urgroßmutter. Sie war darin nicht immer in so gehobener Stimmung; -ach nein! solche Stunden sind, so lange wir hier unten weilen, selten. -Recht oft klagte sie, statt zu danken, wenn all’ die Sorgen ums -tägliche Brot auf sie einstürmten, wenn die sehr wechselnde Stimmung -der Mutter ihr Not machte, wenn die Sehnsucht nach Siegfried, von dem -sie kein Wort wieder gehört hatte, allzu schmerzlich in ihr emporstieg. -Martha hatte nicht versäumt, ihre neue Adresse in Berlin zu melden, -damit ein Brief sie erreichen könne; sie hatte kein Lebenszeichen -erhalten, wußte nicht, wo sie ihn mit ihren Gedanken aufsuchen sollte; -auch in dieser Not war ihre einzige Beruhigung: „Er ist in Gottes Hand, -wie ich es bin; wenn es zu unserem Frieden dient, bringt er uns wieder -zusammen!“ Oft bat sie den Herrn mit Thränen darum, oft suchte sie nach -Ergebung, wenn es anders beschlossen sei; aber so wenig sie jemals ganz -mit ihrem alten Menschen fertig wurde, so kam doch nach und nach immer -größere Ruhe und Sammlung in ihr Herz, und dies konnte man an ihrem -Thun und Treiben gar wohl bemerken. Ohne daß sie eine der angefangenen -Arbeiten vernachlässigte, gewann sie nun Zeit, sich mit der Mutter im -Freien zu ergehen, ihr am Abend vorzulesen, sie in die erbaulichen -Gottesdienste der nahen Pfarrkirche zu begleiten. - -Als Pastor Wohlgemuth die beiden Frauengestalten so regelmäßig unter -seinen Zuhörern erblickte, fing er an, ihnen mitunter einen Besuch zu -machen, wie er es bei Direktor Werners schon seit langer Zeit that. -Seine herzliche, ernste und doch getroste Weise, mit der er die trüben -Dinge des Lebens ins heitere Himmelslicht zu setzen wußte, thaten -der Mutter und Tochter wohl. Martha und Suschen verehrten ihn beide; -seine Erscheinung im Hause war ein Fest für sie, ein beneidenswertes -Ereignis, wenn er bei einer Begegnung freundliche Worte zu ihnen -sprach, und alle Blumen, welche sie in Wald und Flur pflückten, mußte -Luischen dem alten Herrn in die Konfirmandenstunde mitnehmen. - -Zu Pfingsten entschloß sich Frau Feldwart zum erstenmale, einer -Einladung der Frau Amtmann Rösner zu folgen und einige Tage in Weißfeld -zuzubringen. Es ging dies nicht ohne große Herzensbewegung ab, aber -dieselbe war überwiegend freudiger Art. Ihr eigenes früheres Stübchen -war für sie und Martha zum Schlafzimmer, das der Urgroßmutter zur -Wohnstube eingerichtet. Sie sah die alte Heimat im lieblichsten Lichte: -alle Häuser, auch das Gutshaus, mit Maien geschmückt, Narzissen und -Tulpen, Flieder und Goldregen in voller Blüte, die Linden im schönsten, -lichtgrünen Schmuck. Trude war überglücklich, ihre alte Herrin zu -empfangen; von Amtmanns wurde sie mit der zartesten Liebe aufgenommen -und gepflegt, und gleich am Morgen nach der Ankunft hielten Mutter -und Tochter zum erstenmal gemeinsam ihre Andacht am Plätzchen der -Urgroßmutter. Die Mutter saß im Lehnstuhl; Martha, die Bilderbibel auf -den Knieen, auf einem niedrigen Schemel davor; sie las auf Wunsch der -Mutter den Lieblingspsalm der Frau, die hier so oft gebetet hatte, -den 90. Psalm: „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für etc.“, -den Psalm, der Ewigkeit und Vergänglichkeit ergreifend nebeneinander -stellt, mit seiner kindlichen Bitte am Schlusse: „Erfreue uns nun -wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück -leiden; zeige deinen Knechten deine Werke, und deine Ehre ihren -Kindern; und der Herr unser Gott sei uns freundlich und fördere das -Werk unsrer Hände bei uns; ja, das Werk unsrer Hände wolle er fördern!“ - -Sie saßen noch lange mit gefalteten Händen, als Martha gelesen hatte, -und der Pfingstgeist, der Geist des Friedens und des Trostes, zog in -ihre Herzen ein. Sie wanderten dann mit den geschmückten Landbewohnern -zusammen dem Kirchlein zu. - -Frau Feldwart saß an derselben Stelle, wo sie mit ihren Eltern -sonntäglich gesessen hatte. Ach, um sie her saß eine fremde Gemeinde! -Trude und der gebückt einhergehende alte Kirchendiener waren die -einzigen Gestalten, deren sie sich erinnerte. Pastor Frank predigte in -einer schönen Sprache, gar nicht ungläubig, aber noch recht jugendlich. -Martha meinte, ihr alter Pastor Wohlgemuth gäbe ihr mehr, und geriet -darüber mit Suschen, die am Morgen erst gekommen war, beinahe in Streit. - -„Ich weiß gar nicht, was du willst, Martha; noch schöner wie der Pastor -Frank kann doch gar kein Mensch predigen!“ - -„Er predigt mir eben zu schön“, sagte diese. - -„Aber wie kannst du nur solchen Unsinn sagen!“ rief Suschen ganz -gereizt und ärgerlich. - -Gegen Abend kam Pastor Frank und blieb zum Abendbrot da. Es wurde -musiziert; die beiden Töchter des Amtmanns spielten vierhändig, Pastor -Frank sang mit seiner schönen Tenorstimme: „Tröstet, tröstet mein -Volk“ aus Händels „Messias“, er begleitete Martha das schöne Lied: „Du -bist die Ruh, der Friede mild, die Sehnsucht du und was sie stillt -etc.“, und das war wirklich recht erquicklich. Dann, nach Tisch, -wanderten alle in der lieblichen Dämmerung des duftenden Gartens; -Pastor Frank schloß sich an Martha und Suschen an; er erzählte, daß am -dritten Festtage großes Kinderfest sein werde, auch eine Stiftung der -Urgroßmutter. Er berichtete von mancherlei Einrichtungen zum Wohl der -Arbeitsleute aus alter und aus neuer Zeit. Martha interessierte sich -lebhaft dafür und forderte ihn durch Fragen zu weiteren Mitteilungen -auf. Er freute sich der eifrigen Zuhörerin, sie kamen in ein sehr -lebhaftes Gespräch; Martha war aus der reichen Geselligkeit der -Residenz gewohnt, sich leicht und fließend auszudrücken; Suschen -hatte Respektspersonen und Fremden gegenüber noch ganz ihre kindliche -Schüchternheit; sie hing an Marthas Arme und sagte gar nichts. - -Als sie sich am Abend trennten, fiel es Martha auf, daß ihre Freundin -nicht so heiter war als sonst. - -„Was hast du, Suschen? Du warst heute Abend so still!“ - -„Ich weiß nicht, ich war wohl müde von dem Morgenweg in der Sonne.“ - -„Das ist ja möglich“, dachte Martha, „auch der Duft von Flieder und -Goldlack macht müde; ich bin es ja auch.“ - -Am zweiten Festtage kamen gegen Abend einige Familien aus der -Nachbarschaft; Frau Feldwart zog sich auf ihr Zimmer zurück; Martha -wurde von den jungen weiblichen Gliedern der Gesellschaft, die meistens -schon ihre Schülerinnen waren, schnell umringt, und war, ohne daß sie -es wollte, eigentlich der Mittelpunkt aller. - -Pastor Frank erschien auf eine Stunde, um zu verabreden, wie es morgen -beim Brezelfest werden sollte; die Brezeln wurden vor dem Schulhause -aus zwei Körben verteilt, und er wünschte, daß die Urenkelin der -Stifterin mit ihrer Freundin zusammen dies Amt übernehmen möge. - -Sie sagte gern zu: „Wenn es sich paßt in meinem schwarzen Anzug?“ - -„Gewiß“, sagte Pastor Frank; „auf dem Lande ist Schwarz immer ein -Festkleid, und wenn Fräulein Suschen vielleicht wie heute in Weiß -erscheint, so stellen Sie daneben zusammen die preußischen Farben dar, -und das paßt ganz gut zu den Vaterlandsliedern der Knaben.“ - -Am dritten Feiertag nachmittags zog alles nach dem Schulhause. Trude -zupfte Martha am Kleide, als sie vom Hofe gehen wollte, und stellte -einen etwa achtjährigen Jungen und ein sechsjähriges dralles Mädchen -vor sie hin, die in Festfreude und Festschmuck strahlten. - -„Das sind meiner Kathrine ihre, Fräulein: Hans und Mariechen! So, gebt -auch hübsch ein Händchen, so ist’s recht!“ - -Martha sah mit Wohlgefallen auf die frischen, zutraulichen Kinder, die -nun dem Versammlungsplatze zueilten, und ging selbst, um mit Suschen -an den weißgedeckten Tischen Platz zu nehmen, die vor dem Schulhause -aufgestellt waren zu beiden Seiten der Eingangsthür. - -Schön geschmückt, jedes Kind einen großen Strauß vor der Brust -und eine Maie in der Hand, kam die Schuljugend gezogen, erst die -Knaben paarweis, dann die Mädchen; niedliche Fahnen in den deutschen -Farben trugen die ältesten Knaben vor; ihnen folgten einige -Musikanten mit Blasinstrumenten und einer Trommel. Sie zogen auf -den lindenbeschatteten Platz vor dem Schulhause unter dem Gesang, -den ebenfalls die Urgroßmutter bestimmt hatte: „O heiliger Geist, o -heiliger Gott etc.“ - -Der Pastor sprach ein kurzes Gebet und sagte den Kindern in einfachen -Worten, der Pfingstgeist sei ein Geist der Freude und der Liebe, -deshalb habe ihnen die Liebe dieses Fest bereitet; sie möchten nun -in Gottes Namen fröhlich sein und mit Dankbarkeit an die alte Frau -gedenken, die dieses Fest gestiftet habe, als ihr ältestes Söhnlein, -sechs Jahre alt, zur Schule gekommen sei. „Und seht, dort steht ihre -Urenkelin, die will euch die Brezeln heute selbst geben!“ - -So waren denn natürlich aller Augen auf Martha gerichtet; weil es aber -strahlende Kinderaugen waren, fühlte sie sich nicht dadurch belästigt. - -Der kleine Hans zupfte sie am Kleide: „Du, was ist denn eine Urenkelin?“ - -„Weißt du denn, was eine Enkelin ist?“ - -„Ne!“ - -„Aber, was eine Großmutter ist, das weißt du!“ - -„Ja“, sagte der Junge lustig, „ich habe zweie!“ - -„Na, siehst du! wenn deiner Großmutter ihre Mutter noch lebte, das wäre -deine Urgroßmutter, und du wärst ihr Urenkel.“ - -Der Junge sah noch nicht ganz befriedigt aus: „Da müßte sie mir doch -noch erst eine Uhr schenken.“ - -Martha lachte: „Junge, ein Urenkel kann man auch ohne Uhr sein; ich -habe auch keine.“ - -Aus dem Schulhause wurden nun gewaltig große Chokoladenkannen -herausgebracht; jedes Kind nestelte den kleinen Becher los, den es am -Gürtel trug, und nun ward gefüllt und getrunken nach Herzenslust. Dann -ging es ans Spielen. - -Für die Knaben waren Kletterstangen da; ein Sackhüpfen wurde -angestellt, und es gab allerlei kleine Preise: Tücher, Messer, Kreisel -etc. Die Mädchen liefen nach einem Ziele, mußten mit einem an einer -Schnur schwebenden Ringe nach einem Haken werfen und wurden dann -ebenfalls mit Scheren, Fingerhüten, Bändern und dergleichen belohnt. -Suschen zeigte sich im Anordnen solcher Spiele sehr behilflich und -gewandt; sie kannte dieselben von ihren Geschwistern. Dazwischen sangen -die Knaben: „Die Wacht am Rhein“ und andere Vaterlandslieder; die -Mädchen: „Alle Vögel sind schon da“, „Wer hat die Blumen nur erdacht“ -u. s. w. - -Martha merkte jetzt, daß verschiedene Kinder müde waren vom Laufen; -sie setzte sich auf eine der Bänke unter der Linde, ein Kind nach -dem anderen kam zu ihr heran, und sie fing an, sich mit ihnen zu -unterhalten. - -„Riech einmal“, sagte Hänschen und hielt ihr einen Strauß von -Pfingstrosen (eine gelbe Wiesenblume, gestaltet wie eine recht volle -Rose, in Farbe und Blatt der Butterblume gleich) und Sternblumen unter -die Nase. - -„Danke“, sagte Martha, „das riecht schön.“ - -„Ja, sie sind auch viel schöner als Butterblumen und Gänseblümchen.“ - -„Weißt du denn, Hänschen, wie sie so schön geworden sind?“ - -„Ne“, sagte Hänschen, legte beide Arme auf ihre Kniee und sah sie mit -offenem Munde an. - -„Soll ich’s dir erzählen?“ - -„Ja, woher weißt du es denn?“ - -„Ei, so etwas erzählt mir der Morgenwind, wenn er mich früh am offenen -Fenster besucht.“ - -„Na, nu erzähle!“ sagte Hänschen. - -Sie hatte nur wenige Kinder um sich gehabt; jetzt kamen immer mehr -an sie heran, bis sich ein dichter Kreis gebildet hatte; über den -Kinderköpfen schauten auch einige alte mit Wohlgefallen auf sie, als -sie begann: - -„Als es zum erstenmale Pfingsten wurde im deutschen Lande, da jubelte -die ganze Erde. Im Walde bewegten die Birken ihre grünen Fähnchen, mit -feinen, langen Kätzchen behangen; die Buche schmückte ihren weißen -Stamm mit hellgrünen Kränzen, und die zierlichen Maiblumen läuteten, -daß es eine helle Lust war! - -„Aus den Büschen klang die Stimme des Buchfinken und der Nachtigall; -der Pfingstvogel im gelb und schwarzen Röcklein ließ seinen Lockruf -ertönen; der Kuckuck rief Tag aus und Tag ein, und die Lerche stieg -aus der Furche gerade zum Himmel hinauf: ‚Tirrerillerie! Tirrerillera! -Pfingsten, das schöne Pfingsten ist da!‘ - -„Im Garten zogen die Blumen ihre allerschönsten Kleider an; die -Tulpen schmückten sich mit allen Farben; glänzend weiß standen die -Narzissen; der Flieder hing seine großen, blauen Trauben aus, der -Goldregen seine gelben; ja, sogar eine Rose öffnete schon ihre Knospe: -es ist ja Pfingsten, da möchte ich dabei sein! Am Bache standen die -Vergißmeinnicht und wuschen sich, um ganz schön himmelblau zu sein zu -Pfingsten. Auf der Wiese standen ein Gänseblümchen und eine Butterblume -nebeneinander, als am Pfingstsonnabend die Sonne unterging. ‚Weißt du -es schon‘, sagte die Butterblume, ‚morgen ist Pfingsten.‘ ‚Ich weiß!‘ -sagte das Gänseblümchen, ‚die Menschen sagen, es sei das schönste -Fest, denn da sei der Geist des Trostes und des Friedens auf die Erde -gekommen. Sieh nur, wie die Blumen im Garten sich putzen!‘ ‚Ich möchte -mich auch schmücken‘, sagte die Butterblume, ‚aber ich weiß gar nicht, -wie ich es anfangen soll.‘ ‚Ich habe mich schon im Abendtau gebadet, -aber klein bin ich und klein bleibe ich‘, seufzte die Gänseblume. - -„Die Sterne zogen auf; Butterblume und Gänseblümchen hatten sonst -längst um diese Zeit ihre Blättchen oben zusammengeschlossen und -schliefen; -- heute wollte ihnen der Schlaf nicht kommen. Sie sahen -zu den leuchtenden Sternen auf und sprachen: ‚Ihr schönen, goldenen -Sterne! wir wollten gern schön werden, dem Pfingstfest zu Ehren; könnt -ihr uns nicht dazu helfen?‘ - -„Die Sterne sahen freundlich herunter und die Blümchen sahen sehnend -hinauf, und erst als die Sterne blaß wurden und ein kleines Streifchen -Morgenrot am Himmel erschien, da schliefen die Blümchen ein, und als -am anderen Morgen die Sonne sie weckte, da sahen sie sich an und sahen -sich wieder an, denn aus der Butterblume war eine runde, volle, süß -duftende Pfingstrose geworden, und aus dem Gänseblümchen eine prächtige -Sternblume. Da weinten und lachten sie vor Freude, daß die Sterne ihnen -auch ein so schönes Pfingstkleid beschert hatten. Seitdem kommen und -blühen sie immer zu Pfingsten. Gänseblümchen und Butterblumen kommen -früher, sobald der Lenz auf die Erde tritt: aber wenn es zu Pfingsten -läutet, erwachen die Sternblumen und Pfingstrosen auf den Wiesen, denn -die beiden haben viele, viele Kinder bekommen, die feiern alle mit, und -Hänschens Strauß gehört auch dazu!“ - -„Hänschens Strauß gehört auch dazu! Hänschens Strauß gehört auch dazu!“ -riefen die Kinder. „Erzähle noch was, erzähle noch was!“ - -„Ach ich kann nicht immer erzählen; jetzt könnt ihr ein Rätsel raten: - - Eine kleine, - Weiße, reine - Schäfchenherde - Weidet hoch, hoch über der Erde, - Nicht auf grünen Auen, - Nein, auf blauen! - Der Hirt ist nicht zu sehen, - Wird hinter den Schäfchen stehen. - Nun sag mir, liebes Kind, - Wer und wo die Schäfchen sind. - -„Da, da!“ riefen die Kinder und zeigten auf die durchsichtigen -Lämmerwolken, die in der blauen Luft über ihren Häuptern schwammen. -Die Mädchen stimmten an: „Wer hat die schönsten Schäfchen? Die hat der -goldne Mond etc.“ - -Aber nun läutete die Feierabendglocke; alles stand mit gefalteten -Händen, bis das Anschlagen verklungen war; dann sprach Pastor Frank -noch ein kurzes Dankgebet, die Großen und Kleinen sangen zusammen: „Nun -danket alle Gott!“ und dann eilten sie erfreut und ermüdet nachhause. - -Pastor Frank war einige Augenblicke verschwunden; in der Nähe des -Pfarrhauses holte er unsere Freundinnen ein und überreichte Martha ein -zierliches Sträußchen. - -„Die Blumen aus meinem Garten sind auch Pfingstblumen,“ sagte er. - -Martha dankte etwas überrascht; sie hätte sich noch mehr gefreut, wenn -Suschen auch Blumen erhalten hätte; aber sie dachte, es bezöge sich auf -ihre Geschichte, und beruhigte sich dabei. - -Im Gutshofe stand Trude, und Martha ging zu ihr. - -„Ach, Fräulein, die schönen Blumen, die sind aus dem Pfarrgarten; so -dunklen Flieder hat nur unser Herr Pastor. Ach, sehen Sie! wenn ich das -erleben sollte, daß Sie ’mal wieder hier einzögen, wenn es auch nicht -auf dem Amte wäre!“ - -Martha sah sie erstaunt an; sie verstand anfangs durchaus nicht, was -sie meinte, dann erschrak sie. - -„Was redest du, Trude? Das fällt ja keinem Menschen ein!“ - -Aber sie war innerlich betrübt; die Unbefangenheit war weg. Als sie -ging, ihre Sachen abzulegen, sah sie Suschen am Fenster ihres offenen -Stübchens stehen. Sie ging zu ihr und legte den Arm um ihren Hals; es -schien fast, als habe die sonst so Fröhliche geweint, obgleich sie es -nicht merken lassen wollte. - -„Suschen“, sagte Martha, „komme nach Tische noch ein wenig in den -Garten, ich muß dir etwas erzählen.“ - -Suschen schrak zusammen. - -„Alte Geschichten“, sagte Martha, „aber traurige.“ - -Und als sie zwischen den duftenden Beeten im letzten Abendschein -wandelten, erzählte Martha von Siegfried alles, alles! Sie hatte es -längst gern gewollt, es war ihr immer zu schwer gewesen. - -Sie konnte sich nicht über Mangel an Teilnahme von Suschens Seite -beklagen; aber zuletzt sagte diese: „Martha, es ist doch schlimm, daß -das keiner weiß; es könnte sich mancher Hoffnungen machen.“ - -„Ich glaube nicht, daß dies einer thut“, sagte Martha, „aber ich will -an die Möglichkeit mehr als bisher denken, und morgen stecke ich mir -Urgroßmutters Trauring an.“ - -Am anderen Morgen kehrten Feldwarts und Suschen nach H. zurück, und -Martha war völlig beruhigt, als sie ihren Vorsatz wegen des Ringes -ausgeführt hatte. - -„Ich glaube“, sagte sie bei sich selbst, „Trude hat in ihren -überschwenglichen Wünschen für mein Wohl Gespenster gesehen; jedenfalls -kann in diesen paar Tagen höchstens ein flüchtiges Interesse entstanden -sein. Suschen paßt viel besser dahin als ich, und wie würde ich mich -freuen, sie dort zu sehen!“ - - - - -7. - -Muß man denn immer im Streit sein auf Erden? - - -Aber Trude hatte nicht nur Gespenster gesehen! Marthas frisches, -lebendiges Wesen hatte um so mehr Eindruck auf Pastor Frank gemacht, -als seine Gedanken, seitdem er in Weißfeld lebte, so vielfach auf die -Urgroßmutter hingelenkt worden waren, und er nun in Marthas warmem -Interesse, in ihrer Gewandtheit, ihrem Verkehr mit den Dorfbewohnern, -in der Energie, mit der sie sich in schwierigen Verhältnissen -zurechtfand, gleichsam das Bild verkörpert vor sich zu sehen meinte, -das seine Phantasie sich von der längst entschlafenen Wohlthäterin -geschaffen. Schon in der nächsten Woche machte er, angeblich, um sich -nach dem Befinden der Mutter zu erkundigen, den Damen einen Besuch. -Martha begegnete ihm ruhig und ernst und verschwand in der Küche, -so lange dies möglich war; aber da er offenbar nicht fortging, um -ihre Rückkehr zu erwarten, blieb ihr schließlich doch nichts übrig, -als wieder ins Zimmer zu gehen. Sie spielte vor seinen Augen mit -Urgroßmutters Trauring; er schien es nicht zu bemerken und Frau -Feldwart ebenso wenig. - -So oft in den schönen Sommertagen der Amtsrat die Mitglieder der -englischen Stunde nach Weißfeld holen ließ, war Pastor Frank gewiß am -Abend da, hatte auch stets einen besonderen Grund, sich mit Martha -angelegentlich zu unterhalten. Auch Suschen redete er gern an; aber -es war sehr deutlich zu bemerken, daß er sie immer noch halb als sein -Schulkind betrachtete. - -Martha merkte ganz gut, daß diese darüber verstimmt war, und fürchtete, -es könne sich dadurch eine Scheidewand zwischen ihr und der Freundin -aufbauen, zumal da dieser zarte Punkt von ihnen nicht besprochen werden -konnte. Manchmal glaubte sie entschieden, sich geirrt zu haben, da sie -noch niemals ein ungleiches oder aufgeregtes Wesen an Pastor Frank -bemerkt hatte; aber viele zarte Aufmerksamkeiten, welche er ihr und der -Mutter erwies, machten sie doch wieder ängstlich und besorgt. Es war -schlimm, daß Trude damals voreilig gesprochen hatte; sie hätte sonst -sicherlich unbesorgt und unbefangen alles hingenommen. - -Suschen war eine Zeit lang sichtlich bedrückt; aber von Jugend -auf gewöhnt, sich in den gegebenen Schranken zu halten, und so in -unausgesetzter Thätigkeit lebend, daß ihr keine Zeit zum Träumen -blieb, suchte sie die ungewohnte Fessel ihrer Seele abzuschütteln, -indem sie sich immer neue Gegenstände der Liebe und Fürsorge für ihr -teilnehmendes Herz und ihre fleißigen Hände suchte. - -In dem kleinen H. war, seit Pastor Wohlgemuth da wirkte, ein warmes -christliches Leben erwacht; allerlei Werke der inneren Mission waren -in Angriff genommen worden, und Suschens Herz schlug bald für diese -Thätigkeit, als sie aus der Fremde in die Heimat zurückgekehrt war. -Da ihre Mutter sich einer großen Arbeitskraft und guten Gesundheit -erfreute, erlaubte sie der Tochter gern, bei der Kinderschule zu -helfen und Arme und Kranke unter dem Rat und der Leitung ihres lieben, -verehrten Seelsorgers zu besuchen. Es kam Suschen zuweilen vor, als sei -sie dazu besser imstande, seitdem sie selbst eine kaum verstandene Last -auf der Seele trug; sie war ernster, weicher und mitleidiger geworden. - -Eines Sonntags nach der Nachmittagskirche forderte Pastor Wohlgemuth -die jungen Mädchen auf, noch etwas zu bleiben, und teilte ihnen -dann mit, daß er den Plan habe, eine Sonntagsschule einzurichten; -seine jungen Freundinnen sollten ihm dabei helfen, sie sollten die -Lehrerinnen der kleinen Mädchen werden, und er versprach, sie in jeder -Woche zu unterrichten und vorzubereiten auf solche Arbeit. Dieser Plan -zündete ganz gleich bei Suschen und bei Martha; es war ja Marthas -besondere Gabe, das Unterrichten! Und wie schön würden die Stunden sein -beim lieben Pastor Wohlgemuth! - -Beide Mädchen versprachen schnell und unbedenklich ihre Teilnahme und -waren auf dem Heimwege voller Vorfreude und Begeisterung für die Sache. -Suschen wußte, daß ihr die Eltern ihre Zustimmung gern geben würden; -Martha zweifelte nicht daran, daß ihre Mutter damit zufrieden sei. Aber -darin hatte sie sich geirrt. - -Frau Feldwart war seit den heißen Julitagen überhaupt wieder sehr -aufgeregt, schlief schlecht, verlor den Appetit, wurde bei dem -kleinsten Ausgange leicht atemlos, und obwohl sie eigentlich über -keinen Schmerz klagte, war doch ihre Stimmung gedrückter und reizbarer -als sonst. Martha trug ihr die schönen Pläne am anderen Morgen mit -jugendlicher Begeisterung vor; sie seufzte tief auf. - -„Ach, Kind, noch was! Ich meine, du hast übergenug für deine Kräfte!“ - -„Aber Mutterchen, ich bin ja ganz frisch und gesund, und die Stunden -bei Pastor Wohlgemuth werden mich so erquicken!“ - -„Ach, Martha, und dann sitze ich des Sonntags allein, gerade nach der -Vormittagskirche, wo doch gekocht werden muß!“ - -„Ei, Mama, dann wärmen wir!“ - -„Und dann willst du jede Woche noch eine Stunde fort zu Pastor -Wohlgemuth, und du weißt nicht, wie mir die Stunden lang werden, die du -ohnehin geben mußt! Nein, Kind, wenn du auch nur noch etwas auf deine -Mutter hältst, dann gehst du nicht hin.“ - -„Aber Mama, ich habe es dem Herrn Pastor schon versprochen; was soll er -denken, wenn ich es jetzt absage?“ - -„Nun, so vernünftig ist er, daß er weiß, daß ein Kind seiner Mutter -gehorchen muß!“ - -Ja, das glaubte freilich Martha auch, aber sie sagte es nicht. Sie -eilte vorläufig noch nicht zu ihm, um abzusagen, sondern ging den -ganzen Tag wie eine graue Wolke im Hause umher, war stumm und einsilbig -und verbesserte dadurch die Stimmung der Mutter durchaus nicht. - -Zu allem Unglück erschien am Nachmittag auch noch Pastor Frank, brachte -einen reizenden Strauß aus Rosen, Nelken, Astern und Pelargonien, und -überreichte denselben diesmal nicht, wie er es sonst gethan hatte, der -Mutter, sondern der Tochter. - -Frau Feldwart lächelte ganz wohlgefällig dazu. Martha war innerlich -ärgerlich. Konnte sie ihm denn gar nicht begreiflich machen, daß sie -kein Gegenstand für so zarte Aufmerksamkeiten sei? - -Während Pastor Frank die Mutter begrüßte, rang sie ratlos die Hände, -und da die Unruhe der Seele auf die Bewegungen einzuwirken pflegt, -und wohl auch die Urgroßmutter stärker war als die Enkelin, flog der -bewußte Ring ihr vom Finger und rollte durchs Zimmer, sehr in Gefahr, -in einer der tiefen Ritzen zwischen den alten Dielen zu verschwinden. -Ihr angstvoller Ruf: „Mein Ring, mein lieber Ring!“ veranlaßte den -Gast, das Kleinod zu erhaschen. Als er es ihr zurückgab, sah er sie -ernst und fragend an und sein Gesicht war bleich geworden. - -Martha war jetzt nicht mehr in Zweifel über seine Gefühle und nahm sich -vor, ihm womöglich bald noch einen deutlicheren Wink zu geben. Als -sie ihn bis zur Korridorthür begleitete, stand er still, ohne sich zu -verabschieden. - -„Fräulein Martha, der Ring war Ihnen sehr lieb, nicht wahr? Es ist sehr -unbescheiden, daß ich danach frage, aber wenn Sie wüßten --“ - -Martha ließ ihn nicht ausreden: „Ich will Ihnen gern sagen, was -der Ring für mich bedeutet. Es ist zwar nur der Trauring meiner -Urgroßmutter, und als solcher mir schon sehr lieb; aber ich trage ihn -zum Zeichen, daß ich seit beinahe einem Jahre verlobt bin; und wenn -über unserem Geschick auch jetzt noch dunkle Wolken stehen: Gott kann -sie hinwegnehmen, und mein Herz ist fest, ganz fest gebunden fürs -Leben.“ - -Sie hatte es mit zitternder Stimme gesagt, aber ihn ernst und fest -dabei angesehen. Er verneigte sich. - -„Ich danke für Ihre Offenheit, Fräulein Martha! Gott behüte Sie!“ - -Sehr erleichtert und doch wehmütig kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. - -„Nun sag ’mal, Martha, was das für ein Ring ist, um den du so viel -Umstände machst“, rief ihr die Mutter entgegen; „Pastor Frank konnte -doch wirklich denken, daß es ein Verlobungsring sei.“ - -„Das ist er ja auch, Mütterchen, wenn auch nur der von der -Urgroßmutter; da mir aber Siegfried keinen geben konnte, trage ich ihn -jetzt als Verlobungsring.“ - -„Siegfried?“ rief die Mutter wie enttäuscht; „Du denkst noch an -Siegfried?“ - -„Aber liebe Mama! natürlich denke ich an Siegfried; er ist des Morgens -mein erster und am Abend mein letzter Gedanke!“ - -Die Mutter sah sie eine Weile sehr erschrocken an: „Also darum warst du -so abweisend gegen den Pastor Frank?“ - -„Ich weiß nicht, ob ich abweisend war, Mama, aber es schien mir fast -Schuldigkeit zu sein, ihn nicht im unklaren darüber zu lassen, daß mein -Herz und meine Hand nicht mehr zu haben sind. Es ist ja sehr möglich, -daß er ohnehin niemals danach verlangt hätte.“ - -„Martha, Martha!“ rief die Mutter schmerzvoll, „wie kannst du so -festhalten an einem Traumbilde, das sich niemals, niemals verwirklichen -wird. Du weißt, daß dein Vater Siegfried abgewiesen hat; er selbst hat -dir geschrieben, er fordere kein Versprechen und gäbe dir keins; wer -weiß, wo er jetzt ist und ob er überhaupt noch an dich denkt. Ach, wie -war ich so glücklich in der letzten Zeit; wie hoffte ich, all’ unsere -Not und Sorge sei am Ende, und ich könnte mein Kind wohlbeschützt -zurücklassen, wenn Gott mich abriefe! Es ist doch eine Fügung Gottes, -daß er dir gerade in Weißfeld begegnen mußte; du konntest da sein und -da wirken, wo deine Urgroßmutter geschaltet und gewaltet hat. Martha, -laß diesen kindischen Gedanken fahren; ihr waret ja beide noch viel zu -jung.“ - -„Ja, Mama, wir sind beide noch jung, aber alt genug, um zu wissen, -was wir aneinander haben, und uns in Treue festzuhalten auch übers -Meer hinweg. Sieh, ich bin in diesem einen Jahre um vier Jahre älter -geworden, aber wenn ich es schon vor der Trennung wußte: jetzt weiß -ich es noch viel gewisser, daß ich keinen so lieben kann wie meinen -Siegfried!“ - -„Ach, Martha, das ist Jugendüberschwenglichkeit; denke doch an deine -arme Mutter! Was soll werden, wenn ich noch elender werde, und du deine -Stunden aufgeben mußt, um mich zu pflegen? Ich weiß es: Frank nähme -mich gern unter sein Dach; ich würde es gut bei ihm haben. Wenn du ihn -auch nicht so feurig lieb hast, du achtest ihn doch und wirst ihn mit -jedem Tage lieber gewinnen. Es giebt ja so viele Ehen, wo die Leute -sich ruhig gegenüberstehen und dennoch glücklich und zufrieden sind!“ - -Martha hatte bleich und lautlos zugehört, aber in ihrem Innern brauste -ein gewaltiger Sturm; ihr ganzes Herz, all ihr Wille bäumte sich auf, -als so an ihre innersten Gefühle gerührt wurde. Sie bedachte nicht, -daß die Mutter krank, schwach und unglücklich war, und es brach nun -auch wie ein wettergeschwollener Waldbach die Rede von ihren Lippen -- -leidenschaftlich, rücksichtslos, verletzend: „Alles habe ich stille -getragen, gearbeitet, geduldet, meinen Schmerz überwunden, so viel ich -konnte, und dafür willst du mir nun mein einziges Kleinod nehmen? Ich -soll dem einen untreu werden und den andern betrügen, wenn ich ihm -meine Hand ohne mein Herz gebe! O, Mutter! Mutter! wie kannst du so -grausam und ungerecht sein!“ - -Frau Feldwart war ganz entsetzt -- Martha war noch nie so heftig und -unkindlich gewesen --; sie rang die Hände und brach in Thränen aus. -Martha, obwohl innerlich gewiß, daß sie diesen Wunsch der Mutter -nicht erfüllen dürfe, war doch tief erschrocken darüber, daß sie sich -so weit hatte fortreißen lassen, und weinte ebenfalls; es war ein -recht unglücklicher Nachmittag. Sie hätte sich so gern ausgeklagt und -ausgeweint; aber ihr liebes Suschen durfte ja von diesem Leid nichts -erfahren. Wenn sie sich hätte überwinden können, der Mutter ihre -Heftigkeit abzubitten, wäre beiden geholfen gewesen; aber dazu kamen -ihr die Regungen ihrer eigenen Seele jetzt noch zu hoch und erhaben, -die Wünsche der Mutter viel zu unnatürlich und grausam vor. Dennoch -hatte sie das Verlangen, die Mutter wieder zufriedener zu wissen, ihr -irgendetwas zuliebe zu thun, und als die Sonne schon am Sinken war, -sagte sie kleinlaut: „Mama, ich möchte dem Pastor Wohlgemuth noch -sagen, daß ich nicht mit unterrichten soll.“ - -Frau Feldwart nickte stumm, und Martha ging. Es war sonderbar: sie -hatte nicht nur Pastor Wohlgemuth, sondern auch seine freundliche Frau -herzlich lieb, und war sonst immer wie auf Flügeln hingeeilt; heute -schien es ihr, als könne sie dem Ehepaar nicht so frei entgegentreten -wie früher. Schüchtern fragte sie das Mädchen nach ihrem alten -Freunde; er war im Garten, seine Frau zu ihrer Schwiegertochter -gegangen. Martha kannte den freundlichen Hausgarten und suchte dort -den Pfarrherrn auf. Im Mittelwege wandelte er langsam auf und nieder; -ein bequemer Hausrock umschloß seine hohe, schlanke Gestalt; das -würdige Haupt mit den feinen Zügen und dem spärlichen Silberhaar deckte -ein Sammetmützchen; die leichten, vom Abendlicht goldig gefärbten -Dampfwölkchen aus seiner langen Pfeife umschwebten es. Er schien in -freundliche Gedanken versunken zu sein, wenn er sich bald rechts, bald -links zu seinen Blumen niederbeugte, hier ein Pflänzchen aufrichtend -und befestigend, dort den Duft einer Blüte mit Wohlgefallen einatmend. -Jetzt wandte er sich und erblickte Martha. - -„Ei, willkommen! Das ist ja herrlich; je später der Abend, je schöner -die Gäste!“ rief er heiter. „Nun kommen Sie ’mal gleich hierher; die -feurige Bandnelke ist gerade so schön angeleuchtet, und sehen Sie nur -diese weiß und braune an, die hat mir mein Nachbar dort drüben im -Frühling geschenkt.“ - -Martha beugte sich zu den Blumen; sie war aber zum Sprechen und -Bewundern nicht aufgelegt, und da das bei ihrer lebendigen Teilnahme -für die kleinen Liebhabereien des Pastors ganz ungewöhnlich war, wurde -dieser schnell aufmerksam. - -„Aber verzeihen Sie, liebe Martha, Sie sehen traurig aus; ich fragte -noch gar nicht, ob ich Ihnen irgendwie dienen oder beistehen kann! -Kommen Sie hier in die Laube, da sitzt es sich sehr friedlich, und -sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben!“ - -„Ach, Herr Pastor, ich hatte mich so sehr gefreut, bei den -Kindergottesdiensten zu helfen, und nun will es mir die Mutter nicht -erlauben.“ - -Martha hatte das Herz sehr voll Weh; sie brach in Thränen aus. - -„Nun, nun, liebes Kind, das ist denn doch noch keine Veranlassung zu so -bitteren Thränen. Ich kenne die Gründe der Mutter nicht, aber da heißt -es: ‚Gehorsam ist besser denn Opfer.‘“ - -Martha erzählte, warum es der Mutter so schwer erschien; aber sie -sprach anders, mit weit weniger Respekt und Schonung und viel erregter -als sonst; und der erfahrene Seelsorger merkte bald, daß noch andere -Beunruhigungen im Grunde ihrer Seele lagen. - -„Mein liebes Kind“, sagte er, „es kann nicht dies allein sein, was Sie -so aufregt. Können Sie mir sagen, was Ihnen sonst noch Not macht, daß -ich versuchen kann, Ihnen zu helfen?“ - -Ach, Martha sehnte sich, sich auszusprechen und innerlich womöglich -wieder klar und fest zu werden; hier, wußte sie, war alles wohl -aufgehoben, und so erzählte sie: ihre Verlobung, Siegfrieds Abschied, -die kleinen Aufmerksamkeiten des Pastor Frank und die schlimmen Worte -der Mutter; ach, als sie derselben erwähnte, wurde sie wieder ebenso -bitter und heftig wie am Nachmittage. Pastor Wohlgemuth saß stille -neben ihr, schickte manchmal einen Ring aus seiner Pfeife in die klare -Luft, und ließ sie völlig sich aussprechen und ausklagen. Dann setzte -er die Pfeife fort, ging einige Male im Garten auf und nieder und -stellte sich endlich Martha gegenüber. - -„Mein liebes Kind“, sagte er, „bevor wir die Außendinge betrachten, -müssen wir wohl erst inwendig Ordnung machen. Wenn Sie sich zum -Kindergottesdienst bei mir gemeldet hätten, würde ich zuerst die zehn -Gebote mit Ihnen durchgenommen haben, und wir wären dann sehr bald an -das Gebot gekommen, das Verheißung hat; Sie wissen doch, liebe Martha, -welches ich meine? Fragen Sie sich einmal selbst, ob Sie dieses Gebot -heute gehalten haben.“ - -„Herr Pastor, Sie können nicht wollen, daß ich Siegfried untreu werden -soll!“ - -„Das steht auf einem ganz anderen Blatte; darüber steht meine Ansicht -noch gar nicht fest. Aber das werden Sie sich selbst wohl gestehen, daß -Sie heute recht unkindliche Gedanken und Gefühle genährt und gehegt -haben; dafür müssen Sie zuerst den lieben Gott und dann Ihre Mutter um -Verzeihung bitten, eher kommt der Friede nicht wieder hinein in ihre -Seele.“ - -Martha sah ihn traurig an: „Wenn ich thun wollte, was die Mutter will, -und meinem Verlobten entsagen, würde ich dies aber als ein so schweres -Unrecht empfinden, daß von Frieden gar keine Rede sein könnte.“ - -„Das ist möglich!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber denken Sie jetzt -einmal nicht so viel an das, was Sie empfinden oder empfinden würden, -sondern machen Sie sich einmal klar, was Ihre liebe Mutter dabei -gedacht und empfunden hat, die Mutter, der Sie Ehrerbietung und Liebe -schuldig sind, selbst wenn es Ihnen nicht möglich sein sollte, den -Weg einzuschlagen, den sie wünscht. Als ich neulich allein bei ihr -war, klagte sie mir, sie fühle, wie ihre Gesundheit durch alle die -Schicksalsschläge gelitten habe, und daß beim Gedanken an ihren Tod -die schwere Sorge ihr Herz bedrücke, wie sich Ihre Zukunft gestalten -werde, wenn dann die Leibrente wegfiele und Sie genötigt sein würden, -unter Fremden Ihr Brot zu suchen, ohne die genügende Vorbereitung dazu -erhalten zu haben. Das Verhältnis, in welchem Sie zum jungen Kraus -gestanden haben, sieht Ihre Mutter, wie es scheint, nicht mehr als -bindend an, und wenn man die Sache äußerlich ansieht, hat sie ja darin -recht. Nun sieht sie einen jungen, tüchtigen Mann kommen, der sich mit -aufrichtigem Herzen um Sie bewirbt, der Ihnen ein bescheidenes aber -sicheres Los bietet, und durch dessen Treue und Pietät sie selbst einen -friedlichen Lebensabend zu erlangen hofft. Ich selbst gestehe, daß ich -ähnliche Wünsche und Vermutungen schon gehegt habe und vielleicht Ihrer -Mutter gegenüber unvorsichtig in meinen Äußerungen gewesen bin. Sind, -so betrachtet, die Wünsche der Mutter nicht zu entschuldigen, sind sie -nicht sogar gut und verständig? Meine liebe Martha, wenn man innerlich -so aufgebracht und entrüstet ist, thut man immer wohl, sich im Geiste -auf den Standpunkt des Gegners zu stellen und von dort aus die Sache -einmal anzusehen; man wird dann jedenfalls die Andersdenkenden -begreifen, selbst wenn man nicht für ihre Ansicht gewonnen wird.“ - -Martha seufzte: „Wenn Gott die Erfüllung des vierten Gebotes verlangt, -warum läßt er dann so schwere Konflikte kommen?“ - -„Liebes Kind, mit dem ‚Warum‘ kommen wir unserem Herrgott gegenüber -nicht weit; da heißt es immer: ‚hernachmals -- hernachmals wirst -du es erfahren.‘ Gerade diesem Gebote gegenüber giebt es viele und -schwere Versuchungen. Die Kinder wachsen heran, gestalten sich zu -selbständigen Persönlichkeiten, die dem Herrn im Himmel und der Welt -gegenüber ihre eigene Verantwortlichkeit tragen müssen. Da ist denn oft -der Gehorsam eine recht schwere Sache; er ist aber auch eine schöne, -liebe Martha! die den Lohn in sich trägt. Die Jugend stürmt oft in -dunklem Thatendrange vorwärts; das Alter steht dem entgegen mit seinen -vielfachen Erfahrungen und seiner Ruhebedürftigkeit; Gott hat sie beide -nebeneinander gestellt, damit eines das andere ausgleiche. Wenn die -Jugend aufmerkt und annimmt, und das Alter in Milde und Gottesfurcht -etwas nachgiebt, kommt die rechte harmonische Mitte heraus. Weil unser -Herrgott weiß, daß dies schwer ist, hat er dem Gebot die Verheißung -zugegeben, und er hält sie, er hält sie, Martha! das bestätigt die -Erfahrung allezeit.“ - -Ein leidendes, erregtes Herz bezieht alles auf seinen besonderen Fall: -„Aber Herr Pastor, ich kann keinen anderen als Siegfried nehmen!“ - -„Das ist möglich, liebe Martha! darüber kann in der That kein anderer -als Sie selbst entscheiden. Wenn Sie aber Ihrem Verlobten die Treue -halten wollen, müssen Sie sich zuvor ganz klar machen, welche Opfer -diese Treue von Ihnen fordern kann. Gott kann Ihnen die Mutter nehmen, -da müssen Sie vielleicht unter Fremden ein kümmerliches Brot suchen; -ganz andere, viel schwerere Konflikte können über Sie kommen, als dies -jetzt der Fall ist. Sie müssen es sich gefallen lassen, sehr niedrig -und klein zu sein, und das wird gerade Ihrer Natur schwer werden. -Sie müssen sich auch darauf gefaßt machen, nichts wieder von Ihrem -Verlobten zu hören, ja, Sie können eines Tages die Nachricht bekommen, -daß er glücklich verheiratet ist, und dürfen dann nicht sagen: ‚O, -hätte ich anders gehandelt, so wäre ich nun statt eines verlassenen -Mädchens eine glückliche Frau!‘“ - -„Ich habe mir das alles schon gesagt, Herr Pastor! das heißt, nicht -alles, denn daß er mit einer anderen vermählt ist, werde ich nie hören, -und ich bin darin ganz ruhig und fest, daß ich ihm treu bleibe, so -lange ich atme!“ - -„Nun, so sei Gott mit Ihnen!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber nur -vergessen Sie nicht, daß jetzt Ehrerbietung, Liebe, zarte Schonung -gegen Ihre Mutter zur doppelten Pflicht wird. Bitten Sie gleich, -sowie Sie nachhause kommen, der Mutter Ihre Heftigkeit ab; wenn Sie -genötigt werden, für Ihre Überzeugung einzutreten, so thun Sie das mit -kindlichen, sanften, bittenden Worten, und bitten Sie den lieben Gott -dazu um seinen Segen; der weiß für aufrichtige Herzen alle Konflikte -zum rechten Ende zu bringen. Mein armer, junger Amtsbruder! Ich hatte -es besser mit ihm im Sinn!“ - -„Herr Pastor“, sagte Martha und sah ihn mit einem Blicke an, der -in seiner fröhlichen Schalkhaftigkeit an frühere glückliche Zeiten -erinnerte, „glauben Sie mir, er ist nur in meine Urgroßmutter verliebt! -Nun gute Nacht und besten Dank! Sie sind mir doch der Stunden wegen -nicht böse?“ - -„Wie könnte ich? Hier hat auch wohl Ihre liebe Mutter recht: Sie sind -reichlich in Anspruch genommen mit Ihrer Zeit und Kraft! Gott hat -nicht jedem alles befohlen, und Ihnen befiehlt er durch den Mund Ihrer -Mutter, diesem Werke zu entsagen, -- also bescheiden wir uns!“ - - * * * * * - -Es dämmerte, als Martha ging; sie fand die Mutter am Fenster sitzend -und ihrer wartend. - -Martha konnte jetzt mit demütigem Herzen der Mutter nahen. - -„Ach, liebe Mutter, ich bitte dich, verzeihe! Ich war sehr heftig und -unartig; aber diese Sache ist mir ja so schwer!“ - -Die Mutter strich über ihr Haar. - -„Meine arme Martha, so wirst du tragen müssen, was danach kommt!“ - -Der Friede war hergestellt, und er wurde am besten dadurch erhalten, -daß Pastor Frank sich vorläufig im Städtchen nicht sehen ließ. - - - - -8. - -Schwerer Abschied. - - -Ein Wort des treuen Pastors war tief in Marthas Herz gedrungen: die -Mutter sorgte, was aus ihrem Kinde werden sollte, wenn sie stürbe. -Martha hatte an diese Möglichkeit noch niemals gedacht; jetzt fielen -ihr zum erstenmale die eingefallenen Wangen, die blauen Ringe unter -den Augen der Mutter auf; jetzt erregte es ihre Besorgnis, wenn diese -beim Ersteigen der Treppe nach Atem rang. Ach nein, das durfte, -das konnte Gott nicht thun! Es ist diese Zuversicht, mit der fast -jedes ungeschulte Herz einem schweren, drohenden Schicksalsschlag -entgegentritt, mit der es immer wieder seine Hoffnung stärkt und -stählt, bis endlich die Überzeugung Raum gewinnen muß: dein Hoffen -ist vergeblich, du sollst nach Gottes Willen diesen schweren Weg -gehen! Dann giebt es noch einen harten, sehr harten Kampf mit dem -eigenen Willen, bis sich das Herz zur Ergebung und Stille durchringt, -und erst, wenn dieses geschehen ist, kommt die Zeit, wo man auch an -Sterbebetten schöne, ja glückliche Stunden verleben kann, wo die Pflege -zu einem sehr süßen Geschäft wird, wo man, ohne den geliebten Kranken -mit falschen Hoffnungen zu täuschen, ihn doch recht wohl erheitern -und erfrischen kann, um ihn zuletzt gleichsam hinüberzubegleiten in -die Wohnungen des ewigen Friedens. Dieser schwere, schöne Weg lag vor -Martha. - -Der Herbst brachte manchen Wechsel im Befinden; ein frischer, klarer -Tag belebte die Hoffnungen von Mutter und Tochter, daß das Unwohlsein -wohl vorübergehen könne; aber als die Tage kurz wurden und die -Herbststürme ums Haus brausten, da sanken sichtlich die Kräfte, die -Beängstigungen nahmen zu und kamen häufiger. Der Arzt schüttelte den -Kopf: „Es ist ein Herzleiden, das sich schon sehr weit ausgebildet hat.“ - -Bis in den Advent hinein hatte Martha ihre Stunden und -Konversationsnachmittage festhalten können; dann aber fand sie die -Mutter nach jeder Abwesenheit so unglücklich und aufgeregt, daß sie -sich überzeugen mußte: so geht es nicht mehr weiter. Suschen hatte -versucht, ihre Stelle zu vertreten und war gern angenommen worden; -aber Frau Feldwart, beängstigt durch ihr Leiden, war reizbar und -eigensinnig, und verlangte sofort sehnsüchtig wieder nach Martha. - -„Es hilft nichts“, sagte diese, „ich muß die Stunden jetzt aufgeben; -Gott wird ja helfen, daß es geht!“ - -Ja, er verlangt nichts Unmögliches; es ging wirklich! Alle die Eltern, -deren Töchter Martha unterrichtet hatte, fühlten herzliche Teilnahme; -Stärkungsmittel, guter Wein, feine Speisen kamen von allen Seiten -herbei; ab und zu sahen die hellen, freundlichen Gesichter der jungen -Mädchen selbst herein. - -Pastor Wohlgemuth war sehr treu in seinen Besuchen; er verstand -die Kranke und sie verstand ihn; er hielt keine langen Reden: ein -Schriftwort, das auf ihren Zustand paßte, ein Vers aus einem unserer -schönen Trost- und Glaubenslieder, ein kurzes, warmes, herzliches -Gebet -- das waren die Erquickungen, welche er ihr zurückließ, und -sein heiteres Gesicht, sein klares Auge, seine getroste Stimme wirkten -allezeit wie eine belebende Arzenei nicht nur auf die Mutter, nein! -auch auf den gesunkenen Mut ihres Kindes. - -So kam Weihnachten recht ernst heran. Die Mutter litt mehr als je. -Werners Kinder hätten so gern der Martha ein Bäumchen geputzt, aber sie -hätten es ihr doch nicht bringen dürfen; der armen Kranken mußte auch -die leiseste Unruhe erspart werden. - -Als die Glocken zur Kirche läuteten, saß Martha an ihrem Bette und las -die Weihnachtsgeschichte. Ach! Das „Siehe, ich verkündige euch große -Freude“, es war heute schwer zu fassen; ihre Stimme stockte beim Lesen. - -Die Mutter hielt die Hand vor die Augen; nach einer Weile sagte sie: -„Heute vor einem Jahre hatten wir unseren letzten glücklichen Abend, -Martha! Dann ging das Elend an. Wenn uns damals einer gesagt hätte, wie -Schreckliches wir erleben sollten!“ Sie seufzte tief. - -Martha nahm sich zusammen, so viel sie konnte: „Ja, Mutter, wir haben -viel durchgemacht, aber Gott hat uns auch recht dabei geholfen; wenn -uns jemand vorher gesagt hätte, wie gut wir das Schwere ertragen -würden, das hätten wir auch nicht geglaubt.“ - -„Es kommt noch schwerer, liebe Martha!“ fuhr die Mutter mit Anstrengung -fort, „viel schwerer!“ - -Martha zitterte innerlich, aber sie kämpfte tapfer ihre Aufregung -nieder. - -„So wird er uns auch durch das Schwerste helfen“, sagte sie leise. - -„Weißt du denn auch wohl, was ich meine, mein armes Kind?“ - -„Ja, liebe Mama, ich glaube, ich weiß es. Ach, ich sehe manchmal nichts -vor mir als Dunkelheit; aber das Christkind ist ja da; seine Hand kann -ich auch im Dunkel fassen, und es wird mich schon durchbringen, und -dich auch, Mama.“ - -„Ich glaube, sie singen drüben bei Werners; möchtest du nicht dort -sein?“ - -„Nein, Mama, heute bleiben wir zusammen.“ - -Leise Schritte näherten sich bald darauf. Martha sah hinaus; es waren -Suschen und Luischen: „Dürfen wir nur einen Augenblick kommen und -bescheren?“ - -Frau Feldwart hatte die freundliche Frage gehört: „Ja, kommt nur!“ - -„Ja, aber da müssen Sie und Martha die Augen schließen, bis wir sagen: -‚Nanu!‘“ - -Es ward bewilligt. Ein leises Flüstern und ein süßer Duft ging durchs -Zimmer. Als die Augen sich öffnen durften, sahen sie auf einen -wunderbar schönen, blühenden Rosenstock; darunter lagen neben allerlei -zierlichen Näschereien Gerocks erbauliche Lieder und ein von Suschen -feingestricktes Kopftuch für Martha. - -Gerührt wurden die schönen Gaben bewundert; Frau Feldwart war sehr -freundlich: „Nun singt mir aber: ‚Es ist ein Ros’ entsprungen‘, das -gehört zu dem schönen Rosenstrauch.“ - -Sie thaten das sehr gern und Martha sang mit. Als Suschen bat, -hier bleiben zu dürfen, damit Martha etwas hinüberginge unter den -Weihnachtsbaum, schlug es diese dankbar und freundlich ab; sie -fühlte, daß es so besser sei! Aber es wurde ein friedlicher Abend, -weihnachtlich im höchsten und schönsten Sinne. - -„Vielleicht feiere ich übers Jahr droben mit deinem Vater!“ sagte Frau -Feldwart und sah sehr fröhlich dabei aus. - -Marthas Gedanken wanderten, wohin sie oft gingen -- zu Siegfried! Sie -wußte nicht mehr, was sie denken und wo sie ihn suchen sollte; aber sie -bat, daß Gott ihm einen schönen, gesegneten Weihnachtsabend schenken -möge, und die Gewißheit kam als ein süßer Trost über sie, daß ihr -Vater droben im Himmel, ihre Mutter auf dem Krankenlager, Siegfried in -der weiten Ferne und sie selbst mit ihrem betrübten, zagenden Herzen, -alle in einer Vaterhand ruhten, sich alle des einen heiligen Christ -getrösten und hoffen durften, nach dieser Zeit Leiden in eine selige -Heimat einzuziehen, wo keine Trennung und kein Schmerz mehr sein wird. -Beide, Mutter und Tochter, fühlten es als eine große Wohlthat, daß nun -das Wort ausgesprochen war, vor dem sie sich immer gefürchtet hatten, -daß sie nun offen und gemeinsam dem entgegensahen, was kommen sollte, -und sich auch gemeinsam dazu stärken konnten. Es kamen ernste, sehr -schwere, aber friedliche Tage, während in der Nacht mehr und mehr -ein Angstanfall den anderen ablöste, so daß sich Martha nach Beistand -umsehen mußte. Wenn es sich mit ihren Botengängen vereinigen ließ, -blieb Trude manchmal eine Nacht; dann durfte Martha ruhig schlafen, -denn die Kranke fühlte sich bei ihr geborgen wie ein Kind im Mutterarm; -aber dies konnte doch nur selten geschehen. Da bot sich die Warburgerin -zur Hilfe an, und je kränker Frau Feldwart wurde, desto mehr war ihre -gleichmäßige Ruhe und große Körperkraft am Platze, mit der sie die -Kranke hob und zurechtlegte, während ihre Heiterkeit und Frische die -Krankenstube zu erhellen schien. - -Man denkt oft, Tage, die so einförmig unter Sorge und Not hinfließen, -müssen langsam vorübergehen; o nein! das Gegenteil ist der Fall. In -diesem steten, stillen Aufmerken und Sorgen für den nächsten Augenblick -vergeht die Zeit unmerkbar wie im Fluge. - -Martha wunderte sich, als die Tage anfingen, länger zu werden, und die -Sonnenstrahlen früher durchs Fenster blickten. Frau Feldwart freute -sich daran, -- Martha sah es mit Bangen; sie wußte, daß der März das -letzte welke Laub von den Bäumen schüttelt. Wenn sie die Angst der -Mutter sah, sehnte sie sich mit ihr nach Erlösung; aber was dann aus -ihr selbst werden sollte -- in diesen Gedanken durfte sie sich gar -nicht hineinwagen. - -Stellte sie sich einmal ganz ihre verlassene und hilflose Lage vor, so -kam wohl der Gedanke an Pastor Frank, an das friedliche und geschätzte -Leben unter seinem Dache wie eine Versuchung über sie. Aber nein! Sie -konnte nicht bereuen, was sie gethan hatte; immer wieder trat vor ihr -inneres Auge das Bild ihres Siegfried; daneben hatte kein anderes Platz! - -Es war ein ganz wunderlieblicher 1. März; die Sonne schien so erwärmend -und freundlich auf die schwellenden braunen Knospen, als könne sie es -kaum erwarten, dieselben zu sprengen. Frau Feldwart war durch eine -schwere Angstnacht gegangen; jetzt, gegen Mittag, ließ sie die Fenster -öffnen und atmete mit sichtlicher Erleichterung und Freude die linde -Frühlingsluft ein. - -„Vielleicht könnte ich jetzt ein wenig schlafen“, sagte sie, „versuche -du es auch, Martha! du wachtest die ganze Nacht.“ - -Martha richtete der Mutter die Kissen zurecht; diese zog ihren Kopf zu -sich hernieder und sagte freundlich: „Gott segne dich, mein liebes, -liebes Kind! Gute Nacht!“ - -Es war nicht Nacht, es war heller, strahlender Tag; Martha zog sorglich -hinter den offenen Fenstern die Gardinen zu, setzte sich in den -Lehnstuhl und beobachtete noch eine Weile den Schlummer der Mutter, -der sehr süß und fest zu sein schien; und wie sie auf das friedlich -ruhende Angesicht blickte, verschleierten sich allmählich auch ihre -Gedanken, allerlei Traumbilder umgaukelten sie; nach kurzer Zeit -schlief sie so fest, wie die Mutter ihr gegenüber. Doch nein! +so+ -fest schlief sie nicht, denn als sie nach einer Stunde erwachte und -auf den Zehen näher schlich, um nach der lieben Kranken zu sehen, da -lag diese noch ebenso friedlich und freundlich da, aber das Antlitz -war marmorweiß, kein Atemzug hob mehr die sonst so gequälte Brust, und -die Hände, die auf der Decke lagen, waren erkaltet. Es währte lange, -bis es der armen Martha ganz zum Bewußtsein kam, daß die Mutter dahin -gegangen, wo kein Leid, kein Geschrei und keine Qual mehr ist. - -Als es ihr endlich zur Gewißheit wurde, schrie sie nicht auf, sie -klingelte nicht um Hilfe; sie kniete am Bette, schickte ihre Seufzer -zu Gott hinauf und weinte heiße, recht heiße Thränen. Sie wußte ihre -Eltern am Throne Gottes vereint, aber sie war allein gelassen auf Erden -und fühlte das mit tiefem, tiefem Schmerz. - -Suschen, die einzige, die stets einen Drücker zur Korridorthür hatte -und unbemerkt kommen und gehen konnte, fand sie so. O, wie herzlich -weinte sie mit ihr! Dann rief sie ihre Eltern, und als Frau Werner -Martha in die Arme schloß und ihr Gemahl so warme, teilnehmende Worte -sprach, fühlte das verwaiste Kind, daß es doch nicht ganz verlassen sei. - -Der Direktor besorgte mit großer Aufopferung all’ die schweren -Außendinge, die ein solcher Todesfall mit sich führt; seine Frau -sagte: „Du kommst jetzt mit uns, liebe Martha. Sobald die Frau kommt, -die dazu beauftragt ist, helfe ich dir mit Suschen zusammen, deiner -lieben Mutter die letzten Dienste zu erweisen; denke du jetzt an nichts -weiter, als daß deine Mutter im Himmel und unser Herrgott ein Vater der -Waisen ist; alles andere findet sich zu seiner Zeit; jetzt wohnst du -bis auf weiteres mit in Suschens Stübchen.“ - -Das Begräbnis war vorüber; Martha hatte sich bis dahin wunderbar -aufrecht gehalten, aber es war noch kein Schlaf wieder in ihre -Augen gekommen. Sie hatte sich sehr getröstet gefühlt durch Pastor -Wohlgemuths glaubensvolle Grabrede über den Text: „Ich weiß, daß mein -Erlöser lebt.“ Aber als sie nun an Suschens Arme langsam nachhause -ging, kam eine solche Abspannung und Müdigkeit über sie, daß Frau -Werner sie sogleich nach dem freundlichen Schlafstübchen führte; -schon während des Auskleidens fielen die nassen Augen zu, und als die -mütterliche Freundin noch ein Weilchen mit gefalteten Händen am Bette -ihres Pfleglings stand, hörte sie schon die sanften Atemzüge, welche -den Schlummer der Kindheit und Jugend zu begleiten pflegen. - -Suschen benutzte diese Ruhestunden, um mit Frau Warburger frische -Luft in die verödete Wohnung zu lassen und die Spuren von Staub und -Unordnung zu beseitigen, welche ein jedes Begräbnis hinterläßt. Sie -stand in ihrem langen, schwarzen Kleide mitten im Sterbezimmer, und -während sie mit ruhiger Stimme die Arbeiten der Dienerin leitete, -begoß sie die Blumen, die sich in Frau Feldwarts Krankheit durch die -Freundlichkeit der Bekannten in Fülle zusammengefunden hatten, lockte -das Hündchen an sich, das winselnd unter dem Tische lag und nur schwer -zu bewegen war, Milch und Brot aus ihren Händen zu nehmen, und gab hier -und da einem verschobenen Gegenstande seine richtige Stellung und Lage -wieder. - -Pastor Frank, der die Entschlafene zur letzten Ruhestätte begleitet -hatte, überraschte sie bei diesem Geschäfte; er kam, um der verwaisten -Tochter ein paar freundliche Worte zu sagen. Er hatte die Thür offen -gefunden, weil Frau Warburger viel hin und wieder gegangen war, und -stand jetzt Suschen gegenüber. - -„Es thut mir leid, Herr Pastor!“ sagte diese, „ich kann jetzt Martha -nicht rufen; nach vielen durchwachten Nächten schläft sie soeben zum -erstenmal sanft; aber sie wird sich gewiß freuen, wenn Sie ein andermal -vorsprechen wollen; nur müssen Sie dann zu meinen Eltern kommen, denn -meine Freundin wird in der nächsten Zeit bei uns wohnen!“ - -Der Pastor empfahl sich und Suschen setzte ihre stille Arbeit fort. In -der Korridorthür sah sich der Davoneilende noch einmal um: „Sonderbar! -das Suschen sah heute recht erwachsen aus mit dem schwarzen Kleide und -mit dem ernsten Gesicht; sie ist doch wohl eigentlich kein Kind mehr!“ - -Direktor Werner hätte der Martha gern noch einige Tage stiller -Erinnerung und friedlichen Ausruhens gewährt, aber er bemerkte bald, -daß sie sehr unruhig war beim Gedanken an ihre Zukunft, und so fragte -er sie, als sie an einem der nächsten Morgen ihm und seiner Frau nach -dem Frühstück allein gegenüber saß: „Nun, liebes Kind, nun lassen Sie -uns erfahren, was Sie für Ihre Zukunft denken und wünschen.“ - -Martha sah ihn traurig an: „Was soll ich denken? Meine Nahrungsquelle -versiegt jetzt, denn die Leibrente der Mutter ist mit ihrem Tode -verfallen; mir bleibt nichts übrig, als mir so schnell als möglich -eine Stelle zu suchen als Jungfer oder Stütze der Hausfrau, oder“ --- setzte sie etwas zögernd hinzu -- „vielleicht könnte ich in ein -Diakonissenhaus gehen!“ - -„Das ist ein schöner Beruf“, sagte der Direktor ernst; „aber haben Sie -früher wohl jemals daran gedacht, denselben zu ergreifen?“ - -„Nein“, erwiderte Martha aufrichtig. - -„Nur um eine Versorgung zu haben, geht man nicht in ein -Diakonissenhaus, da gehört ein tieferer Beruf dazu. Ich meine, liebes -Kind, man muß bei solcher Überlegung die Fingerzeige Gottes beobachten. -Meinem Suschen habe ich gestern noch ganz ernstlich abgeredet, Lehrerin -zu werden; ihre Befähigung weist auf andere Gebiete hin; ich könnte -sie mir eher als Diakonisse, ja als Stütze der Hausfrau denken; Ihnen -aber möchte ich dringend raten: Werden Sie Lehrerin! Sie haben vom -lieben Gott genau die Gaben erhalten, die zu einer solchen Wirksamkeit -gehören, während man Ihnen als Stütze der Hausfrau wenigstens -in der ersten Zeit noch anmerken würde, daß Sie bei dergleichen -Beschäftigungen nicht aufgewachsen sind.“ - -Martha seufzte: „Wie gern würde ich Ihrem Rate folgen! Aber ich müßte -doch erst ein Examen machen; das kostet Geld -- woher soll ich das -nehmen?“ - -„Da läßt sich wohl Rat schaffen“, sagte der Hausherr freundlich; „ich -habe mit meiner Frau gesprochen und will Ihnen sagen, wie wir denken. -Unser Wirt hat eine sehr gut ausgebaute Bodenkammer, die wird er Ihnen -für einen sehr geringen Preis geben, und Sie räumen Ihre Möbel und -Sachen da hinein; wir sehen dann zu, daß wir Ihre Wohnung zum April -noch weiter vermieten können. Sie ziehen zu uns, teilen Suschens -Stübchen und sind unser lieber Gast. Gold und Silber haben wir leider -selbst nicht, aber was wir haben, das geben wir gern, nämlich Obdach, -Heimat, Verpflegung, so lange Sie es gebrauchen. Doktor W., mein -Freund, bildet eine ganze Schar junger Mädchen fürs Lehrerinnenexamen -aus. Sie sind so sehr viel besser vorbereitet durch Ihren trefflichen -Jugendunterricht, als die meisten seiner Schülerinnen, daß ich -überzeugt bin, Sie können das Ziel in ein und einem halben Jahre -erreichen, besonders wenn ernster Wille und redliche Anstrengung dazu -kommen. Nun, haben Sie wohl Mut, diesen Weg zu gehen? Es ist wohl -möglich, daß etwas von Ihrem kleinen Notpfennig dabei noch aufgezehrt -werden muß; aber ich denke, er trägt so die besten Zinsen.“ - -Martha konnte nur danken, mit tiefgerührtem Herzen danken für so viel -Güte. - -„Ist nicht nötig, ist gar nicht nötig“, sagte der Direktor, „es wird -ein ganz angenehmer Zuwachs für unsere Familie sein. So, nun schlagen -Sie ein! Und nun werde ich dich, liebe Martha, ganz als meine älteste -Tochter betrachten, so lange du bei uns bist. Sage du von heute an: -Onkel und Tante Werner! da wird es uns allen behaglich sein!“ - -Martha mußte durch ihre Thränen lächeln, und Suschen, die eben -hereingeschlüpft war, umarmte sie so stürmisch, daß sie fast erdrückt -wurde. In den Kreis ihrer Geschwister kam bei der Nachricht, daß Martha -jetzt hier bleiben würde, eine so freudige Aufregung, daß Suschen und -Frau Werner Mühe hatten, sie so ruhig zu erhalten, wie es bei der -traurigen Gemütsstimmung ihres Gastes nötig war. - - - - -9. - -Bei Werners. - - -Da in H. Wohnungsmangel war, wurde die Wohnung, welche Frau Feldwart -innegehabt hatte, noch im Laufe des Monats weiter vermietet. Es -kamen für Martha die schweren Tage des Ausräumens, und Suschen half -ihr mit Arbeit und Teilnahme, so viel sie immer konnte. Die Kommode -der Urgroßmutter, der Nähtisch, Ajax und das Vögelchen wanderten -mit zu Werners, um es der Verwaisten dort heimisch zu machen; alle -Familienglieder trugen ihr Mitgefühl und Liebe entgegen und suchten -ihr dieselbe auf alle mögliche Weise zu zeigen. Dennoch vergingen -Wochen, bevor sie sich in den neuen Verhältnissen zurecht fand. Die -Stunden kamen nicht selten, wo der Anblick des reichen Familienkreises -ihr die eigene Verlassenheit noch deutlicher und schwerer zum -Bewußtsein brachte und die Sehnsucht nach ihren Lieben so mächtig -erregte, daß sie kaum darüber Herr werden konnte. Die neue, ernste -Thätigkeit, in welche sie sofort eingetreten war, half ihr wohl dabei, -kostete ihr aber, so gern sie von Jugend auf gelernt hatte, doch oft -Überwindung. Ihr Wissen war auf vielen Gebieten reicher, als es für das -bevorstehende Examen verlangt wurde, und Doktor W. hatte seine große -Freude daran, aber in manchen Dingen war es mangelhaft. Sie hatte, -besonders seitdem sie der Schule entwachsen war, volle Freiheit gehabt, -zu lernen und zu treiben, was sie innerlich zumeist anzog; jetzt mußte -es nun systematisch vorwärts gehen, gleichmäßig in allen Fächern, in -ganz bestimmten, ziemlich engen Schranken; das kostete ihrer lebendigen -Natur manchen Kampf und manchen Seufzer. - -„Wenn ich später Kinder zu erziehen habe, lasse ich ihnen gewiß mehr -Freiheit!“ dachte sie. Dennoch konnte sie nicht umhin, anzuerkennen, -daß solche ins System gebrachte, fest geregelte Thätigkeit auf den -inwendigen Menschen beruhigend wirkt. Auch das Arbeiten in Gemeinschaft -mußte sie erst lernen; da sie das einzige Kind war, hatte sie für -solche Beschäftigungen ihr Zimmer und vollständige Stille um sich her -gehabt. Dies ging bei Werners nicht an, wenigstens jetzt nicht. Der -April und der Anfang des Mai brachten rauhe, kalte Luft; man mußte -heizen. Im großen Speisezimmer arbeitete der Sekundaner mit Luise -und den Zwillingen; der Martha ward an derselben langen Tafel ihr -Platz angewiesen. Da zuckte sie manchmal zusammen, wenn sie im Denken -und Lernen durch ein unerwartetes Tischbeben oder eine sehr unnütze -Bemerkung unterbrochen wurde. Seitdem aber Wilhelm lachend gefragt: -„Sind Sie nervös, Martha?“ nahm sie sich sehr zusammen; als nervös -mochte sie durchaus nicht gelten; sie fand auch in der That, daß die -Gewohnheit sie nach und nach gegen solche Eindrücke weniger empfindlich -machte. - -„Du arme Martha!“ sagte Frau Werner mitleidig, „im Sommer wird es -besser, da kannst du auf deinem Stübchen allein sein.“ - -„Ach, ich glaube, bis dahin bin ich ganz daran gewöhnt“, sagte Martha -freundlich. - -„Dann ist es desto besser“, erwiderte die Mama sehr zufrieden; „wir -Frauen erlangen ungestörte Muße für unsere Arbeiten nur in den -seltensten Fällen, in den glücklichsten Verhältnissen am wenigsten; -da ist es ein großes Glück, wenn man lernt, in der äußeren Unruhe die -innere Ruhe festzuhalten; stilles Ertragen kleiner Störungen kräftigt -mehr als man denkt, und trägt viel dazu bei, den Lebensweg zu ebnen.“ - -Auch das Verhältnis zu den verschiedenen Familiengliedern brachte -manche Schwierigkeit. Jede neue Lebenslage bietet solche dar; schwache -und selbstsüchtige Naturen steigern sie für sich und andere oft bis zur -Unerträglichkeit; kräftige und treue überwinden sie mit Gottes Hilfe -und finden darin die beste Schule und den größten Reichtum fürs Leben. - -Der Sekundaner hatte eben angefangen, ein wenig über die Zeit -hinauszukommen, wo es heißt: „Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe.“ -In solcher Zeit pflegen zwischen großen Brüdern und erwachsenen -Schwestern intime Freundschaften zu entstehen. Er war gewohnt gewesen, -all’ seine Erlebnisse Suschen mitzuteilen, wie sie seine Heimkehr -aus der Schule kaum erwarten konnte, um all’ die Dinge mit ihm zu -besprechen, die für ein achtzehnjähriges Herz Bedeutung und Wichtigkeit -haben. Nun kam Martha und nahm Suschens Neigung und in jeder freien -Stunde auch Suschens Zeit so in Beschlag, wie er es nicht für möglich -gehalten hatte. Der junge, sehr hübsche Gast war ihm keineswegs -gleichgültig; er versuchte sehr ernstlich, auf Spaziergängen oder -abends im Garten der dritte im Bunde zu sein; da man ihn aber nicht -gerade huldvoll aufnahm, ward er verstimmt und kam in Versuchung, zu -den eben überwundenen Gewohnheiten der Flegeljahre zurückzukehren. Er -entwickelte eine merkwürdige Geschicklichkeit darin, auf den Zehen -näherzuschleichen, Bruchstücke aus der Unterhaltung der Mädchen zu -erlauschen und dieselben in der verdrehtesten Gestalt wieder zutage -zu bringen, gerade, wenn es die beiden Freundinnen am meisten in -Verlegenheit brachte. Er band auch wohl heimlich Suschens langen Zopf -an Marthas Taillenband fest, wodurch sehr unangenehme, ja manchmal auch -schmerzhafte Verwickelungen entstanden, und die ärgerlichen Ermahnungen -der Frau Direktorin halfen immer nur auf kurze Zeit. Eine treue -Bundesgenossin hatte er, nicht in seinen Ungezogenheiten, aber in der -Eifersucht auf Marthas Freundschaft mit Suschen, an seiner Schwester -Luise, die es gar nicht begreifen konnte, warum sie in letzter Zeit so -ganz in den Hintergrund gedrängt wurde, und die beiden redeten sich -recht geflissentlich gegenseitig in den Ärger hinein. - -Frau Werner sprach anfangs nur zum Frieden: „Bedenkt doch, wie die -arme Martha noch so fremd hier ist; sie hat jetzt eine Freundin nötig; -wenn sie ihre Traurigkeit erst etwas überwunden hat, wird das ganz von -selbst besser.“ - -Der Direktor sah die Sache mit heimlicher Belustigung; die kleinen -Konflikte machten ihm Spaß, weil er eine glückliche Lösung voraussah; -aber er konnte es nicht lassen, zuweilen etwas ironisch zu werden. -Auf Spaziergängen, wenn alle sich an einer schönen Baumgruppe oder -freundlichen Aussicht erfreuten, störte er das eifrige Zwiegespräch -der Mädchen: „Nun, ihr Geistesabwesenden, thut nur auch einmal euere -Augen auf, damit ihr etwas von Gottes Schöpfung gewahr werdet!“ Oder -er läutete hinter ihren vereinigten Köpfen mit der großen Tischglocke: -„Versunkenheit, Versunkenheit weiche! Das Abendbrot soll in den Garten -gebracht werden.“ - -Gerade, weil Martha fühlte, daß die freundliche Rüge von ihr verdient -war, traf sie dieselbe oft recht empfindlich; sie war als einziges Kind -an große Schonung gewöhnt. - -Die Sache erreichte ihren Höhepunkt, als eine Cousine von Suschen, -Josephine, in schöner Abkürzung nur „Phine“ genannt, auf Besuch kam. -Sie war eine sehr wenig anmutige Erscheinung, eckig im Benehmen, -wortkarg, wenig angeregt zu geistigen Interessen, mit einem Worte: -den beiden Unzertrennlichen sehr unsympathisch. Dies ließen sie auf -eine sehr unliebenswürdige Weise dem Gaste merken; sie wußten mit -wunderbarer Geschicklichkeit denselben von ihren Zwiegesprächen -auszuschließen, und Phine ging auf gemeinsamen Wanderungen, wenn -nicht etwa der Direktor oder die Hausmutter sich ihrer annahm, mit -gefurchter Stirne ihren Weg allein. Die Eltern beide sahen dies mit -wirklichem Schmerz; des Direktors humoristische Bemerkungen wurden -bitter und beißend; seine Frau nahm eines Morgens, als Phine noch -schlief, die beiden Freundinnen beiseite, und sagte ihnen ganz -gründlich die Wahrheit: „Alles, was recht ist, lobt Gott! ihr Kinder. -Ich habe euerer Freundschaft viele Rechte eingeräumt, aber wenn ihr -mir die Gastfreundschaft verletzt, bin ich sehr böse. Ja, ja! seht -mich nur erstaunt an; jede Freundschaft, jedes Verhältnis, welches -so ausschließlich wird, daß man gar nicht mehr daran denkt, was man -seinem Nächsten schuldig ist, wird Leidenschaft und Egoismus, und das -muß bekämpft werden. Ich bitte mir von heute an aus, daß ihr euch -ordentlich betragt, sonst trenne ich euch und schicke Suschen wieder -auf Reisen!“ - -Martha empfand es sehr tief, daß sie hier Ursache zur Unzufriedenheit -gegeben hatte; Suschen gab sich noch nicht gleich: „Aber Mama! was -sollen wir denn mit ihr anfangen?“ - -„Das wird sich schon finden, wenn ihr ernstlich wollt; wie es in den -Wald schallt, so schallt es wieder heraus; ich glaube, ihr habt noch -nicht einmal ernstlich mit dem Hammer der Liebe bei ihr angeklopft; wer -weiß, welche Goldstufen ihr findet, wenn ihr es thut!“ - -Martha war sehr erschüttert von dieser Strafpredigt; sie hatte selten -Scheltworte bekommen im Leben, und obgleich sie der Frau Werner in -ihrem Herzen beipflichten mußte, fühlte sie sich doch sehr unglücklich -und verlassen und griff zum Trost nach Urgroßmutters Briefen. -Sonderbar! das erste, was ihr in die Hand fiel, war ein kleines Gedicht: - - Gastfrei zu sein vergesset nicht! - Der heilige Apostel spricht; - Bei manchem hat ganz unbeachtet - Ein Gottesengel übernachtet. - Drum hört, was der Apostel spricht: - Gastfrei zu sein vergesset nicht! - - Drum sollst du auch ganz freundlich sein, - Tritt unerwünscht ein Gast herein; - Manch Englein hat die Flügel innen, - Du würdest’s herzlich liebgewinnen, - Sähst du ihm tief ins Herz hinein; - Drum sollst du jedem freundlich sein. - - Gar mancher, der dir nicht gefällt, - Ist recht zum Engel dir bestellt; - Es sind nicht immer Sympathieen, - Die ’s Herz nach Gottes Willen ziehen. - Es thut gar wohl, so schwer’s oft fällt: - Gut sein dem, der dir nicht gefällt! - -Nun es die Urgroßmutter sagte, mußte es wohl wahr sein! Martha prüfte -sich ernstlich und kam auf manchen Punkt, der sie verklagte. Wo waren -denn die lustigen Mittagsstunden geblieben, seitdem Suschen und sie -im entferntesten Gartenweg wanderten und sich um die anderen nicht -bekümmerten? Als sie abends allein auf ihrem Stübchen waren, gab Martha -Suschen das Gedichtchen zu lesen; ausführliche Besprechungen und gute -Vorsätze schlossen sich daran, die mit aufrichtigem Herzen gefaßt -wurden. - -„Wenn ich nur erst wüßte, wie man Phinen näher kommen könnte!“ sagte -Suschen. - -„Wir müssen es versuchen!“ sagte Martha seufzend. - -Nun ist nichts schwerer, als den richtigen Anfang einer Unterhaltung zu -finden, wenn man mit der feierlichen Absicht, eine solche zu beginnen, -an jemanden herantritt. - -Phine, teils beleidigt durch die erfahrene Zurücksetzung, teils bequem, -war einsilbig und schien die Annäherung ihrer Altersgenossinnen fast -nur mit gnädiger Herablassung zu dulden; Suschen kehrte ihr bald den -Rücken und verschwand. Martha versuchte jedes mögliche Thema. - -„Haben Sie Geschwister?“ - -„Ja.“ - -„Brüder oder Schwestern?“ - -„Von beiden.“ - -„Ist T. ein angenehmer Ort?“ - -„Es geht!“ - -„Kommen Sie viel in Gesellschaft?“ - -„Manchmal!“ - -„Wird dort auch musiziert?“ - -„Himmel, wie kommen Sie nur darauf, mich in einem fort zu fragen! -Lassen Sie mich doch zufrieden; es interessiert Sie ja alles nicht!“ - -Es war eigentlich wahr, Martha gestand sich’s zu ihrer Beschämung; aber -wie in aller Welt sollte sie da eine Annäherung beginnen? - -Gegen Abend wanderten alle in den Garten; der Gärtner hatte -verschiedene Beete neu bepflanzt, eins derselben recht geschmacklos mit -lauter gleich großen Pflanzen, von denen keine zur Geltung kam und jede -der anderen Luft und Sonne wegnahm. Josephine ging einigemal um das -Beet herum und schien in seine Betrachtung völlig versunken zu sein. - -„Ich dächte, das Beet wäre nicht eben schön“, sagte Martha. - -Das erste freundliche, verständnisvolle Lächeln erschien auf Phinens -Gesicht: „Nein, das ist es wirklich nicht; wenn da in der Mitte nur -ein einziges Heracleum oder eine Staude Zuckerrohr und ein paar -Maispflanzen ständen; dann etwa diese Gladiolus, ringsum vielleicht -noch Astern und am Rande weiße Vergißmeinnicht -- das wäre ein hübsches -Beet. Ja, das verstand mein Großvater so schön! Ich wollte, Onkel -Werner erlaubte mir, es einmal so einzurichten!“ - -„Das würde er vielleicht thun; aber wäre es nicht schade um die -hübschen Wicken und Winden?“ - -„Ei, die könnten wir dort an der Laube anbringen; da fehlt etwas.“ - -„Fragen Sie doch!“ riet Martha. - -„Ach, das wage ich nicht!“ - -Beim Abendbrot redete Martha den Hausherrn an: „Onkel Werner, Phine und -ich haben einen sehr großen Wunsch!“ - -„Nun, und welchen?“ fragte er freundlich. - -Martha trug die Sache vor; der Onkel lachte: „Wenn ich da nur nicht aus -dem Regen in die Traufe komme!“ - -„Sie könnten es doch versuchen!“ bat Martha weiter. „Phine versteht -sich darauf und wir könnten ihr helfen.“ - -„Ja, wir alle! wir alle!“ riefen die Zwillinge. - -„Meinetwegen, versucht die Sache!“ entschied der Direktor. „Das -Heracleum giebt euch Freund Friedhelm umsonst.“ - -Wilhelm holte es, brachte auch noch einige Maispflanzen und ein -Körbchen voll Vergißmeinnicht mit; Phine hob sorglich die überflüssigen -Pflanzen aus; sie kamen unter die Aufsicht von Luise; Arthur und Hans -durften an der Laube unter Suschens Aufsicht Löcher ausarbeiten, -und Martha setzte die Pflänzchen mit geschickter Hand ein. Phine -arrangierte indessen das Mittelbeet und Anna trug ihr in der kleinen -Gießkanne immer wieder frisches Wasser zu. Die kräftige Mittelpflanze, -obgleich sie ihre Höhe noch nicht erreicht hatte und jetzt die Blätter -hing, hob das Beet sehr. - -„Ihr sollt ’mal sehen, wenn alles ordentlich anwächst, wie reizend -es wird“, rief die Obergärtnerin; sie war ganz aufgelebt und nicht -wiederzuerkennen. - -Die Garderobe war nun zwar nicht ganz ohne Schaden weggekommen, aber -die Freude über das gemeinsam Geschaffene strahlte allen aus den Augen. - -Dies war der Anfang vieler Vergnügungen; abends mußte man gießen; -hier und da wurden noch Verbesserungen für nötig befunden; die -ganze junge Familie entwickelte ein nie gekanntes Interesse an der -Gärtnerei, und Josephine gab eine sehr geschickte Lehrmeisterin ab. -Auch verstand es niemand so gut wie sie, die Ranken des wilden Weines -und des Geisblattes zierlich aufzubinden oder aus wenigen Blumen einen -anmutigen Strauß zu schaffen. - -„Woher kannst du das alles, Phine?“ - -„Von meinem Großvater“, erwiderte sie; „sein Garten war sein Liebstes, -und ich war, bis er starb, sein Gehilfe darin; ich liebe die Pflanzen -gar zu sehr! Es fehlt mir hier nur eine sehr zierliche, feine -Blattpflanze, die wir zuhause in Fülle hatten.“ - -„Weißt du den Namen nicht?“ - -„Nein, aber ich habe oben einige gepreßte Exemplare.“ - -Sie holte dieselben, um sie den Kindern zu zeigen, und alle waren -erstaunt, wie schön sie gepreßt waren, wie unverletzt die Farben. - -„Können wir das auch lernen?“ fragte Luischen. - -„Freilich, das kann jeder lernen; ich werde heute Nachmittag recht viel -Löschpapier holen und euch das Verfahren zeigen.“ - -Es ging nun mit Eifer ans Einlegen und Pressen; auch Martha trieb es, -um die Ränder ihrer Zeichnungen mit dem getrockneten Gras und Moos zu -schmücken; die Kinder suchten das nachzuahmen, und alle fühlten, wie -schön es sei, wenn eins vom anderen nimmt und einer dem anderen giebt, -viel schöner, als seinen Gedanken nachzuhängen und unbekümmert um die -anderen seine einsame Straße zu ziehen. Ja, Martha und Suschen merkten -zu ihrem Erstaunen, daß ihre einsamen Plauderstunden am Abend und -Morgen nicht an Reiz verloren und viel an Reichtum gewannen, seitdem -sie sich mehr den Interessen der anderen Hausgenossen anschlossen. Als -Martha einmal teilnehmend Josephinen nach dem Großvater fragte, da kam -die Goldstufe in dem Herzen der Enkelin wirklich zutage; hier verstand -sie Martha nur zu gut; und als endlich der Gast wieder seiner Heimat -zufuhr, schied er mit Thränen und wurde mit Thränen entlassen. - -„Die Urgroßmutter hat doch wieder recht behalten“, sagte Martha. - -Ja, die Urgroßmutter! ihre Papiere und Briefe lieferten reichen Stoff -zu den Unterhaltungen der beiden Mädchen; denn Suschen durfte jetzt mit -darin studieren. Sie interessierte sich besonders für die praktische -Armenpflege, die oft darin erwähnt wurde, und wenn sie, ihr Körbchen am -Arm auf Pastor Wohlgemuths Geheiß zu seinen Kranken ging, that sie dies -fast nie ohne eine stille Erinnerung an die ehrwürdige Frau, und ohne -die Freude, auf ihren Wegen zu gehen. Ihre Lieblingspatientin war eine -junge Frau, aus Weißfeld stammend, welche bald nach ihrer Verheiratung -eine Brustentzündung bekommen hatte und infolge davon schwindsüchtig -geworden war. Sie sah Suschens Besuchen stets mit großer Sehnsucht -entgegen; diese fühlte sich ihr gegenüber besonders frei, da die -Leidende nur um wenige Jahre älter war als sie. - -Eines Abends, nachdem Suschen die Kranke besorgt, umgebettet und -erquickt hatte, klagte diese noch: „Ach, Fräulein! Mein armer Mann! -heute hat er müssen eine Stunde vor Tage auf die Fabrik gehen, hat -keine Zeit behalten, den Topf in die Grube zu setzen; Mittag ist er gar -nicht nachhause gekommen, und nun findet er abends auch nichts Warmes! -Er ist auch zu schlimm dran!“ - -„Könnte ich denn etwas für ihn kochen?“ fragte Suschen. - -„Ach, das ist doch zu viel verlangt; aber Bier ist im Hause, gleich -auf der obersten Kellerstufe, und Brot und Milch und ein Ei und Kümmel -auch; ach, Fräulein, wenn Sie es thun wollten!“ - -Suschen bereitete die Suppe und setzte sie auf dem Ofen warm. - -Pastor Frank, der sein früheres Gemeindeglied besuchen wollte, hatte -ihrem liebevollen, anmutigen Thun eine Weile unbemerkt zugesehen. Als -sie in den Hausflur trat, begrüßte er die junge Schülerin freundlich: -„Wie freut es mich, daß Sie der Käthe so beistehen! Haben Sie ihr auch -wohl etwas vorgelesen oder ernst mit ihr geredet?“ - -Suschen errötete ein wenig: „O nein! lesen kann die Käthe für sich, -wenn ich nicht da bin, und sprechen von so ernsten Dingen -- Herr -Pastor, das wird mir schwer: ich kann viel besser mit meinen Händen -helfen!“ - -Er sah ihr in die hellen Augen und schwieg; er hatte sie erst ermahnen -wollen, zu lernen, was sie nicht konnte; aber wie sie so vor ihm stand -mit den klaren Augen und der demütigen Haltung, vermochte er’s nicht; -er dachte: „Die Gaben sind verschieden; ihre bloße Erscheinung ist -eine Erquickung; und das ist gewiß: ein Kind ist sie jetzt nicht mehr!“ - -In mancher Beziehung war sie aber doch noch ein Kind. - -In Urgroßmutters Kommode fanden sich viele Flachs- und Webe-Rechnungen; -das stimmte so ganz mit dem Lobe der Spinnekunst in manchem neuen -Journal, und als der Herbst kam und der Weihnachtswünsche gedacht -wurde, kannte Suschen keinen größeren als: „Ach, ein Spinnrad! und -einen großen Haufen Flachs!“ - -Frau Werner lachte darüber: „Von mir bekommst du das sicher nicht, mein -Suschen!“ - -„Aber Mama, warum nicht?“ - -„Weil es für eine Spielerei zu teuer ist, und mehr als Spielerei in -unserer unruhigen Zeit doch niemals wird!“ - -„Aber Mama!“ - -„Ja, liebes Kind, es ist ganz wie ich sage: An unsere Großmutter und -Mütter wurden lange nicht so viel Anforderungen gestellt wie an uns; -der Verkehr war ein viel langsamerer; es gab nicht so viel Stunden, -Vereine und Vorlesungen; wenn sie ihr Spinnrad vor sich hatten, saßen -sie tagelang hintereinander und zogen Faden auf Faden; da wurde was -fertig fürs Haus. Sie konnten wohl recht hübsch dabei denken und -sinnen; aber einem Kinde des 19. Jahrhunderts könnte es doch wohl -etwas langweilig sein. Es würde auch ein teueres Leinen werden, mein -Töchterchen; die Hände kommen eben den Maschinen doch nicht nach.“ - -„Wie schade!“ seufzte Suschen. - -„Ja, liebes Kind, das läßt sich nun nicht ändern; wir können doch nicht -Erfindungen und Industrie zurückdrehen, bis wir wieder ins adamitische -Zeitalter kommen. Den Sinn des Fleißes, der Häuslichkeit, der Treue, -der die Mütter bei ihrer Arbeit leitete -- den sollen wir pflegen, aber -ihn mit Vernunft in Einklang bringen mit den Anforderungen der neuen -Zeit; es gefällt euch ja doch gar nicht übel, daß ihr jetzt mehr Anteil -habt am geistigen Leben; das möchtet ihr doch gewiß nicht beseitigen!“ - -„Aber Rösners haben auch ihre Rädchen!“ - -„Ja, die treiben es eben als eine hübsche Erinnerung an die -großmütterliche Thätigkeit und eine nette Spielerei. Da es bei ihnen -gerade nicht viel darauf ankommt, was sie vornehmen, so ist das nicht -zu tadeln, und hätte ich ein altes Rad, so solltest du es meinetwegen -zu gleichem Zwecke haben. Aber es darf niemand meinen, daß damit in -unserer Zeit ein wirklicher Nutzen für den Haushalt geschafft wird, und -besonders in unserem giebt es der nützlichen und nötigen Arbeiten so -viel, daß man sich der überflüssigen lieber enthält.“ - -Es war und blieb aber Suschen sehr niederschlagend. Als die beiden -Mädchen in den Herbstferien bei Rösners waren, hatte Martha auf Trudens -Boden das Spinnrad der Urgroßmutter gesehen, das auf die Dienerin -vererbt war. - -„Ich spinne nicht darauf“, hatte diese gesagt, „wenn mir die Frau -Amtsrätin auch im Winter noch Flachs giebt. Weil ich eben nichts -anderes mehr thun kann, so verspinne ich den auf meinem zweispuligen, -das trägt mehr ein!“ - -Es war nicht schwer, Truden zu bewegen, das Rad an die Urenkelin -abzutreten; in Weißfeld wohnte noch ein alter, geschickter Drechsler, -dem ward es zur Reparatur übergeben, und wenn für Martha der Blick auf -die äußere Weihnachtsfeier von irgendeinem freundlichen Strahl erhellt -wurde, so war es die Aussicht, Suschen mit diesem Rade zu beglücken. -Frau Amtsrätin hatte den Flachs dazu zu liefern versprochen und hielt -ihr Wort. - -Die Überraschung gelang aufs beste. Als die Bescherung bei Werners am -heiligen Abend vorüber war, kam Hans als Knecht Ruprecht und brachte -im Namen der Urgroßmutter das feingeschmückte Rädchen; der Flachs war -durch Trudens geübte Hand kunstgerecht aufgelegt; ein schönes, buntes -Wockenband umgab ihn. Suschen wurde ganz rot vor Freude. Sie hatte ja -alle Vernunftgründe in der Rede der Mutter eingesehen; aber Vernunft -treibt Herzenswünsche selten aus, und als sie nun vollends vernahm, -daß es das Rad der Frau Anna Martha Waldheim war, deren Name, allen -sichtbar, am Querbrett prangte, kannte der Jubel gar keine Grenzen, und -es wurde ihr schwer, dem Knecht Ruprecht zu gehorchen, der ihr gesagt: - - Aber von Weihnachten bis zum hohen Neujahr - Muß ruhen das Spinnrädlein ganz und gar; - Hört man es da nur einmal schwirren, - So müssen die Hexen den Wocken verwirren. - Erst wenn die hochheil’gen zwölf Nächte vorbei, - Ist das Spinnen wieder gesegnet und frei. - -Die Eltern und Geschwister freuten sich mit ihr, und auch Martha, -der die Erinnerung an die beiden letzten Weihnachtsfeste natürlich -schwer auf der Seele lag, war dennoch glücklich über die gelungene -Überraschung und konnte sich dem Glanz der Weihnachtssonne, der so -besonders lieblich hineinstrahlt in einen großen Familienkreis, nicht -entziehen. - -Als endlich die Zeit gekommen war und Trude der gelehrigen Schülerin -Handgriff und Tritt beigebracht hatte, saß Suschen stolz auf ihrem -Schemel, zog Faden auf Faden, und erschien sich, als sei sie nun -ganz auf den Pfaden der Urgroßmutter. Sie fing auch gleich an zu -überlegen, wie viel sie weben lassen wollte, erkundigte sich, wie viel -oder vielmehr wie wenig der Weber gebrauche, um ein Dutzend Handtücher -fertigzustellen; als sie dann aber ihre Thaten mit seiner Forderung -verglich, gestand sie sich heimlich, nur ganz heimlich, daß es ziemlich -lange dauern würde, bevor das Gewünschte zusammen sei, und mußte es als -ein großes Glück ansehen, daß die Familie mit dem Trocknen ihrer Hände -nicht darauf zu warten brauchte. Das mußte man ja sagen: lieblich sah -das Suschen aus, wenn sie hinter dem blanken Spinnrad saß; recht wie -ein deutsches Mädchen mit ihrem klaren Gesichtchen und blonden Zopf. -Pastor Frank, der jetzt wieder häufiger und ruhiger kam und sie eines -Tages bei der neuen Arbeit überraschte, konnte sich auf dem Heimwege -gar nicht losmachen von dem Bilde der Spinnerin, obgleich er halb und -halb ärgerlich darüber war. - -„Sie macht wirklich einen sehr lieblichen Eindruck“, dachte er; „es ist -schade, daß sie so wenig aus sich herausgeht; aber vielleicht schadet -es nicht so viel; wenn der Pastor spricht und die Pastorfrau praktisch -hilft, sollte es wohl auch gehen!“ - -Der Winter ging friedlich und fleißig dahin, und nun in voller -Harmonie. Die Scene während Josephinens Dasein hatte auf die beiden -Freundinnen den besten Einfluß gehabt; sie bemühten sich jetzt mit -aufrichtigem Herzen, gegen alle Familienglieder liebenswürdig zu -sein. Daß Wilhelm nun wirklich als dritter in den Freundschaftsbund -aufgenommen war, führte demselben einen großen Zuwachs an Ideen zu. -Sein Herz war sehr warm für das allgemeine Wohl, sein Interesses -groß für alles, was eben die Zeit bewegte: Stöckers Arbeitervereine, -Bismarcks große Ideen waren Gegenstände seiner Schwärmerei; der -Primaner konnte lange Reden halten, von Suschen und Martha höchlich -angestaunt, obgleich sie oft noch recht jugendlich unreife Gedanken -enthielten. Natürlich kam dergleichen auch am Mittags- oder Abendtische -zutage, und machte die liebe Hausfrau ungeduldig. - -„Jetzt krähen die Hähnchen, wenn sie eben aus dem Ei gekrochen sind“, -pflegte sie zu klagen; „ich kann es manchmal gar nicht anhören, wenn -sie so unreifes Zeug vorbringen; und auch die Mädchen! Wir mußten uns -ganz still verhalten, wenn von solchen Dingen die Rede war!“ - -Der Direktor dachte anders darüber: „Natürlich müssen sie reifer -werden; aber nur, was überhaupt existiert, kann wachsen und gedeihen; -ich möchte keinen Sohn haben, der nicht seine Ideale in dieser -Beziehung hätte, und eine Ansicht über diese Dinge müssen sich -schließlich doch auch die Frauen bilden. Sie sind ja doch bescheiden -erzogen, unter Fremden hören sie und schweigen. Laß du sie ja im -Familienkreise sich aussprechen. Du glaubst auch nicht, wie es mich -interessiert; ich bekomme dadurch ein genaues Bild von dem, was mehr -oder weniger in all meinen Schülern lebt; es sind die Keime der -Gedanken und Thaten einer kommenden Generation, die müssen wir Alten -wohl beachten, mit unseren Erfahrungen stützen und schützen und mit -unserer Liebe pflegen.“ - -Frau Werner staunte oft, wie es ihr Mann verstand, sich auf den -Standpunkt der Jugend zu versetzen und von da aus leise Irrtümer zu -berichtigen und auf unreife Ansichten einzuwirken. - -„Auf manchen Gebieten“, dachte sie, „sind Männer geduldiger als -Frauen, das macht, weil sie die Dinge mehr im großen und nach ihrem -Zusammenhange fassen; es ist schön, das wir das von ihnen lernen -können!“ - -Auch die Kleinen wurden jetzt von Martha zärtlich beachtet; sie bemühte -sich, ihre Eigentümlichkeiten kennen zu lernen, sie zu verstehen -und ihnen etwas zu sein. Sie fand dies sehr lohnend. Jedes Kind war -anders geartet, eines durch Freundlichkeit, das andere durch Ernst zu -gewinnen; eines nahm die Dinge zu leicht, das andere zu schwer. „So -werden meine Schülerinnen später auch sein“, dachte sie und machte ein -völliges Studium daraus, ein jedes nach seinem innersten Wesen zu -lieben und zu behandeln. Dies gelang ihr vortrefflich und Eltern und -Kinder waren innig dankbar dafür. Alle fürchteten sich vor der Zeit, wo -Martha ihnen entrissen werden sollte, und doch rückte sie unaufhaltsam -näher. - -Im Sommer vor ihrem Examen fing ihre sonst so große Frische an zu -schwinden unter den vermehrten Anstrengungen. Eine ernste Betrübnis kam -dazu. Onkel Konsul, der ihr immer mitunter einmal geschrieben hatte -und auf dessen treue Teilnahme sie sich allezeit verlassen konnte, war -plötzlich gestorben. Seine Hinterlassenschaft kam in die Hände eines -entfernt wohnenden Neffen, zu welchem Martha gar keine Beziehungen -hatte, und so war das letzte Band gelöst, das sie noch an B. knüpfte, -und das sie so gern festgehalten hätte, schon um Siegfrieds willen: „Wo -soll er mich nun suchen, wenn er wirklich wiederkommt?“ - -Rösners, die Martha herzlich liebten, baten sie sich in den -Sommerferien aus; sie sollte in Weißfeld frische Milch trinken, -fleißig spazieren gehen und auf alle Weise gepflegt werden. Es schlug -auch leidlich an; sie bewohnte Urgroßmutters Stübchen und fühlte sich -ungemein wohl und geborgen darin. - -Pastor Frank kam jetzt unbefangen und schien wieder heiter zu sein, -versank aber manchmal in tiefe Gedanken: war ihm vielleicht auch jetzt -klar, daß er sich in das Phantasiebild der Urgroßmutter verliebt hatte? -O, es war ihm noch etwas anderes klar geworden, und dies versetzte -Martha und Rösners in die größte Freude. Werners hatten versprochen, -am nächsten Sonntag herauszukommen, und man rüstete freudig zu ihrem -Empfange. Freitag war Pastor Frank zur Stadt gegangen und erst spät -am Abend heimgekehrt. Sonnabend früh schickte er Martha einen Brief -ihrer Freundin; sie öffnete ihn mit Spannung, fürchtete fast schon eine -Absage, aber Suschen schrieb: - - „O Martha! liebe Martha! Du sollst es ja zuerst und bis morgen ganz - allein erfahren, was sich heute begeben hat und was ich ganz und - gar noch nicht begreifen kann. Denke Dir, ich bin seit einer Stunde - Braut, +seine+ Braut! ach, und eine so glückliche! Ich wollte es - ja erst gar nicht glauben, als Frank mir sagte, er habe mich lieb; - aber zuletzt merkte ich es doch, und ich glaube es ja zu gern. Morgen - früh nach der Vormittagskirche wird das Geheimnis enthüllt; bis dahin - schweige wie ein Stummer! Ich kann es eigentlich gar nicht erwarten, - bis Ihr Euch alle mit mir freut. Lobe den Herrn, meine Seele! - - Deine glückselige Suse.“ - -Leicht wurde es der Martha nicht, zu schweigen wie ein Stummer, und -obgleich sie mit keinem Worte sich verriet, wurde es doch Rösners an -ihrem erregten, oft gedankenvollen, dann wieder freudigen Wesen klar, -daß etwas Außergewöhnliches in der Luft sei, und besonders die jungen -Mädchen kamen in ihren Vermutungen der Wirklichkeit ziemlich nahe. Die -Erwarteten erschienen zeitig am Sonntagmorgen, Suschen im blendendsten -Weiß. Vor dem Gottesdienste, den alle gemeinsam besuchten, blieb alles -im gewöhnlichen Geleis. Pastor Frank predigte über den Spruch: „Danket -dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“ Man -merkte ihm an, daß der Dank sehr warm aus seinem Herzen kam, und als -die Eltern nach der Kirche ihn und Suschen als Brautpaar vorstellten, -wußten es alle, wofür er zu danken hatte, und der Jubel wollte gar kein -Ende nehmen. - -Jetzt konnte der Bräutigam nicht lange verweilen, da er den -Nachmittagsgottesdienst noch vor sich hatte; aber beim Abendbrot -da ging es an ein Feiern und Gesundheittrinken! Besonders Suschens -Geschwister wurden es gar nicht müde, „Hoch!“ zu rufen, und der -Bräutigam sah durchaus nicht aus, als hätte er schmerzliche Erfahrungen -begraben müssen, um zur Freude dieser Stunde zu kommen; die liebliche -Braut aber strahlte. - -Als man nach Tische im duftenden Garten wanderte, sagte Suschen -zu Martha: „Ich lasse es mir nicht ausreden -- das Spinnrad der -Urgroßmutter hat mir Segen gebracht!“ - -„Das ist möglich!“ bestätigte Frank vergnügt. „Gefallen hattest du mir -sonst schon; aber daß du meine liebe Frau Pastorin werden möchtest, -wünschte ich zum erstenmale, als ich dich hatte spinnen sehen.“ - -„Siehst du, Mama“, rief Suschen, „das Spinnen ist doch gut!“ - -„Das sollst du mir auch tüchtig weiter treiben, mein Suschen!“ -versicherte der Bräutigam. - -Diese sah ihn etwas zweifelhaft an: „Ob das möglich ist, wenn ich nun -richtig was zu thun bekomme?“ - -„Ja, ist denn das Spinnen nicht etwas Ordentliches? Warum spinnst du -denn?“ - -„Ei, aus Vergnügen und zum Andenken an die Urgroßmutter.“ - -Die Mutter und Frau Rösner machten dem Pastor die Sache klar. - -„Also auch nur eine Phantasie!“ sagte er nachdenklich. „Nun gottlob! -unsere Verlobung ist doch keine, und in Ehren halten können wir das -alte Spinnrad immer, wenn du auch nicht viel darauf fertig bringst!“ - -Als Werners abgereist waren, faßte Frau Rösner auf den Rat ihres -Hausarztes den schnellen Entschluß, mit ihrer jüngsten, etwas -bleichsüchtigen Tochter Agnes noch einige Wochen nach einem kleinen -Stahlbade zu gehen, und nahm Martha dahin mit. - -Lieblich gelegen zwischen waldigen Bergen sprudelten die stärkenden -Quellen, köstlicher Tannenduft durchwehte den frischen Grund; das -Wetter war herrlich, und die beiden Mädchen erblühten wie die Rosen -und waren sehr vergnügt. Das männliche Geschlecht war in dem kleinen -Bade nur spärlich vertreten; meistens sah man nur Mütter und Töchter -hier wandern, und die schlank aufgeschossenen, jugendlichen Gestalten -mit blassen Lippen waren weitaus in der Überzahl. Unser Kleeblatt -hatte kein Verlangen nach weiterem Anschluß; es fühlte sich im Genusse -der Natur und gegenseitiger Gesellschaft befriedigt. Die beiden -Mädchen hatten die größte Freude daran, auf den kleinen Felspartieen -umherzuklettern, Spireen und lilienartige Blüten zu sammeln, die -dort in reicher Fülle wuchsen, um ihr Stübchen mit den zierlichen -Waldkindern zu schmücken. Dann brachte ein leichter, zuweilen etwas -gewagter Sprung sie wieder auf den Weg, und Frau Rösner sah ihren -anmutigen, geschickten Bewegungen mit Wohlgefallen zu, bis eines -Abends, da es etwas geregnet hatte, Martha an einer glatten Steinkante -abglitt und sich den Fuß so verstauchte, daß der Arzt ihr für die erste -Nacht Arnika-Umschläge und für einige Tage völlige Ruhe verordnete. So -kam es, daß sie am nächsten Nachmittage, als fast alle Gäste des Hauses -ausgeflogen waren, einsam mit ihrer Arbeit unter der Veranda saß, -während ihr kranker Fuß wohl umwickelt auf einem weichen Schemel ruhte. - -Nicht weit von ihr hatten sich zwei kleine Mädchen auf der Schwelle -der Veranda niedergelassen, eifrig lesend über ein Buch gebeugt, und -noch etwas entfernter lag ein leichenblasses Kind von etwa zehn Jahren -in einem Fahrstuhl, neben einem Tischchen, auf dem Bilder, Bücher, -Spielzeug aufgehäuft waren. - -Die Kleine schien sich nicht darum zu kümmern; mit einem unendlich -verdrießlichen Ausdrucke auf dem elenden Gesichte blickte sie nach -einer älteren Person, die wie eine Bonne oder Wärterin aussah und sich -nicht weit von ihr in ein abgegriffenes Bibliothekbuch vertieft hatte. - -„Sie sollen jetzt herkommen, Katharine, und mit mir spielen!“ - -„Ach, ich habe es heute satt; ich habe zwei Stunden mit Ihnen gespielt, -und Sie wollen doch alle Viertelstunden etwas anderes.“ - -Das kleine Ding sah sie wütend an: „Ich sage es Mama, wenn Sie mich -nicht unterhalten!“ - -„Das können Sie immerhin thun; ich habe ihr schon gesagt, daß ich nur -bis Michaelis bleibe, weil ich das Gequäle nicht aushalten kann.“ - -Auf der Schwelle ging es auch eben nicht sehr friedlich zu: „Elli, du -reißest mir ja das Buch fort!“ - -„Ja, es gehört mir, Sophiechen, und ich will’s haben; ich kann sonst -nichts sehen!“ - -Bevor es sich Martha versah, entspann sich ein Streit, der an -Heftigkeit zunahm und den begehrten Gegenstand aufs äußerste bedrohte. - -„Lest euch doch vor!“ riet Martha. - -„Das sollen wir nicht, weil wir öfter Halsschmerzen haben!“ - -„Wenn ich euch aber nun vorlese?“ - -Der Vorschlag fand Beifall. - -Martha öffnete das Buch von Johanna Spyri: ‚Was aus Gritlis Kindern -geworden ist.‘ Sie begann, fühlte sich angezogen und las mit wachsendem -Vergnügen. - -„Ach, Fräulein, Fräulein!“ rief die kleine Elende, „kommen Sie doch -hierher!“ - -„Das kann ich nicht, meines Fußes wegen; aber vielleicht ist deine -Wärterin so freundlich, deinen Fahrstuhl zu uns zu bringen.“ - -Es geschah. Die Kinder lauschten gespannt; nur zuweilen entspann sich -eine ergötzliche Unterhaltung über die Abenteuer der Doktorskinder, -und nicht nur die Zuhörer bedauerten es, sondern auch Martha, als -die Erscheinung einer sehr vornehm aussehenden Dame die Unterhaltung -unterbrach. - -„Wie kommst du hierher, Fanny?“ - -„Ach, Mama, es wurde hier so schön vorgelesen!“ - -Die Dame sah Martha sehr scharf beobachtend an: „Darf ich vielleicht -fragen, mit wem ich die Ehre habe?“ - -Martha nannte ihren Namen und sagte, daß sie als Gast von Frau -Amtsrätin Rösner und zu ihrer Erholung hier sei. - -Zwei Fräulein, wie Martha schon bei Tisch bemerkt, die Töchter der -Dame, traten jetzt herzu; die eine in sehr gerader, vornehmer Haltung, -die andere anmutig grüßend und dann liebevoll über ihr krankes -Schwesterchen gebeugt, mit demselben plaudernd und kosend. - -Frau v. Märzfeld, der Name war Martha aus der Badeliste bekannt, ließ -sich das Buch reichen; da sie sich zu überzeugen schien, daß es keinen -gefahrdrohenden Inhalt hatte, gab sie es huldvoll zurück und verschwand -mit einem Wink an die Töchter, sie zu begleiten. - -Am anderen Nachmittage waren Elli und Sophiechen mit ihren Eltern -ausgefahren und Martha mit Fanny und ihrer Wärterin allein. Erstere -konnte sich schon ein wenig mehr bewegen und nahm absichtlich ihren -Platz ganz dicht beim Fahrstuhl der Kleinen. - -„Wie schlecht“, sagte Fanny, „das Buch mitzunehmen!“ - -„Aber Fanny, das ist doch nicht schlecht, das Buch gehört den Kindern!“ - -„Sie können aber im Walde ohne Buch vergnügt sein, und ich langweile -mich hier.“ - -„Hast du denn schon all’ diese Bücher und Bilder besehen?“ - -„Ach, die mag ich nicht!“ - -„Vielleicht interessieren sie dich mehr, wenn du sie mir zeigst.“ - -Es lag ein ganzes Heft mit Bildern aus B. obenauf. Martha kannte -jedes Gebäude, wußte von jedem einzelnen etwas zu erzählen, was ihrer -kleinen Zuhörerin Freude machte, bis diese ihr Leid vergaß und der -unliebenswürdige Zug in ihrem Gesichtchen dem Ausdruck von Spannung, -Interesse und Fröhlichkeit wich. - -Frau v. Märzfeld trat mit Frau Amtsrätin Rösner zugleich später in die -Veranda; es erfolgte die gegenseitige Vorstellung und dann begann ein -Gespräch, aus dem Frau v. Märzfeld Marthas Lebenslage und ihre Pläne -erfuhr. - -Am anderen Morgen nach dem Bade bat sie Martha um eine Unterredung -und schlug ihr vor, im Herbst als Lehrerin bei Fanny einzutreten: -„Der Arzt sagt mir heute, daß ich das Kind nach dem Süden bringen muß; -ich denke mit ihr im Winter nach der Schweiz zu gehen und möchte eine -Deutsche mitnehmen, die sie unterrichtet und sich ihrer Pflege widmet; -und da Fanny Vertrauen zu Ihnen zu haben scheint, wäre es mir lieb, -wenn Sie die Stelle annähmen. Sie müßten dann natürlich die leibliche -Pflege des Kindes ganz mit übernehmen, denn zwei Personen kann ich -nicht für sie halten!“ - -Wie umfangreich die Pflichten sein würden, die sie hierdurch übernahm, -konnte Martha natürlich jetzt noch nicht übersehen, aber es erschien -ihr natürlich als eine Erleichterung, die unangenehme Wärterin los zu -werden. Der Gedanke, die Schweiz zu besuchen, vielleicht den Genfer See -mit seinen großartigen Umgebungen zu sehen, hatte für ihre jugendliche -Phantasie viel Verlockendes; Fanny selbst schien große Freude an der -Aussicht zu haben, und so versprach Martha, gleich nach der Heimkehr -mit Werners zu reden und mit ihnen zu überlegen, ob es geraten sei, den -Vorschlag anzunehmen. - -Suschen war betrübt: „Ich hoffte, du solltest bei uns bleiben bis zu -meiner Hochzeit!“ Aber ihre Eltern, so gern sie Martha noch behalten -hätten, fanden es doch verständig, auf die Sache einzugehen, die so -ungesucht sich bot, natürlich unter der Bedingung, daß erst das Examen -gut vollendet sei. - -Dies geschah; es wurde trefflich bestanden. Vierzehn Tage hatte Martha -danach noch in dem gastlichen Wernerschen Hause verlebt; morgen sollte -sie nach M. reisen, um die neue Stelle anzutreten. Sie saß noch einmal -mit allen Wernerschen Geschwistern nach Tische in der Hinterstube in -wehmütigen Abschiedsgesprächen. - -„Den Ajax lasse ich Ihnen, Wilhelm! Sie haben ihn immer gern -gehabt; du, Suschen, bekommst meine Vögel.“ Für die anderen hatte -sie Blumenstöcke, Bücher, Bildchen. Die Nußbaumkommode kam in die -Dachkammer zu den anderen Möbeln, um dort geborgen zu werden, bis ihre -Besitzerin sie wieder gebrauchen konnte. - -Gegen Abend wanderte Martha an Suschens Arme hinaus zum Grabe der -Mutter und weinte dort heiß und lange; beim Abschied von Berlin hatte -sie die Mutter noch zur Seite gehabt; beim Abschied von dieser hatten -Werners sie in ihre Arme genommen; zum erstenmale zog sie jetzt allein -hinaus in eine unbekannte Fremde; das war sehr schwer, und es währte -lange, bis durch die dunklen Wolken ihrer Trübsal das Verheißungswort -wie ein klarer Stern schimmerte: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der -Welt Ende.“ - -Die Kinder hielten indessen zuhause große Beratung: „Wir müssen doch -heute Abend eine Abschiedsfeier halten. Es ist schade, daß Suse ganz -bei Martha ist, die wüßte schon was!“ - -„Wenn wir was sängen?“ sagte Luischen. - -„Ja, aber was?“ - -Arthur stimmte an: „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein.“ - -„Das geht nicht“, sagte Wilhelm, „wir werden schwerlich welchen -bekommen heute Abend.“ - -„So leb’ denn wohl, du altes Haus!“ riet Anna. - -„Na, dies noch“, rief Hans, „da könnte sie ja denken, sie wäre mit dem -alten Hause gemeint.“ - -„Morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen.“ - -„Nein, das ist zu traurig. Hört“, sagte Wilhelm wichtig, „wir machen -ein Lied! Ich fange jetzt an und jeder liefert eine Strophe: - - Will sich Martha ewig von uns wenden -- - -„Nein, Wilhelm, das geht nicht! Das ist viel zu traurig; da weinen -wir.“ Arthur begann: - - Weil unsre Martha scheiden will, - -„Will? Still?“ - - So stehet uns der Atem still. - -„Na, dir scheint der Verstand still zu stehen“, sagte Wilhelm -brüderlich galant. - -„Nein“, rief Annchen: - - Weil unsre Martha scheiden will, - Ich sie mit Blumen kränzen will. - -„Ach, da ist zweimal ‚will‘, und du willst es ja auch nicht allein, wir -wollen’s ja alle; das geht nicht!“ - -„Nein, jetzt hab’ ich’s!“ rief Luischen; gleich ganz viel auf einmal.“ - - Wir wollen dich gerne feiern - Mit Liedern und mit Leyern, - Und wissen doch nicht wie? - -Arthur fuhr fort: - - Wir hatten dich so gerne, - Nun ziehst du in die Ferne, - Und kehrest wieder nie -- - -„Na, Arthur, sie wird doch ’mal wiederkommen?“ - -Dieser zählte an den Fingern: „nie! sieh! Poesie! flieh! zieh! sie! -hie! Das geht: - - Und wir, wir bleiben hie! - -„Schön ist’s eigentlich nicht“, sagte Hans; „wir wollen’s aber stehen -lassen, wir sind sonst nicht fertig, bis sie kommen.“ - -„Nun muß aber noch was von Blumen hinein“, sagte Luischen; „wir müssen -sie zum Schlusse doch bekränzen.“ - - Wir kränzen dich mit Blumen -- - -„Blumen? Blüten? Es will wieder nicht!“ - - Komm, laß dich jetzt bekränzen - Mit Blumen, die da glänzen. - -„Ach was, das ist langweilig; jetzt so!“ rief Hans. - - Drum suchten wir im Garten - Blumen von allen Arten - Zu einem schönen Kranz. - -„Na, was reimt sich denn nun? Glanz -- ganz -- Schwanz?“ - -„Nein, behüte! Schwanz!! Es geht ganz gut mit ganz.“ - - Wir nehmen dich in die Mitten, - Bekränzen dich und bitten: - Vergiß uns nur nicht ganz! - -Sie waren sehr stolz auf ihr Machwerk, nur der Primaner schüttelte -seinen Kopf; aber Arthur entschied: „Mitunter ist eine Silbe zu lang -oder zu kurz, aber im ganzen ist es sehr schön. Das müssen wir singen! -Wonach geht es denn?“ - -„Ein bißchen nach ‚Ich hatt’ einen Kameraden‘, aber nicht ganz.“ - -Wilhelm überlegte: „Wir singen es nach der zweiten Hälfte von ‚Ich -hatt’ einen Kameraden‘ und wiederholen das immerzu; da paßt es -vorzüglich.“ - -Als die Freundinnen nachhause kamen, war der Kranz gewunden, die -Musikanten aufgestellt und die Musik begann; aber so wenig die Scene -auf Rührung angelegt war, sie erinnerte Martha an die Empfangsmusik -vor zwei und einem halben Jahre; sie konnte dem nicht wehren, daß ihre -Augen feucht wurden, und dies steckte an. - -Der Direktor trat herein. - -„Na, Kinder, macht euch das Herz nicht schwer; mir thut es auch leid, -daß meine Pflegetochter fortgeht; aber hoffentlich denkt sie daran, daß -sie hier stets ein Elternhaus und Elternherzen finden kann, so lange -wir leben, und da giebt es ja doch wohl manches Wiedersehen. Heute -Abend gebe ich eine Flasche Wein zum besten, da trinken wir Marthas -Gesundheit!“ - -Großer Jubel! - -„Dann können wir wirklich singen: ‚Wohlauf noch getrunken den -funkelnden Wein!‘“ - -„Ja, das könnt ihr!“ versicherte der Vater. - -Martha fühlte in dem allen die Liebe, die ihr hier eine Heimat -bereitet, und das machte ihr das Scheiden so schwer. - -Als sie mit Suschen abends allein in dem trauten Stübchen war, das so -viele Herzensergüsse belauscht hatte, da flossen freilich reichliche -Thränen; aber Martha konnte nicht anders als danken, immer wieder -danken für allen Segen, der ihr unter diesem Dache widerfahren war. - - - - -10. - -Noch eine neue Schule. - - -Als der nächste Abend dämmerte, bemerkte Martha, die still und einsam -in der Ecke eines Damencoupés saß, in der Ferne die Türme von M. So -sehr sie des Fahrens durch die einförmige Gegend unter dem grauen -Herbsthimmel müde war, fing doch ihr Herz jetzt an, sehr ängstlich zu -klopfen, und sie hätte gern den Flug der Lokomotive aufgehalten. Wußte -sie denn, was dort unter den Türmen ihr begegnen würde? Wußte sie, in -welches Verhältnis sie treten sollte zu den ihr so wenig bekannten -Menschen? Eine Ängstlichkeit, die ihr bis dahin fremd war, kam über -sie; jetzt wurde gehemmt, die Lokomotive gab das Signal, der Zug hielt. -Zögernd und zitternd stieg sie aus; dichtes Menschengewühl umwogte sie --- und kein bekanntes Angesicht darunter! - -Frau v. Märzfeld hatte ihr geschrieben, in welchen Hotelwagen sie -einsteigen sollte. Als sie sich demselben näherte, trat ihr ein feiner -Diener entgegen, fragte nach ihrem Namen und besorgte ihr Gepäck. - -In einer breiten, aber wenig lebhaften Straße hielt der Wagen vor -einem großen, eleganten Hause. Der Bediente führte sie hinein und die -erleuchtete Treppe hinauf in ein sehr sauber und nett eingerichtetes -Stübchen. - -„Gnädige Frau lassen bitten, daß Sie es sich hier bequem machen.“ - -Eine Dienerin kam und brachte Kaffee und feines Weißbrot. Martha war -erquickungsbedürftig und nahm etwas weniges; aber es wurde ihr schwer, -das wenige zu verzehren; sie fühlte sich gar so einsam und elend. - -Nach einer halben Stunde erschien der Diener aufs neue: „Gnädige Frau -befehlen jetzt!“ - -Martha folgte ihm. Sie hatte, nachdem Frau v. Märzfeld ihr den Antrag -gemacht, Fannys Lehrerin zu werden, noch einige Tage mit den Damen -zusammen in dem kleinen Badeorte verlebt; aber es erschien ihr in -der Erinnerung, als sei sie dadurch denselben nicht näher, sondern -ferner gekommen. Zwar die zweite Tochter Lucie hatte zuweilen recht -freundliche Blicke und Worte mit ihr gewechselt, und manchmal war es -Martha vorgekommen, als hielte irgendein unbekanntes Etwas dieselbe -zurück, sich noch näher an sie anzuschließen; die ältere Tochter aber -war vom Anfang an sehr zurückhaltend gewesen, und Frau v. Märzfeld -eigentlich unnahbar. So hatte es denn durchaus nicht den Anschein eines -Wiedersehens zwischen Bekannten, als Martha jetzt mit beklommenem -Herzen ins Empfangszimmer trat. - -Die gnädige Frau saß steif und gerade in der Ecke ihres Sofas und -musterte die Eintretende durch ihr Augenglas; zu beiden Seiten hatten -auf Plüschsesseln Judith und Lucie Platz genommen, feine Stickereien in -der Hand. - -Lucie erhob sich unwillkürlich, um der Eintretenden entgegenzugehen; -Frau v. Märzfeld legte ihre Hand auf den Arm ihrer Tochter: „Nicht so, -mein Kind! Fräulein Feldwart wird sich zu uns setzen.“ Damit zeigte sie -auf einen Sessel, und Martha fühlte sich genötigt, nach einer ebenfalls -steifen Verbeugung darin Platz zu nehmen. - -Nach einigen Redensarten, Marthas Reise betreffend, schien die Mama -einen großen Anlauf zum Reden zu nehmen. Lucie wollte entfliehen; ein -Blick ihrer Mutter zwang sie, sich wieder zu setzen, und diese begann -jetzt nach einem kleinen Anfall von Verlegenheitshusten: „Fräulein -Feldwart, wir haben uns in der Freiheit des Badelebens kennen gelernt; -wir waren dort vollständig gleichberechtigte Personen. Sie stehen -wahrscheinlich auch in der Bildung meinen Töchtern ziemlich gleich; -dies hat seine wohlthuenden, aber auch seine schwierigen Seiten, und -ich sehe es bei Ihrem Eintritt als meine erste Pflicht an, unsere -gegenseitige Stellung ganz klarzulegen. Hätten wir unverweilt nach dem -Süden gehen können, so hätte sich manches von selbst eingerichtet, oder -wir hätten es nicht so genau zu nehmen brauchen. Unser Hausarzt wünscht -aber, daß Fanny zuerst noch eine elektrische Kur gebrauchen soll, und -ich habe hier so viel Geschäfte vorgefunden, daß wir vor dem Frühjahr -schwerlich reisen können. Nun wollte ich Ihnen Folgendes sagen; nicht -weil es mir Vergnügen macht, sondern weil ich es für nötig halte: -Erwarten Sie als Fannys Lehrerin nicht, daß ich Sie meinen Töchtern -gleichstellen und Sie zu unseren Zirkeln und unserer Geselligkeit -heranziehen soll; dies paßt sich nicht. Sie werden stets die Stellung -einer Untergebenen haben, und ich sage Ihnen das gleich, um Sie vor -Täuschung zu bewahren. An unseren Mittags- und Abendmahlzeiten würde -ich Sie gern teilnehmen lassen, wenn nicht Fanny durch ihre Schwäche -genötigt wäre, im Kinderzimmer zu speisen; ich wünsche, daß Sie dies -mit ihr gemeinsam thun und überhaupt das Kind so wenig als immer -möglich verlassen. Was ihren Unterricht betrifft, so müssen Sie sehen, -wo Sie anknüpfen und wie Sie durchkommen können; es versteht sich, daß -das kranke Kind nicht angestrengt werden darf; aber so unwissend, wie -sie jetzt ist, darf sie nicht bleiben.“ - -Martha hörte still zu; die Farbe auf ihrem Gesichte wechselte -einigemal; sie bezwang sich aber, und die Ruhe und Bestimmtheit der -Prinzipalin gab ihr den Mut, ebenso ruhig zu bitten, daß man ihr -gestatten möge, vorausgesetzt, daß Fanny nicht kränker sei, sonntäglich -einmal zur Kirche und täglich eine Stunde spazieren zu gehen, was der -Arzt ihr zur Pflicht gemacht habe. - -Es wurde ihr bedingungsweise gewährt: „Wenn es gutes Wetter ist, -wird Fanny jeden Tag ausgefahren; dann wünsche ich, daß Sie in ihrer -Begleitung gehen. Jetzt wird Lucie Sie hinauf zu Fanny bringen; ich -habe diese Unterredung in Gegenwart meiner Töchter geführt, damit sie -meinen Willen wissen; meine zweite Tochter hat große Neigung, sich über -die nötigen Formen hinwegzusetzen.“ - -Martha verbeugte sich und folgte ihrer Führerin die Treppe hinauf in -einem sonderbaren Zustande: nicht aufgebracht, nicht entrüstet, aber -wie mit Wasser begossen und kühl bis ans Herz hinan. - -Vor Fannys Thür wandte sich Lucie um: „Wir können uns doch lieb haben, -Fräulein Martha, ganz gewiß!“ sagte sie, und Martha glaubte Thränen -in ihren Augen zu sehen. Sie war etwas verwundert über dies schnelle -Entgegenkommen, es machte sie beinahe verlegen. - -„Ja, Fräulein Lucie, aber wir müssen durchaus die Grenzen dabei -festhalten, die Ihre Frau Mutter uns gesteckt hat; ich würde sonst ihr -gegenüber in eine schiefe und unhaltbare Stellung kommen.“ - -„Ach, und lieben Sie Fanny ein wenig; sie ist so unglücklich durch ihre -Kränklichkeit!“ - -„Gewiß will ich das!“ sagte Martha warm und trat über die Schwelle -einer einfachen aber freundlichen Stube, hinter deren breitem Fenster, -dessen Gardinen jetzt zugezogen waren, Fanny, von einer Hängelampe -beleuchtet, in ihrem Rollstuhle lag. - -„Nun, guten Tag, liebe Fanny! Siehst du, hier bin ich; nun sage mir, -wie es dir ergangen ist, seitdem wir uns zuletzt gesehen haben!“ - -„Schlecht“, sagte sie, aber sie reichte Martha die Hand. - -„Wie so, schlecht? Hattest du vermehrte Schmerzen?“ - -„Manchmal auch; aber das Elektrisieren ist so schrecklich, und -Katharine war die ganze Zeit so schlimm zu mir, und das Hausmädchen -thut mir immer so weh, wenn sie mich ankleidet!“ - -„Vielleicht kann ich das lernen!“ sagte Martha freundlich. - -Es klingelte jetzt, und Lucie wußte, daß dies für sie das Signal sei, -das Schwesterchen zu verlassen. Sie umarmte Fanny etwas stürmisch zum -Abschied; das blasse Gesichtchen verzog sich schmerzlich. - -„Lucie ist gut zu mir“, sagte sie, sobald dieselbe das Zimmer verlassen -hatte, „aber sie denkt nicht daran, wo es mir weh thut. Sie kann auch -wenig bei mir sein; sie muß sich noch so viel üben im Singen und -Zeichnen und muß auch viel in Gesellschaft gehen; Mama sagt, das sei -für ein Fräulein nötig.“ - -„Was thatest du denn heute Nachmittag?“ - -„Was sollte ich thun? Ich sah in die Wolken; die bekommen immer -andere Gestalten; man kann sich Riesen, Ritter und Drachen darunter -vorstellen, die führen Krieg, laufen hintereinander her und fressen -sich auf; das ist so unterhaltend!“ - -„Kannst du nicht etwas lesen?“ - -„O, lesen kann ich gut; als ich gesund war, hatte ich Stunde. Aber es -ist in den Büchern immer so vieles, das ich nicht verstehe, und es ist -niemand da, der mir ordentlich antwortet, wenn ich frage, als höchstens -manchmal Judith; aber sie hat sehr wenig Zeit.“ - -„Wie lange bist du denn so krank?“ - -„Ich glaube, seit zwei Jahren; da war ich einmal, heiß vom Spielen, ins -Wasser gefallen. Der Gärtner holte mich wieder heraus, aber ich wurde -nie mehr gesund; ist das nicht schändlich?“ - -„Schmerzlich, Fanny, oder betrübt! Siehst du, was uns der liebe Vater -im Himmel schickt, das kann wohl schwer und bitter für uns sein, aber -schändlich gewiß nicht!“ - -„Das verstehe ich nicht, du sprichst ganz wie Margaretchen!“ - -„Wer ist Margaretchen?“ - -„Ach, die alte Näherin, die manchmal kommt; sie sitzt dann dort in der -Nebenstube und speist mit mir! Die sagt auch, Gott habe mich lieb! Aber -warum läßt er mich denn krank werden?“ - -„Das wirst du auch noch einmal erfahren, Fanny! Jetzt können wir das -noch nicht wissen!“ - -Das Mädchen kam jetzt, deckte den Tisch und setzte Thee und kalte -Speisen auf. - -„Werden Sie hier essen?“ fragte Fanny gespannt. - -Martha nickte. - -„Das ist schön! Katharine ging dann immer hinüber in die Gesindestube -und kam nicht eher wieder, bis der Thee ganz kalt war.“ - -Martha betrachtete sich die Sache: „Ich werde deinen Rollstuhl dicht -an den Tisch heranbringen, das ist gemütlicher für uns beide. Du sagst -mir jetzt, wie du die Butterbrötchen am liebsten hast, so richte ich -sie dir ein. Meinst du nicht, daß so ein weiches Ei und etwas roher -Schinken dir wohlthun würde? Siehst du, ich bin hungrig von der Reise, -mir wird es auch schmecken. Aber erst wollen wir beten.“ - -„Beten?“ fragte das Kind verwundert. - -„Ei, wir müssen uns doch beim lieben Gott bedanken für alle die guten -Gaben, und müssen ihn bitten, daß er uns ferner nicht verläßt!“ - -Fanny nickte ernsthaft. - -Martha sprach einfach: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und -seine Güte währet ewiglich!“ Dann begann das Souper. - -Die Kleine hatte keinen frischen Appetit; Martha mußte ihr zureden, ein -wenig zu nehmen; aber das half zuweilen. - -Man hörte jetzt Räder rollen und verschiedene Kutschen vor dem Hause -anfahren; es wurde unruhig unter ihnen. - -„Mama hat heute Gesellschaft; ich schlafe auch nicht eher, bis Lucie -mir Eis und Konfekt heraufgebracht hat; das thut sie jedesmal!“ - -Martha zweifelte, ob es weise sei, dem kränklichen Kinde, das kein -Verlangen nach einfacher, nützlicher Nahrung hatte, Dinge zu bringen, -die ihr den Magen noch mehr verderben mußten; aber für heute mußte sie -sich ja noch aller Eingriffe enthalten. Sie bat nur: „Lege dich immer -einstweilen nieder, Fanny. Du ruhst besser, und ich bleibe hier neben -deinem Bette!“ - -Das Hausmädchen kam jetzt und Martha ließ sich das Nachtzeug des Kindes -bringen. - -„Ich will sie heute einmal selbst auskleiden!“ sagte sie. Ihre leichte, -geschickte Hand bewährte sich auch hier; Fanny jammerte wenig und -erklärte sich zufrieden mit ihrem Beistande. - -„Bleiben Sie auch die Nacht über hier?“ - -„Ich weiß noch nicht Bescheid im Hause; aber ich glaube, mein hübsches -Zimmerchen muß ganz in der Nähe sein!“ - -„Vielleicht ist es nebenan, Fräulein Feldwart? O bitte, öffnen Sie -einmal die Thür und sehen Sie zu, ob es so ist!“ - -Es war so! zu Fannys großem Jubel! - -„O nicht wahr, Sie lassen die Thür ein klein, klein wenig offen? -Katharine schläft zwar hier in der kleinen Kammer und giebt mir, was -ich gebrauche; aber es wäre zu schön, Sie so nahe zu haben!“ - -Martha versprach dies gerne. Nichts hätte sie am heutigen Abend so sehr -trösten können, als die Überzeugung, daß sie der kleinen Kranken lieb -und nötig sei, und sie bat Gott innig, er möge ihr Kraft geben, dem -Kinde in der rechten Weise beizustehen. - -Jetzt rauschte es auf der Treppe, und in einem schweren, dunkelblauen -Seidenkleide, äußerst passend und geschmackvoll angethan, erschien Frau -v. Märzfeld, um ihrer Kleinsten „gute Nacht“ zu sagen. Sie war wirklich -eine auffallend stattliche Erscheinung, besonders fand Martha dies, als -sie sich mit zärtlichem Mitleid über das kranke Kind beugte. Sie sah -freundlich auf Martha, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war, um der -Mutter Platz zu machen. - -„Nun, haben Sie sich schon ein wenig zusammen befreundet?“ - -„Ich denke, gnädige Frau, und ich hoffe, wir werden es mit jedem Tage -mehr thun.“ - -„Das würde mir ganz außerordentlich lieb sein; dies kleine Wesen kann -Licht und Hitze und Geräusch nur wenig ertragen, und doch ist es meine -Pflicht, um ihrer Schwestern willen in der Gesellschaft zu leben. Es -wäre mir eine große Beruhigung, sie nicht verlassen zu wissen. Aber -plaudern sie nicht zu lange mit ihr, nach zehn Uhr muß sie schlafen.“ - -„O Mama, heut’ ein wenig nach zehn; Lucie bringt mir erst noch Eis!“ - -„Meinetwegen!“ sagte die Mutter freundlich, indem sie die Kleine zum -Abschied küßte. „Fräulein Feldwart, Sie stehen mir dafür, daß es nicht -zu lange wird!“ - -Martha versprach es. - -„Bitte, erzählen Sie mir etwas“, bat Fanny, als sie allein waren. - -„Hat dir jemand schon aus der biblischen Geschichte erzählt?“ - -„Jetzt lange nicht, früher wohl; ich glaube, Katharine wußte nichts -davon.“ - -„Weißt du, wer Jakob war?“ - -„Ein wenig; ich glaube, er vertrug sich nicht mit seinem Bruder Esau.“ - -Martha erzählte von Jakob; seinen Ausgang aus dem Vaterhause; seine -Angst vor seinem Bruder, den er um sein Erstgeburtsrecht gebracht; wie -er sich am Abend niederlegte auf einen Stein mit seinem Kopf, und ihm -dann im Traume die Himmelsleiter erschien, an der die Engel hinauf- und -herabstiegen. - -„O, das muß schön gewesen sein!“ sagte Fanny. „Giebt’s jetzt auch noch -Engel?“ - -„Freilich! Christus sagt von den Kindern: ‚Ihre Engel sehen allezeit -das Angesicht meines himmlischen Vaters.‘“ - -„Hab’ ich auch einen?“ - -„Gewiß, Fanny, hast du deinen Engel, der an deinem Bette wacht, wenn du -schläfst, und dich behütet, wenn du in deinem Rollstuhl liegst.“ - -„Kann er mich auch gesund machen?“ - -„Er wohl nicht; aber der Vater im Himmel, der den Engel sendet, und -wenn es dir gut ist, thut er es gewiß; wir dürfen ihn alle Tage darum -bitten.“ - -„Ach, das wollen wir thun!“ - -Das Gespräch wurde jetzt unterbrochen; von unten herauf drang nicht -mehr das Gemurmel sprechender Stimmen, sondern silberklare Töne eines -sehr schönen Flügels; es ertönte eine Sonate von Beethoven, dies konnte -man deutlich unterscheiden, obgleich von den feineren Tönen natürlich -viel verschwand. - -„Sie hören gern Musik?“ fragte Fanny. - -„Sehr gern!“ - -„Ich sah es Ihnen an; Sie verstehen auch, was die Töne miteinander -sprechen.“ - -„Verstehst du das auch, Fanny?“ - -„Natürlich; es ist eine andere Sprache als die, in der wir uns -unterhalten; aber man fühlt ganz deutlich im Herzen, wie es gemeint -ist.“ - -Jetzt wurde präludiert; eine sehr frische, jugendliche Stimme sang -reizende Lieder von Franz und Schumann; beide Zuhörerinnen lauschten. - -„O, das ist schön!“ rief Martha. - -„Geben Sie acht, wenn Judith singt, ist es noch schöner; das war -Lucie!“ - -Ja! Jetzt ertönte es unten: „Leise, leise, fromme Weise, Schwing dich -auf zum Sternenkreise etc.“ Welche edlen, vollen, weichen Töne, welche -vollendete Auffassung! Sie hätte kaum der stolz erscheinenden Judith -solchen Gesang zugetraut; das kam aus dem Innersten -- daran war nicht -zu zweifeln! Es war eine solche Wärme im Vortrag, daß Martha mit -Entzücken zuhörte. Es war ihr sonderbar zumute; sie war zu lange und zu -gern in der großen Geselligkeit zuhause gewesen, um nicht das Gefühl -zu haben, daß sie dort unten ganz an ihrem Platze sein würde und ihre -frische Singstimme wohl auch zur allgemeinen Freude erschallen lassen -könne. - -„Wären Sie gern unten?“ fragte Fanny. - -Martha fuhr aus ihrem Traume empor, dem sie einige Minuten nachgehangen -hatte: „Ich bin auch gern hier bei dir, Fanny!“ - -„Ja, und Sie sind auch noch viel besser dran als ich; Sie haben doch -Beine und könnten hinuntergehen, und würde Ihnen auch nicht gleich -schlecht von all dem Lärm.“ - -Man hörte jetzt unten vermehrte Bewegung. - -„Jetzt geht es zu Tische“, sagte die Kleine; „nun dauert es nicht mehr -sehr lange, bis Lucie kommt mit dem Eis.“ - -Nach einer kleinen Stunde erschien diese auch wirklich mit einem -ganzen Präsentierteller voll der süßen Herrlichkeiten. - -„Ihr müßt jetzt beide schmausen; das sind ganz unschädliche Sachen, und -ich bleibe so lange hier und sehe euch zu.“ - -Martha sah mit großer Sorge die großen, süßen Vorräte: „Wird es auch -Fanny nicht schaden, wenn Sie dies alles heute Abend verzehrt?“ - -„O, was soll ihr das schaden?“ rief Lucie; „sie ist ja doch nur von -Erkältung krank!“ - -„Aber wir könnten ein wenig aufheben auf morgen“, begann Martha aufs -neue. - -Lucie lachte: „Sie wissen nicht, was dies für ein kleiner Naschvogel -ist!“ - -Martha wurde überstimmt; erst, als alles aufgezehrt und Lucie zu ihrer -Gesellschaft zurückgekehrt war, machte Fanny Anstalt, einzuschlafen. - -Martha sprach über sie mit gefalteten Händen den Vers: - - Breit aus die Flügel beide, - O Jesu, meine Freude, - und nimm dein Küchlein ein. - Will Satan mich verschlingen, - So laß die Englein singen: - Dies Kind soll unverletzet sein! - -Fanny sah sie anfangs verwundert an, dann legte es sich wie Frieden -über ihre unruhigen Züge. - -„Ja“, sagte sie beim Schluß, „jetzt will ich schlafen; ich sehe sie -hinauf- und heruntersteigen, und sie singen schon.“ - -Martha ging nun in ihr Stübchen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. -Es war ihr noch nicht klar, wie es hier weiter gehen würde; sie sah -manches Schwierigkeit, manche Demütigung für ihre stolze Natur auf -ihrem Wege liegen; aber sie empfand es als ein großes Glück, daß Fanny -sichtlich ihr vertraute; und des Kindes Herz mehr und mehr zu gewinnen, -ihr hartes Los zu erleichtern, ihr eine Freundin zu werden, das war -eine Aufgabe, die wohl geeignet war, sie mit ihrer Lage auszusöhnen, -und als sie endlich ermüdet ihr Lager suchte, war ihre Zuversicht so -stark, daß Gottes Schutz und Obhut über ihrem Haupte sei, daß sie mit -dem Kinde hätte sagen mögen: „Ich höre es, die Engel singen schon!“ - -Am anderen Morgen brachte denn nun freilich das neue Tagewerk -Schwierigkeiten genug. Zuerst wurde sie von ihrer Morgenandacht -aufgeschreckt durch Fannys Jammergeschrei, die sich vom Mädchen -ankleiden lassen sollte. Sie schien große Schmerzen dabei zu haben, und -Martha eilte hinüber, um zu sehen, ob sie ihr nicht eine Erleichterung -gewähren könne. Sie versuchte dem Mädchen Anleitung zu geben, die -schmerzenden Glieder nach Möglichkeit zu schonen; diese gab sich auch -die erdenklichste Mühe, aber vergebens; Fanny schrie weiter. Sobald -Martha Hand anlegte, beruhigte sie sich sofort, und obwohl es unschwer -zu durchschauen war, daß neben den Schmerzen ein nicht geringes Maß -von Eigensinn der Grund des Jammers sei, blieb doch für Martha keine -Wahl: sie schickte das Mädchen fort und suchte allein fertig zu werden. -„Heute muß ich den Eigensinn ignorieren“, dachte sie; „bleibt es so, -dann muß er natürlich bekämpft werden; aber wie?“ - -Sie war jetzt erst 21 Jahre alt. So wechselvoll und zum Teil so schwer -ihr Leben bis dahin gewesen war, so hatte sie doch bis gestern stets -unter der liebevollsten Obhut gestanden; jetzt sollte sie auf eigenen -Füßen stehen unter recht schwierigen Verhältnissen. Hätte Frau v. -Märzfeld sie an sich herangezogen, hätte sie ihr mit Rat und That -beigestanden, so wäre ihre Aufgabe leichter zu lösen gewesen; wie die -Sachen jetzt lagen, konnte sie sich nur auf Gottes Hilfe verlassen. - -Gleich nach dem Frühstück kam Judith in sehr sauberem, elegantem -Morgenanzuge, um zu fragen, wie ihr Schwesterlein geschlafen habe, und -brachte einen sehr fein gebundenen Blumenstrauß mit. Fanny klagte, sie -habe viel geträumt, Martha mußte bestätigen, daß sie recht unruhig -gelegen und oft im Traume geseufzt habe. - -„Das haben Sie durch die Thür hören können, Fräulein Feldwart?“ - -„O nein“, antwortete Martha, „ich ließ dieselbe ein wenig zwischen uns -offen.“ - -„Hast du das gewünscht, Fanny?“ - -Fanny nickte. - -Judith dachte ein wenig nach: „Das geht durchaus nicht; wenn Fräulein -Feldwart den ganzen Tag über bei dir sein soll, muß sie in der Nacht -völlige Ruhe haben; hörst du, Fanny?“ - -Martha bat: „Ich bin jung und gesund und würde doch nach Fanny -hinhören, wenn auch die Thür zwischen uns geschlossen wäre! Vielleicht -schläft auch mein armer, kleiner Zögling ruhiger, wenn sie diesen Abend -nicht so viel Zuckerwerk und Eis bekömmt.“ - -„Also doch wieder!“ sagte Judith nachdenklich und ging nach einer -kleinen Weile. - -Fanny war verdrießlich: „Sie sind gerade so streng wie Judith, die will -mir auch immer kein Zuckerwerk geben!“ - -„Ja, Fanny, weil wir beide wünschen, du mögest bald gesund werden; da -möchten wir dir nichts geben, was dir schaden kann.“ - -Zunächst kam es nun für Martha darauf an, zu ergründen, wie weit -Fanny auf den verschiedenen Gebieten des Wissens gekommen war; sie -machte natürlich sehr unbefriedigende Entdeckungen. Lesen konnte sie, -schreiben wegen ihrer schmerzenden Glieder nur sehr mangelhaft. Das -Rechnen schien ihr ganz fremd und obendrein sehr zuwider zu sein; -auch vor der Geographie mit ihren vielen Namen und Zahlen empfand sie -große Scheu, und sowohl aus der weltlichen als biblischen Geschichte -hatte sie nur einzelne Episoden behalten, welche das Gefühl und die -Phantasie in besonderer Weise in Anspruch nahmen. Diese faßte sie, wie -neulich die Geschichte von der Jakobsleiter, mit großer Lebendigkeit -und Innigkeit auf; aber alles, was sich nur an den Verstand wendete -und eigentliche Arbeit und Anstrengung erforderte, wies sie beharrlich -zurück. Wäre ihr Leiden von der Art gewesen, daß man ein frühes Ende -hätte befürchten müssen, so würde Martha gedacht haben: „Fliege du, -fliege du bis in den Himmel hinein!“ denn Martha flog selbst gern. Aber -abgesehen davon, daß ihr eigenes Herz nur schwer den Gedanken hätte -fassen können, die junge Blüte unrettbar dahinwelken zu sehen, sprach -auch der Arzt die sichere Hoffnung aus, sie werde das Leiden in einigen -Jahren überwinden. „Dann“, sagte Martha, „darf sie nicht nur fliegen, -dann muß sie auch gehen lernen“, und sie versuchte auf jede mögliche -Weise, sie nach und nach an eine geregelte Thätigkeit zu gewöhnen. -Methodisch, wie sie es gelernt und wie es in vollen Schulklassen -meist so trefflich fördert, durfte sie hier nicht vorgehen. Hatte sie -Fanny mit unsagbarer Mühe dahin gebracht, aufmerksam zuzuhören und -vier bis sechs Fragen zu beantworten, so erklärte dieselbe dann aufs -bestimmteste: „Ich kann nicht mehr, mein Kopf thut mir weh“, und war -weder mit Güte noch mit Ernst auch nur einen Schritt weiterzubringen. - -Martha mußte förmlich auf neue Wege studieren. Sie fing an, Fanny im -Gespräch für einen Gegenstand zu interessieren und suchte auf diese -Weise die Begierde in ihr zu wecken, mehr von demselben zu erfahren. -Sie benutzte ihre Ausgänge, um in den Buchhandlungen nach Reise- -oder Lebensbeschreibungen zu suchen, welche für das kindliche Alter -geeignet waren, aber auch hier ermüdete die schwache und verwöhnte -Schülerin schnell. Martha fand bald, daß es besser ging, wenn sie -sich über ein Land, ein Volk, eine Episode aus der Geschichte so viel -als möglich Kenntnisse aneignete oder vergegenwärtigte und dieselben -ihrer Schülerin dann frei und in möglichst angenehmer Form vortrug. -Es war nicht zu leugnen, daß die junge Lehrerin auf diese Weise -eine höhere Stufe erstieg; es kostete aber viel Zeit und Kraft, und -inbezug auf Fannys eigene Anstrengungen war wenig gewonnen. Oft -dachte Martha: „Wenn man doch nur die Grenze genau sehen könnte, wo -das ‚Ich kann nicht!‘ in das ‚Ich will nicht!‘ übergeht!“ Der treue -Hausarzt selbst war in dieser Beziehung unsicher; es ist schon bei -erwachsenen Nervenkranken nicht leicht, die Grenze zu finden, wo man -ihnen nachgeben und wo man ihnen widerstehen oder sie zu kräftigen und -zu stärken suchen muß. Martha kam darin zu keiner rechten Klarheit; daß -sie selbst jung, gesund und lebhaft war, riß die Kleine mitunter zu -Anstrengungen fort, die ihr wohl bekamen, aber eine gründlichere Hilfe -kam zuletzt auf eine andere Weise. - -Fanny hatte für religiöse Eindrücke, wie schon gesagt, ein -empfängliches Gemüt; aber als ihre Lehrerin in der Religionsstunde -den gewöhnlichen Weg einschlagen wollte, zuerst die zehn Gebote mit -allen Erklärungen durchzunehmen, stieß sie wieder auf entschiedenen -Widerstand: „Das kann ich nicht! das ist zu schwer!“ Die nahe -Adventszeit richtete von selbst den Blick auf das Kommen des Heilandes; -Martha nahm in den Frühstunden alle Verheißungen auf Christi -Erscheinung, seine Geburt, sein Leben, seine Wunder, sein Leiden, -Sterben und Auferstehen durch; und hier war nichts, was Fanny nicht -mit ganzem Herzen erfaßt hätte; von hier aus war es leicht, Licht auf -alle bis dahin dunklen Gebiete fallen zu lassen; eine neue Welt ging -für Fanny auf, eine Welt der Liebe und des Friedens, die ihr bisher -verborgen geblieben war, die ihr liebliches Licht hineinsandte in ihr -Leiden und in ihr Herz und alle Bitterkeit daraus vertrieb. Mit ihrer -Liebe zu dem Quell aller Liebe wuchs auch ihre Liebe für Martha, die -ihr das neue Leben erschlossen hatte, und an die Stelle des bisherigen -Widerstrebens trat das Verlangen, in allen Stücken zu thun, was diese -wünschte, und obgleich leibliche Schwäche und große Verwöhnung ihr dies -schwer machten, war es doch deutlich zu sehen, daß sie allmählich etwas -vorwärts kam. Martha freute sich innig, daß ihre Thätigkeit sichtlich -mit Erfolg gekrönt wurde; aber dieselbe forderte ein Aufbieten all -ihrer Kräfte, und sie sehnte sich oft nach einer Ausspannung und -Erquickung für ihr eigenes Herz. - -Die beiden älteren Töchter des Hauses fingen je mehr und mehr an, -ihr Interesse zu erregen. Lucie war stets anmutig und freundlich, -wenn sie ins Krankenzimmer kam; ja sie hatte anfangs ganz herzliche -Anwandlungen! aber wenn ihr Martha mit sanfter Bitte entgegentrat, so -oft sie das Schwesterchen mit Leckereien überschütten wollte, wurde -sie verstimmt und verstimmte Fanny mit. Erst als einmal der Hausarzt -sich ganz streng gegen solche Diät ausgesprochen hatte, unterblieben -die Versuche dazu, und Martha wußte, daß sein Verbot durch Judith -veranlaßt war, die ihre Sorge teilte. Judith behielt ihr ernstes, -zurückhaltendes Wesen, sowohl dem Schwesterchen als Martha gegenüber, -lange Zeit unverändert bei; aber wenn Martha es wagte, ihr Vorschläge -zu machen, wie Fannys Lage in Wahrheit zu erleichtern sei, war dies nie -vergebens; Judith dachte darüber nach und suchte zustande zu bringen, -was Martha wünschte. - -Der Gärtner hatte bis jetzt jede Woche andere blühende Gewächse -gebracht und die abgeblühten mit zurückgenommen, und Martha hatte -mit Betrübnis gesehen, daß Fanny von ihrem reizenden Blumenfenster -nur sehr wenig Freude hatte. Judith war eine große Blumenliebhaberin -und betrübte sich über Fannys Gleichgültigleit ebenfalls. Als sie -dies eines Morgens aussprach, sagte Martha: „Ich glaube, Fräulein -Judith, Fanny würde viel größere Freude haben, wenn sie die Pflanzen -pflegen und gedeihen sehen könnte und wenn sie selbst etwas zur Blüte -brächte!“ Gleich am anderen Morgen erschien Judith in Gesellschaft -eines Gärtnerburschen und brachte die verschiedensten jungen Pflänzchen -mit; sie hatte sich beim Gärtner sehr sorgsam erkundigt, wie jedes -zu behandeln sei, und weihte das Schwesterchen in das Geheimnis ein, -indem sie ihr anschaulich schilderte, wie die Blüte und die weitere -Entwickelung sein werde. Nun gab es jeden Morgen eine halbe Stunde -der Thätigkeit und gespannten Aufmerksamkeit; die Pflänzchen wuchsen -natürlich dem ungeduldigen Kinde lange nicht schnell genug; aber jedes -neu hervorsprießende Blatt, jede Knospe und aufbrechende Blüte erregte -Jubel. - -Martha sah Lucie fast nur in Gegenwart ihrer Mutter, und wenn sie -heruntergeholt wurde, den Gesang der Schwestern zu begleiten; Frau v. -Märzfeld wußte sie dann aber unter irgendeinem Vorwande sofort wieder -zu entfernen. Auf Fannys Bitte hatte Martha dieser das Mozartsche -„Veilchen“ und einige von den reizenden Taubertschen Kinderliedern -vorgesungen, als Frau v. Märzfeld in das Zimmer trat. - -„Ich wußte nicht, daß Sie singen!“ sagte sie. - -„Ich sprach nicht davon, weil ich nur ein einziges Jahr Stunden hatte -und abbrechen mußte, bevor der Unterricht irgendwie beendet war.“ - -„Ich höre wenigstens, daß Sie sicher sind, und Sie sollen uns heute -Abend aus einer großen Verlegenheit helfen. Judith ist leider heiser -geworden; wir hatten für sie auf ein Duett und die erste Stimme eines -Quartetts gerechnet; ich bitte, daß Sie ihre Stelle vertreten.“ - -„Das thue ich gern“, sagte Martha; „nur möchte ich beides noch einmal -durchsingen, und dann“ -- setzte sie fast verlegen hinzu -- „habe ich -kaum ein Kleid, in solcher Gesellschaft zu erscheinen.“ - -„Das wird niemand von Ihnen verlangen, indem Sie ja nicht als Glied der -Gesellschaft kommen, sondern als die Lehrerin meines Kindes, die uns -eine Gefälligkeit erweist.“ - -Martha fühlte wieder den Sturz kalten Wassers, aber sie beherrschte -sich. Sie hatte mit Lucie das Lied zu singen: „O, säh’ ich auf der -Heide dort im Sturme dich etc.“ Beide durften es bei Fanny probieren -und diese war entzückt davon: „Ich möchte sehen, wie sich alle über -euch freuen.“ - -Erst als sie gerufen wurde, und zwar sehr sauber, aber sehr einfach -gekleidet, trat Martha in die Gesellschaft ein. Frau v. Märzfeld -stellte sie vor: „Die Gouvernante meiner Fanny!“ Ihr wurde niemand -vorgestellt. Ein junger Mann saß am Flügel, bereit, sie zu begleiten. -Die ersten Töne, welche Martha sang, zitterten ein wenig; aber dann -riß die Musik sie mit sich fort, und ihre weiche, biegsame Stimme -entfaltete all’ ihre Fülle und Macht. Beifall erklang von allen Seiten, -und als auch das Quartett zur höchsten Zufriedenheit beendet war, trat -ein vornehm aussehender junger Herr zu Martha und fragte: „Wo hatten -Sie Singstunde, mein Fräulein?“ - -„In B., aber nur kurze Zeit.“ - -„Man merkt das nicht; Sie singen allerdings mit mehr Freiheit, als eine -junge Dame, die sich noch mitten im Lernen befindet, aber durchaus -nicht, als wären Sie mit der Schule nicht fertig geworden.“ - -Der Herr schien einiges von der Musik zu verstehen; sie kamen auf ihre -Lieblingskomponisten, und da er ernst und gehaltvoll sprach, antwortete -ihm Martha gern und freute sich der lebhaften Unterhaltung. - -Frau v. Märzfeld rauschte heran: „Graf T., vielleicht helfen Sie mir -etwas, die Plätze zu arrangieren. Fräulein Feldwart, Ihre Schülerin -wird nach Ihnen verlangen.“ - -Martha verneigte sich und ging; es wurde ihr aber heute Abend schwer, -sich mit Fanny zu unterhalten; immer wieder trat der wenig angenehme -Auftritt vor ihr inneres Auge; sie schämte sich so sehr, daß sie nach -dem Gesange auch nur eine Minute unten geblieben war. Sie ertappte -sich einigemal dabei, daß eine Thräne auf ihre Arbeit fiel, und doch -mußte sie sich eingestehen, daß ihr eigentlich nichts Schlimmes -widerfahren sei -- sie war ja die Gouvernante; Frau v. Märzfeld hatte -das Recht, zu wünschen, daß sie bei ihrem Kinde bleibe. Sie hatte -sich auch vollkommen davon überzeugt, daß dieser nichts ferner lag, -als sie kränken zu wollen, denn sie war zu anderen Zeiten aufrichtig -dankbar für Marthas Bemühungen um das Wohl ihres Kindes. Sie hielt -es offenbar für ihre heilige gesellschaftliche Pflicht, die Lehrerin -auf der Stufe zu erhalten, die sie für angemessen hielt; aber fast -nichts war dieser so schwer geworden, als dies ruhige, geflissentliche -Hinausgetrieben-werden aus der Stellung, welche sie bisher im Leben -eingenommen hatte. Sie mußte hart kämpfen, dies zu überwinden; es wurde -ihr nicht erleichtert durch Luciens Entrüstung darüber und sie dachte -lebhaft an Pastor Wohlgemuths Worte: „Sie werden klein und niedrig sein -müssen, und das wird gerade für Ihre Natur sehr schwer sein!“ „Darum -schickt es mir der liebe Gott“, dachte sie; „ich will es aus seiner -Hand nehmen und desto mehr für Fanny sein, die es mir sichtlich dankt.“ - -Frau v. Märzfeld liebte ihr kleines Mädchen wirklich und sorgte für -dasselbe, so viel es möglich war, ohne in dem gestört zu werden, was -sie als ihre Lebensaufgabe ansah, nämlich ihrer geselligen Stellung -zu genügen und für ihre erwachsenen Töchter gute Partieen zustande zu -bringen. Keine Ausgabe war ihr zu groß, wenn Martha Vorschläge machte, -Fannys Lage zu verbessern und ihr Dasein auszuschmücken. Sie erkannte -auch Marthas Thätigkeit und ihre Erfolge völlig an und sprach dies -sogar zuweilen recht freundlich aus; nur die Kluft zu überbrücken, die -nach ihrer Meinung zwischen ihrer Familie und Martha bestand, das fiel -ihr niemals ein. - -Eines Tages, als Margaretchen im Nebenzimmer nähte, kam diese auf eine -arme Familie zu sprechen, die den Vater plötzlich verloren hatte und -nun in der größten Not war. Fannys weiches Herz war gerührt; sie hätte -gern ihre reich ausgestattete Sparbüchse bis zum letzten Heller den -Armen gegeben. Martha machte ihr begreiflich, daß es nicht richtig und -schön sei, unüberlegt zu verfahren; sie versprach, sich morgen früh -selbst nach den dringendsten Bedürfnissen der Leute zu erkundigen. „Und -dann“, sagte sie, „müssen wir rechnen, ordentlich rechnen; denn wir -müssen etwas behalten für die Geburtstage von Mutter und Schwestern, -für die Missionskasse, für das Rettungshaus u. s. w.“ Und Fanny -rechnete; sie rechnete hier, wo sie einen Zweck vor Augen hatte, mit -Vergnügen, und Martha schöpfte Hoffnung, sie auch in dieser ihr bisher -sehr widerwärtigen Kunst nach und nach weiter zu bringen. Da ihre -kranken Fingerchen nicht imstande waren, Strümpfe für die verwaisten -Kinder zu stricken, lernte sie wenigstens das leichtere Häkeln, um die -Knaben mit Shawls zu versorgen. - -So verging der Winter unter vielerlei Anstrengungen, aber nicht -fruchtlos und nicht freudenlos. Die angefangene Kur hatte die kleine -Patientin so gekräftigt, daß sie nicht mehr gehoben und getragen werden -mußte, sondern sich einige Schritte weit selbständig fortbewegen -konnte. Die Tage wurden, sonnig, die Wege trocken; Fanny ward vom -Diener jeden Tag ausgefahren, und Martha ging dann neben ihr, um sie -aufmerksam zu machen auf Blumen, Bäume, Menschen, schöne Gegenstände in -den Schaufenstern, und all’ die tausend Fragen zu beantworten, welche -das Kind, angeregt durch so viel neue Eindrücke, an sie stellte. Sie -that dies sehr gern, aber sie fühlte doch, daß ihr auf diese Weise die -einzige Zeit zum Ausruhen, zur stillen Sammlung und zum Nachdenken -über ihren nicht leichten Beruf genommen wurde. Der März befreite sie -von diesen Wegen, aber nicht zu ihrer Freude. Fanny bekam den Husten, -und dieser wollte keiner Arzenei oder sonstigen Verordnung des Arztes -weichen; sie war wiederum aufs Zimmer angewiesen und war jetzt, an -mehr Abwechselung gewöhnt, ein eigensinniger Patient. Am ersten April -ging das Hausmädchen ab, um sich zu verheiraten, und Fanny war so -unglücklich bei dem Gedanken, sich einer anderen Hand anzuvertrauen, -daß Martha versprach, sie fortan allein zu pflegen. Das Glück des -Kindes war ein großer Lohn; aber die Nerven, selbst Marthas kräftige -Nerven ließen sich solche Überanstrengung nicht gutwillig gefallen; -sie war zum erstenmal im Leben matt und reizbar, mußte gegen trübe -Gedanken kämpfen und sehnte sich herzlich nach der versprochenen -Übersiedelung nach dem Süden. Sie gehörte nicht zu denen, die viel -über ihr leibliches Befinden zu grübeln pflegen und sich selbst große -Wichtigkeit beilegen; aber sie empfand es mehr, als sie es sich -eingestand, wie schwer es war, daß keiner mehr mit zarter, liebevoller -Fürsorge sie beobachtete und ihr zu helfen suchte, wenn sich in ihren -Gesichtszügen Abspannung, Müdigkeit, Kränklichkeit abmalte. Es wird den -Eheleuten am Altar gesagt, daß ihr Stand „nicht ohne Kreuz“ ist; ach, -ebenso gewiß und fast gewisser kann man vom Stand einer jungen Lehrerin -sagen, daß er „Dornen in die Menge und manches Kreuz trägt“. Ist der -innere Beruf und die volle Fähigkeit dafür vorhanden, dann werden -solche Leidensstunden und Schwierigkeiten überwunden; hat nur Verlangen -nach Freiheit und Selbständigkeit auf diese Bahn gedrängt, so entstehen -daraus schwere Kämpfe, denen oftmals Leib und Seele unterliegen. - -Gegen Ostern kam der Hausarzt, um die Sommerkur mit Frau v. Märzfeld zu -besprechen; seine Entscheidung lautete: „O, Sie brauchen gar nicht so -sehr weit fortzugehen; gehen Sie Mitte Mai mit dem Kinde zur Molkenkur -nach Heyden an den Bodensee, und ist dann etwa nach sechs Wochen der -Husten ganz fort, so bringen Sie Fanny nach Ragatz oder noch lieber -nach Pfäffers in der Taminaschlucht; da wird sie wahrscheinlich bald -erstarken und beweglich werden.“ - -Martha schwärmte für schöne Natur; sie wäre gern noch tiefer -hineingekommen in die Wunderwelt der Schweiz; dennoch sah sie der Reise -mit Spannung und großen Erwartungen entgegen. Sobald der Mai erschienen -war, brach man auf. Frau v. Märzfeld hatte ein ganzes Coupé genommen, -um es Fanny bequem zu machen. Am ersten Tage fuhr man bis Frankfurt am -Main bei rieselndem Regen; die Leidende klagte viel über Schmerzen; -Martha bemühte sich, ihre Gedanken davon abzuziehen, indem sie ihr von -den Orten, an welchen sie vorüberfuhren, mancherlei erzählte. Aber so -leise dies geschah, störte es doch Lucie in ihrer Reiselektüre, und sie -äußerte dies sehr vernehmlich durch verwunderte Blicke und ungeduldige -Bewegungen; Judith versuchte anfangs Martha beizustehen, aber das -eintönige Grau rings umher, das Anschlagen der Tropfen an die Fenster -ermüdete sie, und sie schlief bald fest in der einen Ecke, während -in der anderen die Mutter ihre Stirn unaufhörlich mit wohlriechendem -Wasser wusch. In Frankfurt hatte man versäumt, sich Wohnung zu -bestellen, Westendhall war besetzt; man mußte noch am späten Abend von -einem Gasthaus zum anderen fahren, bis man endlich gegen Mitternacht -ein wenig befriedigendes Unterkommen fand. - -Am anderen Morgen ward es heller. Judith und Lucie baten die -Mutter, sich einige Stunden in Heidelberg aufzuhalten und dann in -Ulm Nachtquartier zu nehmen; aber Frau v. Märzfeld wollte lieber -Friedrichshafen erreichen. Alle jungen Köpfe bemühten sich, möglichst -viel aus dem Fenster zu sehen, als der Zug in Heidelberg hielt. Scharen -von Studenten mit ihren großen Hunden konnte man bewundern, wenn man -wollte; aber von der schönen Lage und Umgebung des berühmten Ortes war -vom Coupé aus wenig zu bemerken. Der Tag wurde schwül, die Glieder -schmerzten von der langen Fahrt; die ganze Gesellschaft hatte nur -noch wenig Kraft, die Umgebungen zu betrachten: Fanny weinte, Lucie -stieß ungeduldige Ausrufe aus, Judith seufzte und Frau v. Märzfeld lag -abgespannt in ihrer Ecke. Wie eine Himmelsbotschaft klang endlich spät -am Abend die Stimme des Schaffners: „Friedrichshafen, aussteigen!“ -Sie waren bald in dem geräumigen, sauberen Gasthofe untergebracht, -und Fanny streckte sich recht mit Wohlbehagen in ihrem Bette aus, als -Martha ihr sagte: „Morgen fahren wir nur noch mit dem Dampfschiff -über den See, da sehen wir den Säntis und die Appenzeller Berge alle -vor uns, dann geht es eine kleine Stunde mit der Zahnradbahn den Berg -hinauf nach Heyden.“ Martha wachte noch lange und seufzte: „Ach; wenn -nur morgen, nur morgen schönes Wetter ist!“ - -Sie lauschte; lauschte: es klang wie ein leises Rauschen; war das der -See? Mit dem ersten Tageslichte erhob sie sich und zog leise die -Gardine vom Fenster. Grauer Nebel wogte draußen, die Fenster gingen -nach einem Rasenplatze, vom See war nichts zu sehen. „Es muß noch sehr -früh sein“, dachte sie, legte sich wieder nieder und schlief ermüdet -ein. Als das Hausmädchen, wie es versprochen, um 6 Uhr anklopfte, war -das Wetter noch ebenso. Martha war sehr betrübt darüber: sie hätte so -gern den Säntis gesehen. Fanny freute sich auf das Dampfschiff; sie war -ruhiger. - -Als man nach einer Stunde aufs Schiff kam, hatte der Regen, der sich -die ganze Nacht über ergossen, nachgelassen, und der See wurde nach und -nach nebelfrei; seine Wellen kräuselten sich im frischen Morgenwinde. -An der östlichen Ecke des weiten Wasserbeckens tauchte Bregenz auf, -aber die Vorarlberge, an deren Fuße es liegt, waren noch verhüllt, und -vom Schweizer Ufer konnte man nur dämmernde Umrisse erkennen. Erst -als man sich Rorschach näherte, zerriß die Wolkenhülle, aber nun war -man den Bergen zu nahe, um mehr als die Vorhügel zu überblicken. Das -weite, jetzt blaue Wasserbecken übte dennoch einen großen Reiz aus, -und besonders Fanny war glücklich, mitten auf dem Verdeck in ihrem -Rollstuhl ruhend, so sanft hinüberzugleiten ans andere Ufer. Der Weg -nach Heyden hinauf war lieblich und kurz. Wie blau erschien der See -bei dem Dorfe Wynachten! In Heyden war ihnen durch den dortigen Arzt -Wohnung bestellt, eine der älteren Pensionen nahm unsere Reisenden auf. -Martha teilte ihr Zimmer mit Fanny; es hatte die lieblichste Aussicht -von der Welt. Dicht unter dem Fenster begannen die grünen Matten, -die in der schönsten Frühlingsüppigkeit standen, hin und wieder von -bewaldeten Hügeln, Gesträuch und Obstbäumen unterbrochen, aus deren -Mitte die hellen Wände niedlicher Häuser hervorglänzten; tief unten -und doch so nahe erscheinend, als könne man ihn mit wenigen Schritten -erreichen, lag wie ein aufgeschlagenes, schimmerndes, blaues Auge der -See, an seinem gegenüberliegenden Ufer Lindau und Friedrichshafen, -so deutlich, daß man jedes Fenster unterscheiden konnte; rechts die -Vorarlberge und Bregenz, links schweifte der Blick übers Württemberger -Land. Die beiden Mädchen konnten sich nicht satt sehen; sie öffneten -das Fenster und sogen die unbeschreiblich milde Luft mit Wohlbehagen -ein. Sie sollten heute noch auf ihrem Zimmer speisen; zum Vesperbrot -wollte dann Fanny versuchen, die wenigen Schritte bis zum Speisesaal zu -gehen. - -Ein freundliches, älteres Mädchen in einfacher Kleidung brachte gute -Suppe, Rindfleisch mit einem Gemüse von getrockneten Äpfeln und -gerösteter Semmel, und Braten, den sie im ersten Augenblicke seiner -hohen Fettkruste wegen für Schweinebraten hielten, der sich aber dann -als der Rücken eines gut gemästeten Kalbes auswies. Es schmeckte -den beiden Gereisten trefflich, und selbst die Zusammenstellung von -Rindfleisch und Äpfeln, die ihnen neu war, fanden sie ganz schmackhaft, -als sie davon gekostet. - -Während Frau v. Märzfeld schlief, erschienen Judith und Lucie. - -„Nun, das muß man sagen“, rief die erstere entrüstet, „in eine feine -Pension hat uns der Doktor K. gebracht! Nicht ’mal ein Kellner! Der -Wirt wartet selbst auf; ein Mädchen mit einer dicken, rotgestreiften -Schürze bringt die Speisen herein, -- und dieser Küchenzettel! Nein, -- -und Lucie, sieh hier dieses Möbel!“ - -Lucie mußte auch lachen, als sie sich im Zimmer umsah; es war -weißgestrichen mit einer grauen Kante und kleinen, grünen Blumen. In -der Ecke desselben stand ein mächtig großer, zweithüriger Schrank, -himmelblau angestrichen, an der Seite mit den schönsten Blumen- -und Fruchtstücken in den leuchtendsten Farben verziert, vorn die -Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall deutlich abgebildet. Ein Sofa -hatte das Zimmer nicht, aber zwei Betten mit guten Matratzen und einen -alten, bequemen Lehnstuhl, mit buntem Kattun überzogen, in dem Fanny -behaglich saß. - -„Ich weiß nicht, Judith, mir gefällt alles sehr; es ist einmal anders -wie sonst, und es schmeckt mir viel besser, als jemals zuhause!“ -Martha hatte Ähnliches gedacht; die Aufwärterin mit ihrem guten, -teilnehmenden Gesichte erschien ihr viel gemütlicher als ein befrackter -Kellner, und ein Blick aus dem Fenster ließ die Dekorationen im Inneren -des Zimmers nur wenig vermissen. - -Am Nachmittag ging Fanny mit in den Speisesaal; sie waren heute noch -allein darin, weil die anderen Gäste ausgeflogen waren. Frau v. -Märzfeld betrachtete mit sehr unzufriedenen Blicken die Tischdecke aus -braungeblümtem Kattun, aber was darauf stand: Kaffee, Milch, Weißbrot, -Butter und Honig, das war unübertrefflich. Noch bevor es ans Auspacken -ging, erschien der Arzt. - -„Mein bester Doktor“, sagte Frau v. Märzfeld, nachdem man sich ins -gemeinsame Wohnzimmer zurückgezogen hatte, „in was für eine Pension -haben Sie uns gebracht! Sollte es in dem großen Heyden keine elegantere -und anständigere geben?“ - -„Gewiß haben wir elegantere, gnädige Frau; für anständig halte ich -aber diese sehr, und ich weiß keine, die ihre Patienten gewissenhafter -und besser versorgt; überdem ist hier gerade die Luft und die Aussicht -besonders schön; ich dachte, es würde unserer jungen Patientin hier -wohl sein. Wie steht es damit, Fräulein?“ fragte er, zu Fanny gewendet. - -„O, mir gefällt’s ganz gut!“ sagte diese; „ich möchte gar nicht fort -von hier!“ - -„Glauben Sie, daß ich meine Tochter mit ihrer Erzieherin bei diesen -Leuten allein zurücklassen kann?“ - -„Gewiß, es sind ganz zuverlässige Wirte, und das Dienstmädchen, die -Anna aus Oberösterreich, die ist ein wahrer Schatz; je kränker einer -ist, desto lieber hat sie ihn.“ - -„Dann werde ich mich nur wenige Tage hier aufhalten; ich bin in der -That ganz andere Umgebungen gewohnt!“ - -Es blieb dabei! Am zweiten Morgen nahm die Mama mit den beiden ältesten -Töchtern Abschied, um eine größere Reise anzutreten nach den schönsten -Punkten der Schweiz. Fanny winkte ihnen mit ihrem Taschentuche -Grüße zu, die sie freundlich erwiderten; Martha sah ihnen nach mit -sonderbaren Gedanken und Gefühlen: sie war noch in den Jahren, wo -man sich gern Illusionen macht! Nach der Schweiz, nach der Schweiz -hatte ihr Sinn gestanden, so lange sie lebte; und nun war sie hier, -festgebunden an diesen zwar lieblichen, aber wenig großartigen Fleck. -Da Fanny jetzt kein Mädchen hatte, wagte sie auch nicht auf Stunden -dieselbe zu verlassen. Sie war gefesselt an den Rollstuhl ihrer -Schülerin, den ein dazu gemieteter Diener jeden Morgen zum Trinkplatz, -jeden Nachmittag zu dem kleinen Gehölze hinausschob, in welchem man zur -Bequemlichkeit der Sommergäste Wege und Bänke angelegt hatte. Es war -dies fast der einzige Ort, wo man im Schatten wandeln konnte! Es ist -schwerer als man denkt, mit voller Gesundheit und rüstiger Kraft mitten -hinein gesetzt zu sein in eine so schöne Natur, zu wissen: dürftest du -jetzt eine Stunde oder zwei steigen, so hättest du alle Herrlichkeit -der Alpenwelt vor Augen, nach der du dich lebenslang gesehnt; und dann -all dies Verlangen zügeln zu müssen, ja, es verbergen vor den Augen -eines geliebten Kranken! - -Martha strebte hiernach mit dem besten Willen; aber ungerufen tauchten -wieder und wieder Gedanken in ihr auf, deren sie sich schämte. - -„Warum muß ich nur hier sitzen bei der kleinen Kranken? würde ich -nicht mehr Genuß haben an den Bergen, Gletschern und Seen als Frau -v. Märzfeld und Lucie, die schließlich doch nur nach den Außendingen -fragen?“ - -Es sitzt in jedem natürlichen Menschen, wenn auch noch so verborgen, -ein kleiner Sozialdemokrat. Man mag nur auf sich achten! Man ist -darum noch nicht zufrieden und genügsam, wenn man prächtige Kleider, -feine Speisen, eine bequeme Lebensweise gern entbehrt; dies ist für -manche Naturen gar nicht schwer; aber fast für jeden giebt es einen -Punkt, nach welchem seine Wünsche besonders lebhaft gehen, nach dem -seine innerste Neigung gerichtet ist; gewöhnlich faßt der liebe Gott -in der Lebensschule seine Kinder bei diesem Punkte an, und nur wenn -es gelingt, sich zu unterwerfen und den innern Rebellen zu besiegen, -giebt es vollen Frieden in der Brust. Martha hatte an Fanny ein gutes -Vorbild. Seitdem ihre Sehnsucht nach genügender Teilnahme, Unterhaltung -und Beschäftigung gestillt war, konnte man nicht zufriedener sein als -sie. Heyden brachte ihr überdies eine Menge neuer Eindrücke, die sie -fortwährend anregten und erheiterten. - -Am Morgen zwischen sechs und sieben Uhr kam der „Schottenfranzerl“ --- Schotten nennt man dort die Molken -- mit seiner heißen Butte von -der Ebenalp herunter, doppelte wollene Decken zwischen der Butte und -dem Rücken, damit er sich nicht verbrenne. Zwischen zwei und drei Uhr -morgens ging er vom Säntis weg, um sechs Uhr erschien er in Heyden -- -welch eine beschwerliche Tour! nur die stärksten Männer konnten dazu -verwendet werden. Der Franz sah gar schön aus, wenn er mit seiner -Last so leicht auftrat, als ginge es zum Tanze; den spitzigen Hut mit -der Auerhahnfeder auf dem Kopfe, unter der roten Weste den breiten -Ledergurt, auf dem das liebe Hornvieh sich im blanksten Messing -getrieben präsentierte, ein Abzeichen seines Standes. Die Molke war -beim Ausschenken noch zu heiß, um sie sogleich zu trinken, und Fanny, -die so viel Sinn für Humor hatte, belustigte sich im stillen über -die verschiedenen Auffassungen und Anstrengungen der Gäste bei ihrem -Genusse. Einige schluckten verdrießlich und widerwillig, andere, -als besorgten sie die wichtigste Arbeit ihres Lebens; noch andere -scherzten und lachten dabei; und je besser Luft und Kur ihr bekamen, -je größer die Strecken wurden, welche sie jetzt an Marthas Arme -zurücklegen konnte, desto mehr Lust bekam sie, sich dem heiteren Teile -der Gesellschaft zuzugesellen. Das Frühstücksnäpfchen mit der braunen -Mehlsuppe darin hatten beide Mädchen zuerst sehr bedenklich angesehen, -doch redete die Anna aus Oberösterreich zu: „Esse Sie nur, ’s ischt -gut, ’s ischt sehr gut!“ Sie aßen und es bekam ihnen wohl. - -Bei ihren kleinen Reisen durch den Ort zogen die Gardinenweberinnen, -die man durch die niedrigen Fenster arbeiten sehen konnte, meist -noch junge Mädchen, ihre Aufmerksamkeit auf sich; auch die alten, -ungemein sauber gekleideten Weiblein, die Gardinen stickten, und -die geschickten Stickerinnen, welche die superfeinen Taschentücher -und Kragen lieferten, die „beim Sturzenegger“ auslagen. Manche -Regenstunde wurde dort in dem anziehenden Geschäfte zugebracht, manches -Geldstück wanderte aus Fannys Sparbüchse, indem sie sich hier mit -Geburtstagsgeschenken für Mutter und Schwestern versorgte. - -Eine neue Freude war ihr der Sonntag; sie hatte in M. nicht mit zur -Kirche gehen können; hier in Heyden kam der Wirt am Sonntagmorgen, -brachte jedem seiner Gäste ein Gesangbuch und teilte mit, um neun -Uhr werde man zur Kirche gehen. Nun wurde ihm von manchem Gaste das -Gesangbuch dankend zurückgegeben; das nahm er freundlich und ruhig hin; -er hatte nun seine Schuldigkeit gethan. - -Martha und Fanny, letztere in ihrem Rollstuhle, schlossen sich gern dem -Zug der Kirchgänger an, den der Wirt anführte. Obgleich die ziemlich -neue Kirche nur Stahlglocken hatte, erschien es doch beiden Mädchen, -als hätten sie nie so etwas Schönes gehört als dies Geläute, wie es in -der frischen Morgenluft über den blauen See hinüber klang; so recht -volle Sonntagsfreude zog in ihre Herzen ein, und sie lernten bald -sich zurechtfinden in dem vollen vierstimmigen Gemeindegesang. Auch -der Pastor verstand es wohl, die Herzen auf das Eine hinzuweisen, was -notthut, und so meinte Fanny, der Sonntag könne wohl in der ganzen Welt -nicht so schön sein, wie hier oben in Heyden. - -Des Abends, wenn die anderen Hausgenossen teils noch promenierten, -teils nach dem Kurhause gegangen waren, um in größerer Gesellschaft zu -sein, saßen unsere beiden Mädchen mit dem Wirt, der Wirtin und der Anna -aus Oberösterreich vor der Thür oder im Zimmer; der Wirt hatte dann -eine blaue Schürze um und rüstete mit seiner Frau zusammen das Gemüse -oder Obst für den anderen Tag, wobei Martha gern half; eine Köchin -gab’s in der Pension nicht. Dann erzählte der Wirt aus seinem bewegten -Leben. Er stammte aus Vorarlberg, war schon als Knabe hinausgezogen -ins Land mit Quirlen und Löffeln, hatte Menschen, Gegenden und -Verhältnisse kennen gelernt, und seitdem er die Margaret in St. Gallen -zuerst gesehen, da war er sehr sparsam geworden und hatte es zuletzt -so weit gebracht, sich in Heyden ein Häuschen zu kaufen, in das er -diese Margaret geführt; aus dem Häuschen war ein Haus geworden und eine -bekannte und angesehene Pension. Beide Mädchen hörten ihm gern zu; -Martha machte die Bemerkung, daß man mit offenen Augen und gesundem -Sinne auch ohne Bücher recht viel lernen kann. - -Die Pension hatte sich indessen mehr und mehr mit Fremden gefüllt; -mittags erschienen außerdem noch Gäste aus dem Ort, und da sie aus -aller Herren Ländern zusammenkamen, wurde die Unterhaltung abwechselnd -französisch, englisch und deutsch geführt. - -Marthas Nachbar war ein Amerikaner, der sich englisch mit ihr -unterhielt. Fanny hatte zwar einige englische Stunden gehabt, es aber -nicht so weit gebracht, den Fremden zu verstehen, und da er sehr -interessant zu erzählen pflegte, so übersetzte es Martha gewöhnlich -ihrem Zögling. - -Eines Mittags bemerkte es der Fremde: „O, ich kann es der kleinen Dame -gleich deutsch erzählen.“ - -„Sie sprechen nicht wie ein Ausländer“, sagte Martha. - -„O, ich stamme aus Deutschland, bin freilich schon in der Jugend nach -den Vereinigten Staaten gegangen, und hätte gewiß meine Muttersprache -verlernt, wenn ich mich nicht mit meinen Nachbarn Eichhorn und Kraus in -St. Joseph grundsätzlich nur deutsch unterhielte.“ - -Kraus! St. Joseph! Ach, das mußte Siegfrieds Onkel sein! - -„Stammt Ihr Nachbar Kraus aus Sachsen?“ - -„Ja wohl, aus der Nähe von Leipzig.“ - -Marthas Herz klopfte, sie konnte kaum sprechen. - -„Ich kenne einige Glieder seiner Familie; geht es ihm wohl?“ - -„Sehr wohl“, sagte der Nachbar. „Er hat vor etwa fünf Jahren in seinem -Alter noch geheiratet und hat jetzt zwei prächtige Buben.“ - -Es wurde Martha schwer, weiter zu fragen; aber die Qual der Ungewißheit -war zu groß. - -„Ich hörte, er habe sich seinen Neffen nachkommen lassen!“ - -„Dies muß ein Irrtum sein; ich habe ihn vor meiner Abreise noch -besucht; er hatte niemand bei sich als seine Frau und Kinder, hat auch -nie von einem Neffen gesprochen. Doch -- warten Sie! Ja, vor langer -Zeit, ehe er heiratete, sagte er mir, er habe einen Neffen gebeten, zu -ihm zu kommen, aber der Schlingel wollte nicht.“ - -Arme Martha! Für das, was man nun noch sprach, war sie taub und gab dem -Nachbar einige recht verkehrte Antworten. Was war das? War Siegfried -unterwegs verunglückt? Hatte er von der Verheiratung des Onkels gehört -und sich wo anders hingewendet? Bis jetzt hatte sie wenigstens für -ihre Gedanken einen Zielpunkt gehabt, die Gegend, in welcher sein -Onkel sich niedergelassen; nun war auch dies vorüber. Ach, so oft -hatte sie versucht, sich innerlich gefaßt zu machen auf ein Leben ohne -ihn; jetzt merkte sie, wie die Hoffnung im Hintergrunde ihres Herzens -immer noch gewohnt und ihre Zauberfäden gesponnen hatte. Sie sehnte -sich ganz unaussprechlich nach einem Wesen, dem sie sich mitteilen, -bei dem sie sich ausweinen könnte. Sie ergriff die Feder, um Suschen -alles zu erzählen; da kam der Briefträger und brachte ihr einen Brief -der Freundin. Sie zeigte den Tag ihrer Hochzeit an und bat, daß Martha -ihrer fürbittend gedenken möge, da sie doch leider, leider nicht -dabei sein könne. Auf diesen Brief konnte sie keine klagende Antwort -schicken; er war so glücklich, so strahlend glücklich bei allem Ernst. - -Fanny ruhte auf ihrem Lager, wie gewöhnlich nach Tische, Martha schlich -sich ins grüne Hausgärtchen; nicht weit vom Bienenstand war eine Laube, -da konnte sie sich ausweinen. - -Ach, ihre Thränen flossen unaufhaltsam! All’ die zurückgedrängte -Sehnsucht der letzten Jahre wollte zu ihrem Rechte kommen. Sie -schluchzte wie ein Kind und erschrak sehr, als der Eingang der Laube -durch einen Schatten verdunkelt wurde. Es war nur die Anna. - -„Haben das Fräulein Kummer?“ - -„Ja, Anna, den hab’ ich!“ - -„Ist Euch was Liebes tot, oder sollt Ihr Euer Schatzerl nit haben? -Sagt’s den lieben Heiligen, die hab’n schon oft geholfen. Jetzt hab’ i -halt kai Zeit zum Bete; aber wenn i na Haus komm’, will ich’s wohl der -heiligen Anna sagen; die ist sehr gut und hilft schon!“ - -Martha hätte sagen können, daß sie lieber Gott anrufen solle; aber Anna -hatte eine so kindliche Zuversicht auf die heilige Schutzpatronin, daß -sie es nicht übers Herz brachte, sie darin irre zu machen; sie dachte: -wenn sie so warm und gläubig zur heiligen Anna spricht, sieht es -vielleicht der himmlische Vater an, als sei es ihm gesagt, und so sagte -sie: „Ich danke Ihnen, Anna, thun Sie das!“ - -Als aber Anna fort war, kam es doch wie eine stille Freude über sie, -daß sie ja keine heilige Fürsprecherin brauchte, daß sie konnte und -durfte gerade zu ihrem Vater gehen und ihr Herz vor ihm ausschütten; -sie that es, und das hilft jedesmal. Wenn auch ihr Herz nicht leicht -danach wurde, es wurde doch stille und ergeben, und sie konnte mit dem -warmen, aufrichtigen Vorsatze zu ihrer Pflegebefohlenen zurückkehren, -die Wolken und das Weh für sich zu behalten und so viel Sonnenschein -als möglich auf Fannys Lebensweg auszugießen. Wenn sich der Sturm im -Innern gelegt hat, tritt auch die Besinnung und verständige Überlegung -wieder in ihr Recht und entkleidet das Erlebte von allen Übertreibungen -der Phantasie. Was hatte sie denn so Schlimmes vernommen? Nur, daß -Siegfried nicht bei seinem Onkel war; konnte er nicht an irgendeinem -anderen Orte sich eine Existenz gegründet haben? War es denn unmöglich, -daß er dennoch zu ihr zurückkehrte? - -Um vieles beruhigt holte Martha ihre Schülerin ab zum Kaffee in dem -kleinen Saal. Sie fanden neue Ankömmlinge: eine sehr durchsichtig und -zart aussehende Mutter und ein rosiges Töchterchen von etwa dreizehn -Jahren; Frau Präsidentin v. B. und ihre Tochter Friedericke. - -Die beiden Kinder betrachteten sich schüchtern, aber mit sehr -vergnügten Gesichtern. Frau v. B. sah mit mütterlicher Teilnahme -auf das zarte, hilfsbedürftige Mädchen, und nachdem es Martha ihrem -Zöglinge so bequem als möglich gemacht, veranlaßte sie die gegenseitige -Vorstellung. - -„Siehst du, Friedericke, da ist ja ein junges Mädchen, wie du es dir -gewünscht hast.“ - -Friedericke nickte. - -„Ich kann freilich noch nicht mit herumspringen“, sagte Fanny, „aber -ich lerne es bald; ich kann jetzt schon vom Freihof bis zur Kegelbahn -laufen.“ Dabei sah sie sehr stolz und glücklich aus. - -Frau v. B. erkundigte sich sehr teilnehmend nach dem Leiden der Kleinen -und erfuhr, daß sie von hier nach Ragatz oder Pfäffers gebracht werden -sollte. - -„Ach, wenn es doch Pfäffers wäre“, rief Friedericke; „dort badet Mama -einige Wochen, und dort ist es so -- ach so -- ich weiß gar nicht, wie -ich sagen soll -- so geheimnisvoll und schauerlich und doch so schön! -Man wohnt eigentlich bei den Erdgeisterchen selber. Ach, Fanny, bitte -immer zu, daß ihr nach Pfäffers kommt; es wird so sehr hübsch sein, -dort Gesellschaft zu haben.“ - -Friederickens lebhafte Schilderungen waren ganz dazu gemacht, Fannys -Verlangen nach dieser Wunderwelt zu steigern, und sie hoffte ihre -Mutter zu überreden, auf ihre Wünsche einzugehen. - -Es war sehr ergötzlich, zu sehen, wie die beiden Kinder sich mit -jedem Tage näher kamen. Friedericke kannte bald keine größere Lust, -als ihrer schwachen Gefährtin all’ die kleinen Dienste zu leisten, -deren sie bedurfte, sie an ihrem Arm auf ihr Zimmer zu führen oder -aus demselben abzuholen. Fanny ließ sich das sehr gern gefallen, -aber der Wunsch erwachte in ihr, es vergelten zu können, und als die -Präsidentin eines Tages sehnend nach ihrer Handarbeit ausschaute, -welche auf einem fernen Tische lag, stand sie leise und unbemerkt auf -und fühlte mit innerlichem Frohlocken, daß es nicht mehr zu schwer für -sie war, dieselbe zu holen und der Eigentümerin zu bringen. Diese sah -sie überrascht und sehr erfreut an, aber das Kind erglühte förmlich -in Wonne; es war das erste Mal, daß sie jemandem einen Dienst hatte -leisten können. - -Die Unterrichtsstunden mußten natürlich hier in freierer Gestalt -gegeben werden wie zuhause, aber Martha hatte sie nie ganz fallen -lassen. Jetzt fragte Frau v. B., ob Friedericke nicht daran teilnehmen -dürfe; sie war natürlich viel weiter, aber immerhin ließen sich -Gegenstände auffinden, die beide Kinder gleichmäßig interessierten, und -Martha fand, daß die Gemeinschaft ein herrlicher Sporn für Fanny war. - -Frau v. Märzfeld und ihre Töchter hatten häufig Nachricht gegeben; sie -hatten den Züricher See besucht, den Vierwaldstädter See mit seinen -herrlichen Umgebungen, auf dem Rigi mehrere Tage zugebracht, und waren -jetzt seit einigen Wochen in Montreux am Genfer See. - -„Aber nun“, schrieb Lucie, „kommen wir auf dem nächsten Wege. Wir -sehnen uns nach dem Kinde und etwas mehr Ruhe, und werden im Laufe -der nächsten Woche eintreffen, um mit Euch nach Ragatz oder Pfäffers -überzusiedeln.“ - -Fanny jubelte, und auch Martha, obgleich sie sich sagen mußte, daß ihr -Leben ferner nicht in so angenehmer Ruhe verlaufen werde, wie es jetzt -der Fall war, freute sich doch mit aufrichtigem Herzen darauf, der -Mutter und den Schwestern die Fortschritte zu zeigen, welche des Kindes -Genesung inzwischen gemacht hatte. - -Ein wunderbar schöner Tag stieg nach mehreren recht unfreundlichen -über Heyden auf; die sämtlichen beweglichen Pensionsgäste beschlossen -eine Tour auf den Kaien zu machen, unter Führung ihres Wirtes; da oben -sollte eine herrliche Aussicht auf das Gebirge sein. Marthas Herz -schlug in großem Verlangen. Eine Stunde vor Tische ließ Frau v. B. sie -rufen. - -„Mein liebes Fräulein Martha“, sagte sie, „ich habe eine große Bitte. -Mein Kind ist nun schon wochenlang hier und hat noch keinen Blick aufs -Gebirge gehabt. Ich möchte ihr so gern den Spaziergang heute gönnen, -aber sie nicht allein mit den fremden Gästen gehen lassen. Ihr kleiner -Zögling brennt ebenfalls vor Verlangen, Ihnen den Genuß der Bergfahrt -zu verschaffen; und so haben wir uns zusammen ausgedacht, wir wollten -diesen Nachmittag tauschen: Sie nehmen meine Wilde unter Ihren Schutz -bei der Bergbesteigung, und Fanny kommt als meine Tochter zu mir, bis -Sie wieder da sind.“ - -Dies war verlockend. Es stiegen wohl Bedenken in Martha auf: „Wenn ich -nur hätte Frau v. Märzfeld fragen können!“ Aber das ging ja nicht. -Fanny und Friedericke baten und drängten; sie selbst war überzeugt, -daß Frau v. B.s Aufsicht die ihrige überreich ersetzte. Ach, und sie -war so glücklich in Erwartung der Gebirgsaussicht -- sie gab nach und -ging mit. Der Wirt führte so an der Berglehne hinauf, daß man unterwegs -keine andere Fernsicht hatte als den Rückblick auf Heyden; der Pfad -war meistens sehr steil und oft schattenlos; die Sonne brannte, aber -die Aussicht winkte und die Gesellschaft überstand die Strapazen mit -fröhlichem Mute. Jetzt noch durch dies Buschwerk, jetzt diesen Rand -hinauf! und Martha stand oben und legte die Hände zusammen und ihre -Augen füllten sich mit Thränen, denn sie umfaßten in ihrem engen Rahmen -ein Bild, wie es die Phantasie nicht schöner hätte malen können. - -Da lagen sie ihr gegenüber, die Schneefelder des Säntis; da ragten die -riesigen Nachbarn desselben, der Kamor, Hohekasten, Altemann, Tödi in -die blaue Luft; weiter östlich die Vorarlberger und Lichtensteiner -Gebirge; in der Ferne die weiße Kette des Rhätikon mit der Sasaplana. -Auf der anderen Seite dehnte sich am weiten, blauen See der Thurgau -aus mit Trogen, Vöggeliseck, Speicher; darüber weit in der Ferne der -Pilatus und der Rigi. - -„O, hätt’ ich Flügel, hätt’ ich Flügel!“ - -Friedericke neben ihr sprang hoch in die Luft und stieß einen Juchzer -aus, als habe sie denselben vom Senn erlernt; Martha konnte nicht -sprechen. O, dieses eine Bild, war’s nicht genug, um lebenslang manche -einsame Stunde mit seinem Lichte zu erhellen? Sie sah und sah; sie -hätte nichts davon verlieren mögen, auch nicht das Kleinste. - -„Komme Sie doch hier hinter den Stein und nehme Sie a Schöppeli -Markgräfler!“ rief der Wirt wieder und wieder. - -Der Rat war gut, aber es dauerte lange, ehe unsere jungen Gefährtinnen -den Entschluß faßten, sich von der herrlichen Aussicht loszureißen -und Ruhe und Erquickung zu suchen. Dann war es behaglich, nach -der Anstrengung im Schatten zu sitzen, sich an den mitgebrachten -Erfrischungen zu laben und mit den Reisegenossen heitere Gespräche -zu führen. Die Gesellschaft wurde sehr vergnügt und niemand merkte, -daß sich der Himmel umzogen hatte, bis die Stimme aus den Wolken -vernehmlich zu reden anfing. Da sprang denn freilich alles auf die -Füße; noch einmal ward die Rundschau genossen, aber nur sehr flüchtig. -Das Wetter zog vom Rheinthal herauf, und der Wirt meinte, es könne „a -rechts“ Wetter werden; von da könnt’ es oft nicht über den See: „Wir -müssen auf die Sennhütten zu halten!“ - -Dies geschah ohne Besinnen; sie lagen nicht allzu weit unterhalb der -Berghöhe, und mit den ersten schweren Tropfen wurde man eingelassen -in den zwar nicht mit Bequemlichkeiten ausgestatteten, aber immerhin -trockenen und geschützten Raum. Es war sehr gut, ein Dach über sich -zu haben; der Regen fiel in Strömen nieder und prasselte auf das -Schindeldach und gegen die kleinen Fenster; der Sturm brüllte, als -wollte er das Häuschen mit sich entführen; ein leuchtender, greller -Blitz jagte den anderen und der Donner rollte majestätisch durch den -Aufruhr hin, seine Stimme pausierte höchstens minutenlang, wie um Atem -zu schöpfen. Die Gesellschaft lauschte still der großartigen Musik; -selbst Friedericke, die so gern lachte, schmiegte sich ernsthaft an -Martha an. Diese, äußerlich gefaßt und ruhig, wurde innerlich sehr -gequält durch die Sorge um Fannys Angst und infolge davon um ihre -Gesundheit. Sie sah mit Sehnsucht nach dem kleinen Streifchen Himmel, -welches zu sehen war, ob es noch nicht heller werden wollte, -- -vergebens! Wenn der Sturm eine Minute geschwiegen, brüllte er in der -nächsten mit vermehrter Gewalt; wenn die Stimme des Donners ferner zu -klingen schien, grollte sie gleich danach aus einer anderen Ecke um so -näher. Stunde auf Stunde verrann: zur Finsternis des Himmels gesellte -sich bald das Dunkel des hereinbrechenden Abends und endlich die -Finsternis der Nacht. - -Da endlich wurde es stiller; der Donner rollte ferner und ferner, -blasser und blasser leuchteten die Blitze, einzeln nur noch fielen die -Tropfen aufs Dach, dann hörte man keinen mehr. - -Man öffnete die Thür der Hütte; durch die zerrissenen Wolken blickten -einzelne Sterne, die Luft war unbeschreiblich schön und frisch, aber -der ganze Berg nur ein einziger großer Wasserfall. Der Wirt und die -Sennerin erklärten es für völlig unmöglich, hinabzugehen, bevor man -Tageslicht habe. Letztere holte frische Milch herbei, erbot sich auch, -Schmarren zu backen, wenn man es wollte. Es wurde dankend angenommen -und fröhlich verzehrt, nur Martha lag es wie ein Alb auf der Brust und -sie stieß mehrmals hervor: „Ach, wie sie sich zuhause ängstigen werden!“ - -„Ich glaube nicht so sehr“, sagte Friedericke. „Mama weiß, daß wir in -Gottes Schutz sind und bei verständigen Menschen; Anna wird ihr gewiß -von den Sennhütten erzählen, und sie werden es sich denken, daß wir -hier sind. Geben Sie acht, sie tröstet auch Fanny und läßt sie nicht -von sich.“ - -Das klang alles ganz wahrscheinlich, aber es war ihr Gewissen, das ihr -die Zuversicht raubte; das ganze Erlebnis kam ihr vor wie eine Strafe -ihrer Untreue und sie konnte sich die Folgen desselben nicht schwarz -genug ausmalen. Die Vorbereitungen zur Nachtruhe waren etwas schwierig; -die Gesellschaft bestand aus etwa zehn Personen. Die Herren mußten sich -mit ihren Plaids in der Nähe des Herdes einrichten, die Frauen wurden -oben im Heu untergebracht; dort war es sehr warm, und eine dicke, -nicht mehr junge Dame, der noch dazu die Sennerin ihr eigenes Lager -abgetreten hatte, stöhnte unaufhörlich, während zwei junge Französinnen -durchaus nicht aus dem Lachen kommen konnten. Friedericke war bald -eingeschlafen; Martha saß, sorgte, bat den lieben Gott um Vergebung und -rief ihn um Hilfe für ihren Zögling an, und erst, als der Morgenschein -durch die Ritzen des Daches drang, fielen ihr mitten in dem Gedanken: -„Jetzt können wir bald hinunter!“ die müden Augen zu, und sie erwachte -erst, als sie das muntere Gespräch ihrer Reisegefährten vernahm, die an -der offenen Thür der Hütte den Heimweg berieten. Es war ein frischer, -schöner Morgen. Zerrissene Wolkenschichten flogen, vom Winde getrieben, -am Himmel dahin; in den Thälern zog hier und da noch ein Nebelschleier -hin und her; die Berghäupter, so viel man deren hier sehen konnte, -waren frei, und das Stücklein See, das sich zeigte, strahlte im -frischesten Blau. Aus allen Klüften rieselte und rauschte es, auf allen -Halmen perlte und glänzte es; die Kühe, die eben gemolken wurden, -brüllten der Freiheit entgegen: es war ein lachendes Morgenbild; nur -der Pfad, welcher hinabführte, sah noch sehr schlüpfrig und wenig -einladend aus. - -Martha und Friedericke trugen tüchtige Bergschuhe, aber einige der -älteren Herrschaften seufzten schwer und blickten mit Grauen die -abschüssige Bahn hinunter. Nachdem man sich mit frischer Milch erquickt -hatte, ging es hinab unter manchem „Ach“ und „Weh“, unter manchem -Fallen und Wiederaufstehen; nur unsere jungen Freundinnen blieben fest -auf den Füßen und konnten zuweilen noch verzagten Seelen die Hand -reichen, um ihnen über bedenkliche Stellen fortzuhelfen. Der Senn war -soeben mit seinem Mundschenkenamte fertig, da bogen die Wanderer in die -Straßen von Heyden ein. - -Die Wirtin kam ihnen in der Thür entgegen; sie schien das Ausbleiben -des Mannes und der Gäste mit großem Gleichmut ertragen zu haben; es -mochte wohl schon öfter vorgekommen sein. - -Martha flog an ihr vorüber die Treppe hinauf und öffnete leise ihr -Zimmer. - -Mit lautem, glücklichem Aufschrei streckte ihr Fanny die Arme -entgegen, während die Präsidentin vom Lehnstuhl am Bett sich erhob und -unbeschreiblich überwacht und elend aussah. - -„Siehst du, mein liebes Kind“, sagte sie, „Gott hat die Unserigen -behütet.“ - -Friedericke, welche ihre Mutter auf ihrem Zimmer nicht gefunden hatte, -war auch hereingekommen und hing jetzt an ihrem Halse. - -„Sie haben gewiß eine recht schlimme Nacht gehabt“, rief Martha beim -Anblick der Frau v. B. „O, wie viel Vorwürfe habe ich mir gemacht, daß -wir gegangen sind.“ - -„Ja, meine kleine Pflegebefohlene war gar nicht zur Ruhe zu bringen“, -erwiderte diese, „da mußte ich mich schon entschließen, an ihrem Bette -zu bleiben; aber daß wir uns Vorwürfe machen, finde ich überflüssig; -die Sache war ja ganz verständig überlegt; wir konnten nicht wissen, -daß das Gewitter kam. Komm, kleiner Wildfang ziehe deine feuchten -Sachen aus, dann versuchen wir beide noch ein wenig nachzuschlafen. -Thun Sie das auch, Fräulein Feldwart!“ - -Martha hätte diesen Rat nur zu gern befolgt, aber Fanny war noch zu -aufgeregt: „Sie müssen mir erst alles, alles erzählen!“ - -Martha that es und versuchte dabei ein Mittel, das ihr in der Pflege -des reizbaren Kindes schon manchmal geholfen hatte: indem sie Fannys -Hand in der ihrigen festhielt, erzählte sie mit ganz eintöniger Stimme -immer breiter, immer langsamer und leiser; das wirkte wie Schlafmusik, -stimmte die überreizten Nerven des Kindes herab, und nach einer halben -Stunde schlief es so fest, daß nun auch Martha die ersehnte Ruhe fand. - -Einige Stunden ruhigen Schlafes hatten sie völlig erfrischt; sie -erhob sich leise, um das Kind nicht zu stören, sah aber mit großer -Sorge, daß Fannys Gesicht geröteter war als sonst und die Brust sich -hob in ungewöhnlich raschen Atemzügen. Es fand sich in der That, als -sie erwachte, daß sie nicht fieberfrei war; der herbeigerufene Arzt -riet, sie heute im Bette zu lassen und vollständige Ruhe um sie her zu -erhalten. Mit Bangen empfing Martha gegen Mittag das Telegramm, welches -die Ankunft der Frau v. Märzfeld für diesen Nachmittag meldete. Fanny -wollte durchaus aufstehen zu ihrem Empfange, fühlte aber freilich -gleich, daß es eine Unmöglichkeit sei. Martha war sehr betrübt darüber. -Wie sollte sie der Mutter gegenübertreten, wenn Fanny kränker wurde, -wie sich jemals wieder beruhigen? Ihr Herz schlug heftig, als die -Erwarteten eintraten. Es erschien ihr als die einzige Sühne, der Mutter -sofort den Hergang zu erzählen. Sie that es, aber sie that es nicht -völlig; sie verschwieg, wie sie von der Präsidentin und Fanny dazu -überredet worden war. - -Frau v. Märzfeld sah sie sehr befremdet von oben herab an: „Das hätte -ich Ihnen nicht zugetraut, Fräulein Feldwart! Sie sehen, was von Ihrem -Leichtsinn kommt; möglicherweise steht Fannys ganze Genesung auf dem -Spiel.“ - -Martha weinte: „Ja, gnädige Frau, es soll mir eine sehr bittere Lehre -sein; ich werde niemals, niemals mehr von Fanny fortgehen!“ - -„Das will ich sehr hoffen; ich könnte Sie auch sonst niemals mehr mit -dem Kinde allein lassen.“ - -Wahrscheinlich wäre aus diesem Auftritte bei Frau v. Märzfeld dauernde -Erkältung erwachsen, wenn sich nicht gegen Abend die Präsidentin ihr -hätte vorstellen lassen, um ihr den richtigen Verlauf der Sache zu -erklären. Sie nahm alle Schuld bereitwillig auf ihre Schultern und -unterließ es nicht, sich offen darüber auszusprechen, daß es wohl -eigentlich Schuldigkeit sei, einem so aufopfernden Wesen wie Martha -mitunter ein Aufatmen und eine Erholung zu gönnen. Die Präsidentin -verkehrte in den höchsten Kreisen; sie war eine sehr angesehene, auch -äußerlich vornehm erscheinende Persönlichkeit; deshalb verfehlten ihre -Worte nicht, den beabsichtigten Eindruck zu machen, um so mehr, als -Fanny am anderen Morgen nach einer ruhigen Nacht so ziemlich wieder die -Alte war. - -Mit Erstaunen sahen ihre Mutter und Schwestern ihre Beweglichkeit, mit -noch größerem ihre Heiterkeit, ihren Humor, die Lebhaftigkeit, mit der -sie sich für jedes Gesprächsthema interessierte, und dies mußte wohl -ein freundliches Licht auf Marthas Pflege und Erziehung werfen. - -„Und nun“, sagte Frau von Märzfeld, „will ich euch auch eine große -Neuigkeit mitteilen: Wir haben eine Braut hier im Zimmer; ratet: wer?“ - -Fannys Augen hatten schon mit Staunen den Goldreif an Luciens Hand -gesehen; sie rief: „Lucie, Lucie! aber mit wem?“ - -Sie war mit Graf T. verlobt; er war mit ihnen am Genfer See -zusammengetroffen, hatte dort nach einigen Tagen um Lucie angehalten, -und diese freudig und überrascht aus warmem Herzen „Ja“ gesagt. - -Martha war auch überrascht; sie hatte Graf T. oft in der Familie -gesehen. Er hatte ihr stets einen ernsten und Vertrauen erweckenden -Eindruck gemacht, er teilte aber seine Aufmerksamkeiten stets -gleichmäßig zwischen beiden Schwestern, und man glaubte in M. -allgemein, er werde sich mit Judith verloben, welche die ältere und -bedeutendere von beiden war. Martha begriff es, daß er sich dies warme -und anmutige Wesen gewählt hatte, das jetzt eine strahlend glückliche -Braut zu sein schien. - -Judith sah sehr ernst aus und war fast unnahbarer als sonst. Die Mama -erzählte, der Bräutigam sei jetzt nach Ragatz gereist, um eine Wohnung -dort zu besorgen. - -„Aber Mama!“ rief Fanny sehr unglücklich, „ich will ja nach Pfäffers!“ - -Friedericke stand dabei: „Ach ja, bitte, nach Pfäffers, da gehen wir -auch hin, und da wohnen wir ganz und gar bei den Erdgeisterchen, die -machen dann Fanny wieder gesund!“ - -Frau v. Märzfeld lachte: „Fragen wir den Arzt!“ - -Der meinte, Ragatz thäte vielleicht dieselbe Wirkung; aber es gäbe -viele Kranke, welche die Bäder so nahe an der Quelle für heilkräftiger -hielten. Die Einrichtungen wären in Pfäffers sehr gut, und er riete der -Frau v. Märzfeld, ihre kleine Patientin dort anfangen zu lassen; sollte -es sich zeigen, daß Luft und Sonne ihr zu sehr fehlten, könne sie ja -jeden Tag nach Ragatz übersiedeln. - -Als für Martha und Fanny Wohnung in Pfäffers bestellt werden sollte, -erklärte zu aller, am meisten zu Marthas Erstaunen Judith, sie möchte -mit nach Pfäffers gehen, sie habe sich dies lange gewünscht, und fügte -sehr entschieden hinzu: „Wir können uns dann ablösen in Fannys Pflege -und jede von uns kann mitunter spazieren gehen.“ - -Wäre ein Stückchen Himmel eingefallen, so hätte Martha nicht -verwunderter aussehen können. Von Judiths Gerechtigkeitssinne hatte sie -schon mehrmals Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, auch von ihrer -Fürsorge für Fanny; aber Freundlichkeit und Rücksicht für sie -- dies -war Martha ganz neu. Sie kam wohl der Wahrheit ziemlich nahe, wenn sie -vermutete, daß es für Judith vielleicht jetzt nicht leicht sei, in der -unmittelbaren Nähe des Brautpaares zu leben. Aber die Sache hatte noch -einen anderen Grund. Judith liebte Graf T. nicht; ihr Herz war nicht -getroffen durch seine Verlobung, ihr Stolz um so härter; sie fühlte -sich zurückgesetzt und gedemütigt und fing an, ein wenig mit anderen -zu fühlen, denen dasselbe begegnete. Marthas Einwirkung auf Fanny und -besonders ihre Heiterkeit und Geduld in der Pflege derselben erfüllte -sie mit Achtung; Frau v. B.s offene Herzensergießung hatte ihr vollends -die Augen geöffnet; sie kam entschieden zu der Einsicht, daß sie Martha -nicht behandelt hatte wie es billig und freundlich war, und ihre Ehre -schien es zu fordern, dies so viel als möglich wieder gut zu machen. - -Martha und Fanny wären lieber mit der Präsidentin und ihrer Tochter -allein gewesen; aber Fanny erkannte die freundliche Absicht, und -Martha wußte, daß Gott uns die Menschen zuweist, mit denen wir leben -sollen, und daß wir es vor ihm zu verantworten haben, wenn wir sie mit -Kälte und Gleichgültigleit von uns stoßen; so kamen sie beide Judiths -Wünschen freundlich entgegen. - -Die Reise durch das schöne Rheinthal machte allen, besonders den -beiden, die noch nicht gereist waren, die größte Freude. Da sieht man -die Bergriesen auf beiden Seiten ragen: Säntis, Kamor, Hohekasten, -Altemann grüßen herunter; an der anderen Seite des Thales erheben -sich, steil ansteigend, die österreichischen Berge, während die grünen -Matten des Thals das Auge erfreuen und im Hintergrunde die Kalande die -Aussicht abschließt. - -Fanny blieb in einem Jauchzen, bis der Zug in Ragatz hielt und der neue -Schwager sie liebevoll aus dem Wagen hob, um sie als sein Schwesterchen -zu begrüßen. Als man sich ein wenig erquickt hatte, sollten die Gäste -für Pfäffers erst an Ort und Stelle gebracht werden. Es wurden zwei -Wagen genommen; in dem einen saß die Mama mit dem Brautpaar, im anderen -Judith, Martha und Fanny. - -Welch wunderbarer Weg, stellenweise fast schauerlich! Die Straße -ist dem Felsen abgewonnen; sie führt dicht am Ufer der Tamina hin. -Dies brausende, weißschäumende Gebirgswasser strömt daher über -schwarzbraunes Felsgestein; an einigen Stellen so tief unter der -schmalen Fahrstraße, daß es den darauf Fahrenden wohl ein wenig -schwindelig werden kann. Zu beiden Seiten steigen hohe, fast senkrechte -Felswände empor, so coulissenartig in- und voreinander geschoben, -daß man stets glaubt, in einen engen Kessel eingeschlossen zu sein. -Staubbäche, in Millionen kleine, feine, leuchtende Tröpfchen geteilt, -ergießen sich von ihrer Höhe in die Tamina, mit so graziösem, kühnem -Schwunge, daß sie über der Fahrstraße einen glänzenden Bogen bilden, -unter welchem dieselbe völlig trocken bleibt. Oben an den Felsen -glühte und zitterte noch das Sonnenlicht und tauchte die wallenden -Wasserschleier in Regenbogenfarben, während über der Tamina die -bläulichen Schatten des späteren Nachmittags lagen, denn nur von zehn -bis vier Uhr vermag in den längsten Tagen die Sonne die Thalsohle zu -erreichen. - -Fanny schmiegte sich an Martha mit glühenden Wangen; es war ihr ein -wenig bange zwischen dem schäumenden Abgrund und dem starren Fels. - -„O, wie groß und schön!“ sagte Martha. - -„Ja, groß ist dies wirtlich“, erwiderte Judith, „schauerlich groß! Ich -graule mich ein wenig hier; Sie auch, Martha?“ - -„Nein!“ rief diese ernst und zuversichtlich. „Ich weiß, der diese Erde -gründete und diese Felsschlucht auseinanderriß, der diesem Wasser rief -und es herniederbrausen läßt, der ist mein Vater, hält mich in seiner -liebevollen, starken Hand und hat die Haare auf meinem Haupte alle -gezählet. Das ist so tröstlich zu denken, man wird so still dabei und -möchte doch Psalmen singen tief aus dem Herzen heraus.“ - -Judith sah sie ernst und wehmütig an: „Mir ist anders, ich habe das -Gefühl: dieselbe Gewalt, die vor Jahrtausenden diese Spalten entstehen -ließ, kann jederzeit wieder daran rütteln; mir ist, als könnten Himmel -und Erde in Stücke gehen, und ich fühle gleichsam schon ihr Beben.“ - -„Das werden sie ja auch einmal“, sagte Martha freundlich, „aber dann -kommt der neue Himmel und die neue Erde, wo alles nur Friede und Freude -ist.“ - -Sie sprachen nun nicht mehr, aber Fanny hatte sich fest in Marthas Arm -geschmiegt; sie schaute und schaute, auf ihren Wangen blühte zartes -Rot auf und ihre Augen leuchteten. Auch Judiths Augen wurden immer -größer und ernster und zuweilen senkten sich die Lider darüber, um -aufsteigende Thränen zu verhüllen. Es war allen befremdlich, wenn -einmal der vorausfahrende Wagen in einen solchen Winkel zu dem ihrigen -kam, daß man heiteres Gespräch und fröhliches Lachen daraus vernahm; -und doch ging dies natürlich zu: das bräutliche Glück überstrahlte -selbst diese großartige Scenerie. Es kommt ja bei der Wirkung äußerer -Eindrücke alles darauf an, wie es in dem kleinen Herzensspiegel -aussieht, in dem sie sich abbilden. - -Als man vor den Gebäuden von Bad Pfäffers ausstieg, die, eingeklemmt -zwischen die Felswände und jetzt vom letzten Sonnenstrahl in ihrer -oberen Hälfte eben noch erreicht, auf den ersten Anblick einen mehr -düsteren als angenehmen Eindruck machten, sahen sich die Insassen -beider Wagen fragend an; das Ganze glich sehr einem natürlichen -Gefängnis. Aber sie wurden freundlich hereingeführt, zunächst in die -für die neuen Badegäste bestimmten Zimmer. In der Mitte lag eine -größere gemeinsame Wohnstube, rechts ein Schlafzimmer für Judith, -links eins für Martha und Fanny. Die Zimmer waren bequem und sauber -eingerichtet und die künftigen Bewohnerinnen erklärten sich damit -zufrieden. - -Die Badeeinrichtungen fand man ganz besonders blank und nett, und als -man in eines der Versammlungszimmer trat, um den Kaffee da zu genießen, -erhob sich am oberen Ende des Tisches ein vornehm aussehender Herr -mit weißen Haaren und stellte sich als General E. aus Württemberg -vor, zugleich als Bruder der lieben Präsidentin, die jährlich mit ihm -hier zusammentreffe und die er morgen gegen Mittag mit ihrer Tochter -Friedericke erwartete. Da war die Bekanntschaft schnell gemacht, -und als Frau v. Märzfeld mit ihrem Brautpaar abfuhr, saßen die drei -Zurückbleibenden zutraulich neben ihrem neuen Beschützer, erzählend und -hörend, als wären sie schon längst miteinander bekannt. Selbst Judith -gab der süddeutschen Treuherzigkeit gegenüber ihr steifes Wesen auf. -Der Gang in die Schlucht, in welcher die Heilquellen entspringen, wurde -bis morgen verschoben, da man ihn nicht ohne Fanny, die von der Reise -angegriffen war, ja, womöglich auch nicht ohne Friedericke thun wollte, -welche sich schon in Heyden darauf gefreut hatte, ihrer Freundin diese -Wunder zu zeigen. - -Als die Dunkelheit völlig hereinbrach, erschienen sehr -verschiedenartige Gestalten im Gesellschaftszimmer; nur die wenigsten -schienen den höheren Ständen anzugehören; der vermögende Teil -der bäuerlichen Bevölkerung aus der Schweiz und Oberösterreich -war reichlich vertreten, und Judith sah sich mit nicht eben sehr -wohlgefälligen Blicken um unter dieser Umgebung. Ihr Staunen stieg, -als sie den ungenierten, vertrauten, heiteren Ton gewahrte, in welchem -sich der General mit den Leuten unterhielt und auf all’ ihre Interessen -einging. - -„Hier“, dachte sie, „wird es schwer sein, seine Stellung zu wahren“, -und als ein behäbiger, freundlicher Österreicher sie fragte: „Wird es -den schönen jungen Damen nicht zu einödig hier sein?“ erhielt er eine -so kurze, ablehnende Antwort, daß Martha froh war, als Fannys Müdigkeit -sie sämtlich nötigte, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen. - -Als Fanny ruhte, saßen Judith und Martha noch eine halbe Stunde im -Wohnzimmer beisammen. - -„Ist das nicht schrecklich hier?“ rief Judith; „nimmt sich so ein -Mensch heraus, mich anzureden, ohne daß ich es ihm erlaubt habe! Und -dieser General! Gehört zu den ersten Kreisen in Württemberg und spricht -mit diesen Menschen, als wären sie seinesgleichen!“ - -„Ich glaube, Fräulein Judith, das Badeleben bringt auf ganz natürliche -Weise den freieren Ton mit; alle sind hier um ihrer Leiden und -Gebrechen willen, alle suchen Hilfe aus derselben Vaterhand und an -derselben Quelle, alle sind eingeschränkt auf kleinen, engen Raum. -Aber wenn Sie eingehend beobachten wollen, werden Sie finden, daß sich -niemand gegen den Herrn General etwas Zudringliches oder Ungeschicktes -erlaubt; er ist bei all’ seiner Leutseligkeit eine so wahrhaft vornehme -Erscheinung, daß dies keiner ihm gegenüber vergessen oder verkennen -kann!“ - -Judith seufzte; sie hatte doch auch gedacht, eine vornehme Erscheinung -zu sein und war sehr unbefriedigt von dem ersten Abend. - -Martha fand ihren Pflegling noch mit großen, offenen Augen. - -„Hören Sie nur, wie die Tamina rauscht!“ flüsterte Fanny. „Ach, bitte, -lesen Sie noch einen Psalm oder ein Lied zur ‚Gute Nacht!‘“ - -Martha griff nach der Bibel und las den 121. Psalm: „Ich hebe meine -Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt; meine Hilfe kommt -von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“ -- bis zum Schluß: „Der -Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele; der Herr behüte -deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Dann betete sie -den Vers: - - Wenn der Wellen Macht - In der trüben Nacht - Will des Herzens Schifflein decken, - Wollst du deine Hand ausstrecken; - Habe auf mich acht, - Hüter in der Nacht! - -Martha ging noch einmal ins Wohnzimmer zurück, ihre Arbeit zu -holen, und fand da Judith noch, die mitten im Zimmer stand und sich -gedankenvoll auf den großen Eichentisch stützte. Jetzt blickte sie auf -und sagte fast weich: „Wenn Sie mit Fanny lesen, schließen Sie die Thür -nicht, oder lassen Sie mich dabei sein!“ - -„O, wie sehr gern!“ rief Martha aus vollem Herzen; sie wollte Judith -die Hand geben, diese war aber schon in ihrem Schlafzimmer verschwunden. - -Ja, Judith fühlte, daß ihrem Dasein die rechte Erquickung mangelte; -sie hatte auch in der letzten Zeit durch die Beobachtung ihres kranken -Schwesterchens eine Ahnung bekommen, wo dieselbe zu finden sei, und sie -war keine oberflächliche Natur; was sie einmal erfaßte, pflegte sie mit -Ernst zu ergreifen. - -Am anderen Morgen nahm Fanny das erste Bad, und sowohl Martha als -Judith freuten sich über die schönen, weißen Fließen, in welche die -Bäder gefaßt waren, über die ganze wohlthuende und elegante Einrichtung -in dieser scheinbaren Weltabgeschiedenheit, und da Fanny die angenehme -Einwirkung des Wassers dankbar empfand, beschlossen ihre beiden -Hüterinnen, sich diese Erquickung und Auffrischung der Nerven, so viel -es thunlich sei, ebenfalls zu verschaffen. - -Gegen Mittag erschienen die Präsidentin und Friedericke, herzlich -empfangen von dem lieben, alten Bruder und Onkel, jubelnd von Fanny. -Gleich nach Tische kamen, wie sie es versprochen, Frau v. Märzfeld -und ihr Brautpaar, und man beschloß, noch vor dem Kaffee den Weg in -die Schlucht zu unternehmen, der so glatt, sicher und nahe ist, daß -selbst Fanny, abwechselnd auf Friedericke und Martha gestützt, ohne -Bedenken daran teilnehmen konnte. Diese Schlucht, in welcher die heißen -Quellen entspringen, gewährt in der That einen ebenso großartigen als -schauerlichen Anblick. Die Felsen treten hier so nahe zusammen, daß -unten nur die schäumende, brausende Tamina zwischen ihnen Platz hat, -und über ihr ein auf sicheren Stützen ruhender Weg, oder vielmehr -eine lange Brücke, welche bis zu den heißen Quellen hinführt, die -sich schon von ferne durch ihren weißen Dampf ankündigen, der in dem -wunderbaren Unterweltslichte die sonderbarsten Gestalten anzunehmen -scheint. Die Felsen schließen sich nämlich an ihrem oberen Ende -so nahe zusammen, daß nur ein kleiner Spalt offen bleibt, um das -Himmelslicht einzulassen, ja an einer Stelle führt sogar der Weg nach -Dorf Pfäffers über diesen Spalt hin. Wenn man die Einschnitte, Ecken -und Kanten an beiden Seiten aufmerksam miteinander vergleicht, ist -leicht wahrzunehmen, daß sie genau ineinander passen, und es macht ganz -den Eindruck, als habe ein gewaltiger Finger diese Wände ein wenig -auseinander gerückt, um dem brausenden Bergwasser Platz zu schaffen. -Friedericke und Fanny hielten sich fest umfaßt, als der Führer sie -darauf aufmerksam machte. - -„Muß das gekracht haben“, sagte Friedericke, „da hätte ich nicht dabei -sein mögen!“ - -Als man bei der heißen Quelle ankam, zeigte sich die Thür zu einem -Stollen, der in den Felsen getrieben ist, um mehr Wasser zu gewinnen. -Da es aber darin natürlich heiß und dunkel war, verzichtete man darauf, -ihn zu besuchen. Im Felsen an beiden Seiten bemerkte man Vertiefungen, -wie zu einer Balkenlage. - -„Hier“, sagte der Führer, „hat früher ein kleines Haus schwebend über -der Quelle gestanden, bevor noch ein Weg in die Schlucht hereinführte; -die Kranken sind von oben, versehen mit Lebensmitteln, an Stricken -heruntergelassen worden, und erst wieder heraufgezogen, wenn die Kur -beendet war.“ - -„Die sind dann ganz bei den Erdgeisterchen gewesen“, sagte Friedericke. - -„Und ich fürchte, sie hatten nicht so schönen Honig und keine -Traubenrosinen zum Dessert, wie wir heute Mittag“, setzte Fanny hinzu. - -Beides, Honig und Rosinen, ist nicht nur kurgemäß in Pfäffers, sondern -wird von den Ärzten aufs wärmste empfohlen und ist deshalb stets in -Fülle und ungewöhnlicher Güte vorhanden, was Fannys vollen Beifall -hatte. Sie war jetzt, wo Friedericke bei ihr war, ganz befriedigt; sie -spielten, lasen und lernten zusammen, so viel oder vielmehr so wenig -es Martha bei der Kur ratsam fand; Fanny machte an Friederickens Arm -die kleinen Spaziergänge, welche sie ausführen konnte und welche -der Arzt zu ihrer Stärkung dringend wünschte. Sie bauten sich eine -ganze Märchenwelt in ihrer Phantasie auf, jeder Felsvorsprung, jede -Vertiefung hatte für sie ihre Bedeutung. - -„Dort oben, wo niemand hinkommen kann, bei den vorgeschobenen Spitzen -und Kanten, da ist das Zwergenschloß, da sehen sie heraus und sonnen -sich. Dort, wo das tiefe Loch in den Felsen hineingeht, wohnt die -Erdgeistermutter; die ist verdrießlich, man hört sie brummen, wenn der -Wind weht. Im weißen Dampf über der Quelle tanzen die Tamina-Elfen; sie -sind so fein, daß man nur ihre Schleier wehen sieht.“ - -Oder sie dachten sich ganze Geschichten aus von solchen Kranken, die an -Stricken heruntergelassen waren, wie sie sich fürchteten und graulten, -und wie die lieben Zwerge aus dem Felsen kamen, sie zu trösten. - -Martha sorgte, ob solche Phantasieen nicht Fannys Nerven aufregen -würden; aber sie schlief sanft und fest; sie brauchte zum Essen nicht -mehr genötigt zu werden und ihre Spaziergänge konnte sie mit jedem Tage -weiter ausdehnen. Der Annahme entgegen, daß eine Rose nur in der Sonne -ihre schöne Farbe erhalten kann, kam auf die bleichen Kinderwangen -mehr und mehr ein rosiger Schimmer, in die matten Augen ein Strahl -von Jugendfreude und Mutwillen, der Martha entzückte. Sie selbst -fühlte sich ebenfalls gekräftigt und vollkommen in Frieden. Seit den -trüben Erfahrungen in Heyden hatte sie alle ungestümen Wünsche nach -großartigen Ausflügen aufgegeben und war für die kleinen Spaziergänge, -die ihr durch Judiths Freundlichkeit möglich wurden, dankbar. - -Das Verhältnis mit Judith erregte in hohem Grade ihr Interesse; sie -kamen sich sehr langsam ein wenig näher, und nach dem, was sich da -offenbarte, schien es gewiß, daß in dieser Seele noch viele verborgene -Schätze schlummerten, die nur der richtigen Wünschelrute bedurften, um -ans Tageslicht zu kommen. - -Eine nach der Eigentümlichkeit der Gäste größere oder kleinere -Prüfung brachte ein Regentag; gottlob! gab es in diesem Sommer nicht -viele. Wenn die Wolken wie dunkelgraue Gardinen zwischen den Felsen -niederhingen, die Lampen in Korridor und Gesellschaftszimmer den ganzen -Tag nicht ausgehen durften, die Badegäste entweder auf ihr Zimmer -angewiesen oder in den Gesellschaftssaal gebannt waren, da gab es große -Versuchungen zum Grillenfangen. Solch ein Tag kam in der zweiten Woche. - -Judith war eben mit ihrer Garderobe beschäftigt gewesen, jetzt folgte -sie Martha und Fanny, die ihre Stunden beendet hatten, nach dem -Versammlungszimmer. Dort saß beim Lampenlicht der General und spielte -mit der Präsidentin eine Partie Schach; dort hatten sich Frauen aus -allen Ständen und Ländern mit ihren weiblichen Handarbeiten um einen -langen Tisch gruppiert; dort saß ein Kreis bäuerlicher Besitzer und -unterhielt sich über Verkehrsverhältnisse, Fruchtpreise und Politik. -Die jungen Damen nahmen am Frauentische Platz, da Fanny und Friedericke -ein kleines, besonderes Tischchen für sich in Anspruch nahmen, um mit -ihren Modepuppen die wunderlichsten Geschichten aufzuführen. Martha kam -bald mit ihren Nachbarn in eine lebhafte Unterhaltung. - -Das Thema nach der ersten Bekanntschaft in Badeorten ist stets das -gleiche: die Gebrechen und Krankheiten, für welche jeder hier Hilfe -und Heilung sucht, und dieses Thema wird zwar von verschiedenen -Persönlichkeiten in ebenso verschiedenen Variationen vorgetragen, aber -es berührt doch die gleichen Grundaccorde in den Herzen und führt zu -Mitleid, Mitfreude und leichter Verständigung. - -Martha fand neben den verschiedensten Leiden und einzelner Bitterkeit -und Verzagtheit auch viel Demut, Geduld und Gottvertrauen, und hörte -gern und hoffnungsvoll erzählen von manchen Erfolgen, die mit Gottes -Hilfe durch den Gebrauch dieser Quellen erreicht worden waren. - -Als das Schachspiel beendet war, kam auch Frau v. B. in den -Frauenkreis, und Martha staunte, wie sie es verstand, mit den -einfachsten Frauen zu reden, ihr Vertrauen zu gewinnen, sie zu trösten -und zu beraten. Der General war zu den Männern gegangen; hier entspann -sich eine höchst lebhafte Unterhaltung über Wiesen- und Forstkultur, -Ackerbestellung u. dergl.; je nachdem die Redenden aus verschiedenen -Gegenden und Verhältnissen kamen, waren auch die Ansichten verschieden, -und die Gefahr lag oft nahe, daß aus der Unterhaltung ein Streit werden -könne. Dann hörte man stets des Generals ruhige, sichere Stimme, welche -erklärte, vermittelte, und der sie alle sich unterzuordnen schienen. - -Judith langweilte sich aufs äußerste. Das Licht fiel schlecht auf ihre -feine Arbeit; sie hatte dieselbe sinken lassen, lehnte sich nachlässig -zurück, gähnte mehrmals, ohne es zu merken, und Verdruß und Müdigkeit -spiegelten sich dergestalt auf ihrem sonst so schönen Gesichte, daß ein -alter Oberbayer, der sie eine ganze Weile unbemerkt beobachtet hatte, -zu ihr trat: „Sind Sie bös, Fräule, daß unser Herrgott schütten läßt? -Hilft Ihnen doch nichts; er laßt’s deshalb nit; ’s macht ihm nichts, -wenn ein jung Mädel die Stirn kraus zieht!“ - -Judith sah ihn groß an und sehr von oben herab; sie antwortete nicht, -verließ aber gleich danach die Halle, und als ihr Martha und Fanny -später folgten, fanden sie sie in der schlimmsten Laune oben noch im -Finsteren. - -Fanny war jetzt immer sehr müde und schlief bald ein; als Martha leise -in das Wohnzimmer trat, ging Judith dort mit großen Schritten auf und -ab. Martha setzte sich mit ihrer Arbeit ruhig an den Tisch zur Lampe -und wartete das Weitere ab. - -Endlich blieb Judith vor ihr stehen: „Jetzt sagen Sie mir, Martha, wie -es zugeht, daß sich die Leute solche Dinge gegen mich herausnehmen?“ - -„Aber, liebes Fräulein, wie kann ich das wissen?“ - -„Warum passiert dem General und der Präsidentin nie etwas Ähnliches? -Sie sagten neulich, er habe so etwas Vornehmes; ich finde das gar -nicht; er spricht mit allen Bauern wie mit seinesgleichen. Wenn Sie es -wissen, wo seine Vornehmheit steckt, so sagen Sie es mir!“ - -Martha dachte ein wenig nach: „Darf ich mich ganz offen aussprechen, -Fräulein Judith?“ - -„Ja, ich bitte sehr; und sagen +Sie+ nur nicht immer ‚Fräulein‘; -von Ihnen ist mir das sehr langweilig, wissen Sie!“ - -„Es ist eine schwierige Frage; lassen Sie mich ein wenig nachdenken. -Einesteils ist es wohl wirklich das Übergewicht der Erfahrung, des -Wissens, der Bildung, was die Leute empfinden, ohne es sich klar zu -machen; aber ich glaube, der Grund der allgemeinen Achtung ist vor -allem der, daß die beiden alten Herrschaften sich selbst vollständig -in der Gewalt haben; daß sie sehr weit vorgeschritten sind in der -Selbstbeherrschung und Selbstlosigkeit; ich denke mir, dies muß stets -vorausgehen, ehe man anderen imponieren oder sie beherrschen will. Sie -geben sich keine Blöße den Leuten gegenüber und, liebe Fräulein Judith, -sie geben sich niemals das Ansehen, Respekt erzwingen zu wollen; das -reizt in solchen Lagen, wie die unserige hier in dem kleinen Bade ist, -gar so leicht zum Widerspruche!“ - -„Ach Gott“, seufzte Judith, „wenn nur nicht das Leben mit diesen -Menschen gar so langweilig wäre, und nicht nur mit ihnen, auch mit -meinen Bekannten in M.; ich beneide jeden Menschen, der sich amüsieren -kann, aber ich begreife es nicht!“ - -„Ich wollte“, sagte Martha warm, „Sie begriffen es; gerade Sie, liebe -Judith, würden so glücklich sein und andere so glücklich machen können, -wenn Sie einmal anfingen, sich mit warmem Herzen für Ihre Mitmenschen, -ihre Leiden und Freuden, ihre Ideen und Gedanken zu interessieren. -Sie lesen so gern Schilderungen fremder Völker und Länder, und doch -sind diese oft wunderbar gefärbt durch die eigentümliche Brille des -Verfassers. Ich lese noch viel lieber in einem so lebendigen Buche, -wie wir es jetzt vor uns haben; daraus kann man viel, sehr viel lernen! -Versuchen Sie es nur; ich hoffe, die Befriedigung findet sich!“ - -Judith stand eine Weile in tiefem Nachdenken, dann sagte sie -freundlich: „Gute Nacht, lieber Herr Professor! ich werde über die -Vorlesung nachdenken“, und verschwand in ihrem Zimmer. - - * * * * * - -Am anderen Morgen ward ein ähnliches Thema durchgesprochen zwischen dem -General und der Präsidentin. - -„Ich verkehre gern mit allerlei Volk“, sagte der erstere, „man lernt -eine Menge Dinge kennen, mit denen man sonst nicht in Berührung kommt. -Ich verstehe es aber noch lange nicht so gut wie mein Georg, den Leuten -nahe zu kommen; wenn der Junge kommt, sollst du dein Wunder sehen!“ - -„Wenn mein Georg kommt!“ Dieses Wort hatten die Mädchen aus seinem -Munde nachgerade so oft gehört, daß sie sich mit leichtem Lächeln -ansahen, wenn es wiederkam. Es war dadurch allmählich „mein Georg“ eine -Person geworden, der man mit einiger Spannung entgegen sah. - -Eines Abends, da es besonders schön und warm war, wanderten sie im -Taminathal, die Kinder voran, Judith und Martha, wie es in der letzten -Zeit öfter der Fall war, Arm in Arm. - -Da bog ein junger Wanderer um die Felsenecke; eine große, kräftige -und doch bewegliche Gestalt, den leichten Sommerrock aufgeknöpft, das -Halstuch gelockert, den Strohhut in den Nacken geschoben, daß eine -Fülle lichtbrauner Locken frei wurde und ein heiteres, lebensvolles -Gesicht mit blitzenden, braunen Augen, gesunder, etwas gebräunter -Farbe, fröhlich lachendem Munde und einem Grübchen in jeder Wange, -einrahmte; ein noch nicht eben sehr voller Bart umgab das gerundete -Kinn. - -Judith sah ihn staunend an und ärgerte sich über sich selbst, daß ihr -unwillkürlich ein Wort in den Sinn kam, das sie aus dem Munde ihrer -Bekannten immer sehr albern gefunden hatte: „Ein junger Gott!“ - -Der „junge Gott“ ließ ihr Zeit, ihn zu betrachten, denn er war mehrere -Schritte vor ihnen bei Fanny und Friedericke stehen geblieben, hatte -letztere ohne Umstände emporgehoben und geküßt, was mit dem Jubelruf: -„Vetter Georg! lieber Vetter Georg!“ erwidert wurde. - -Dann beugte er sich zu Fanny: „Und hier ist ein kleines Fräulein, -das geht ein wenig lahm. Sind Sie ein bißchen zu weit gegangen, -Waldnymphchen!“ - -„Ich glaube“, sagte Fanny mit weinerlicher Stimme. - -„Darf ich Sie tragen?“ - -Fanny sah ihn zweifelnd an; aber er hob sie leicht auf seinen Arm, als -sei sie eine Feder, und ging stolz mit ihr den beiden Damen entgegen. - -„Jetzt bin ich Ihr Ritter und Sie sind meine Dame!“ - -„Ein Ritter! ein Ritter!“ jauchzte Friedericke. „Erdgeister haben wir, -Zwerge, Elfen; nun haben wir auch einen Ritter -- und einen Ritter -Georg; es ist nur schade, daß kein Drache da ist!“ - -Friedericke stellte ihn den beiden jungen Damen vor; er hatte für jede -ein heiteres, freundliches Wort, und da sie schon um der Kinder willen -mit umwenden mußten, zogen sie wie im Triumphe mit dem Erwarteten im -Bade Pfäffers ein. - -Natürlich wurde er von Vater und Tante sehr herzlich begrüßt, aber er -war noch keine Stunde da, so war es, als sei ein frischer Wind in die -ganze Gesellschaft gefahren; er plauderte mit den Alten, lachte mit den -Kindern, verabredete gleich für den anderen Morgen einen Spaziergang -nach der Kalandaschau und Dorf Pfäffers, für übermorgen eine Tour -nach Ragatz und Chur; die erste sollte nach Judiths Bestimmung Martha -mitmachen, der zweiten wollte sie selbst sich anschließen, und man -hoffte, daß auch Frau v. Märzfeld mit dem Brautpaar von Ragatz aus -daran teilnehmen werde. - -Es wurde nun alles Leben und Bewegung. „Mein Georg“ war Besitzer und -Verwalter des Familiengutes, das in Süddeutschland lag; seine Gespräche -mit den Landleuten waren viel eingehender als die seines Vaters; den -Frauen machte er sich angenehm durch freundliche Besorgungen, kleine -Erfindungen, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitrugen; mit Martha -und Judith unterhielt er sich gern über Bücher, Bilder, über das Leben -in der Residenz u. s. w. - -Die letztere erschien ihm wohl zuweilen etwas unergründlich, aber es -reizte ihn sichtlich, ihr Wesen zu erforschen und dies schöne, stolze -Gesicht aus seiner Ruhe und Feierlichkeit herauszusetzen. Dies gelang -um so öfter, da Judith wirklich anfing, sich ihres Hochmuts zu schämen -und mit Teilnahme auf die Gesellschaft zu blicken, die sie umgab. Wie -sehr sie dadurch an Lieblichkeit und Anmut gewann, das merkte sie -selbst nicht, andere desto mehr. - -Als der nächste Regentag die Gesellschaft ans Haus fesselte, kam -„mein Georg“ mit einem jungen Oberbayer, der seine Mutter besuchte, -aufs „Schuhplatteln“ zu sprechen; es fand sich, daß beide diesen -oberbayerischen Nationaltanz kannten und konnten, und als der Abend -herankam, wurden Judith und Martha bestürmt, denselben mit ihnen -auszuführen. Ein älterer Badegast erbot sich, auf dem Flügel zu -begleiten. Die Mädchen wollten nicht; sie hatten es ja noch nie -gesehen. - -„Ach, Sie haben gar nichts dabei zu thun, als sich so graziös wie -möglich immer im Kreise herumzudrehen, während wir schuhplatteln; -dazwischen drehen wir Sie schon um, wie es sich gehört.“ - -„Ja, aber bescheiden!“ bestimmte Judith. - -Es wurde versprochen und machte anfangs allen großes Vergnügen. Die -beiden Tänzer waren gewandt, geübt und kräftig; es wurde ihnen gar -nicht schwer, beim Sprung nach oben die Fußsohlen mit der flachen -Hand zu schlagen und all’ die wunderlichen Bewegungen auszuführen, -die der Tanz erfordert. Einen gehörigen Lärm giebt es dabei; einige -nervenschwache Damen entflohen, alle anderen Gäste aber bildeten einen -Kreis und sahen vergnügt und mit Spannung den Kautschukmännern zu. Der -Bayer tanzte mit Martha, „mein Georg“ mit Judith. Sie hielten sich -anfangs in ganz bescheidenen Grenzen und drehten ihre Damen sanft im -Kreise herum, aber als der Georg ins Feuer kam, hatte er da vergessen, -wen er vor sich hatte? daß Judith kein oberbayerisch Landmädel war? -Mit raschem Griffe faßte er seine Dame fest um die Mitte, schwang sie -mit einem lauten Juchzer hoch in die Luft und war vor Verwunderung und -Entsetzen starr, als sie, wieder auf dem Erdboden angekommen, sich -nicht weiter drehte, sondern mit heftigen, stolzen Schritten den Saal -verließ und die Thür hinter sich schloß. - -Da stand er nun, wühlte in seinen Haaren und sah ganz verdonnert und -unglücklich aus. Die Präsidentin war böse, der General klopfte ihm -auf die Schulter: „Ist dir schon recht, das kommt vom Ungestüm!“ und -Martha lief eilends der Judith nach. Sie zürnten zweistimmig, in bester -Harmonie. - -„Nein, das ist nicht zu dulden! Das ist über alle Beschreibung -unschicklich! So viel muß doch ein Edelmann sich in der Gewalt haben, -daß er nicht vergißt, mit wem er zu thun hat! Dafür muß Strafe sein, -das ist sicher!“ - -Judiths erster Gedanke war, ganz und gar nach Ragatz zu entfliehen. -Aber nein! daraus würde er sich am Ende nichts machen, oder er merkte -es kaum, oder er könnte sich wunder was drauf einbilden, sie vertrieben -zu haben! Nein, sie wollten ganz kalt und ganz fremd zu ihm sein, damit -er es merkte, was er für ein schrecklicher Mensch war. Heute Abend -wollten sie nicht mehr hinuntergehen, aber morgen früh, beim Frühstück, -da sollte er es erleben! - -Martha war nur darüber verwundert, daß Judith plötzlich in Thränen -schwamm; dies war bei ihr ganz ungewöhnlich. - -„Aber, Fräulein Judith“, tröstete sie, „so was entsetzlich Schlimmes -ist es doch am Ende nicht; jeder sah ja, daß Sie nicht dafür konnten!“ - -„Ja aber, daß Er! gerade Er!“ - -„Das ist nun eigentlich so verwunderlich nicht“, sagte Martha ruhig; -„so eine kleine Unbesonnenheit ist ihm schon zuzutrauen; kränken wollte -er Sie sicher nicht.“ - -Aber Judith war nicht zu trösten; sogar das Gotteswort und das -liebliche Abendlied: „Der Tag ist nun vergangen“, das ihr in der -letzten Zeit stets lieb und wert gewesen war, wollte heute nicht fassen. - -Am anderen Morgen ging sie mit sehr hocherhobenem Haupte zum -Kaffeetische. - -„Mein Georg“ war schon da; er grüßte ein wenig verlegen, aber -ehrfurchtsvoll und freundlich, und erhielt zum Dank eine stolze, steife -Verbeugung. Er sprach heiter vom aufgehellten Himmel -- und erhielt -keine Antwort! Er schlug einen Morgenspaziergang vor -- Judith und -Martha versicherten, sie hätten Briefe zu schreiben. Er trat nach dem -Kaffee näher, als wollte er um Verzeihung bitten -- sowie es Judith -bemerkte, ging sie hinaus und Martha folgte ihr. - -„Das ist ja heute unausstehlich!“ sagte der alte General; „siehst du, -Georg, das kommt von deinen Dummheiten! Ach, Agnes, sieh, ob du es -wieder ins gleiche bringen kannst.“ - -Die Präsidentin als freundliche Tante ging wirklich und klopfte am -Märzfeldschen Wohnzimmer an, während Fanny und Friedericke, fröhlich -plaudernd, am Kaffeetische blieben. - -Martha und Judith saßen sich sehr ernsthaft gegenüber; jede hatte einen -großen Briefbogen vor sich und die eingetauchte Feder in der Hand, aber -keine war aufgelegt zum Schreiben; der blaue Himmel sah so lockend -herein; das Bedauern, durchaus Zorn halten zu müssen, wurde immer -größer und die Frau v. B. wurde mit großer Zärtlichkeit und Ehrfurcht -von ihnen empfangen, indem sie neben ihrer sonst schon geliebten Person -die Hoffnung einer Veränderung dieses unerquicklichen Zustandes mit -sich brachte. - -„Lieben Kinder!“ sagte sie, „ich komme nicht, um meinen unartigen -Neffen zu verteidigen, sondern um Sie zu bitten, liebe Judith: nehmen -Sie es hier in der Freiheit der Bergwildnis nicht so sehr schwer -und verderben Sie uns allen nicht die paar freundlichen Tage des -Zusammenseins! Ein todeswürdiges Verbrechen war’s doch am Ende nicht, -und ich glaube, er ist schon recht gestraft; ich habe seine guten Augen -heute noch gar nicht lachen sehen; gönnen Sie ihm wenigstens, daß er -Ihnen selbst ein Wort der Abbitte sagt. Kommen Sie nun mit herunter und -begleiten Sie uns auf dem Spaziergange. Sehen Sie, wie freundlich die -Sonne lacht; da dürfen wir nicht Grillen fangen!“ - -Ja, die Sonne lockte sehr; sie vergoldete die Ränder der Felsen -gegenüber, und Frau v. B.s Stimme galt viel in der kleinen -Gesellschaft. Da nun Judith vom Fenster aus den Verbrecher das -Thal hinab wandern sah, glaubte sie, er wünschte ebenso wenig ihre -Gesellschaft, als sie die seine, und setzte schweigend ihren Hut auf. -Sie gingen langsam im eifrigen Gespräch der Gesellschaft nach, bis -Martha bemerkte, daß Fanny und Friedericke sich dicht am Rande der -Tamina vergnügten, und voll Sorge zu ihnen eilte. Nun schloß sich -Judith der Präsidentin an, sah aber mit Schrecken, daß Georg und der -Bayer an der nächsten Felsenecke ihrer warteten, und blieb zurück, -scheinbar, um einen kleinen Strauß zu binden aus den feinen Halmen, -Moosen und Kräutern, welche in den Felsenspalten wuchsen. - -Wie es dann gekommen, daß auf einmal Frau v. B. mit dem Bayer zehn -Schritte vorausging und sie allein und verlassen dem gefürchteten Georg -gegenüberstand, das ist ihr niemals klar geworden. - -Er sah sie weniger verlegen als ernst und traurig an: „Fräulein Judith, -wollen Sie mir denn nicht erlauben, Sie für gestern Abend um Verzeihung -zu bitten? Es thut mir so sehr leid, daß ich mich so vergessen und Sie -so gekränkt habe, aber --“ - -„Herr v. E., hier giebt es kein Aber! Ein Edelmann muß sich so viel in -der Gewalt haben, daß er sich bewußt bleibt, mit wem er es zu thun -hat; ich hätte Ihnen nicht zugetraut, daß Sie das vergessen könnten!“ - -„Ach, Fräulein, das habe ich keine Minute vergessen; das war’s ja eben!“ - -„Wie? Sie wußten, mit wem Sie tanzten, und wagten es, mich so zu -beleidigen?“ rief Judith, indem sie die Farbe wechselte. - -„Immer mehr Mißverständnisse!“ rief er; „jetzt, Fräulein, muß ich -es Ihnen ordentlich erklären. Bitte, bleiben Sie und hören Sie mich -geduldig an!“ - -Sie hatte eben Miene gemacht, zu entfliehen. Ein Umblick überzeugte -sie, daß dies nicht wohl möglich war; vor ihr gingen die Freunde, in -einiger Entfernung hinter ihr der fremdere Teil der Gesellschaft. -Sie trug also mit Anstand, was sich nicht ändern ließ, und ging mit -gesenktem Kopfe neben ihm, mit der Spitze ihres Sonnenschirmes Figuren -in den feuchten Sand zeichnend. - -„Sehen Sie, Fräulein Judith,“ begann er, und auf der sonst so frischen -Stimme lag es wie ein Schleier, „seitdem ich hier bin, habe ich das -wärmste Interesse für Sie gehabt; ich betrübte mich, wenn Sie so steif -dasaßen, und freute mich, wenn Sie lachten, und dachte schon am ersten -Abend: ‚Was müßte das eine Freude sein, Sie so vergnügt zu machen, wie -andere junge Mädchen sind. Sie glauben es nicht, wie ich glücklich -war, als Sie nach und nach freier, frischer und unbefangener wurden; es -reizte mich, immer mehr dazu zu helfen. Als ich Sie gestern Abend zu -dem Tanz überredet hatte, glaubte ich über jede Schwierigkeit hinweg -zu sein; ich dachte mir, ich wollte Sie durchs Leben führen und lauter -Sonnenschein um Sie verbreiten, und ich sah Sie schon vor meinen -Augen, Sie, die ich liebe wie niemand sonst, so schön, so fröhlich, so -glücklich und beglückend, wie es Gott ursprünglich in Ihre Natur gelegt -hat; o Judith, ich dachte, wir wären schon so weit! Da faßte mich ein -innerer Sturm vor Freude; ich mußte jauchzen; ich mußte Sie in die Luft -schwingen. O Judith, liebe Judith, können Sie mir jetzt verzeihen?“ - -Sie ging neben ihm, der große Mousselinhut beschattete ihr Gesicht, -doch sah Georg, daß sie sich mit dem Tuche einen Tropfen von den -Wimpern wischte; aber er wußte nicht, was ihm derselbe bedeutete, -nicht, daß es die Worte waren: „Sie, die ich liebe wie niemand sonst“, -welche ihr das Herz so bewegten. - -„Judith, sagen Sie mir nur ein Wort, nur, daß Sie nicht mehr böse sind, -nur, daß ich ein klein wenig hoffen darf! Sehen Sie“, fuhr er auf -einmal, mehr in seinem alten, heiteren Tone fort, „ich hab’ so nötig -jemanden, der mich zieht, denn ich bin ein Wildfang, Sie aber sind so -verständig! Reizt Sie die Aufgabe nicht, liebe Judith, mich zu bessern?“ - -Sie schwieg noch immer; er fuhr fort: „Ich weiß, ich müßte diese -Dinge ernster sagen, aber Gott allein weiß, wie ernst sie mir sind; -er weiß auch, daß ich mich auf seinen Beistand verlasse, wenn ich -Ihnen verspreche: Ich will Ihnen ein treuer Gefährte sein! Jetzt, -Judith, wenn Sie nicht sprechen wollen, geben Sie mir Ihren kleinen -Blumenstrauß!“ - -Zagend reichte sie ihm denselben; sie schlug die Augen auf dabei; es -waren Thränen darin, aber ein Strahl von Glück verklärte sie. - -Sie sahen jetzt die anderen sich entgegenkommen. Georg umarmte seine -Tante: „Sie ist wieder gut; ach, Tante!“ - -„Na, Junge, erdrück’ mich nicht; ich bin zu alt, um durch die Luft -geschwungen zu werden!“ - -Es ging nun alles seinen natürlichen Gang. Während Judith und Martha -eine sehr bewegte Unterhaltung hatten, schüttete Georg seinem Vater -sein Herz aus und erstaunte sehr, daß dieser über seine Mitteilungen so -wenig überrascht war; dann eilte er nach Ragatz zu Frau v. Märzfeld, -und als diese am Nachmittag mit ihrem Brautpaar herüberkam, wurden die -neuen Verlobten der erstaunten Badegesellschaft vorgestellt, zugleich -aber auch bestimmt, daß Judith, Martha und Fanny anderen Morgens -mit nach Ragatz übersiedeln sollten, was der Mutter mit Recht nun -angemessen zu sein schien. - -„Ich dacht’ halt schon gestern“, sagte der Bayer, „’s ist schad’, daß -sie nit seine Braut ist; wir meinen, es bringt Glück, wenn einer die -Seinige recht hoch schwingt.“ - -Der Abschied von Pfäffers wurde allen schwer, aber doch sehr -erleichtert durch die Aussicht, daß der General mit seinem Sohne, -die Präsidentin mit ihrer Friedericke in den nächsten Tagen ihnen -nachfolgen wollten. - -Martha freute sich von ganzem Herzen über Judiths wie über Luciens -Glück, wenn auch Stunden kamen, wo sie sehr die Sehnsuchtsgedanken nach -Siegfried bekämpfen mußte. Glücklicherweise blieb ihr nicht viel Zeit -dazu; denn da jetzt Fannys Leitung und Beaufsichtigung wieder allein -in ihrer Hand lag und Frau v. Märzfeld für die vielen Überlegungen und -Besorgungen, welche diese Doppelverlobung mit sich brachte, nur an -ihr eine Stütze fand, waren ihre Kraft und Zeit reichlich in Anspruch -genommen. Ihre Stellung in der Familie war eine ganz andere geworden; -die Liebe ihrer Töchter zu der jungen Erzieherin, die freieren und -billigen Ansichten der Schwiegersöhne über die Stellung derselben, das -Beispiel des Generals und der Präsidentin wirkten mildernd auf Frau v. -Märzfelds Benehmen, und obwohl Martha mit richtigem Takte die äußere -respektvolle Form festhielt, war doch ihre Stellung zur ganzen Familie -mehr die einer lieben, nahen Verwandten, als einer Untergebenen. In den -wenigen Wochen, welche für den Aufenthalt in der Schweiz noch bestimmt -waren, wurden nun noch fleißig hübsche Ausflüge gemacht, teils zu -Wagen, teils per Bahn; da jetzt Fanny nicht mehr zu schwach dazu war, -nahmen alle daran Teil, und so bekam Martha nach und nach ein schönes -Stückchen Schweiz zu sehen; ja, auf der Heimreise rastete man auch in -Heidelberg einige Tage, welches von Kind auf das Ziel ihrer Sehnsucht -gewesen war. - - * * * * * - -Nach der Heimkehr oder vielmehr schon auf der Heimreise gab es -ernstliche Beratungen darüber, was mit Fanny, die jetzt fast als -genesen anzusehen war, weiter werden sollte. Graf T. und der General, -die sie am unbefangensten beobachtet hatten, rieten sehr dazu, sie bald -in eine Erziehungsanstalt zu bringen mit anderen Kindern zusammen; sie -müsse das Glück gemeinsamer Arbeit und gemeinsamer Erholung kennen -lernen und dürfe nicht mehr, wie bisher, der Mittelpunkt des Hauses -sein. - -Die Frau Präsidentin schlug vor, sie in dieselbe Pension in der Nähe -von Dresden zu bringen, in welcher Friedericke schon einige Jahre -war. Dies schien allen vernünftig und gut zu sein und man beschloß, -Martha solle sie den Winter über durch gründlicheren Unterricht auf den -Eintritt in dieselbe vorbereiten. - -Frau v. Märzfeld bot dieser an, dann als Gesellschafterin bei ihr zu -bleiben, aber Martha schlug das freundlich dankend ab. Sie hatte schon -jetzt immer gefürchtet, sich ihrem speziellen Berufe durch die freiere -Behandlung Fannys zu entfremden; verließ sie diese, so war es ihr klar, -daß sie sich umsehen mußte nach einer Schulstelle. - -Während sie mit Fanny fleißig arbeitete und an den kleineren -Geselligkeiten des Hauses jetzt gern Anteil nahm, wurden allerlei -Briefe und Zeitungsannoncen ausgesandt, und schon vor dem neuen Jahre -wurde ihr die Stelle, auf der wir sie im Anfange unserer Erzählung -fanden, zugesagt. - -Sie konnte nur mit warmer Dankbarkeit aus dem Hause der Frau v. -Märzfeld scheiden. Wie schwer war es zuerst, wie leicht wurde es dann! -Wie schien erst alles so kalt, und nun fühlte sie sich so warm von -Freundschaft und Liebe umgeben! - -Ihre Thränen flossen, auch die Thränen der anderen, als sie Abschied -nahm; aber sie traute fest darauf in ihrem Herzen, daß Gott sie auch -in der neuen Lebenslage an seiner Hand führen werde, und sagte leise -und getrost, als sie einsam dahinfuhr und die lieben Gesichter, die sie -zum Bahnhof begleitet, ihren Augen entschwanden: „In Gottes Namen!“ - - - - -11. - -Auf eigenen Füßen. - - -Ja, was hätte das arme, junge Mädchen wohl anfangen sollen, wenn sie -nicht ihre Zuversicht auf ihren Vater im Himmel gesetzt hätte? Sie -machte sich jetzt keine Illusionen mehr, sie wußte, daß die neue Lage -große Schwierigkeiten mit sich brachte. Zum erstenmale trat sie nicht -in eine fremde Häuslichkeit als Mitglied ein, zum erstenmale sollte sie -des unmittelbaren Schutzes entbehren! - -Das Leben im Märzfeldschen Hause war in den Außendingen dem sehr -ähnlich gewesen, das sie im elterlichen Hause geführt hatte; da war -nie ein Mangel an Speise und Trank; da war sie so gestellt, daß sie -sich ohne Sorgen anständige Kleidung und nebenbei manch gutes Buch -anschaffen konnte; die ganze Umgebung war fein und nett; ja, sie war -jetzt wieder verwöhnt, recht sehr verwöhnt! Würde sie es lernen, mit -ihrem kleinen Gehalte anständig auszukommen? - -Ihr erster Weg war zum Direktor der Schule; er empfing sie ernst und -würdevoll, aber teilnehmend. Als sie ihn um seinen Rat wegen ihrer -künftigen Wohnung bat, hatte er sie an Fräulein Klug gewiesen, und -obgleich dieselbe ihr zuerst mehr schroff als herzlich entgegengekommen -war, hatte doch das Bedürfnis nach irgendeinem Anschlusse gesiegt: sie -war mit der alten Kollegin in eine Etage gezogen, und wir haben schon -gesehen, wie sehr dies zum Besten der beiden Beteiligten war. - -Auch in der Schule gab es anfangs große Schwierigkeiten. Sie hatte -sich gewöhnt, auf die Eigentümlichkeit ihrer Schülerin die größte -Rücksicht zu nehmen, und hätte dies gern fortgesetzt; wenn aber so -viele verschieden angelegte Kinder ein Klassenziel erreichen sollten, -war dies nur in beschränktem Maße möglich; der Direktor mußte sich -einmischen und sie auf geordnetere Bahnen weisen, und der Martha -erschien es, wenn sie ihm folgen mußte, als gäbe sie ihr Allerbestes -auf! Sie machte auch gern im Unterrichte Exkursionen, zog das -Interessante und Anregende dem unbedingt Nötigen vor und kam dann ins -Gedränge mit ihrem Lehrstoff. Da gab es manche Reibung, manches innere -und äußere Unglück, bis ein unausgesprochenes Übereinkommen zustande -kam, indem Martha einsah, daß in einem so großen, gut organisierten -Ganzen der einzelne sich unterordnen muß, wenn es auch mit manchem -Opfer geschieht, und der Direktor dagegen, als er Marthas beglückenden, -erziehenden Einfluß auf ihre jungen Schülerinnen sah, ihr so viel -Freiheit gewährte, als es sich mit seiner Schulordnung irgendwie -vertrug. - -All’ diese Erfahrungen ihres jungen und doch so wechselvollen Lebens -gingen an ihrem Geistesauge vorüber, als sie am Weihnachtsabend dem -Verglimmen der Lichte am Tannenbaume zusah. Wie viel hatte sie erlebt, -seitdem sie mit Siegfried im Hause der Eltern das Weihnachtslied der -Urgroßmutter gesungen! Oft, oft hatte sie dies Lied seitdem gelesen, -gesungen hatte sie es nie mehr; es war ihr immer gewesen, als ginge -das nicht ohne ihn. Ja, sie hatte hindurch gemußt durch Armut, durch -Leid, durch Niedrigkeit; sie hatte an des Todes Pforten gestanden, als -ihre Lieben hindurchgegangen waren; aber überall hatte Gottes Hand sie -gehalten und zärtlich wie eine Mutter sie durch die schwersten Stunden -geführt. Aus jeder schweren Lebenslage war ihr ein Gewinn geblieben, -viel Liebe und Freundschaft, das hatte sie in diesen Tagen erfahren. - -Dort lagen unterm Spiegel die Briefe ihrer Lieben; dort im Wandschranke -waren die Schätze aufgespeichert, die Judith ihr aus ihrer Wirtschaft -geschickt; dort in dem kleinen Kasten lagen Fannys und Luciens feine -Arbeiten; dort sah sie auch auf Suschens letzten glücklichen Brief -nach der Geburt ihres ersten Kindchens; und so reich und schön dies -alles war, der innere Gewinn war doch noch größer. Die Sehnsucht kam -wohl nach ihrem Siegfried, die Sorge: „Werde ich durchkommen? Wie wird -es mir gehen, wenn ich alt und gebrechlich werde wie Fräulein Klug?“ -Aber nein! sie wollte nicht zittern und zagen, sie wollte sich und -Siegfried fest in die Vaterhand legen, die den eingebornen Sohn aus -Liebe uns geschenkt. Ja, heute, heute konnte sie, heute wollte sie das -Lied der Urgroßmutter wieder singen; sie öffnete das Instrument und -sang mit voller, klarer Stimme: - - Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht, - Die uns das höchste Gut gebracht: - Dich, Gottessohn, dich, Königskind, - Das man im Stall und Kripplein find’t. - - - - -Schluß. - - -Einige Stunden früher schleppte sich der Kurierzug nach B. durch die -verschneite Landschaft. Er machte seinem Namen heute wenig Ehre; zu -gewaltig fielen die Schneemassen, zu heftig jagte sie der Wind in die -Hohlwege, welche der Zug passieren mußte. So lange man durchs offene -Land fuhr, konnten Kolonnen von Arbeitern die Schienen leidlich vom -Schnee befreien, und wenn es auch viel langsamer ging als sonst und -die Stationszeiten nirgends eingehalten werden konnten -- es ging doch -vorwärts! - -In einem Coupé zweiter Klasse saß ein Herr mit noch jungem aber -ernstem und gebräuntem Angesichte, das fast traurig in den Schneesturm -hinausblickte, der seine kleinen, feinen Krystallsternchen so gegen das -Fenster warf, daß man nur in einzelnen, seltenen Pausen einen Ausblick -auf die Umgebung bekam; er zeigte auch nichts weiter, als ein großes -weiß-graues Tuch, welches Häuser, Bäume, Felder und jede Ungleichheit -des Terrains verhüllte und verdeckte. Die Wagen waren geheizt, aber -man merkte nichts davon; der eisige Sturm drang durch alle Ritzen, und -zwei Jünglinge, dem Pelzumhüllten gegenüber, schlugen mit den Armen -übereinander, um sich zu erwärmen. - -„Ob wir heute noch nachhause kommen, Alfred?“ - -„Wollen’s hoffen“, entgegnete der Gefragte; „es wäre ungemütlich, den -Abend im Schnee zu verbringen statt unter dem Weihnachtsbaum.“ - -Der Ältere sah nach seiner Uhr: „Es ist schon fast zwei Stunden über -die Zeit, auf dem Bahnhofe kann wohl niemand mehr sein.“ - -Da ertönte ein schriller Pfiff -- Stationslichter -- der Schaffner -öffnet die Thür: „N., Aussteigen!“ - -Mit einem Satz, die bunten Studentenmützen fröhlich lüftend, waren die -beiden Jünglinge draußen; man sah zwei vermummte Mädchengestalten und -einen etwa zehnjährigen Knaben. - -„Fritz, Elisabeth, Julchen, ihr alle hier? Na, kommt nur schnell -nachhause! Da ist auch Heinrich mit dem Schlitten!“ Die Thür flog zu, -der Zug dampfte weiter. - -Der Reisende in der Ecke seufzte schwer: „Nachhause! Die Glücklichen -gehen nachhause! O, wo ist mein Zuhause auf der ganzen weiten Welt?“ - -Heute vor fünf Jahren da hatte er zum letztenmal ein Zuhause gehabt; -nicht bei Vater und Mutter, die lagen schon lange unterm Rasen, aber -bei ihr; sie hatten zusammen unter dem brennenden Baum gestanden, -sie hatten geträumt von einer süßen, gemeinsamen Heimat -- und schon -am anderen Morgen war alles zusammengebrochen! Als sich seine heißen -Wünsche nicht gleich erfüllt hatten, da war er fortgestürmt in die -Ferne ohne Abschied, Zorn und Stolz im Herzen und hochfliegende -Hoffnungen und Erwartungen auf Glück und Reichtum. Übers Weltmeer war -er gezogen, dort in Missouri wußte er eine Thür, daran durfte er nur -klopfen, damit Fortuna ihr Füllhorn über ihn ausgoß; dort lebte der -einsame Oheim, der sich nach seiner Hilfe und Gesellschaft sehnte und -den er beerben sollte. - -Nach mancherlei Fährlichkeiten zu Wasser und zu Lande stand er vor dem -stattlichen Hause; der Oheim war ausgegangen; ein frisches, junges -Weib, mit einem lustigen, kleinen Buben auf dem Arm, empfing ihn. -Sie war nicht herzlos, nicht unfreundlich, auch der Oheim, als er -heimkehrte, war es nicht; aber daß sich seine Aussichten hier völlig -verändert hatten, das brauchte ihm ja niemand zu sagen. - -Der Onkel hatte ihm unter die Arme greifen, ihm die Wege ebnen wollen -zum Vorwärtskommen; er hatte alles in seinem Hochmut abgelehnt und -sich auf seine eigene Kraft verlassen. Er wurde bald inne, daß er etwas -Schweres unternommen hatte; er suchte eine Stelle als Landwirt -- -man bot ihm Knechtsarbeit; er wollte als Kaufmann auf einem Comptoir -arbeiten -- und fand keine Stelle. - -Da kam die Not. Sein kleines väterliches Vermögen war ihm im Vaterlande -sichergestellt, daran konnte und wollte er nicht rühren; an seinen -väterlichen Freund zu schreiben, konnte er sich nicht entschließen; da -ging es tief hinunter mit seinen hohen Gedanken. - -Monatelang hatte er als Arbeitsmann sein Brot verdient, dann war er -Sprachlehrer gewesen; er hatte sein Leben kärglich gefristet; aber -erworben, irgendetwas erworben, das er ihr bieten konnte, das hatte er -nicht. - -Darum schrieb er ihr nicht; was sollte er ihr schreiben? In einer -elenden Nacht, da sein ganzes Geschick sehr dunkel vor ihm lag, und -ihres auch, da wurde es ihm klar: „Mit Sorgen und mit Grämen und mit -selbst eig’ner Pein läßt Gott ihm gar nichts nehmen, es muß erbeten -sein!“ - -Und er lernte wieder beten; das verirrte Kind klopfte an des rechten -Vaters Thür und der Vater that ihm auf und tröstete ihn. - -Er war mit einem Deutschen zusammengekommen, der hatte ein herrliches -Grundstück für ein industrielles Unternehmen und ein großes Kapital -zum Anfang; aber ihm fehlte, was Siegfried besaß: Intelligenz, -Kenntnisse, Thatkraft. Er bot eine namhafte Summe, wenn dieser ihm sein -Geschäft in Gang bringen wolle, und fortdauernden Anteil am Gewinn. - -Das Unternehmen gelang; sowie dies sich zeigte, hatte Siegfried an sie -geschrieben, an seine Martha; er erhielt keine Antwort. - -„Sie wollen ihr den Brief nicht zeigen“, dachte er, und als nach einem -Vierteljahre keine Antwort kam, schrieb er noch einmal, diesmal an den -Vater; wieder lange, lange keine Antwort. Endlich kam der Brief zurück: -„Adressat seit Jahren tot, Angehörige verzogen.“ - -O Gott, wie wurde nun sein Herz so schwer! Sobald sich’s thun ließ, -ging er nach Newyork, um dort womöglich Landsleute zu treffen; es -gelang ihm; sie brachten die Schreckenskunde vom Konkurs und dem gleich -darauf erfolgten Tode des Kommerzienrats; aber niemand, niemand wußte, -wo die Seinigen geblieben waren. - -Welche Qual! Er schrieb an den Onkel Konsul und erfuhr auch dessen Tod. -Wie lang, wie endlos lang wurde ihm das Jahr, das er durchaus noch in -Amerika verleben mußte, wenn das Unternehmen in sicheren Gang kommen -sollte! - -Nun war er in der Heimat, bei ungünstiger Jahreszeit in Sturm und -Wetter herübergefahren, und schon wochenlang irrte er umher und suchte -sie, ohne eine Spur von ihr entdeckt zu haben. Auf der Post wußte -man nichts mehr von ihrer Adresse; die Angehörigen des Onkel Konsul -waren nach dem Süden gezogen; entferntere Bekannte erinnerten sich, in -irgendeiner Zeitung die Todesnachricht der Frau Feldwart gelesen zu -haben; sie wußten nicht mehr, wann und woher, und die Zeitung fand sich -nicht. Das war ihm gewiß: er mußte in der Heimat bleiben, mußte seine -Nachforschungen fortsetzen; es mußte ja möglich sein, sie zu finden; -wenn es gar nicht anders ging, durchs Einrücken in die Blätter. - -Ach, wenn er doch damals in seinem Hochmut nicht fortgegangen wäre! -Wie viel hätte er der Verlassenen sein können! Es konnte aber länger -dauern, bis er sie fand, und er wollte sich einen Wirkungskreis -schaffen, um nicht müßig zu sein, und hatte sich hier und da ein -Besitztum angesehen, das seinen Mitteln und Ansprüchen entsprach. - -So verlassen, so betrübt, so voll Sehnsucht hatte er sich noch nie -gefühlt wie heute; zum erstenmale kam ihm der Gedanke, sie könne -gestorben sein oder -- was war schlimmer? verheiratet. Er dachte daran: -„Es ist ja Weihnachten!“ Es fiel ihm der Engelgruß ein: „Siehe, ich -verkündige euch große Freude!“ Ach, in seinem Herzen da war nur Leid; -er bat den lieben Gott um einen Brosamen von der Freudenfülle, die -sich heute über die ganze Welt ergoß, und sein Herz wurde stiller und -ergebener, wenn es auch eben noch nicht fröhlich wurde. - -Der Bahnzug fuhr jetzt langsam an einer kleinen Station vorüber; hier -hielten die Kurierzüge nicht an, es ging weiter in die Nacht hinein. -Da auf einmal ging es langsam, immer, immer langsamer; man sah an -den Seiten schwarze, vermummte Gestalten mit Laternen und Schaufeln -arbeiten; man hörte durch den Sturm hindurch die Unterhaltung der -Schaffner mit den Leuten. Aber alle Anstrengungen waren vergeblich; -immer höher baute sich die Mauer im Hohlwege, die der Zug nicht -durchbrechen konnte; sollte er nicht ganz darunter begraben werden, -mußte man zurückkehren zu der kleinen Station; es geschah. - -Frierend stieg der Reisende aus und wollte eben in die Restauration -treten, da klang es durch den Sturm wie Glockengeläute und durch das -Schneetreiben schimmerte es auf einem nahen Hügel wie erleuchtete -Fenster. - -„Ist hier Christvesper?“ fragte er. - -„Ja wohl, unsere Kinder wollen eben hin.“ - -Der Reisende fror, er hätte sich gern erst gewärmt, aber eine deutsche -Christvesper -- die heimelte ihn gar zu sehr an. Ach ja, es ward -ihm auch innerlich warm und wohl, als er mitsingen durfte: „Dies -ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit!“ -Er schmeckte den süßen Trost für alles Weh, der in der himmlischen -Freudenbotschaft lag; aber er betete, betete aus vollem Herzen, -Gott wolle ihm die wiederschenken, die vor fünf Jahren die letzte -Christvesper neben ihm gefeiert. - -Siegfried, siehst du sie nicht, die schlanke Gestalt, die gar nicht -weit von dir neben dem Pfeiler sich über ihr Gesangbuch beugt? Nein, -er sah sie nicht; sie kehrte ihm den Rücken, und ihre weiße Capote -verhüllte den jugendlichen Kopf. - -Als die Christvesper zu Ende war, trat er in ein Gasthaus, um sich zu -erwärmen und etwas Speise zu sich zu nehmen; wenige Reisende fand er -hier -- sie waren heute alle zuhause! - -Eine Stunde verging in gleichgültiger Unterhaltung; Siegfried trat ans -Fenster: es hatte sich schon während des Gottesdienstes aufgehellt, -jetzt war es völlig still. Er wollte nach dem Bahnhofe und sich -erkundigen nach der Weiterreise. Ein schriller Pfiff der Lokomotive -machte es ihm wahrscheinlich, daß es die höchste Zeit sei. - -„Ist hier der nächste Weg nach dem Bahnhofe?“ fragte er eine -vorübereilende Frau. - -„Nein, gehen Sie hier durch die Schustergasse, das ist näher!“ - -Er ging weiter, aber er ging wie im Traum; er war mit seinen Gedanken -bei dem Weihnachtsabend vor fünf Jahren; er dachte an Urgroßmutters -Weihnachtslied: „Du wurdest arm, daß ich würd’ reich; nun gilt mir arm -und reich sein gleich.“ Das wußte er noch, denn daran hatte er damals -seinen Antrag geknüpft. O, wie wünschte er, das ganze Lied noch zu -können, jetzt könnte er’s mit anderem Sinne singen! - -Was war das? War es eine Geisterstimme? Hoch über ihm klang’s herab, -und ach, mit welcher Stimme: „Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht, die uns -das höchste Gut gebracht; dich Gottessohn, dich Königskind, das man im -Stall und Kripplein find’t.“ - -Einen Augenblick stand er wie in einen Traum versunken, dann kam -Bewußtsein und Bewegung. - -„Wer singt da?“ fragte er einen Schusterjungen, der eilends -vorüberlief, um noch Schuhe wegzutragen, die beschert werden sollten. - -„Es wird die neue Lehrerin, die Fräulein Feldwart, sein!“ - -Ach, da war im Nu der Fremde im Hause verschwunden; unten im Flur -brannte ein trübes Lämpchen, das ihm die Treppe zeigte. Er wollte -sehr leise hinaufgehen, aber oben war kein Licht; er trat fehl und die -Stufen knarrten. Martha brach mitten im zweiten Vers ab und öffnete die -Thür. - -Fast erschrocken stand sie dem Manne im Reisepelz gegenüber; vorsichtig -und schüchtern trat er näher. - -„Erschrecken Sie nicht, Martha, es ist ein alter, treuer Freund!“ - -Ach, jetzt wußte sie, wer es war, jetzt hielt er sie umschlungen und -mußte sie halten, damit sie nicht umsank, und dann hörte man lange, -lange nichts anderes als leises Schluchzen; ja, dies Weihnachtsgeschenk -war so groß, daß es das schwache Herz nicht gleich fassen konnte. - -Aber dann tauschten sie ihre Erlebnisse aus, erst abgerissen und dann -zusammenhängender, und sahen sich dabei an und fanden, daß wohl etwas -von der Rundung und dem Schmelz der ersten Jugend aus den Zügen fort -war, aber dafür etwas darin, was viel, viel schöner war; und die alte -Liebe und Treue, die war geblieben, und daran hatten sie beide niemals -gezweifelt. - -„Und wo kommst du heute her, Siegfried?“ - -„Aus einem kleinen Orte, den du wohl kaum kennst, aus Weißfeld. Der -Amtmann dort hat sich in Schlesien ein größeres Gut gekauft und will -Weißfeld verkaufen; ich habe Lust, den Kauf abzuschließen; es gefiel -mir dort gar manches.“ - -„Was gefiel dir, Siegfried?“ fragte Martha mit strahlenden Augen. - -„Ach, es führte mich eine alte, krumme Frau herum; das war ein -prächtiges altes Geschöpf; ich dachte mir’s so schön, die bis zum Tode -zu pflegen. Und dann, Martha -- ach, es ist fast ein bißchen sonderbar --- aber du wirst es verstehen; es war da ein kleiner eiserner Tisch -und eine Bibel darauf, und die Alte sagte, es rühre von einer früheren -Besitzerin her, die habe gewünscht, daß es so bleiben möchte, das -brächte dem Gute Segen. Das gefiel mir auch!“ - -Er wunderte sich, als er ihr Gesicht von Thränen überströmt sah. - -„O Urgroßmutter! Urgroßmutter!“ rief sie aus. - -Da war denn Siegfried voll Erstaunen, als er den Zusammenhang erfuhr. - -„Ja“, sagte Martha, „‚denen, die mich lieben und meine Gebote halten, -thue ich wohl bis ins tausendste Glied!‘ Das ist gewißlich wahr! -O Siegfried! Siegfried! Es ist ein Zusammenhang da zwischen dem -Betschemel der Urgroßmutter und dem Glück ihrer Urenkelin!“ - -Siegfried war auch bewegt. - -„Das ist ein schöner Gedanke, aber auch ein ernster und -verantwortungsvoller“, sagte er, „wenn man sich als ein Glied in einer -so großen Kette betrachtet, beeinflußt von der Vergangenheit und weiter -wirkend in die Zukunft hinein.“ - -Martha wunderte sich, daß er in Weißfeld nichts von ihr gehört habe; -aber sein Aufenthalt war nur kurz gewesen -- „und“, sagte Martha, „die -Urgroßmutter hat uns gewiß selbst wieder zusammenführen wollen durch -ihr Weihnachtslied.“ - -„Wie wird sich Suschen, mein liebes Suschen freuen, wenn ich dort -einziehe! Aber eine Bitte habe ich noch, Siegfried, eine recht große. -Nicht wahr, wir haben ein Stübchen übrig für meine alte, liebe Freundin -Klug?“ - -Und als der glückliche Bräutigam vernommen, was diese seiner Braut -gewesen war, da stimmte er mit Freuden zu; sie sollte sogleich zum -Abendbrot gerufen werden und ihr Glück vernehmen. - -„Aber erst will ich alles festlich herrichten!“ sagte Martha. - -Sie steckte neue Lichter an das Weihnachtsbäumchen, sie deckte den -Tisch mit einem reinen, weißen Tuch und besetzte ihn mit Judiths guten -Gaben, denen „mein Georg“ einige Flaschen Rotwein beigefügt. Dann stand -das Brautpaar vor der alten Freundin, die sehr überrascht und bewegt, -aber voll Liebe und treuer Wünsche war. - -„Und nun müssen Sie mit uns essen“, drängte Martha, „ich muß ja doch -eine Brautmutter haben!“ - -Und an der fröhlichen Abendtafel da trug man ihr die schönen -Zukunftspläne vor. Es war ihr zuerst zu neu und wunderbar, dann faltete -sie ihre Hände wie zu einem stillen Gebete: „Ja, Kinder, wenn mir nicht -der liebe Gott ein anderes Altenstübchen anweist, so gehe ich mit; ich -will euch, so er hilft, nicht zur Last sein!“ - -„Was werden meine Kinder, meine lieben Kinder sagen?“ ging wehmütig -durch Marthas Seele; aber sie tröstete sich: „Bis Ostern bin ich -noch bei ihnen, und Agnes, Helene und Eva müssen jedenfalls meine -Brautjungfern sein!“ - -Das Abendbrot war verzehrt, die Uhr zeigte auf zehn. - -„Und nun, Martha“, sagte Siegfried, „bevor ich gehe --“ - -Sie fiel ihm ins Wort: „Nun, Siegfried, singen wir noch einmal zusammen -Urgroßmutters Weihnachtslied!“ - -„Ja, Martha, und mit mehr Verständnis als vor fünf Jahren.“ - -Die Lichter am Baume strahlten, die Augen glänzten noch heller und die -Herzen schlugen in heiliger Weihnachtsfreude, als sie sangen: - - Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht, - Die uns das höchste Gut gebracht, - Dich Gottessohn, dich Königskind, - Das man im Stall und Kripplein find’t. - - Daß ich empfinge Kindesrecht, - Wohnst du wie ein geringer Knecht; - Drum will ich gern veracht’t und klein, - Herr, Dir zu Lieb’ und Ehren sein. - - Dein war des Himmels Herrlichkeit, - Aller Welt Schätze weit und breit; - Du wurdest arm, daß ich würd’ reich, - Nun gilt mir arm und reich sein gleich. - - Du kamst aus lichtem Himmelssaal - Und gingst für mich durchs dunkle Thal; - Ich bin zum Leid nun auch bereit, - Da du es durch dein Leid geweiht. - - Für mich, mein Lebensfürst und Gott, - Gabst du dich hin in Todesnot; - Daß ich dem Tod verfall’nes Kind - Durch dich das ew’ge Leben find’. - - Ich kniee an dein Kripplein hin - Und fasse nicht das Wunder drin, - Und bitte dich: O Herr, verleih, - Daß dies mein Bitten ernstlich sei! - - Du giebst dich mir, Herr Christ, ich hab’ - Nur mich als arme Gegengab’. - O nimm mich hin, Rat, Kraft und Held, - Und mach aus mir, was dir gefällt. - -Ja, jetzt war ihr Bitten ernstlich; sie wußten, der Herr mußte noch -viel an ihnen thun und viel mit seiner Liebe zudecken, wenn sie ihm -gefallen sollten; sie wußten auch, daß er sie zu diesem Ende noch auf -manchen sauern Weg und manche rauhe Bahn führen werde; aber sie waren -getrost. Sie verließen sich nicht mehr auf sich selbst oder andere -menschliche Stützen, sondern auf den, der sie mit seinen Augen geleitet -durch alle die schweren Jahre, und: - -Herr Gott Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verläßt! - -[Illustration] - - - - -Druck von Friedr. Andr. Perthes in Gotha. - -*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS WEIHNACHTSLIED *** - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the -United States without permission and without paying copyright -royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part -of this license, apply to copying and distributing Project -Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm -concept and trademark. 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Hart was the originator of the Project -Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be -freely shared with anyone. For forty years, he produced and -distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of -volunteer support. - -Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed -editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in -the U.S. unless a copyright notice is included. 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms -of the Project Gutenberg License included with this eBook or online -at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. If you -are not located in the United States, you will have to check the laws of the -country where you are located before using this eBook. -</div> -</div> - -<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: <span lang='de' xml:lang='de'>Das Weihnachtslied</span></p> -<p style='display:block; margin-left:2em; text-indent:0; margin-top:0; margin-bottom:1em;'><span lang='de' xml:lang='de'>Eine Erzählung für junge Mädchen</span></p> -<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Lina Walther</p> -<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: December 11, 2022 [eBook #69525]</p> -<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p> - <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: Jens Sadowski, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)</p> -<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DAS WEIHNACHTSLIED</span> ***</div> - -<div class="transnote mbot3"> - -<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p> - -<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von -1887 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische -Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute -nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original -unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.</p> - -<p class="p0">Der Ausdruck ‚et cetera‘ wird im ursprünglichen Text mit -Hilfe der Tironischen Note ‚Et‘ dargestellt. Da diese Note in vielen -Zeichensätzen nicht enthalten ist, wird in der vorliegenden Fassung die -im Deutschen gebräuchliche Abkürzung ‚etc.‘ verwendet.</p> - -<p class="p0">Die gedruckte Ausgabe ist in Frakturschrift gesetzt. -Passagen in <span class="antiqua">Antiquaschrift</span> werden hier -kursiv dargestellt. <span class="nohtml">Abhängig von der im -jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original -<em class="gesperrt">gesperrt</em> gedruckten Passagen gesperrt, in -serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt -erscheinen.</span></p> - -</div> - -<div class="titelei"> - -<p class="s1 center mtop3 mbot3 break-before">Das Weihnachtslied.</p> - -<h1>Das Weihnachtslied.</h1> - -<div class="figcenter illowe4" id="titel_deko"> - <img class="w100" src="images/titel_deko.png" alt=""> -</div> - -<p class="s2 center">Eine Erzählung für junge Mädchen</p> - -<p class="center">von</p> - -<p class="s3 center"><b>Lina Walther.</b></p> - -<p class="s4 center padtop5"><b>Gotha.</b></p> - -<p class="center"><em class="gesperrt">Friedrich Andreas Perthes.</em></p> - -<p class="center">1887.</p> - -<p class="s4 center mtop3 padtop3 break-before">Ihren drei Nichten</p> - -<p class="s2 center">Elisabeth Moeller</p> - -<p class="s2 center">Hanna Pfeifer</p> - -<p class="s4 center">und</p> - -<p class="s2 center">Anna Moeller</p> - -<p class="s4 center">gewidmet</p> - -<p class="center mleft5">von der</p> - -<p class="s4 center mleft10"><b>Verfasserin.</b></p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Inhalt">Inhalt.</h2> - -</div> - -<table class="toc"> - <tr> - <td class="s5" colspan="2"> -   - </td> - <td class="s5"> - <div class="right">Seite</div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center"> 1.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Einleitung</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right">  <a href="#Kap_1">1</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center"> 2.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Jugendsonnenschein</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"> <a href="#Kap_2">16</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center"> 3.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Sturm</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"> <a href="#Kap_3">29</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center"> 4.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Not und Sorgen</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"> <a href="#Kap_4">44</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center"> 5.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Suschen von drüben</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"> <a href="#Kap_5">52</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center"> 6.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Die Urgroßmutter</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"> <a href="#Kap_6">82</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center"> 7.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Muß man denn immer im Streit sein auf Erden</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Kap_7">120</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center"> 8.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Schwerer Abschied</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Kap_8">139</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center"> 9.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Bei Werners</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Kap_9">154</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center">10.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Noch eine neue Schule</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Kap_10">192</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - <div class="center">11.</div> - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Auf eigenen Füßen</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Kap_11">285</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> -   - </td> - <td class="vat"> - <div class="left">Schluß</div> - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Schluss">289</a></div> - </td> - </tr> -</table> - -</div> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_1">1.<br> -Einleitung.</h2> - -</div> - -<p>Die Adventszeit hatte begonnen. Am Morgen war der erste Schnee -gefallen; jetzt erglänzte der Abendhimmel klar und rein; die mit -den feinen Krystallen des Rauhreifs geschmückten Zweige hoben sich -scharf ab von seinem leuchtenden Hintergrunde; vom nahen Rain herüber -hörte man die Stimmen jubelnder Kinder, die zum erstenmal in diesem -Jahre auf ihren Handschlitten die rasche, immer aufs neue beginnende -Reise machten, vom Hügel zur darunter liegenden Wiese. Am Ende einer -Lindenallee, die mit ihren feinen Zweigen ein besonders strahlendes -Bild in der lichten Landschaft abgab, wenige Minuten nur von der -kleinen Stadt entfernt, öffnete sich jetzt die Thüre eines großen, -grauen Hauses, und mit leisem, fröhlichem Geplauder erschienen auf -der Schwelle etwa 20 bis 25 jugendliche Gestalten, einige schon -jungfräulich erscheinend, andere noch in der<span class="pagenum" id="Seite_2">[S. 2]</span> Kindheit stehend. -Sobald sie die breite Freitreppe verließen, war es, als sei ein Trupp -gefangener Vögel in Freiheit gesetzt worden: die älteren wanderten -paarweis oder zu dreien plaudernd dahin; die jüngeren versuchten zu -schlittern, und hie und da griff eine mit etwas scheuem Seitenblick -nach den Fenstern des Hauses wohl auch nach einem Schneeball, eine -fröhliche Kanonade zu beginnen. Da hörte man etwas lauter als -gewöhnlich eine schlanke Blondine sagen: „Kinder (Kinder ist eine sehr -oft gebrauchte Anrede zwischen Backfischen), sie ist reizend!“ Als ob -das Signal zum Sammeln geblasen wäre, so flogen jetzt die Köpfe aller -größeren Mädchen nach der Seite der Sprecherin; sie stand sofort von -einem dichten Kreis umgeben, aus welchem immer wieder die Ausdrücke: -„Entzückend! einzig! süß! zu lieb!“ zu hören waren.</p> - -<p>„Ja“, rief eine kleine runde Braune, „es giebt nur <em class="gesperrt">eine</em> Fräulein -Feldwart. O, wie ist sie liebevoll! und so anmutig! Stundenlang kann -man ihr mit Spannung zuhören; bei der alten Fräulein Klug wurde ich -immer in der ersten Viertelstunde müde!“</p> - -<p>„Was weiß sie alles“, rief eine andere, „wie erzählt sie, wie schön -singt sie!“</p> - -<p>Der Gegenstand dieser Begeisterung war die neue Lehrerin, Martha -Feldwart, welche seit Ostern in die Schule<span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span> der Frau W., für die alte, -gebrechlich gewordene Fräulein Klug, eingetreten war.</p> - -<p>Jetzt öffnete sich die Hausthüre noch einmal, und die schwärmerisch -Verehrte erschien auf der Schwelle, in der Hand den Regenschirm und -die Mappe mit den Zeichnungen, Noten und Büchern. Es war eine leichte, -schlanke Gestalt, mit einem feinen, ein wenig blassen Gesichte, dessen -dunkle Augen in lieblicher Freundlichkeit leuchteten, als die jungen -Mädchen sie umdrängten, und von allen Seiten die Bitte ertönte: -„Ach, lassen Sie mich Ihren Regenschirm tragen! Ihre Mappe, Fräulein -Feldwart!“</p> - -<p>„Laßt es mir nur“, sagte sie mit angenehmer, herzlicher Stimme, „ich -kann es ja doch nicht allen zugleich geben.“</p> - -<p>„Aber jeder ein kleines Stück, bitte, bitte!“ fing der Chor noch einmal -an, und die Kühnsten hatten sich schnell in Besitz der fraglichen -Gegenstände gesetzt.</p> - -<p>„Trugt ihr Fräulein Klug auch immer die Mappe nachhaus?“ fragte -Fräulein Feldwart.</p> - -<p>Die Kinder blickten sich an mit wunderlichen Gesichtern; endlich sagte -eine: „Ach, das hätten wir gar nicht gewagt; sie sah immer so böse aus, -Fräulein Feldwart!“</p> - -<p>„O“, erwiederte diese ernst, „sie ist gewiß immer recht müde und -matt gewesen, die Arme! Wie schwer mag ihr<span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span> der Unterricht bei ihren -Schmerzen in letzter Zeit geworden sein. Nun hört! bis an die Ecke der -Schustergasse dürft ihr mir die Sachen tragen, — wenn ihr es durchaus -wollt; dann gebt ihr sie mir ohne Widerrede und laßt mich alleine -nachhause gehn.“</p> - -<p>Wenn Fräulein Feldwart so bestimmt sprach, war ihr nichts abzuhandeln, -gar nichts! das wußten die Kinder. Die Schustergasse war schnell -erreicht, und mit herzlichem Gruße trennten sich Lehrerin und -Schülerinnen.</p> - -<p>„Warum wir nicht weiter mitkommen sollen?“ fragte die kleine braune -Helene.</p> - -<p>„Ich glaube, ich weiß es“, rief die blonde Eva, „es ist von wegen der -Klug, die wohnt mit ihr in einem Hause!“</p> - -<p>„Hört!“ fing jetzt Agnes mit leuchtenden Augen an, „mir fällt eben -etwas zu Schönes ein; sie ist noch so fremd hier; wir müssen ihr zu -Weihnachten ein Bäumchen putzen, und jede von uns hängt eine kleine -Arbeit daran.“</p> - -<p>Begeisterung und Zustimmung von allen Seiten! Welch neuer Stoff zur -Unterhaltung! An jeder Straßenecke gab es vor der Trennung noch eine -lange Konferenz, und den Müttern wurde zuhause kaum Zeit gelassen, -sich nach der ungewöhnlichen Verzögerung des Heimwegs zu erkundigen. -Bevor noch das sonst so ersehnte Vesperbrot angerührt<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span> wurde, waren -sie überschüttet mit den schönen Weihnachtsplänen, und die meisten von -ihnen, froh über den beglückenden Einfluß der jungen Lehrerin, boten -gerne die Hand zu ihrer Ausführung.</p> - -<p>Indessen hatte Martha Feldwart das bescheidene Haus erreicht und die -beiden Treppen erstiegen, welche zu ihrer einfachen Wohnung führten. -Angenehm überrascht blieb sie einen Augenblick auf der Schwelle stehen; -das Feuer im Ofen brannte schon und verbreitete eine behagliche -Wärme; der Kaffeetisch war gedeckt, und die kleine Kanne stand in der -Ofenröhre. „Die gute Fräulein Klug!“ rief die Eintretende gerührt, -„da hat sie ’mal wieder alles für mich gethan, trotz ihrer steifen -Glieder!“ Kaum hatte sie Hut und Mantel abgelegt, da eilte sie den -Korridor entlang zum Stübchen der alten Kollegin, ihr Gruß und Dank für -ihre Mühe und Sorgfalt zu bringen.</p> - -<p>Es war eine krumme, gebeugte Gestalt mit einem Angesichte voller -Runzeln und Falten, die dort im Lehnstuhl ruhte, und da sie viel an -Gliederschmerzen litt, trugen ihre Züge einen leidensvollen, grämlichen -Ausdruck; aber aus den Augen leuchtete es doch freundlich, als sie -ihrer jungen Nachfolgerin die welke Hand entgegenstreckte: „Ich bin ja -froh, Fräulein Marthchen, wenn ich noch ’mal was thun darf“, erwiderte -sie auf Marthas warmen Dank.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span></p> - -<p>„Sie sollten herüber kommen und den Kaffee mit trinken!“ bat diese.</p> - -<p>„Lassen Sie mich, liebes Kind! ich habe eben eine Lage gefunden, in -welcher ich es ohne Schmerzen aushalten kann, und Sie müssen ja doch -dann Hefte korrigieren; da können Sie keine Gesellschaft gebrauchen.“</p> - -<p>„Ich sehe aber nachher noch einmal herein und helfe Ihnen ins Bett; das -darf ich doch?“</p> - -<p>„Gewiß“, lächelte die Alte, und die Jüngere kehrte in ihr ungemein -sauberes, gemütliches Zimmer zurück.</p> - -<p>„Ich will mir doch morgen Wolle mitbringen zu einem Tuch für sie“, -sagte sie leise.</p> - -<p>Schöne Adventszeit! Das Christkind ist nicht weit; seine Liebe dringt -durch Paläste und Hütten, seine dienstbaren Geisterchen gehen von -Haus zu Haus, von Herz zu Herz, erwecken Liebesgedanken, entzünden -zu Liebesthaten: groß und klein, und alt und jung. Gar so schnell -eilten Tage und Stunden dahin für alle die emsig schaffenden Hände; -der Christabend erschien, bevor man sich dessen versah. Es war kein -freundlicher Tag mit strahlendem Sonnenschein über der weißgekleideten -Erde. Vom Morgen an tanzte der Schnee durch die Luft in so dichten -Flocken, daß man kaum wenige Schritte weit sehen konnte; der -Wirbelwind jagte ihn, schlug ihn an die Fensterscheiben,<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> und trieb -ihn den mühsam dahinschreitenden, vermummten Gestalten ins Gesicht, -welche ihre letzten Weihnachtsbesorgungen machen wollten; er warf -an den Straßenecken Schneeberge auf, als wollte er allen Verkehr -hindern und hemmen; er entführte die leinenen Wände der Buden auf dem -Weihnachtsmarkte, und dort an der Ecke, wo sie seiner Gewalt am meisten -ausgesetzt waren, stürzten mit großem Krachen zwei Honigkuchenbuden um; -der Besitzer schimpfte und rieb sich die Glieder, die etwas getroffen -worden waren. Mit großem Hallo! und Heisa! eilte die Straßenjugend -herbei, wühlte im Schnee und suchte verunglückte Honigkuchenmänner, -Pfeffernüsse und Bonbons darunter hervorzuziehen. Der Mann wehrte, -seine Frau drohte, aber es war ja Weihnachten! Ein sehr schlimmes -Gericht erging nicht über die Eindringlinge, und manches arme Kind -hielt in den kalten dunkelroten Händchen mit strahlendem Angesichte ein -süßes Beutestück. Auch Martha hatte sich gegen Abend wohl vermummt noch -einmal hinausgewagt mit einem Korb am Arme. Ihre Waschfrau war krank -gewesen und erst seit wenigen Tagen wieder außer Bett; ihr trug sie -etwas Lebensmittel und selbstgestrickte Müffchen und Strümpfe für die -Kinder hin; viel konnte sie nicht erübrigen von ihrem kleinen Gehalt, -aber es war ja Weihnachten! da mußte sie auch die Freude des Schenkens -haben. Sie fand<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> die Familie um ein Tannenbäumchen versammelt, an dem -wenige Äpfel und Nüsse hingen und ein paar kleine Lichter brannten. -Mit Jubel wurden ihre Gaben empfangen, und die Danksagungen aller -folgten ihr, als sie von da den weiteren Weg zum Vespergottesdienst -antrat. Es war ein rechtes Kämpfen gegen Sturm und Wetter; aber es war -ja Weihnachten! Von rechts und links, aus kleinen Gassen und breiten -Straßen eilten mit fliegenden Mänteln und Kleidern alte und junge -Gestalten herbei, und als die kleine Kirche mit den lichtübersäeten, -liliengeschmückten Weihnachtsbäumen die Wanderer in ihren Friedenshafen -aufnahm, als ihnen entgegenklang: „Dies ist die Nacht, da mir -erschienen des großen Gottes Freundlichkeit; das Kind, dem alle -Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit, und dieses Welt- und -Himmelslicht weicht hunderttausend Sonnen nicht“; — da verstärkte der -Gegensatz von drinnen und draußen das selige Gefühl, beim Christkind -geborgen zu sein vor allem Weh und allem Leid des Lebens. Auch in -Marthas empfängliches Herz drang der Strahl der Weihnachtssonne, auch -sie empfand tief das: „Siehe, ich verkündige Euch große Freude!“ und -erhoben und erquickt trat sie den Rückweg an. Er war weit leichter als -der Hinweg; denn, als hätte auch der Sturm die Nähe dessen gefühlt, dem -Wind und Meer gehorsam sind: es war ganz stille geworden<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> draußen. Der -Mond war durch die Schneewolken hindurchgebrochen; in seinem milden -Lichte glänzten festlich die weißen Straßen und Dächer; hin und wieder -ward jetzt ein Fenster hell und die Lichter des Christbaumes warfen -ihren Schein hinaus auf die Straße. „Es ist doch schade, daß ich mir -kein Weihnachtsbäumchen geschmückt habe“, dachte Martha als sie die -enge, wohlbekannte Treppe hinaufstieg. Sie zündete ihre Lampe an und -wollte eben das vollendete Tuch für die alte Nachbarin aus der Kommode -nehmen, da hörte sie Flüstern und Schritte auf der Treppe; sie öffnete -die Thüre, um zu leuchten, aber der Schein einer Laterne glänzte ihr -entgegen, eine kleine weiße Hand schloß energisch die Thüre und eine -liebliche junge Stimme sprach: „Ruhig drin geblieben, sonst bläst Ihnen -das Christkind die Augen aus!“ Dann erklang, von wohlbekannten Stimmen -gesungen, ihr Lieblingsvers:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">„Fröhlich soll mein Herze springen</div> - <div class="verse indent0">Dieser Zeit, da vor Freud’</div> - <div class="verse indent0">Alle Engel singen;</div> - <div class="verse indent0">Hört, hört wie in vollen Choren</div> - <div class="verse indent0">Alle Luft laute ruft:</div> - <div class="verse indent0">Christus ist geboren!“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Dann öffnete sich die Thüre, und welcher Anblick war schöner? Der -grüne zierliche Baum mit brennenden Lichtern,<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> goldenen Sternen und -lieblichen Rosen, oder die hellen Augen, die von der Kälte geröteten -Wangen und strahlenden Gesichter ihrer heißgeliebten Kinder? Die -Thränen stiegen der Überraschten in die Augen; sie wußte selbst -nicht, was ihr Herz jetzt am meisten bewegte; die himmlische oder die -irdische Weihnachtsfreude, und sie konnte anfangs gar nichts weiter -sagen, als: „Meine Kinder! meine lieben Kinder!“ und eine der zarten -Mädchengestalten nach der andern in ihre Arme und an ihr Herz ziehen. -Aber diese wünschten jetzt noch etwas anderes. Martha sollte auch -die Arbeiten ihrer fleißigen Hände bewundern und sich über jedes der -kleinen Geschenke einzeln freuen. Sie that es so gerne, aber mitten -in dem fröhlichen Betrachten durchzuckte sie der Gedanke: „Ach, -meine Klug! meine arme Klug!“ und die Kinder wußten nicht, warum sie -auf einmal so still und nachdenklich zwischen ihnen stand und ein -so wehmütiger Schatten über das Angesicht flog, dessen wechselnden -Ausdruck ihre kindliche Liebe sonst so wohl verstand.</p> - -<p>„Liebe Kinder“, sagte Martha endlich: „Wollt ihr mich nun ganz, ganz -glücklich machen?“ Aller Augen hingen voll Spannung an ihren Lippen. -„Seht, neben mir wohnt Fräulein Klug. Die hat nicht nur euch, sondern -schon vor euch, euere Mütter unterrichtet und hat viel, viel mehr -Anspruch auf euere Dankbarkeit als ich.<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> Nichtwahr, wir tragen ihr das -Weihnachtsbäumchen hinüber? Was gar nicht für sie paßt, das nehme ich -mir herunter; aber die warmen Müffchen und den Ohrenwärmer und einiges -andere, das lassen wir hängen; ist’s euch so recht?“ Ach nein! es war -ihnen gar nicht recht; sie sahen recht niedergeschlagen und traurig -aus. „Sie sorgt für mich, wie eine Mutter, und (hier wurde Marthas -Stimme unsicher) ich werde auch ’mal alt und kränklich sein.“</p> - -<p>Da wurde es unruhig in den jungen Herzen und Gewissen, und als die -blonde Eva schüchtern sagte: „Ja, wenn es Ihnen so die meiste Freude -macht, Fräulein Feldwart“, da stimmten die andern getröstet ein.</p> - -<p>Die Jugend ist elastisch; die Kinder halfen nun selbst auswählen, was -hier bleiben und was hinüber gebracht werden sollte, und gingen gern -auf Marthas Wunsch ein, daß vor Fräulein Klugs Thüre nicht nur der -erste Vers des schönen Weihnachtsliedes, sondern auch der siebente -und der neunte gesungen werden sollte. Das wurde denn auch sehr schön -ausgeführt; denn Marthas klare, sichere Stimme leitete den Gesang. -„Faßt ihn wohl, er wird euch führen an den Ort, da hinfort euch kein -Kreuz wird rühren.“ Das war der Schluß. Drinnen war es ganz still -geblieben. Leise klopfte Martha und öffnete vorsichtig; da stand -Fräulein Klug mitten im Zimmer, hielt sich an die Lehne ihres<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> Stuhles; -gewaltiger Kampf war in ihren Zügen, aber mit finster abweisendem -Blicke sah sie auf die Kinder und den geschmückten Baum. Es fühlten -in diesem Augenblick alle, Martha am tiefsten, daß sie der Einsamen -ein zweifelhaftes Glück bereiteten, und keines konnte sogleich eine -passende Anrede finden.</p> - -<p>Fräulein Klug zeigte mit ihren dünnen Fingern auf Martha: „Sie hat es -euch gesagt, und der Baum ist für sie, und in euere Gedanken ist das -nicht gekommen!“</p> - -<p>Die arme Martha wurde blaß und rot und kämpfte mit den Thränen; konnte -denn, was der heiße Wunsch ihres Herzens ihr schneller eingegeben -hatte, als sie sonst Entschlüsse zu fassen pflegte, wirklich so schlimm -sein in seiner Wirkung? Wie schwer ist es, in solchen Lagen das -befreiende Wort zu finden! Mitunter lehrt es die Liebe.</p> - -<p>Evas Auge hatte fest an dem Gesicht der geliebten Lehrerin gehangen; -jetzt zog tiefes Rot über ihre Wangen, sie trat zu Fräulein Klug, -und sagte mit inniger Stimme: „Es war freilich sehr schlimm, liebes -Fräulein, daß es uns erst gesagt werden mußte, wir wissen aber jetzt, -daß wir sehr undankbar gewesen sind! Bitte, vergeben Sie es uns am -heiligen Weihnachtsabend und nehmen Sie unser Bäumchen freundlich an, -von uns oder von Fräulein Feldwart, von wem Sie es lieber wollen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p> - -<p>Da ging eine große Bewegung über das alte Gesicht: „Nein, Kinder! -das Bäumchen, das habt ihr für Martha geputzt; das soll ihr Stübchen -schmücken in den Feiertagen; ich komme schon hinüber und sehe es mir -an; aber singt mir dann das schöne Lied noch einmal; das wird mir -wohlthun.“</p> - -<p>Der milde Ton ermutigte die Kinder, sie wurden jetzt ganz eifrig im -Zureden: „Aber die Honigkuchen müssen Sie nehmen; meine Mutter hat sie -selbst gebacken, und Fräulein Feldwart hat die andere Hälfte!“</p> - -<p>„Und die Müffchen!“</p> - -<p>„Und die warmen Handschuhe!“</p> - -<p>Das alte Herz war erweicht; dies und jenes nützliche Stück blieb -in ihren Händen; teils konnte sie den bittenden Kinderaugen nicht -widerstehen, teils nahm sie es ihrer jungen Gefährtin zuliebe. Nun ward -das schöne Lied noch einmal gesungen, das alte Fräulein gab ernst aber -freundlich jedem Kinde die Hand; der Tannenbaum wurde wieder in Marthas -Zimmer getragen; dann eilte das junge Voll nachhause, dem eigenen -Weihnachtsbaum und der Bescherung der Eltern entgegen.</p> - -<p>Martha aber ging mit ihrem Tuche noch einmal zu ihrer alten Freundin -hinein. Als sie es ihr um die Schultern legte, fiel aus dem jungen Auge -eine Thräne<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> auf die alte runzelige Hand. Sie sprachen beide nicht; -Martha setzte sich auf einen Schemel der Alten zu Füßen; diese legte -ihre Hand auf den reichen braunen Scheitel und erst nach einer Weile -sagte sie: „Ich war recht schlecht; es war ja so natürlich, und Sie -meinten es so gut, Marthchen! Aber es ist auch schwer, wenn man einmal -jung war und tüchtig und geliebt, und nach und nach fühlt man, daß die -Kräfte schwinden, und daß man seinen Platz nicht mehr ausfüllen kann! -Wenn man dann beiseite geschoben wird und vergessen, da giebt es einen -harten Kampf um Demut und Geduld und um Liebe! Gott schenke Ihnen ein -leichteres Los, mein liebes Kind!“</p> - -<p>Marthas Herz war zu voll zum reden; der Mond schien ins Zimmer; sie -saßen beide eine Viertelstunde still in seinem milden Lichte; da -hörte Martha die alte Freundin leise sagen: „Faßt ihn wohl, er wird -euch führen an den Ort, da hinfort euch kein Kreuz wird rühren.“ Sie -merkte, daß ihre Seele dahingegangen war, wo man des Menschentrostes -gern entbehrt und am liebsten allein ist; so ging sie hinüber in ihr -Stübchen.</p> - -<p>Die Lichter am Tannenbaum brannten noch; sie waren aber sehr kurz -geworden; mitunter entzündeten sich einzelne Tannennadeln und sandten -ihren einzigen, lieben Weihnachtsduft durch das Zimmer. Wem bringt -dieser Duft nicht<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> die süßesten Bilder aus seiner Jugendzeit mit? -Martha saß mit gefalteten Händen, ihr Herz war bewegt. Süße und -schmerzliche Gedanken zogen durch ihre Seele; die Erinnerungen ihres -ganzen Lebens gingen an ihrem inneren Auge vorüber. Die Gedanken -haben schnellere Flügel als Wolken und Winde; eine kurze halbe Stunde -genügte für die Reise durch ihr Leben. Wir, meine liebe junge Leserin, -gebrauchen längere Zeit, wenn wir sie auf derselben begleiten wollen, -und ich bitte dich dazu um deine freundliche Aufmerksamkeit und um ein -wenig Geduld.</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_2">2.<br> -Jugendsonnenschein.</h2> - -</div> - -<p>Im Herzen einer deutschen Residenzstadt lag das stattliche Haus des -Kommerzienrat Feldwart. Es erschien nicht als Palast, sondern als -geräumiges Wohnhaus; es war von außen nicht überladen mit Schmuck, aber -geschmackvoll und harmonisch in seinen Formen. Hinter den hohen hellen -Spiegelscheiben fielen reiche Gardinen herab, dazwischen erblickte man -prächtige, ausländische Gewächse mit ihrem mannigfachen Grün, und wer -den Hausflur betrat, dem sagte die feine Mosaikarbeit des Fußbodens, -die köstlichen bronzenen Flurlampen, von Statuetten gehalten, der -weiche Teppich, der die Stufen der Treppe bedeckte, das stilvolle -Geländer aus Schmiedeeisen und die schweren, eichenen, polierten Thüren -an beiden Seiten, daß er sich im Hause des Reichtums befand. Dies -schöne Haus ward bewohnt von dem wohlwollend aber ernst aussehenden -Hausherrn,<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> seiner etwas starken aber elegant und vornehm erscheinenden -Frau, und Martha, der einzigen Tochter beider, dem schönen, fröhlichen -und klugen Mädchen, das noch nicht lange aus den Kinderschuhen -herausgetreten war, und, wie man es zu nennen pflegt, diesen Winter -in die Welt eingeführt werden sollte. Ja, wollte denn Martha wirklich -in die Welt? War sie ein Weltkind, das nur am Irdischen Freude fand? -O nein! Marthas Seele war jedem höheren geistigen Interesse offen; -die Eltern hatten sich bemüht, ihr die besten Lehrer zu geben, die -wertvollsten Bücher in ihre Hände zu legen; wo es etwas Nützliches und -Gutes zu hören gab, da mußte Martha dabei sein, und als die Zeit ihrer -Einsegnung gekommen war, war sie einem treuen Seelsorger anvertraut -worden; dem war es, da sein eigenes Herz in aufrichtiger Liebe zu -Gott und dem Heilande brannte, leicht geworden, in dem empfänglichen -Kinderherzen die gleiche Flamme anzufachen. Martha ging, auch nachdem -sie den Unterricht verlassen hatte, gern und freudig zur Kirche; sie -las andächtig in Gottes Wort und ihren schönen Erbauungsbüchern, sie -sang mit Begeisterung fromme, geistliche Lieder und hob mit kindlichem -Sinne morgens und abends ihre Hände betend auf. Aber Martha ging -auch eben so gern ins Konzert und Theater, Martha zog sich auch gern -hübsch an und hatte Geschmack darin, schnell<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> auszuwählen, was für sie -paßte; denn stundenlanges Beschäftigen mit Toilettengegenständen war -ihre Sache eben nicht; Martha tanzte auch gerne. Es war so sehr der -natürliche Ausdruck der Jugendkraft und Jugendlust, wenn sie nach dem -Rhythmus der Musik durch den glattgebohnten Saal flog, und es brauchte -zu ihrem Vergnügen gar kein Ball zu sein; wenn die Mutter einen Walzer -spielte, nahm sie ihr kleines, weißes Seidenhündchen auf den Arm und -tanzte fast mit noch größerer Lust durch das Zimmer, wie in der größten -Gesellschaft.</p> - -<p>Sie mußte auch in ihrer Art fleißig sein, denn ihre Zeit war sehr -besetzt; es gab noch französische und englische Stunde; einen -italienischen Abend, Klavier- und Singunterricht, Gesangverein, -Vorlesungen, Lesekränzchen, Proben und Konzerte — jeden Tag etwas -anderes. Dazu kam eine angenehme Geselligkeit. Langeweile kannte sie -nicht; es war ihr nur zuweilen, als ob dies vielerlei sie abhielte, -das einzelne so gründlich zu treiben, wie sie es gerne gethan hätte; -aber Gott hatte ihr einen klaren Kopf, gute Anlagen und frische Kräfte -gegeben, und so schwamm sie doch eigentlich in den Wellen dieser -verschiedenen Eindrücke wie ein Fischlein im Wasser oder ein Vogel in -der Luft, mit glücklichem Herzen und fröhlichem Angesichte; brauchten -ihr doch all die Arbeiten und Mühen des alltäglichen<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> Lebens, die -man zusammen Wirtschaft nennt, keine Sorge zu machen; die ruhten -sicher in den Händen einer wohlgeschulten Dienerschaft und waren in -den behaglichen Wohnzimmern, in denen sich Martha bewegte, nur wenig -zu merken. Der einzige Wunsch, der ihrem jungen Herzen unerfüllt -geblieben, war der: o, hätte ich doch Geschwister! Sie hatte Bekannte, -viele Bekannte; sie nannte sie Freundinnen; aber sie hatte ein Gefühl -davon, die wahre Freundschaft müßte noch anders, noch tiefer und -reicher sein. O, dachte sie oft: eine Schwester, ein Bruder wäre mehr -als sie alle!</p> - -<p>Der Vater Feldwart war oft sehr versunken in seine Geschäfte, -die Mutter eine stille, bequeme Dame; da war ihr der Wunsch nach -jugendlicher Gesellschaft nicht zu verdenken und siehe, seit einigen -Jahren war auch diese ins Haus gekommen und hatte ihr einen großen -Zuwachs an Lebensfreude mitgebracht. Der Vater hatte einen einzigen -Jugendfreund gehabt, einen Doktor Kraus; der war Arzt in einem -Provinzialstädtchen und lebte dort, seit Gott ihm seine Frau genommen, -ganz der Erziehung seines einzigen Sohnes Siegfried. So lange er -rüstig war, hatte er sich jedes Jahr einige Wochen frei gemacht und -sich an irgendeinem schönen Ort im Gebirge, bald im Harz, bald im -Thüringer Wald, bald im Schwarzwald, mit der Feldwartschen<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> Familie -zur Sommerfrische vereinigt, und dies war für beide Freunde, sowie -für ihre wilden fröhlichen Kinder stets eine ersehnte und genußreiche -Zeit; der schlank aufgeschossene Siegfried war dann der Ritter der -kleinen Martha, und da er um 6 Jahre älter war als sie, galt er als -ihr Beschützer auf allen Wegen. Aber schon seit Jahren hatte Herr -Kraus nicht mehr reisen können; ein schweres inneres Leiden fesselte -ihn zuerst ans Haus, dann an sein Lager, und niemand wußte besser -als er, daß es ihn seinem Ende entgegen führte. Sein Freund Feldwart -hatte ihn auf seinem Schmerzenslager noch einmal besucht und ihm das -Versprechen gegeben, sich nach seinem Tode des verwaisten Sohnes -anzunehmen. Als nun das erwartete Ende eintrat, erhielt Herr Feldwart -mit der Todesnachricht zugleich ein Schreiben des Entschlafenen, -welches die Pläne und Wünsche desselben für die fernere Laufbahn -seines Siegfried enthielt. Ein Bruder des Doktor war als junger -Mann nach Amerika gegangen und hatte dort in Missouri verschiedene -landwirtschaftliche Etablissements und Fabriken angelegt. Er war ein -sehr begüterter Mann, und da er unverheiratet geblieben war, wünschte -er dringend, daß Siegfried zu ihm kommen, ihm in seiner Thätigkeit -beistehen und schließlich sein Erbe werden möge. Für den jugendlichen -Siegfried, so ungern er sich von seinem Vater trennte, hatte die -Aussicht<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> auf dies fremde Land und die unbekannten Verhältnisse etwas -Verlockendes; Herr Kraus fühlte, daß seine Lebenszeit bald verflossen -sein würde, er konnte Siegfried nur ein kleines Erbe hinterlassen; -so machte er nur die Bedingung, daß dieser erst seine Ausbildung in -Deutschland vollenden, einen praktischen Kursus in der Landwirtschaft -durchmachen, seiner Militärpflicht genügen und einige Jahre in der -Hauptstadt Kollegien über Physik, Chemie und andere dahin einschlagende -Wissenschaften hören sollte. Die praktische Landwirtschaft hatte er -noch beim Leben seines Vaters erlernt; seit dem Tode desselben war er -in B., und wenn er auch nicht bei Feldwarts wohnte, brachte er doch -fast alle seine freie Zeit daselbst zu; und wie er sich mit Martha -als Kind gejagt hatte und mit ihr über den Graben gesprungen war, so -teilte er nun gern ihre ernsteren Beschäftigungen, las mit ihr gute -englische und deutsche Bücher, begleitete ihre liebliche Singstimme auf -dem Klavier, oder mit seinem kräftigen, gut geschulten Baß. Die Eltern -wurden es kaum gewahr, daß aus den Kindern Leute geworden waren, und -sie selbst hatten bis dahin einen so geschwisterlichen Ton, wenn sie zu -einander sprachen, daß sowohl die Dienerschaft des Hauses, als auch die -Freunde desselben den unbefangenen Verkehr durchaus natürlich fanden.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span></p> - -<p>Seit dem Frühjahr hatte Siegfried seine Studien vollendet, machte -sein Militärjahr durch und kam nach dem Manöver als braungebrannter, -wohlbestallter Unteroffizier bei Feldwarts an. Martha empfing ihn -höchst fröhlich. Wenn ihm auch das Dienstjahr weniger freie Zeit -ließ, — einige Mußestunden gab es immer, und sie hatte ihm soviel -mitzuteilen — soviel neue Bücher, soviel schöne Lieder, die sie nun -mit ihm zusammen einstudieren wollte. Auch Frau Feldwart war ganz die -Alte; aber nicht ohne Grund hingen ihre Augen zuweilen mit Besorgnis -an den welken, eingefallenen Zügen und matten Augen ihres Mannes. Er -klagte nicht viel; er mochte nicht einmal leiden, daß man über seinen -Zustand sprach. Der Arzt sagte: „Er hat angegriffene Nerven, er muß ins -Seebad!“</p> - -<p>Der Kranke lächelte grämlich: „Ich werde alt, das ist alles!“</p> - -<p>Martha hatte noch nichts Schweres erlebt; sie tröstete sich: Es wird -schon wieder anders werden! Für jetzt kam die schöne Adventszeit, -brachte Arbeit für ihre Hände und freundliche Beschäftigung für ihre -Gedanken; wenn Siegfried Kraus kam, hatte sie ihm immer allerlei neue -Pläne mitzuteilen oder kleine Aufträge zu geben.</p> - -<p>„Sehen Sie nur, Siegfried!“ sagte sie eines Abends, „Mama hat mir nun -wirklich die schöne Rokoko-Kommode<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> von der Urgroßmutter geschenkt, -die ich so lange schon gern haben wollte; ich habe all meine kleinen -Überraschungen eingeräumt. Dabei habe ich noch eine Menge Briefe, -Papiere und Stammbuchblätter gefunden; auch auf ganz gelbem Papier ein -Weihnachtslied; das können wir gleich zusammen einüben!“</p> - -<p>Wann hätte jemals Siegfried „Nein!“ gesagt, wenn sie um etwas bat? -Das Lied wurde zweistimmig gesungen und klang gar rein, frisch und -andächtig von den jungen Stimmen. Am heiligen Abend kam Siegfried -zeitig; Frau Feldwart hatte noch in der Bescherstube zu thun, der -Kommerzienrat im Geschäft.</p> - -<p>„Wie werde ich übers Jahr Weihnachten feiern“, fragte Siegfried ernst.</p> - -<p>Marthas Herz wurde ganz schwer, und in ihren Augen standen Thränen. Sie -hatte die Trennung nur immer in weiter Ferne gesehn, hatte vielleicht -auch heimlich gehofft, es sollte noch etwas dazwischen kommen; nun -war sie so nah! Es kam ihr vor, als wären auf einmal alle Blumen in -ihrem Garten verhagelt; sie konnte sich gar kein Leben mehr denken -ohne Siegfried. Aber am heiligen Weihnachtsabend durfte man doch nicht -weinen. „Kommen Sie, Siegfried!“ sagte sie, „ehe die Eltern fertig -sind zur Christvesper, können wir noch einmal Urgroßmutterchens Lied -singen!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p> - -<p>Sie sangen:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">„Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht,</div> - <div class="verse indent0">Die uns das höchste Gut gebracht,</div> - <div class="verse indent0">Dich Gottessohn, dich Königskind,</div> - <div class="verse indent0">Das man im Stall und Kripplein find’t.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">„Daß ich empfinge Kindesrecht,</div> - <div class="verse indent0">Wohnst du wie ein geringer Knecht,</div> - <div class="verse indent0">D’rum will ich gern gering und klein,</div> - <div class="verse indent0">Herr, dir zu Lieb’ und Ehren sein.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">„Dein war des Himmels Herrlichkeit,</div> - <div class="verse indent0">Aller Welt Schätze weit und breit,</div> - <div class="verse indent0">Du wurdest arm, daß ich würd’ reich,</div> - <div class="verse indent0">Nun gilt mir arm und reich sein gleich!</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">„Du kamst aus lichtem Himmelssaal</div> - <div class="verse indent0">Und gingst für mich durchs dunkle Thal;</div> - <div class="verse indent0">Ich bin zum Leid nun auch bereit,</div> - <div class="verse indent0">Da du es durch dein Leid geweiht.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">„Für mich, mein Lebensfürst und Gott,</div> - <div class="verse indent0">Gabst du dich hin in Todesnot,</div> - <div class="verse indent0">Daß ich dem Tod verfall’nes Kind,</div> - <div class="verse indent0">Durch dich das ew’ge Leben find’t.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">„Ich kniee an dein Kripplein hin</div> - <div class="verse indent0">Und fasse nicht das Wunder d’rin,</div> - <div class="verse indent0">Und bitte dich, o Herr, verleih</div> - <div class="verse indent0">Daß dies mein Bitten ernstlich sei.</div><span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">„Du giebst dich mir, Herr Christ! ich hab’</div> - <div class="verse indent0">Nur mich als arme Gegengab’,</div> - <div class="verse indent0">So nimm mich hin, Rat, Kraft und Held,</div> - <div class="verse indent0">Und mach aus mir, was dir gefällt.“</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Die Eltern standen schon in der Thüre, als der letzte Ton verklang; die -Mutter war zum Ausgehen angekleidet, Herr Feldwart hatte Thränen in -den Augen: „Ich will lieber hier bleiben“, sagte er, „ich habe etwas -Kopfweh!“</p> - -<p>Martha war schnell in ihren hübschen Winteranzug gehüllt. Siegfried -ging mit den Damen zur Kirche. Aus der nächsten Hausthüre trat Frau -Geh.-Rat D., und schloß sich ihnen an. Man hatte erst eine Droschke -nehmen wollen, aber die Sterne glänzten so freundlich, die Winterluft -wehte frisch, und es war noch zeitig; da ließen sich die älteren -Damen gern bereden, den Weg zu Fuße zurückzulegen. Sie gingen voraus, -Siegfried und Martha hinter ihnen; der Weg führte eine ganze Strecke -weit am Rande des Parkes hin; hier war es verhältnismäßig still und -einsam.</p> - -<p>„Martha“, sagte Siegfried, „wir haben’s nun so oft gesungen; ‚Nun will -ich gern gering und klein, Herr, dir zu Lieb und Ehren sein‘, und: ‚Nun -gilt mir arm und reich sein gleich‘; ich möchte wissen, ob das so ganz -und gar Ihr Ernst ist!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p> - -<p>„Natürlich“, sagte sie, und schlug die Augen zuversichtlich zu ihm auf.</p> - -<p>Das war ja gewiß; sie hatte in ehrlicher Begeisterung das Lied mit -ihm gesungen, aber: was dachte sie sich wohl unter: arm sein? Was -man gar nicht kennt, das fürchtet man nicht. Statt Sammet und Seide -Wolle tragen, statt Kaviarsemmeln nur Butterbrot essen; in einer recht -reizenden rosenumrankten Hütte wohnen — warum denn nicht? Es fragte -sich nur, mit wem?</p> - -<p>„Sehen Sie, Martha“, fuhr er fort (sie begegneten jetzt einer Schar -lärmender junger Leute, und er legte ihren Arm in den seinigen): „Sehen -Sie, den ganzen Tag ist mir so weh gewesen bei dem Gedanken, daß ich so -weit von Ihnen fort soll, als könnte ich das gar nicht ertragen. Wenn -Sie wirklich möchten klein und arm sein, vielleicht brauchten wir uns -nicht zu trennen; vielleicht könnte ich die liebe kleine Hand in meiner -behalten ein ganzes Leben lang.“</p> - -<p>Wie glückselig blitzten Marthas Augen auf; aber es war nur ein rascher -Blitz, ein tiefer Schreck verscheuchte den leuchtenden Ausdruck: „Aber -Siegfried! meine Eltern, und Amerika!“</p> - -<p>„Darüber sein Sie ruhig, Martha, ich denke, es soll gehen ohne den -Oheim in Missouri.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span></p> - -<p>Martha dachte nach: „Sie meinen, der Vater könnte uns hier ein Gut -kaufen?“</p> - -<p>„Nein, Martha, das nicht! Das wäre sehr unbescheiden gedacht und -ganz gegen meine Ehre. Wissen Sie, ich denke es mir so: Ein kleines -Vermögen besitze ich selbst; jetzt ist die Pacht vom Rosenhof frei; -ich besah das Gut neulich, als unser Regiment in der Nähe rastete; die -Verhältnisse sind sehr günstig; wenn mir Ihr Vater mit einem mäßigen -Vorschuß und seinem Kredit helfen wollte, daß ich es übernehmen könnte, -und wir fingen dann recht klein und fleißig an, und wenn wir leidlich -gute Jahre hätten, zahlten wir es nach und nach ab; das sollte doch -wohl gehen!“</p> - -<p>„Rosenhof!“ herrlicher Name! „Gutsfrau sein, und <em class="gesperrt">seine</em> -Gutsfrau!“ entzückender Gedanke! Sie sah sich schon im rosa -Satinmorgenrock mit frisurenbesetzter Schleppe, feinem Morgenhäubchen, -weißer gestickter Batistschürze, den blanken Fülllöffel in der Hand -zwischen lauter weißen, rahmbedeckten Milchsatten stehen, und als er -fragte: „Nun Marthchen, wie ist es, willst du es mit mir wagen?“ da -sah sie ihn glückselig an und drückte leise seine Hand; sie konnte -auch weiter nichts sagen, denn die Kirche war erreicht, und der volle -Orgelton klang ihnen entgegen.</p> - -<p>Ob die beiden heute Abend sehr, sehr andächtig waren?<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> Glücklich und -hoffnungsvoll waren sie und trugen auch dem lieben Gott immer wieder -ihren Herzensdank und ihre stillen Wünsche vor; aber die echte rechte -Weihnachtsfreude war heute nicht in ihren Herzen. Auf dem Heimwege -gesellten sich Bekannte zu ihnen, da konnten sie wenig reden. Nur -bat Martha: „Sage heute Abend dem Vater noch nichts; er kann niemals -schlafen, wenn er sich abends aufregt; komme lieber morgen nach der -Kirche“.</p> - -<p>Sie kamen nachhause; der Weihnachtsbaum beleuchtete reiche, köstliche -Gaben, vier strahlende Augen und zwei glückselige Herzen. Morgen, -morgen sollte es offenbar werden, was heute geknüpft war! Kein Zweifel -trübte ihre Freude; wußten sie sich doch beide gleich geliebt von dem -Elternpaar. So schön, so schön war es bisher gewesen, nun sollte es -noch viel, viel schöner sein. Kam denn in dieser Nacht kein dunkler -Traum, um die beiden, die bisher im Maiensonnenschein gewandelt waren, -vorzubereiten auf das erste schwere Gewitter?</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_3">3.<br> -Sturm.</h2> - -</div> - -<p>Der Kommerzienrat Feldwart saß in seinem Lehnstuhl, als Siegfried -gegen Mittag bei ihm eintrat; zum erstenmal fiel diesem die bleiche, -tonlose Farbe und die Schlaffheit der Züge seines väterlichen Freundes -auf. Müde öffnete derselbe die halb geschlossenen Augen, aber als -er Siegfried erkannte, flog ein freundliches Lächeln über das welke -Gesicht: „Tritt näher, lieber Siegfried, du störst mich nicht!“</p> - -<p>Siegfried trat näher, er nahm auch auf einen Augenblick den ihm -gebotenen Stuhl; aber als er von seiner Liebe zu Martha anfing zu -sprechen, da stand er vor dem Vater, eine schöne, kräftige jugendliche -Gestalt, die wohl geeignet schien, ein zartes Mädchen zu stützen.</p> - -<p>Herr Feldwart mochte Ähnliches denken; er sah ihn mit wehmütigem -Wohlgefallen an, als sein warmes Herz die Worte rasch und fließend -über die Lippen trieb, aber er<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> unterbrach ihn bald mit demselben -Schreckensruf, wie gestern die Tochter: „Aber Siegfried: Amerika!“</p> - -<p>„Herr Feldwart“, sagte dieser, „ich denke, wenn Sie mir nur ein wenig -mit Rat und That beistehen wollen, so wird es ohne den Oheim in -Missouri gehen!“</p> - -<p>„Kindskopf!“ rief der alte Herr ungeduldig, schob seinen Stuhl zurück, -ging einigemal mit großen Schritten heftig durchs Zimmer und blieb dann -vor Siegfried stehen, „Kindskopf! willst du deine ganze Zukunft einem -Mädchen opfern, das noch ein Kind ist und noch gar nicht weiß, was es -thun oder lassen soll? Da wird nichts daraus, mein Lieber!“</p> - -<p>„Ich denke, Martha weiß, daß sie mich lieb hat, das ist mir genug. O -bitte, hören Sie mich an, Herr Feldwart; der Oheim in Missouri schrieb -seit meines Vaters Tode nicht wieder; er wollte mich damals bestimmen, -sogleich zu ihm zu kommen; ich schlug ihm das ab, vielleicht mit etwas -kurzen Worten. Er wird sich indessen andere Hilfe gesucht haben, und es -widersteht mir, hinüber zu gehen und mich ihm anzubieten, gewissermaßen -in der Absicht, ihn zu beerben; ich kann dies erwarten und möchte mir -weit lieber hier durch meine eigene Thätigkeit eine Existenz gründen.“</p> - -<p>„Sehr großartig“, sagte der Kommerzienrat ein wenig ironisch, „und wie, -wenn ich fragen darf?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p> - -<p>Da kam denn wieder Rosenhof zutage.</p> - -<p>„Verstehen Sie mich nicht falsch; ich möchte keinerlei Ansprüche an -Ihre Hilfe machen; aber Martha und ich lieben uns sehr. Wenn Sie mir -mit einem kleinen Vorschuß und Ihrem Kredit helfen wollten, könnte ich -das Gut übernehmen. Martha und ich würden sehr fleißig und sparsam sein -und es nach und nach abtragen; Sie wissen, ich bin kein schlechter, -leichtsinniger Wirt, und ich habe das Meinige gelernt, und Martha will -mir gerne dabei helfen.“</p> - -<p>„Ist auch ganz dafür erzogen, versteht recht viel von der Wirtschaft“, -fuhr der Vater auf.</p> - -<p>Er hatte während Siegfrieds Worten das Zimmer ruhelos durchmessen; -dennoch war dem Jüngling der Wechsel der Farbe auf seinem Gesichte, -der Ausdruck von Kampf und Qual in seinen Zügen nicht entgangen. Jetzt -standen sie sich gegenüber.</p> - -<p>Herr Feldwart war totenbleich aber ernst und gefaßt: „Ich kann Ihnen -nicht helfen, Siegfried! und ich werde es nicht thun, auch nicht mit -einem einzigen Pfennig; das Beste ist, ihr seht euch gar nicht wieder!“</p> - -<p>„Das ist nicht Ihr Ernst, das können Sie nicht wollen?“</p> - -<p>„Siegfried, du weißt, was ich deinem Vater versprochen habe; du weißt, -wie ich dich lieb gehabt habe diese ganze<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> Zeit; Gott weiß, daß es -mir schwer wird! ich kann es dir auch nicht erklären, später wirst -du es einmal verstehen: Siegfried, dies ist mein letztes Wort! Ich -werde niemals, niemals meine Erlaubnis zu deiner Verheiratung mit -Martha geben; ich werde dir keinen Heller vorstrecken zur Übernahme -von Rosenhof; wenn du mich nicht töten oder um meinen Verstand bringen -willst (der Arme sah aus, als sei dies sehr leicht möglich), so -verlasse jetzt das Haus, sieh Martha nicht wieder, lege das Weltmeer -zwischen dich und sie, da wirst du ruhiger werden.“</p> - -<p>„Und Martha?“ fragte Siegfried tonlos.</p> - -<p>„Martha“, sprach der Kommerzienrat, und es klang wie Schluchzen in -seiner Stimme, „Martha ist jung, es geht nicht anders, Siegfried!“</p> - -<p>Siegfried liebte, aber Siegfried war auch stolz; er wandte sich und -ging zur Thüre, und der Vater, hingesunken in den Lehnstuhl, bleich und -zitternd, hörte ihn die Treppe hinunterstürmen und das Haus verlassen.</p> - -<p>Martha saß indessen mit heißen Wangen neben der Mutter, der sie ihr -süßes Geheimnis anvertraut hatte; sie lauschten beide auf des Vaters -Ruf; auch die Mutter zweifelte nicht an der glücklichsten Lösung; jetzt -kamen eilige Schritte über den Korridor; Martha flog auf, wie sie -glaubte dem Geliebten entgegen. Er stürmte vorüber. Sie<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> hörten die -Hausthüre sich öffnen und schließen, sie sahen ihn fortstürmen, ohne -sich umzusehn: „Ach Mutter, liebe Mutter, was ist das?“</p> - -<p>Frau Feldwart war eben so bestürzt als Martha. Als eine halbe Stunde -lang in des Vaters Zimmer kein Ton zu hören war, ging sie leise zu -ihm hinein. Martha saß mit angehaltenem Atem; es schien ihr eine -Ewigkeit vergangen zu sein, bevor die Mutter zurückkam. Sie sah blaß -und verweint aus, setzte sich neben Martha, nahm ihre Hände und sagte: -„Mein gutes, armes Kind, du mußt dich darein finden; dein Vater hat -dem Siegfried nein gesagt. Ich verstehe es nicht, ich verstehe es gar -nicht; aber er muß sehr ernsthafte Gründe haben; er ist selbst so -erschüttert, ich fürchte, es wird ihm schaden.“</p> - -<p>Martha starrte die Mutter an und schüttelte ganz langsam den Kopf: „Es -kann ja nicht sein, es kann ja gar nicht sein!“</p> - -<p>Sie saßen eine Weile starr und stumm.</p> - -<p>„Martha“, sagte die Mutter nach einiger Zeit, „versprich mir eins: sei -jetzt ruhig und quäle den Vater nicht; ich fürchte, es steht nicht zum -besten um seine Gesundheit; ihr seid beide noch jung, Siegfried hat -dich sehr lieb. Wenn die Hindernisse, welche zwischen euch liegen, -überwunden werden können, so überwindet er sie mit der Zeit; es ist<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> -irgendetwas dabei, was ich nicht begreife. — Hörst du, Martha? füge -dich und quäle den armen Vater in diesen Tagen nicht!“</p> - -<p>Martha versprach es unter heißen Thränen. Der Gedanke, Siegfried -werde alles versuchen, ihre Hand zu erlangen, war ihr tröstlich. Das -Wiedersehn mit dem Vater erschütterte beide sehr; er drückte sie immer -wieder ans Herz: „Mein armes Kind, es geht ja nicht anders! Martha, -sei ruhig! mach mir das Herz nicht noch schwerer!“ Er sah so unsäglich -elend aus, daß Martha wirklich den Versuch machte, sich äußerlich zu -bezwingen. Langsam und trübe schlich die Festwoche dahin; die geplanten -Vergnügungen wurden abgesagt mit dem Bemerken, daß Herr Feldwart unwohl -sei. Die Freunde, welche ins Haus kamen, fanden Frau Feldwart nur etwas -ernster als sonst, und Martha ließ sich nicht sehen.</p> - -<p>Mit den Neujahrskarten kam ein Brief von Siegfried:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p class="mleft2">„Meine liebe Martha!</p> - -<p>„Da mich Dein Vater abgewiesen hat, ohne mir auch nur die geringste -Hoffnung zu lassen, so eile ich nun dahin, wo ich sicher glaube, -mir so viel zu erwerben, daß ich, so Gott will, später mit größerem -Rechte vor ihn hintreten und meinen Wünschen Geltung verschaffen -kann. Bis dahin behüte Dich Gott: ich will kein Versprechen und gebe -Dir<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> keins, aber, daß ich Dich fort und fort lieben werde wie heute -— das weiß ich! Der Vater meines Freundes und Kameraden, General -W., war mir behilflich, meine hiesigen Verpflichtungen schnell zu -lösen, und wenn Du diese Zeilen liesest, bin ich bereits auf dem Wege -nach Bremen, wo ich mich einschiffen will nach meiner neuen Heimat. -Sei tapfer und hoffe, meine liebe Martha, wie Dein betrübter, treuer -Siegfried Kraus.“</p> -</div> - -<p>Einen Augenblick war sie glücklich; es war ja ein Lebenszeichen von -ihm; im andern wurde es ihr klar: er war ja fort, weit fort! Wie -lange würde sie ihn nun nicht sehen, vielleicht nicht einmal von ihm -hören; es war ihr, als wäre ihr ganzes Jugendglück, aller Sonnenschein -und jede Hoffnung ihres Lebens mit ihm eingeschifft und zöge von ihr -fort in unabsehbare Ferne. Sie weinte — weinte, als sollte ihr das -Herz brechen. Dann bezwang sie sich, so lange sie bei den Eltern war; -aber abends in ihrem sonst so trauten Stübchen, da brach der Schmerz -aufs neue aus. Sie wollte sich Trost suchen, sie holte ihre Bibel, -aber die Worte verschwammen vor ihren umflorten Augen; sie dachte des -Weihnachtsliedes: „Ich bin zum Leid nun auch bereit, da du es durch -dein Leid geweiht!“ Aber dies Leid war ja zu schwer, an solche Trübsal -hatte sie dabei nicht gedacht. Sie suchte ihr Lager; vor acht Tagen -war sie so glückselig<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> eingeschlafen; konnte man denn in einer Woche -so unglücklich werden? Das Kopfkissen war naß von ihren Thränen, und -Mitternacht war lange, lange vorüber, da erst trat mit leichtem, leisen -Schritte der Schlummerengel ins Zimmer und deckte sie und ihren heißen -Schmerz mit seinem kühlen, weichen Flügel zu.</p> - -<p>Als Martha am andern Morgen erwachte, drang schon das Morgenlicht -durch die halbgeöffneten Jalousieen. Wie schwer ist das Erwachen, wenn -über Nacht das ganze Leben eine andere Gestalt angenommen hat. Langsam -und mechanisch kleidete sie sich an zu einem Leben ohne ihn und ohne -Freude. Daß es unten im Hofe unruhiger war als sonst, hörte sie anfangs -nicht, und als sie es wahrnahm, schob sie es auf die vorgerückte -Tageszeit. Ihr Zimmerchen lag nach dem Hofe heraus; an der gegenüber -liegenden Seite desselben zogen sich die Comptoirräume hin. Als sie -die Fenster öffnete, fiel ihr eine hohe, kräftige Männergestalt in -die Augen, welche mit eiligem Schritt ins Geschäftslokal trat: „Onkel -Konsul, so früh am Morgen?“ Der erste Buchhalter lief mit Briefen -hin und her; einige der jungen Kaufleute, die sonst um diese Zeit -fest im Comptoir saßen, standen im eifrigsten Gespräche mitten im -Hof; das Bild war ganz anders, als sie es sonst zu sehen gewohnt war, -eine unbestimmte Sorge stieg in ihrem Herzen auf, und sie<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> eilte ins -Frühstückszimmer. Hier war keine Veränderung zu bemerken, als daß die -Mutter sie mißmutiger als gewöhnlich begrüßte.</p> - -<p>„Es ist heute ein ungemütliches Frühstücken“, sagte sie. „Der Vater ist -schon seit einer Stunde fort; er hat nicht einmal seine Tasse Kaffee -ausgetrunken, und nun kommst du so spät! Ich dachte schon, du kämest -gar nicht mehr.“</p> - -<p>„Ich schlief so spät ein“, sagte Martha betrübt, „und beim Papa ist -schon Onkel Konsul zum Besuch.“</p> - -<p>„Onkel Konsul? Was muß der wollen? Der kommt ja sonst doch nicht so -früh!“</p> - -<p>Konsul M. war ein Vetter der Frau Feldwart und der nächste Freund -ihres Mannes. Sie sollten nicht lange auf die Erklärung warten, schon -nach einer halben Stunde erschien der Erwähnte mit ganz ungewöhnlich -ernstem, feierlichem Gesichte, schnitt die Begrüßung seiner Cousine -kurz ab, setzte sich zu den Damen und sagte: „Ich habe euch leider eine -sehr ernste Mitteilung zu machen, ihr Lieben.“</p> - -<p>„Ist Papa krank?“ rief Martha und eilte zur Thür.</p> - -<p>„Nein, Martha, bleib! Er ist sehr angegriffen, aber krank ist er bis -jetzt nicht. Ihr versteht nichts von Geschäften, aber das wißt ihr, daß -in London zwei große Handelshäuser gefallen sind. Es waren Häuser, mit -denen Feldwart in fortwährender Verbindung stand, und es trafen<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> ihn -infolge davon Verluste auf Verluste. Doch hatte er bis gestern immer -noch einige Hoffnung, daß er sie ausgleichen und seine Handlung retten -könne. Ein Brief am heutigen Morgen zeigt ihm den Fall einer Firma in -Hamburg an, mit welcher er noch viel enger verbunden war. Es ist nun -keine Hoffnung mehr, daß er sich halten kann, und er schickte zu mir, -daß ich ihm helfen soll, alle die schlimmen Schritte zu thun, welche -nötig sind bei der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit.“</p> - -<p>Frau Feldwart saß auf ihrem Stuhle und starrte den Sprecher an, als -könnte sie nicht fassen, was er sagte.</p> - -<p>Martha sprang auf: „Mein Vater! mein lieber Vater! ich muß zu ihm!“</p> - -<p>In diesem Augenblick trat er herein, von seinem alten Kutscher geführt -— ein Bild des Jammers! Der alte Johann setzte ihn in seinen Lehnstuhl -und einen Augenblick verließ ihn das Bewußtsein; eine tiefe Ohnmacht -umschleierte seine Sinne; unter Marthas Bemühungen kam er wieder zu -sich. Sie kniete neben ihm und stützte seinen Kopf, als er allmählich -sich seiner Umgebung bewußt wurde. Er sah sie schmerzlich an: „Mein -Kind, mein armes Kind! verstehst du es nun? ich durfte ihn ja nicht mit -hineinziehen; ich versprach seinem Vater, für ihn zu sorgen.“</p> - -<p>Ja, sie verstand alles; aber ihr ganzes Herz bebte jetzt<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> nur im -Mitgefühl mit dem Vater, der in wenigen Stunden ein Greis geworden war. -Er fing jetzt an zu weinen, zu weinen wie ein Kind. Martha hatte ihn -noch nie weinen sehen. Sie netzte seine Schläfen mit wohlriechendem -Wasser, sie holte Wein vom Frühstückstische und nötigte ihn zu trinken. -Arme Martha! Ein wenig Beruhigung für sein Herz wäre die beste Medizin -gewesen. Die Mutter konnte ihm diese nicht geben, sie saß noch immer -stumm und rang die Hände; aber sein Freund trat zu ihm und sagte: -„Feldwart, willst du die ganze Sache in meine Hände legen? Willst du -mir Vollmacht geben, mit deinen Gläubigern zu unterhandeln und Verträge -abzuschließen?“</p> - -<p>„Ja, M., ich danke dir tausendmal!“</p> - -<p>Die gerichtliche Vollmacht wurde noch an demselben Morgen ausgestellt, -und es zeigte sich bald, daß dies gut war, denn es stellte sich beim -Kommerzienrat ein schlummerartiger, fieberhafter Zustand ein; er mußte -zu Bett gebracht werden und fing an zu phantasieren. Martha verlebte -acht schwere und sorgenvolle Tage und Nächte an seinem Lager, nur -unterstützt von dem treuen, alten Johann. Frau Feldwart ging ab und -zu, ordnete auch wohl dieses und jenes an; aber es schien, als sei in -dem furchtbaren Augenblicke, da die Stütze des Reichtums in ihrer Hand -zerbrach, alle Ruhe und Haltung von ihr gewichen. <em class="gesperrt">Sie</em><span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> ging von -Zimmer zu Zimmer, stand hier einmal am Fenster und dort einmal und -starrte ins Leere; sie sah keinen Zielpunkt für ihre Augen, keinen -Stab, an dem sie sich halten und aufrichten konnte. „Arm, arm, ganz -arm!“ hörte man sie immer wieder sagen.</p> - -<p>Es war der Vermittelung und Fürsorge des Konsuls zu danken, daß für -jetzt noch die Wirtschaft im alten Gange blieb.</p> - -<p>Am neunten Tage saß Martha des Morgens an ihres Vaters Bett, als er die -Augen matt aufschlug: „Wo ist die Mutter?“</p> - -<p>Sie trat im selben Augenblick herein.</p> - -<p>Einen Augenblick sah der Kranke beide freundlich an, dann ging eine -Erschütterung über sein Gesicht: noch ein leiser Seufzer, ein Zittern, -und er war aller Angst und Not entrückt. Aber für die Seinen begann -sie in doppelter Weise. Bis zum Begräbnis gelang es dem Konsul, die -Ruhe um die beiden Trauernden zu erhalten; sie waren sehr verschieden, -diese beiden! Bei der Mutter mischte sich die Angst vor der drückenden -Lage, welcher sie entgegenging, so sehr mit der Trauer über den Verlust -ihres Gatten, daß all’ ihre Klagen mit Bitterkeit gemischt waren und -sie zu einer reinen, wohlthuenden Empfindung ihres Schmerzes gar -nicht kommen konnte, noch viel weniger zu dem Entschluß,<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> irgendeinen -Plan für ihre Zukunft zu entwerfen. Martha fühlte, wenn sie an ihren -zärtlich geliebten Vater dachte, eine solche Beruhigung, ihn aller -Not entrückt zu wissen, daß ihre Thränen oft recht sanft und lind -flossen; sie fühlte auch Mut für die Zukunft, sie hatte den ernstlichen -Willen, ihrer verzagten Mutter das Leben nicht schwer, sondern leicht -zu machen, zu tragen, zu arbeiten, so viel sie konnte, aber freilich: -über das Wie? war sie ganz im unklaren; hier hoffte sie ganz auf -den Beistand des Onkel Konsul, und dieser wurde ihnen ja auch nach -Möglichkeit zuteil. Kaum war das Begräbnis seines Freundes vorüber, -als er bei den betrübten Frauen eintrat, um ihnen ihre Verhältnisse -klar darzulegen und über ihre nächste Zukunft zu beraten. Das Vermögen -der Frau Feldwart war ganz mit im Geschäft gewesen und nicht zu -retten. Aber der Verstorbene hatte in sehr hoher Achtung bei seinen -Berufsgenossen gestanden; so kam den Bemühungen seines Freundes -von allen Seiten viel guter Wille entgegen, und es wurde dadurch -möglich, nach dem Vergleich mit den Gläubigern eine kleine Summe zu -erübrigen, von welcher die Witwe, mit einer Leibrente, welche sie -besaß, notdürftig leben konnte; auch wurde ihr auf demselben Wege so -viel an Hausrat und Wäsche zugestanden, als sie zur ersten Einrichtung -notwendig brauchte.</p> - -<p>Das war ja klar, daß die Verwaisten sich einen kleineren<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> und -billigeren Wohnort suchen mußten. Frau Feldwart war auf einem großen -Gute erzogen in der Nähe der nicht ganz unbedeutenden Kreisstadt H., -die freundlich zwischen Feldern, Wiesen und baumreichen Gärten lag. -Konsul M. kannte dort einen älteren Beamten, dem er den Auftrag gab, -eine bescheidene Wohnung zu mieten, auch dort am Orte ein Mädchen zu -besorgen, da bei der ganzen bisherigen Lebensweise der Frauen nicht zu -hoffen war, daß sie sich ohne ein solches behelfen könnten. Es kam denn -auch bald die Nachricht, daß beides geschehen sei. So wurde mit des -alten, betrübten Johanns Hilfe und unter Leitung des Onkels Konsul der -Möbelwagen gepackt, und die Frauen durften abreisen, bevor das schöne -Haus mit seiner trauten, prächtigen Einrichtung unter den Hammer kam.</p> - -<p>Konsul M. brachte seine Verwandten zur Bahn; Frau Feldwart sah starr, -bleich und unglücklich aus, sie hatte in den letzten Tagen kaum ein -Wort gesprochen; Martha hing weinend an des Vetters Halse. Nun saßen -sie im Coupé, langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Die Mutter -schloß die Augen, während Marthas umflorte Blicke jeden lieben, -bekannten Gegenstand gleichsam noch einmal mit Liebe umfaßten, bevor -sie sich von ihm losrissen. Dort entschwanden die Straßen, in denen -sie so fröhlich gewandelt war; da in der Ferne die Linden, unter deren -Schatten<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> der Vater schlummerte; hier die Bäume, unter denen Er, ach, -vor so kurzen Wochen, ihr gesagt, daß er sie liebe; er wußte nicht, -daß sie ins Elend zog; ihn trugen jetzt die Meereswellen hinaus, weit -hinaus, einer glänzenden Zukunft entgegen! Wenn er es gewußt hätte, -wie es um ihren Vater stand — er wäre nicht gegangen! Er durfte es -niemals, niemals erfahren; er mußte dort im fernen Westen glücklich -werden. Und sie? ach, sie kam sich vor wie ein losgerissenes Blatt, -ratlos, kraftlos, willenlos vom Sturm der Zukunft entgegengetrieben. -Hilfesuchend falteten sich ihre Hände und unwillkürlich kamen ihr die -Worte auf die Lippen, die sie zuletzt mit ihm gesungen:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">„So nimm mich hin, Rat, Kraft und Held,</div> - <div class="verse indent0">Und mach’ aus mir, was dir gefällt.“</div> - </div> -</div> -</div> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_4">4.<br> -Not und Sorgen.</h2> - -</div> - -<p>Johann war abgereist, nachdem unter Marthas Leitung und mit seiner -treuen Hilfe die kleine Wohnung in möglichst behaglichen Stand -gebracht war. Er hatte noch Holz und Kohlen herbeigeschafft, hatte -dem Mädchen sämtliche Wirtschaftsgeräte, Eimer, Besen und Bürsten -mit den eindringlichsten Ermahnungen übergeben, und dann mit tausend -Segenswünschen und heißen Thränen von seiner Herrschaft Abschied -genommen. Mutter und Tochter saßen in der freundlichen, behaglich -durchwärmten Wohnstube und überblickten ihr neues Reich; Martha nicht -ohne das befriedigende Gefühl, durch ihren Geschmack ein so nettes -Ganze geschaffen zu haben; die Mutter immer noch traurig und still. -Die Wohnung lag in einem Hinterhause; aber nur die Fenster von Küche -und Speisekammer öffneten sich nach dem nicht ganz kleinen und völlig -sauberen Hof; die beiden Wohnstuben<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> boten die freundlichste Aussicht -auf einen reich mit Bäumen bepflanzten, jetzt freilich unter weißer -Schneedecke ruhenden Grasgarten, und dicht hinter demselben floß ein -klarer Bach durch Ellerngebüsch, welches das dahinter liegende Feld zum -Teil verdeckte.</p> - -<p>„Ist es nicht ganz nett, liebe Mama?“ fragte Martha sanft.</p> - -<p>„Es ist ja gut so“, sagte diese in einem so gleichgültigen, traurigen -Tone, daß es Martha schwer wurde, die Thränen niederzukämpfen.</p> - -<p>Freilich: Vergleiche durfte man ja nicht anstellen mit den Räumen, die -noch vor so kurzer Zeit sie umfangen hatten. Die Zimmer waren niedrig, -die Fensterscheiben klein; es fehlte die Fülle herrlicher Blumen und -Blattpflanzen, es fehlten die weichen, dicken Teppiche am Fußboden, die -schweren, sammetnen Übergardinen, die reichen Tischdecken, reizenden -Statuetten und Kronleuchter; außer einigen Familienphotographieen -war die Wand nur von einem einzigen Bilde geschmückt, einem guten -Kupferstich der Sixtinischen Madonna, welchen Herr Feldwart seiner -Frau zu ihrem letzten Geburtstage geschenkt und Onkel Konsul für -sie aus dem Zusammensturz gerettet hatte; aber es war durch Johanns -Aufmerksamkeit doch auch noch einiges Freundliche mit hergekommen, -das wohl imstande war, die Umgebung heimisch<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> zu machen. In seinem -gewöhnlichen Messingbauer hing über Marthas Nähtisch ihr kleiner, -lieber Kanarienvogel; um die Bilder ihrer Eltern schlang sich, neu -aufgebunden, der selbstgezogene Epheu, und unter dem Tische lag auf -seinem alten Polster Ajax, das weiße Seidenhündchen. Er schlug jetzt -an, man hörte die Küchenthür gehen.</p> - -<p>„Mama“, sagte Martha, „Thekla wird jetzt hereinkommen; möchtest du ihr -nicht Bescheid sagen?“</p> - -<p>„Ich kann nicht, thue du das, Martha!“</p> - -<p>Thekla erschien. Es war ein hübsches, gutgewachsenes Mädchen mit -lebhaften Augen und gewandten Bewegungen, und jedenfalls älter als -Martha. Diese stand ihr schüchtern gegenüber. Ach, sie war sich ihrer -eigenen Unzulänglichkeit nur zu sehr bewußt; ihre Fragen nach den -Leistungen der Gemieteten kamen nur zögernd über ihre Lippen; die -Antwort desto frischer und dreister aus Theklas Munde: „Ja, ich kann -alles, reinmachen, kochen und waschen.“</p> - -<p>Dies klang tröstlich; zuerst sollte sie einholen, was nötig war.</p> - -<p>„Bringen Sie Brot, Butter, Suppenfleisch und irgendeinen hübschen -Braten; bekommen Sie kein Geflügel, so nehmen Sie Filet!“</p> - -<p>„Wie viel denn, Fräulein?“</p> - -<p>„Ach, Sie werden ja sehen, ein Stück, das für uns paßt.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span></p> - -<p>Thekla erinnerte noch an einige dringende Bedürfnisse; es wurde eine -lange, lange Liste, und als das Mädchen fort war, fühlte Martha -erschrocken, wie leer ihr Beutelchen geworden war.</p> - -<p>„Mama“, begann sie nach einer Weile schüchtern, „müßten wir nicht doch -einmal berechnen, wie viel wir eigentlich jede Woche ausgeben dürfen?“</p> - -<p>Frau Feldwart hielt sich den Kopf: „Ich kann gar nichts; rechne du!“</p> - -<p>Sie hatte ihrem großen Haushalte in ihrer Weise pünktlich und -ordentlich vorgestanden, aber sie hatte stets über sehr große Summen zu -verfügen gehabt; sie konnte es sich gar nicht denken, wie es möglich -zu machen sei, mit so wenigem auszukommen; dazu war das Unglück so -unerwartet über sie hereingebrochen; ihre Leibes- und Seelenkräfte -waren wie gelähmt.</p> - -<p>„Hier im Buche steht alles“, sagte sie.</p> - -<p>Martha nahm das Buch und rechnete, rechnete, bis ihr der Kopf heiß war, -aber ach, sie kam zu keinem Resultat. Wenn sie nur hätte teilen dürfen -in 12 Monate oder 52 Wochen; aber da war so vieles, das kam nur einmal -im Jahre.</p> - -<p>Die Miete, ja, das stand hier: 300 Mark; Kohlen hatte Johann gekauft: -20 Ctr. Kohlen 17 Mark, 1 Meter<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> Holz 7 Mk. 50 Pf.; aber was konnte -ihr das helfen? Hatte sie denn eine Ahnung, wie lange diese Portion -reichen würde? Dies arme Kind fühlte tief ihre Unzulänglichkeit. Ach, -es war gewiß noch vieles auszugeben, an das sie jetzt gar nicht dachte; -also mit dem Einteilen ging es heute noch nicht! Sie versuchte es auf -eine andere Weise; sie überlegte: „Wie kann ich sparen? Natürlich, -Gesellschaften geben wir jetzt nicht; Schmuck, Bilder, Noten, Bücher -dürfen wir nicht anschaffen; aber sonst haben wir zuhause doch einfach -gelebt: es gab nach der Suppe nur zwei Gerichte und ein Dessert. Ein -Gericht werden wir wohl streichen müssen, vielleicht auch das Dessert; -aber ihren Tischwein muß Mama natürlich behalten; wenn ich nur eine -Ahnung hätte, was die einzelnen Sachen kosten! Wenn mir doch nur Mama -etwas helfen wollte; ach, es ist so schwer, so schwer! Mein Siegfried, -mein armer, lieber Papa, ich habe nicht einmal so viel Ruhe, an euch zu -denken!“</p> - -<p>Sie hatte ja den besten und treuesten Willen, ihre Schuldigkeit zu thun -und trotz ihrer doppelten Trauer einen reichen Springquell jugendlicher -Frische und Thatkraft in ihrem Herzen. Aber wie sehr wurde derselbe -auch in Anspruch genommen! Thekla zeigte wohl am ersten Morgen, daß -ihr die Hausarbeit nicht völlig fremd war, auch brannte nach langen, -vergeblichen Bemühungen endlich das<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> Feuer in Stube und Küche. Aber nun -sollte gekocht werden! Ach, da wurde es klar, daß weder Fräulein noch -Mädchen auch nur den entferntesten Begriff von dieser Kunst hatten.</p> - -<p>„Aber Thekla, Sie sagten doch, Sie könnten kochen, sieden und braten!“</p> - -<p>„Nun ja, Fräulein, für uns zuhause; da kommt alles zusammen in einen -Topf, der wird morgens in die heiße Asche gesetzt, da kocht sich’s ganz -alleine. Aber hier, da ist noch nicht einmal ein Aschenloch, nur ein -Ofen, da verstehe ich nichts von!“</p> - -<p>Da war guter Rat teuer. Wenn nur Martha irgendjemanden hätte fragen -können! Halt! eine Freundin ihrer Mutter hatte ihr einmal das Kochbuch -von Henriette Davidis geschenkt; das fand sie endlich nach langem -Suchen und studierte darin Bouillonsuppe und Lendenbraten. Aber es ist -mit der Kochkunst eine eigene Sache; wo alle Erfahrung und Anschauung -fehlt, gerät es auch nach dem besten Buche nur mangelhaft, und wer -all’ die kleinen, nötigen Handgriffe nicht übte, dem geht die Arbeit -sehr langsam von statten. Das Feuer meldete sich verdrießlich, weil -eine Hand darüber kam, die es noch niemals geschürt hatte; der Ofen -rauchte, weil eine Klappe geschlossen war, die geöffnet sein wollte; -und als nach langen, schweren Mühen nichts weniger<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> als pünktlich das -Mittagsbrot auf den Tisch kam, schmeckte es jedenfalls ganz anders -als in B., und Frau Feldwart, die ohnehin wenig Appetit hatte, legte -verdrießlich ihren Löffel hin und schaute mit entsetzten Blicken auf -die große Menge Suppe und den noch größeren Braten, welche eine sehr -unliebsame Wiederholung auf morgen versprachen.</p> - -<p>„Wir haben heute wirklich zu viel gekocht“, dachte Martha. Sie wollte -ja gern den Kopf oben behalten und sah es als ihre Aufgabe an, der -Mutter eine Stütze zu sein; hätte ihr ein erfahrenes und treues Mädchen -zur Seite gestanden, so würde sie vielleicht die Schwierigkeiten -überwunden haben. Aber ach! von ihrer Hauswirtin aufmerksam gemacht, -mußte sie bald entdecken, daß Thekla kein redliches Mädchen war, und -als einmal in der Nacht Frau Feldwart nach Kaffee verlangte und Thekla -geweckt werden sollte, um Feuer zu machen, zeigte es sich, daß sie zum -Tanze gegangen war und das Haus offen gelassen hatte. Hiervon mußte -Frau Feldwart erfahren.</p> - -<p>„Sie darf nicht bei uns bleiben“, sagte sie, „schon um des Hauswirts -willen dürfen wir sie nicht behalten.“</p> - -<p>Martha sah dies ein; sie fühlte, daß sie nicht die Erfahrung besaß, -welche dazu gehört hätte, das Mädchen auf besseren Weg zu bringen, und -so ging am anderen Morgen Thekla, und Martha sah ihr halb mitleidig, -halb schmerzlich<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> bewegt nach mit dem demütigenden Gedanken: „Ich -konnte ihr gar nichts sein; ach, ich taste ja auch noch im Dunkeln -umher, und Gott mag geben, daß ich meinen Weg finde. Es ist eigentlich -gut, wir können ohne sie sparsamer sein!“</p> - -<p>Es zeigte sich bald, wie nötig das war; Martha hatte gar nicht gedacht, -daß zum Leben so viel Bedürfnisse gehörten; das Geld verschwand unter -ihren Händen. Sie wollte sich bei der Mutter Rat und Anweisung holen, -aber die war innerlich wie gebrochen und schüttelte nur den Kopf: „Thu, -was du willst!“ Ach, da kamen für die Tochter auch recht mutlose, -dunkle Stunden. Nein, arm und reich sein galt ihr gar nicht gleich! In -der Phantasie war das recht schön, in der Wirklichkeit um so bitterer.</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_5">5.<br> -Suschen von drüben.</h2> - -</div> - -<p>Sie mußte sich nun ermannen und die Arbeit allein angreifen. Herr -Reinhold, ihr Wirt, hatte ihr versprochen, Erkundigungen nach einem -Mädchen oder einer Aufwärterin einzuziehen, aber sie auch darauf -vorbereitet, daß es einige Tage dauern könne, bevor sich Hilfe fände.</p> - -<p>„Es schadet auch nichts, Fräulein! Der Laufbursche holt Ihnen Kohlen -und Wasser und kann auch in der Stadt was mit besorgen.“</p> - -<p>Das war nun recht dankenswert, aber dennoch blieb eine große -Sorgenlast auf Marthas Herzen, und sie stand recht traurig in der -Küche und musterte die Reste vom vergangenen Tage, ob sich vielleicht -ein Mittagsbrot daraus zusammensetzen ließe; da klopfte es an die -Küchenthür, und als Martha dieselbe öffnete, erschien in ihrem Rahmen -ein Frauenkopf, braun gebrannt von der Sonne, mit hundert<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> kleinen -Fältchen gezeichnet; das weiße Haar schimmerte nur wenig hervor unter -einem neuen, karrierten Kopftuche, das, am Hinterkopfe regelrecht -gebunden, in zwei gleichen, glatten Zipfeln nach beiden Seiten abstand, -und mitten aus den freundlichen Zügen leuchtete ein ungemein helles, -strahlendes Augenpaar die verwunderte Martha an: „Ach, ist’s denn -möglich? nein, gar nicht verändert, noch ganz und gar wie sonst, mein -liebes, liebes Fräulein!“</p> - -<p>Marthas Verwunderung stieg: „Wen suchen Sie denn eigentlich, liebe -Frau?“</p> - -<p>„Aber, mein Fräulein Riekchen, oder meine liebe Frau Feldwart, kennen -Sie mich denn nicht? Es sind ja nun wohl schon ein- oder zweiundzwanzig -Jahre, daß wir nicht zusammengekommen sind; aber Ihre alte Trude, die -sollten Sie denn doch wohl nicht vergessen haben.“ Martha fing an zu -begreifen. Trude! den Namen hatte sie von ihrer Mutter oft nennen -hören; sie lächelte: „Ja, was vor zweiundzwanzig Jahren war, kann ich -freilich nicht wissen; ich werde im Sommer erst achtzehn. Sehe ich -vielleicht aus wie meine Mutter damals aussah?“</p> - -<p>Nun war das Lachen an der Alten.</p> - -<p>„Ach freilich, freilich, Kind, accurat so! Wo dachte ich auch hin? Und -die Sprache, wie Sie sich ’rumdrehen und alles! Sehen Sie, gleich wie -ich aus der Schule kam,<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> wurde ich bei ihr Kindermädchen; ich habe sie -auf meinen Armen groß getragen, dann nachher war ich Zimmermädchen auf -dem Gute. Als sie zum erstenmal zu Gottes Tische ging, da habe ich -ihr das schwarze Kleid angezogen und an ihrem Hochzeitstage Kranz und -Schleier gesteckt; ach, was war sie eine schöne Braut! All’ die Jahre -daher habe ich mich gesehnt, sie einmal wiederzusehen. Nun sagte mir -neulich der alte Herr, der die Wohnung hier gemietet hat, daß der Herr -Vater tot ist und daß sie hierhergezogen ist, weil es ihr schlecht -geht. Na, dachte ich, da mußt du hin, Trude, da mußt du hin! Ach, nicht -wahr, Fräulein, ich darf mit meiner alten Herrschaft sprechen?“</p> - -<p>Es wurde der Martha feucht in den Augen und weich um das Herz; sie -war sich eben noch so grenzenlos verlassen vorgekommen, setzt sah sie -wieder ein wenig Licht und Hilfe. Sie ging hinein zur Mutter: „Mama, -deine alte Trude ist da; nicht wahr, du läßt sie hereinkommen? sie -würde sonst zu traurig sein.“</p> - -<p>Frau Feldwart sah erst sehr erschrocken aus; aber all’ ihre -Jugenderinnerungen wurden lebendig; Trudens Güte und Treue spielte -darin eine große Rolle. Nein, die konnte sie nicht abweisen — sie -nickte still und traurig mit dem Kopfe.</p> - -<p>Trude setzte ihre Kiepe in der Küche nieder, breitete<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> sorgsam ihren -dunkelblauen Mantel darüber und trat ins Zimmer. Frau Feldwart wollte -ihr entgegengehen.</p> - -<p>„Ne, bleiben Se sitzen, bleiben Se ruhig sitzen, mein liebes Fräulein -Riekchen, und nehmen Sie es nicht für ungut, daß ich komme. Ich hörte, -daß der liebe Gott Sie so geprüft hat, und da mußte ich doch ’mal -nach Ihnen sehen. Wenn Sie als kleine Krabbe zu mir geweint kamen, da -konnte ich Sie wohl leichte trösten, und jetzt mag das ja schwer sein; -aber unsereiner kann doch sagen, daß man Anteil nimmt, und solche alte -Bekannte, wie wir sind, die sprechen sich doch gern ’mal aus.“</p> - -<p>Frau Feldwart reichte der Alten die Hand und winkte ihr, sich zu -setzen: „Ja, Trude, wir sind sehr unglücklich geworden.“</p> - -<p>„Nu, meine liebe Frau Feldwarten: welche der Herr lieb hat, die -züchtiget er; ich habe es auch erfahren. Ich habe einen Mann und zwei -Söhne begraben, und habe mich durchschlagen müssen mit drei schwachen, -kleinen Mädchen; da weiß ich wohl, wie Ihnen das zu Sinne ist.“</p> - -<p>„Ach, Trude, es ist zu schwer: mein Mann tot und alles mit ihm -zusammengebrochen; nun in Armut sitzen und nicht wissen, wovon man am -andern Tage leben soll, und das arme Kind, die Martha, ach Gott, ach -Gott!“</p> - -<p>Es waren die ersten Worte der Klage, die über Frau<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> Feldwarts Lippen -kamen, so lange sie hier war; es waren die ersten Thränen, die jetzt -über ihre Wangen stürzten seit ihres Mannes Tode; sie kamen nun wie ein -unaufhaltsamer, nicht endenwollender Strom. Trude stand leise auf, nahm -den Kopf ihrer ehemaligen Herrin in ihren Arm, wie sie es gethan hatte, -als dieselbe noch ein Kind war, und strich mit ihrer welken Hand sanft -über das ergrauende Haar.</p> - -<p>„Ja, weinen Se nur, weinen Se nur, Frau Feldwarten — immer zu! Die -Thränen hat uns der liebe Gott gegeben; die fließen ab aus dem Herzen, -wenn es zu voll wird, daß es nicht bricht, und glauben Sie nur, der -liebe Gott hilft schon durch. Der Reichtum hat seine Freuden und seine -Lasten, und die Armut hat ihre Freuden und ihre Lasten; die Hauptsache -ist, daß der liebe Gott mit seiner barmherzigen Hand immer dazwischen -ist; hat doch der Heiland auch nicht im Schlosse gewohnt, sondern im -Stalle; ich meine, da ist’s noch lange nicht so fein gewesen wie hier -in der Stube.“</p> - -<p>Martha war hereingekommen, das Wort traf sie tief! Die Alte sah, daß -die Thränen ihres Pflegekindes sanfter flossen — sie stand auf.</p> - -<p>„Darf ich denn ’mal wieder kommen, Frau Feldwart?“</p> - -<p>„Ach, Trude, komme ja, so oft du kannst; aber wo wohnst du denn -eigentlich und was treibst du?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span></p> - -<p>„Ach, mir geht’s jetzt ganz gut; zwei von meinen Töchtern sind -verheiratet, die älteste ist in recht guten Verhältnissen, die jüngste -dient auf dem Amte, und mir hat der Herr Amtmann das Häuschen beim -Thore gegeben, wo sonst der alte Boten-Ferdinand wohnte; ich thue die -Botengänge nach L. und nach hier; ich bin glücklich auf meine alten -Tage.“</p> - -<p>Frau Feldwart sah hinaus; der Februarsturm peitschte den Regen gegen -die Scheiben.</p> - -<p>„Aber bei solchem Wetter gehst du auch? Wirst du da nicht krank?“</p> - -<p>Die Alte lachte: „Ach, das wird man alles gewohnt. Sehen Sie, beim -Schmied wird die Hand hart, daß er keine Hitze mehr fühlt, und beim -Tischler wird die Hand hart, daß ihm der Hobel nicht mehr weh thut, und -bei mir da ist nachgerade das ganze alte Fell hart geworden, daß mir -Wind und Wetter nichts mehr anhaben kann; man glaubt nicht, was sich -alles lernt im Leben.“</p> - -<p>Sie ging; Martha begleitete sie, um ihr den Korb mit aufheben zu -helfen; sie erzählte ihr das Unglück mit dem Mädchen, und die Alte -versprach ebenfalls, ihre Augen und Ohren danach aufzuthun.</p> - -<p>„Jetzt aber, Fräulein, jetzt müssen Sie mir noch die Liebe thun und die -zwei Paar jungen Tauben annehmen;<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> bei meiner Kathrine sitzen sie über -dem Kuhstall, da brüten sie bald.“</p> - -<p>Martha dankte herzlich, aber sie faßte die Thierchen mit einem -ängstlichen Blick auf Trude.</p> - -<p>Diese lachte: „Ach so! das Fräulein hat gewiß noch keine geschlachtet; -da will ich die Köpfe nur gleich noch abreißen — so! Nun behüte Sie -der liebe Gott, und halten Sie Ihren jungen, hübschen Kopf oben, daß -die Mutter keine betrübten Gesichter sieht, es geht alles in der Welt -mit der Gotteshilfe.“</p> - -<p>Martha war ganz mit ihr einverstanden im tiefsten Innern, besonders -was die großen Sorgen des Lebens betraf; wie es jetzt aber weiter -gehen sollte mit ihrer Wirtschaft und speziell mit diesen zwei Paar -Tauben, das war ihr sehr unklar. Für das Große, meinte sie, da könnte -man doch den lieben Gott recht anrufen, aber für solche Lappalien, die -man noch dazu durch seine Dummheit verschuldet hat, da erschien es -ihr fast, als dürfte sie es nicht. Zunächst, das schien ihr gewiß zu -sein, mußten die Tauben gerupft werden; sie setzte sich auf den Rand -des Küchentisches dicht ans Fenster und begann die ungewohnte Arbeit. -Es ging sehr langsam; sowie sie sich bemühte, etwas schneller vorwärts -zu kommen, riß die feine Haut ein; dazu war ihr das Herz so schwer. -Was sie schon längst bedrückt hatte, das war<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> ihr heute vor dem leeren -Kohlenstalle zur Gewißheit geworden; sie hatte schlecht gewirtschaftet, -und ihre Gelder mußten zu Ende sein, bevor dieser Monat zu Ende war; -vor dem ersten April war nichts Neues zu erwarten, und sie quälte -sich mit dem Gedanken, wie es bis dahin werden sollte; sie hatte sich -zusammengenommen diese ganze Zeit; jetzt tropfte langsam eine Thräne -nach der anderen herab aus ihren Augen, und sie mußte immer wieder die -Arbeit sinken lassen, um diese zu trocknen. Ohne es zu wissen, hatte -sie dabei zwei teilnehmende Zuschauerinnen. Der Feldwartschen Küche -gegenüber lag die Küche der großen Wohnung im Vorderhause; dort hatte -Martha bis gestern neben dem Dienstmädchen nur eine schlanke Dame -wirtschaften sehen, und zuweilen bemerkt, daß die Blicke derselben -freundlich und teilnehmend auf ihr ruhten. Heute zeigte sich neben -der Dame ein junges, behendes Mädchen, ohngefähr in Marthas Alter. -Als Martha von ihrer Arbeit aufblickte, sah sie die junge Gestalt am -Fenster stehen, und als sie nach einiger Zeit zum zweitenmale hinsah, -grüßte dieselbe freundlich, und Martha dankte ihr. Jetzt bemerkte sie, -wie Mutter und Tochter — das waren sie sicher — eifrig miteinander -sprachen: die Mutter lachte, die Tochter verschwand, und einige Minuten -später klingelte es an Feldwarts Korridorthür.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span></p> - -<p>Als Martha öffnete, stand das junge Mädchen mit hocherrötendem, -verlegenen Gesichte ihr gegenüber: „Ach, verzeihen Sie, ich bin ja nur -das Suschen von drüben.“</p> - -<p>Martha wollte ihr die Zimmerthür öffnen.</p> - -<p>„Ach bitte, nein! ich kann ja nicht ins Zimmer, so wie ich bin!“ -sagte Suschen und lachte, indem sie auf ihren Morgenrock und ihre -blaugedruckte Küchenschürze zeigte. Martha dachte, daß die zierliche -Gestalt mit dem glatten, blonden Köpfchen, den klaren, blauen Augen -und Grübchen in den Wangen an jedem Platze hübsch aussehen müßte, aber -Visitenkostüm trug sie freilich nicht.</p> - -<p>„Ich wollte, ach, wenn es nicht unbescheiden ist, ich wollte Ihnen -Tauben rupfen helfen.“</p> - -<p>Martha streckte ihr beide Hände entgegen: „Wie freundlich, wie sehr -freundlich ist das! Wenn Sie mir zeigen wollen, wie es am besten -anzufangen ist, so werde ich Ihnen sehr, sehr dankbar sein; ich bin -noch so gar dumm in solchen Sachen.“</p> - -<p>„Und ich“, lachte das Suschen, „bin vorigen Sommer schrecklich klug -darin geworden, denn ich war bis vorgestern bei der Tante Pastor in S., -die hatte einen großen Taubenschlag; da gab es zu manchen Zeiten mehr -Tauben, als uns lieb war: einen Tag Frikassee und den andern Tag Suppe -und den dritten Braten. Alt und jung und Kind und Kegel<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> mußte dann -rupfen, und als ich vorhin sah, wie Sie sich damit quälten, da konnte -ich’s nicht aushalten und lief herüber.“</p> - -<p>Während dieser Erklärung waren sie in der Küche angelangt; Suschen -sah sich einen Augenblick darin um: „Jetzt müssen wir uns auf zwei -Stühle nebeneinander setzen, damit meine Küchenschürze für uns beide -ausreicht; Ihr dünnes, weißes Schürzchen taugt dazu nichts, Fräulein -Feldwart.“</p> - -<p>„Ich heiße Martha“, sagte diese lächelnd.</p> - -<p>„Nun also, Martha, kommen Sie und machen Sie mir alles nach.“</p> - -<p>Martha sah einige Zeit mit Verwunderung zu, wie die Federn unter -Suschens runden Fingern verschwanden, dann ließ sie sich erklären, -worauf es ankam, und da sie von Natur nicht ungeschickt war, eiferte -sie bald der jungen Gefährtin nach. Als sie nun auch mit schnelleren -Bewegungen an die gefährliche Stelle unter dem Flügel kam, gab es -freilich noch einmal einen großen Riß, der wurde diesmal aber nicht -beweint, sondern herzlich belacht.</p> - -<p>„Ich bin so froh, daß ich endlich glücklich hier bin“, sagte Suschen. -„Sehen Sie, mein Vater ist Direktor an dem Gymnasium hier, seine -Kollegen haben alle nur ganz kleine Kinder, da fürchtete ich mich -ordentlich, nachhause zu<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> kommen, denn bei der Tante waren viel junge -Mädchen. Mama schrieb mir vor vierzehn Tagen schon, daß Sie hier -eingezogen wären, und ich habe die ganze Zeit Pläne geschmiedet, wie -ich zu Ihnen gelangen wollte; nun sind die lieben Tauben so gefällig -und vermitteln es.“</p> - -<p>„Können Sie auch Tauben ausnehmen und zurecht machen?“ fragte Martha -zaghaft.</p> - -<p>„Freilich“, versicherte Suschen, „soll gleich geschehen: Wann sollen -sie denn gegessen werden? Heute doch nicht mehr, sie sind ja noch warm!“</p> - -<p>Martha wurde verlegen: „Ich war aber so froh, daß ich etwas zu Mittag -hatte!“</p> - -<p>„Na“, tröstete Suschen, „es geht am Ende auch. Wenn Sie nur ein wenig -Spiritus im Hause haben, brennen wir sie damit ab; die Tante sagt, -das thäten sie immer in Karlsbad, wenn die Hähnchen eine Stunde vor -dem Essen noch umherliefen. Dann nehmen Sie heute wenigstens nur zwei -und kochen sie zur Suppe, und morgen braten Sie die anderen; für zwei -Personen reicht das ganz gut.“</p> - -<p>Jetzt wollte Martha Feuer unter der großen Platte anbrennen.</p> - -<p>„Haben Sie denn keinen Petroleumkocher?“ fragte Suschen. „So ein großes -Feuer für zwei Tauben ist doch schade!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span></p> - -<p>Martha hatte keinen.</p> - -<p>„Ich hole so lange unseren herüber, damit Sie nur erst ’mal sehen, wie -hübsch das ist, und dann, wenn Sie es erlauben, werde ich die Mama -fragen, ob ich nicht hier erst einmal mit fertig kochen darf.“</p> - -<p>Martha sprach ihre Freude über diesen Gedanken aus: „Ich will ja alles -so gern lernen“, sagte sie, „aber ein wenig Anleitung muß man doch -haben.“</p> - -<p>Wie gemütlich war es ihr, dieselbe von einer so lieblichen -Altersgenossin zu empfangen! Als Suschen weggegangen war, erschien Frau -Feldwart in der Küche.</p> - -<p>„Wer war bei dir?“</p> - -<p>„Das Suschen von drüben.“</p> - -<p>„Wer ist das?“</p> - -<p>„Ach Mama, hier unser <span class="antiqua">vis à vis</span>; sie hatte gesehen, daß ich -nicht Tauben rupfen konnte, da kam sie und zeigte es mir; sie will mir -auch kochen helfen.“</p> - -<p>Frau Feldwart schüttelte den Kopf. Die schnelle Freundschaft war ihr -sehr verwunderlich; aber sie hatte Martha zum erstenmale wieder lachen -hören, und ihr Mutterherz lebte noch, wenn es auch jetzt im Banne der -Traurigkeit lag.</p> - -<p>„Woher hast du die Tauben?“</p> - -<p>„Trude hat sie gebracht von ihrer Tochter, die hat einen Taubenschlag.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p> - -<p>Suschen kam jetzt wieder und Frau Feldwart zog sich zurück.</p> - -<p>„Ich habe mir etwas ganz Reizendes ausgedacht“, sagte die kleine -Nachbarin, „und meine Mama hat nichts dagegen: ich will Ihnen, wenn Sie -es erlauben, früh jetzt immer ein wenig helfen; da kommen sie nach und -nach in Übung und ich nicht heraus; darf ich das?“</p> - -<p>Sie sah Martha so lieblich bittend an, daß diese sie gerührt umarmte.</p> - -<p>„Ach, ich kann darüber ja nur ganz glücklich sein, und ich weiß ja -ohnehin nicht, wann ich wieder ein Mädchen haben werde.“</p> - -<p>„Ach“, sagte Suschen, „ich nähme mir gar keins wieder. Es ist doch zu -erwarten, daß wir beide in der ersten Zeit noch allerlei Dummheiten -machen; da ist es viel besser, wenn uns niemand dabei zusieht, und -dann brauchen wir ja auch viel weniger zu kochen und können es feiner -einrichten. Sie werden schon eine Frau finden, die morgens ein paar -Stunden kommt und nach Tische noch ’mal; das ist viel billiger als ein -Mädchen.“</p> - -<p>„Ja, das wäre sehr gut“, sagte Martha, „ich muß mich so erst -einwirtschaften. Meine Thränen heute Morgen galten viel weniger den -Tauben, als der Angst und dem Kummer, daß ich viel mehr verbraucht -habe, als ich eigentlich durfte.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p> - -<p>„Ach, da kann Ihnen gewiß meine Mutter raten; wir sind acht Kinder, da -muß sie auch recht sparen, wo sie immer kann.“</p> - -<p>Es erhob sich nun noch eine kleine Schwierigkeit. Martha meinte: nur -Tauben in der Suppe — das würde ihrer Mutter doch nicht recht sein.</p> - -<p>„Gut“, sagte Suschen, „so schneiden wir die Tauben in Viertel, machen -eine Frikasseesauce darüber, und braten die Kartoffeln, da haben wir -gleich noch einen besonderen Gang für unser Diner.“</p> - -<p>Martha staunte Suschens Erfahrungen an. Es war schließlich alles -wohlgeraten, und als sich die beiden Köchinnen trennten, geschah es -mit einer fröhlichen Umarmung, und beide brachen zugleich in die Worte -aus: „Wollen wir uns nicht lieber ‚du‘ nennen?“ Dies wurde mit einem -herzlichen Kusse besiegelt, und die Freundschaft war geschlossen. Frau -Feldwart war zum erstenmale befriedigt von ihrem Mittagsbrot, von dem -sie heute nach des Mädchens Abgang nur wenig erwartet hatte.</p> - -<p>Als sie ihre Mittagsruhe hielt, saß Martha still an ihrem Fenster und -staunte darüber, daß sie jetzt so fröhlich und getrost war. Sie hatte -den lieben Gott heute nicht um seine Hilfe gebeten, weil ihre Anliegen -ihr zu klein dazu erschienen; waren ihre unausgesprochenen Seufzer -doch vor<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> seinen Thron gekommen? Ach ja! was unsere Herzen unruhig -macht, das ist ihm nie zu groß oder zu klein, und wenn er seine Kinder -auf sehr rauhe Pfade und durch sehr dunkle Stunden führt, thut er wie -eine gute Mutter, die dem Kleinsten Süßigkeiten oder Spielwerk vorhält -zu dem ersten schweren Schritte; er läßt mitten durch die dunklen -Wolken einen Sonnenstrahl fallen, eine Gebetserhörung ein freundliches -Erlebnis, um der Seele zu sagen: „Ich verlasse dich nicht; ich bin -dennoch bei dir und halte dich an meiner Hand, wenn du mich auch nicht -immer gleich finden kannst.“ An solchen Erfahrungen stärkt sich dann -der Mut und das Gottvertrauen, und der Fuß lernt wieder getroste und -gewisse Schritte thun. Martha hatte sich von jeher eine echte, rechte -Freundin gewünscht; Suschen sah so sehr lieb und treu aus: vielleicht -hatte sie in ihr gefunden, was sie suchte.</p> - -<p>Es schien heute der Tag aller Besuche zu sein. Gegen Abend kam die Frau -Direktorin selbst und bat Martha, sie bei ihrer Mutter zu melden. Frau -Feldwart hatte außer Trude noch niemanden empfangen; aber sie fühlte -wohl, daß sie sich nicht ablehnend oder unfreundlich gegen die Mutter -verhalten durfte, nachdem die freundliche Hilfe der Tochter dankend -angenommen war. Die geselligen Gewohnheiten ihres Lebens machten ihr -die Sache leichter, und sie kam der<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> Frau Werner, deren ernstes, -teilnehmendes Gesicht sehr vertrauenerweckend aussah, rücksichtsvoll -und artig entgegen.</p> - -<p>„Verzeihen Sie“, sagte diese mit sanfter Stimme, „daß ich zu Ihnen -komme, ohne zu wissen, ob es Ihnen jetzt schon angenehm ist, Besuche -zu empfangen; ich wollte nur das Eindringen meines ungeduldigen Kindes -entschuldigen und mich überzeugen, ob Ihnen die Pläne der beiden jungen -Mädchen nicht lästig oder störend sind. Ich kann mir so sehr denken, -wie Ruhe und Stille Ihnen jetzt vor allem wohlthun.“</p> - -<p>„O ja“, sagte Frau Feldwart, „für mich haben Sie ja wohl recht, aber -für Martha sehe ich es doch sehr gern, wenn sie junge Gesellschaft und -etwas Erheiterung hat, und Ihr liebes Töchterchen kam heute in Marthas -Ratlosigkeit hinein wie eine gute Fee. Ich kann Ihnen nur von Herzen -dankbar sein, wenn Sie erlauben wollen, daß sie meinem armen Kinde -ferner mit Rat und That beisteht; Martha ist noch so ganz unbewandert -im Häuslichen, und ich“ — Frau Feldwarts Thränen waren heute einmal -in Bewegung gebracht, sie flossen jetzt aufs neue — „und ich bin ja -ebenso unwissend als sie.“</p> - -<p>„Ich glaube es“, sagte Frau Werner sanft, „es ist jetzt ein sehr -schwerer Übergang mit all’ dem Kummer im<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> Herzen. Aber diese Dinge sind -wirklich nicht so schwierig zu erlernen, als es scheint. Sie sollen -sehen: wenn unsere beiden Kinder die Sache zusammen angreifen, haben -sie schließlich noch die größte Freude davon. Würden Sie denn Ihrer -Martha erlauben, manchmal ein Stündchen zu uns zu kommen? Es ist viel -Leben bei uns: acht Kinder, von denen Suschen das älteste ist.“</p> - -<p>Frau Feldwart sah etwas bedenklich aus; ihr freundlicher Besuch fuhr -fort: „Ich hatte nicht daran gedacht, Ihnen die Gesellschaft Ihres -Töchterchens zu entziehen; ich denke mir aber, Sie bedürfen so gut -als mein Mann und ich der Mittagsruhe. Während dieser Zeit ist meine -unruhige Schar im Sommer auf dem Hof oder im Grasgarten, im Winter in -dem großen Hinterzimmer; sie versichern, es sei dies die fröhlichste -Stunde des Tages. Da könnte Martha mit vergnügt sein.“</p> - -<p>Die Einladung ward angenommen; Frau Werner erbot sich zu allem guten -Beistande, falls derselbe gewünscht werde, und Frau Feldwart dankte ihr -herzlich, bat aber, ihr noch einige Zeit den Gegenbesuch zu erlassen.</p> - -<p>Kaum hatte Martha die gütige Nachbarin hinausbegleitet, als es abermals -klingelte. Es war jetzt schon dämmerig, und Martha erschrak fast vor -der großen, kraftvollen Frauengestalt, welche den Rahmen der Flurthür -fast ausfüllte. Sie<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> zündete schnell die Lampe an, und als ihr Licht -das breite, von Güte und Freundlichkeit strahlende Gesicht der -Eingetretenen beleuchtete, da konnte von Furcht oder Beklemmung keine -Rede mehr sein.</p> - -<p>„Ich bin die Warburgerin“, sagte die Riesin. „Die Trude schickt mich, -und ich möchte hier Aufwartefrau werden. Sehen Sie, ich habe fünfe; -mein Mann geht auf Arbeit in die Fabrik, und ich kann nicht mitgehen, -sonst verlottert die Wirtschaft und die armen Würmer verkommen; aber -so ein paar Stunden früh und nachmittags, da nimmt sich schon meine -alte Nachbarin der Kinder an. Alles kann einer für sieben doch nicht -schaffen.“</p> - -<p>Die verschiedenen Eindrücke des Tages hatten Frau Feldwart doch so -weit aus ihrer Müdigkeit und Niedergeschlagenheit aufgerüttelt, daß -sie die Verhandlungen mit der Warburgerin selbst übernahm; man wurde -bald handelseinig, und kaum war dies geschehen, so hing mit unfaßbarer -Geschwindigkeit der Mantel der eben Gemieteten am Nagel; sie ergriff -die Brunneneimer, fragte mit einem Blick auf den Kohlenkasten nach dem -Kohlen- und Holzstall, und es war noch keine halbe Stunde vergangen, -da war alles Nötige für den andern Morgen vorbereitet. Frau Warburger -fragte, ob noch etwas in der Stadt zu bestellen sei, und ging dann, um -Mutter und Tochter in einem so befriedigten<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> Zustande zurückzulassen, -wie es beide an diesem Morgen noch nicht für möglich gehalten hatten.</p> - -<p>Martha sehnte sich zum erstenmale wieder nach einer stillen -Beschäftigung; am liebsten hätte sie ein ernstes Lied gesungen, sie -wußte aber, daß dies die Mutter jetzt noch nicht ertrug. Sie griff -zu einer leichten, angefangenen Häkelei, aber ihre Hände sanken -immer wieder nieder, weil ihre Gedanken so weit umherwanderten. -Zum erstenmale dachte sie, daß doch wohl Gott in seiner Weisheit -sie davor bewahrt habe, jetzt schon zu heiraten und ernstere und -reichere Pflichten auf sich zu nehmen, und zwar wehmütig, aber gar -nicht unlieblich erschien ihr die Aufgabe, während Siegfried im -fernen Lande bemüht war, die Mittel zur Gründung eines häuslichen -Herdes zu erwerben, sich hier allmählich ausbilden zu können zu einer -tüchtigen und brauchbaren Lebensgefährtin für ihn. Süße Bilder der -Zukunft umschwebten sie, aber das Bewußtsein, wie ungewiß, ja wie -unwahrscheinlich ihre Verwirklichung sei, wollte ihr Herz wieder in -Traurigkeit versenken.</p> - -<p>Aber nein! sie hatte ja heute so viel zu danken, sie mußte den Kopf -oben behalten. „Ich werde mir jetzt eine Arbeit suchen, die meine -Gedanken voll in Anspruch nimmt“, dachte sie, „ich will Suschen zum -Andenken an den heutigen Tag etwas malen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p> - -<p>Als sie sich der Mutter gegenüber mit ihren Zeichengerätschaften -eingerichtet hatte, holte sich diese ein Buch zum Lesen, und es -war das erste Mal, daß beide gemütlich zusammensaßen in den neuen -Räumen. Konnte man doch nun auch dem anderen Morgen mit größerer -Ruhe entgegensehen. Die Warburgerin fand sich zum verwundern schnell -zurecht. Als die notwendige Arbeit gethan war, scheuerte sie freiwillig -noch die Hintertreppe, die von Thekla sehr vernachlässigt worden war. -Als sie dann ihre Hände gewaschen und ihren Mantel umgethan hatte, -stellte sie sich mit untergeschlagenen Armen noch einmal auf die -oberste Stufe, blickte mit einer Art verklärter Zärtlichkeit auf das -eben vollendete Werk und sagte: „Ne, was schöneres giebt es doch auf -der Welt nicht, wie so ’ne schloh-blütenweiße Treppe!“</p> - -<p>Martha hatte sie mit ihren Augen auf Schritt und Tritt begleitet; sie -sah, daß sie eine geübte Arbeiterin vor sich hatte, und wollte von ihr -lernen. „Welche verschiedenen Lose haben doch die Menschen!“ dachte -sie; „es ist eigentlich hart, immer nur zu scheuern, zu fegen und zu -putzen!“ Bei Frau Warburgers entzückter Anbetung der gescheuerten -Treppe tröstete sie sich: „Es ist am Ende einerlei, was man thut, wenn -es nur mit solcher Befriedigung lohnt!“</p> - -<p>Zum Kochen kam wieder das Suschen und brachte eine Schüssel Spinat mit: -„damit wir auch Gemüse zum Braten<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> haben.“ Als nach Tische die Mutter -in der Sofaecke saß, ging Martha zu Direktors, um ihr Versprechen zu -halten. Sie wunderte sich, daß nicht ihre Freundin, sondern das Mädchen -ihr die Thür öffnete, und sie durch den Korridor zu dem Hinterzimmer -brachte. Hier stand sie staunend einem feierlichen, lebenden Bilde -gegenüber. Suschens Geschwister waren in einem Halbkreis aufgestellt, -der sechszehnjährige Bruder in der Mitte; von da ging es nach beiden -Seiten abwärts; an einer Seite saß das Kleinste an der Erde. Jedes -Kind hielt ein Schneeglöckchen in der Hand, Suschen stand vor ihnen -mit dem Rücken nach der Thür, hielt einen Weidenzweig mit Kätzchen als -Taktstock, kommandierte, eins, zwei, drei — und nun ging der Lärm los. -Sie sangen:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Heil sei dem Tag, an welchem du bei uns erschienen!</div> - <div class="verse indent0">(Die Jungen intonierten: didelum, didelum, didelum),</div> - <div class="verse indent0">’s ist gar nicht lange her</div> - <div class="verse indent8">(Didelum, didelum, didelum),</div> - <div class="verse indent0">Wir brauchen uns nicht erst drauf zu besinnen</div> - <div class="verse indent8">(Didelum, didelum, didelum),</div> - <div class="verse indent0">Das freut uns desto mehr,</div> - <div class="verse indent0">Das freut uns desto mehr.</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Hierauf marschierten sie an Martha vorüber, und jedes Kind reichte -ihr sein Schneeglöckchen, auch das zweijährige Mariechen wackelte den -anderen nach. Martha wußte nicht,<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> ob sie lachen oder weinen sollte, es -war für ihre jetzige Gemütsverfassung etwas viel; aber das Ganze sah so -reizend aus, die Kindergesichter strahlten fröhlich, und es war mit so -viel Liebe erdacht, daß sie sich doch von Herzen freuen mußte und die -kleine Marie und ihr Suschen abwechselnd umarmen. Die anderen wollten -aber auch berücksichtigt sein. Da war zuerst der sechszehnjährige -Sekundaner Wilhelm, die vierzehnjährige Luise, die zwölfjährigen -Zwillinge Arthur und Hans, die achtjährige, schmächtige Anna, der -vierjährige Gottfried und die zweijährige Marie. Alle umdrängten sie -Martha, eins überschrie das andere, sie waren offenbar aufgeregt durch -die Empfangsfeierlichkeit: „Hast du dieses Jahr schon Schneeglöckchen -gesehen? Sie sind ganz hinten aus dem Garten, Hans hat sie unterm -Schnee hervorgesucht.“ „Kannst du auch singen?“ „Kannst du Post- -und Reisespiel?“ „Kannst du Zwickmühle?“ „Sieh ’mal, das ist meine -Puppenstube!“ „Haben Sie ‚Die Ahnen‘ schon gelesen, Fräulein Feldwart?“</p> - -<p>Sie wußte in der That nicht, wem sie zuerst antworten sollte, ja, -zuweilen kamen Momente, wo sie sich am liebsten die Ohren zugehalten -hätte, denn solch ein Trubel war ihr gänzlich ungewohnt. Aber sie fand -sich schnell darin zurecht.</p> - -<p>„Kommt“, sagte Suschen, „jetzt schlachten wir zuerst<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> Martha zu Ehren -die beiden Apfelsinen, die der Vater mitgebracht hat; jeder bekommt ein -Viertel und Mariechen ein kleines Biskuit. Dann spielen wir; Luischen -soll sagen, was?“</p> - -<p>„Ach, ich kann gar nicht spielen“, sagte Luischen, „ich muß mein -englisches Gedicht noch ’mal überlernen; das ist heute so schwer.“</p> - -<p>„Wir müssen auch arbeiten“, erklärten Hans und Arthur; „die Probe auf -unser Exempel paßt nie.“</p> - -<p>„Ach“, sagte Martha fröhlich, „da kann ich mich vielleicht dankbar -erweisen für den schönen Empfang, und euch ein wenig helfen.“</p> - -<p>Es zeigte sich, daß Luischen erst um drei Uhr in die Schule mußte; -Martha vertiefte sich also zuerst mit den Zwillingen in die Exempel. -Es gelang ihr bald, den wunden Punkt zu finden, und von da aus war die -Sache bald berichtigt.</p> - -<p>Darauf setzte sie sich zu Luischen: „Nun lies mir ’mal zuerst dein -Gedicht. Nein, liebes Luischen, so geht es wirklich nicht, du sprichst -noch sehr falsch aus, und mir scheint, daß du an einigen Stellen auch -den Sinn nicht recht verstehst, ich will dir jetzt immer Strophe für -Strophe vorsagen, du sprichst mir langsam nach, und am Ende jedes -Verses übersetzest du, was du gesagt hast.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p> - -<p>Es geschah, und Martha gelang es bald, der etwas flüchtigen Schülerin -ihre Aufgabe klar zu machen: sie hatte nun selbst ihre große Freude -daran, als dieselbe nach und nach alle Schwierigkeiten überwand.</p> - -<p>„Bitte“, sagte Luischen, „nun lies du es noch ’mal ganz; das klingt so -hübsch.“</p> - -<p>Martha that es. Während ihres Lesens hatte sich leise hinter ihr -die Thür geöffnet und Direktor Werners kluger Kopf war in derselben -erschienen. Er sah recht wohlgefällig auf die Leserin.</p> - -<p>„Das ist ja eine sehr gute Aussprache“, sagte er, als Martha fertig war.</p> - -<p>Sie stand errötend auf.</p> - -<p>„Seien Sie mir, willkommen, Fräulein Feldwart; ich wollte nur hier -meine junge Gesellschaft an die Schulzeit erinnern; ich denke, wir -sprechen uns bald länger.“</p> - -<p>Er hatte schon die Hefte unterm Arm, den Hut in der Hand und empfahl -sich schnell.</p> - -<p>Martha eilte zu ihrer Mutter; sie fing nun an, Licht und Luft um -sich zu sehen; sie fühlte, daß sie sich bald einarbeiten werde mit -der Freundin zusammen. Die Mutter war nicht mehr so teilnahmlos wie -früher, und die fröhliche Kindergesellschaft drüben versprach so viel -Erheiterung und Zuwachs an Interesse, wie Martha eben jetzt bedurfte -und<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> gebrauchen konnte. Nur ein großer Sorgenstein lag noch auf ihrer -Seele und bedrückte dieselbe täglich mehr. Es war am 1. März, als das -letzte Fünfmarkstück aus ihrem Beutelchen herauswanderte, und vor dem -1. April war an keine neue Einnahme zu denken. Sie überlegte lange: sie -glaubte wohl, daß Fleischer, Bäcker und Kaufmann, die von ihr bis jetzt -pünktlich bezahlt worden waren, einige Wochen gern leihen würden; aber -wenn sie in diesem Vierteljahre vom nächsten schon zehrte, wie in aller -Welt sollte sie da künftig auskommen? Dazu hatte sich so viel Wäsche -gesammelt; es würde auch teuer sein, sie waschen zu lassen.</p> - -<p>Die Mutter war eben erst wieder ein wenig teilnehmender geworden; sie -beschloß, Frau Werner um Rat zu fragen.</p> - -<p>Diese hörte mit der wärmsten Teilnahme Marthas Klagen an und dachte -lange darüber nach: „Du mußt das doch deiner Mutter sagen, liebes -Kind! Es giebt eine wahre und eine falsche Schonung. Wie willst du es -anfangen, dich noch mehr einzuschränken, wenn deine Mutter keine Ahnung -von euerer Lage hat? Über die Wäsche sei ruhig, das wird sich mit Hilfe -der Warburgerin billig einrichten lassen; die feinen Sachen wäscht -Suschen mit dir allein und lehrt dich das Stärken und Plätten! Gehe -nur<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> jetzt und sprich mit deiner Mutter ordentlich und ehrlich über -euere Lage.“</p> - -<p>Es wurde Martha recht schwer, und Frau Feldwart war sehr erschrocken; -aber nach einigem Nachdenken fand sie einen Ausweg. Sie hatte einen -Brillantschmuck, der ihr freies Eigentum war, für Notfälle mitgenommen; -der wurde mit Hilfe der Frau Werner bei einem soliden Goldschmied -verkauft und ergab immerhin so viel Einnahme, daß der nächsten, -dringendsten Not damit gewehrt war. Aber Werners hatten bei dieser -Gelegenheit einen tieferen Einblick in die Lage ihrer Nachbarn bekommen -und dachten von dem Augenblicke ernstlich darüber nach, womöglich -einige Erwerbsquellen für Martha zu finden.</p> - -<p>Die Karte, welche dieselbe für Suschen gemalt hatte, war vollendet. -Aus jeder Ecke schwebte eine Taube; alle vier hielten im Schnabel -ein blaues Band, an welchem sie zwei Herzen, als kleine Personen -dargestellt, eines mit einer Distel — das andere mit einem -Rosenkranze, einander entgegenzogen. Dazwischen stand geschrieben:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Am 26. Februar</div> - <div class="verse indent0">Da haben uns zwei Taubenpaar’</div> - <div class="verse indent0">Verbunden.</div> - <div class="verse indent0">Der Tag stets unvergessen sei,</div> - <div class="verse indent0">Da wir uns bei der Rupferei</div> - <div class="verse indent0">Gefunden.</div> - </div> -</div> -</div> -<p><span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span></p> -<p>Das ganze Bildchen war mit Vergißmeinnicht durchschlungen und sah -allerliebst aus. Suschen war entzückt darüber. Ihr Vater betrachtete es -lange; dann sagte er: „Suschen, die Karte mußt du mir ein wenig borgen, -Du sollst sie richtig wieder haben; ich habe eine Absicht damit.“</p> - -<p>Frau Feldwart fand den Umgang mit Werners so entschieden erfrischend -und erheiternd für Martha, daß sie bald nichts mehr dagegen hatte, wenn -diese auch einmal zu einer anderen Zeit eine Viertelstunde zu Suschen -ging, und sie fing auch an, sich an dem fröhlichen Geplauder der -Mädchen zu erfreuen, wenn diese herüber kam. Eines Sonnabends erschien -sie mit der Bitte, Martha möge doch am Nachmittag einige Stunden mit -ihnen spazieren gehen, die Eltern gingen auch mit; es sollten im -Stadthölzchen Schneeglöckchen, Leberblumen und Anemonen gesucht werden. -Es war einer jener wunderlieblichen Märztage, da die Sonne mit ihren -warmen Strahlen die letzten Schneestreifen wegküßt und durch die Milde -der Luft die Täuschung hervorgebracht wird, als sei man schon viel -weiter in der Jahreszeit vorgerückt.</p> - -<p>Man zog sehr fröhlich hinaus; die Mädchen trugen im Strickkörbchen, die -Knaben in der Botanisiertrommel ihr Vesperbrot. Mariechen wurde vom -Kindermädchen im Wagen vorausgeschoben, Gottfried ging meistens an der -Hand der Mutter, die wie eine richtige Gluckhenne ihre Augen überall<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> -hatte, damit keines der Kleinen zu Schaden kommen sollte; die anderen -schwärmten umher, lachend, singend und springend. Der Vater examinierte -scherzhaft bald dieses, bald jenes Kind, bald deutsch, bald lateinisch.</p> - -<p>Suschen ging an Marthas Arme, in höchst vertrauliche Mitteilungen -vertieft, als plötzlich der Direktor rief: „Fräulein Martha, sehen Sie -wohl dort den Turm?“</p> - -<p>Sie sah ihn.</p> - -<p>„Dort ist das Dorf und Gut, wo Ihre liebe Mutter geboren und erzogen -ist und die alte Trude jetzt noch ihre Heimat hat; auch Ihre -Urgroßeltern liegen dort begraben.“</p> - -<p>„Ach, da möchte ich hin“, sagte Martha. „Aber freilich, es würde der -Mutter zu schwer sein“, fügte sie traurig hinzu.</p> - -<p>Martha stand jetzt neben Direktor Werner, und er fing sogleich ein -Gespräch mit ihr an, das sie neben ihm festhielt. Er fragte nach -ihrer Ausbildung, ihren Lehrern, nach dem Gange ihres Unterrichtes, -und fuhr dann fort: „Ich stelle dies Examen absichtlich mit Ihnen an, -Fräulein Martha. Meine Frau und ich möchten so gern ein Mittel finden, -um Ihre Lage zu erleichtern. Ich weiß wohl, daß Sie bei dem jetzigen -Zustande Ihrer lieben Mutter nicht daran denken können, Ihr Examen zu -machen und eine Stelle als Lehrerin anzunehmen; aber es ist eine ganze -Anzahl junger<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> Mädchen hier, die eine englische Konversationsstunde -dringend wünschen; mein Suschen und die Töchter dort vom Amt sind -auch dazwischen; ebenso suchen wir für Luise und ihren Bekanntenkreis -Unterweisung im Zeichnen und Malen; würden Sie bereit sein, beides zu -übernehmen? Ein Honorar wollte ich Ihnen schon ausmachen; es würde -immerhin eine Hilfe für Ihre Kasse werden.“</p> - -<p>Martha sah ihn fröhlich an: „Wenn es meine Mutter erlaubt, thue ich das -sehr gern; besonders wenn Sie mir behilflich sind, passende Lektüre zu -finden.“</p> - -<p>Er versprach es, und Martha war glücklich. Sie hatte noch nie daran -gedacht, daß sie imstande sein könne, etwas zu verdienen; der Gedanke -war zu schön; sie schwärmte sich mit Suschen beinahe wie die berühmte -Milchfrau in sehr schöne Zukunftsträume hinein, so daß beide, im -Wäldchen angelangt, erst aus ihrem Phantasiehimmel heruntergeholt -werden mußten, bevor sie die lieblichen Frühlingskinder erblickten, die -wie eine reiche Stickerei aus dem dunklen Moosteppich hervorglänzten.</p> - -<p>Frau Feldwart war am Abend nicht so leicht für die neuen Pläne zu -begeistern; sie war zuerst entsetzt über die Idee, daß Martha etwas -verdienen sollte, und klagte hart ihr Schicksal an; aber sie kannte den -Ernst ihrer Lage, und die große Freudigkeit ihres Kindes besiegte sie -zuletzt.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span></p> - -<p>Nach einigen Tagen kam Suschen strahlend; der Direktor hatte die -Taubenkarte nach M. geschickt; sie hatte dort Beifall gefunden, und -Martha erhielt den Auftrag, mehr solcher Karten zu malen, unter -Bedingungen, die immerhin einigen Vorteil versprachen — lauter -tröstliche Aussichten!</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_6">6.<br> -Die Urgroßmutter.</h2> - -</div> - -<p>In den ersten Wochen ihres Aufenthaltes in H. hatte das Befinden der -Mutter Marthas Sorge so in Anspruch genommen, daß der Gedanke, sie auch -nur auf Stunden zu verlassen, gar nicht aufkam.</p> - -<p>Suschen hatte schon öfter von den schönen Gottesdiensten in der nahen -Pfarrkirche und ihrem lieben Pastor erzählt. Jetzt klangen die Glocken -so feierlich herüber und luden zur Fastenkirche.</p> - -<p>„Mama, möchten wir nicht auch einmal hingehen?“</p> - -<p>„Gehe du, Martha, ich kann noch nicht unter Menschen!“</p> - -<p>Martha rief Werners und Suschen ab und ging mit ihnen. Der Kirchgang -am heiligen Weihnachtsabend war ihr letzter gewesen. Damals hatte sie -vor Glückseligkeit nicht ordentlich gehört, was gesungen und gesagt -wurde; heute verlangte ihre gebeugte Seele Trost und Kraft von oben<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> -und öffnete wie eine durstige Blüte den Kelch, um den Himmelstau -aufzunehmen. Die schönen, wohlbekannten Fastenlieder bewegten ihr Herz -und hoben es empor. Der Prediger war ein Greis mit weißen Haaren, sein -Angesicht bestrahlt vom Morgenrot einer besseren Welt. Sein Thema war -heute: „Wie man dem Herrn sein Kreuz nachtragen soll.“</p> - -<p>„Das paßt sehr für mich“, dachte Martha, „ich muß ja auch mein Kreuz -tragen.“ Sie erfuhr aber bald, daß noch etwas Besonderes dabei war, -woran sie noch nicht gedacht hatte.</p> - -<p>„Denkt nicht“, sagte der alte Pfarrer, „wenn euch Gott Leiden schickt -und ihr müßt sie ertragen, weil ihr sie nicht los werden könnt, -daß dies schon heißt: dem Herrn sein Kreuz nachtragen; o nein! das -müssen auch die Heiden und die Ungläubigen thun. Dem Herrn sein Kreuz -nachtragen, d. h. die Last, die er uns darreicht, willig auf unsere -Schultern nehmen mit dem Gebete: ‚Herr, du hast dein Kreuz getragen für -mich und meine Sünden, und hast die Nägel, die in meinem Kreuze waren, -dadurch herausgezogen; nun hilf, daß ich mein Kreuz dir nachtrage ohne -Murren, in dankbarer Liebe, in stillem, geduldigem Gehorsam, so wie du -es von mir willst und mir es vorgetragen hast, als dein Kind und zu -deiner Ehre! Dann glaubt<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> mir, grünt das Kreuzholz auf euerer Schulter, -blüht und trägt Früchte, davon ihr noch genießen könnt in der seligen -Ewigkeit.“</p> - -<p>Martha fühlte sich tief ins Herz getroffen. Nein, in dieser Weise hatte -sie ihr Kreuz noch nicht getragen, davon war sie noch weit entfernt; -aber sie folgte mit zagendem Herzen dem Schlußgebet, daß Gott die -Seelen bereiten möge zu solchem Kreuzestrost und solcher Kraft zum -Tragen, und sie konnte nicht anders, als nach der Heimkehr der Mutter -von dem Eindruck sprechen.</p> - -<p>„Mutter, ich möchte dich um etwas bitten. Darf ich nun manchmal wieder -ein Lied singen?“</p> - -<p>Die Mutter erlaubte es; zuerst flossen ihre Thränen heftiger dabei, -dann verlangte sie danach, sie erinnerte auch Martha am nächsten -Sonntage selbst daran, in die Kirche zu gehen; die ging so gerne, und -als wieder die Glocken zur Abendkirche riefen, holte Frau Feldwart -selbst ihren Mantel und begleitete ihr Kind.</p> - -<p>Trude war fast jede Woche gekommen; gegen Ende März brachte sie Grüße -vom Herrn Amtsrat Rösner, und ob er nicht einmal dürfe seinen Wagen -schicken, Frau Feldwart und das Fräulein darin holen zu lassen, damit -sie die alte Heimat wieder begrüßten.</p> - -<p>Frau Feldwart konnte sich nicht entschließen: „Ja, wenn<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> ich früher -einmal hätte dort sein können! Aber in diesem Zustande? nein!“</p> - -<p>Am andern Tage fuhren des Amtsrats Töchter, frische, blühende Mädchen, -vor, und baten kindlich, doch zu erlauben, daß Martha sie für die -Nachmittags- und Abendstunden mit Suschen nach dem Gute begleite; es -wären all’ die jungen Mädchen dort versammelt, die an den englischen -Stunden teilnehmen wollten; sie wünschten Martha kennen zu lernen.</p> - -<p>Dagegen ließ sich nichts sagen. Martha fuhr hinaus in den freundlichen -Frühlingstag in Gesellschaft der munteren Mädchen; sie freute sich, -all’ die Stätten zu sehen, wo Urgroßeltern und Großeltern gelebt -hatten, und ihre Mutter aufgewachsen war. Der joviale Gutsherr und -seine freundliche Frau empfingen sie sehr freundlich; der Kreis von -jungen Mädchen, die zum Teil noch bedeutend jünger waren als Martha, -versetzte sie in ihr früheres, glückliches Leben zurück; sie bewegte -sich ungezwungen und anmutig zwischen ihnen und gewann schnell das -allgemeine Zutrauen. Es ward Zeit und Ort der englischen Stunde -verabredet, Direktors wollten ihr großes Hinterzimmer dazu hergeben, -und nur an besonders schönen Nachmittagen wollte der Amtsrat die -Gesellschaft herausholen lassen.</p> - -<p>Nach dem Kaffee eilte alles in den großen Garten, dessen<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> feiner Rasen -im ersten Grün schimmerte, um am Rain und im Gebüsch nach Veilchen zu -suchen.</p> - -<p>Hier wartete Trude: „Nun, Fräulein Martha, nun kommen Sie ’mal mit, -nun will ich Ihnen zeigen, wo die Mutter groß geworden ist; die Frau -Amtsrätin wollte es selbst thun, aber ich habe so lange gebeten, bis -sie es mir erlaubte; ich weiß das ja doch natürlich noch viel besser! -So? Fräulein Werner will auch mit? Na, meinetwegen.“</p> - -<p>Das Haus, wo Amtsrat Rösner wohnte, war ein Anbau, den er sich selbst -erst eingerichtet, da ihm das alte Wohnhaus zu kühl und düster -erschienen war; in dieses führte jetzt Trude die beiden Mädchen.</p> - -<p>„Sehen Sie, hier, was jetzt die große Wirtschaftsstube ist, das war -der Saal; da ist die Hochzeitstafel gewesen, als der Herr Vater mit -der Frau Mutter getraut worden waren, und hier, wo jetzt die Stube vom -Inspektor ist, da war die beste Wohnstube; Sie können hineinsehen, -er ist draußen beim Bestellen. Da über dem Flur drüben das war dem -Großvater seine Arbeitsstube, die hat jetzt Mamsell Hannchen. Und nun -kommen Sie ’mal mit die Treppe hinauf.“</p> - -<p>Im oberen Stockwerk waren zwei Stübchen, die Marthas Interesse -vorzugsweise in Anspruch nahmen: das ehemalige Zimmerchen ihrer Mutter, -was jetzt sehr niedlich<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> als Logierstube eingerichtet war, und das -Gastzimmer daneben.</p> - -<p>„Sehen Sie, hier hat nun die Frau Urgroßmutter gewohnt. Da hier in der -Ecke stand ihre große, bunte Kommode und da am Fenster steht noch ihr -Lehnstuhl und ihr eiserner, kleiner Tisch. Das war ’mal eine gewaltige -Frau! Die Leute im Dorfe wissen noch viel Geschichten von ihr, und ich -kann mich noch ganz gut auf sie besinnen. Sie ist die Mutter gewesen -von allen Kranken und Armen, und in den Kriegsjahren hat sie immer -den Kopf oben gehabt und mehr als einmal durch ihre Ruhe und ihr -Auftreten den Hof vor Plünderung und Schaden bewahrt. Der Urgroßvater -war kränklich und litt viel am Magen und an der Leber, da hat sie jung -schon die Zügel mit halten müssen. Hier oben aber da hat sie gesessen -eine halbe Stunde vor Tag und eine halbe Stunde des Abends, und hat -gelesen und so gewaltig gebetet, daß sie es manchmal draußen verstanden -haben, und in ihrem Testamente hat sie es bestimmt: der Stuhl, der -Tisch und darauf die Bibel und das Starkenbuch das soll hier am Fenster -bleiben und nicht verrückt werden, zum Zeugnis, daß der Segen von oben -kommt.“</p> - -<p>Martha war zumute, als hörte sie die Stimme, die aus dem feurigen -Busche zu Mose sprach: „Ziehe deine<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> Schuhe aus; der Ort, da deine Füße -stehen, das ist ein heilig Land.“ Mit scheuer Ehrfurcht schlug sie -die alte Bilderbibel auf, deren vergilbte Blätter mit Randbemerkungen -bedeckt waren; sie hatte aufgeschlagen und las: „Ebr. 12, 1: Darum -auch wir, dieweil wir solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasset uns -ablegen die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, und lasset -uns laufen durch Geduld in dem Kampfe, der uns verordnet ist.“ Es war, -als hörte sie die Urgroßmutter selbst diese Worte sagen, als empfinge -sie von ihr in dieser Minute gewissermaßen innerlich den Ritterschlag; -jetzt hätte sie lieber selbst Truden und Suschen nicht neben sich -gehabt; sie konnte sich lange, lange nicht trennen. Draußen vor dem -Fenster spielte der Wind in den eben erst knospenden Zweigen der alten -Linden, die hatten auch schon herübergerauscht in der Jugend der -Urgroßmutter, und dahinter erglänzte der kleine, klare Landsee, in dem -die Mittagssonne sich spiegelte; das war alles ebenso wie sonst.</p> - -<p>„Jetzt möchte ich ihr Grab sehen“, sagte sie endlich. Sie wanderte mit -Suschen Arm in Arm durchs Dorf, Trude voran. Auf einem grünen Hügel, -von Kastanien umgeben, lag die freundliche, saubere Kirche, rings -um sie her unter ihren weißen Steinen und Kreuzen die schlafenden -Gemeindeglieder. Ganz nahe dem Eingange ins Gotteshaus schliefen -Urgroßvater und Urgroßmutter dicht nebeneinander. Die<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> Leichensteine -stellten, wie es damals Sitte war, abgebrochene Säulen dar; auf der des -Urgroßvaters stand: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen; ich -gehe hin, euch die Stätte zu bereiten“; auf dem seiner Gattin: „Ich -weiß, daß mein Erlöser lebt!“</p> - -<p>„Das hat sie selbst so bestimmt“, sagte Trude, „sonst hätte doch wohl -was von allen ihren Gutthaten drauf stehen müssen.“</p> - -<p>Die Gräber waren sehr gut gehalten, die dürren Blätter sauber -abgeharkt; ein Kranz von Schneeglöckchen faßte die obere Fläche ein, -sie läuteten mit all ihren feinen Glocken; schon zeigten sich auch -die blauen Blüten der Amaryllis und die dunklen Köpfchen kleiner -Tulpen fingen an, sich zu färben. Vom Turme klang jetzt feierlich das -Feierabendgeläute, die Sonne wollte soeben zur Ruhe gehen, ihre roten -Strahlen gossen flüssiges Gold auf die Grabsteine und das Gras, und -eine sanfte Abendluft spielte geheimnisvoll in den welken Blättern, die -an der Kirchhofsmauer noch aufgeschichtet lagen.</p> - -<p>Die beiden jungen Mädchen hatten sich fest an der Hand gefaßt, Trude -stand mit gefalteten Händen. Vom Abendläuten war der letzte Ton -verklungen, da hörte man Schritte im Kieswege; die Mädchen wandten sich -und standen einem jungen Manne in geistlicher Kleidung gegenüber, der -offenbar<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> den schmalen Pfad benutzen wollte, um zum nahen Pfarrhause -zu gelangen. Martha und Suschen traten einen Schritt zurück; er grüßte -Suschen, wie man eine alte Bekannte grüßt, und wollte dann schnell -vorüber; aber Trude gab sich so noch nicht zufrieden.</p> - -<p>„Herr Pastor! sehen Sie doch nur, das ist ja die Urenkelin hier von der -seligen Frau.“</p> - -<p>Der Pastor blieb stehen und Suschen übernahm die Vorstellung: „Herr -Pastor Frank, Fräulein Feldwart!“</p> - -<p>„Und Sie waren noch niemals hier?“ fragte der Pastor.</p> - -<p>„Niemals!“ erwiderte Martha.</p> - -<p>„Dann müssen Sie aber auch all’ unsere schönen Altargedecke und -heiligen Geräte sehen; die rühren meistens von der Frau Urgroßmutter -her.“</p> - -<p>O ja, das wollte Martha gern. Der Pastor sprang nach seinem Hause, um -die Schlüssel zu holen, und nahm dann die Erfreuten mit sich in die -Kirche und in die Sakristei.</p> - -<p>Dort schloß er eine schwere, eichene Truhe auf: „Die stammt auch -von der Urgroßmutter!“ Dann enthüllte er die schönen, schweren -Altargedecke: „Sehen Sie, bei jedem Stücke liegt in dem kleinen -Kästchen an der Seite das Dokument der Schenkung.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span></p> - -<p>Martha beugte sich über die alten Papiere: sie waren offenbar von -derselben Hand geschrieben wie ihr Weihnachtslied. Zuerst kam die -Schenkung der Truhe: „Anno 1801 bei der Geburt ihres ältesten Sohnes -schenkte Frau Anna Martha Waldheim aus Dankbarkeit für Gottes -unverdiente Gnade und zum Gedächtnis seiner Wunder diese Truhe zur -Aufbewahrung der Kanzel- und Altarbekleidungen.“ Dann kam 1806 bei der -Geburt eines zweiten Sohnes das erste Gedeck. „Das blaue Laken mit dem -Lamme stickte ich mit meiner eigenen Hand.“ Dieser Hans Waldheim, der -hier erwähnt war, war Marthas Großvater. „1812 bei der Geburt einer -Tochter Margarete schenkte ich eine Bekleidung für den Taufstein aus -schwarzem Sammet und Golde: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott! -zu unsern Zeiten!“</p> - -<p>„Nun sollen Sie auch die Geräte sehen“, sagte der Pastor und öffnete -ein Doppelschloß in der Mauer. 1824 war ein schöner, goldener Kelch -geschenkt: „Zum Angedenken an die sel. Heimfahrt meines ältesten -Sohnes, der sich im Sterben hat mit dem Sakrament erquicket“; 1828 -„eine güldene Weinkanne, da mir mein Herr den bitteren Trank des -Witwenleides hat eingeschenket. Dein teures Blut, dein Lebenssaft giebt -mir stets neue Lebenskraft!“ „Anno 1830 bei der Taufe meiner lieben -Enkelin Anna Marie ein neu<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> Taufbecken: Wer da glaubet und getauft -wird, der wird selig!“</p> - -<p>Anna Marie! das war ja ihre liebe Mutter! Martha war es sonderbar ums -Herz; so wohl, als sei sie in dem kleinen Gotteshause zuhause; so weh, -daß von der Familie, die hier so feste Wurzeln geschlagen hatte, jetzt -hier kein einziges Reislein mehr grünte. Im Amtsstuhl war noch der -kleine, geschnitzte Gesangbuchsschrank der Urgroßeltern mit ihrem Namen -und dem Datum ihres Einzuges. Martha fand es sehr schwer, sich von all -diesen Erinnerungen loszureißen, aber die Tageszeit nötigte dazu.</p> - -<p>Als sie ins Freie traten, war die Sonne hinunter und ein feiner, weißer -Nebel zog durchs Thal. Sie dankten dem Pastor freundlich, er erkundigte -sich noch nach Suschens Eltern, und dann stiegen die drei verschiedenen -weiblichen Gestalten still den Hügel hinab. Pastor Frank stand an -der Kirchhofsmauer und sah ihnen nach, bis das braune Kopftuch, das -schwarze und das helle Kleid im Schatten der Häuser verschwanden.</p> - -<p>„Kanntest du den Pastor Frank schon länger?“ fragte Martha.</p> - -<p>„Ja wohl“, erwiderte Suschen; „er gab als Kandidat den deutschen -Unterricht an unserer Schule; wir schwärmten damals alle für ihn.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span></p> - -<p>Daß Martha dann bei Tische und auf der Rückfahrt stiller war, wunderte -Suschen eben nicht. Frau Feldwart hatte schon sehr ungeduldig nach -ihrem Kinde ausgesehen.</p> - -<p>„Mama“, sagte die Tochter, nachdem sie nur eben ihre Sachen abgelegt -hatte, „kannst du dich noch ganz ordentlich auf die Urgroßmutter -besinnen?“</p> - -<p>„Freilich“, sagte Frau Feldwart; „ich war ja schon ganz erwachsen, als -sie starb! An meinem Einsegnungsmorgen da hat sie an ihrem eisernen -Tischchen noch mit mir gelesen und gebetet und hat mir die Bilderbibel -mit dem silbernen Schloß geschenkt, die ich jetzt noch habe.“</p> - -<p>„Mama, das Tischchen steht noch und der Lehnstuhl, und Urgroßmutters -Bibel und das Starkenbuch sind auch noch da.“</p> - -<p>„Wie mich das freut!“ rief Frau Feldwart; „sie hatte es ja im -Testamente so bestimmt, und so lange meine Eltern dort waren, blieb -natürlich alles so. Als wir Schwestern dann aber heirateten und die -Eltern das Gut verkauften, um uns nachzuziehen nach B., da mußten wir -es dem neuen Besitzer überlassen, ob er diesen Wunsch noch ferner -erfüllen wollte.“</p> - -<p>„Mama, all’ die Altardecken und heiligen Geräte sind auch noch da, auch -das Taufbecken, woraus du zuerst getauft bist; du mußt mir noch viel -von der Urgroßmutter erzählen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span></p> - -<p>„Das thue ich schon gern; du kannst auch vielleicht in ihren alten -Papieren manches finden.“</p> - -<p>Der Martha war zumute, als habe sie die Urgroßmutter heute erst -geschenkt bekommen; ein Pastellbildchen aus der Jugendzeit derselben -hing über dem Nähtisch ihrer Mutter; das mußte sie immer ansehen; -die klaren Augen und festen, bestimmten Züge waren ihr nun erst -verständlich, und ihr eigener Name: Anna Martha, den sie bis dahin ganz -alltäglich gefunden hatte, wurde ihr jetzt lieb als Erbstück von der -Urgroßmutter.</p> - -<p>Von Ostern ab begann nun für sie eine sehr fleißige Zeit. Unter -Suschens Leitung nahm sie mit eigener Hand die Änderungen an ihrer -Garderobe und der ihrer Mutter vor, welche die wärmere Jahreszeit nötig -machte; die Besorgung der kleinen Wirtschaft fing an ihr Freude zu -machen, auch das Einteilen und Sparen, als sie es nach Frau Werners -Anleitung mit Erfolg that, gewann seinen Reiz für sie. Daneben begannen -die englischen Übungsstunden, auf die sie sich ordentlich vorbereiten -mußte; die Zeichenstunden mit den jüngeren Mädchen nahmen ihren Anfang; -jede Mußestunde wurde zur Vollendung niedlicher Karten und Lesezeichen -verwendet; da hieß es die Minuten benutzen und die Zeit aufs äußerste -auskaufen. Frau Feldwart sah anfangs mit Befriedigung Marthas erhöhte -Thätigkeit und<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> wiederkehrende Energie, aber mit der Zeit ward es ihr -lästig, die Tochter, welche bisher nur für sie allein gelebt, so in -Anspruch genommen zu sehen. Seitdem sie sich in die ungewöhnlich milde -Frühlingsluft einmal hinausgewagt hatte, regte sich das Bedürfnis zum -Spazierengehen öfter bei ihr; wenn dann Martha sagte: „Nein, Mama, -heute kann ich nicht ausgehen, heute muß das Kleid fertig werden“, -oder: „Ach, ich bin eben mitten im Malen mit meinem Lesezeichen, jetzt -kann ich’s unmöglich liegen lassen!“ da wurde die Mutter verdrießlich -und es gab zwischen beiden darüber so manchen kleinen Zwist. Es wurden -allmählich auch die Abendstunden zur Arbeit mit herangezogen, in -denen Martha der Mutter früher vorgelesen hatte; Frau Feldwart, deren -Augen schwach waren, nickte dann ein beim Stricken und machte bittere -Bemerkungen. Dann legte Martha wohl Bücher und Zeichengeräte fort und -las vor, bis die Mutter zu Bette ging, um dann bis 1 Uhr nachts zu -arbeiten und müde und überwacht am anderen Morgen aufzustehen.</p> - -<p>„Ich weiß nicht, Martha“, sagte Suschen, „Du bist jetzt viel unruhiger -wie zu Anfang.“</p> - -<p>„Ich finde es selbst“, erwiderte diese nachdenklich, „ich war noch -nie so aufgeregt und zerstreut wie jetzt; ich weiß nicht, woran es -eigentlich liegt.“</p> - -<p>Es fiel ihr ein, daß Trude gesagt hatte, die Urgroßmutter<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> hätte -zweimal so viel als andere fertig gebracht. Sie nahm sich vor, -am nächsten Sonntag ’mal in ihren Briefen zu studieren. Sie fand -verschiedene Briefe, die von Krankheiten, Arbeiten, Kriegsunruhen -handelten; endlich öffnete sie einen Brief, den Frau Anna Martha ihrer -Schwiegertochter, Marthas Großmutter, geschrieben:</p> - -<p>„Meine herzliebe Frau Tochter! Dein Brief hat mir recht viel Nachdenken -und auch Sorgen gemacht, weil er klingt, als wüßtest Du vor Not und -Arbeit von früh bis spät nicht aus noch ein! Ich kann mir wohl denken, -wie die Obst- und Kartoffelernte, die Krankheit der beiden Kinder, das -Schlachten und der viele Besuch zu der Hasenjagd alle deine Kräfte -verbraucht haben, und ich will auch, so schnell ich kann, heimkommen, -um Dir zu helfen; aber ich habe oft ebenso viel und noch mehr, sogar -mit Feinden durchgemacht, und bin doch ruhig verblieben. Versäumt denn -meine liebe Frau Schwiegertochter auch die Hauptsachen nicht? Ich -las neulich in einem Buche, daß ein gelehrter Mann, ein Sterngucker, -gesagt hat: ‚Gebt mir einen Standpunkt außerhalb der Welt, und ich will -sie aus den Angeln heben.‘ Das hat mir ganz gewaltig gefallen. All’ -unsere Arbeiten, alle Mühen, Sorgen und Erdenlasten, die unsere Herzen -drücken, die können wir nur regieren und bewegen von einem Standpunkt -außerhalb der Welt, und gottlob! geht es darin uns<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> Christenleuten -besser als dem armen Kerl in meinem Buche; wir haben den Standpunkt -wahrhaftig; wir brauchen nur zu unserem Vater in dem Himmel zu gehen. -Er hat’s erlaubt; wenn wir es nicht thun, ist es unsere Schuld. Frau -Schwiegertochter! Wenn ich in meinem Leben etwas erreicht und fertig -gebracht habe, so ist es nur dadurch geschehen, daß ich jeden Tag -zweimal eine halbe Stunde vor Gottes Thron gegangen bin. Wenn doch -alle Menschen wüßten, wie viel das Mühe, Not und Zeit erspart! Mit -schwerem Herzen, matten Gliedern, unruhigem Gemüte geht man hin; mit -freier Seele, gestärkten Füßen, wackeren Händen, geordnetem Willen und -verständigen Gedanken kommt man wieder. Frau Schwiegertochter! Des -Sonntags im Gottesdienst und des Alltags in der Betkammer da kriegt -man das meiste fertig, denn da wird man selbst fertig gemacht, daß man -nicht umherfährt wie eine Brummfliege, sondern fein gerade auf sein -Ziel lossteuert wie ein Schiff mit reinen, vollen Segeln, in welche der -richtige Wind bläst. Frau Schwiegertochter! Unter das Rezept kann man -gewißlich setzen, was meistens unter denen Kuchen- und Seifen-Rezepten -in den Kochbüchern stehet: <span class="antiqua">probatum est</span>! Und damit Gott -befohlen!“</p> - -<p>Martha hielt lange den Brief in der Hand. Das war es!</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p> - -<p>Wenn ein junges, begabtes Wesen zuerst seine Leistungsfähigkeit -entdeckt, empfindet es natürlich Freude darüber und das Verlangen, -seine Thätigkeit fort und fort reicher zu entfalten und zu steigern.</p> - -<p>Dieser Trieb ist gewiß an und für sich nicht zu tadeln, aber es -geschieht dann leicht, daß man sich fest auf die eigenen Füße stellt, -der Quelle vergißt, aus der man seine Kraft empfing und erst durch die -Lahmheit seiner Flügel und die Unruhe des ganzen Getriebes vom lieben -Gott die Erinnerung bekommen muß: „Ohne mich könnet ihr nichts thun!“ -So war es Martha ergangen.</p> - -<p>„Was liest du da, Martha, worin du so ganz versunken bist?“ fragte die -Mutter.</p> - -<p>Martha reichte ihr den Brief hinüber.</p> - -<p>„Ach“, sagte Frau Feldwart, nachdem sie ihn gelesen, „das ist ganz und -gar meine Großmutter! Rezepte schrieb sie gar zu gern. Als ich aus -meiner Freiheit auf dem Gute in die Stadt in Pension kam, hatte ich -’mal einen großen Klagebrief nachhause geschrieben, weil ich nun alles -zugleich lernen sollte und niemals fertig wurde; da hat sie mir auch -’mal so ein Rezept geschickt, es war kurz vor ihrem Tode. Warte, ich -will es dir gleich holen.“</p> - -<p>Sie nahm es aus ihrem Schreibtische und Martha las:</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span></p> - -<p class="center mtop1"><em class="gesperrt">Rezept für unser Mariechen in der Stadt.</em></p> - -<p>1) stehe die Jungfer früh auf; sie ist kerngesund und schläfet in der -Nacht; da wird es ihr nichts schaden, wenn sie sich frühzeitig aus -den Federn hebet. Frisch heraus, kalt gewaschen, rasch und ordentlich -angezogen, ein Kapitel aus der Bibel gelesen, gebetet und an die -Arbeit! Das lange Herumdrehen in den Federn mit wachen Augen ist -schädlich; da gewöhnt man sich an das Träumen bei Tage, und es wird -schwer sein, sich über diese verdämmerten Stunden zu entschuldigen, -wenn man sich darüber einmal beim lieben Gott verantworten soll, wie -man seine Zeit angewendet hat. Jeden Tag eine Stunde, giebt im Jahr -365 Stunden, also 15 Tage und 5 Stunden; sollte Dich der liebe Gott -70 Jahre leben lassen, werden 2 Jahre und 334 Tage daraus, ohne die -Schalttage, also beinahe 3 Jahre; das bedenke man ordentlich, damit man -die Minuten zurate hält!</p> - -<p>2) fasse man seinen Verstand zusammen und frage sich, was zu jeder -Stunde das Nötigste ist. Eine Viertelstunde dieses betrieben, die -andere Viertelstunde jenes — das schafft nicht. Was man treibt, treibe -man ganz, lasse alle anderen Gedanken fahren und richte seinen ganzen -Fleiß darauf, nicht, so schnell wie möglich fertig zu werden, sondern -so gründlich und schön als möglich seine Arbeit zu vollenden; dabei -wächst die Zufriedenheit und die Tüchtigkeit;</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span></p> - -<p>3) bedenke man all’ seine Sachen zur rechten Zeit und Stunde, und zwar, -so viel es möglich ist, immer auf einige Tage voraus; man kann sich -dann mit seinen Aufgaben viel besser einrichten. Wenn Du z. B. bei -Deinen weiten Wegen in B. ausgehest und vergissest die Hälfte von dem, -was Du nächstens gebrauchst, mitzubringen, und mußt dann noch einmal -unnützlich rennen, so sind einige Stunden weg, die weder Dir noch -anderen Vorteil bringen;</p> - -<p>4) gewöhne man sich, das nur Erwünschte und Angenehme von dem -Nützlichen und Nötigen zu unterscheiden und beides nach seinem Werte -zu behandeln. Zum Beispiel, Du darfst Sorgfalt und guten Geschmack -auf Deinen Anzug verwenden, darfst Dir ansehen, welche Haarfrisur und -Kleidung für Dich passend ist; der liebe Gott will nicht, daß wir -uns vernachlässigen oder verunstalten sollen; seine Werke sind alle -schön und wohlgeordnet und lieget der Zauber der Anmut darüber. Aber -Du sollst nicht stundenlang vor dem Spiegel stehen, die Locken nach -rechts und links drehen, die Schleifchen hierhin und dorthin wenden, -und die edlen Stunden, die Deinem inwendigen Menschen und dem Wohle -des Nächsten zugute kommen sollen, verthun mit „Firlefanz.“ Ja, liebes -Kind, so nannte unsere Mutter all’ die Modethorheiten, die man sich -jeden Tag neu ausdenket, die viel Zeit und Geld kosten und keinen -Menschen glücklich und zufrieden<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> machen; Du glaubst nicht, wie viel -man davon entbehren kann und wie glücklich man ist, wenn man so wenig -als immer möglich davon gebraucht;</p> - -<p>5) darf man sehr wohl ein gutes Buch zur Unterhaltung lesen; nur daß -man sich in Deinem Alter von erwachsenen, verständigen Personen muß -raten lassen, welches ein gut und nützlich Buch sei. Aber, mein Kind, -lies vernünftig. Sich den Kopf heiß lesen, um nur schnell vorwärts zu -kommen und zu erfahren, ob der Liebste die Liebste auch kriegt, — -blättern, bald hinten, bald vorne; überschlagen, was auf den ersten -Augenblick nicht so ansprechend erscheinet; sich verlesen, wenn andere -Pflichten rufen: das ist schlimmer, als hätte man nie ein Buch in der -Hand gehabt, und macht den ganzen Charakter zucht- und haltlos. Langsam -lesen, ordentlich in sich aufnehmen, bedenken, was der Verfasser von -Dir will; zuweilen ein bißchen stille halten, wenn Dich was ins Herz -trifft, das fördert und bringet unversehens weiter.</p> - -<p>6) Du darfst auch mit einer Freundin umgehen, ja wohl, es ist sehr -schön, wenn Du eine hast; ich gönne sie Dir von Herzen. Aber wenn -Du sie willst auf eine Stunde oder mehr besuchen, dann nimm Dein -Strickzeug oder Nähzeug mit, oder spielet, springet, leset und singet -meinetwegen zusammen; willst Du ihr aber nur auf einige Minuten<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> etwas -bestellen, so laß dies wirklich nur Minuten sein; das Stehen und -Schwätzen beim Gehen und Kommen, so zwischen Thür und Angel, daß keiner -weiß, ob es jemals enden wird, das bringet die Töchter um ihre Zeit und -die Mütter um ihre Geduld — das merke Dir!</p> - -<hr class="tb"> - -<p>Martha war sehr hingenommen von den Lehren der Urgroßmutter. Sie waren -natürlich nicht alle gerade für ihr eigentümliches Wesen zutreffend, -aber vieles stimmte auffallend. Sie erinnerte sich sehr deutlich, daß -Frau Direktor Werner gestern dreimal „Suschen!“ gerufen hatte, als sie -an der Hinterthür voneinander Abschied nahmen, und wie oft, ach, wie -oft! hatte sie weite Wege machen müssen, weil sie am Morgen vergaß, -der Warburgerin das Nötige aufzutragen. Das Frühaufstehen war auch ein -wunder Punkt, ein recht wunder! der sollte morgen früh zuerst geändert -werden.</p> - -<p>Als Martha der Dienerin um sechs Uhr die Thür geöffnet hatte, legte -sie sich nicht nach ihrer Gewohnheit noch einmal nieder, sondern sie -kleidete sich ganz nach dem Rezept der Urgroßmutter leise und rasch an, -und die Wohnstube war kaum fertig, so erschien sie in derselben, setzte -sich ans Fenster und schlug ihre Bibel auf. Es war sehr feierlich<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> -um sie her. Drüben im Grasgarten schlugen die Finken; sie hatte -die Fenster geöffnet, um die köstliche Maienluft zu atmen, und auf -ihren Flügeln strömte der Duft von Flieder und Jasmin zu ihr herein; -die blütenbedeckten Apfelbäume waren von der Morgensonne rötlich -angeleuchtet; im Grase glänzte der Tau in tausend Perlen.</p> - -<p>„Wie schön solch ein Morgen ist!“ dachte Martha. Das Lied fiel ihr -ein, das sie stets so gern gesungen: „Morgenglanz der Ewigkeit, Licht -vom unerschöpften Lichte, Schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen -zu Gesichte etc.“ Singen durfte sie es jetzt nicht, um die Mutter nicht -zu wecken. Sie schlug ihre Bibel auf. Ach, die ganze Natur war heute -nur ein Loblied; sie mußte sich auch hier in Gottes Wort eins suchen; -sie las den 103. Psalm: „Lobe den Herrn, meine Seele! und was in mir -ist seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß -nicht, was er dir Gutes gethan hat etc.“ Dieser köstlichste aller -Lobgesänge trug ihr Herz hoch empor, und ob sie es auch in der letzten -Zeit oftmals versäumt hatte, mit ihrem Vater im Himmel zu reden, die -Stimme des Psalmisten weckte verwandte Stimmen in ihrer Seele; sie -konnte danken, sie konnte bitten, sie konnte ihr Leben und Streben im -Lichte des Wortes Gottes stille betrachten. Wie verschwindet so vieles -in diesem Lichte, was uns wichtig erschien; wie verklärt<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> erscheint -manches, was wir für klein und unwichtig gehalten hatten; wie viel -klarer wird die Richtschnur für unser Thun und Lassen, wenn Gottes -helle Sonne darauf scheint.</p> - -<p>Martha hatte bis jetzt ihr rastloses Arbeiten für nichts als Tugend -und ihre Mutter für sehr ungerecht gehalten, wenn sie diese Thätigkeit -hemmen und ihr Kind für sich in Anspruch nehmen wollte; jetzt auf -einmal wurde es ihr klar, daß die Erfüllung des vierten Gebotes ihre -nächste Aufgabe sei, und ihrer Mutter das Leben leicht zu machen das -höchste Ziel, das sie sich stecken mußte.</p> - -<p>So lange wir hier auf Erden leben, werden wir immer mehr oder -weniger beunruhigt werden durch den scheinbaren Widerstreit unserer -verschiedenen Pflichten, und das Bestreben, sie in Harmonie zu bringen, -geht durch alle unsere Tage. Dies hat aber seinen Grund zumeist -darin, daß wir unsere Lieblingsneigungen und Lieblingsbeschäftigungen -selbstsüchtig festhalten und nicht unterordnen wollen; je mehr uns dies -mit Gottes Hilfe gelingt, desto stiller und geordneter fließt unser -Leben dahin.</p> - -<p>Martha fing jetzt wirklich ernstlich an, zu kämpfen und zu ringen, -um dieses Ziel zu erreichen, und die Morgenstunden, welche ihr dazu -verhelfen sollten, waren ihr bald so lieb und unentbehrlich wie einst -der Urgroßmutter. Sie<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> war darin nicht immer in so gehobener Stimmung; -ach nein! solche Stunden sind, so lange wir hier unten weilen, selten. -Recht oft klagte sie, statt zu danken, wenn all’ die Sorgen ums -tägliche Brot auf sie einstürmten, wenn die sehr wechselnde Stimmung -der Mutter ihr Not machte, wenn die Sehnsucht nach Siegfried, von dem -sie kein Wort wieder gehört hatte, allzu schmerzlich in ihr emporstieg. -Martha hatte nicht versäumt, ihre neue Adresse in Berlin zu melden, -damit ein Brief sie erreichen könne; sie hatte kein Lebenszeichen -erhalten, wußte nicht, wo sie ihn mit ihren Gedanken aufsuchen sollte; -auch in dieser Not war ihre einzige Beruhigung: „Er ist in Gottes Hand, -wie ich es bin; wenn es zu unserem Frieden dient, bringt er uns wieder -zusammen!“ Oft bat sie den Herrn mit Thränen darum, oft suchte sie nach -Ergebung, wenn es anders beschlossen sei; aber so wenig sie jemals ganz -mit ihrem alten Menschen fertig wurde, so kam doch nach und nach immer -größere Ruhe und Sammlung in ihr Herz, und dies konnte man an ihrem -Thun und Treiben gar wohl bemerken. Ohne daß sie eine der angefangenen -Arbeiten vernachlässigte, gewann sie nun Zeit, sich mit der Mutter im -Freien zu ergehen, ihr am Abend vorzulesen, sie in die erbaulichen -Gottesdienste der nahen Pfarrkirche zu begleiten.</p> - -<p>Als Pastor Wohlgemuth die beiden Frauengestalten so<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> regelmäßig unter -seinen Zuhörern erblickte, fing er an, ihnen mitunter einen Besuch zu -machen, wie er es bei Direktor Werners schon seit langer Zeit that. -Seine herzliche, ernste und doch getroste Weise, mit der er die trüben -Dinge des Lebens ins heitere Himmelslicht zu setzen wußte, thaten -der Mutter und Tochter wohl. Martha und Suschen verehrten ihn beide; -seine Erscheinung im Hause war ein Fest für sie, ein beneidenswertes -Ereignis, wenn er bei einer Begegnung freundliche Worte zu ihnen -sprach, und alle Blumen, welche sie in Wald und Flur pflückten, mußte -Luischen dem alten Herrn in die Konfirmandenstunde mitnehmen.</p> - -<p>Zu Pfingsten entschloß sich Frau Feldwart zum erstenmale, einer -Einladung der Frau Amtmann Rösner zu folgen und einige Tage in Weißfeld -zuzubringen. Es ging dies nicht ohne große Herzensbewegung ab, aber -dieselbe war überwiegend freudiger Art. Ihr eigenes früheres Stübchen -war für sie und Martha zum Schlafzimmer, das der Urgroßmutter zur -Wohnstube eingerichtet. Sie sah die alte Heimat im lieblichsten Lichte: -alle Häuser, auch das Gutshaus, mit Maien geschmückt, Narzissen und -Tulpen, Flieder und Goldregen in voller Blüte, die Linden im schönsten, -lichtgrünen Schmuck. Trude war überglücklich, ihre alte Herrin zu -empfangen; von Amtmanns wurde sie mit der zartesten Liebe aufgenommen -und gepflegt, und gleich am<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> Morgen nach der Ankunft hielten Mutter -und Tochter zum erstenmal gemeinsam ihre Andacht am Plätzchen der -Urgroßmutter. Die Mutter saß im Lehnstuhl; Martha, die Bilderbibel auf -den Knieen, auf einem niedrigen Schemel davor; sie las auf Wunsch der -Mutter den Lieblingspsalm der Frau, die hier so oft gebetet hatte, -den 90. Psalm: „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für etc.“, -den Psalm, der Ewigkeit und Vergänglichkeit ergreifend nebeneinander -stellt, mit seiner kindlichen Bitte am Schlusse: „Erfreue uns nun -wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück -leiden; zeige deinen Knechten deine Werke, und deine Ehre ihren -Kindern; und der Herr unser Gott sei uns freundlich und fördere das -Werk unsrer Hände bei uns; ja, das Werk unsrer Hände wolle er fördern!“</p> - -<p>Sie saßen noch lange mit gefalteten Händen, als Martha gelesen hatte, -und der Pfingstgeist, der Geist des Friedens und des Trostes, zog in -ihre Herzen ein. Sie wanderten dann mit den geschmückten Landbewohnern -zusammen dem Kirchlein zu.</p> - -<p>Frau Feldwart saß an derselben Stelle, wo sie mit ihren Eltern -sonntäglich gesessen hatte. Ach, um sie her saß eine fremde Gemeinde! -Trude und der gebückt einhergehende alte Kirchendiener waren die -einzigen Gestalten, deren sie<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> sich erinnerte. Pastor Frank predigte in -einer schönen Sprache, gar nicht ungläubig, aber noch recht jugendlich. -Martha meinte, ihr alter Pastor Wohlgemuth gäbe ihr mehr, und geriet -darüber mit Suschen, die am Morgen erst gekommen war, beinahe in Streit.</p> - -<p>„Ich weiß gar nicht, was du willst, Martha; noch schöner wie der Pastor -Frank kann doch gar kein Mensch predigen!“</p> - -<p>„Er predigt mir eben zu schön“, sagte diese.</p> - -<p>„Aber wie kannst du nur solchen Unsinn sagen!“ rief Suschen ganz -gereizt und ärgerlich.</p> - -<p>Gegen Abend kam Pastor Frank und blieb zum Abendbrot da. Es wurde -musiziert; die beiden Töchter des Amtmanns spielten vierhändig, Pastor -Frank sang mit seiner schönen Tenorstimme: „Tröstet, tröstet mein Volk“ -aus Händels „Messias“, er begleitete Martha das schöne Lied: „Du bist -die Ruh, der Friede mild, die Sehnsucht du und was sie stillt etc.“, und -das war wirklich recht erquicklich. Dann, nach Tisch, wanderten alle -in der lieblichen Dämmerung des duftenden Gartens; Pastor Frank schloß -sich an Martha und Suschen an; er erzählte, daß am dritten Festtage -großes Kinderfest sein werde, auch eine Stiftung der Urgroßmutter. Er -berichtete von mancherlei Einrichtungen zum Wohl der Arbeitsleute aus -alter und aus neuer Zeit.<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> Martha interessierte sich lebhaft dafür -und forderte ihn durch Fragen zu weiteren Mitteilungen auf. Er freute -sich der eifrigen Zuhörerin, sie kamen in ein sehr lebhaftes Gespräch; -Martha war aus der reichen Geselligkeit der Residenz gewohnt, sich -leicht und fließend auszudrücken; Suschen hatte Respektspersonen und -Fremden gegenüber noch ganz ihre kindliche Schüchternheit; sie hing an -Marthas Arme und sagte gar nichts.</p> - -<p>Als sie sich am Abend trennten, fiel es Martha auf, daß ihre Freundin -nicht so heiter war als sonst.</p> - -<p>„Was hast du, Suschen? Du warst heute Abend so still!“</p> - -<p>„Ich weiß nicht, ich war wohl müde von dem Morgenweg in der Sonne.“</p> - -<p>„Das ist ja möglich“, dachte Martha, „auch der Duft von Flieder und -Goldlack macht müde; ich bin es ja auch.“</p> - -<p>Am zweiten Festtage kamen gegen Abend einige Familien aus der -Nachbarschaft; Frau Feldwart zog sich auf ihr Zimmer zurück; Martha -wurde von den jungen weiblichen Gliedern der Gesellschaft, die meistens -schon ihre Schülerinnen waren, schnell umringt, und war, ohne daß sie -es wollte, eigentlich der Mittelpunkt aller.</p> - -<p>Pastor Frank erschien auf eine Stunde, um zu verabreden, wie es morgen -beim Brezelfest werden sollte; die<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> Brezeln wurden vor dem Schulhause -aus zwei Körben verteilt, und er wünschte, daß die Urenkelin der -Stifterin mit ihrer Freundin zusammen dies Amt übernehmen möge.</p> - -<p>Sie sagte gern zu: „Wenn es sich paßt in meinem schwarzen Anzug?“</p> - -<p>„Gewiß“, sagte Pastor Frank; „auf dem Lande ist Schwarz immer ein -Festkleid, und wenn Fräulein Suschen vielleicht wie heute in Weiß -erscheint, so stellen Sie daneben zusammen die preußischen Farben dar, -und das paßt ganz gut zu den Vaterlandsliedern der Knaben.“</p> - -<p>Am dritten Feiertag nachmittags zog alles nach dem Schulhause. Trude -zupfte Martha am Kleide, als sie vom Hofe gehen wollte, und stellte -einen etwa achtjährigen Jungen und ein sechsjähriges dralles Mädchen -vor sie hin, die in Festfreude und Festschmuck strahlten.</p> - -<p>„Das sind meiner Kathrine ihre, Fräulein: Hans und Mariechen! So, gebt -auch hübsch ein Händchen, so ist’s recht!“</p> - -<p>Martha sah mit Wohlgefallen auf die frischen, zutraulichen Kinder, die -nun dem Versammlungsplatze zueilten, und ging selbst, um mit Suschen -an den weißgedeckten Tischen Platz zu nehmen, die vor dem Schulhause -aufgestellt waren zu beiden Seiten der Eingangsthür.</p> - -<p>Schön geschmückt, jedes Kind einen großen Strauß vor<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> der Brust -und eine Maie in der Hand, kam die Schuljugend gezogen, erst die -Knaben paarweis, dann die Mädchen; niedliche Fahnen in den deutschen -Farben trugen die ältesten Knaben vor; ihnen folgten einige -Musikanten mit Blasinstrumenten und einer Trommel. Sie zogen auf -den lindenbeschatteten Platz vor dem Schulhause unter dem Gesang, -den ebenfalls die Urgroßmutter bestimmt hatte: „O heiliger Geist, o -heiliger Gott etc.“</p> - -<p>Der Pastor sprach ein kurzes Gebet und sagte den Kindern in einfachen -Worten, der Pfingstgeist sei ein Geist der Freude und der Liebe, -deshalb habe ihnen die Liebe dieses Fest bereitet; sie möchten nun -in Gottes Namen fröhlich sein und mit Dankbarkeit an die alte Frau -gedenken, die dieses Fest gestiftet habe, als ihr ältestes Söhnlein, -sechs Jahre alt, zur Schule gekommen sei. „Und seht, dort steht ihre -Urenkelin, die will euch die Brezeln heute selbst geben!“</p> - -<p>So waren denn natürlich aller Augen auf Martha gerichtet; weil es aber -strahlende Kinderaugen waren, fühlte sie sich nicht dadurch belästigt.</p> - -<p>Der kleine Hans zupfte sie am Kleide: „Du, was ist denn eine Urenkelin?“</p> - -<p>„Weißt du denn, was eine Enkelin ist?“</p> - -<p>„Ne!“</p> - -<p>„Aber, was eine Großmutter ist, das weißt du!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span></p> - -<p>„Ja“, sagte der Junge lustig, „ich habe zweie!“</p> - -<p>„Na, siehst du! wenn deiner Großmutter ihre Mutter noch lebte, das wäre -deine Urgroßmutter, und du wärst ihr Urenkel.“</p> - -<p>Der Junge sah noch nicht ganz befriedigt aus: „Da müßte sie mir doch -noch erst eine Uhr schenken.“</p> - -<p>Martha lachte: „Junge, ein Urenkel kann man auch ohne Uhr sein; ich -habe auch keine.“</p> - -<p>Aus dem Schulhause wurden nun gewaltig große Chokoladenkannen -herausgebracht; jedes Kind nestelte den kleinen Becher los, den es am -Gürtel trug, und nun ward gefüllt und getrunken nach Herzenslust. Dann -ging es ans Spielen.</p> - -<p>Für die Knaben waren Kletterstangen da; ein Sackhüpfen wurde -angestellt, und es gab allerlei kleine Preise: Tücher, Messer, Kreisel -etc. Die Mädchen liefen nach einem Ziele, mußten mit einem an einer -Schnur schwebenden Ringe nach einem Haken werfen und wurden dann -ebenfalls mit Scheren, Fingerhüten, Bändern und dergleichen belohnt. -Suschen zeigte sich im Anordnen solcher Spiele sehr behilflich und -gewandt; sie kannte dieselben von ihren Geschwistern. Dazwischen sangen -die Knaben: „Die Wacht am Rhein“ und andere Vaterlandslieder; die -Mädchen: „Alle Vögel sind schon da“, „Wer hat die Blumen nur erdacht“ -u. s. w.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span></p> - -<p>Martha merkte jetzt, daß verschiedene Kinder müde waren vom Laufen; -sie setzte sich auf eine der Bänke unter der Linde, ein Kind nach -dem anderen kam zu ihr heran, und sie fing an, sich mit ihnen zu -unterhalten.</p> - -<p>„Riech einmal“, sagte Hänschen und hielt ihr einen Strauß von -Pfingstrosen (eine gelbe Wiesenblume, gestaltet wie eine recht volle -Rose, in Farbe und Blatt der Butterblume gleich) und Sternblumen unter -die Nase.</p> - -<p>„Danke“, sagte Martha, „das riecht schön.“</p> - -<p>„Ja, sie sind auch viel schöner als Butterblumen und Gänseblümchen.“</p> - -<p>„Weißt du denn, Hänschen, wie sie so schön geworden sind?“</p> - -<p>„Ne“, sagte Hänschen, legte beide Arme auf ihre Kniee und sah sie mit -offenem Munde an.</p> - -<p>„Soll ich’s dir erzählen?“</p> - -<p>„Ja, woher weißt du es denn?“</p> - -<p>„Ei, so etwas erzählt mir der Morgenwind, wenn er mich früh am offenen -Fenster besucht.“</p> - -<p>„Na, nu erzähle!“ sagte Hänschen.</p> - -<p>Sie hatte nur wenige Kinder um sich gehabt; jetzt kamen immer mehr -an sie heran, bis sich ein dichter Kreis gebildet hatte; über den -Kinderköpfen schauten auch einige alte mit Wohlgefallen auf sie, als -sie begann:</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p> - -<p>„Als es zum erstenmale Pfingsten wurde im deutschen Lande, da jubelte -die ganze Erde. Im Walde bewegten die Birken ihre grünen Fähnchen, mit -feinen, langen Kätzchen behangen; die Buche schmückte ihren weißen -Stamm mit hellgrünen Kränzen, und die zierlichen Maiblumen läuteten, -daß es eine helle Lust war!</p> - -<p>„Aus den Büschen klang die Stimme des Buchfinken und der Nachtigall; -der Pfingstvogel im gelb und schwarzen Röcklein ließ seinen Lockruf -ertönen; der Kuckuck rief Tag aus und Tag ein, und die Lerche stieg -aus der Furche gerade zum Himmel hinauf: ‚Tirrerillerie! Tirrerillera! -Pfingsten, das schöne Pfingsten ist da!‘</p> - -<p>„Im Garten zogen die Blumen ihre allerschönsten Kleider an; die -Tulpen schmückten sich mit allen Farben; glänzend weiß standen die -Narzissen; der Flieder hing seine großen, blauen Trauben aus, der -Goldregen seine gelben; ja, sogar eine Rose öffnete schon ihre Knospe: -es ist ja Pfingsten, da möchte ich dabei sein! Am Bache standen die -Vergißmeinnicht und wuschen sich, um ganz schön himmelblau zu sein zu -Pfingsten. Auf der Wiese standen ein Gänseblümchen und eine Butterblume -nebeneinander, als am Pfingstsonnabend die Sonne unterging. ‚Weißt du -es schon‘, sagte die Butterblume, ‚morgen ist Pfingsten.‘ ‚Ich weiß!‘ -sagte das Gänseblümchen, ‚die Menschen sagen, es<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> sei das schönste -Fest, denn da sei der Geist des Trostes und des Friedens auf die Erde -gekommen. Sieh nur, wie die Blumen im Garten sich putzen!‘ ‚Ich möchte -mich auch schmücken‘, sagte die Butterblume, ‚aber ich weiß gar nicht, -wie ich es anfangen soll.‘ ‚Ich habe mich schon im Abendtau gebadet, -aber klein bin ich und klein bleibe ich‘, seufzte die Gänseblume.</p> - -<p>„Die Sterne zogen auf; Butterblume und Gänseblümchen hatten sonst -längst um diese Zeit ihre Blättchen oben zusammengeschlossen und -schliefen; — heute wollte ihnen der Schlaf nicht kommen. Sie sahen -zu den leuchtenden Sternen auf und sprachen: ‚Ihr schönen, goldenen -Sterne! wir wollten gern schön werden, dem Pfingstfest zu Ehren; könnt -ihr uns nicht dazu helfen?‘</p> - -<p>„Die Sterne sahen freundlich herunter und die Blümchen sahen sehnend -hinauf, und erst als die Sterne blaß wurden und ein kleines Streifchen -Morgenrot am Himmel erschien, da schliefen die Blümchen ein, und als -am anderen Morgen die Sonne sie weckte, da sahen sie sich an und sahen -sich wieder an, denn aus der Butterblume war eine runde, volle, süß -duftende Pfingstrose geworden, und aus dem Gänseblümchen eine prächtige -Sternblume. Da weinten und lachten sie vor Freude, daß die Sterne ihnen -auch ein so schönes Pfingstkleid beschert hatten. Seitdem kommen und<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> -blühen sie immer zu Pfingsten. Gänseblümchen und Butterblumen kommen -früher, sobald der Lenz auf die Erde tritt: aber wenn es zu Pfingsten -läutet, erwachen die Sternblumen und Pfingstrosen auf den Wiesen, denn -die beiden haben viele, viele Kinder bekommen, die feiern alle mit, und -Hänschens Strauß gehört auch dazu!“</p> - -<p>„Hänschens Strauß gehört auch dazu! Hänschens Strauß gehört auch dazu!“ -riefen die Kinder. „Erzähle noch was, erzähle noch was!“</p> - -<p>„Ach ich kann nicht immer erzählen; jetzt könnt ihr ein Rätsel raten:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Eine kleine,</div> - <div class="verse indent0">Weiße, reine</div> - <div class="verse indent0">Schäfchenherde</div> - <div class="verse indent0">Weidet hoch, hoch über der Erde,</div> - <div class="verse indent0">Nicht auf grünen Auen,</div> - <div class="verse indent0">Nein, auf blauen!</div> - <div class="verse indent0">Der Hirt ist nicht zu sehen,</div> - <div class="verse indent0">Wird hinter den Schäfchen stehen.</div> - <div class="verse indent0">Nun sag mir, liebes Kind,</div> - <div class="verse indent0">Wer und wo die Schäfchen sind.</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Da, da!“ riefen die Kinder und zeigten auf die durchsichtigen -Lämmerwolken, die in der blauen Luft über ihren Häuptern schwammen. -Die Mädchen stimmten an: „Wer hat die schönsten Schäfchen? Die hat der -goldne Mond etc.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span></p> - -<p>Aber nun läutete die Feierabendglocke; alles stand mit gefalteten -Händen, bis das Anschlagen verklungen war; dann sprach Pastor Frank -noch ein kurzes Dankgebet, die Großen und Kleinen sangen zusammen: „Nun -danket alle Gott!“ und dann eilten sie erfreut und ermüdet nachhause.</p> - -<p>Pastor Frank war einige Augenblicke verschwunden; in der Nähe des -Pfarrhauses holte er unsere Freundinnen ein und überreichte Martha ein -zierliches Sträußchen.</p> - -<p>„Die Blumen aus meinem Garten sind auch Pfingstblumen,“ sagte er.</p> - -<p>Martha dankte etwas überrascht; sie hätte sich noch mehr gefreut, wenn -Suschen auch Blumen erhalten hätte; aber sie dachte, es bezöge sich auf -ihre Geschichte, und beruhigte sich dabei.</p> - -<p>Im Gutshofe stand Trude, und Martha ging zu ihr.</p> - -<p>„Ach, Fräulein, die schönen Blumen, die sind aus dem Pfarrgarten; so -dunklen Flieder hat nur unser Herr Pastor. Ach, sehen Sie! wenn ich das -erleben sollte, daß Sie ’mal wieder hier einzögen, wenn es auch nicht -auf dem Amte wäre!“</p> - -<p>Martha sah sie erstaunt an; sie verstand anfangs durchaus nicht, was -sie meinte, dann erschrak sie.</p> - -<p>„Was redest du, Trude? Das fällt ja keinem Menschen ein!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span></p> - -<p>Aber sie war innerlich betrübt; die Unbefangenheit war weg. Als sie -ging, ihre Sachen abzulegen, sah sie Suschen am Fenster ihres offenen -Stübchens stehen. Sie ging zu ihr und legte den Arm um ihren Hals; es -schien fast, als habe die sonst so Fröhliche geweint, obgleich sie es -nicht merken lassen wollte.</p> - -<p>„Suschen“, sagte Martha, „komme nach Tische noch ein wenig in den -Garten, ich muß dir etwas erzählen.“</p> - -<p>Suschen schrak zusammen.</p> - -<p>„Alte Geschichten“, sagte Martha, „aber traurige.“</p> - -<p>Und als sie zwischen den duftenden Beeten im letzten Abendschein -wandelten, erzählte Martha von Siegfried alles, alles! Sie hatte es -längst gern gewollt, es war ihr immer zu schwer gewesen.</p> - -<p>Sie konnte sich nicht über Mangel an Teilnahme von Suschens Seite -beklagen; aber zuletzt sagte diese: „Martha, es ist doch schlimm, daß -das keiner weiß; es könnte sich mancher Hoffnungen machen.“</p> - -<p>„Ich glaube nicht, daß dies einer thut“, sagte Martha, „aber ich will -an die Möglichkeit mehr als bisher denken, und morgen stecke ich mir -Urgroßmutters Trauring an.“</p> - -<p>Am anderen Morgen kehrten Feldwarts und Suschen nach H. zurück, und -Martha war völlig beruhigt, als sie ihren Vorsatz wegen des Ringes -ausgeführt hatte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span></p> - -<p>„Ich glaube“, sagte sie bei sich selbst, „Trude hat in ihren -überschwenglichen Wünschen für mein Wohl Gespenster gesehen; jedenfalls -kann in diesen paar Tagen höchstens ein flüchtiges Interesse entstanden -sein. Suschen paßt viel besser dahin als ich, und wie würde ich mich -freuen, sie dort zu sehen!“</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_7">7.<br> -Muß man denn immer im Streit sein auf Erden?.</h2> - -</div> - -<p>Aber Trude hatte nicht nur Gespenster gesehen! Marthas frisches, -lebendiges Wesen hatte um so mehr Eindruck auf Pastor Frank gemacht, -als seine Gedanken, seitdem er in Weißfeld lebte, so vielfach auf die -Urgroßmutter hingelenkt worden waren, und er nun in Marthas warmem -Interesse, in ihrer Gewandtheit, ihrem Verkehr mit den Dorfbewohnern, -in der Energie, mit der sie sich in schwierigen Verhältnissen -zurechtfand, gleichsam das Bild verkörpert vor sich zu sehen meinte, -das seine Phantasie sich von der längst entschlafenen Wohlthäterin -geschaffen. Schon in der nächsten Woche machte er, angeblich, um sich -nach dem Befinden der Mutter zu erkundigen, den Damen einen Besuch. -Martha begegnete ihm ruhig und ernst und verschwand in der Küche, -so lange dies möglich war; aber da<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> er offenbar nicht fortging, um -ihre Rückkehr zu erwarten, blieb ihr schließlich doch nichts übrig, -als wieder ins Zimmer zu gehen. Sie spielte vor seinen Augen mit -Urgroßmutters Trauring; er schien es nicht zu bemerken und Frau -Feldwart ebenso wenig.</p> - -<p>So oft in den schönen Sommertagen der Amtsrat die Mitglieder der -englischen Stunde nach Weißfeld holen ließ, war Pastor Frank gewiß am -Abend da, hatte auch stets einen besonderen Grund, sich mit Martha -angelegentlich zu unterhalten. Auch Suschen redete er gern an; aber -es war sehr deutlich zu bemerken, daß er sie immer noch halb als sein -Schulkind betrachtete.</p> - -<p>Martha merkte ganz gut, daß diese darüber verstimmt war, und fürchtete, -es könne sich dadurch eine Scheidewand zwischen ihr und der Freundin -aufbauen, zumal da dieser zarte Punkt von ihnen nicht besprochen werden -konnte. Manchmal glaubte sie entschieden, sich geirrt zu haben, da sie -noch niemals ein ungleiches oder aufgeregtes Wesen an Pastor Frank -bemerkt hatte; aber viele zarte Aufmerksamkeiten, welche er ihr und der -Mutter erwies, machten sie doch wieder ängstlich und besorgt. Es war -schlimm, daß Trude damals voreilig gesprochen hatte; sie hätte sonst -sicherlich unbesorgt und unbefangen alles hingenommen.</p> - -<p>Suschen war eine Zeit lang sichtlich bedrückt; aber von<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> Jugend -auf gewöhnt, sich in den gegebenen Schranken zu halten, und so in -unausgesetzter Thätigkeit lebend, daß ihr keine Zeit zum Träumen -blieb, suchte sie die ungewohnte Fessel ihrer Seele abzuschütteln, -indem sie sich immer neue Gegenstände der Liebe und Fürsorge für ihr -teilnehmendes Herz und ihre fleißigen Hände suchte.</p> - -<p>In dem kleinen H. war, seit Pastor Wohlgemuth da wirkte, ein warmes -christliches Leben erwacht; allerlei Werke der inneren Mission waren -in Angriff genommen worden, und Suschens Herz schlug bald für diese -Thätigkeit, als sie aus der Fremde in die Heimat zurückgekehrt war. -Da ihre Mutter sich einer großen Arbeitskraft und guten Gesundheit -erfreute, erlaubte sie der Tochter gern, bei der Kinderschule zu -helfen und Arme und Kranke unter dem Rat und der Leitung ihres lieben, -verehrten Seelsorgers zu besuchen. Es kam Suschen zuweilen vor, als sei -sie dazu besser imstande, seitdem sie selbst eine kaum verstandene Last -auf der Seele trug; sie war ernster, weicher und mitleidiger geworden.</p> - -<p>Eines Sonntags nach der Nachmittagskirche forderte Pastor Wohlgemuth -die jungen Mädchen auf, noch etwas zu bleiben, und teilte ihnen -dann mit, daß er den Plan habe, eine Sonntagsschule einzurichten; -seine jungen Freundinnen sollten ihm dabei helfen, sie sollten die -Lehrerinnen der kleinen Mädchen werden, und er versprach, sie in jeder<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> -Woche zu unterrichten und vorzubereiten auf solche Arbeit. Dieser Plan -zündete ganz gleich bei Suschen und bei Martha; es war ja Marthas -besondere Gabe, das Unterrichten! Und wie schön würden die Stunden sein -beim lieben Pastor Wohlgemuth!</p> - -<p>Beide Mädchen versprachen schnell und unbedenklich ihre Teilnahme und -waren auf dem Heimwege voller Vorfreude und Begeisterung für die Sache. -Suschen wußte, daß ihr die Eltern ihre Zustimmung gern geben würden; -Martha zweifelte nicht daran, daß ihre Mutter damit zufrieden sei. Aber -darin hatte sie sich geirrt.</p> - -<p>Frau Feldwart war seit den heißen Julitagen überhaupt wieder sehr -aufgeregt, schlief schlecht, verlor den Appetit, wurde bei dem -kleinsten Ausgange leicht atemlos, und obwohl sie eigentlich über -keinen Schmerz klagte, war doch ihre Stimmung gedrückter und reizbarer -als sonst. Martha trug ihr die schönen Pläne am anderen Morgen mit -jugendlicher Begeisterung vor; sie seufzte tief auf.</p> - -<p>„Ach, Kind, noch was! Ich meine, du hast übergenug für deine Kräfte!“</p> - -<p>„Aber Mutterchen, ich bin ja ganz frisch und gesund, und die Stunden -bei Pastor Wohlgemuth werden mich so erquicken!“</p> - -<p>„Ach, Martha, und dann sitze ich des Sonntags allein,<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> gerade nach der -Vormittagskirche, wo doch gekocht werden muß!“</p> - -<p>„Ei, Mama, dann wärmen wir!“</p> - -<p>„Und dann willst du jede Woche noch eine Stunde fort zu Pastor -Wohlgemuth, und du weißt nicht, wie mir die Stunden lang werden, die du -ohnehin geben mußt! Nein, Kind, wenn du auch nur noch etwas auf deine -Mutter hältst, dann gehst du nicht hin.“</p> - -<p>„Aber Mama, ich habe es dem Herrn Pastor schon versprochen; was soll er -denken, wenn ich es jetzt absage?“</p> - -<p>„Nun, so vernünftig ist er, daß er weiß, daß ein Kind seiner Mutter -gehorchen muß!“</p> - -<p>Ja, das glaubte freilich Martha auch, aber sie sagte es nicht. Sie -eilte vorläufig noch nicht zu ihm, um abzusagen, sondern ging den -ganzen Tag wie eine graue Wolke im Hause umher, war stumm und einsilbig -und verbesserte dadurch die Stimmung der Mutter durchaus nicht.</p> - -<p>Zu allem Unglück erschien am Nachmittag auch noch Pastor Frank, brachte -einen reizenden Strauß aus Rosen, Nelken, Astern und Pelargonien, und -überreichte denselben diesmal nicht, wie er es sonst gethan hatte, der -Mutter, sondern der Tochter.</p> - -<p>Frau Feldwart lächelte ganz wohlgefällig dazu. Martha war innerlich -ärgerlich. Konnte sie ihm denn gar nicht<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> begreiflich machen, daß sie -kein Gegenstand für so zarte Aufmerksamkeiten sei?</p> - -<p>Während Pastor Frank die Mutter begrüßte, rang sie ratlos die Hände, -und da die Unruhe der Seele auf die Bewegungen einzuwirken pflegt, -und wohl auch die Urgroßmutter stärker war als die Enkelin, flog der -bewußte Ring ihr vom Finger und rollte durchs Zimmer, sehr in Gefahr, -in einer der tiefen Ritzen zwischen den alten Dielen zu verschwinden. -Ihr angstvoller Ruf: „Mein Ring, mein lieber Ring!“ veranlaßte den -Gast, das Kleinod zu erhaschen. Als er es ihr zurückgab, sah er sie -ernst und fragend an und sein Gesicht war bleich geworden.</p> - -<p>Martha war jetzt nicht mehr in Zweifel über seine Gefühle und nahm sich -vor, ihm womöglich bald noch einen deutlicheren Wink zu geben. Als -sie ihn bis zur Korridorthür begleitete, stand er still, ohne sich zu -verabschieden.</p> - -<p>„Fräulein Martha, der Ring war Ihnen sehr lieb, nicht wahr? Es ist sehr -unbescheiden, daß ich danach frage, aber wenn Sie wüßten —“</p> - -<p>Martha ließ ihn nicht ausreden: „Ich will Ihnen gern sagen, was -der Ring für mich bedeutet. Es ist zwar nur der Trauring meiner -Urgroßmutter, und als solcher mir schon sehr lieb; aber ich trage ihn -zum Zeichen, daß ich seit beinahe einem Jahre verlobt bin; und wenn -über unserem<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> Geschick auch jetzt noch dunkle Wolken stehen: Gott kann -sie hinwegnehmen, und mein Herz ist fest, ganz fest gebunden fürs -Leben.“</p> - -<p>Sie hatte es mit zitternder Stimme gesagt, aber ihn ernst und fest -dabei angesehen. Er verneigte sich.</p> - -<p>„Ich danke für Ihre Offenheit, Fräulein Martha! Gott behüte Sie!“</p> - -<p>Sehr erleichtert und doch wehmütig kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.</p> - -<p>„Nun sag ’mal, Martha, was das für ein Ring ist, um den du so viel -Umstände machst“, rief ihr die Mutter entgegen; „Pastor Frank konnte -doch wirklich denken, daß es ein Verlobungsring sei.“</p> - -<p>„Das ist er ja auch, Mütterchen, wenn auch nur der von der -Urgroßmutter; da mir aber Siegfried keinen geben konnte, trage ich ihn -jetzt als Verlobungsring.“</p> - -<p>„Siegfried?“ rief die Mutter wie enttäuscht; „Du denkst noch an -Siegfried?“</p> - -<p>„Aber liebe Mama! natürlich denke ich an Siegfried; er ist des Morgens -mein erster und am Abend mein letzter Gedanke!“</p> - -<p>Die Mutter sah sie eine Weile sehr erschrocken an: „Also darum warst du -so abweisend gegen den Pastor Frank?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span></p> - -<p>„Ich weiß nicht, ob ich abweisend war, Mama, aber es schien mir fast -Schuldigkeit zu sein, ihn nicht im unklaren darüber zu lassen, daß mein -Herz und meine Hand nicht mehr zu haben sind. Es ist ja sehr möglich, -daß er ohnehin niemals danach verlangt hätte.“</p> - -<p>„Martha, Martha!“ rief die Mutter schmerzvoll, „wie kannst du so -festhalten an einem Traumbilde, das sich niemals, niemals verwirklichen -wird. Du weißt, daß dein Vater Siegfried abgewiesen hat; er selbst hat -dir geschrieben, er fordere kein Versprechen und gäbe dir keins; wer -weiß, wo er jetzt ist und ob er überhaupt noch an dich denkt. Ach, wie -war ich so glücklich in der letzten Zeit; wie hoffte ich, all’ unsere -Not und Sorge sei am Ende, und ich könnte mein Kind wohlbeschützt -zurücklassen, wenn Gott mich abriefe! Es ist doch eine Fügung Gottes, -daß er dir gerade in Weißfeld begegnen mußte; du konntest da sein und -da wirken, wo deine Urgroßmutter geschaltet und gewaltet hat. Martha, -laß diesen kindischen Gedanken fahren; ihr waret ja beide noch viel zu -jung.“</p> - -<p>„Ja, Mama, wir sind beide noch jung, aber alt genug, um zu wissen, -was wir aneinander haben, und uns in Treue festzuhalten auch übers -Meer hinweg. Sieh, ich bin in diesem einen Jahre um vier Jahre älter -geworden, aber wenn ich es schon vor der Trennung wußte: jetzt weiß<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> -ich es noch viel gewisser, daß ich keinen so lieben kann wie meinen -Siegfried!“</p> - -<p>„Ach, Martha, das ist Jugendüberschwenglichkeit; denke doch an deine -arme Mutter! Was soll werden, wenn ich noch elender werde, und du deine -Stunden aufgeben mußt, um mich zu pflegen? Ich weiß es: Frank nähme -mich gern unter sein Dach; ich würde es gut bei ihm haben. Wenn du ihn -auch nicht so feurig lieb hast, du achtest ihn doch und wirst ihn mit -jedem Tage lieber gewinnen. Es giebt ja so viele Ehen, wo die Leute -sich ruhig gegenüberstehen und dennoch glücklich und zufrieden sind!“</p> - -<p>Martha hatte bleich und lautlos zugehört, aber in ihrem Innern brauste -ein gewaltiger Sturm; ihr ganzes Herz, all ihr Wille bäumte sich auf, -als so an ihre innersten Gefühle gerührt wurde. Sie bedachte nicht, -daß die Mutter krank, schwach und unglücklich war, und es brach nun -auch wie ein wettergeschwollener Waldbach die Rede von ihren Lippen — -leidenschaftlich, rücksichtslos, verletzend: „Alles habe ich stille -getragen, gearbeitet, geduldet, meinen Schmerz überwunden, so viel ich -konnte, und dafür willst du mir nun mein einziges Kleinod nehmen? Ich -soll dem einen untreu werden und den andern betrügen, wenn ich ihm -meine Hand ohne mein Herz gebe! O, Mutter! Mutter! wie kannst du so -grausam und ungerecht sein!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span></p> - -<p>Frau Feldwart war ganz entsetzt — Martha war noch nie so heftig und -unkindlich gewesen —; sie rang die Hände und brach in Thränen aus. -Martha, obwohl innerlich gewiß, daß sie diesen Wunsch der Mutter -nicht erfüllen dürfe, war doch tief erschrocken darüber, daß sie sich -so weit hatte fortreißen lassen, und weinte ebenfalls; es war ein -recht unglücklicher Nachmittag. Sie hätte sich so gern ausgeklagt und -ausgeweint; aber ihr liebes Suschen durfte ja von diesem Leid nichts -erfahren. Wenn sie sich hätte überwinden können, der Mutter ihre -Heftigkeit abzubitten, wäre beiden geholfen gewesen; aber dazu kamen -ihr die Regungen ihrer eigenen Seele jetzt noch zu hoch und erhaben, -die Wünsche der Mutter viel zu unnatürlich und grausam vor. Dennoch -hatte sie das Verlangen, die Mutter wieder zufriedener zu wissen, ihr -irgendetwas zuliebe zu thun, und als die Sonne schon am Sinken war, -sagte sie kleinlaut: „Mama, ich möchte dem Pastor Wohlgemuth noch -sagen, daß ich nicht mit unterrichten soll.“</p> - -<p>Frau Feldwart nickte stumm, und Martha ging. Es war sonderbar: sie -hatte nicht nur Pastor Wohlgemuth, sondern auch seine freundliche Frau -herzlich lieb, und war sonst immer wie auf Flügeln hingeeilt; heute -schien es ihr, als könne sie dem Ehepaar nicht so frei entgegentreten -wie früher. Schüchtern fragte sie das Mädchen nach ihrem alten<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> -Freunde; er war im Garten, seine Frau zu ihrer Schwiegertochter -gegangen. Martha kannte den freundlichen Hausgarten und suchte dort -den Pfarrherrn auf. Im Mittelwege wandelte er langsam auf und nieder; -ein bequemer Hausrock umschloß seine hohe, schlanke Gestalt; das -würdige Haupt mit den feinen Zügen und dem spärlichen Silberhaar deckte -ein Sammetmützchen; die leichten, vom Abendlicht goldig gefärbten -Dampfwölkchen aus seiner langen Pfeife umschwebten es. Er schien in -freundliche Gedanken versunken zu sein, wenn er sich bald rechts, bald -links zu seinen Blumen niederbeugte, hier ein Pflänzchen aufrichtend -und befestigend, dort den Duft einer Blüte mit Wohlgefallen einatmend. -Jetzt wandte er sich und erblickte Martha.</p> - -<p>„Ei, willkommen! Das ist ja herrlich; je später der Abend, je schöner -die Gäste!“ rief er heiter. „Nun kommen Sie ’mal gleich hierher; die -feurige Bandnelke ist gerade so schön angeleuchtet, und sehen Sie nur -diese weiß und braune an, die hat mir mein Nachbar dort drüben im -Frühling geschenkt.“</p> - -<p>Martha beugte sich zu den Blumen; sie war aber zum Sprechen und -Bewundern nicht aufgelegt, und da das bei ihrer lebendigen Teilnahme -für die kleinen Liebhabereien des Pastors ganz ungewöhnlich war, wurde -dieser schnell aufmerksam.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span></p> - -<p>„Aber verzeihen Sie, liebe Martha, Sie sehen traurig aus; ich fragte -noch gar nicht, ob ich Ihnen irgendwie dienen oder beistehen kann! -Kommen Sie hier in die Laube, da sitzt es sich sehr friedlich, und -sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben!“</p> - -<p>„Ach, Herr Pastor, ich hatte mich so sehr gefreut, bei den -Kindergottesdiensten zu helfen, und nun will es mir die Mutter nicht -erlauben.“</p> - -<p>Martha hatte das Herz sehr voll Weh; sie brach in Thränen aus.</p> - -<p>„Nun, nun, liebes Kind, das ist denn doch noch keine Veranlassung zu so -bitteren Thränen. Ich kenne die Gründe der Mutter nicht, aber da heißt -es: ‚Gehorsam ist besser denn Opfer.‘“</p> - -<p>Martha erzählte, warum es der Mutter so schwer erschien; aber sie -sprach anders, mit weit weniger Respekt und Schonung und viel erregter -als sonst; und der erfahrene Seelsorger merkte bald, daß noch andere -Beunruhigungen im Grunde ihrer Seele lagen.</p> - -<p>„Mein liebes Kind“, sagte er, „es kann nicht dies allein sein, was Sie -so aufregt. Können Sie mir sagen, was Ihnen sonst noch Not macht, daß -ich versuchen kann, Ihnen zu helfen?“</p> - -<p>Ach, Martha sehnte sich, sich auszusprechen und innerlich<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> womöglich -wieder klar und fest zu werden; hier, wußte sie, war alles wohl -aufgehoben, und so erzählte sie: ihre Verlobung, Siegfrieds Abschied, -die kleinen Aufmerksamkeiten des Pastor Frank und die schlimmen Worte -der Mutter; ach, als sie derselben erwähnte, wurde sie wieder ebenso -bitter und heftig wie am Nachmittage. Pastor Wohlgemuth saß stille -neben ihr, schickte manchmal einen Ring aus seiner Pfeife in die klare -Luft, und ließ sie völlig sich aussprechen und ausklagen. Dann setzte -er die Pfeife fort, ging einige Male im Garten auf und nieder und -stellte sich endlich Martha gegenüber.</p> - -<p>„Mein liebes Kind“, sagte er, „bevor wir die Außendinge betrachten, -müssen wir wohl erst inwendig Ordnung machen. Wenn Sie sich zum -Kindergottesdienst bei mir gemeldet hätten, würde ich zuerst die zehn -Gebote mit Ihnen durchgenommen haben, und wir wären dann sehr bald an -das Gebot gekommen, das Verheißung hat; Sie wissen doch, liebe Martha, -welches ich meine? Fragen Sie sich einmal selbst, ob Sie dieses Gebot -heute gehalten haben.“</p> - -<p>„Herr Pastor, Sie können nicht wollen, daß ich Siegfried untreu werden -soll!“</p> - -<p>„Das steht auf einem ganz anderen Blatte; darüber steht meine Ansicht -noch gar nicht fest. Aber das werden Sie sich selbst wohl gestehen, daß -Sie heute recht unkindliche<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> Gedanken und Gefühle genährt und gehegt -haben; dafür müssen Sie zuerst den lieben Gott und dann Ihre Mutter um -Verzeihung bitten, eher kommt der Friede nicht wieder hinein in ihre -Seele.“</p> - -<p>Martha sah ihn traurig an: „Wenn ich thun wollte, was die Mutter will, -und meinem Verlobten entsagen, würde ich dies aber als ein so schweres -Unrecht empfinden, daß von Frieden gar keine Rede sein könnte.“</p> - -<p>„Das ist möglich!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber denken Sie jetzt -einmal nicht so viel an das, was Sie empfinden oder empfinden würden, -sondern machen Sie sich einmal klar, was Ihre liebe Mutter dabei -gedacht und empfunden hat, die Mutter, der Sie Ehrerbietung und Liebe -schuldig sind, selbst wenn es Ihnen nicht möglich sein sollte, den -Weg einzuschlagen, den sie wünscht. Als ich neulich allein bei ihr -war, klagte sie mir, sie fühle, wie ihre Gesundheit durch alle die -Schicksalsschläge gelitten habe, und daß beim Gedanken an ihren Tod -die schwere Sorge ihr Herz bedrücke, wie sich Ihre Zukunft gestalten -werde, wenn dann die Leibrente wegfiele und Sie genötigt sein würden, -unter Fremden Ihr Brot zu suchen, ohne die genügende Vorbereitung dazu -erhalten zu haben. Das Verhältnis, in welchem Sie zum jungen Kraus -gestanden haben, sieht Ihre Mutter, wie es scheint, nicht mehr als -bindend<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> an, und wenn man die Sache äußerlich ansieht, hat sie ja darin -recht. Nun sieht sie einen jungen, tüchtigen Mann kommen, der sich mit -aufrichtigem Herzen um Sie bewirbt, der Ihnen ein bescheidenes aber -sicheres Los bietet, und durch dessen Treue und Pietät sie selbst einen -friedlichen Lebensabend zu erlangen hofft. Ich selbst gestehe, daß ich -ähnliche Wünsche und Vermutungen schon gehegt habe und vielleicht Ihrer -Mutter gegenüber unvorsichtig in meinen Äußerungen gewesen bin. Sind, -so betrachtet, die Wünsche der Mutter nicht zu entschuldigen, sind sie -nicht sogar gut und verständig? Meine liebe Martha, wenn man innerlich -so aufgebracht und entrüstet ist, thut man immer wohl, sich im Geiste -auf den Standpunkt des Gegners zu stellen und von dort aus die Sache -einmal anzusehen; man wird dann jedenfalls die Andersdenkenden -begreifen, selbst wenn man nicht für ihre Ansicht gewonnen wird.“</p> - -<p>Martha seufzte: „Wenn Gott die Erfüllung des vierten Gebotes verlangt, -warum läßt er dann so schwere Konflikte kommen?“</p> - -<p>„Liebes Kind, mit dem ‚Warum‘ kommen wir unserem Herrgott gegenüber -nicht weit; da heißt es immer: ‚hernachmals — hernachmals wirst -du es erfahren.‘ Gerade diesem Gebote gegenüber giebt es viele und -schwere Versuchungen. Die Kinder wachsen heran, gestalten sich zu -selbständigen<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> Persönlichkeiten, die dem Herrn im Himmel und der Welt -gegenüber ihre eigene Verantwortlichkeit tragen müssen. Da ist denn oft -der Gehorsam eine recht schwere Sache; er ist aber auch eine schöne, -liebe Martha! die den Lohn in sich trägt. Die Jugend stürmt oft in -dunklem Thatendrange vorwärts; das Alter steht dem entgegen mit seinen -vielfachen Erfahrungen und seiner Ruhebedürftigkeit; Gott hat sie beide -nebeneinander gestellt, damit eines das andere ausgleiche. Wenn die -Jugend aufmerkt und annimmt, und das Alter in Milde und Gottesfurcht -etwas nachgiebt, kommt die rechte harmonische Mitte heraus. Weil unser -Herrgott weiß, daß dies schwer ist, hat er dem Gebot die Verheißung -zugegeben, und er hält sie, er hält sie, Martha! das bestätigt die -Erfahrung allezeit.“</p> - -<p>Ein leidendes, erregtes Herz bezieht alles auf seinen besonderen Fall: -„Aber Herr Pastor, ich kann keinen anderen als Siegfried nehmen!“</p> - -<p>„Das ist möglich, liebe Martha! darüber kann in der That kein anderer -als Sie selbst entscheiden. Wenn Sie aber Ihrem Verlobten die Treue -halten wollen, müssen Sie sich zuvor ganz klar machen, welche Opfer -diese Treue von Ihnen fordern kann. Gott kann Ihnen die Mutter nehmen, -da müssen Sie vielleicht unter Fremden ein kümmerliches Brot suchen; -ganz andere, viel schwerere Konflikte können<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> über Sie kommen, als dies -jetzt der Fall ist. Sie müssen es sich gefallen lassen, sehr niedrig -und klein zu sein, und das wird gerade Ihrer Natur schwer werden. -Sie müssen sich auch darauf gefaßt machen, nichts wieder von Ihrem -Verlobten zu hören, ja, Sie können eines Tages die Nachricht bekommen, -daß er glücklich verheiratet ist, und dürfen dann nicht sagen: ‚O, -hätte ich anders gehandelt, so wäre ich nun statt eines verlassenen -Mädchens eine glückliche Frau!‘“</p> - -<p>„Ich habe mir das alles schon gesagt, Herr Pastor! das heißt, nicht -alles, denn daß er mit einer anderen vermählt ist, werde ich nie hören, -und ich bin darin ganz ruhig und fest, daß ich ihm treu bleibe, so -lange ich atme!“</p> - -<p>„Nun, so sei Gott mit Ihnen!“ sagte Pastor Wohlgemuth. „Aber nur -vergessen Sie nicht, daß jetzt Ehrerbietung, Liebe, zarte Schonung -gegen Ihre Mutter zur doppelten Pflicht wird. Bitten Sie gleich, -sowie Sie nachhause kommen, der Mutter Ihre Heftigkeit ab; wenn Sie -genötigt werden, für Ihre Überzeugung einzutreten, so thun Sie das mit -kindlichen, sanften, bittenden Worten, und bitten Sie den lieben Gott -dazu um seinen Segen; der weiß für aufrichtige Herzen alle Konflikte -zum rechten Ende zu bringen. Mein armer,<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> junger Amtsbruder! Ich hatte -es besser mit ihm im Sinn!“</p> - -<p>„Herr Pastor“, sagte Martha und sah ihn mit einem Blicke an, der -in seiner fröhlichen Schalkhaftigkeit an frühere glückliche Zeiten -erinnerte, „glauben Sie mir, er ist nur in meine Urgroßmutter verliebt! -Nun gute Nacht und besten Dank! Sie sind mir doch der Stunden wegen -nicht böse?“</p> - -<p>„Wie könnte ich? Hier hat auch wohl Ihre liebe Mutter recht: Sie sind -reichlich in Anspruch genommen mit Ihrer Zeit und Kraft! Gott hat -nicht jedem alles befohlen, und Ihnen befiehlt er durch den Mund Ihrer -Mutter, diesem Werke zu entsagen, — also bescheiden wir uns!“</p> - -<hr class="tb"> - -<p>Es dämmerte, als Martha ging; sie fand die Mutter am Fenster sitzend -und ihrer wartend.</p> - -<p>Martha konnte jetzt mit demütigem Herzen der Mutter nahen.</p> - -<p>„Ach, liebe Mutter, ich bitte dich, verzeihe! Ich war sehr heftig und -unartig; aber diese Sache ist mir ja so schwer!“</p> - -<p>Die Mutter strich über ihr Haar.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span></p> - -<p>„Meine arme Martha, so wirst du tragen müssen, was danach kommt!“</p> - -<p>Der Friede war hergestellt, und er wurde am besten dadurch erhalten, -daß Pastor Frank sich vorläufig im Städtchen nicht sehen ließ.</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_8">8.<br> -Schwerer Abschied.</h2> - -</div> - -<p>Ein Wort des treuen Pastors war tief in Marthas Herz gedrungen: die -Mutter sorgte, was aus ihrem Kinde werden sollte, wenn sie stürbe. -Martha hatte an diese Möglichkeit noch niemals gedacht; jetzt fielen -ihr zum erstenmale die eingefallenen Wangen, die blauen Ringe unter -den Augen der Mutter auf; jetzt erregte es ihre Besorgnis, wenn diese -beim Ersteigen der Treppe nach Atem rang. Ach nein, das durfte, -das konnte Gott nicht thun! Es ist diese Zuversicht, mit der fast -jedes ungeschulte Herz einem schweren, drohenden Schicksalsschlag -entgegentritt, mit der es immer wieder seine Hoffnung stärkt und -stählt, bis endlich die Überzeugung Raum gewinnen muß: dein Hoffen -ist vergeblich, du sollst nach Gottes Willen diesen schweren Weg -gehen! Dann giebt es noch einen harten, sehr harten Kampf mit dem -eigenen Willen, bis sich das Herz zur Ergebung<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> und Stille durchringt, -und erst, wenn dieses geschehen ist, kommt die Zeit, wo man auch an -Sterbebetten schöne, ja glückliche Stunden verleben kann, wo die Pflege -zu einem sehr süßen Geschäft wird, wo man, ohne den geliebten Kranken -mit falschen Hoffnungen zu täuschen, ihn doch recht wohl erheitern -und erfrischen kann, um ihn zuletzt gleichsam hinüberzubegleiten in -die Wohnungen des ewigen Friedens. Dieser schwere, schöne Weg lag vor -Martha.</p> - -<p>Der Herbst brachte manchen Wechsel im Befinden; ein frischer, klarer -Tag belebte die Hoffnungen von Mutter und Tochter, daß das Unwohlsein -wohl vorübergehen könne; aber als die Tage kurz wurden und die -Herbststürme ums Haus brausten, da sanken sichtlich die Kräfte, die -Beängstigungen nahmen zu und kamen häufiger. Der Arzt schüttelte den -Kopf: „Es ist ein Herzleiden, das sich schon sehr weit ausgebildet hat.“</p> - -<p>Bis in den Advent hinein hatte Martha ihre Stunden und -Konversationsnachmittage festhalten können; dann aber fand sie die -Mutter nach jeder Abwesenheit so unglücklich und aufgeregt, daß sie -sich überzeugen mußte: so geht es nicht mehr weiter. Suschen hatte -versucht, ihre Stelle zu vertreten und war gern angenommen worden; -aber Frau Feldwart, beängstigt durch ihr Leiden, war reizbar und -eigensinnig, und verlangte sofort sehnsüchtig wieder nach Martha.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span></p> - -<p>„Es hilft nichts“, sagte diese, „ich muß die Stunden jetzt aufgeben; -Gott wird ja helfen, daß es geht!“</p> - -<p>Ja, er verlangt nichts Unmögliches; es ging wirklich! Alle die Eltern, -deren Töchter Martha unterrichtet hatte, fühlten herzliche Teilnahme; -Stärkungsmittel, guter Wein, feine Speisen kamen von allen Seiten -herbei; ab und zu sahen die hellen, freundlichen Gesichter der jungen -Mädchen selbst herein.</p> - -<p>Pastor Wohlgemuth war sehr treu in seinen Besuchen; er verstand -die Kranke und sie verstand ihn; er hielt keine langen Reden: ein -Schriftwort, das auf ihren Zustand paßte, ein Vers aus einem unserer -schönen Trost- und Glaubenslieder, ein kurzes, warmes, herzliches -Gebet — das waren die Erquickungen, welche er ihr zurückließ, und -sein heiteres Gesicht, sein klares Auge, seine getroste Stimme wirkten -allezeit wie eine belebende Arzenei nicht nur auf die Mutter, nein! -auch auf den gesunkenen Mut ihres Kindes.</p> - -<p>So kam Weihnachten recht ernst heran. Die Mutter litt mehr als je. -Werners Kinder hätten so gern der Martha ein Bäumchen geputzt, aber sie -hätten es ihr doch nicht bringen dürfen; der armen Kranken mußte auch -die leiseste Unruhe erspart werden.</p> - -<p>Als die Glocken zur Kirche läuteten, saß Martha an<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> ihrem Bette und las -die Weihnachtsgeschichte. Ach! Das „Siehe, ich verkündige euch große -Freude“, es war heute schwer zu fassen; ihre Stimme stockte beim Lesen.</p> - -<p>Die Mutter hielt die Hand vor die Augen; nach einer Weile sagte sie: -„Heute vor einem Jahre hatten wir unseren letzten glücklichen Abend, -Martha! Dann ging das Elend an. Wenn uns damals einer gesagt hätte, wie -Schreckliches wir erleben sollten!“ Sie seufzte tief.</p> - -<p>Martha nahm sich zusammen, so viel sie konnte: „Ja, Mutter, wir haben -viel durchgemacht, aber Gott hat uns auch recht dabei geholfen; wenn -uns jemand vorher gesagt hätte, wie gut wir das Schwere ertragen -würden, das hätten wir auch nicht geglaubt.“</p> - -<p>„Es kommt noch schwerer, liebe Martha!“ fuhr die Mutter mit Anstrengung -fort, „viel schwerer!“</p> - -<p>Martha zitterte innerlich, aber sie kämpfte tapfer ihre Aufregung -nieder.</p> - -<p>„So wird er uns auch durch das Schwerste helfen“, sagte sie leise.</p> - -<p>„Weißt du denn auch wohl, was ich meine, mein armes Kind?“</p> - -<p>„Ja, liebe Mama, ich glaube, ich weiß es. Ach, ich sehe manchmal nichts -vor mir als Dunkelheit; aber das Christkind ist ja da; seine Hand kann -ich auch im Dunkel<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span> fassen, und es wird mich schon durchbringen, und -dich auch, Mama.“</p> - -<p>„Ich glaube, sie singen drüben bei Werners; möchtest du nicht dort -sein?“</p> - -<p>„Nein, Mama, heute bleiben wir zusammen.“</p> - -<p>Leise Schritte näherten sich bald darauf. Martha sah hinaus; es waren -Suschen und Luischen: „Dürfen wir nur einen Augenblick kommen und -bescheren?“</p> - -<p>Frau Feldwart hatte die freundliche Frage gehört: „Ja, kommt nur!“</p> - -<p>„Ja, aber da müssen Sie und Martha die Augen schließen, bis wir sagen: -‚Nanu!‘“</p> - -<p>Es ward bewilligt. Ein leises Flüstern und ein süßer Duft ging durchs -Zimmer. Als die Augen sich öffnen durften, sahen sie auf einen -wunderbar schönen, blühenden Rosenstock; darunter lagen neben allerlei -zierlichen Näschereien Gerocks erbauliche Lieder und ein von Suschen -feingestricktes Kopftuch für Martha.</p> - -<p>Gerührt wurden die schönen Gaben bewundert; Frau Feldwart war sehr -freundlich: „Nun singt mir aber: ‚Es ist ein Ros’ entsprungen‘, das -gehört zu dem schönen Rosenstrauch.“</p> - -<p>Sie thaten das sehr gern und Martha sang mit. Als Suschen bat, -hier bleiben zu dürfen, damit Martha etwas<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> hinüberginge unter den -Weihnachtsbaum, schlug es diese dankbar und freundlich ab; sie -fühlte, daß es so besser sei! Aber es wurde ein friedlicher Abend, -weihnachtlich im höchsten und schönsten Sinne.</p> - -<p>„Vielleicht feiere ich übers Jahr droben mit deinem Vater!“ sagte Frau -Feldwart und sah sehr fröhlich dabei aus.</p> - -<p>Marthas Gedanken wanderten, wohin sie oft gingen — zu Siegfried! Sie -wußte nicht mehr, was sie denken und wo sie ihn suchen sollte; aber sie -bat, daß Gott ihm einen schönen, gesegneten Weihnachtsabend schenken -möge, und die Gewißheit kam als ein süßer Trost über sie, daß ihr -Vater droben im Himmel, ihre Mutter auf dem Krankenlager, Siegfried in -der weiten Ferne und sie selbst mit ihrem betrübten, zagenden Herzen, -alle in einer Vaterhand ruhten, sich alle des einen heiligen Christ -getrösten und hoffen durften, nach dieser Zeit Leiden in eine selige -Heimat einzuziehen, wo keine Trennung und kein Schmerz mehr sein wird. -Beide, Mutter und Tochter, fühlten es als eine große Wohlthat, daß nun -das Wort ausgesprochen war, vor dem sie sich immer gefürchtet hatten, -daß sie nun offen und gemeinsam dem entgegensahen, was kommen sollte, -und sich auch gemeinsam dazu stärken konnten. Es kamen ernste, sehr -schwere, aber friedliche Tage, während in der Nacht<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> mehr und mehr -ein Angstanfall den anderen ablöste, so daß sich Martha nach Beistand -umsehen mußte. Wenn es sich mit ihren Botengängen vereinigen ließ, -blieb Trude manchmal eine Nacht; dann durfte Martha ruhig schlafen, -denn die Kranke fühlte sich bei ihr geborgen wie ein Kind im Mutterarm; -aber dies konnte doch nur selten geschehen. Da bot sich die Warburgerin -zur Hilfe an, und je kränker Frau Feldwart wurde, desto mehr war ihre -gleichmäßige Ruhe und große Körperkraft am Platze, mit der sie die -Kranke hob und zurechtlegte, während ihre Heiterkeit und Frische die -Krankenstube zu erhellen schien.</p> - -<p>Man denkt oft, Tage, die so einförmig unter Sorge und Not hinfließen, -müssen langsam vorübergehen; o nein! das Gegenteil ist der Fall. In -diesem steten, stillen Aufmerken und Sorgen für den nächsten Augenblick -vergeht die Zeit unmerkbar wie im Fluge.</p> - -<p>Martha wunderte sich, als die Tage anfingen, länger zu werden, und die -Sonnenstrahlen früher durchs Fenster blickten. Frau Feldwart freute -sich daran, — Martha sah es mit Bangen; sie wußte, daß der März das -letzte welke Laub von den Bäumen schüttelt. Wenn sie die Angst der -Mutter sah, sehnte sie sich mit ihr nach Erlösung; aber was dann aus -ihr selbst werden sollte — in diesen Gedanken durfte sie sich gar -nicht hineinwagen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span></p> - -<p>Stellte sie sich einmal ganz ihre verlassene und hilflose Lage vor, so -kam wohl der Gedanke an Pastor Frank, an das friedliche und geschätzte -Leben unter seinem Dache wie eine Versuchung über sie. Aber nein! Sie -konnte nicht bereuen, was sie gethan hatte; immer wieder trat vor ihr -inneres Auge das Bild ihres Siegfried; daneben hatte kein anderes Platz!</p> - -<p>Es war ein ganz wunderlieblicher 1. März; die Sonne schien so erwärmend -und freundlich auf die schwellenden braunen Knospen, als könne sie es -kaum erwarten, dieselben zu sprengen. Frau Feldwart war durch eine -schwere Angstnacht gegangen; jetzt, gegen Mittag, ließ sie die Fenster -öffnen und atmete mit sichtlicher Erleichterung und Freude die linde -Frühlingsluft ein.</p> - -<p>„Vielleicht könnte ich jetzt ein wenig schlafen“, sagte sie, „versuche -du es auch, Martha! du wachtest die ganze Nacht.“</p> - -<p>Martha richtete der Mutter die Kissen zurecht; diese zog ihren Kopf zu -sich hernieder und sagte freundlich: „Gott segne dich, mein liebes, -liebes Kind! Gute Nacht!“</p> - -<p>Es war nicht Nacht, es war heller, strahlender Tag; Martha zog sorglich -hinter den offenen Fenstern die Gardinen zu, setzte sich in den -Lehnstuhl und beobachtete noch eine Weile den Schlummer der Mutter, -der sehr süß und<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span> fest zu sein schien; und wie sie auf das friedlich -ruhende Angesicht blickte, verschleierten sich allmählich auch ihre -Gedanken, allerlei Traumbilder umgaukelten sie; nach kurzer Zeit -schlief sie so fest, wie die Mutter ihr gegenüber. Doch nein! <em class="gesperrt">so</em> -fest schlief sie nicht, denn als sie nach einer Stunde erwachte und -auf den Zehen näher schlich, um nach der lieben Kranken zu sehen, da -lag diese noch ebenso friedlich und freundlich da, aber das Antlitz -war marmorweiß, kein Atemzug hob mehr die sonst so gequälte Brust, und -die Hände, die auf der Decke lagen, waren erkaltet. Es währte lange, -bis es der armen Martha ganz zum Bewußtsein kam, daß die Mutter dahin -gegangen, wo kein Leid, kein Geschrei und keine Qual mehr ist.</p> - -<p>Als es ihr endlich zur Gewißheit wurde, schrie sie nicht auf, sie -klingelte nicht um Hilfe; sie kniete am Bette, schickte ihre Seufzer -zu Gott hinauf und weinte heiße, recht heiße Thränen. Sie wußte ihre -Eltern am Throne Gottes vereint, aber sie war allein gelassen auf Erden -und fühlte das mit tiefem, tiefem Schmerz.</p> - -<p>Suschen, die einzige, die stets einen Drücker zur Korridorthür hatte -und unbemerkt kommen und gehen konnte, fand sie so. O, wie herzlich -weinte sie mit ihr! Dann rief sie ihre Eltern, und als Frau Werner -Martha in die Arme schloß und ihr Gemahl so warme, teilnehmende Worte<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> -sprach, fühlte das verwaiste Kind, daß es doch nicht ganz verlassen sei.</p> - -<p>Der Direktor besorgte mit großer Aufopferung all’ die schweren -Außendinge, die ein solcher Todesfall mit sich führt; seine Frau -sagte: „Du kommst jetzt mit uns, liebe Martha. Sobald die Frau kommt, -die dazu beauftragt ist, helfe ich dir mit Suschen zusammen, deiner -lieben Mutter die letzten Dienste zu erweisen; denke du jetzt an nichts -weiter, als daß deine Mutter im Himmel und unser Herrgott ein Vater der -Waisen ist; alles andere findet sich zu seiner Zeit; jetzt wohnst du -bis auf weiteres mit in Suschens Stübchen.“</p> - -<p>Das Begräbnis war vorüber; Martha hatte sich bis dahin wunderbar -aufrecht gehalten, aber es war noch kein Schlaf wieder in ihre -Augen gekommen. Sie hatte sich sehr getröstet gefühlt durch Pastor -Wohlgemuths glaubensvolle Grabrede über den Text: „Ich weiß, daß mein -Erlöser lebt.“ Aber als sie nun an Suschens Arme langsam nachhause -ging, kam eine solche Abspannung und Müdigkeit über sie, daß Frau -Werner sie sogleich nach dem freundlichen Schlafstübchen führte; -schon während des Auskleidens fielen die nassen Augen zu, und als die -mütterliche Freundin noch ein Weilchen mit gefalteten Händen am Bette -ihres Pfleglings stand, hörte sie schon die sanften Atemzüge, welche -den Schlummer der Kindheit und Jugend zu begleiten pflegen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p> - -<p>Suschen benutzte diese Ruhestunden, um mit Frau Warburger frische -Luft in die verödete Wohnung zu lassen und die Spuren von Staub und -Unordnung zu beseitigen, welche ein jedes Begräbnis hinterläßt. Sie -stand in ihrem langen, schwarzen Kleide mitten im Sterbezimmer, und -während sie mit ruhiger Stimme die Arbeiten der Dienerin leitete, -begoß sie die Blumen, die sich in Frau Feldwarts Krankheit durch die -Freundlichkeit der Bekannten in Fülle zusammengefunden hatten, lockte -das Hündchen an sich, das winselnd unter dem Tische lag und nur schwer -zu bewegen war, Milch und Brot aus ihren Händen zu nehmen, und gab hier -und da einem verschobenen Gegenstande seine richtige Stellung und Lage -wieder.</p> - -<p>Pastor Frank, der die Entschlafene zur letzten Ruhestätte begleitet -hatte, überraschte sie bei diesem Geschäfte; er kam, um der verwaisten -Tochter ein paar freundliche Worte zu sagen. Er hatte die Thür offen -gefunden, weil Frau Warburger viel hin und wieder gegangen war, und -stand jetzt Suschen gegenüber.</p> - -<p>„Es thut mir leid, Herr Pastor!“ sagte diese, „ich kann jetzt Martha -nicht rufen; nach vielen durchwachten Nächten schläft sie soeben zum -erstenmal sanft; aber sie wird sich gewiß freuen, wenn Sie ein andermal -vorsprechen wollen; nur müssen Sie dann zu meinen Eltern kommen,<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> denn -meine Freundin wird in der nächsten Zeit bei uns wohnen!“</p> - -<p>Der Pastor empfahl sich und Suschen setzte ihre stille Arbeit fort. In -der Korridorthür sah sich der Davoneilende noch einmal um: „Sonderbar! -das Suschen sah heute recht erwachsen aus mit dem schwarzen Kleide und -mit dem ernsten Gesicht; sie ist doch wohl eigentlich kein Kind mehr!“</p> - -<p>Direktor Werner hätte der Martha gern noch einige Tage stiller -Erinnerung und friedlichen Ausruhens gewährt, aber er bemerkte bald, -daß sie sehr unruhig war beim Gedanken an ihre Zukunft, und so fragte -er sie, als sie an einem der nächsten Morgen ihm und seiner Frau nach -dem Frühstück allein gegenüber saß: „Nun, liebes Kind, nun lassen Sie -uns erfahren, was Sie für Ihre Zukunft denken und wünschen.“</p> - -<p>Martha sah ihn traurig an: „Was soll ich denken? Meine Nahrungsquelle -versiegt jetzt, denn die Leibrente der Mutter ist mit ihrem Tode -verfallen; mir bleibt nichts übrig, als mir so schnell als möglich -eine Stelle zu suchen als Jungfer oder Stütze der Hausfrau, oder“ -— setzte sie etwas zögernd hinzu — „vielleicht könnte ich in ein -Diakonissenhaus gehen!“</p> - -<p>„Das ist ein schöner Beruf“, sagte der Direktor ernst;<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> „aber haben Sie -früher wohl jemals daran gedacht, denselben zu ergreifen?“</p> - -<p>„Nein“, erwiderte Martha aufrichtig.</p> - -<p>„Nur um eine Versorgung zu haben, geht man nicht in ein -Diakonissenhaus, da gehört ein tieferer Beruf dazu. Ich meine, liebes -Kind, man muß bei solcher Überlegung die Fingerzeige Gottes beobachten. -Meinem Suschen habe ich gestern noch ganz ernstlich abgeredet, Lehrerin -zu werden; ihre Befähigung weist auf andere Gebiete hin; ich könnte -sie mir eher als Diakonisse, ja als Stütze der Hausfrau denken; Ihnen -aber möchte ich dringend raten: Werden Sie Lehrerin! Sie haben vom -lieben Gott genau die Gaben erhalten, die zu einer solchen Wirksamkeit -gehören, während man Ihnen als Stütze der Hausfrau wenigstens -in der ersten Zeit noch anmerken würde, daß Sie bei dergleichen -Beschäftigungen nicht aufgewachsen sind.“</p> - -<p>Martha seufzte: „Wie gern würde ich Ihrem Rate folgen! Aber ich müßte -doch erst ein Examen machen; das kostet Geld — woher soll ich das -nehmen?“</p> - -<p>„Da läßt sich wohl Rat schaffen“, sagte der Hausherr freundlich; „ich -habe mit meiner Frau gesprochen und will Ihnen sagen, wie wir denken. -Unser Wirt hat eine sehr gut ausgebaute Bodenkammer, die wird er Ihnen -für einen sehr geringen Preis geben, und Sie räumen Ihre Möbel<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> und -Sachen da hinein; wir sehen dann zu, daß wir Ihre Wohnung zum April -noch weiter vermieten können. Sie ziehen zu uns, teilen Suschens -Stübchen und sind unser lieber Gast. Gold und Silber haben wir leider -selbst nicht, aber was wir haben, das geben wir gern, nämlich Obdach, -Heimat, Verpflegung, so lange Sie es gebrauchen. Doktor W., mein -Freund, bildet eine ganze Schar junger Mädchen fürs Lehrerinnenexamen -aus. Sie sind so sehr viel besser vorbereitet durch Ihren trefflichen -Jugendunterricht, als die meisten seiner Schülerinnen, daß ich -überzeugt bin, Sie können das Ziel in ein und einem halben Jahre -erreichen, besonders wenn ernster Wille und redliche Anstrengung dazu -kommen. Nun, haben Sie wohl Mut, diesen Weg zu gehen? Es ist wohl -möglich, daß etwas von Ihrem kleinen Notpfennig dabei noch aufgezehrt -werden muß; aber ich denke, er trägt so die besten Zinsen.“</p> - -<p>Martha konnte nur danken, mit tiefgerührtem Herzen danken für so viel -Güte.</p> - -<p>„Ist nicht nötig, ist gar nicht nötig“, sagte der Direktor, „es wird -ein ganz angenehmer Zuwachs für unsere Familie sein. So, nun schlagen -Sie ein! Und nun werde ich dich, liebe Martha, ganz als meine älteste -Tochter betrachten, so lange du bei uns bist. Sage du von heute an: -Onkel und Tante Werner! da wird es uns allen behaglich sein!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span></p> - -<p>Martha mußte durch ihre Thränen lächeln, und Suschen, die eben -hereingeschlüpft war, umarmte sie so stürmisch, daß sie fast erdrückt -wurde. In den Kreis ihrer Geschwister kam bei der Nachricht, daß Martha -jetzt hier bleiben würde, eine so freudige Aufregung, daß Suschen und -Frau Werner Mühe hatten, sie so ruhig zu erhalten, wie es bei der -traurigen Gemütsstimmung ihres Gastes nötig war.</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_9">9.<br> -Bei Werners.</h2> - -</div> - -<p>Da in H. Wohnungsmangel war, wurde die Wohnung, welche Frau Feldwart -innegehabt hatte, noch im Laufe des Monats weiter vermietet. Es -kamen für Martha die schweren Tage des Ausräumens, und Suschen half -ihr mit Arbeit und Teilnahme, so viel sie immer konnte. Die Kommode -der Urgroßmutter, der Nähtisch, Ajax und das Vögelchen wanderten -mit zu Werners, um es der Verwaisten dort heimisch zu machen; alle -Familienglieder trugen ihr Mitgefühl und Liebe entgegen und suchten -ihr dieselbe auf alle mögliche Weise zu zeigen. Dennoch vergingen -Wochen, bevor sie sich in den neuen Verhältnissen zurecht fand. Die -Stunden kamen nicht selten, wo der Anblick des reichen Familienkreises -ihr die eigene Verlassenheit noch deutlicher und schwerer zum -Bewußtsein brachte und die Sehnsucht nach ihren Lieben so mächtig -erregte, daß sie kaum darüber<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Herr werden konnte. Die neue, ernste -Thätigkeit, in welche sie sofort eingetreten war, half ihr wohl dabei, -kostete ihr aber, so gern sie von Jugend auf gelernt hatte, doch oft -Überwindung. Ihr Wissen war auf vielen Gebieten reicher, als es für das -bevorstehende Examen verlangt wurde, und Doktor W. hatte seine große -Freude daran, aber in manchen Dingen war es mangelhaft. Sie hatte, -besonders seitdem sie der Schule entwachsen war, volle Freiheit gehabt, -zu lernen und zu treiben, was sie innerlich zumeist anzog; jetzt mußte -es nun systematisch vorwärts gehen, gleichmäßig in allen Fächern, in -ganz bestimmten, ziemlich engen Schranken; das kostete ihrer lebendigen -Natur manchen Kampf und manchen Seufzer.</p> - -<p>„Wenn ich später Kinder zu erziehen habe, lasse ich ihnen gewiß mehr -Freiheit!“ dachte sie. Dennoch konnte sie nicht umhin, anzuerkennen, -daß solche ins System gebrachte, fest geregelte Thätigkeit auf den -inwendigen Menschen beruhigend wirkt. Auch das Arbeiten in Gemeinschaft -mußte sie erst lernen; da sie das einzige Kind war, hatte sie für -solche Beschäftigungen ihr Zimmer und vollständige Stille um sich her -gehabt. Dies ging bei Werners nicht an, wenigstens jetzt nicht. Der -April und der Anfang des Mai brachten rauhe, kalte Luft; man mußte -heizen. Im großen Speisezimmer arbeitete der Sekundaner mit Luise<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> -und den Zwillingen; der Martha ward an derselben langen Tafel ihr -Platz angewiesen. Da zuckte sie manchmal zusammen, wenn sie im Denken -und Lernen durch ein unerwartetes Tischbeben oder eine sehr unnütze -Bemerkung unterbrochen wurde. Seitdem aber Wilhelm lachend gefragt: -„Sind Sie nervös, Martha?“ nahm sie sich sehr zusammen; als nervös -mochte sie durchaus nicht gelten; sie fand auch in der That, daß die -Gewohnheit sie nach und nach gegen solche Eindrücke weniger empfindlich -machte.</p> - -<p>„Du arme Martha!“ sagte Frau Werner mitleidig, „im Sommer wird es -besser, da kannst du auf deinem Stübchen allein sein.“</p> - -<p>„Ach, ich glaube, bis dahin bin ich ganz daran gewöhnt“, sagte Martha -freundlich.</p> - -<p>„Dann ist es desto besser“, erwiderte die Mama sehr zufrieden; „wir -Frauen erlangen ungestörte Muße für unsere Arbeiten nur in den -seltensten Fällen, in den glücklichsten Verhältnissen am wenigsten; -da ist es ein großes Glück, wenn man lernt, in der äußeren Unruhe die -innere Ruhe festzuhalten; stilles Ertragen kleiner Störungen kräftigt -mehr als man denkt, und trägt viel dazu bei, den Lebensweg zu ebnen.“</p> - -<p>Auch das Verhältnis zu den verschiedenen Familiengliedern brachte -manche Schwierigkeit. Jede neue Lebenslage<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> bietet solche dar; schwache -und selbstsüchtige Naturen steigern sie für sich und andere oft bis zur -Unerträglichkeit; kräftige und treue überwinden sie mit Gottes Hilfe -und finden darin die beste Schule und den größten Reichtum fürs Leben.</p> - -<p>Der Sekundaner hatte eben angefangen, ein wenig über die Zeit -hinauszukommen, wo es heißt: „Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe.“ -In solcher Zeit pflegen zwischen großen Brüdern und erwachsenen -Schwestern intime Freundschaften zu entstehen. Er war gewohnt gewesen, -all’ seine Erlebnisse Suschen mitzuteilen, wie sie seine Heimkehr -aus der Schule kaum erwarten konnte, um all’ die Dinge mit ihm zu -besprechen, die für ein achtzehnjähriges Herz Bedeutung und Wichtigkeit -haben. Nun kam Martha und nahm Suschens Neigung und in jeder freien -Stunde auch Suschens Zeit so in Beschlag, wie er es nicht für möglich -gehalten hatte. Der junge, sehr hübsche Gast war ihm keineswegs -gleichgültig; er versuchte sehr ernstlich, auf Spaziergängen oder -abends im Garten der dritte im Bunde zu sein; da man ihn aber nicht -gerade huldvoll aufnahm, ward er verstimmt und kam in Versuchung, zu -den eben überwundenen Gewohnheiten der Flegeljahre zurückzukehren. Er -entwickelte eine merkwürdige Geschicklichkeit darin, auf den Zehen -näherzuschleichen, Bruchstücke aus der Unterhaltung<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> der Mädchen zu -erlauschen und dieselben in der verdrehtesten Gestalt wieder zutage -zu bringen, gerade, wenn es die beiden Freundinnen am meisten in -Verlegenheit brachte. Er band auch wohl heimlich Suschens langen Zopf -an Marthas Taillenband fest, wodurch sehr unangenehme, ja manchmal auch -schmerzhafte Verwickelungen entstanden, und die ärgerlichen Ermahnungen -der Frau Direktorin halfen immer nur auf kurze Zeit. Eine treue -Bundesgenossin hatte er, nicht in seinen Ungezogenheiten, aber in der -Eifersucht auf Marthas Freundschaft mit Suschen, an seiner Schwester -Luise, die es gar nicht begreifen konnte, warum sie in letzter Zeit so -ganz in den Hintergrund gedrängt wurde, und die beiden redeten sich -recht geflissentlich gegenseitig in den Ärger hinein.</p> - -<p>Frau Werner sprach anfangs nur zum Frieden: „Bedenkt doch, wie die -arme Martha noch so fremd hier ist; sie hat jetzt eine Freundin nötig; -wenn sie ihre Traurigkeit erst etwas überwunden hat, wird das ganz von -selbst besser.“</p> - -<p>Der Direktor sah die Sache mit heimlicher Belustigung; die kleinen -Konflikte machten ihm Spaß, weil er eine glückliche Lösung voraussah; -aber er konnte es nicht lassen, zuweilen etwas ironisch zu werden. -Auf Spaziergängen, wenn alle sich an einer schönen Baumgruppe oder -freundlichen Aussicht<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> erfreuten, störte er das eifrige Zwiegespräch -der Mädchen: „Nun, ihr Geistesabwesenden, thut nur auch einmal euere -Augen auf, damit ihr etwas von Gottes Schöpfung gewahr werdet!“ Oder -er läutete hinter ihren vereinigten Köpfen mit der großen Tischglocke: -„Versunkenheit, Versunkenheit weiche! Das Abendbrot soll in den Garten -gebracht werden.“</p> - -<p>Gerade, weil Martha fühlte, daß die freundliche Rüge von ihr verdient -war, traf sie dieselbe oft recht empfindlich; sie war als einziges Kind -an große Schonung gewöhnt.</p> - -<p>Die Sache erreichte ihren Höhepunkt, als eine Cousine von Suschen, -Josephine, in schöner Abkürzung nur „Phine“ genannt, auf Besuch kam. -Sie war eine sehr wenig anmutige Erscheinung, eckig im Benehmen, -wortkarg, wenig angeregt zu geistigen Interessen, mit einem Worte: -den beiden Unzertrennlichen sehr unsympathisch. Dies ließen sie auf -eine sehr unliebenswürdige Weise dem Gaste merken; sie wußten mit -wunderbarer Geschicklichkeit denselben von ihren Zwiegesprächen -auszuschließen, und Phine ging auf gemeinsamen Wanderungen, wenn -nicht etwa der Direktor oder die Hausmutter sich ihrer annahm, mit -gefurchter Stirne ihren Weg allein. Die Eltern beide sahen dies mit -wirklichem Schmerz; des Direktors humoristische Bemerkungen wurden -bitter und beißend; seine Frau nahm eines Morgens,<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> als Phine noch -schlief, die beiden Freundinnen beiseite, und sagte ihnen ganz -gründlich die Wahrheit: „Alles, was recht ist, lobt Gott! ihr Kinder. -Ich habe euerer Freundschaft viele Rechte eingeräumt, aber wenn ihr -mir die Gastfreundschaft verletzt, bin ich sehr böse. Ja, ja! seht -mich nur erstaunt an; jede Freundschaft, jedes Verhältnis, welches -so ausschließlich wird, daß man gar nicht mehr daran denkt, was man -seinem Nächsten schuldig ist, wird Leidenschaft und Egoismus, und das -muß bekämpft werden. Ich bitte mir von heute an aus, daß ihr euch -ordentlich betragt, sonst trenne ich euch und schicke Suschen wieder -auf Reisen!“</p> - -<p>Martha empfand es sehr tief, daß sie hier Ursache zur Unzufriedenheit -gegeben hatte; Suschen gab sich noch nicht gleich: „Aber Mama! was -sollen wir denn mit ihr anfangen?“</p> - -<p>„Das wird sich schon finden, wenn ihr ernstlich wollt; wie es in den -Wald schallt, so schallt es wieder heraus; ich glaube, ihr habt noch -nicht einmal ernstlich mit dem Hammer der Liebe bei ihr angeklopft; wer -weiß, welche Goldstufen ihr findet, wenn ihr es thut!“</p> - -<p>Martha war sehr erschüttert von dieser Strafpredigt; sie hatte selten -Scheltworte bekommen im Leben, und obgleich sie der Frau Werner in -ihrem Herzen beipflichten mußte, fühlte sie sich doch sehr unglücklich -und verlassen und griff<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> zum Trost nach Urgroßmutters Briefen. -Sonderbar! das erste, was ihr in die Hand fiel, war ein kleines Gedicht:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Gastfrei zu sein vergesset nicht!</div> - <div class="verse indent0">Der heilige Apostel spricht;</div> - <div class="verse indent0">Bei manchem hat ganz unbeachtet</div> - <div class="verse indent0">Ein Gottesengel übernachtet.</div> - <div class="verse indent0">Drum hört, was der Apostel spricht:</div> - <div class="verse indent0">Gastfrei zu sein vergesset nicht!</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Drum sollst du auch ganz freundlich sein,</div> - <div class="verse indent0">Tritt unerwünscht ein Gast herein;</div> - <div class="verse indent0">Manch Englein hat die Flügel innen,</div> - <div class="verse indent0">Du würdest’s herzlich liebgewinnen,</div> - <div class="verse indent0">Sähst du ihm tief ins Herz hinein;</div> - <div class="verse indent0">Drum sollst du jedem freundlich sein.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Gar mancher, der dir nicht gefällt,</div> - <div class="verse indent0">Ist recht zum Engel dir bestellt;</div> - <div class="verse indent0">Es sind nicht immer Sympathieen,</div> - <div class="verse indent0">Die ’s Herz nach Gottes Willen ziehen.</div> - <div class="verse indent0">Es thut gar wohl, so schwer’s oft fällt:</div> - <div class="verse indent0">Gut sein dem, der dir nicht gefällt!</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Nun es die Urgroßmutter sagte, mußte es wohl wahr sein! Martha prüfte -sich ernstlich und kam auf manchen Punkt, der sie verklagte. Wo waren -denn die lustigen Mittagsstunden geblieben, seitdem Suschen und sie -im entferntesten Gartenweg wanderten und sich um die anderen<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> nicht -bekümmerten? Als sie abends allein auf ihrem Stübchen waren, gab Martha -Suschen das Gedichtchen zu lesen; ausführliche Besprechungen und gute -Vorsätze schlossen sich daran, die mit aufrichtigem Herzen gefaßt -wurden.</p> - -<p>„Wenn ich nur erst wüßte, wie man Phinen näher kommen könnte!“ sagte -Suschen.</p> - -<p>„Wir müssen es versuchen!“ sagte Martha seufzend.</p> - -<p>Nun ist nichts schwerer, als den richtigen Anfang einer Unterhaltung zu -finden, wenn man mit der feierlichen Absicht, eine solche zu beginnen, -an jemanden herantritt.</p> - -<p>Phine, teils beleidigt durch die erfahrene Zurücksetzung, teils bequem, -war einsilbig und schien die Annäherung ihrer Altersgenossinnen fast -nur mit gnädiger Herablassung zu dulden; Suschen kehrte ihr bald den -Rücken und verschwand. Martha versuchte jedes mögliche Thema.</p> - -<p>„Haben Sie Geschwister?“</p> - -<p>„Ja.“</p> - -<p>„Brüder oder Schwestern?“</p> - -<p>„Von beiden.“</p> - -<p>„Ist T. ein angenehmer Ort?“</p> - -<p>„Es geht!“</p> - -<p>„Kommen Sie viel in Gesellschaft?“</p> - -<p>„Manchmal!“</p> - -<p>„Wird dort auch musiziert?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span></p> - -<p>„Himmel, wie kommen Sie nur darauf, mich in einem fort zu fragen! -Lassen Sie mich doch zufrieden; es interessiert Sie ja alles nicht!“</p> - -<p>Es war eigentlich wahr, Martha gestand sich’s zu ihrer Beschämung; aber -wie in aller Welt sollte sie da eine Annäherung beginnen?</p> - -<p>Gegen Abend wanderten alle in den Garten; der Gärtner hatte -verschiedene Beete neu bepflanzt, eins derselben recht geschmacklos mit -lauter gleich großen Pflanzen, von denen keine zur Geltung kam und jede -der anderen Luft und Sonne wegnahm. Josephine ging einigemal um das -Beet herum und schien in seine Betrachtung völlig versunken zu sein.</p> - -<p>„Ich dächte, das Beet wäre nicht eben schön“, sagte Martha.</p> - -<p>Das erste freundliche, verständnisvolle Lächeln erschien auf Phinens -Gesicht: „Nein, das ist es wirklich nicht; wenn da in der Mitte nur -ein einziges Heracleum oder eine Staude Zuckerrohr und ein paar -Maispflanzen ständen; dann etwa diese Gladiolus, ringsum vielleicht -noch Astern und am Rande weiße Vergißmeinnicht — das wäre ein hübsches -Beet. Ja, das verstand mein Großvater so schön! Ich wollte, Onkel -Werner erlaubte mir, es einmal so einzurichten!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span></p> - -<p>„Das würde er vielleicht thun; aber wäre es nicht schade um die -hübschen Wicken und Winden?“</p> - -<p>„Ei, die könnten wir dort an der Laube anbringen; da fehlt etwas.“</p> - -<p>„Fragen Sie doch!“ riet Martha.</p> - -<p>„Ach, das wage ich nicht!“</p> - -<p>Beim Abendbrot redete Martha den Hausherrn an: „Onkel Werner, Phine und -ich haben einen sehr großen Wunsch!“</p> - -<p>„Nun, und welchen?“ fragte er freundlich.</p> - -<p>Martha trug die Sache vor; der Onkel lachte: „Wenn ich da nur nicht aus -dem Regen in die Traufe komme!“</p> - -<p>„Sie könnten es doch versuchen!“ bat Martha weiter. „Phine versteht -sich darauf und wir könnten ihr helfen.“</p> - -<p>„Ja, wir alle! wir alle!“ riefen die Zwillinge.</p> - -<p>„Meinetwegen, versucht die Sache!“ entschied der Direktor. „Das -Heracleum giebt euch Freund Friedhelm umsonst.“</p> - -<p>Wilhelm holte es, brachte auch noch einige Maispflanzen und ein -Körbchen voll Vergißmeinnicht mit; Phine hob sorglich die überflüssigen -Pflanzen aus; sie kamen unter die Aufsicht von Luise; Arthur und Hans -durften an der Laube unter Suschens Aufsicht Löcher ausarbeiten, -und Martha setzte die Pflänzchen mit geschickter Hand ein. Phine -arrangierte indessen<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> das Mittelbeet und Anna trug ihr in der kleinen -Gießkanne immer wieder frisches Wasser zu. Die kräftige Mittelpflanze, -obgleich sie ihre Höhe noch nicht erreicht hatte und jetzt die Blätter -hing, hob das Beet sehr.</p> - -<p>„Ihr sollt ’mal sehen, wenn alles ordentlich anwächst, wie reizend -es wird“, rief die Obergärtnerin; sie war ganz aufgelebt und nicht -wiederzuerkennen.</p> - -<p>Die Garderobe war nun zwar nicht ganz ohne Schaden weggekommen, aber -die Freude über das gemeinsam Geschaffene strahlte allen aus den Augen.</p> - -<p>Dies war der Anfang vieler Vergnügungen; abends mußte man gießen; -hier und da wurden noch Verbesserungen für nötig befunden; die -ganze junge Familie entwickelte ein nie gekanntes Interesse an der -Gärtnerei, und Josephine gab eine sehr geschickte Lehrmeisterin ab. -Auch verstand es niemand so gut wie sie, die Ranken des wilden Weines -und des Geisblattes zierlich aufzubinden oder aus wenigen Blumen einen -anmutigen Strauß zu schaffen.</p> - -<p>„Woher kannst du das alles, Phine?“</p> - -<p>„Von meinem Großvater“, erwiderte sie; „sein Garten war sein Liebstes, -und ich war, bis er starb, sein Gehilfe darin; ich liebe die Pflanzen -gar zu sehr! Es fehlt mir hier nur eine sehr zierliche, feine -Blattpflanze, die wir zuhause in Fülle hatten.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span></p> - -<p>„Weißt du den Namen nicht?“</p> - -<p>„Nein, aber ich habe oben einige gepreßte Exemplare.“</p> - -<p>Sie holte dieselben, um sie den Kindern zu zeigen, und alle waren -erstaunt, wie schön sie gepreßt waren, wie unverletzt die Farben.</p> - -<p>„Können wir das auch lernen?“ fragte Luischen.</p> - -<p>„Freilich, das kann jeder lernen; ich werde heute Nachmittag recht viel -Löschpapier holen und euch das Verfahren zeigen.“</p> - -<p>Es ging nun mit Eifer ans Einlegen und Pressen; auch Martha trieb es, -um die Ränder ihrer Zeichnungen mit dem getrockneten Gras und Moos zu -schmücken; die Kinder suchten das nachzuahmen, und alle fühlten, wie -schön es sei, wenn eins vom anderen nimmt und einer dem anderen giebt, -viel schöner, als seinen Gedanken nachzuhängen und unbekümmert um die -anderen seine einsame Straße zu ziehen. Ja, Martha und Suschen merkten -zu ihrem Erstaunen, daß ihre einsamen Plauderstunden am Abend und -Morgen nicht an Reiz verloren und viel an Reichtum gewannen, seitdem -sie sich mehr den Interessen der anderen Hausgenossen anschlossen. Als -Martha einmal teilnehmend Josephinen nach dem Großvater fragte, da kam -die Goldstufe in dem Herzen der Enkelin wirklich zutage; hier verstand -sie Martha nur zu gut; und als endlich der Gast<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> wieder seiner Heimat -zufuhr, schied er mit Thränen und wurde mit Thränen entlassen.</p> - -<p>„Die Urgroßmutter hat doch wieder recht behalten“, sagte Martha.</p> - -<p>Ja, die Urgroßmutter! ihre Papiere und Briefe lieferten reichen Stoff -zu den Unterhaltungen der beiden Mädchen; denn Suschen durfte jetzt mit -darin studieren. Sie interessierte sich besonders für die praktische -Armenpflege, die oft darin erwähnt wurde, und wenn sie, ihr Körbchen am -Arm auf Pastor Wohlgemuths Geheiß zu seinen Kranken ging, that sie dies -fast nie ohne eine stille Erinnerung an die ehrwürdige Frau, und ohne -die Freude, auf ihren Wegen zu gehen. Ihre Lieblingspatientin war eine -junge Frau, aus Weißfeld stammend, welche bald nach ihrer Verheiratung -eine Brustentzündung bekommen hatte und infolge davon schwindsüchtig -geworden war. Sie sah Suschens Besuchen stets mit großer Sehnsucht -entgegen; diese fühlte sich ihr gegenüber besonders frei, da die -Leidende nur um wenige Jahre älter war als sie.</p> - -<p>Eines Abends, nachdem Suschen die Kranke besorgt, umgebettet und -erquickt hatte, klagte diese noch: „Ach, Fräulein! Mein armer Mann! -heute hat er müssen eine Stunde vor Tage auf die Fabrik gehen, hat -keine Zeit behalten, den Topf in die Grube zu setzen; Mittag ist er gar -nicht nachhause<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> gekommen, und nun findet er abends auch nichts Warmes! -Er ist auch zu schlimm dran!“</p> - -<p>„Könnte ich denn etwas für ihn kochen?“ fragte Suschen.</p> - -<p>„Ach, das ist doch zu viel verlangt; aber Bier ist im Hause, gleich -auf der obersten Kellerstufe, und Brot und Milch und ein Ei und Kümmel -auch; ach, Fräulein, wenn Sie es thun wollten!“</p> - -<p>Suschen bereitete die Suppe und setzte sie auf dem Ofen warm.</p> - -<p>Pastor Frank, der sein früheres Gemeindeglied besuchen wollte, hatte -ihrem liebevollen, anmutigen Thun eine Weile unbemerkt zugesehen. Als -sie in den Hausflur trat, begrüßte er die junge Schülerin freundlich: -„Wie freut es mich, daß Sie der Käthe so beistehen! Haben Sie ihr auch -wohl etwas vorgelesen oder ernst mit ihr geredet?“</p> - -<p>Suschen errötete ein wenig: „O nein! lesen kann die Käthe für sich, -wenn ich nicht da bin, und sprechen von so ernsten Dingen — Herr -Pastor, das wird mir schwer: ich kann viel besser mit meinen Händen -helfen!“</p> - -<p>Er sah ihr in die hellen Augen und schwieg; er hatte sie erst ermahnen -wollen, zu lernen, was sie nicht konnte; aber wie sie so vor ihm stand -mit den klaren Augen und der demütigen Haltung, vermochte er’s nicht; -er dachte:<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> „Die Gaben sind verschieden; ihre bloße Erscheinung ist -eine Erquickung; und das ist gewiß: ein Kind ist sie jetzt nicht mehr!“</p> - -<p>In mancher Beziehung war sie aber doch noch ein Kind.</p> - -<p>In Urgroßmutters Kommode fanden sich viele Flachs- und Webe-Rechnungen; -das stimmte so ganz mit dem Lobe der Spinnekunst in manchem neuen -Journal, und als der Herbst kam und der Weihnachtswünsche gedacht -wurde, kannte Suschen keinen größeren als: „Ach, ein Spinnrad! und -einen großen Haufen Flachs!“</p> - -<p>Frau Werner lachte darüber: „Von mir bekommst du das sicher nicht, mein -Suschen!“</p> - -<p>„Aber Mama, warum nicht?“</p> - -<p>„Weil es für eine Spielerei zu teuer ist, und mehr als Spielerei in -unserer unruhigen Zeit doch niemals wird!“</p> - -<p>„Aber Mama!“</p> - -<p>„Ja, liebes Kind, es ist ganz wie ich sage: An unsere Großmutter und -Mütter wurden lange nicht so viel Anforderungen gestellt wie an uns; -der Verkehr war ein viel langsamerer; es gab nicht so viel Stunden, -Vereine und Vorlesungen; wenn sie ihr Spinnrad vor sich hatten, saßen -sie tagelang hintereinander und zogen Faden auf Faden; da wurde was -fertig fürs Haus. Sie konnten wohl recht hübsch dabei denken und -sinnen; aber einem Kinde des 19. Jahrhunderts<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> könnte es doch wohl -etwas langweilig sein. Es würde auch ein teueres Leinen werden, mein -Töchterchen; die Hände kommen eben den Maschinen doch nicht nach.“</p> - -<p>„Wie schade!“ seufzte Suschen.</p> - -<p>„Ja, liebes Kind, das läßt sich nun nicht ändern; wir können doch nicht -Erfindungen und Industrie zurückdrehen, bis wir wieder ins adamitische -Zeitalter kommen. Den Sinn des Fleißes, der Häuslichkeit, der Treue, -der die Mütter bei ihrer Arbeit leitete — den sollen wir pflegen, aber -ihn mit Vernunft in Einklang bringen mit den Anforderungen der neuen -Zeit; es gefällt euch ja doch gar nicht übel, daß ihr jetzt mehr Anteil -habt am geistigen Leben; das möchtet ihr doch gewiß nicht beseitigen!“</p> - -<p>„Aber Rösners haben auch ihre Rädchen!“</p> - -<p>„Ja, die treiben es eben als eine hübsche Erinnerung an die -großmütterliche Thätigkeit und eine nette Spielerei. Da es bei ihnen -gerade nicht viel darauf ankommt, was sie vornehmen, so ist das nicht -zu tadeln, und hätte ich ein altes Rad, so solltest du es meinetwegen -zu gleichem Zwecke haben. Aber es darf niemand meinen, daß damit in -unserer Zeit ein wirklicher Nutzen für den Haushalt geschafft wird, und -besonders in unserem giebt es der nützlichen und nötigen Arbeiten so -viel, daß man sich der überflüssigen lieber enthält.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span></p> - -<p>Es war und blieb aber Suschen sehr niederschlagend. Als die beiden -Mädchen in den Herbstferien bei Rösners waren, hatte Martha auf Trudens -Boden das Spinnrad der Urgroßmutter gesehen, das auf die Dienerin -vererbt war.</p> - -<p>„Ich spinne nicht darauf“, hatte diese gesagt, „wenn mir die Frau -Amtsrätin auch im Winter noch Flachs giebt. Weil ich eben nichts -anderes mehr thun kann, so verspinne ich den auf meinem zweispuligen, -das trägt mehr ein!“</p> - -<p>Es war nicht schwer, Truden zu bewegen, das Rad an die Urenkelin -abzutreten; in Weißfeld wohnte noch ein alter, geschickter Drechsler, -dem ward es zur Reparatur übergeben, und wenn für Martha der Blick auf -die äußere Weihnachtsfeier von irgendeinem freundlichen Strahl erhellt -wurde, so war es die Aussicht, Suschen mit diesem Rade zu beglücken. -Frau Amtsrätin hatte den Flachs dazu zu liefern versprochen und hielt -ihr Wort.</p> - -<p>Die Überraschung gelang aufs beste. Als die Bescherung bei Werners am -heiligen Abend vorüber war, kam Hans als Knecht Ruprecht und brachte -im Namen der Urgroßmutter das feingeschmückte Rädchen; der Flachs war -durch Trudens geübte Hand kunstgerecht aufgelegt; ein schönes, buntes -Wockenband umgab ihn. Suschen wurde<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> ganz rot vor Freude. Sie hatte ja -alle Vernunftgründe in der Rede der Mutter eingesehen; aber Vernunft -treibt Herzenswünsche selten aus, und als sie nun vollends vernahm, -daß es das Rad der Frau Anna Martha Waldheim war, deren Name, allen -sichtbar, am Querbrett prangte, kannte der Jubel gar keine Grenzen, und -es wurde ihr schwer, dem Knecht Ruprecht zu gehorchen, der ihr gesagt:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Aber von Weihnachten bis zum hohen Neujahr</div> - <div class="verse indent0">Muß ruhen das Spinnrädlein ganz und gar;</div> - <div class="verse indent0">Hört man es da nur einmal schwirren,</div> - <div class="verse indent0">So müssen die Hexen den Wocken verwirren.</div> - <div class="verse indent0">Erst wenn die hochheil’gen zwölf Nächte vorbei,</div> - <div class="verse indent0">Ist das Spinnen wieder gesegnet und frei.</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Die Eltern und Geschwister freuten sich mit ihr, und auch Martha, -der die Erinnerung an die beiden letzten Weihnachtsfeste natürlich -schwer auf der Seele lag, war dennoch glücklich über die gelungene -Überraschung und konnte sich dem Glanz der Weihnachtssonne, der so -besonders lieblich hineinstrahlt in einen großen Familienkreis, nicht -entziehen.</p> - -<p>Als endlich die Zeit gekommen war und Trude der gelehrigen Schülerin -Handgriff und Tritt beigebracht hatte, saß Suschen stolz auf ihrem -Schemel, zog Faden auf Faden, und erschien sich, als sei sie nun -ganz auf den Pfaden der<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> Urgroßmutter. Sie fing auch gleich an zu -überlegen, wie viel sie weben lassen wollte, erkundigte sich, wie viel -oder vielmehr wie wenig der Weber gebrauche, um ein Dutzend Handtücher -fertigzustellen; als sie dann aber ihre Thaten mit seiner Forderung -verglich, gestand sie sich heimlich, nur ganz heimlich, daß es ziemlich -lange dauern würde, bevor das Gewünschte zusammen sei, und mußte es als -ein großes Glück ansehen, daß die Familie mit dem Trocknen ihrer Hände -nicht darauf zu warten brauchte. Das mußte man ja sagen: lieblich sah -das Suschen aus, wenn sie hinter dem blanken Spinnrad saß; recht wie -ein deutsches Mädchen mit ihrem klaren Gesichtchen und blonden Zopf. -Pastor Frank, der jetzt wieder häufiger und ruhiger kam und sie eines -Tages bei der neuen Arbeit überraschte, konnte sich auf dem Heimwege -gar nicht losmachen von dem Bilde der Spinnerin, obgleich er halb und -halb ärgerlich darüber war.</p> - -<p>„Sie macht wirklich einen sehr lieblichen Eindruck“, dachte er; „es ist -schade, daß sie so wenig aus sich herausgeht; aber vielleicht schadet -es nicht so viel; wenn der Pastor spricht und die Pastorfrau praktisch -hilft, sollte es wohl auch gehen!“</p> - -<p>Der Winter ging friedlich und fleißig dahin, und nun in voller -Harmonie. Die Scene während Josephinens Dasein hatte auf die beiden -Freundinnen den besten Einfluß<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> gehabt; sie bemühten sich jetzt mit -aufrichtigem Herzen, gegen alle Familienglieder liebenswürdig zu -sein. Daß Wilhelm nun wirklich als dritter in den Freundschaftsbund -aufgenommen war, führte demselben einen großen Zuwachs an Ideen zu. -Sein Herz war sehr warm für das allgemeine Wohl, sein Interesses -groß für alles, was eben die Zeit bewegte: Stöckers Arbeitervereine, -Bismarcks große Ideen waren Gegenstände seiner Schwärmerei; der -Primaner konnte lange Reden halten, von Suschen und Martha höchlich -angestaunt, obgleich sie oft noch recht jugendlich unreife Gedanken -enthielten. Natürlich kam dergleichen auch am Mittags- oder Abendtische -zutage, und machte die liebe Hausfrau ungeduldig.</p> - -<p>„Jetzt krähen die Hähnchen, wenn sie eben aus dem Ei gekrochen sind“, -pflegte sie zu klagen; „ich kann es manchmal gar nicht anhören, wenn -sie so unreifes Zeug vorbringen; und auch die Mädchen! Wir mußten uns -ganz still verhalten, wenn von solchen Dingen die Rede war!“</p> - -<p>Der Direktor dachte anders darüber: „Natürlich müssen sie reifer -werden; aber nur, was überhaupt existiert, kann wachsen und gedeihen; -ich möchte keinen Sohn haben, der nicht seine Ideale in dieser -Beziehung hätte, und eine Ansicht über diese Dinge müssen sich -schließlich doch auch die Frauen bilden. Sie sind ja doch bescheiden -erzogen, unter<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> Fremden hören sie und schweigen. Laß du sie ja im -Familienkreise sich aussprechen. Du glaubst auch nicht, wie es mich -interessiert; ich bekomme dadurch ein genaues Bild von dem, was mehr -oder weniger in all meinen Schülern lebt; es sind die Keime der -Gedanken und Thaten einer kommenden Generation, die müssen wir Alten -wohl beachten, mit unseren Erfahrungen stützen und schützen und mit -unserer Liebe pflegen.“</p> - -<p>Frau Werner staunte oft, wie es ihr Mann verstand, sich auf den -Standpunkt der Jugend zu versetzen und von da aus leise Irrtümer zu -berichtigen und auf unreife Ansichten einzuwirken.</p> - -<p>„Auf manchen Gebieten“, dachte sie, „sind Männer geduldiger als -Frauen, das macht, weil sie die Dinge mehr im großen und nach ihrem -Zusammenhange fassen; es ist schön, das wir das von ihnen lernen -können!“</p> - -<p>Auch die Kleinen wurden jetzt von Martha zärtlich beachtet; sie bemühte -sich, ihre Eigentümlichkeiten kennen zu lernen, sie zu verstehen -und ihnen etwas zu sein. Sie fand dies sehr lohnend. Jedes Kind war -anders geartet, eines durch Freundlichkeit, das andere durch Ernst zu -gewinnen; eines nahm die Dinge zu leicht, das andere zu schwer. „So -werden meine Schülerinnen später auch sein“, dachte sie und machte ein -völliges Studium daraus, ein jedes nach<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> seinem innersten Wesen zu -lieben und zu behandeln. Dies gelang ihr vortrefflich und Eltern und -Kinder waren innig dankbar dafür. Alle fürchteten sich vor der Zeit, wo -Martha ihnen entrissen werden sollte, und doch rückte sie unaufhaltsam -näher.</p> - -<p>Im Sommer vor ihrem Examen fing ihre sonst so große Frische an zu -schwinden unter den vermehrten Anstrengungen. Eine ernste Betrübnis kam -dazu. Onkel Konsul, der ihr immer mitunter einmal geschrieben hatte -und auf dessen treue Teilnahme sie sich allezeit verlassen konnte, war -plötzlich gestorben. Seine Hinterlassenschaft kam in die Hände eines -entfernt wohnenden Neffen, zu welchem Martha gar keine Beziehungen -hatte, und so war das letzte Band gelöst, das sie noch an B. knüpfte, -und das sie so gern festgehalten hätte, schon um Siegfrieds willen: „Wo -soll er mich nun suchen, wenn er wirklich wiederkommt?“</p> - -<p>Rösners, die Martha herzlich liebten, baten sie sich in den -Sommerferien aus; sie sollte in Weißfeld frische Milch trinken, -fleißig spazieren gehen und auf alle Weise gepflegt werden. Es schlug -auch leidlich an; sie bewohnte Urgroßmutters Stübchen und fühlte sich -ungemein wohl und geborgen darin.</p> - -<p>Pastor Frank kam jetzt unbefangen und schien wieder heiter zu sein, -versank aber manchmal in tiefe Gedanken:<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> war ihm vielleicht auch jetzt -klar, daß er sich in das Phantasiebild der Urgroßmutter verliebt hatte? -O, es war ihm noch etwas anderes klar geworden, und dies versetzte -Martha und Rösners in die größte Freude. Werners hatten versprochen, -am nächsten Sonntag herauszukommen, und man rüstete freudig zu ihrem -Empfange. Freitag war Pastor Frank zur Stadt gegangen und erst spät -am Abend heimgekehrt. Sonnabend früh schickte er Martha einen Brief -ihrer Freundin; sie öffnete ihn mit Spannung, fürchtete fast schon eine -Absage, aber Suschen schrieb:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>„O Martha! liebe Martha! Du sollst es ja zuerst und bis morgen ganz -allein erfahren, was sich heute begeben hat und was ich ganz und -gar noch nicht begreifen kann. Denke Dir, ich bin seit einer Stunde -Braut, <em class="gesperrt">seine</em> Braut! ach, und eine so glückliche! Ich wollte es -ja erst gar nicht glauben, als Frank mir sagte, er habe mich lieb; -aber zuletzt merkte ich es doch, und ich glaube es ja zu gern. Morgen -früh nach der Vormittagskirche wird das Geheimnis enthüllt; bis dahin -schweige wie ein Stummer! Ich kann es eigentlich gar nicht erwarten, -bis Ihr Euch alle mit mir freut. Lobe den Herrn, meine Seele!</p> - -<p class="right mright2">Deine glückselige Suse.“</p> - -</div> - -<p>Leicht wurde es der Martha nicht, zu schweigen wie ein Stummer, und -obgleich sie mit keinem Worte sich verriet,<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> wurde es doch Rösners an -ihrem erregten, oft gedankenvollen, dann wieder freudigen Wesen klar, -daß etwas Außergewöhnliches in der Luft sei, und besonders die jungen -Mädchen kamen in ihren Vermutungen der Wirklichkeit ziemlich nahe. Die -Erwarteten erschienen zeitig am Sonntagmorgen, Suschen im blendendsten -Weiß. Vor dem Gottesdienste, den alle gemeinsam besuchten, blieb alles -im gewöhnlichen Geleis. Pastor Frank predigte über den Spruch: „Danket -dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“ Man -merkte ihm an, daß der Dank sehr warm aus seinem Herzen kam, und als -die Eltern nach der Kirche ihn und Suschen als Brautpaar vorstellten, -wußten es alle, wofür er zu danken hatte, und der Jubel wollte gar kein -Ende nehmen.</p> - -<p>Jetzt konnte der Bräutigam nicht lange verweilen, da er den -Nachmittagsgottesdienst noch vor sich hatte; aber beim Abendbrot -da ging es an ein Feiern und Gesundheittrinken! Besonders Suschens -Geschwister wurden es gar nicht müde, „Hoch!“ zu rufen, und der -Bräutigam sah durchaus nicht aus, als hätte er schmerzliche Erfahrungen -begraben müssen, um zur Freude dieser Stunde zu kommen; die liebliche -Braut aber strahlte.</p> - -<p>Als man nach Tische im duftenden Garten wanderte, sagte Suschen -zu Martha: „Ich lasse es mir nicht ausreden<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> — das Spinnrad der -Urgroßmutter hat mir Segen gebracht!“</p> - -<p>„Das ist möglich!“ bestätigte Frank vergnügt. „Gefallen hattest du mir -sonst schon; aber daß du meine liebe Frau Pastorin werden möchtest, -wünschte ich zum erstenmale, als ich dich hatte spinnen sehen.“</p> - -<p>„Siehst du, Mama“, rief Suschen, „das Spinnen ist doch gut!“</p> - -<p>„Das sollst du mir auch tüchtig weiter treiben, mein Suschen!“ -versicherte der Bräutigam.</p> - -<p>Diese sah ihn etwas zweifelhaft an: „Ob das möglich ist, wenn ich nun -richtig was zu thun bekomme?“</p> - -<p>„Ja, ist denn das Spinnen nicht etwas Ordentliches? Warum spinnst du -denn?“</p> - -<p>„Ei, aus Vergnügen und zum Andenken an die Urgroßmutter.“</p> - -<p>Die Mutter und Frau Rösner machten dem Pastor die Sache klar.</p> - -<p>„Also auch nur eine Phantasie!“ sagte er nachdenklich. „Nun gottlob! -unsere Verlobung ist doch keine, und in Ehren halten können wir das -alte Spinnrad immer, wenn du auch nicht viel darauf fertig bringst!“</p> - -<p>Als Werners abgereist waren, faßte Frau Rösner auf den Rat ihres -Hausarztes den schnellen Entschluß, mit ihrer<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> jüngsten, etwas -bleichsüchtigen Tochter Agnes noch einige Wochen nach einem kleinen -Stahlbade zu gehen, und nahm Martha dahin mit.</p> - -<p>Lieblich gelegen zwischen waldigen Bergen sprudelten die stärkenden -Quellen, köstlicher Tannenduft durchwehte den frischen Grund; das -Wetter war herrlich, und die beiden Mädchen erblühten wie die Rosen -und waren sehr vergnügt. Das männliche Geschlecht war in dem kleinen -Bade nur spärlich vertreten; meistens sah man nur Mütter und Töchter -hier wandern, und die schlank aufgeschossenen, jugendlichen Gestalten -mit blassen Lippen waren weitaus in der Überzahl. Unser Kleeblatt -hatte kein Verlangen nach weiterem Anschluß; es fühlte sich im Genusse -der Natur und gegenseitiger Gesellschaft befriedigt. Die beiden -Mädchen hatten die größte Freude daran, auf den kleinen Felspartieen -umherzuklettern, Spireen und lilienartige Blüten zu sammeln, die -dort in reicher Fülle wuchsen, um ihr Stübchen mit den zierlichen -Waldkindern zu schmücken. Dann brachte ein leichter, zuweilen etwas -gewagter Sprung sie wieder auf den Weg, und Frau Rösner sah ihren -anmutigen, geschickten Bewegungen mit Wohlgefallen zu, bis eines -Abends, da es etwas geregnet hatte, Martha an einer glatten Steinkante -abglitt und sich den Fuß so verstauchte, daß der Arzt ihr für die erste -Nacht Arnika-Umschläge und für einige Tage<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> völlige Ruhe verordnete. So -kam es, daß sie am nächsten Nachmittage, als fast alle Gäste des Hauses -ausgeflogen waren, einsam mit ihrer Arbeit unter der Veranda saß, -während ihr kranker Fuß wohl umwickelt auf einem weichen Schemel ruhte.</p> - -<p>Nicht weit von ihr hatten sich zwei kleine Mädchen auf der Schwelle -der Veranda niedergelassen, eifrig lesend über ein Buch gebeugt, und -noch etwas entfernter lag ein leichenblasses Kind von etwa zehn Jahren -in einem Fahrstuhl, neben einem Tischchen, auf dem Bilder, Bücher, -Spielzeug aufgehäuft waren.</p> - -<p>Die Kleine schien sich nicht darum zu kümmern; mit einem unendlich -verdrießlichen Ausdrucke auf dem elenden Gesichte blickte sie nach -einer älteren Person, die wie eine Bonne oder Wärterin aussah und sich -nicht weit von ihr in ein abgegriffenes Bibliothekbuch vertieft hatte.</p> - -<p>„Sie sollen jetzt herkommen, Katharine, und mit mir spielen!“</p> - -<p>„Ach, ich habe es heute satt; ich habe zwei Stunden mit Ihnen gespielt, -und Sie wollen doch alle Viertelstunden etwas anderes.“</p> - -<p>Das kleine Ding sah sie wütend an: „Ich sage es Mama, wenn Sie mich -nicht unterhalten!“</p> - -<p>„Das können Sie immerhin thun; ich habe ihr schon<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> gesagt, daß ich nur -bis Michaelis bleibe, weil ich das Gequäle nicht aushalten kann.“</p> - -<p>Auf der Schwelle ging es auch eben nicht sehr friedlich zu: „Elli, du -reißest mir ja das Buch fort!“</p> - -<p>„Ja, es gehört mir, Sophiechen, und ich will’s haben; ich kann sonst -nichts sehen!“</p> - -<p>Bevor es sich Martha versah, entspann sich ein Streit, der an -Heftigkeit zunahm und den begehrten Gegenstand aufs äußerste bedrohte.</p> - -<p>„Lest euch doch vor!“ riet Martha.</p> - -<p>„Das sollen wir nicht, weil wir öfter Halsschmerzen haben!“</p> - -<p>„Wenn ich euch aber nun vorlese?“</p> - -<p>Der Vorschlag fand Beifall.</p> - -<p>Martha öffnete das Buch von Johanna Spyri: ‚Was aus Gritlis Kindern -geworden ist.‘ Sie begann, fühlte sich angezogen und las mit wachsendem -Vergnügen.</p> - -<p>„Ach, Fräulein, Fräulein!“ rief die kleine Elende, „kommen Sie doch -hierher!“</p> - -<p>„Das kann ich nicht, meines Fußes wegen; aber vielleicht ist deine -Wärterin so freundlich, deinen Fahrstuhl zu uns zu bringen.“</p> - -<p>Es geschah. Die Kinder lauschten gespannt; nur zuweilen entspann sich -eine ergötzliche Unterhaltung über die<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> Abenteuer der Doktorskinder, -und nicht nur die Zuhörer bedauerten es, sondern auch Martha, als -die Erscheinung einer sehr vornehm aussehenden Dame die Unterhaltung -unterbrach.</p> - -<p>„Wie kommst du hierher, Fanny?“</p> - -<p>„Ach, Mama, es wurde hier so schön vorgelesen!“</p> - -<p>Die Dame sah Martha sehr scharf beobachtend an: „Darf ich vielleicht -fragen, mit wem ich die Ehre habe?“</p> - -<p>Martha nannte ihren Namen und sagte, daß sie als Gast von Frau -Amtsrätin Rösner und zu ihrer Erholung hier sei.</p> - -<p>Zwei Fräulein, wie Martha schon bei Tisch bemerkt, die Töchter der -Dame, traten jetzt herzu; die eine in sehr gerader, vornehmer Haltung, -die andere anmutig grüßend und dann liebevoll über ihr krankes -Schwesterchen gebeugt, mit demselben plaudernd und kosend.</p> - -<p>Frau v. Märzfeld, der Name war Martha aus der Badeliste bekannt, ließ -sich das Buch reichen; da sie sich zu überzeugen schien, daß es keinen -gefahrdrohenden Inhalt hatte, gab sie es huldvoll zurück und verschwand -mit einem Wink an die Töchter, sie zu begleiten.</p> - -<p>Am anderen Nachmittage waren Elli und Sophiechen mit ihren Eltern -ausgefahren und Martha mit Fanny und ihrer Wärterin allein. Erstere -konnte sich schon ein wenig<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> mehr bewegen und nahm absichtlich ihren -Platz ganz dicht beim Fahrstuhl der Kleinen.</p> - -<p>„Wie schlecht“, sagte Fanny, „das Buch mitzunehmen!“</p> - -<p>„Aber Fanny, das ist doch nicht schlecht, das Buch gehört den Kindern!“</p> - -<p>„Sie können aber im Walde ohne Buch vergnügt sein, und ich langweile -mich hier.“</p> - -<p>„Hast du denn schon all’ diese Bücher und Bilder besehen?“</p> - -<p>„Ach, die mag ich nicht!“</p> - -<p>„Vielleicht interessieren sie dich mehr, wenn du sie mir zeigst.“</p> - -<p>Es lag ein ganzes Heft mit Bildern aus B. obenauf. Martha kannte -jedes Gebäude, wußte von jedem einzelnen etwas zu erzählen, was ihrer -kleinen Zuhörerin Freude machte, bis diese ihr Leid vergaß und der -unliebenswürdige Zug in ihrem Gesichtchen dem Ausdruck von Spannung, -Interesse und Fröhlichkeit wich.</p> - -<p>Frau v. Märzfeld trat mit Frau Amtsrätin Rösner zugleich später in die -Veranda; es erfolgte die gegenseitige Vorstellung und dann begann ein -Gespräch, aus dem Frau v. Märzfeld Marthas Lebenslage und ihre Pläne -erfuhr.</p> - -<p>Am anderen Morgen nach dem Bade bat sie Martha um eine Unterredung -und schlug ihr vor, im Herbst als<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> Lehrerin bei Fanny einzutreten: -„Der Arzt sagt mir heute, daß ich das Kind nach dem Süden bringen muß; -ich denke mit ihr im Winter nach der Schweiz zu gehen und möchte eine -Deutsche mitnehmen, die sie unterrichtet und sich ihrer Pflege widmet; -und da Fanny Vertrauen zu Ihnen zu haben scheint, wäre es mir lieb, -wenn Sie die Stelle annähmen. Sie müßten dann natürlich die leibliche -Pflege des Kindes ganz mit übernehmen, denn zwei Personen kann ich -nicht für sie halten!“</p> - -<p>Wie umfangreich die Pflichten sein würden, die sie hierdurch übernahm, -konnte Martha natürlich jetzt noch nicht übersehen, aber es erschien -ihr natürlich als eine Erleichterung, die unangenehme Wärterin los zu -werden. Der Gedanke, die Schweiz zu besuchen, vielleicht den Genfer See -mit seinen großartigen Umgebungen zu sehen, hatte für ihre jugendliche -Phantasie viel Verlockendes; Fanny selbst schien große Freude an der -Aussicht zu haben, und so versprach Martha, gleich nach der Heimkehr -mit Werners zu reden und mit ihnen zu überlegen, ob es geraten sei, den -Vorschlag anzunehmen.</p> - -<p>Suschen war betrübt: „Ich hoffte, du solltest bei uns bleiben bis zu -meiner Hochzeit!“ Aber ihre Eltern, so gern sie Martha noch behalten -hätten, fanden es doch verständig, auf die Sache einzugehen, die so -ungesucht sich bot,<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> natürlich unter der Bedingung, daß erst das Examen -gut vollendet sei.</p> - -<p>Dies geschah; es wurde trefflich bestanden. Vierzehn Tage hatte Martha -danach noch in dem gastlichen Wernerschen Hause verlebt; morgen sollte -sie nach M. reisen, um die neue Stelle anzutreten. Sie saß noch einmal -mit allen Wernerschen Geschwistern nach Tische in der Hinterstube in -wehmütigen Abschiedsgesprächen.</p> - -<p>„Den Ajax lasse ich Ihnen, Wilhelm! Sie haben ihn immer gern -gehabt; du, Suschen, bekommst meine Vögel.“ Für die anderen hatte -sie Blumenstöcke, Bücher, Bildchen. Die Nußbaumkommode kam in die -Dachkammer zu den anderen Möbeln, um dort geborgen zu werden, bis ihre -Besitzerin sie wieder gebrauchen konnte.</p> - -<p>Gegen Abend wanderte Martha an Suschens Arme hinaus zum Grabe der -Mutter und weinte dort heiß und lange; beim Abschied von Berlin hatte -sie die Mutter noch zur Seite gehabt; beim Abschied von dieser hatten -Werners sie in ihre Arme genommen; zum erstenmale zog sie jetzt allein -hinaus in eine unbekannte Fremde; das war sehr schwer, und es währte -lange, bis durch die dunklen Wolken ihrer Trübsal das Verheißungswort -wie ein klarer Stern schimmerte: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der -Welt Ende.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span></p> - -<p>Die Kinder hielten indessen zuhause große Beratung: „Wir müssen doch -heute Abend eine Abschiedsfeier halten. Es ist schade, daß Suse ganz -bei Martha ist, die wüßte schon was!“</p> - -<p>„Wenn wir was sängen?“ sagte Luischen.</p> - -<p>„Ja, aber was?“</p> - -<p>Arthur stimmte an: „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein.“</p> - -<p>„Das geht nicht“, sagte Wilhelm, „wir werden schwerlich welchen -bekommen heute Abend.“</p> - -<p>„So leb’ denn wohl, du altes Haus!“ riet Anna.</p> - -<p>„Na, dies noch“, rief Hans, „da könnte sie ja denken, sie wäre mit dem -alten Hause gemeint.“</p> - -<p>„Morgen muß ich fort von hier und muß Abschied nehmen.“</p> - -<p>„Nein, das ist zu traurig. Hört“, sagte Wilhelm wichtig, „wir machen -ein Lied! Ich fange jetzt an und jeder liefert eine Strophe:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Will sich Martha ewig von uns wenden —</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Nein, Wilhelm, das geht nicht! Das ist viel zu traurig; da weinen -wir.“ Arthur begann:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Weil unsre Martha scheiden will,</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Will? Still?“</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">So stehet uns der Atem still.</div> - </div> -</div> -</div> -<p><span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span></p> -<p>„Na, dir scheint der Verstand still zu stehen“, sagte Wilhelm -brüderlich galant.</p> - -<p>„Nein“, rief Annchen:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Weil unsre Martha scheiden will,</div> - <div class="verse indent0">Ich sie mit Blumen kränzen will.</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Ach, da ist zweimal ‚will‘, und du willst es ja auch nicht allein, wir -wollen’s ja alle; das geht nicht!“</p> - -<p>„Nein, jetzt hab’ ich’s!“ rief Luischen; gleich ganz viel auf einmal.“</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Wir wollen dich gerne feiern</div> - <div class="verse indent0">Mit Liedern und mit Leyern,</div> - <div class="verse indent0">Und wissen doch nicht wie?</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Arthur fuhr fort:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Wir hatten dich so gerne,</div> - <div class="verse indent0">Nun ziehst du in die Ferne,</div> - <div class="verse indent0">Und kehrest wieder nie —</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Na, Arthur, sie wird doch ’mal wiederkommen?“</p> - -<p>Dieser zählte an den Fingern: „nie! sieh! Poesie! flieh! zieh! sie! -hie! Das geht:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Und wir, wir bleiben hie!</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Schön ist’s eigentlich nicht“, sagte Hans; „wir wollen’s aber stehen -lassen, wir sind sonst nicht fertig, bis sie kommen.“</p> - -<p>„Nun muß aber noch was von Blumen hinein“,<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> sagte Luischen; „wir müssen -sie zum Schlusse doch bekränzen.“</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Wir kränzen dich mit Blumen —</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Blumen? Blüten? Es will wieder nicht!“</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Komm, laß dich jetzt bekränzen</div> - <div class="verse indent0">Mit Blumen, die da glänzen.</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Ach was, das ist langweilig; jetzt so!“ rief Hans.</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Drum suchten wir im Garten</div> - <div class="verse indent0">Blumen von allen Arten</div> - <div class="verse indent0">Zu einem schönen Kranz.</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>„Na, was reimt sich denn nun? Glanz — ganz — Schwanz?“</p> - -<p>„Nein, behüte! Schwanz!! Es geht ganz gut mit ganz.“</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Wir nehmen dich in die Mitten,</div> - <div class="verse indent0">Bekränzen dich und bitten:</div> - <div class="verse indent0">Vergiß uns nur nicht ganz!</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Sie waren sehr stolz auf ihr Machwerk, nur der Primaner schüttelte -seinen Kopf; aber Arthur entschied: „Mitunter ist eine Silbe zu lang -oder zu kurz, aber im ganzen ist es sehr schön. Das müssen wir singen! -Wonach geht es denn?“</p> - -<p>„Ein bißchen nach ‚Ich hatt’ einen Kameraden‘, aber nicht ganz.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p> - -<p>Wilhelm überlegte: „Wir singen es nach der zweiten Hälfte von ‚Ich -hatt’ einen Kameraden‘ und wiederholen das immerzu; da paßt es -vorzüglich.“</p> - -<p>Als die Freundinnen nachhause kamen, war der Kranz gewunden, die -Musikanten aufgestellt und die Musik begann; aber so wenig die Scene -auf Rührung angelegt war, sie erinnerte Martha an die Empfangsmusik -vor zwei und einem halben Jahre; sie konnte dem nicht wehren, daß ihre -Augen feucht wurden, und dies steckte an.</p> - -<p>Der Direktor trat herein.</p> - -<p>„Na, Kinder, macht euch das Herz nicht schwer; mir thut es auch leid, -daß meine Pflegetochter fortgeht; aber hoffentlich denkt sie daran, daß -sie hier stets ein Elternhaus und Elternherzen finden kann, so lange -wir leben, und da giebt es ja doch wohl manches Wiedersehen. Heute -Abend gebe ich eine Flasche Wein zum besten, da trinken wir Marthas -Gesundheit!“</p> - -<p>Großer Jubel!</p> - -<p>„Dann können wir wirklich singen: ‚Wohlauf noch getrunken den -funkelnden Wein!‘“</p> - -<p>„Ja, das könnt ihr!“ versicherte der Vater.</p> - -<p>Martha fühlte in dem allen die Liebe, die ihr hier eine Heimat -bereitet, und das machte ihr das Scheiden so schwer.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span></p> - -<p>Als sie mit Suschen abends allein in dem trauten Stübchen war, das so -viele Herzensergüsse belauscht hatte, da flossen freilich reichliche -Thränen; aber Martha konnte nicht anders als danken, immer wieder -danken für allen Segen, der ihr unter diesem Dache widerfahren war.</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_10">10.<br> -Noch eine neue Schule.</h2> - -</div> - -<p>Als der nächste Abend dämmerte, bemerkte Martha, die still und einsam -in der Ecke eines Damencoupés saß, in der Ferne die Türme von M. So -sehr sie des Fahrens durch die einförmige Gegend unter dem grauen -Herbsthimmel müde war, fing doch ihr Herz jetzt an, sehr ängstlich zu -klopfen, und sie hätte gern den Flug der Lokomotive aufgehalten. Wußte -sie denn, was dort unter den Türmen ihr begegnen würde? Wußte sie, in -welches Verhältnis sie treten sollte zu den ihr so wenig bekannten -Menschen? Eine Ängstlichkeit, die ihr bis dahin fremd war, kam über -sie; jetzt wurde gehemmt, die Lokomotive gab das Signal, der Zug hielt. -Zögernd und zitternd stieg sie aus; dichtes Menschengewühl umwogte sie -— und kein bekanntes Angesicht darunter!</p> - -<p>Frau v. Märzfeld hatte ihr geschrieben, in welchen Hotelwagen sie -einsteigen sollte. Als sie sich demselben näherte,<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> trat ihr ein feiner -Diener entgegen, fragte nach ihrem Namen und besorgte ihr Gepäck.</p> - -<p>In einer breiten, aber wenig lebhaften Straße hielt der Wagen vor -einem großen, eleganten Hause. Der Bediente führte sie hinein und die -erleuchtete Treppe hinauf in ein sehr sauber und nett eingerichtetes -Stübchen.</p> - -<p>„Gnädige Frau lassen bitten, daß Sie es sich hier bequem machen.“</p> - -<p>Eine Dienerin kam und brachte Kaffee und feines Weißbrot. Martha war -erquickungsbedürftig und nahm etwas weniges; aber es wurde ihr schwer, -das wenige zu verzehren; sie fühlte sich gar so einsam und elend.</p> - -<p>Nach einer halben Stunde erschien der Diener aufs neue: „Gnädige Frau -befehlen jetzt!“</p> - -<p>Martha folgte ihm. Sie hatte, nachdem Frau v. Märzfeld ihr den Antrag -gemacht, Fannys Lehrerin zu werden, noch einige Tage mit den Damen -zusammen in dem kleinen Badeorte verlebt; aber es erschien ihr in -der Erinnerung, als sei sie dadurch denselben nicht näher, sondern -ferner gekommen. Zwar die zweite Tochter Lucie hatte zuweilen recht -freundliche Blicke und Worte mit ihr gewechselt, und manchmal war es -Martha vorgekommen, als hielte irgendein unbekanntes Etwas dieselbe -zurück, sich noch näher an sie anzuschließen; die ältere Tochter aber -war vom Anfang<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> an sehr zurückhaltend gewesen, und Frau v. Märzfeld -eigentlich unnahbar. So hatte es denn durchaus nicht den Anschein eines -Wiedersehens zwischen Bekannten, als Martha jetzt mit beklommenem -Herzen ins Empfangszimmer trat.</p> - -<p>Die gnädige Frau saß steif und gerade in der Ecke ihres Sofas und -musterte die Eintretende durch ihr Augenglas; zu beiden Seiten hatten -auf Plüschsesseln Judith und Lucie Platz genommen, feine Stickereien in -der Hand.</p> - -<p>Lucie erhob sich unwillkürlich, um der Eintretenden entgegenzugehen; -Frau v. Märzfeld legte ihre Hand auf den Arm ihrer Tochter: „Nicht so, -mein Kind! Fräulein Feldwart wird sich zu uns setzen.“ Damit zeigte sie -auf einen Sessel, und Martha fühlte sich genötigt, nach einer ebenfalls -steifen Verbeugung darin Platz zu nehmen.</p> - -<p>Nach einigen Redensarten, Marthas Reise betreffend, schien die Mama -einen großen Anlauf zum Reden zu nehmen. Lucie wollte entfliehen; ein -Blick ihrer Mutter zwang sie, sich wieder zu setzen, und diese begann -jetzt nach einem kleinen Anfall von Verlegenheitshusten: „Fräulein -Feldwart, wir haben uns in der Freiheit des Badelebens kennen gelernt; -wir waren dort vollständig gleichberechtigte Personen. Sie stehen -wahrscheinlich auch in der Bildung meinen Töchtern ziemlich gleich; -dies hat seine wohlthuenden, aber auch seine schwierigen Seiten, und -ich sehe es bei Ihrem Eintritt<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> als meine erste Pflicht an, unsere -gegenseitige Stellung ganz klarzulegen. Hätten wir unverweilt nach dem -Süden gehen können, so hätte sich manches von selbst eingerichtet, oder -wir hätten es nicht so genau zu nehmen brauchen. Unser Hausarzt wünscht -aber, daß Fanny zuerst noch eine elektrische Kur gebrauchen soll, und -ich habe hier so viel Geschäfte vorgefunden, daß wir vor dem Frühjahr -schwerlich reisen können. Nun wollte ich Ihnen Folgendes sagen; nicht -weil es mir Vergnügen macht, sondern weil ich es für nötig halte: -Erwarten Sie als Fannys Lehrerin nicht, daß ich Sie meinen Töchtern -gleichstellen und Sie zu unseren Zirkeln und unserer Geselligkeit -heranziehen soll; dies paßt sich nicht. Sie werden stets die Stellung -einer Untergebenen haben, und ich sage Ihnen das gleich, um Sie vor -Täuschung zu bewahren. An unseren Mittags- und Abendmahlzeiten würde -ich Sie gern teilnehmen lassen, wenn nicht Fanny durch ihre Schwäche -genötigt wäre, im Kinderzimmer zu speisen; ich wünsche, daß Sie dies -mit ihr gemeinsam thun und überhaupt das Kind so wenig als immer -möglich verlassen. Was ihren Unterricht betrifft, so müssen Sie sehen, -wo Sie anknüpfen und wie Sie durchkommen können; es versteht sich, daß -das kranke Kind nicht angestrengt werden darf; aber so unwissend, wie -sie jetzt ist, darf sie nicht bleiben.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p> - -<p>Martha hörte still zu; die Farbe auf ihrem Gesichte wechselte -einigemal; sie bezwang sich aber, und die Ruhe und Bestimmtheit der -Prinzipalin gab ihr den Mut, ebenso ruhig zu bitten, daß man ihr -gestatten möge, vorausgesetzt, daß Fanny nicht kränker sei, sonntäglich -einmal zur Kirche und täglich eine Stunde spazieren zu gehen, was der -Arzt ihr zur Pflicht gemacht habe.</p> - -<p>Es wurde ihr bedingungsweise gewährt: „Wenn es gutes Wetter ist, -wird Fanny jeden Tag ausgefahren; dann wünsche ich, daß Sie in ihrer -Begleitung gehen. Jetzt wird Lucie Sie hinauf zu Fanny bringen; ich -habe diese Unterredung in Gegenwart meiner Töchter geführt, damit sie -meinen Willen wissen; meine zweite Tochter hat große Neigung, sich über -die nötigen Formen hinwegzusetzen.“</p> - -<p>Martha verbeugte sich und folgte ihrer Führerin die Treppe hinauf in -einem sonderbaren Zustande: nicht aufgebracht, nicht entrüstet, aber -wie mit Wasser begossen und kühl bis ans Herz hinan.</p> - -<p>Vor Fannys Thür wandte sich Lucie um: „Wir können uns doch lieb haben, -Fräulein Martha, ganz gewiß!“ sagte sie, und Martha glaubte Thränen -in ihren Augen zu sehen. Sie war etwas verwundert über dies schnelle -Entgegenkommen, es machte sie beinahe verlegen.</p> - -<p>„Ja, Fräulein Lucie, aber wir müssen durchaus die<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> Grenzen dabei -festhalten, die Ihre Frau Mutter uns gesteckt hat; ich würde sonst ihr -gegenüber in eine schiefe und unhaltbare Stellung kommen.“</p> - -<p>„Ach, und lieben Sie Fanny ein wenig; sie ist so unglücklich durch ihre -Kränklichkeit!“</p> - -<p>„Gewiß will ich das!“ sagte Martha warm und trat über die Schwelle -einer einfachen aber freundlichen Stube, hinter deren breitem Fenster, -dessen Gardinen jetzt zugezogen waren, Fanny, von einer Hängelampe -beleuchtet, in ihrem Rollstuhle lag.</p> - -<p>„Nun, guten Tag, liebe Fanny! Siehst du, hier bin ich; nun sage mir, -wie es dir ergangen ist, seitdem wir uns zuletzt gesehen haben!“</p> - -<p>„Schlecht“, sagte sie, aber sie reichte Martha die Hand.</p> - -<p>„Wie so, schlecht? Hattest du vermehrte Schmerzen?“</p> - -<p>„Manchmal auch; aber das Elektrisieren ist so schrecklich, und -Katharine war die ganze Zeit so schlimm zu mir, und das Hausmädchen -thut mir immer so weh, wenn sie mich ankleidet!“</p> - -<p>„Vielleicht kann ich das lernen!“ sagte Martha freundlich.</p> - -<p>Es klingelte jetzt, und Lucie wußte, daß dies für sie das Signal sei, -das Schwesterchen zu verlassen. Sie umarmte Fanny etwas stürmisch zum -Abschied; das blasse Gesichtchen verzog sich schmerzlich.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span></p> - -<p>„Lucie ist gut zu mir“, sagte sie, sobald dieselbe das Zimmer verlassen -hatte, „aber sie denkt nicht daran, wo es mir weh thut. Sie kann auch -wenig bei mir sein; sie muß sich noch so viel üben im Singen und -Zeichnen und muß auch viel in Gesellschaft gehen; Mama sagt, das sei -für ein Fräulein nötig.“</p> - -<p>„Was thatest du denn heute Nachmittag?“</p> - -<p>„Was sollte ich thun? Ich sah in die Wolken; die bekommen immer -andere Gestalten; man kann sich Riesen, Ritter und Drachen darunter -vorstellen, die führen Krieg, laufen hintereinander her und fressen -sich auf; das ist so unterhaltend!“</p> - -<p>„Kannst du nicht etwas lesen?“</p> - -<p>„O, lesen kann ich gut; als ich gesund war, hatte ich Stunde. Aber es -ist in den Büchern immer so vieles, das ich nicht verstehe, und es ist -niemand da, der mir ordentlich antwortet, wenn ich frage, als höchstens -manchmal Judith; aber sie hat sehr wenig Zeit.“</p> - -<p>„Wie lange bist du denn so krank?“</p> - -<p>„Ich glaube, seit zwei Jahren; da war ich einmal, heiß vom Spielen, ins -Wasser gefallen. Der Gärtner holte mich wieder heraus, aber ich wurde -nie mehr gesund; ist das nicht schändlich?“</p> - -<p>„Schmerzlich, Fanny, oder betrübt! Siehst du, was<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> uns der liebe Vater -im Himmel schickt, das kann wohl schwer und bitter für uns sein, aber -schändlich gewiß nicht!“</p> - -<p>„Das verstehe ich nicht, du sprichst ganz wie Margaretchen!“</p> - -<p>„Wer ist Margaretchen?“</p> - -<p>„Ach, die alte Näherin, die manchmal kommt; sie sitzt dann dort in der -Nebenstube und speist mit mir! Die sagt auch, Gott habe mich lieb! Aber -warum läßt er mich denn krank werden?“</p> - -<p>„Das wirst du auch noch einmal erfahren, Fanny! Jetzt können wir das -noch nicht wissen!“</p> - -<p>Das Mädchen kam jetzt, deckte den Tisch und setzte Thee und kalte -Speisen auf.</p> - -<p>„Werden Sie hier essen?“ fragte Fanny gespannt.</p> - -<p>Martha nickte.</p> - -<p>„Das ist schön! Katharine ging dann immer hinüber in die Gesindestube -und kam nicht eher wieder, bis der Thee ganz kalt war.“</p> - -<p>Martha betrachtete sich die Sache: „Ich werde deinen Rollstuhl dicht -an den Tisch heranbringen, das ist gemütlicher für uns beide. Du sagst -mir jetzt, wie du die Butterbrötchen am liebsten hast, so richte ich -sie dir ein. Meinst du nicht, daß so ein weiches Ei und etwas roher -Schinken dir wohlthun würde? Siehst du, ich bin hungrig von der<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> Reise, -mir wird es auch schmecken. Aber erst wollen wir beten.“</p> - -<p>„Beten?“ fragte das Kind verwundert.</p> - -<p>„Ei, wir müssen uns doch beim lieben Gott bedanken für alle die guten -Gaben, und müssen ihn bitten, daß er uns ferner nicht verläßt!“</p> - -<p>Fanny nickte ernsthaft.</p> - -<p>Martha sprach einfach: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und -seine Güte währet ewiglich!“ Dann begann das Souper.</p> - -<p>Die Kleine hatte keinen frischen Appetit; Martha mußte ihr zureden, ein -wenig zu nehmen; aber das half zuweilen.</p> - -<p>Man hörte jetzt Räder rollen und verschiedene Kutschen vor dem Hause -anfahren; es wurde unruhig unter ihnen.</p> - -<p>„Mama hat heute Gesellschaft; ich schlafe auch nicht eher, bis Lucie -mir Eis und Konfekt heraufgebracht hat; das thut sie jedesmal!“</p> - -<p>Martha zweifelte, ob es weise sei, dem kränklichen Kinde, das kein -Verlangen nach einfacher, nützlicher Nahrung hatte, Dinge zu bringen, -die ihr den Magen noch mehr verderben mußten; aber für heute mußte sie -sich ja noch aller Eingriffe enthalten. Sie bat nur: „Lege dich immer -einstweilen nieder, Fanny. Du ruhst besser, und ich bleibe hier neben -deinem Bette!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span></p> - -<p>Das Hausmädchen kam jetzt und Martha ließ sich das Nachtzeug des Kindes -bringen.</p> - -<p>„Ich will sie heute einmal selbst auskleiden!“ sagte sie. Ihre leichte, -geschickte Hand bewährte sich auch hier; Fanny jammerte wenig und -erklärte sich zufrieden mit ihrem Beistande.</p> - -<p>„Bleiben Sie auch die Nacht über hier?“</p> - -<p>„Ich weiß noch nicht Bescheid im Hause; aber ich glaube, mein hübsches -Zimmerchen muß ganz in der Nähe sein!“</p> - -<p>„Vielleicht ist es nebenan, Fräulein Feldwart? O bitte, öffnen Sie -einmal die Thür und sehen Sie zu, ob es so ist!“</p> - -<p>Es war so! zu Fannys großem Jubel!</p> - -<p>„O nicht wahr, Sie lassen die Thür ein klein, klein wenig offen? -Katharine schläft zwar hier in der kleinen Kammer und giebt mir, was -ich gebrauche; aber es wäre zu schön, Sie so nahe zu haben!“</p> - -<p>Martha versprach dies gerne. Nichts hätte sie am heutigen Abend so sehr -trösten können, als die Überzeugung, daß sie der kleinen Kranken lieb -und nötig sei, und sie bat Gott innig, er möge ihr Kraft geben, dem -Kinde in der rechten Weise beizustehen.</p> - -<p>Jetzt rauschte es auf der Treppe, und in einem schweren,<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> dunkelblauen -Seidenkleide, äußerst passend und geschmackvoll angethan, erschien Frau -v. Märzfeld, um ihrer Kleinsten „gute Nacht“ zu sagen. Sie war wirklich -eine auffallend stattliche Erscheinung, besonders fand Martha dies, als -sie sich mit zärtlichem Mitleid über das kranke Kind beugte. Sie sah -freundlich auf Martha, die von ihrem Stuhl aufgesprungen war, um der -Mutter Platz zu machen.</p> - -<p>„Nun, haben Sie sich schon ein wenig zusammen befreundet?“</p> - -<p>„Ich denke, gnädige Frau, und ich hoffe, wir werden es mit jedem Tage -mehr thun.“</p> - -<p>„Das würde mir ganz außerordentlich lieb sein; dies kleine Wesen kann -Licht und Hitze und Geräusch nur wenig ertragen, und doch ist es meine -Pflicht, um ihrer Schwestern willen in der Gesellschaft zu leben. Es -wäre mir eine große Beruhigung, sie nicht verlassen zu wissen. Aber -plaudern sie nicht zu lange mit ihr, nach zehn Uhr muß sie schlafen.“</p> - -<p>„O Mama, heut’ ein wenig nach zehn; Lucie bringt mir erst noch Eis!“</p> - -<p>„Meinetwegen!“ sagte die Mutter freundlich, indem sie die Kleine zum -Abschied küßte. „Fräulein Feldwart, Sie stehen mir dafür, daß es nicht -zu lange wird!“</p> - -<p>Martha versprach es.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p> - -<p>„Bitte, erzählen Sie mir etwas“, bat Fanny, als sie allein waren.</p> - -<p>„Hat dir jemand schon aus der biblischen Geschichte erzählt?“</p> - -<p>„Jetzt lange nicht, früher wohl; ich glaube, Katharine wußte nichts -davon.“</p> - -<p>„Weißt du, wer Jakob war?“</p> - -<p>„Ein wenig; ich glaube, er vertrug sich nicht mit seinem Bruder Esau.“</p> - -<p>Martha erzählte von Jakob; seinen Ausgang aus dem Vaterhause; seine -Angst vor seinem Bruder, den er um sein Erstgeburtsrecht gebracht; wie -er sich am Abend niederlegte auf einen Stein mit seinem Kopf, und ihm -dann im Traume die Himmelsleiter erschien, an der die Engel hinauf- und -herabstiegen.</p> - -<p>„O, das muß schön gewesen sein!“ sagte Fanny. „Giebt’s jetzt auch noch -Engel?“</p> - -<p>„Freilich! Christus sagt von den Kindern: ‚Ihre Engel sehen allezeit -das Angesicht meines himmlischen Vaters.‘“</p> - -<p>„Hab’ ich auch einen?“</p> - -<p>„Gewiß, Fanny, hast du deinen Engel, der an deinem Bette wacht, wenn du -schläfst, und dich behütet, wenn du in deinem Rollstuhl liegst.“</p> - -<p>„Kann er mich auch gesund machen?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p> - -<p>„Er wohl nicht; aber der Vater im Himmel, der den Engel sendet, und -wenn es dir gut ist, thut er es gewiß; wir dürfen ihn alle Tage darum -bitten.“</p> - -<p>„Ach, das wollen wir thun!“</p> - -<p>Das Gespräch wurde jetzt unterbrochen; von unten herauf drang nicht -mehr das Gemurmel sprechender Stimmen, sondern silberklare Töne eines -sehr schönen Flügels; es ertönte eine Sonate von Beethoven, dies konnte -man deutlich unterscheiden, obgleich von den feineren Tönen natürlich -viel verschwand.</p> - -<p>„Sie hören gern Musik?“ fragte Fanny.</p> - -<p>„Sehr gern!“</p> - -<p>„Ich sah es Ihnen an; Sie verstehen auch, was die Töne miteinander -sprechen.“</p> - -<p>„Verstehst du das auch, Fanny?“</p> - -<p>„Natürlich; es ist eine andere Sprache als die, in der wir uns -unterhalten; aber man fühlt ganz deutlich im Herzen, wie es gemeint -ist.“</p> - -<p>Jetzt wurde präludiert; eine sehr frische, jugendliche Stimme sang -reizende Lieder von Franz und Schumann; beide Zuhörerinnen lauschten.</p> - -<p>„O, das ist schön!“ rief Martha.</p> - -<p>„Geben Sie acht, wenn Judith singt, ist es noch schöner; das war -Lucie!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p> - -<p>Ja! Jetzt ertönte es unten: „Leise, leise, fromme Weise, Schwing dich -auf zum Sternenkreise etc.“ Welche edlen, vollen, weichen Töne, welche -vollendete Auffassung! Sie hätte kaum der stolz erscheinenden Judith -solchen Gesang zugetraut; das kam aus dem Innersten — daran war nicht -zu zweifeln! Es war eine solche Wärme im Vortrag, daß Martha mit -Entzücken zuhörte. Es war ihr sonderbar zumute; sie war zu lange und zu -gern in der großen Geselligkeit zuhause gewesen, um nicht das Gefühl -zu haben, daß sie dort unten ganz an ihrem Platze sein würde und ihre -frische Singstimme wohl auch zur allgemeinen Freude erschallen lassen -könne.</p> - -<p>„Wären Sie gern unten?“ fragte Fanny.</p> - -<p>Martha fuhr aus ihrem Traume empor, dem sie einige Minuten nachgehangen -hatte: „Ich bin auch gern hier bei dir, Fanny!“</p> - -<p>„Ja, und Sie sind auch noch viel besser dran als ich; Sie haben doch -Beine und könnten hinuntergehen, und würde Ihnen auch nicht gleich -schlecht von all dem Lärm.“</p> - -<p>Man hörte jetzt unten vermehrte Bewegung.</p> - -<p>„Jetzt geht es zu Tische“, sagte die Kleine; „nun dauert es nicht mehr -sehr lange, bis Lucie kommt mit dem Eis.“</p> - -<p>Nach einer kleinen Stunde erschien diese auch wirklich<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> mit einem -ganzen Präsentierteller voll der süßen Herrlichkeiten.</p> - -<p>„Ihr müßt jetzt beide schmausen; das sind ganz unschädliche Sachen, und -ich bleibe so lange hier und sehe euch zu.“</p> - -<p>Martha sah mit großer Sorge die großen, süßen Vorräte: „Wird es auch -Fanny nicht schaden, wenn Sie dies alles heute Abend verzehrt?“</p> - -<p>„O, was soll ihr das schaden?“ rief Lucie; „sie ist ja doch nur von -Erkältung krank!“</p> - -<p>„Aber wir könnten ein wenig aufheben auf morgen“, begann Martha aufs -neue.</p> - -<p>Lucie lachte: „Sie wissen nicht, was dies für ein kleiner Naschvogel -ist!“</p> - -<p>Martha wurde überstimmt; erst, als alles aufgezehrt und Lucie zu ihrer -Gesellschaft zurückgekehrt war, machte Fanny Anstalt, einzuschlafen.</p> - -<p>Martha sprach über sie mit gefalteten Händen den Vers:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Breit aus die Flügel beide,</div> - <div class="verse indent0">O Jesu, meine Freude,</div> - <div class="verse indent0">und nimm dein Küchlein ein.</div> - <div class="verse indent0">Will Satan mich verschlingen,</div> - <div class="verse indent0">So laß die Englein singen:</div> - <div class="verse indent0">Dies Kind soll unverletzet sein!</div> - </div> -</div> -</div> -<p><span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span></p> -<p>Fanny sah sie anfangs verwundert an, dann legte es sich wie Frieden -über ihre unruhigen Züge.</p> - -<p>„Ja“, sagte sie beim Schluß, „jetzt will ich schlafen; ich sehe sie -hinauf- und heruntersteigen, und sie singen schon.“</p> - -<p>Martha ging nun in ihr Stübchen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. -Es war ihr noch nicht klar, wie es hier weiter gehen würde; sie sah -manches Schwierigkeit, manche Demütigung für ihre stolze Natur auf -ihrem Wege liegen; aber sie empfand es als ein großes Glück, daß Fanny -sichtlich ihr vertraute; und des Kindes Herz mehr und mehr zu gewinnen, -ihr hartes Los zu erleichtern, ihr eine Freundin zu werden, das war -eine Aufgabe, die wohl geeignet war, sie mit ihrer Lage auszusöhnen, -und als sie endlich ermüdet ihr Lager suchte, war ihre Zuversicht so -stark, daß Gottes Schutz und Obhut über ihrem Haupte sei, daß sie mit -dem Kinde hätte sagen mögen: „Ich höre es, die Engel singen schon!“</p> - -<p>Am anderen Morgen brachte denn nun freilich das neue Tagewerk -Schwierigkeiten genug. Zuerst wurde sie von ihrer Morgenandacht -aufgeschreckt durch Fannys Jammergeschrei, die sich vom Mädchen -ankleiden lassen sollte. Sie schien große Schmerzen dabei zu haben, und -Martha eilte hinüber, um zu sehen, ob sie ihr nicht eine Erleichterung -gewähren<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> könne. Sie versuchte dem Mädchen Anleitung zu geben, die -schmerzenden Glieder nach Möglichkeit zu schonen; diese gab sich auch -die erdenklichste Mühe, aber vergebens; Fanny schrie weiter. Sobald -Martha Hand anlegte, beruhigte sie sich sofort, und obwohl es unschwer -zu durchschauen war, daß neben den Schmerzen ein nicht geringes Maß -von Eigensinn der Grund des Jammers sei, blieb doch für Martha keine -Wahl: sie schickte das Mädchen fort und suchte allein fertig zu werden. -„Heute muß ich den Eigensinn ignorieren“, dachte sie; „bleibt es so, -dann muß er natürlich bekämpft werden; aber wie?“</p> - -<p>Sie war jetzt erst 21 Jahre alt. So wechselvoll und zum Teil so schwer -ihr Leben bis dahin gewesen war, so hatte sie doch bis gestern stets -unter der liebevollsten Obhut gestanden; jetzt sollte sie auf eigenen -Füßen stehen unter recht schwierigen Verhältnissen. Hätte Frau v. -Märzfeld sie an sich herangezogen, hätte sie ihr mit Rat und That -beigestanden, so wäre ihre Aufgabe leichter zu lösen gewesen; wie die -Sachen jetzt lagen, konnte sie sich nur auf Gottes Hilfe verlassen.</p> - -<p>Gleich nach dem Frühstück kam Judith in sehr sauberem, elegantem -Morgenanzuge, um zu fragen, wie ihr Schwesterlein geschlafen habe, und -brachte einen sehr fein gebundenen Blumenstrauß mit. Fanny klagte, sie -habe viel geträumt,<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> Martha mußte bestätigen, daß sie recht unruhig -gelegen und oft im Traume geseufzt habe.</p> - -<p>„Das haben Sie durch die Thür hören können, Fräulein Feldwart?“</p> - -<p>„O nein“, antwortete Martha, „ich ließ dieselbe ein wenig zwischen uns -offen.“</p> - -<p>„Hast du das gewünscht, Fanny?“</p> - -<p>Fanny nickte.</p> - -<p>Judith dachte ein wenig nach: „Das geht durchaus nicht; wenn Fräulein -Feldwart den ganzen Tag über bei dir sein soll, muß sie in der Nacht -völlige Ruhe haben; hörst du, Fanny?“</p> - -<p>Martha bat: „Ich bin jung und gesund und würde doch nach Fanny -hinhören, wenn auch die Thür zwischen uns geschlossen wäre! Vielleicht -schläft auch mein armer, kleiner Zögling ruhiger, wenn sie diesen Abend -nicht so viel Zuckerwerk und Eis bekömmt.“</p> - -<p>„Also doch wieder!“ sagte Judith nachdenklich und ging nach einer -kleinen Weile.</p> - -<p>Fanny war verdrießlich: „Sie sind gerade so streng wie Judith, die will -mir auch immer kein Zuckerwerk geben!“</p> - -<p>„Ja, Fanny, weil wir beide wünschen, du mögest bald gesund werden; da -möchten wir dir nichts geben, was dir schaden kann.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p> - -<p>Zunächst kam es nun für Martha darauf an, zu ergründen, wie weit -Fanny auf den verschiedenen Gebieten des Wissens gekommen war; sie -machte natürlich sehr unbefriedigende Entdeckungen. Lesen konnte sie, -schreiben wegen ihrer schmerzenden Glieder nur sehr mangelhaft. Das -Rechnen schien ihr ganz fremd und obendrein sehr zuwider zu sein; -auch vor der Geographie mit ihren vielen Namen und Zahlen empfand sie -große Scheu, und sowohl aus der weltlichen als biblischen Geschichte -hatte sie nur einzelne Episoden behalten, welche das Gefühl und die -Phantasie in besonderer Weise in Anspruch nahmen. Diese faßte sie, wie -neulich die Geschichte von der Jakobsleiter, mit großer Lebendigkeit -und Innigkeit auf; aber alles, was sich nur an den Verstand wendete -und eigentliche Arbeit und Anstrengung erforderte, wies sie beharrlich -zurück. Wäre ihr Leiden von der Art gewesen, daß man ein frühes Ende -hätte befürchten müssen, so würde Martha gedacht haben: „Fliege du, -fliege du bis in den Himmel hinein!“ denn Martha flog selbst gern. Aber -abgesehen davon, daß ihr eigenes Herz nur schwer den Gedanken hätte -fassen können, die junge Blüte unrettbar dahinwelken zu sehen, sprach -auch der Arzt die sichere Hoffnung aus, sie werde das Leiden in einigen -Jahren überwinden. „Dann“, sagte Martha, „darf sie nicht nur fliegen, -dann muß sie auch gehen lernen“, und sie versuchte<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> auf jede mögliche -Weise, sie nach und nach an eine geregelte Thätigkeit zu gewöhnen. -Methodisch, wie sie es gelernt und wie es in vollen Schulklassen -meist so trefflich fördert, durfte sie hier nicht vorgehen. Hatte sie -Fanny mit unsagbarer Mühe dahin gebracht, aufmerksam zuzuhören und -vier bis sechs Fragen zu beantworten, so erklärte dieselbe dann aufs -bestimmteste: „Ich kann nicht mehr, mein Kopf thut mir weh“, und war -weder mit Güte noch mit Ernst auch nur einen Schritt weiterzubringen.</p> - -<p>Martha mußte förmlich auf neue Wege studieren. Sie fing an, Fanny im -Gespräch für einen Gegenstand zu interessieren und suchte auf diese -Weise die Begierde in ihr zu wecken, mehr von demselben zu erfahren. -Sie benutzte ihre Ausgänge, um in den Buchhandlungen nach Reise- -oder Lebensbeschreibungen zu suchen, welche für das kindliche Alter -geeignet waren, aber auch hier ermüdete die schwache und verwöhnte -Schülerin schnell. Martha fand bald, daß es besser ging, wenn sie -sich über ein Land, ein Volk, eine Episode aus der Geschichte so viel -als möglich Kenntnisse aneignete oder vergegenwärtigte und dieselben -ihrer Schülerin dann frei und in möglichst angenehmer Form vortrug. -Es war nicht zu leugnen, daß die junge Lehrerin auf diese Weise -eine höhere Stufe erstieg; es kostete aber viel Zeit und Kraft, und -inbezug auf Fannys eigene Anstrengungen<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> war wenig gewonnen. Oft -dachte Martha: „Wenn man doch nur die Grenze genau sehen könnte, wo -das ‚Ich kann nicht!‘ in das ‚Ich will nicht!‘ übergeht!“ Der treue -Hausarzt selbst war in dieser Beziehung unsicher; es ist schon bei -erwachsenen Nervenkranken nicht leicht, die Grenze zu finden, wo man -ihnen nachgeben und wo man ihnen widerstehen oder sie zu kräftigen und -zu stärken suchen muß. Martha kam darin zu keiner rechten Klarheit; daß -sie selbst jung, gesund und lebhaft war, riß die Kleine mitunter zu -Anstrengungen fort, die ihr wohl bekamen, aber eine gründlichere Hilfe -kam zuletzt auf eine andere Weise.</p> - -<p>Fanny hatte für religiöse Eindrücke, wie schon gesagt, ein -empfängliches Gemüt; aber als ihre Lehrerin in der Religionsstunde -den gewöhnlichen Weg einschlagen wollte, zuerst die zehn Gebote mit -allen Erklärungen durchzunehmen, stieß sie wieder auf entschiedenen -Widerstand: „Das kann ich nicht! das ist zu schwer!“ Die nahe -Adventszeit richtete von selbst den Blick auf das Kommen des Heilandes; -Martha nahm in den Frühstunden alle Verheißungen auf Christi -Erscheinung, seine Geburt, sein Leben, seine Wunder, sein Leiden, -Sterben und Auferstehen durch; und hier war nichts, was Fanny nicht -mit ganzem Herzen erfaßt hätte; von hier aus war es leicht, Licht auf -alle bis dahin dunklen Gebiete fallen zu lassen; eine neue Welt ging -für Fanny auf, eine<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> Welt der Liebe und des Friedens, die ihr bisher -verborgen geblieben war, die ihr liebliches Licht hineinsandte in ihr -Leiden und in ihr Herz und alle Bitterkeit daraus vertrieb. Mit ihrer -Liebe zu dem Quell aller Liebe wuchs auch ihre Liebe für Martha, die -ihr das neue Leben erschlossen hatte, und an die Stelle des bisherigen -Widerstrebens trat das Verlangen, in allen Stücken zu thun, was diese -wünschte, und obgleich leibliche Schwäche und große Verwöhnung ihr dies -schwer machten, war es doch deutlich zu sehen, daß sie allmählich etwas -vorwärts kam. Martha freute sich innig, daß ihre Thätigkeit sichtlich -mit Erfolg gekrönt wurde; aber dieselbe forderte ein Aufbieten all -ihrer Kräfte, und sie sehnte sich oft nach einer Ausspannung und -Erquickung für ihr eigenes Herz.</p> - -<p>Die beiden älteren Töchter des Hauses fingen je mehr und mehr an, -ihr Interesse zu erregen. Lucie war stets anmutig und freundlich, -wenn sie ins Krankenzimmer kam; ja sie hatte anfangs ganz herzliche -Anwandlungen! aber wenn ihr Martha mit sanfter Bitte entgegentrat, so -oft sie das Schwesterchen mit Leckereien überschütten wollte, wurde -sie verstimmt und verstimmte Fanny mit. Erst als einmal der Hausarzt -sich ganz streng gegen solche Diät ausgesprochen hatte, unterblieben -die Versuche dazu, und Martha wußte, daß sein Verbot durch Judith -veranlaßt war, die ihre Sorge<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> teilte. Judith behielt ihr ernstes, -zurückhaltendes Wesen, sowohl dem Schwesterchen als Martha gegenüber, -lange Zeit unverändert bei; aber wenn Martha es wagte, ihr Vorschläge -zu machen, wie Fannys Lage in Wahrheit zu erleichtern sei, war dies nie -vergebens; Judith dachte darüber nach und suchte zustande zu bringen, -was Martha wünschte.</p> - -<p>Der Gärtner hatte bis jetzt jede Woche andere blühende Gewächse -gebracht und die abgeblühten mit zurückgenommen, und Martha hatte -mit Betrübnis gesehen, daß Fanny von ihrem reizenden Blumenfenster -nur sehr wenig Freude hatte. Judith war eine große Blumenliebhaberin -und betrübte sich über Fannys Gleichgültigleit ebenfalls. Als sie -dies eines Morgens aussprach, sagte Martha: „Ich glaube, Fräulein -Judith, Fanny würde viel größere Freude haben, wenn sie die Pflanzen -pflegen und gedeihen sehen könnte und wenn sie selbst etwas zur Blüte -brächte!“ Gleich am anderen Morgen erschien Judith in Gesellschaft -eines Gärtnerburschen und brachte die verschiedensten jungen Pflänzchen -mit; sie hatte sich beim Gärtner sehr sorgsam erkundigt, wie jedes -zu behandeln sei, und weihte das Schwesterchen in das Geheimnis ein, -indem sie ihr anschaulich schilderte, wie die Blüte und die weitere -Entwickelung sein werde. Nun gab es jeden Morgen eine halbe Stunde -der Thätigkeit und gespannten Aufmerksamkeit; die Pflänzchen wuchsen -natürlich<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> dem ungeduldigen Kinde lange nicht schnell genug; aber jedes -neu hervorsprießende Blatt, jede Knospe und aufbrechende Blüte erregte -Jubel.</p> - -<p>Martha sah Lucie fast nur in Gegenwart ihrer Mutter, und wenn sie -heruntergeholt wurde, den Gesang der Schwestern zu begleiten; Frau v. -Märzfeld wußte sie dann aber unter irgendeinem Vorwande sofort wieder -zu entfernen. Auf Fannys Bitte hatte Martha dieser das Mozartsche -„Veilchen“ und einige von den reizenden Taubertschen Kinderliedern -vorgesungen, als Frau v. Märzfeld in das Zimmer trat.</p> - -<p>„Ich wußte nicht, daß Sie singen!“ sagte sie.</p> - -<p>„Ich sprach nicht davon, weil ich nur ein einziges Jahr Stunden hatte -und abbrechen mußte, bevor der Unterricht irgendwie beendet war.“</p> - -<p>„Ich höre wenigstens, daß Sie sicher sind, und Sie sollen uns heute -Abend aus einer großen Verlegenheit helfen. Judith ist leider heiser -geworden; wir hatten für sie auf ein Duett und die erste Stimme eines -Quartetts gerechnet; ich bitte, daß Sie ihre Stelle vertreten.“</p> - -<p>„Das thue ich gern“, sagte Martha; „nur möchte ich beides noch einmal -durchsingen, und dann“ — setzte sie fast verlegen hinzu — „habe ich -kaum ein Kleid, in solcher Gesellschaft zu erscheinen.“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span></p> - -<p>„Das wird niemand von Ihnen verlangen, indem Sie ja nicht als Glied der -Gesellschaft kommen, sondern als die Lehrerin meines Kindes, die uns -eine Gefälligkeit erweist.“</p> - -<p>Martha fühlte wieder den Sturz kalten Wassers, aber sie beherrschte -sich. Sie hatte mit Lucie das Lied zu singen: „O, säh’ ich auf der -Heide dort im Sturme dich etc.“ Beide durften es bei Fanny probieren und -diese war entzückt davon: „Ich möchte sehen, wie sich alle über euch -freuen.“</p> - -<p>Erst als sie gerufen wurde, und zwar sehr sauber, aber sehr einfach -gekleidet, trat Martha in die Gesellschaft ein. Frau v. Märzfeld -stellte sie vor: „Die Gouvernante meiner Fanny!“ Ihr wurde niemand -vorgestellt. Ein junger Mann saß am Flügel, bereit, sie zu begleiten. -Die ersten Töne, welche Martha sang, zitterten ein wenig; aber dann -riß die Musik sie mit sich fort, und ihre weiche, biegsame Stimme -entfaltete all’ ihre Fülle und Macht. Beifall erklang von allen Seiten, -und als auch das Quartett zur höchsten Zufriedenheit beendet war, trat -ein vornehm aussehender junger Herr zu Martha und fragte: „Wo hatten -Sie Singstunde, mein Fräulein?“</p> - -<p>„In B., aber nur kurze Zeit.“</p> - -<p>„Man merkt das nicht; Sie singen allerdings mit mehr Freiheit, als eine -junge Dame, die sich noch mitten im<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> Lernen befindet, aber durchaus -nicht, als wären Sie mit der Schule nicht fertig geworden.“</p> - -<p>Der Herr schien einiges von der Musik zu verstehen; sie kamen auf ihre -Lieblingskomponisten, und da er ernst und gehaltvoll sprach, antwortete -ihm Martha gern und freute sich der lebhaften Unterhaltung.</p> - -<p>Frau v. Märzfeld rauschte heran: „Graf T., vielleicht helfen Sie mir -etwas, die Plätze zu arrangieren. Fräulein Feldwart, Ihre Schülerin -wird nach Ihnen verlangen.“</p> - -<p>Martha verneigte sich und ging; es wurde ihr aber heute Abend schwer, -sich mit Fanny zu unterhalten; immer wieder trat der wenig angenehme -Auftritt vor ihr inneres Auge; sie schämte sich so sehr, daß sie nach -dem Gesange auch nur eine Minute unten geblieben war. Sie ertappte -sich einigemal dabei, daß eine Thräne auf ihre Arbeit fiel, und doch -mußte sie sich eingestehen, daß ihr eigentlich nichts Schlimmes -widerfahren sei — sie war ja die Gouvernante; Frau v. Märzfeld hatte -das Recht, zu wünschen, daß sie bei ihrem Kinde bleibe. Sie hatte -sich auch vollkommen davon überzeugt, daß dieser nichts ferner lag, -als sie kränken zu wollen, denn sie war zu anderen Zeiten aufrichtig -dankbar für Marthas Bemühungen um das Wohl ihres Kindes. Sie hielt -es offenbar für ihre heilige gesellschaftliche Pflicht, die Lehrerin -auf der Stufe zu erhalten, die sie für angemessen<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> hielt; aber fast -nichts war dieser so schwer geworden, als dies ruhige, geflissentliche -Hinausgetrieben-werden aus der Stellung, welche sie bisher im Leben -eingenommen hatte. Sie mußte hart kämpfen, dies zu überwinden; es wurde -ihr nicht erleichtert durch Luciens Entrüstung darüber und sie dachte -lebhaft an Pastor Wohlgemuths Worte: „Sie werden klein und niedrig sein -müssen, und das wird gerade für Ihre Natur sehr schwer sein!“ „Darum -schickt es mir der liebe Gott“, dachte sie; „ich will es aus seiner -Hand nehmen und desto mehr für Fanny sein, die es mir sichtlich dankt.“</p> - -<p>Frau v. Märzfeld liebte ihr kleines Mädchen wirklich und sorgte für -dasselbe, so viel es möglich war, ohne in dem gestört zu werden, was -sie als ihre Lebensaufgabe ansah, nämlich ihrer geselligen Stellung -zu genügen und für ihre erwachsenen Töchter gute Partieen zustande zu -bringen. Keine Ausgabe war ihr zu groß, wenn Martha Vorschläge machte, -Fannys Lage zu verbessern und ihr Dasein auszuschmücken. Sie erkannte -auch Marthas Thätigkeit und ihre Erfolge völlig an und sprach dies -sogar zuweilen recht freundlich aus; nur die Kluft zu überbrücken, die -nach ihrer Meinung zwischen ihrer Familie und Martha bestand, das fiel -ihr niemals ein.</p> - -<p>Eines Tages, als Margaretchen im Nebenzimmer nähte,<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> kam diese auf eine -arme Familie zu sprechen, die den Vater plötzlich verloren hatte und -nun in der größten Not war. Fannys weiches Herz war gerührt; sie hätte -gern ihre reich ausgestattete Sparbüchse bis zum letzten Heller den -Armen gegeben. Martha machte ihr begreiflich, daß es nicht richtig und -schön sei, unüberlegt zu verfahren; sie versprach, sich morgen früh -selbst nach den dringendsten Bedürfnissen der Leute zu erkundigen. „Und -dann“, sagte sie, „müssen wir rechnen, ordentlich rechnen; denn wir -müssen etwas behalten für die Geburtstage von Mutter und Schwestern, -für die Missionskasse, für das Rettungshaus u. s. w.“ Und Fanny -rechnete; sie rechnete hier, wo sie einen Zweck vor Augen hatte, mit -Vergnügen, und Martha schöpfte Hoffnung, sie auch in dieser ihr bisher -sehr widerwärtigen Kunst nach und nach weiter zu bringen. Da ihre -kranken Fingerchen nicht imstande waren, Strümpfe für die verwaisten -Kinder zu stricken, lernte sie wenigstens das leichtere Häkeln, um die -Knaben mit Shawls zu versorgen.</p> - -<p>So verging der Winter unter vielerlei Anstrengungen, aber nicht -fruchtlos und nicht freudenlos. Die angefangene Kur hatte die kleine -Patientin so gekräftigt, daß sie nicht mehr gehoben und getragen werden -mußte, sondern sich einige Schritte weit selbständig fortbewegen -konnte. Die Tage wurden, sonnig, die Wege trocken; Fanny ward vom -Diener<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> jeden Tag ausgefahren, und Martha ging dann neben ihr, um sie -aufmerksam zu machen auf Blumen, Bäume, Menschen, schöne Gegenstände in -den Schaufenstern, und all’ die tausend Fragen zu beantworten, welche -das Kind, angeregt durch so viel neue Eindrücke, an sie stellte. Sie -that dies sehr gern, aber sie fühlte doch, daß ihr auf diese Weise die -einzige Zeit zum Ausruhen, zur stillen Sammlung und zum Nachdenken -über ihren nicht leichten Beruf genommen wurde. Der März befreite sie -von diesen Wegen, aber nicht zu ihrer Freude. Fanny bekam den Husten, -und dieser wollte keiner Arzenei oder sonstigen Verordnung des Arztes -weichen; sie war wiederum aufs Zimmer angewiesen und war jetzt, an -mehr Abwechselung gewöhnt, ein eigensinniger Patient. Am ersten April -ging das Hausmädchen ab, um sich zu verheiraten, und Fanny war so -unglücklich bei dem Gedanken, sich einer anderen Hand anzuvertrauen, -daß Martha versprach, sie fortan allein zu pflegen. Das Glück des -Kindes war ein großer Lohn; aber die Nerven, selbst Marthas kräftige -Nerven ließen sich solche Überanstrengung nicht gutwillig gefallen; -sie war zum erstenmal im Leben matt und reizbar, mußte gegen trübe -Gedanken kämpfen und sehnte sich herzlich nach der versprochenen -Übersiedelung nach dem Süden. Sie gehörte nicht zu denen, die viel -über ihr leibliches Befinden zu grübeln pflegen und sich selbst große<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> -Wichtigkeit beilegen; aber sie empfand es mehr, als sie es sich -eingestand, wie schwer es war, daß keiner mehr mit zarter, liebevoller -Fürsorge sie beobachtete und ihr zu helfen suchte, wenn sich in ihren -Gesichtszügen Abspannung, Müdigkeit, Kränklichkeit abmalte. Es wird den -Eheleuten am Altar gesagt, daß ihr Stand „nicht ohne Kreuz“ ist; ach, -ebenso gewiß und fast gewisser kann man vom Stand einer jungen Lehrerin -sagen, daß er „Dornen in die Menge und manches Kreuz trägt“. Ist der -innere Beruf und die volle Fähigkeit dafür vorhanden, dann werden -solche Leidensstunden und Schwierigkeiten überwunden; hat nur Verlangen -nach Freiheit und Selbständigkeit auf diese Bahn gedrängt, so entstehen -daraus schwere Kämpfe, denen oftmals Leib und Seele unterliegen.</p> - -<p>Gegen Ostern kam der Hausarzt, um die Sommerkur mit Frau v. Märzfeld zu -besprechen; seine Entscheidung lautete: „O, Sie brauchen gar nicht so -sehr weit fortzugehen; gehen Sie Mitte Mai mit dem Kinde zur Molkenkur -nach Heyden an den Bodensee, und ist dann etwa nach sechs Wochen der -Husten ganz fort, so bringen Sie Fanny nach Ragatz oder noch lieber -nach Pfäffers in der Taminaschlucht; da wird sie wahrscheinlich bald -erstarken und beweglich werden.“</p> - -<p>Martha schwärmte für schöne Natur; sie wäre gern noch<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> tiefer -hineingekommen in die Wunderwelt der Schweiz; dennoch sah sie der Reise -mit Spannung und großen Erwartungen entgegen. Sobald der Mai erschienen -war, brach man auf. Frau v. Märzfeld hatte ein ganzes Coupé genommen, -um es Fanny bequem zu machen. Am ersten Tage fuhr man bis Frankfurt am -Main bei rieselndem Regen; die Leidende klagte viel über Schmerzen; -Martha bemühte sich, ihre Gedanken davon abzuziehen, indem sie ihr von -den Orten, an welchen sie vorüberfuhren, mancherlei erzählte. Aber so -leise dies geschah, störte es doch Lucie in ihrer Reiselektüre, und sie -äußerte dies sehr vernehmlich durch verwunderte Blicke und ungeduldige -Bewegungen; Judith versuchte anfangs Martha beizustehen, aber das -eintönige Grau rings umher, das Anschlagen der Tropfen an die Fenster -ermüdete sie, und sie schlief bald fest in der einen Ecke, während -in der anderen die Mutter ihre Stirn unaufhörlich mit wohlriechendem -Wasser wusch. In Frankfurt hatte man versäumt, sich Wohnung zu -bestellen, Westendhall war besetzt; man mußte noch am späten Abend von -einem Gasthaus zum anderen fahren, bis man endlich gegen Mitternacht -ein wenig befriedigendes Unterkommen fand.</p> - -<p>Am anderen Morgen ward es heller. Judith und Lucie baten die -Mutter, sich einige Stunden in Heidelberg aufzuhalten und dann in -Ulm Nachtquartier zu nehmen; aber<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> Frau v. Märzfeld wollte lieber -Friedrichshafen erreichen. Alle jungen Köpfe bemühten sich, möglichst -viel aus dem Fenster zu sehen, als der Zug in Heidelberg hielt. Scharen -von Studenten mit ihren großen Hunden konnte man bewundern, wenn man -wollte; aber von der schönen Lage und Umgebung des berühmten Ortes war -vom Coupé aus wenig zu bemerken. Der Tag wurde schwül, die Glieder -schmerzten von der langen Fahrt; die ganze Gesellschaft hatte nur -noch wenig Kraft, die Umgebungen zu betrachten: Fanny weinte, Lucie -stieß ungeduldige Ausrufe aus, Judith seufzte und Frau v. Märzfeld lag -abgespannt in ihrer Ecke. Wie eine Himmelsbotschaft klang endlich spät -am Abend die Stimme des Schaffners: „Friedrichshafen, aussteigen!“ -Sie waren bald in dem geräumigen, sauberen Gasthofe untergebracht, -und Fanny streckte sich recht mit Wohlbehagen in ihrem Bette aus, als -Martha ihr sagte: „Morgen fahren wir nur noch mit dem Dampfschiff -über den See, da sehen wir den Säntis und die Appenzeller Berge alle -vor uns, dann geht es eine kleine Stunde mit der Zahnradbahn den Berg -hinauf nach Heyden.“ Martha wachte noch lange und seufzte: „Ach; wenn -nur morgen, nur morgen schönes Wetter ist!“</p> - -<p>Sie lauschte; lauschte: es klang wie ein leises Rauschen; war das der -See? Mit dem ersten Tageslichte erhob sie<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> sich und zog leise die -Gardine vom Fenster. Grauer Nebel wogte draußen, die Fenster gingen -nach einem Rasenplatze, vom See war nichts zu sehen. „Es muß noch sehr -früh sein“, dachte sie, legte sich wieder nieder und schlief ermüdet -ein. Als das Hausmädchen, wie es versprochen, um 6 Uhr anklopfte, war -das Wetter noch ebenso. Martha war sehr betrübt darüber: sie hätte so -gern den Säntis gesehen. Fanny freute sich auf das Dampfschiff; sie war -ruhiger.</p> - -<p>Als man nach einer Stunde aufs Schiff kam, hatte der Regen, der sich -die ganze Nacht über ergossen, nachgelassen, und der See wurde nach und -nach nebelfrei; seine Wellen kräuselten sich im frischen Morgenwinde. -An der östlichen Ecke des weiten Wasserbeckens tauchte Bregenz auf, -aber die Vorarlberge, an deren Fuße es liegt, waren noch verhüllt, und -vom Schweizer Ufer konnte man nur dämmernde Umrisse erkennen. Erst -als man sich Rorschach näherte, zerriß die Wolkenhülle, aber nun war -man den Bergen zu nahe, um mehr als die Vorhügel zu überblicken. Das -weite, jetzt blaue Wasserbecken übte dennoch einen großen Reiz aus, -und besonders Fanny war glücklich, mitten auf dem Verdeck in ihrem -Rollstuhl ruhend, so sanft hinüberzugleiten ans andere Ufer. Der Weg -nach Heyden hinauf war lieblich und kurz. Wie blau erschien der See -bei dem Dorfe Wynachten! In Heyden war ihnen durch den dortigen<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> Arzt -Wohnung bestellt, eine der älteren Pensionen nahm unsere Reisenden auf. -Martha teilte ihr Zimmer mit Fanny; es hatte die lieblichste Aussicht -von der Welt. Dicht unter dem Fenster begannen die grünen Matten, -die in der schönsten Frühlingsüppigkeit standen, hin und wieder von -bewaldeten Hügeln, Gesträuch und Obstbäumen unterbrochen, aus deren -Mitte die hellen Wände niedlicher Häuser hervorglänzten; tief unten -und doch so nahe erscheinend, als könne man ihn mit wenigen Schritten -erreichen, lag wie ein aufgeschlagenes, schimmerndes, blaues Auge der -See, an seinem gegenüberliegenden Ufer Lindau und Friedrichshafen, -so deutlich, daß man jedes Fenster unterscheiden konnte; rechts die -Vorarlberge und Bregenz, links schweifte der Blick übers Württemberger -Land. Die beiden Mädchen konnten sich nicht satt sehen; sie öffneten -das Fenster und sogen die unbeschreiblich milde Luft mit Wohlbehagen -ein. Sie sollten heute noch auf ihrem Zimmer speisen; zum Vesperbrot -wollte dann Fanny versuchen, die wenigen Schritte bis zum Speisesaal zu -gehen.</p> - -<p>Ein freundliches, älteres Mädchen in einfacher Kleidung brachte gute -Suppe, Rindfleisch mit einem Gemüse von getrockneten Äpfeln und -gerösteter Semmel, und Braten, den sie im ersten Augenblicke seiner -hohen Fettkruste wegen für Schweinebraten hielten, der sich aber dann -als der Rücken<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> eines gut gemästeten Kalbes auswies. Es schmeckte -den beiden Gereisten trefflich, und selbst die Zusammenstellung von -Rindfleisch und Äpfeln, die ihnen neu war, fanden sie ganz schmackhaft, -als sie davon gekostet.</p> - -<p>Während Frau v. Märzfeld schlief, erschienen Judith und Lucie.</p> - -<p>„Nun, das muß man sagen“, rief die erstere entrüstet, „in eine feine -Pension hat uns der Doktor K. gebracht! Nicht ’mal ein Kellner! Der -Wirt wartet selbst auf; ein Mädchen mit einer dicken, rotgestreiften -Schürze bringt die Speisen herein, — und dieser Küchenzettel! Nein, — -und Lucie, sieh hier dieses Möbel!“</p> - -<p>Lucie mußte auch lachen, als sie sich im Zimmer umsah; es war -weißgestrichen mit einer grauen Kante und kleinen, grünen Blumen. In -der Ecke desselben stand ein mächtig großer, zweithüriger Schrank, -himmelblau angestrichen, an der Seite mit den schönsten Blumen- -und Fruchtstücken in den leuchtendsten Farben verziert, vorn die -Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall deutlich abgebildet. Ein Sofa -hatte das Zimmer nicht, aber zwei Betten mit guten Matratzen und einen -alten, bequemen Lehnstuhl, mit buntem Kattun überzogen, in dem Fanny -behaglich saß.</p> - -<p>„Ich weiß nicht, Judith, mir gefällt alles sehr; es ist einmal anders -wie sonst, und es schmeckt mir viel besser,<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> als jemals zuhause!“ -Martha hatte Ähnliches gedacht; die Aufwärterin mit ihrem guten, -teilnehmenden Gesichte erschien ihr viel gemütlicher als ein befrackter -Kellner, und ein Blick aus dem Fenster ließ die Dekorationen im Inneren -des Zimmers nur wenig vermissen.</p> - -<p>Am Nachmittag ging Fanny mit in den Speisesaal; sie waren heute noch -allein darin, weil die anderen Gäste ausgeflogen waren. Frau v. -Märzfeld betrachtete mit sehr unzufriedenen Blicken die Tischdecke aus -braungeblümtem Kattun, aber was darauf stand: Kaffee, Milch, Weißbrot, -Butter und Honig, das war unübertrefflich. Noch bevor es ans Auspacken -ging, erschien der Arzt.</p> - -<p>„Mein bester Doktor“, sagte Frau v. Märzfeld, nachdem man sich ins -gemeinsame Wohnzimmer zurückgezogen hatte, „in was für eine Pension -haben Sie uns gebracht! Sollte es in dem großen Heyden keine elegantere -und anständigere geben?“</p> - -<p>„Gewiß haben wir elegantere, gnädige Frau; für anständig halte ich -aber diese sehr, und ich weiß keine, die ihre Patienten gewissenhafter -und besser versorgt; überdem ist hier gerade die Luft und die Aussicht -besonders schön; ich dachte, es würde unserer jungen Patientin hier -wohl sein. Wie steht es damit, Fräulein?“ fragte er, zu Fanny gewendet.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span></p> - -<p>„O, mir gefällt’s ganz gut!“ sagte diese; „ich möchte gar nicht fort -von hier!“</p> - -<p>„Glauben Sie, daß ich meine Tochter mit ihrer Erzieherin bei diesen -Leuten allein zurücklassen kann?“</p> - -<p>„Gewiß, es sind ganz zuverlässige Wirte, und das Dienstmädchen, die -Anna aus Oberösterreich, die ist ein wahrer Schatz; je kränker einer -ist, desto lieber hat sie ihn.“</p> - -<p>„Dann werde ich mich nur wenige Tage hier aufhalten; ich bin in der -That ganz andere Umgebungen gewohnt!“</p> - -<p>Es blieb dabei! Am zweiten Morgen nahm die Mama mit den beiden ältesten -Töchtern Abschied, um eine größere Reise anzutreten nach den schönsten -Punkten der Schweiz. Fanny winkte ihnen mit ihrem Taschentuche -Grüße zu, die sie freundlich erwiderten; Martha sah ihnen nach mit -sonderbaren Gedanken und Gefühlen: sie war noch in den Jahren, wo -man sich gern Illusionen macht! Nach der Schweiz, nach der Schweiz -hatte ihr Sinn gestanden, so lange sie lebte; und nun war sie hier, -festgebunden an diesen zwar lieblichen, aber wenig großartigen Fleck. -Da Fanny jetzt kein Mädchen hatte, wagte sie auch nicht auf Stunden -dieselbe zu verlassen. Sie war gefesselt an den Rollstuhl ihrer -Schülerin, den ein dazu gemieteter Diener jeden Morgen zum Trinkplatz, -jeden Nachmittag zu dem kleinen Gehölze hinausschob, in welchem man zur -Bequemlichkeit der Sommergäste<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> Wege und Bänke angelegt hatte. Es war -dies fast der einzige Ort, wo man im Schatten wandeln konnte! Es ist -schwerer als man denkt, mit voller Gesundheit und rüstiger Kraft mitten -hinein gesetzt zu sein in eine so schöne Natur, zu wissen: dürftest du -jetzt eine Stunde oder zwei steigen, so hättest du alle Herrlichkeit -der Alpenwelt vor Augen, nach der du dich lebenslang gesehnt; und dann -all dies Verlangen zügeln zu müssen, ja, es verbergen vor den Augen -eines geliebten Kranken!</p> - -<p>Martha strebte hiernach mit dem besten Willen; aber ungerufen tauchten -wieder und wieder Gedanken in ihr auf, deren sie sich schämte.</p> - -<p>„Warum muß ich nur hier sitzen bei der kleinen Kranken? würde ich -nicht mehr Genuß haben an den Bergen, Gletschern und Seen als Frau -v. Märzfeld und Lucie, die schließlich doch nur nach den Außendingen -fragen?“</p> - -<p>Es sitzt in jedem natürlichen Menschen, wenn auch noch so verborgen, -ein kleiner Sozialdemokrat. Man mag nur auf sich achten! Man ist -darum noch nicht zufrieden und genügsam, wenn man prächtige Kleider, -feine Speisen, eine bequeme Lebensweise gern entbehrt; dies ist für -manche Naturen gar nicht schwer; aber fast für jeden giebt es einen -Punkt, nach welchem seine Wünsche besonders lebhaft gehen, nach dem -seine innerste Neigung gerichtet ist; gewöhnlich<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> faßt der liebe Gott -in der Lebensschule seine Kinder bei diesem Punkte an, und nur wenn -es gelingt, sich zu unterwerfen und den innern Rebellen zu besiegen, -giebt es vollen Frieden in der Brust. Martha hatte an Fanny ein gutes -Vorbild. Seitdem ihre Sehnsucht nach genügender Teilnahme, Unterhaltung -und Beschäftigung gestillt war, konnte man nicht zufriedener sein als -sie. Heyden brachte ihr überdies eine Menge neuer Eindrücke, die sie -fortwährend anregten und erheiterten.</p> - -<p>Am Morgen zwischen sechs und sieben Uhr kam der „Schottenfranzerl“ -— Schotten nennt man dort die Molken — mit seiner heißen Butte von -der Ebenalp herunter, doppelte wollene Decken zwischen der Butte und -dem Rücken, damit er sich nicht verbrenne. Zwischen zwei und drei Uhr -morgens ging er vom Säntis weg, um sechs Uhr erschien er in Heyden — -welch eine beschwerliche Tour! nur die stärksten Männer konnten dazu -verwendet werden. Der Franz sah gar schön aus, wenn er mit seiner -Last so leicht auftrat, als ginge es zum Tanze; den spitzigen Hut mit -der Auerhahnfeder auf dem Kopfe, unter der roten Weste den breiten -Ledergurt, auf dem das liebe Hornvieh sich im blanksten Messing -getrieben präsentierte, ein Abzeichen seines Standes. Die Molke war -beim Ausschenken noch zu heiß, um sie sogleich zu trinken, und Fanny, -die so viel Sinn<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> für Humor hatte, belustigte sich im stillen über -die verschiedenen Auffassungen und Anstrengungen der Gäste bei ihrem -Genusse. Einige schluckten verdrießlich und widerwillig, andere, -als besorgten sie die wichtigste Arbeit ihres Lebens; noch andere -scherzten und lachten dabei; und je besser Luft und Kur ihr bekamen, -je größer die Strecken wurden, welche sie jetzt an Marthas Arme -zurücklegen konnte, desto mehr Lust bekam sie, sich dem heiteren Teile -der Gesellschaft zuzugesellen. Das Frühstücksnäpfchen mit der braunen -Mehlsuppe darin hatten beide Mädchen zuerst sehr bedenklich angesehen, -doch redete die Anna aus Oberösterreich zu: „Esse Sie nur, ’s ischt -gut, ’s ischt sehr gut!“ Sie aßen und es bekam ihnen wohl.</p> - -<p>Bei ihren kleinen Reisen durch den Ort zogen die Gardinenweberinnen, -die man durch die niedrigen Fenster arbeiten sehen konnte, meist -noch junge Mädchen, ihre Aufmerksamkeit auf sich; auch die alten, -ungemein sauber gekleideten Weiblein, die Gardinen stickten, und -die geschickten Stickerinnen, welche die superfeinen Taschentücher -und Kragen lieferten, die „beim Sturzenegger“ auslagen. Manche -Regenstunde wurde dort in dem anziehenden Geschäfte zugebracht, manches -Geldstück wanderte aus Fannys Sparbüchse, indem sie sich hier mit -Geburtstagsgeschenken für Mutter und Schwestern versorgte.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p> - -<p>Eine neue Freude war ihr der Sonntag; sie hatte in M. nicht mit zur -Kirche gehen können; hier in Heyden kam der Wirt am Sonntagmorgen, -brachte jedem seiner Gäste ein Gesangbuch und teilte mit, um neun -Uhr werde man zur Kirche gehen. Nun wurde ihm von manchem Gaste das -Gesangbuch dankend zurückgegeben; das nahm er freundlich und ruhig hin; -er hatte nun seine Schuldigkeit gethan.</p> - -<p>Martha und Fanny, letztere in ihrem Rollstuhle, schlossen sich gern dem -Zug der Kirchgänger an, den der Wirt anführte. Obgleich die ziemlich -neue Kirche nur Stahlglocken hatte, erschien es doch beiden Mädchen, -als hätten sie nie so etwas Schönes gehört als dies Geläute, wie es in -der frischen Morgenluft über den blauen See hinüber klang; so recht -volle Sonntagsfreude zog in ihre Herzen ein, und sie lernten bald -sich zurechtfinden in dem vollen vierstimmigen Gemeindegesang. Auch -der Pastor verstand es wohl, die Herzen auf das Eine hinzuweisen, was -notthut, und so meinte Fanny, der Sonntag könne wohl in der ganzen Welt -nicht so schön sein, wie hier oben in Heyden.</p> - -<p>Des Abends, wenn die anderen Hausgenossen teils noch promenierten, -teils nach dem Kurhause gegangen waren, um in größerer Gesellschaft zu -sein, saßen unsere beiden Mädchen mit dem Wirt, der Wirtin und der Anna -aus Oberösterreich vor der Thür oder im Zimmer; der Wirt hatte<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> dann -eine blaue Schürze um und rüstete mit seiner Frau zusammen das Gemüse -oder Obst für den anderen Tag, wobei Martha gern half; eine Köchin -gab’s in der Pension nicht. Dann erzählte der Wirt aus seinem bewegten -Leben. Er stammte aus Vorarlberg, war schon als Knabe hinausgezogen -ins Land mit Quirlen und Löffeln, hatte Menschen, Gegenden und -Verhältnisse kennen gelernt, und seitdem er die Margaret in St. Gallen -zuerst gesehen, da war er sehr sparsam geworden und hatte es zuletzt -so weit gebracht, sich in Heyden ein Häuschen zu kaufen, in das er -diese Margaret geführt; aus dem Häuschen war ein Haus geworden und eine -bekannte und angesehene Pension. Beide Mädchen hörten ihm gern zu; -Martha machte die Bemerkung, daß man mit offenen Augen und gesundem -Sinne auch ohne Bücher recht viel lernen kann.</p> - -<p>Die Pension hatte sich indessen mehr und mehr mit Fremden gefüllt; -mittags erschienen außerdem noch Gäste aus dem Ort, und da sie aus -aller Herren Ländern zusammenkamen, wurde die Unterhaltung abwechselnd -französisch, englisch und deutsch geführt.</p> - -<p>Marthas Nachbar war ein Amerikaner, der sich englisch mit ihr -unterhielt. Fanny hatte zwar einige englische Stunden gehabt, es aber -nicht so weit gebracht, den Fremden zu verstehen, und da er sehr -interessant zu erzählen<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> pflegte, so übersetzte es Martha gewöhnlich -ihrem Zögling.</p> - -<p>Eines Mittags bemerkte es der Fremde: „O, ich kann es der kleinen Dame -gleich deutsch erzählen.“</p> - -<p>„Sie sprechen nicht wie ein Ausländer“, sagte Martha.</p> - -<p>„O, ich stamme aus Deutschland, bin freilich schon in der Jugend nach -den Vereinigten Staaten gegangen, und hätte gewiß meine Muttersprache -verlernt, wenn ich mich nicht mit meinen Nachbarn Eichhorn und Kraus in -St. Joseph grundsätzlich nur deutsch unterhielte.“</p> - -<p>Kraus! St. Joseph! Ach, das mußte Siegfrieds Onkel sein!</p> - -<p>„Stammt Ihr Nachbar Kraus aus Sachsen?“</p> - -<p>„Ja wohl, aus der Nähe von Leipzig.“</p> - -<p>Marthas Herz klopfte, sie konnte kaum sprechen.</p> - -<p>„Ich kenne einige Glieder seiner Familie; geht es ihm wohl?“</p> - -<p>„Sehr wohl“, sagte der Nachbar. „Er hat vor etwa fünf Jahren in seinem -Alter noch geheiratet und hat jetzt zwei prächtige Buben.“</p> - -<p>Es wurde Martha schwer, weiter zu fragen; aber die Qual der Ungewißheit -war zu groß.</p> - -<p>„Ich hörte, er habe sich seinen Neffen nachkommen lassen!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span></p> - -<p>„Dies muß ein Irrtum sein; ich habe ihn vor meiner Abreise noch -besucht; er hatte niemand bei sich als seine Frau und Kinder, hat auch -nie von einem Neffen gesprochen. Doch — warten Sie! Ja, vor langer -Zeit, ehe er heiratete, sagte er mir, er habe einen Neffen gebeten, zu -ihm zu kommen, aber der Schlingel wollte nicht.“</p> - -<p>Arme Martha! Für das, was man nun noch sprach, war sie taub und gab dem -Nachbar einige recht verkehrte Antworten. Was war das? War Siegfried -unterwegs verunglückt? Hatte er von der Verheiratung des Onkels gehört -und sich wo anders hingewendet? Bis jetzt hatte sie wenigstens für -ihre Gedanken einen Zielpunkt gehabt, die Gegend, in welcher sein -Onkel sich niedergelassen; nun war auch dies vorüber. Ach, so oft -hatte sie versucht, sich innerlich gefaßt zu machen auf ein Leben ohne -ihn; jetzt merkte sie, wie die Hoffnung im Hintergrunde ihres Herzens -immer noch gewohnt und ihre Zauberfäden gesponnen hatte. Sie sehnte -sich ganz unaussprechlich nach einem Wesen, dem sie sich mitteilen, -bei dem sie sich ausweinen könnte. Sie ergriff die Feder, um Suschen -alles zu erzählen; da kam der Briefträger und brachte ihr einen Brief -der Freundin. Sie zeigte den Tag ihrer Hochzeit an und bat, daß Martha -ihrer fürbittend gedenken möge, da sie doch leider, leider nicht -dabei sein könne. Auf diesen Brief konnte sie keine<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> klagende Antwort -schicken; er war so glücklich, so strahlend glücklich bei allem Ernst.</p> - -<p>Fanny ruhte auf ihrem Lager, wie gewöhnlich nach Tische, Martha schlich -sich ins grüne Hausgärtchen; nicht weit vom Bienenstand war eine Laube, -da konnte sie sich ausweinen.</p> - -<p>Ach, ihre Thränen flossen unaufhaltsam! All’ die zurückgedrängte -Sehnsucht der letzten Jahre wollte zu ihrem Rechte kommen. Sie -schluchzte wie ein Kind und erschrak sehr, als der Eingang der Laube -durch einen Schatten verdunkelt wurde. Es war nur die Anna.</p> - -<p>„Haben das Fräulein Kummer?“</p> - -<p>„Ja, Anna, den hab’ ich!“</p> - -<p>„Ist Euch was Liebes tot, oder sollt Ihr Euer Schatzerl nit haben? -Sagt’s den lieben Heiligen, die hab’n schon oft geholfen. Jetzt hab’ i -halt kai Zeit zum Bete; aber wenn i na Haus komm’, will ich’s wohl der -heiligen Anna sagen; die ist sehr gut und hilft schon!“</p> - -<p>Martha hätte sagen können, daß sie lieber Gott anrufen solle; aber Anna -hatte eine so kindliche Zuversicht auf die heilige Schutzpatronin, daß -sie es nicht übers Herz brachte, sie darin irre zu machen; sie dachte: -wenn sie so warm und gläubig zur heiligen Anna spricht, sieht es -vielleicht der himmlische Vater an, als sei es ihm gesagt, und so sagte -sie: „Ich danke Ihnen, Anna, thun Sie das!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span></p> - -<p>Als aber Anna fort war, kam es doch wie eine stille Freude über sie, -daß sie ja keine heilige Fürsprecherin brauchte, daß sie konnte und -durfte gerade zu ihrem Vater gehen und ihr Herz vor ihm ausschütten; -sie that es, und das hilft jedesmal. Wenn auch ihr Herz nicht leicht -danach wurde, es wurde doch stille und ergeben, und sie konnte mit dem -warmen, aufrichtigen Vorsatze zu ihrer Pflegebefohlenen zurückkehren, -die Wolken und das Weh für sich zu behalten und so viel Sonnenschein -als möglich auf Fannys Lebensweg auszugießen. Wenn sich der Sturm im -Innern gelegt hat, tritt auch die Besinnung und verständige Überlegung -wieder in ihr Recht und entkleidet das Erlebte von allen Übertreibungen -der Phantasie. Was hatte sie denn so Schlimmes vernommen? Nur, daß -Siegfried nicht bei seinem Onkel war; konnte er nicht an irgendeinem -anderen Orte sich eine Existenz gegründet haben? War es denn unmöglich, -daß er dennoch zu ihr zurückkehrte?</p> - -<p>Um vieles beruhigt holte Martha ihre Schülerin ab zum Kaffee in dem -kleinen Saal. Sie fanden neue Ankömmlinge: eine sehr durchsichtig und -zart aussehende Mutter und ein rosiges Töchterchen von etwa dreizehn -Jahren; Frau Präsidentin v. B. und ihre Tochter Friedericke.</p> - -<p>Die beiden Kinder betrachteten sich schüchtern, aber mit sehr -vergnügten Gesichtern. Frau v. B. sah mit mütterlicher<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> Teilnahme -auf das zarte, hilfsbedürftige Mädchen, und nachdem es Martha ihrem -Zöglinge so bequem als möglich gemacht, veranlaßte sie die gegenseitige -Vorstellung.</p> - -<p>„Siehst du, Friedericke, da ist ja ein junges Mädchen, wie du es dir -gewünscht hast.“</p> - -<p>Friedericke nickte.</p> - -<p>„Ich kann freilich noch nicht mit herumspringen“, sagte Fanny, „aber -ich lerne es bald; ich kann jetzt schon vom Freihof bis zur Kegelbahn -laufen.“ Dabei sah sie sehr stolz und glücklich aus.</p> - -<p>Frau v. B. erkundigte sich sehr teilnehmend nach dem Leiden der Kleinen -und erfuhr, daß sie von hier nach Ragatz oder Pfäffers gebracht werden -sollte.</p> - -<p>„Ach, wenn es doch Pfäffers wäre“, rief Friedericke; „dort badet Mama -einige Wochen, und dort ist es so — ach so — ich weiß gar nicht, wie -ich sagen soll — so geheimnisvoll und schauerlich und doch so schön! -Man wohnt eigentlich bei den Erdgeisterchen selber. Ach, Fanny, bitte -immer zu, daß ihr nach Pfäffers kommt; es wird so sehr hübsch sein, -dort Gesellschaft zu haben.“</p> - -<p>Friederickens lebhafte Schilderungen waren ganz dazu gemacht, Fannys -Verlangen nach dieser Wunderwelt zu steigern, und sie hoffte ihre -Mutter zu überreden, auf ihre Wünsche einzugehen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p> - -<p>Es war sehr ergötzlich, zu sehen, wie die beiden Kinder sich mit -jedem Tage näher kamen. Friedericke kannte bald keine größere Lust, -als ihrer schwachen Gefährtin all’ die kleinen Dienste zu leisten, -deren sie bedurfte, sie an ihrem Arm auf ihr Zimmer zu führen oder -aus demselben abzuholen. Fanny ließ sich das sehr gern gefallen, -aber der Wunsch erwachte in ihr, es vergelten zu können, und als die -Präsidentin eines Tages sehnend nach ihrer Handarbeit ausschaute, -welche auf einem fernen Tische lag, stand sie leise und unbemerkt auf -und fühlte mit innerlichem Frohlocken, daß es nicht mehr zu schwer für -sie war, dieselbe zu holen und der Eigentümerin zu bringen. Diese sah -sie überrascht und sehr erfreut an, aber das Kind erglühte förmlich -in Wonne; es war das erste Mal, daß sie jemandem einen Dienst hatte -leisten können.</p> - -<p>Die Unterrichtsstunden mußten natürlich hier in freierer Gestalt -gegeben werden wie zuhause, aber Martha hatte sie nie ganz fallen -lassen. Jetzt fragte Frau v. B., ob Friedericke nicht daran teilnehmen -dürfe; sie war natürlich viel weiter, aber immerhin ließen sich -Gegenstände auffinden, die beide Kinder gleichmäßig interessierten, und -Martha fand, daß die Gemeinschaft ein herrlicher Sporn für Fanny war.</p> - -<p>Frau v. Märzfeld und ihre Töchter hatten häufig Nachricht gegeben; sie -hatten den Züricher See besucht, den Vierwaldstädter<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> See mit seinen -herrlichen Umgebungen, auf dem Rigi mehrere Tage zugebracht, und waren -jetzt seit einigen Wochen in Montreux am Genfer See.</p> - -<p>„Aber nun“, schrieb Lucie, „kommen wir auf dem nächsten Wege. Wir -sehnen uns nach dem Kinde und etwas mehr Ruhe, und werden im Laufe -der nächsten Woche eintreffen, um mit Euch nach Ragatz oder Pfäffers -überzusiedeln.“</p> - -<p>Fanny jubelte, und auch Martha, obgleich sie sich sagen mußte, daß ihr -Leben ferner nicht in so angenehmer Ruhe verlaufen werde, wie es jetzt -der Fall war, freute sich doch mit aufrichtigem Herzen darauf, der -Mutter und den Schwestern die Fortschritte zu zeigen, welche des Kindes -Genesung inzwischen gemacht hatte.</p> - -<p>Ein wunderbar schöner Tag stieg nach mehreren recht unfreundlichen -über Heyden auf; die sämtlichen beweglichen Pensionsgäste beschlossen -eine Tour auf den Kaien zu machen, unter Führung ihres Wirtes; da oben -sollte eine herrliche Aussicht auf das Gebirge sein. Marthas Herz -schlug in großem Verlangen. Eine Stunde vor Tische ließ Frau v. B. sie -rufen.</p> - -<p>„Mein liebes Fräulein Martha“, sagte sie, „ich habe eine große Bitte. -Mein Kind ist nun schon wochenlang hier und hat noch keinen Blick aufs -Gebirge gehabt. Ich möchte<span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span> ihr so gern den Spaziergang heute gönnen, -aber sie nicht allein mit den fremden Gästen gehen lassen. Ihr kleiner -Zögling brennt ebenfalls vor Verlangen, Ihnen den Genuß der Bergfahrt -zu verschaffen; und so haben wir uns zusammen ausgedacht, wir wollten -diesen Nachmittag tauschen: Sie nehmen meine Wilde unter Ihren Schutz -bei der Bergbesteigung, und Fanny kommt als meine Tochter zu mir, bis -Sie wieder da sind.“</p> - -<p>Dies war verlockend. Es stiegen wohl Bedenken in Martha auf: „Wenn ich -nur hätte Frau v. Märzfeld fragen können!“ Aber das ging ja nicht. -Fanny und Friedericke baten und drängten; sie selbst war überzeugt, -daß Frau v. B.s Aufsicht die ihrige überreich ersetzte. Ach, und sie -war so glücklich in Erwartung der Gebirgsaussicht — sie gab nach und -ging mit. Der Wirt führte so an der Berglehne hinauf, daß man unterwegs -keine andere Fernsicht hatte als den Rückblick auf Heyden; der Pfad -war meistens sehr steil und oft schattenlos; die Sonne brannte, aber -die Aussicht winkte und die Gesellschaft überstand die Strapazen mit -fröhlichem Mute. Jetzt noch durch dies Buschwerk, jetzt diesen Rand -hinauf! und Martha stand oben und legte die Hände zusammen und ihre -Augen füllten sich mit Thränen, denn sie umfaßten in ihrem engen Rahmen -ein Bild, wie es die Phantasie nicht schöner hätte malen können.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span></p> - -<p>Da lagen sie ihr gegenüber, die Schneefelder des Säntis; da ragten die -riesigen Nachbarn desselben, der Kamor, Hohekasten, Altemann, Tödi in -die blaue Luft; weiter östlich die Vorarlberger und Lichtensteiner -Gebirge; in der Ferne die weiße Kette des Rhätikon mit der Sasaplana. -Auf der anderen Seite dehnte sich am weiten, blauen See der Thurgau -aus mit Trogen, Vöggeliseck, Speicher; darüber weit in der Ferne der -Pilatus und der Rigi.</p> - -<p>„O, hätt’ ich Flügel, hätt’ ich Flügel!“</p> - -<p>Friedericke neben ihr sprang hoch in die Luft und stieß einen Juchzer -aus, als habe sie denselben vom Senn erlernt; Martha konnte nicht -sprechen. O, dieses eine Bild, war’s nicht genug, um lebenslang manche -einsame Stunde mit seinem Lichte zu erhellen? Sie sah und sah; sie -hätte nichts davon verlieren mögen, auch nicht das Kleinste.</p> - -<p>„Komme Sie doch hier hinter den Stein und nehme Sie a Schöppeli -Markgräfler!“ rief der Wirt wieder und wieder.</p> - -<p>Der Rat war gut, aber es dauerte lange, ehe unsere jungen Gefährtinnen -den Entschluß faßten, sich von der herrlichen Aussicht loszureißen -und Ruhe und Erquickung zu suchen. Dann war es behaglich, nach -der Anstrengung im Schatten zu sitzen, sich an den mitgebrachten -Erfrischungen zu laben und mit den Reisegenossen heitere Gespräche -zu<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> führen. Die Gesellschaft wurde sehr vergnügt und niemand merkte, -daß sich der Himmel umzogen hatte, bis die Stimme aus den Wolken -vernehmlich zu reden anfing. Da sprang denn freilich alles auf die -Füße; noch einmal ward die Rundschau genossen, aber nur sehr flüchtig. -Das Wetter zog vom Rheinthal herauf, und der Wirt meinte, es könne „a -rechts“ Wetter werden; von da könnt’ es oft nicht über den See: „Wir -müssen auf die Sennhütten zu halten!“</p> - -<p>Dies geschah ohne Besinnen; sie lagen nicht allzu weit unterhalb der -Berghöhe, und mit den ersten schweren Tropfen wurde man eingelassen -in den zwar nicht mit Bequemlichkeiten ausgestatteten, aber immerhin -trockenen und geschützten Raum. Es war sehr gut, ein Dach über sich -zu haben; der Regen fiel in Strömen nieder und prasselte auf das -Schindeldach und gegen die kleinen Fenster; der Sturm brüllte, als -wollte er das Häuschen mit sich entführen; ein leuchtender, greller -Blitz jagte den anderen und der Donner rollte majestätisch durch den -Aufruhr hin, seine Stimme pausierte höchstens minutenlang, wie um Atem -zu schöpfen. Die Gesellschaft lauschte still der großartigen Musik; -selbst Friedericke, die so gern lachte, schmiegte sich ernsthaft an -Martha an. Diese, äußerlich gefaßt und ruhig, wurde innerlich sehr -gequält durch die Sorge um Fannys Angst und infolge davon um ihre -Gesundheit. Sie sah mit Sehnsucht<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> nach dem kleinen Streifchen Himmel, -welches zu sehen war, ob es noch nicht heller werden wollte, — -vergebens! Wenn der Sturm eine Minute geschwiegen, brüllte er in der -nächsten mit vermehrter Gewalt; wenn die Stimme des Donners ferner zu -klingen schien, grollte sie gleich danach aus einer anderen Ecke um so -näher. Stunde auf Stunde verrann: zur Finsternis des Himmels gesellte -sich bald das Dunkel des hereinbrechenden Abends und endlich die -Finsternis der Nacht.</p> - -<p>Da endlich wurde es stiller; der Donner rollte ferner und ferner, -blasser und blasser leuchteten die Blitze, einzeln nur noch fielen die -Tropfen aufs Dach, dann hörte man keinen mehr.</p> - -<p>Man öffnete die Thür der Hütte; durch die zerrissenen Wolken blickten -einzelne Sterne, die Luft war unbeschreiblich schön und frisch, aber -der ganze Berg nur ein einziger großer Wasserfall. Der Wirt und die -Sennerin erklärten es für völlig unmöglich, hinabzugehen, bevor man -Tageslicht habe. Letztere holte frische Milch herbei, erbot sich auch, -Schmarren zu backen, wenn man es wollte. Es wurde dankend angenommen -und fröhlich verzehrt, nur Martha lag es wie ein Alb auf der Brust und -sie stieß mehrmals hervor: „Ach, wie sie sich zuhause ängstigen werden!“</p> - -<p>„Ich glaube nicht so sehr“, sagte Friedericke. „Mama<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> weiß, daß wir in -Gottes Schutz sind und bei verständigen Menschen; Anna wird ihr gewiß -von den Sennhütten erzählen, und sie werden es sich denken, daß wir -hier sind. Geben Sie acht, sie tröstet auch Fanny und läßt sie nicht -von sich.“</p> - -<p>Das klang alles ganz wahrscheinlich, aber es war ihr Gewissen, das ihr -die Zuversicht raubte; das ganze Erlebnis kam ihr vor wie eine Strafe -ihrer Untreue und sie konnte sich die Folgen desselben nicht schwarz -genug ausmalen. Die Vorbereitungen zur Nachtruhe waren etwas schwierig; -die Gesellschaft bestand aus etwa zehn Personen. Die Herren mußten sich -mit ihren Plaids in der Nähe des Herdes einrichten, die Frauen wurden -oben im Heu untergebracht; dort war es sehr warm, und eine dicke, -nicht mehr junge Dame, der noch dazu die Sennerin ihr eigenes Lager -abgetreten hatte, stöhnte unaufhörlich, während zwei junge Französinnen -durchaus nicht aus dem Lachen kommen konnten. Friedericke war bald -eingeschlafen; Martha saß, sorgte, bat den lieben Gott um Vergebung und -rief ihn um Hilfe für ihren Zögling an, und erst, als der Morgenschein -durch die Ritzen des Daches drang, fielen ihr mitten in dem Gedanken: -„Jetzt können wir bald hinunter!“ die müden Augen zu, und sie erwachte -erst, als sie das muntere Gespräch ihrer Reisegefährten vernahm, die an -der offenen Thür der Hütte den Heimweg<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> berieten. Es war ein frischer, -schöner Morgen. Zerrissene Wolkenschichten flogen, vom Winde getrieben, -am Himmel dahin; in den Thälern zog hier und da noch ein Nebelschleier -hin und her; die Berghäupter, so viel man deren hier sehen konnte, -waren frei, und das Stücklein See, das sich zeigte, strahlte im -frischesten Blau. Aus allen Klüften rieselte und rauschte es, auf allen -Halmen perlte und glänzte es; die Kühe, die eben gemolken wurden, -brüllten der Freiheit entgegen: es war ein lachendes Morgenbild; nur -der Pfad, welcher hinabführte, sah noch sehr schlüpfrig und wenig -einladend aus.</p> - -<p>Martha und Friedericke trugen tüchtige Bergschuhe, aber einige der -älteren Herrschaften seufzten schwer und blickten mit Grauen die -abschüssige Bahn hinunter. Nachdem man sich mit frischer Milch erquickt -hatte, ging es hinab unter manchem „Ach“ und „Weh“, unter manchem -Fallen und Wiederaufstehen; nur unsere jungen Freundinnen blieben fest -auf den Füßen und konnten zuweilen noch verzagten Seelen die Hand -reichen, um ihnen über bedenkliche Stellen fortzuhelfen. Der Senn war -soeben mit seinem Mundschenkenamte fertig, da bogen die Wanderer in die -Straßen von Heyden ein.</p> - -<p>Die Wirtin kam ihnen in der Thür entgegen; sie schien das Ausbleiben -des Mannes und der Gäste mit großem<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> Gleichmut ertragen zu haben; es -mochte wohl schon öfter vorgekommen sein.</p> - -<p>Martha flog an ihr vorüber die Treppe hinauf und öffnete leise ihr -Zimmer.</p> - -<p>Mit lautem, glücklichem Aufschrei streckte ihr Fanny die Arme -entgegen, während die Präsidentin vom Lehnstuhl am Bett sich erhob und -unbeschreiblich überwacht und elend aussah.</p> - -<p>„Siehst du, mein liebes Kind“, sagte sie, „Gott hat die Unserigen -behütet.“</p> - -<p>Friedericke, welche ihre Mutter auf ihrem Zimmer nicht gefunden hatte, -war auch hereingekommen und hing jetzt an ihrem Halse.</p> - -<p>„Sie haben gewiß eine recht schlimme Nacht gehabt“, rief Martha beim -Anblick der Frau v. B. „O, wie viel Vorwürfe habe ich mir gemacht, daß -wir gegangen sind.“</p> - -<p>„Ja, meine kleine Pflegebefohlene war gar nicht zur Ruhe zu bringen“, -erwiderte diese, „da mußte ich mich schon entschließen, an ihrem Bette -zu bleiben; aber daß wir uns Vorwürfe machen, finde ich überflüssig; -die Sache war ja ganz verständig überlegt; wir konnten nicht wissen, -daß das Gewitter kam. Komm, kleiner Wildfang ziehe deine feuchten -Sachen aus, dann versuchen wir beide noch ein wenig nachzuschlafen. -Thun Sie das auch, Fräulein Feldwart!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span></p> - -<p>Martha hätte diesen Rat nur zu gern befolgt, aber Fanny war noch zu -aufgeregt: „Sie müssen mir erst alles, alles erzählen!“</p> - -<p>Martha that es und versuchte dabei ein Mittel, das ihr in der Pflege -des reizbaren Kindes schon manchmal geholfen hatte: indem sie Fannys -Hand in der ihrigen festhielt, erzählte sie mit ganz eintöniger Stimme -immer breiter, immer langsamer und leiser; das wirkte wie Schlafmusik, -stimmte die überreizten Nerven des Kindes herab, und nach einer halben -Stunde schlief es so fest, daß nun auch Martha die ersehnte Ruhe fand.</p> - -<p>Einige Stunden ruhigen Schlafes hatten sie völlig erfrischt; sie -erhob sich leise, um das Kind nicht zu stören, sah aber mit großer -Sorge, daß Fannys Gesicht geröteter war als sonst und die Brust sich -hob in ungewöhnlich raschen Atemzügen. Es fand sich in der That, als -sie erwachte, daß sie nicht fieberfrei war; der herbeigerufene Arzt -riet, sie heute im Bette zu lassen und vollständige Ruhe um sie her zu -erhalten. Mit Bangen empfing Martha gegen Mittag das Telegramm, welches -die Ankunft der Frau v. Märzfeld für diesen Nachmittag meldete. Fanny -wollte durchaus aufstehen zu ihrem Empfange, fühlte aber freilich -gleich, daß es eine Unmöglichkeit sei. Martha war sehr betrübt darüber. -Wie sollte sie der Mutter gegenübertreten, wenn Fanny<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> kränker wurde, -wie sich jemals wieder beruhigen? Ihr Herz schlug heftig, als die -Erwarteten eintraten. Es erschien ihr als die einzige Sühne, der Mutter -sofort den Hergang zu erzählen. Sie that es, aber sie that es nicht -völlig; sie verschwieg, wie sie von der Präsidentin und Fanny dazu -überredet worden war.</p> - -<p>Frau v. Märzfeld sah sie sehr befremdet von oben herab an: „Das hätte -ich Ihnen nicht zugetraut, Fräulein Feldwart! Sie sehen, was von Ihrem -Leichtsinn kommt; möglicherweise steht Fannys ganze Genesung auf dem -Spiel.“</p> - -<p>Martha weinte: „Ja, gnädige Frau, es soll mir eine sehr bittere Lehre -sein; ich werde niemals, niemals mehr von Fanny fortgehen!“</p> - -<p>„Das will ich sehr hoffen; ich könnte Sie auch sonst niemals mehr mit -dem Kinde allein lassen.“</p> - -<p>Wahrscheinlich wäre aus diesem Auftritte bei Frau v. Märzfeld dauernde -Erkältung erwachsen, wenn sich nicht gegen Abend die Präsidentin ihr -hätte vorstellen lassen, um ihr den richtigen Verlauf der Sache zu -erklären. Sie nahm alle Schuld bereitwillig auf ihre Schultern und -unterließ es nicht, sich offen darüber auszusprechen, daß es wohl -eigentlich Schuldigkeit sei, einem so aufopfernden Wesen wie Martha -mitunter ein Aufatmen und eine Erholung zu gönnen. Die Präsidentin -verkehrte in den höchsten Kreisen; sie<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span> war eine sehr angesehene, auch -äußerlich vornehm erscheinende Persönlichkeit; deshalb verfehlten ihre -Worte nicht, den beabsichtigten Eindruck zu machen, um so mehr, als -Fanny am anderen Morgen nach einer ruhigen Nacht so ziemlich wieder die -Alte war.</p> - -<p>Mit Erstaunen sahen ihre Mutter und Schwestern ihre Beweglichkeit, mit -noch größerem ihre Heiterkeit, ihren Humor, die Lebhaftigkeit, mit der -sie sich für jedes Gesprächsthema interessierte, und dies mußte wohl -ein freundliches Licht auf Marthas Pflege und Erziehung werfen.</p> - -<p>„Und nun“, sagte Frau von Märzfeld, „will ich euch auch eine große -Neuigkeit mitteilen: Wir haben eine Braut hier im Zimmer; ratet: wer?“</p> - -<p>Fannys Augen hatten schon mit Staunen den Goldreif an Luciens Hand -gesehen; sie rief: „Lucie, Lucie! aber mit wem?“</p> - -<p>Sie war mit Graf T. verlobt; er war mit ihnen am Genfer See -zusammengetroffen, hatte dort nach einigen Tagen um Lucie angehalten, -und diese freudig und überrascht aus warmem Herzen „Ja“ gesagt.</p> - -<p>Martha war auch überrascht; sie hatte Graf T. oft in der Familie -gesehen. Er hatte ihr stets einen ernsten und Vertrauen erweckenden -Eindruck gemacht, er teilte aber seine Aufmerksamkeiten stets -gleichmäßig zwischen beiden Schwestern,<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> und man glaubte in M. -allgemein, er werde sich mit Judith verloben, welche die ältere und -bedeutendere von beiden war. Martha begriff es, daß er sich dies warme -und anmutige Wesen gewählt hatte, das jetzt eine strahlend glückliche -Braut zu sein schien.</p> - -<p>Judith sah sehr ernst aus und war fast unnahbarer als sonst. Die Mama -erzählte, der Bräutigam sei jetzt nach Ragatz gereist, um eine Wohnung -dort zu besorgen.</p> - -<p>„Aber Mama!“ rief Fanny sehr unglücklich, „ich will ja nach Pfäffers!“</p> - -<p>Friedericke stand dabei: „Ach ja, bitte, nach Pfäffers, da gehen wir -auch hin, und da wohnen wir ganz und gar bei den Erdgeisterchen, die -machen dann Fanny wieder gesund!“</p> - -<p>Frau v. Märzfeld lachte: „Fragen wir den Arzt!“</p> - -<p>Der meinte, Ragatz thäte vielleicht dieselbe Wirkung; aber es gäbe -viele Kranke, welche die Bäder so nahe an der Quelle für heilkräftiger -hielten. Die Einrichtungen wären in Pfäffers sehr gut, und er riete der -Frau v. Märzfeld, ihre kleine Patientin dort anfangen zu lassen; sollte -es sich zeigen, daß Luft und Sonne ihr zu sehr fehlten, könne sie ja -jeden Tag nach Ragatz übersiedeln.</p> - -<p>Als für Martha und Fanny Wohnung in Pfäffers bestellt werden sollte, -erklärte zu aller, am meisten zu Marthas<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> Erstaunen Judith, sie möchte -mit nach Pfäffers gehen, sie habe sich dies lange gewünscht, und fügte -sehr entschieden hinzu: „Wir können uns dann ablösen in Fannys Pflege -und jede von uns kann mitunter spazieren gehen.“</p> - -<p>Wäre ein Stückchen Himmel eingefallen, so hätte Martha nicht -verwunderter aussehen können. Von Judiths Gerechtigkeitssinne hatte sie -schon mehrmals Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen, auch von ihrer -Fürsorge für Fanny; aber Freundlichkeit und Rücksicht für sie — dies -war Martha ganz neu. Sie kam wohl der Wahrheit ziemlich nahe, wenn sie -vermutete, daß es für Judith vielleicht jetzt nicht leicht sei, in der -unmittelbaren Nähe des Brautpaares zu leben. Aber die Sache hatte noch -einen anderen Grund. Judith liebte Graf T. nicht; ihr Herz war nicht -getroffen durch seine Verlobung, ihr Stolz um so härter; sie fühlte -sich zurückgesetzt und gedemütigt und fing an, ein wenig mit anderen -zu fühlen, denen dasselbe begegnete. Marthas Einwirkung auf Fanny und -besonders ihre Heiterkeit und Geduld in der Pflege derselben erfüllte -sie mit Achtung; Frau v. B.s offene Herzensergießung hatte ihr vollends -die Augen geöffnet; sie kam entschieden zu der Einsicht, daß sie Martha -nicht behandelt hatte wie es billig und freundlich war, und ihre Ehre -schien es zu fordern, dies so viel als möglich wieder gut zu machen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p> - -<p>Martha und Fanny wären lieber mit der Präsidentin und ihrer Tochter -allein gewesen; aber Fanny erkannte die freundliche Absicht, und -Martha wußte, daß Gott uns die Menschen zuweist, mit denen wir leben -sollen, und daß wir es vor ihm zu verantworten haben, wenn wir sie mit -Kälte und Gleichgültigleit von uns stoßen; so kamen sie beide Judiths -Wünschen freundlich entgegen.</p> - -<p>Die Reise durch das schöne Rheinthal machte allen, besonders den -beiden, die noch nicht gereist waren, die größte Freude. Da sieht man -die Bergriesen auf beiden Seiten ragen: Säntis, Kamor, Hohekasten, -Altemann grüßen herunter; an der anderen Seite des Thales erheben -sich, steil ansteigend, die österreichischen Berge, während die grünen -Matten des Thals das Auge erfreuen und im Hintergrunde die Kalande die -Aussicht abschließt.</p> - -<p>Fanny blieb in einem Jauchzen, bis der Zug in Ragatz hielt und der neue -Schwager sie liebevoll aus dem Wagen hob, um sie als sein Schwesterchen -zu begrüßen. Als man sich ein wenig erquickt hatte, sollten die Gäste -für Pfäffers erst an Ort und Stelle gebracht werden. Es wurden zwei -Wagen genommen; in dem einen saß die Mama mit dem Brautpaar, im anderen -Judith, Martha und Fanny.</p> - -<p>Welch wunderbarer Weg, stellenweise fast schauerlich! Die Straße -ist dem Felsen abgewonnen; sie führt dicht am<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> Ufer der Tamina hin. -Dies brausende, weißschäumende Gebirgswasser strömt daher über -schwarzbraunes Felsgestein; an einigen Stellen so tief unter der -schmalen Fahrstraße, daß es den darauf Fahrenden wohl ein wenig -schwindelig werden kann. Zu beiden Seiten steigen hohe, fast senkrechte -Felswände empor, so coulissenartig in- und voreinander geschoben, -daß man stets glaubt, in einen engen Kessel eingeschlossen zu sein. -Staubbäche, in Millionen kleine, feine, leuchtende Tröpfchen geteilt, -ergießen sich von ihrer Höhe in die Tamina, mit so graziösem, kühnem -Schwunge, daß sie über der Fahrstraße einen glänzenden Bogen bilden, -unter welchem dieselbe völlig trocken bleibt. Oben an den Felsen -glühte und zitterte noch das Sonnenlicht und tauchte die wallenden -Wasserschleier in Regenbogenfarben, während über der Tamina die -bläulichen Schatten des späteren Nachmittags lagen, denn nur von zehn -bis vier Uhr vermag in den längsten Tagen die Sonne die Thalsohle zu -erreichen.</p> - -<p>Fanny schmiegte sich an Martha mit glühenden Wangen; es war ihr ein -wenig bange zwischen dem schäumenden Abgrund und dem starren Fels.</p> - -<p>„O, wie groß und schön!“ sagte Martha.</p> - -<p>„Ja, groß ist dies wirtlich“, erwiderte Judith, „schauerlich groß! Ich -graule mich ein wenig hier; Sie auch, Martha?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span></p> - -<p>„Nein!“ rief diese ernst und zuversichtlich. „Ich weiß, der diese Erde -gründete und diese Felsschlucht auseinanderriß, der diesem Wasser rief -und es herniederbrausen läßt, der ist mein Vater, hält mich in seiner -liebevollen, starken Hand und hat die Haare auf meinem Haupte alle -gezählet. Das ist so tröstlich zu denken, man wird so still dabei und -möchte doch Psalmen singen tief aus dem Herzen heraus.“</p> - -<p>Judith sah sie ernst und wehmütig an: „Mir ist anders, ich habe das -Gefühl: dieselbe Gewalt, die vor Jahrtausenden diese Spalten entstehen -ließ, kann jederzeit wieder daran rütteln; mir ist, als könnten Himmel -und Erde in Stücke gehen, und ich fühle gleichsam schon ihr Beben.“</p> - -<p>„Das werden sie ja auch einmal“, sagte Martha freundlich, „aber dann -kommt der neue Himmel und die neue Erde, wo alles nur Friede und Freude -ist.“</p> - -<p>Sie sprachen nun nicht mehr, aber Fanny hatte sich fest in Marthas Arm -geschmiegt; sie schaute und schaute, auf ihren Wangen blühte zartes -Rot auf und ihre Augen leuchteten. Auch Judiths Augen wurden immer -größer und ernster und zuweilen senkten sich die Lider darüber, um -aufsteigende Thränen zu verhüllen. Es war allen befremdlich, wenn -einmal der vorausfahrende Wagen in einen solchen Winkel zu dem ihrigen -kam, daß man heiteres Gespräch und fröhliches Lachen daraus vernahm; -und doch ging dies natürlich<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> zu: das bräutliche Glück überstrahlte -selbst diese großartige Scenerie. Es kommt ja bei der Wirkung äußerer -Eindrücke alles darauf an, wie es in dem kleinen Herzensspiegel -aussieht, in dem sie sich abbilden.</p> - -<p>Als man vor den Gebäuden von Bad Pfäffers ausstieg, die, eingeklemmt -zwischen die Felswände und jetzt vom letzten Sonnenstrahl in ihrer -oberen Hälfte eben noch erreicht, auf den ersten Anblick einen mehr -düsteren als angenehmen Eindruck machten, sahen sich die Insassen -beider Wagen fragend an; das Ganze glich sehr einem natürlichen -Gefängnis. Aber sie wurden freundlich hereingeführt, zunächst in die -für die neuen Badegäste bestimmten Zimmer. In der Mitte lag eine -größere gemeinsame Wohnstube, rechts ein Schlafzimmer für Judith, -links eins für Martha und Fanny. Die Zimmer waren bequem und sauber -eingerichtet und die künftigen Bewohnerinnen erklärten sich damit -zufrieden.</p> - -<p>Die Badeeinrichtungen fand man ganz besonders blank und nett, und als -man in eines der Versammlungszimmer trat, um den Kaffee da zu genießen, -erhob sich am oberen Ende des Tisches ein vornehm aussehender Herr -mit weißen Haaren und stellte sich als General E. aus Württemberg -vor, zugleich als Bruder der lieben Präsidentin, die jährlich mit ihm -hier zusammentreffe und die er morgen gegen Mittag<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> mit ihrer Tochter -Friedericke erwartete. Da war die Bekanntschaft schnell gemacht, -und als Frau v. Märzfeld mit ihrem Brautpaar abfuhr, saßen die drei -Zurückbleibenden zutraulich neben ihrem neuen Beschützer, erzählend und -hörend, als wären sie schon längst miteinander bekannt. Selbst Judith -gab der süddeutschen Treuherzigkeit gegenüber ihr steifes Wesen auf. -Der Gang in die Schlucht, in welcher die Heilquellen entspringen, wurde -bis morgen verschoben, da man ihn nicht ohne Fanny, die von der Reise -angegriffen war, ja, womöglich auch nicht ohne Friedericke thun wollte, -welche sich schon in Heyden darauf gefreut hatte, ihrer Freundin diese -Wunder zu zeigen.</p> - -<p>Als die Dunkelheit völlig hereinbrach, erschienen sehr -verschiedenartige Gestalten im Gesellschaftszimmer; nur die wenigsten -schienen den höheren Ständen anzugehören; der vermögende Teil -der bäuerlichen Bevölkerung aus der Schweiz und Oberösterreich -war reichlich vertreten, und Judith sah sich mit nicht eben sehr -wohlgefälligen Blicken um unter dieser Umgebung. Ihr Staunen stieg, -als sie den ungenierten, vertrauten, heiteren Ton gewahrte, in welchem -sich der General mit den Leuten unterhielt und auf all’ ihre Interessen -einging.</p> - -<p>„Hier“, dachte sie, „wird es schwer sein, seine Stellung zu wahren“, -und als ein behäbiger, freundlicher Österreicher<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> sie fragte: „Wird es -den schönen jungen Damen nicht zu einödig hier sein?“ erhielt er eine -so kurze, ablehnende Antwort, daß Martha froh war, als Fannys Müdigkeit -sie sämtlich nötigte, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen.</p> - -<p>Als Fanny ruhte, saßen Judith und Martha noch eine halbe Stunde im -Wohnzimmer beisammen.</p> - -<p>„Ist das nicht schrecklich hier?“ rief Judith; „nimmt sich so ein -Mensch heraus, mich anzureden, ohne daß ich es ihm erlaubt habe! Und -dieser General! Gehört zu den ersten Kreisen in Württemberg und spricht -mit diesen Menschen, als wären sie seinesgleichen!“</p> - -<p>„Ich glaube, Fräulein Judith, das Badeleben bringt auf ganz natürliche -Weise den freieren Ton mit; alle sind hier um ihrer Leiden und -Gebrechen willen, alle suchen Hilfe aus derselben Vaterhand und an -derselben Quelle, alle sind eingeschränkt auf kleinen, engen Raum. -Aber wenn Sie eingehend beobachten wollen, werden Sie finden, daß sich -niemand gegen den Herrn General etwas Zudringliches oder Ungeschicktes -erlaubt; er ist bei all’ seiner Leutseligkeit eine so wahrhaft vornehme -Erscheinung, daß dies keiner ihm gegenüber vergessen oder verkennen -kann!“</p> - -<p>Judith seufzte; sie hatte doch auch gedacht, eine vornehme Erscheinung -zu sein und war sehr unbefriedigt von dem ersten Abend.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p> - -<p>Martha fand ihren Pflegling noch mit großen, offenen Augen.</p> - -<p>„Hören Sie nur, wie die Tamina rauscht!“ flüsterte Fanny. „Ach, bitte, -lesen Sie noch einen Psalm oder ein Lied zur ‚Gute Nacht!‘“</p> - -<p>Martha griff nach der Bibel und las den 121. Psalm: „Ich hebe meine -Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt; meine Hilfe kommt -von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“ — bis zum Schluß: „Der -Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele; der Herr behüte -deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Dann betete sie -den Vers:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Wenn der Wellen Macht</div> - <div class="verse indent0">In der trüben Nacht</div> - <div class="verse indent0">Will des Herzens Schifflein decken,</div> - <div class="verse indent0">Wollst du deine Hand ausstrecken;</div> - <div class="verse indent0">Habe auf mich acht,</div> - <div class="verse indent0">Hüter in der Nacht!</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Martha ging noch einmal ins Wohnzimmer zurück, ihre Arbeit zu -holen, und fand da Judith noch, die mitten im Zimmer stand und sich -gedankenvoll auf den großen Eichentisch stützte. Jetzt blickte sie auf -und sagte fast weich: „Wenn Sie mit Fanny lesen, schließen Sie die Thür -nicht, oder lassen Sie mich dabei sein!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span></p> - -<p>„O, wie sehr gern!“ rief Martha aus vollem Herzen; sie wollte Judith -die Hand geben, diese war aber schon in ihrem Schlafzimmer verschwunden.</p> - -<p>Ja, Judith fühlte, daß ihrem Dasein die rechte Erquickung mangelte; -sie hatte auch in der letzten Zeit durch die Beobachtung ihres kranken -Schwesterchens eine Ahnung bekommen, wo dieselbe zu finden sei, und sie -war keine oberflächliche Natur; was sie einmal erfaßte, pflegte sie mit -Ernst zu ergreifen.</p> - -<p>Am anderen Morgen nahm Fanny das erste Bad, und sowohl Martha als -Judith freuten sich über die schönen, weißen Fließen, in welche die -Bäder gefaßt waren, über die ganze wohlthuende und elegante Einrichtung -in dieser scheinbaren Weltabgeschiedenheit, und da Fanny die angenehme -Einwirkung des Wassers dankbar empfand, beschlossen ihre beiden -Hüterinnen, sich diese Erquickung und Auffrischung der Nerven, so viel -es thunlich sei, ebenfalls zu verschaffen.</p> - -<p>Gegen Mittag erschienen die Präsidentin und Friedericke, herzlich -empfangen von dem lieben, alten Bruder und Onkel, jubelnd von Fanny. -Gleich nach Tische kamen, wie sie es versprochen, Frau v. Märzfeld -und ihr Brautpaar, und man beschloß, noch vor dem Kaffee den Weg in -die Schlucht zu unternehmen, der so glatt, sicher und nahe ist, daß -selbst Fanny, abwechselnd auf Friedericke und Martha gestützt,<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> ohne -Bedenken daran teilnehmen konnte. Diese Schlucht, in welcher die heißen -Quellen entspringen, gewährt in der That einen ebenso großartigen als -schauerlichen Anblick. Die Felsen treten hier so nahe zusammen, daß -unten nur die schäumende, brausende Tamina zwischen ihnen Platz hat, -und über ihr ein auf sicheren Stützen ruhender Weg, oder vielmehr -eine lange Brücke, welche bis zu den heißen Quellen hinführt, die -sich schon von ferne durch ihren weißen Dampf ankündigen, der in dem -wunderbaren Unterweltslichte die sonderbarsten Gestalten anzunehmen -scheint. Die Felsen schließen sich nämlich an ihrem oberen Ende -so nahe zusammen, daß nur ein kleiner Spalt offen bleibt, um das -Himmelslicht einzulassen, ja an einer Stelle führt sogar der Weg nach -Dorf Pfäffers über diesen Spalt hin. Wenn man die Einschnitte, Ecken -und Kanten an beiden Seiten aufmerksam miteinander vergleicht, ist -leicht wahrzunehmen, daß sie genau ineinander passen, und es macht ganz -den Eindruck, als habe ein gewaltiger Finger diese Wände ein wenig -auseinander gerückt, um dem brausenden Bergwasser Platz zu schaffen. -Friedericke und Fanny hielten sich fest umfaßt, als der Führer sie -darauf aufmerksam machte.</p> - -<p>„Muß das gekracht haben“, sagte Friedericke, „da hätte ich nicht dabei -sein mögen!“</p> - -<p>Als man bei der heißen Quelle ankam, zeigte sich die<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> Thür zu einem -Stollen, der in den Felsen getrieben ist, um mehr Wasser zu gewinnen. -Da es aber darin natürlich heiß und dunkel war, verzichtete man darauf, -ihn zu besuchen. Im Felsen an beiden Seiten bemerkte man Vertiefungen, -wie zu einer Balkenlage.</p> - -<p>„Hier“, sagte der Führer, „hat früher ein kleines Haus schwebend über -der Quelle gestanden, bevor noch ein Weg in die Schlucht hereinführte; -die Kranken sind von oben, versehen mit Lebensmitteln, an Stricken -heruntergelassen worden, und erst wieder heraufgezogen, wenn die Kur -beendet war.“</p> - -<p>„Die sind dann ganz bei den Erdgeisterchen gewesen“, sagte Friedericke.</p> - -<p>„Und ich fürchte, sie hatten nicht so schönen Honig und keine -Traubenrosinen zum Dessert, wie wir heute Mittag“, setzte Fanny hinzu.</p> - -<p>Beides, Honig und Rosinen, ist nicht nur kurgemäß in Pfäffers, sondern -wird von den Ärzten aufs wärmste empfohlen und ist deshalb stets in -Fülle und ungewöhnlicher Güte vorhanden, was Fannys vollen Beifall -hatte. Sie war jetzt, wo Friedericke bei ihr war, ganz befriedigt; sie -spielten, lasen und lernten zusammen, so viel oder vielmehr so wenig -es Martha bei der Kur ratsam fand; Fanny machte an Friederickens Arm -die kleinen Spaziergänge, welche<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> sie ausführen konnte und welche -der Arzt zu ihrer Stärkung dringend wünschte. Sie bauten sich eine -ganze Märchenwelt in ihrer Phantasie auf, jeder Felsvorsprung, jede -Vertiefung hatte für sie ihre Bedeutung.</p> - -<p>„Dort oben, wo niemand hinkommen kann, bei den vorgeschobenen Spitzen -und Kanten, da ist das Zwergenschloß, da sehen sie heraus und sonnen -sich. Dort, wo das tiefe Loch in den Felsen hineingeht, wohnt die -Erdgeistermutter; die ist verdrießlich, man hört sie brummen, wenn der -Wind weht. Im weißen Dampf über der Quelle tanzen die Tamina-Elfen; sie -sind so fein, daß man nur ihre Schleier wehen sieht.“</p> - -<p>Oder sie dachten sich ganze Geschichten aus von solchen Kranken, die an -Stricken heruntergelassen waren, wie sie sich fürchteten und graulten, -und wie die lieben Zwerge aus dem Felsen kamen, sie zu trösten.</p> - -<p>Martha sorgte, ob solche Phantasieen nicht Fannys Nerven aufregen -würden; aber sie schlief sanft und fest; sie brauchte zum Essen nicht -mehr genötigt zu werden und ihre Spaziergänge konnte sie mit jedem Tage -weiter ausdehnen. Der Annahme entgegen, daß eine Rose nur in der Sonne -ihre schöne Farbe erhalten kann, kam auf die bleichen Kinderwangen -mehr und mehr ein rosiger Schimmer, in die matten Augen ein Strahl -von Jugendfreude und Mutwillen, der<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> Martha entzückte. Sie selbst -fühlte sich ebenfalls gekräftigt und vollkommen in Frieden. Seit den -trüben Erfahrungen in Heyden hatte sie alle ungestümen Wünsche nach -großartigen Ausflügen aufgegeben und war für die kleinen Spaziergänge, -die ihr durch Judiths Freundlichkeit möglich wurden, dankbar.</p> - -<p>Das Verhältnis mit Judith erregte in hohem Grade ihr Interesse; sie -kamen sich sehr langsam ein wenig näher, und nach dem, was sich da -offenbarte, schien es gewiß, daß in dieser Seele noch viele verborgene -Schätze schlummerten, die nur der richtigen Wünschelrute bedurften, um -ans Tageslicht zu kommen.</p> - -<p>Eine nach der Eigentümlichkeit der Gäste größere oder kleinere -Prüfung brachte ein Regentag; gottlob! gab es in diesem Sommer nicht -viele. Wenn die Wolken wie dunkelgraue Gardinen zwischen den Felsen -niederhingen, die Lampen in Korridor und Gesellschaftszimmer den ganzen -Tag nicht ausgehen durften, die Badegäste entweder auf ihr Zimmer -angewiesen oder in den Gesellschaftssaal gebannt waren, da gab es große -Versuchungen zum Grillenfangen. Solch ein Tag kam in der zweiten Woche.</p> - -<p>Judith war eben mit ihrer Garderobe beschäftigt gewesen, jetzt folgte -sie Martha und Fanny, die ihre Stunden beendet hatten, nach dem -Versammlungszimmer. Dort saß<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> beim Lampenlicht der General und spielte -mit der Präsidentin eine Partie Schach; dort hatten sich Frauen aus -allen Ständen und Ländern mit ihren weiblichen Handarbeiten um einen -langen Tisch gruppiert; dort saß ein Kreis bäuerlicher Besitzer und -unterhielt sich über Verkehrsverhältnisse, Fruchtpreise und Politik. -Die jungen Damen nahmen am Frauentische Platz, da Fanny und Friedericke -ein kleines, besonderes Tischchen für sich in Anspruch nahmen, um mit -ihren Modepuppen die wunderlichsten Geschichten aufzuführen. Martha kam -bald mit ihren Nachbarn in eine lebhafte Unterhaltung.</p> - -<p>Das Thema nach der ersten Bekanntschaft in Badeorten ist stets das -gleiche: die Gebrechen und Krankheiten, für welche jeder hier Hilfe -und Heilung sucht, und dieses Thema wird zwar von verschiedenen -Persönlichkeiten in ebenso verschiedenen Variationen vorgetragen, aber -es berührt doch die gleichen Grundaccorde in den Herzen und führt zu -Mitleid, Mitfreude und leichter Verständigung.</p> - -<p>Martha fand neben den verschiedensten Leiden und einzelner Bitterkeit -und Verzagtheit auch viel Demut, Geduld und Gottvertrauen, und hörte -gern und hoffnungsvoll erzählen von manchen Erfolgen, die mit Gottes -Hilfe durch den Gebrauch dieser Quellen erreicht worden waren.</p> - -<p>Als das Schachspiel beendet war, kam auch Frau v. B.<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> in den -Frauenkreis, und Martha staunte, wie sie es verstand, mit den -einfachsten Frauen zu reden, ihr Vertrauen zu gewinnen, sie zu trösten -und zu beraten. Der General war zu den Männern gegangen; hier entspann -sich eine höchst lebhafte Unterhaltung über Wiesen- und Forstkultur, -Ackerbestellung u. dergl.; je nachdem die Redenden aus verschiedenen -Gegenden und Verhältnissen kamen, waren auch die Ansichten verschieden, -und die Gefahr lag oft nahe, daß aus der Unterhaltung ein Streit werden -könne. Dann hörte man stets des Generals ruhige, sichere Stimme, welche -erklärte, vermittelte, und der sie alle sich unterzuordnen schienen.</p> - -<p>Judith langweilte sich aufs äußerste. Das Licht fiel schlecht auf ihre -feine Arbeit; sie hatte dieselbe sinken lassen, lehnte sich nachlässig -zurück, gähnte mehrmals, ohne es zu merken, und Verdruß und Müdigkeit -spiegelten sich dergestalt auf ihrem sonst so schönen Gesichte, daß ein -alter Oberbayer, der sie eine ganze Weile unbemerkt beobachtet hatte, -zu ihr trat: „Sind Sie bös, Fräule, daß unser Herrgott schütten läßt? -Hilft Ihnen doch nichts; er laßt’s deshalb nit; ’s macht ihm nichts, -wenn ein jung Mädel die Stirn kraus zieht!“</p> - -<p>Judith sah ihn groß an und sehr von oben herab; sie antwortete nicht, -verließ aber gleich danach die Halle, und<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> als ihr Martha und Fanny -später folgten, fanden sie sie in der schlimmsten Laune oben noch im -Finsteren.</p> - -<p>Fanny war jetzt immer sehr müde und schlief bald ein; als Martha leise -in das Wohnzimmer trat, ging Judith dort mit großen Schritten auf und -ab. Martha setzte sich mit ihrer Arbeit ruhig an den Tisch zur Lampe -und wartete das Weitere ab.</p> - -<p>Endlich blieb Judith vor ihr stehen: „Jetzt sagen Sie mir, Martha, wie -es zugeht, daß sich die Leute solche Dinge gegen mich herausnehmen?“</p> - -<p>„Aber, liebes Fräulein, wie kann ich das wissen?“</p> - -<p>„Warum passiert dem General und der Präsidentin nie etwas Ähnliches? -Sie sagten neulich, er habe so etwas Vornehmes; ich finde das gar -nicht; er spricht mit allen Bauern wie mit seinesgleichen. Wenn Sie es -wissen, wo seine Vornehmheit steckt, so sagen Sie es mir!“</p> - -<p>Martha dachte ein wenig nach: „Darf ich mich ganz offen aussprechen, -Fräulein Judith?“</p> - -<p>„Ja, ich bitte sehr; und sagen <em class="gesperrt">Sie</em> nur nicht immer ‚Fräulein‘; -von Ihnen ist mir das sehr langweilig, wissen Sie!“</p> - -<p>„Es ist eine schwierige Frage; lassen Sie mich ein wenig nachdenken. -Einesteils ist es wohl wirklich das Übergewicht der Erfahrung, des -Wissens, der Bildung, was die Leute<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> empfinden, ohne es sich klar zu -machen; aber ich glaube, der Grund der allgemeinen Achtung ist vor -allem der, daß die beiden alten Herrschaften sich selbst vollständig -in der Gewalt haben; daß sie sehr weit vorgeschritten sind in der -Selbstbeherrschung und Selbstlosigkeit; ich denke mir, dies muß stets -vorausgehen, ehe man anderen imponieren oder sie beherrschen will. Sie -geben sich keine Blöße den Leuten gegenüber und, liebe Fräulein Judith, -sie geben sich niemals das Ansehen, Respekt erzwingen zu wollen; das -reizt in solchen Lagen, wie die unserige hier in dem kleinen Bade ist, -gar so leicht zum Widerspruche!“</p> - -<p>„Ach Gott“, seufzte Judith, „wenn nur nicht das Leben mit diesen -Menschen gar so langweilig wäre, und nicht nur mit ihnen, auch mit -meinen Bekannten in M.; ich beneide jeden Menschen, der sich amüsieren -kann, aber ich begreife es nicht!“</p> - -<p>„Ich wollte“, sagte Martha warm, „Sie begriffen es; gerade Sie, liebe -Judith, würden so glücklich sein und andere so glücklich machen können, -wenn Sie einmal anfingen, sich mit warmem Herzen für Ihre Mitmenschen, -ihre Leiden und Freuden, ihre Ideen und Gedanken zu interessieren. -Sie lesen so gern Schilderungen fremder Völker und Länder, und doch -sind diese oft wunderbar gefärbt durch die eigentümliche Brille des -Verfassers. Ich lese noch viel lieber in<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> einem so lebendigen Buche, -wie wir es jetzt vor uns haben; daraus kann man viel, sehr viel lernen! -Versuchen Sie es nur; ich hoffe, die Befriedigung findet sich!“</p> - -<p>Judith stand eine Weile in tiefem Nachdenken, dann sagte sie -freundlich: „Gute Nacht, lieber Herr Professor! ich werde über die -Vorlesung nachdenken“, und verschwand in ihrem Zimmer.</p> - -<hr class="tb"> - -<p>Am anderen Morgen ward ein ähnliches Thema durchgesprochen zwischen dem -General und der Präsidentin.</p> - -<p>„Ich verkehre gern mit allerlei Volk“, sagte der erstere, „man lernt -eine Menge Dinge kennen, mit denen man sonst nicht in Berührung kommt. -Ich verstehe es aber noch lange nicht so gut wie mein Georg, den Leuten -nahe zu kommen; wenn der Junge kommt, sollst du dein Wunder sehen!“</p> - -<p>„Wenn mein Georg kommt!“ Dieses Wort hatten die Mädchen aus seinem -Munde nachgerade so oft gehört, daß sie sich mit leichtem Lächeln -ansahen, wenn es wiederkam. Es war dadurch allmählich „mein Georg“ eine -Person geworden, der man mit einiger Spannung entgegen sah.</p> - -<p>Eines Abends, da es besonders schön und warm war, wanderten sie im -Taminathal, die Kinder voran, Judith<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> und Martha, wie es in der letzten -Zeit öfter der Fall war, Arm in Arm.</p> - -<p>Da bog ein junger Wanderer um die Felsenecke; eine große, kräftige -und doch bewegliche Gestalt, den leichten Sommerrock aufgeknöpft, das -Halstuch gelockert, den Strohhut in den Nacken geschoben, daß eine -Fülle lichtbrauner Locken frei wurde und ein heiteres, lebensvolles -Gesicht mit blitzenden, braunen Augen, gesunder, etwas gebräunter -Farbe, fröhlich lachendem Munde und einem Grübchen in jeder Wange, -einrahmte; ein noch nicht eben sehr voller Bart umgab das gerundete -Kinn.</p> - -<p>Judith sah ihn staunend an und ärgerte sich über sich selbst, daß ihr -unwillkürlich ein Wort in den Sinn kam, das sie aus dem Munde ihrer -Bekannten immer sehr albern gefunden hatte: „Ein junger Gott!“</p> - -<p>Der „junge Gott“ ließ ihr Zeit, ihn zu betrachten, denn er war mehrere -Schritte vor ihnen bei Fanny und Friedericke stehen geblieben, hatte -letztere ohne Umstände emporgehoben und geküßt, was mit dem Jubelruf: -„Vetter Georg! lieber Vetter Georg!“ erwidert wurde.</p> - -<p>Dann beugte er sich zu Fanny: „Und hier ist ein kleines Fräulein, -das geht ein wenig lahm. Sind Sie ein bißchen zu weit gegangen, -Waldnymphchen!“</p> - -<p>„Ich glaube“, sagte Fanny mit weinerlicher Stimme.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span></p> - -<p>„Darf ich Sie tragen?“</p> - -<p>Fanny sah ihn zweifelnd an; aber er hob sie leicht auf seinen Arm, als -sei sie eine Feder, und ging stolz mit ihr den beiden Damen entgegen.</p> - -<p>„Jetzt bin ich Ihr Ritter und Sie sind meine Dame!“</p> - -<p>„Ein Ritter! ein Ritter!“ jauchzte Friedericke. „Erdgeister haben wir, -Zwerge, Elfen; nun haben wir auch einen Ritter — und einen Ritter -Georg; es ist nur schade, daß kein Drache da ist!“</p> - -<p>Friedericke stellte ihn den beiden jungen Damen vor; er hatte für jede -ein heiteres, freundliches Wort, und da sie schon um der Kinder willen -mit umwenden mußten, zogen sie wie im Triumphe mit dem Erwarteten im -Bade Pfäffers ein.</p> - -<p>Natürlich wurde er von Vater und Tante sehr herzlich begrüßt, aber er -war noch keine Stunde da, so war es, als sei ein frischer Wind in die -ganze Gesellschaft gefahren; er plauderte mit den Alten, lachte mit den -Kindern, verabredete gleich für den anderen Morgen einen Spaziergang -nach der Kalandaschau und Dorf Pfäffers, für übermorgen eine Tour -nach Ragatz und Chur; die erste sollte nach Judiths Bestimmung Martha -mitmachen, der zweiten wollte sie selbst sich anschließen, und man -hoffte, daß auch Frau v. Märzfeld mit dem Brautpaar von Ragatz aus -daran teilnehmen werde.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span></p> - -<p>Es wurde nun alles Leben und Bewegung. „Mein Georg“ war Besitzer und -Verwalter des Familiengutes, das in Süddeutschland lag; seine Gespräche -mit den Landleuten waren viel eingehender als die seines Vaters; den -Frauen machte er sich angenehm durch freundliche Besorgungen, kleine -Erfindungen, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitrugen; mit Martha -und Judith unterhielt er sich gern über Bücher, Bilder, über das Leben -in der Residenz u. s. w.</p> - -<p>Die letztere erschien ihm wohl zuweilen etwas unergründlich, aber es -reizte ihn sichtlich, ihr Wesen zu erforschen und dies schöne, stolze -Gesicht aus seiner Ruhe und Feierlichkeit herauszusetzen. Dies gelang -um so öfter, da Judith wirklich anfing, sich ihres Hochmuts zu schämen -und mit Teilnahme auf die Gesellschaft zu blicken, die sie umgab. Wie -sehr sie dadurch an Lieblichkeit und Anmut gewann, das merkte sie -selbst nicht, andere desto mehr.</p> - -<p>Als der nächste Regentag die Gesellschaft ans Haus fesselte, kam -„mein Georg“ mit einem jungen Oberbayer, der seine Mutter besuchte, -aufs „Schuhplatteln“ zu sprechen; es fand sich, daß beide diesen -oberbayerischen Nationaltanz kannten und konnten, und als der Abend -herankam, wurden Judith und Martha bestürmt, denselben mit ihnen -auszuführen. Ein älterer Badegast erbot sich, auf dem Flügel zu -begleiten. Die Mädchen wollten nicht; sie hatten es ja noch nie -gesehen.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p> - -<p>„Ach, Sie haben gar nichts dabei zu thun, als sich so graziös wie -möglich immer im Kreise herumzudrehen, während wir schuhplatteln; -dazwischen drehen wir Sie schon um, wie es sich gehört.“</p> - -<p>„Ja, aber bescheiden!“ bestimmte Judith.</p> - -<p>Es wurde versprochen und machte anfangs allen großes Vergnügen. Die -beiden Tänzer waren gewandt, geübt und kräftig; es wurde ihnen gar -nicht schwer, beim Sprung nach oben die Fußsohlen mit der flachen -Hand zu schlagen und all’ die wunderlichen Bewegungen auszuführen, -die der Tanz erfordert. Einen gehörigen Lärm giebt es dabei; einige -nervenschwache Damen entflohen, alle anderen Gäste aber bildeten einen -Kreis und sahen vergnügt und mit Spannung den Kautschukmännern zu. Der -Bayer tanzte mit Martha, „mein Georg“ mit Judith. Sie hielten sich -anfangs in ganz bescheidenen Grenzen und drehten ihre Damen sanft im -Kreise herum, aber als der Georg ins Feuer kam, hatte er da vergessen, -wen er vor sich hatte? daß Judith kein oberbayerisch Landmädel war? -Mit raschem Griffe faßte er seine Dame fest um die Mitte, schwang sie -mit einem lauten Juchzer hoch in die Luft und war vor Verwunderung und -Entsetzen starr, als sie, wieder auf dem Erdboden angekommen, sich -nicht weiter drehte, sondern mit heftigen, stolzen Schritten den Saal -verließ und die Thür hinter sich schloß.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span></p> - -<p>Da stand er nun, wühlte in seinen Haaren und sah ganz verdonnert und -unglücklich aus. Die Präsidentin war böse, der General klopfte ihm -auf die Schulter: „Ist dir schon recht, das kommt vom Ungestüm!“ und -Martha lief eilends der Judith nach. Sie zürnten zweistimmig, in bester -Harmonie.</p> - -<p>„Nein, das ist nicht zu dulden! Das ist über alle Beschreibung -unschicklich! So viel muß doch ein Edelmann sich in der Gewalt haben, -daß er nicht vergißt, mit wem er zu thun hat! Dafür muß Strafe sein, -das ist sicher!“</p> - -<p>Judiths erster Gedanke war, ganz und gar nach Ragatz zu entfliehen. -Aber nein! daraus würde er sich am Ende nichts machen, oder er merkte -es kaum, oder er könnte sich wunder was drauf einbilden, sie vertrieben -zu haben! Nein, sie wollten ganz kalt und ganz fremd zu ihm sein, damit -er es merkte, was er für ein schrecklicher Mensch war. Heute Abend -wollten sie nicht mehr hinuntergehen, aber morgen früh, beim Frühstück, -da sollte er es erleben!</p> - -<p>Martha war nur darüber verwundert, daß Judith plötzlich in Thränen -schwamm; dies war bei ihr ganz ungewöhnlich.</p> - -<p>„Aber, Fräulein Judith“, tröstete sie, „so was entsetzlich Schlimmes -ist es doch am Ende nicht; jeder sah ja, daß Sie nicht dafür konnten!“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span></p> - -<p>„Ja aber, daß Er! gerade Er!“</p> - -<p>„Das ist nun eigentlich so verwunderlich nicht“, sagte Martha ruhig; -„so eine kleine Unbesonnenheit ist ihm schon zuzutrauen; kränken wollte -er Sie sicher nicht.“</p> - -<p>Aber Judith war nicht zu trösten; sogar das Gotteswort und das -liebliche Abendlied: „Der Tag ist nun vergangen“, das ihr in der -letzten Zeit stets lieb und wert gewesen war, wollte heute nicht fassen.</p> - -<p>Am anderen Morgen ging sie mit sehr hocherhobenem Haupte zum -Kaffeetische.</p> - -<p>„Mein Georg“ war schon da; er grüßte ein wenig verlegen, aber -ehrfurchtsvoll und freundlich, und erhielt zum Dank eine stolze, steife -Verbeugung. Er sprach heiter vom aufgehellten Himmel — und erhielt -keine Antwort! Er schlug einen Morgenspaziergang vor — Judith und -Martha versicherten, sie hätten Briefe zu schreiben. Er trat nach dem -Kaffee näher, als wollte er um Verzeihung bitten — sowie es Judith -bemerkte, ging sie hinaus und Martha folgte ihr.</p> - -<p>„Das ist ja heute unausstehlich!“ sagte der alte General; „siehst du, -Georg, das kommt von deinen Dummheiten! Ach, Agnes, sieh, ob du es -wieder ins gleiche bringen kannst.“</p> - -<p>Die Präsidentin als freundliche Tante ging wirklich und<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> klopfte am -Märzfeldschen Wohnzimmer an, während Fanny und Friedericke, fröhlich -plaudernd, am Kaffeetische blieben.</p> - -<p>Martha und Judith saßen sich sehr ernsthaft gegenüber; jede hatte einen -großen Briefbogen vor sich und die eingetauchte Feder in der Hand, aber -keine war aufgelegt zum Schreiben; der blaue Himmel sah so lockend -herein; das Bedauern, durchaus Zorn halten zu müssen, wurde immer -größer und die Frau v. B. wurde mit großer Zärtlichkeit und Ehrfurcht -von ihnen empfangen, indem sie neben ihrer sonst schon geliebten Person -die Hoffnung einer Veränderung dieses unerquicklichen Zustandes mit -sich brachte.</p> - -<p>„Lieben Kinder!“ sagte sie, „ich komme nicht, um meinen unartigen -Neffen zu verteidigen, sondern um Sie zu bitten, liebe Judith: nehmen -Sie es hier in der Freiheit der Bergwildnis nicht so sehr schwer -und verderben Sie uns allen nicht die paar freundlichen Tage des -Zusammenseins! Ein todeswürdiges Verbrechen war’s doch am Ende nicht, -und ich glaube, er ist schon recht gestraft; ich habe seine guten Augen -heute noch gar nicht lachen sehen; gönnen Sie ihm wenigstens, daß er -Ihnen selbst ein Wort der Abbitte sagt. Kommen Sie nun mit herunter und -begleiten Sie uns auf dem Spaziergange. Sehen Sie, wie freundlich die -Sonne lacht; da dürfen wir nicht Grillen fangen!“</p> - -<p>Ja, die Sonne lockte sehr; sie vergoldete die Ränder<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> der Felsen -gegenüber, und Frau v. B.s Stimme galt viel in der kleinen -Gesellschaft. Da nun Judith vom Fenster aus den Verbrecher das -Thal hinab wandern sah, glaubte sie, er wünschte ebenso wenig ihre -Gesellschaft, als sie die seine, und setzte schweigend ihren Hut auf. -Sie gingen langsam im eifrigen Gespräch der Gesellschaft nach, bis -Martha bemerkte, daß Fanny und Friedericke sich dicht am Rande der -Tamina vergnügten, und voll Sorge zu ihnen eilte. Nun schloß sich -Judith der Präsidentin an, sah aber mit Schrecken, daß Georg und der -Bayer an der nächsten Felsenecke ihrer warteten, und blieb zurück, -scheinbar, um einen kleinen Strauß zu binden aus den feinen Halmen, -Moosen und Kräutern, welche in den Felsenspalten wuchsen.</p> - -<p>Wie es dann gekommen, daß auf einmal Frau v. B. mit dem Bayer zehn -Schritte vorausging und sie allein und verlassen dem gefürchteten Georg -gegenüberstand, das ist ihr niemals klar geworden.</p> - -<p>Er sah sie weniger verlegen als ernst und traurig an: „Fräulein Judith, -wollen Sie mir denn nicht erlauben, Sie für gestern Abend um Verzeihung -zu bitten? Es thut mir so sehr leid, daß ich mich so vergessen und Sie -so gekränkt habe, aber —“</p> - -<p>„Herr v. E., hier giebt es kein Aber! Ein Edelmann muß sich so viel in -der Gewalt haben, daß er sich bewußt<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> bleibt, mit wem er es zu thun -hat; ich hätte Ihnen nicht zugetraut, daß Sie das vergessen könnten!“</p> - -<p>„Ach, Fräulein, das habe ich keine Minute vergessen; das war’s ja eben!“</p> - -<p>„Wie? Sie wußten, mit wem Sie tanzten, und wagten es, mich so zu -beleidigen?“ rief Judith, indem sie die Farbe wechselte.</p> - -<p>„Immer mehr Mißverständnisse!“ rief er; „jetzt, Fräulein, muß ich -es Ihnen ordentlich erklären. Bitte, bleiben Sie und hören Sie mich -geduldig an!“</p> - -<p>Sie hatte eben Miene gemacht, zu entfliehen. Ein Umblick überzeugte -sie, daß dies nicht wohl möglich war; vor ihr gingen die Freunde, in -einiger Entfernung hinter ihr der fremdere Teil der Gesellschaft. -Sie trug also mit Anstand, was sich nicht ändern ließ, und ging mit -gesenktem Kopfe neben ihm, mit der Spitze ihres Sonnenschirmes Figuren -in den feuchten Sand zeichnend.</p> - -<p>„Sehen Sie, Fräulein Judith,“ begann er, und auf der sonst so frischen -Stimme lag es wie ein Schleier, „seitdem ich hier bin, habe ich das -wärmste Interesse für Sie gehabt; ich betrübte mich, wenn Sie so steif -dasaßen, und freute mich, wenn Sie lachten, und dachte schon am ersten -Abend: ‚Was müßte das eine Freude sein, Sie so vergnügt zu machen, wie -andere junge Mädchen sind. Sie glauben<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> es nicht, wie ich glücklich -war, als Sie nach und nach freier, frischer und unbefangener wurden; es -reizte mich, immer mehr dazu zu helfen. Als ich Sie gestern Abend zu -dem Tanz überredet hatte, glaubte ich über jede Schwierigkeit hinweg -zu sein; ich dachte mir, ich wollte Sie durchs Leben führen und lauter -Sonnenschein um Sie verbreiten, und ich sah Sie schon vor meinen -Augen, Sie, die ich liebe wie niemand sonst, so schön, so fröhlich, so -glücklich und beglückend, wie es Gott ursprünglich in Ihre Natur gelegt -hat; o Judith, ich dachte, wir wären schon so weit! Da faßte mich ein -innerer Sturm vor Freude; ich mußte jauchzen; ich mußte Sie in die Luft -schwingen. O Judith, liebe Judith, können Sie mir jetzt verzeihen?“</p> - -<p>Sie ging neben ihm, der große Mousselinhut beschattete ihr Gesicht, -doch sah Georg, daß sie sich mit dem Tuche einen Tropfen von den -Wimpern wischte; aber er wußte nicht, was ihm derselbe bedeutete, -nicht, daß es die Worte waren: „Sie, die ich liebe wie niemand sonst“, -welche ihr das Herz so bewegten.</p> - -<p>„Judith, sagen Sie mir nur ein Wort, nur, daß Sie nicht mehr böse sind, -nur, daß ich ein klein wenig hoffen darf! Sehen Sie“, fuhr er auf -einmal, mehr in seinem alten, heiteren Tone fort, „ich hab’ so nötig -jemanden, der mich zieht, denn ich bin ein Wildfang, Sie aber sind so<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span> -verständig! Reizt Sie die Aufgabe nicht, liebe Judith, mich zu bessern?“</p> - -<p>Sie schwieg noch immer; er fuhr fort: „Ich weiß, ich müßte diese -Dinge ernster sagen, aber Gott allein weiß, wie ernst sie mir sind; -er weiß auch, daß ich mich auf seinen Beistand verlasse, wenn ich -Ihnen verspreche: Ich will Ihnen ein treuer Gefährte sein! Jetzt, -Judith, wenn Sie nicht sprechen wollen, geben Sie mir Ihren kleinen -Blumenstrauß!“</p> - -<p>Zagend reichte sie ihm denselben; sie schlug die Augen auf dabei; es -waren Thränen darin, aber ein Strahl von Glück verklärte sie.</p> - -<p>Sie sahen jetzt die anderen sich entgegenkommen. Georg umarmte seine -Tante: „Sie ist wieder gut; ach, Tante!“</p> - -<p>„Na, Junge, erdrück’ mich nicht; ich bin zu alt, um durch die Luft -geschwungen zu werden!“</p> - -<p>Es ging nun alles seinen natürlichen Gang. Während Judith und Martha -eine sehr bewegte Unterhaltung hatten, schüttete Georg seinem Vater -sein Herz aus und erstaunte sehr, daß dieser über seine Mitteilungen so -wenig überrascht war; dann eilte er nach Ragatz zu Frau v. Märzfeld, -und als diese am Nachmittag mit ihrem Brautpaar herüberkam, wurden die -neuen Verlobten der erstaunten Badegesellschaft vorgestellt, zugleich -aber auch bestimmt, daß Judith, Martha<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span> und Fanny anderen Morgens -mit nach Ragatz übersiedeln sollten, was der Mutter mit Recht nun -angemessen zu sein schien.</p> - -<p>„Ich dacht’ halt schon gestern“, sagte der Bayer, „’s ist schad’, daß -sie nit seine Braut ist; wir meinen, es bringt Glück, wenn einer die -Seinige recht hoch schwingt.“</p> - -<p>Der Abschied von Pfäffers wurde allen schwer, aber doch sehr -erleichtert durch die Aussicht, daß der General mit seinem Sohne, -die Präsidentin mit ihrer Friedericke in den nächsten Tagen ihnen -nachfolgen wollten.</p> - -<p>Martha freute sich von ganzem Herzen über Judiths wie über Luciens -Glück, wenn auch Stunden kamen, wo sie sehr die Sehnsuchtsgedanken nach -Siegfried bekämpfen mußte. Glücklicherweise blieb ihr nicht viel Zeit -dazu; denn da jetzt Fannys Leitung und Beaufsichtigung wieder allein -in ihrer Hand lag und Frau v. Märzfeld für die vielen Überlegungen und -Besorgungen, welche diese Doppelverlobung mit sich brachte, nur an -ihr eine Stütze fand, waren ihre Kraft und Zeit reichlich in Anspruch -genommen. Ihre Stellung in der Familie war eine ganz andere geworden; -die Liebe ihrer Töchter zu der jungen Erzieherin, die freieren und -billigen Ansichten der Schwiegersöhne über die Stellung derselben, das -Beispiel des Generals und der Präsidentin wirkten mildernd auf Frau v. -Märzfelds Benehmen, und obwohl Martha<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> mit richtigem Takte die äußere -respektvolle Form festhielt, war doch ihre Stellung zur ganzen Familie -mehr die einer lieben, nahen Verwandten, als einer Untergebenen. In den -wenigen Wochen, welche für den Aufenthalt in der Schweiz noch bestimmt -waren, wurden nun noch fleißig hübsche Ausflüge gemacht, teils zu -Wagen, teils per Bahn; da jetzt Fanny nicht mehr zu schwach dazu war, -nahmen alle daran Teil, und so bekam Martha nach und nach ein schönes -Stückchen Schweiz zu sehen; ja, auf der Heimreise rastete man auch in -Heidelberg einige Tage, welches von Kind auf das Ziel ihrer Sehnsucht -gewesen war.</p> - -<hr class="tb"> - -<p>Nach der Heimkehr oder vielmehr schon auf der Heimreise gab es -ernstliche Beratungen darüber, was mit Fanny, die jetzt fast als -genesen anzusehen war, weiter werden sollte. Graf T. und der General, -die sie am unbefangensten beobachtet hatten, rieten sehr dazu, sie bald -in eine Erziehungsanstalt zu bringen mit anderen Kindern zusammen; sie -müsse das Glück gemeinsamer Arbeit und gemeinsamer Erholung kennen -lernen und dürfe nicht mehr, wie bisher, der Mittelpunkt des Hauses -sein.</p> - -<p>Die Frau Präsidentin schlug vor, sie in dieselbe Pension<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> in der Nähe -von Dresden zu bringen, in welcher Friedericke schon einige Jahre -war. Dies schien allen vernünftig und gut zu sein und man beschloß, -Martha solle sie den Winter über durch gründlicheren Unterricht auf den -Eintritt in dieselbe vorbereiten.</p> - -<p>Frau v. Märzfeld bot dieser an, dann als Gesellschafterin bei ihr zu -bleiben, aber Martha schlug das freundlich dankend ab. Sie hatte schon -jetzt immer gefürchtet, sich ihrem speziellen Berufe durch die freiere -Behandlung Fannys zu entfremden; verließ sie diese, so war es ihr klar, -daß sie sich umsehen mußte nach einer Schulstelle.</p> - -<p>Während sie mit Fanny fleißig arbeitete und an den kleineren -Geselligkeiten des Hauses jetzt gern Anteil nahm, wurden allerlei -Briefe und Zeitungsannoncen ausgesandt, und schon vor dem neuen Jahre -wurde ihr die Stelle, auf der wir sie im Anfange unserer Erzählung -fanden, zugesagt.</p> - -<p>Sie konnte nur mit warmer Dankbarkeit aus dem Hause der Frau v. -Märzfeld scheiden. Wie schwer war es zuerst, wie leicht wurde es dann! -Wie schien erst alles so kalt, und nun fühlte sie sich so warm von -Freundschaft und Liebe umgeben!</p> - -<p>Ihre Thränen flossen, auch die Thränen der anderen, als sie Abschied -nahm; aber sie traute fest darauf in ihrem<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> Herzen, daß Gott sie auch -in der neuen Lebenslage an seiner Hand führen werde, und sagte leise -und getrost, als sie einsam dahinfuhr und die lieben Gesichter, die sie -zum Bahnhof begleitet, ihren Augen entschwanden: „In Gottes Namen!“</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Kap_11">11.<br> -Auf eigenen Füßen.</h2> - -</div> - -<p>Ja, was hätte das arme, junge Mädchen wohl anfangen sollen, wenn sie -nicht ihre Zuversicht auf ihren Vater im Himmel gesetzt hätte? Sie -machte sich jetzt keine Illusionen mehr, sie wußte, daß die neue Lage -große Schwierigkeiten mit sich brachte. Zum erstenmale trat sie nicht -in eine fremde Häuslichkeit als Mitglied ein, zum erstenmale sollte sie -des unmittelbaren Schutzes entbehren!</p> - -<p>Das Leben im Märzfeldschen Hause war in den Außendingen dem sehr -ähnlich gewesen, das sie im elterlichen Hause geführt hatte; da war -nie ein Mangel an Speise und Trank; da war sie so gestellt, daß sie -sich ohne Sorgen anständige Kleidung und nebenbei manch gutes Buch -anschaffen konnte; die ganze Umgebung war fein und nett; ja, sie war -jetzt wieder verwöhnt, recht sehr verwöhnt! Würde sie es lernen, mit -ihrem kleinen Gehalte anständig auszukommen?</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p> - -<p>Ihr erster Weg war zum Direktor der Schule; er empfing sie ernst und -würdevoll, aber teilnehmend. Als sie ihn um seinen Rat wegen ihrer -künftigen Wohnung bat, hatte er sie an Fräulein Klug gewiesen, und -obgleich dieselbe ihr zuerst mehr schroff als herzlich entgegengekommen -war, hatte doch das Bedürfnis nach irgendeinem Anschlusse gesiegt: sie -war mit der alten Kollegin in eine Etage gezogen, und wir haben schon -gesehen, wie sehr dies zum Besten der beiden Beteiligten war.</p> - -<p>Auch in der Schule gab es anfangs große Schwierigkeiten. Sie hatte -sich gewöhnt, auf die Eigentümlichkeit ihrer Schülerin die größte -Rücksicht zu nehmen, und hätte dies gern fortgesetzt; wenn aber so -viele verschieden angelegte Kinder ein Klassenziel erreichen sollten, -war dies nur in beschränktem Maße möglich; der Direktor mußte sich -einmischen und sie auf geordnetere Bahnen weisen, und der Martha -erschien es, wenn sie ihm folgen mußte, als gäbe sie ihr Allerbestes -auf! Sie machte auch gern im Unterrichte Exkursionen, zog das -Interessante und Anregende dem unbedingt Nötigen vor und kam dann ins -Gedränge mit ihrem Lehrstoff. Da gab es manche Reibung, manches innere -und äußere Unglück, bis ein unausgesprochenes Übereinkommen zustande -kam, indem Martha einsah, daß in einem so großen, gut organisierten -Ganzen der einzelne sich unterordnen muß,<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> wenn es auch mit manchem -Opfer geschieht, und der Direktor dagegen, als er Marthas beglückenden, -erziehenden Einfluß auf ihre jungen Schülerinnen sah, ihr so viel -Freiheit gewährte, als es sich mit seiner Schulordnung irgendwie -vertrug.</p> - -<p>All’ diese Erfahrungen ihres jungen und doch so wechselvollen Lebens -gingen an ihrem Geistesauge vorüber, als sie am Weihnachtsabend dem -Verglimmen der Lichte am Tannenbaume zusah. Wie viel hatte sie erlebt, -seitdem sie mit Siegfried im Hause der Eltern das Weihnachtslied der -Urgroßmutter gesungen! Oft, oft hatte sie dies Lied seitdem gelesen, -gesungen hatte sie es nie mehr; es war ihr immer gewesen, als ginge -das nicht ohne ihn. Ja, sie hatte hindurch gemußt durch Armut, durch -Leid, durch Niedrigkeit; sie hatte an des Todes Pforten gestanden, als -ihre Lieben hindurchgegangen waren; aber überall hatte Gottes Hand sie -gehalten und zärtlich wie eine Mutter sie durch die schwersten Stunden -geführt. Aus jeder schweren Lebenslage war ihr ein Gewinn geblieben, -viel Liebe und Freundschaft, das hatte sie in diesen Tagen erfahren.</p> - -<p>Dort lagen unterm Spiegel die Briefe ihrer Lieben; dort im Wandschranke -waren die Schätze aufgespeichert, die Judith ihr aus ihrer Wirtschaft -geschickt; dort in dem kleinen Kasten lagen Fannys und Luciens feine -Arbeiten; dort sah<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> sie auch auf Suschens letzten glücklichen Brief -nach der Geburt ihres ersten Kindchens; und so reich und schön dies -alles war, der innere Gewinn war doch noch größer. Die Sehnsucht kam -wohl nach ihrem Siegfried, die Sorge: „Werde ich durchkommen? Wie wird -es mir gehen, wenn ich alt und gebrechlich werde wie Fräulein Klug?“ -Aber nein! sie wollte nicht zittern und zagen, sie wollte sich und -Siegfried fest in die Vaterhand legen, die den eingebornen Sohn aus -Liebe uns geschenkt. Ja, heute, heute konnte sie, heute wollte sie das -Lied der Urgroßmutter wieder singen; sie öffnete das Instrument und -sang mit voller, klarer Stimme:</p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent0">Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht,</div> - <div class="verse indent0">Die uns das höchste Gut gebracht:</div> - <div class="verse indent0">Dich, Gottessohn, dich, Königskind,</div> - <div class="verse indent0">Das man im Stall und Kripplein find’t.</div> - </div> -</div> -</div> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Schluss">Schluß.</h2> - -</div> - -<p>Einige Stunden früher schleppte sich der Kurierzug nach B. durch die -verschneite Landschaft. Er machte seinem Namen heute wenig Ehre; zu -gewaltig fielen die Schneemassen, zu heftig jagte sie der Wind in die -Hohlwege, welche der Zug passieren mußte. So lange man durchs offene -Land fuhr, konnten Kolonnen von Arbeitern die Schienen leidlich vom -Schnee befreien, und wenn es auch viel langsamer ging als sonst und -die Stationszeiten nirgends eingehalten werden konnten — es ging doch -vorwärts!</p> - -<p>In einem Coupé zweiter Klasse saß ein Herr mit noch jungem aber -ernstem und gebräuntem Angesichte, das fast traurig in den Schneesturm -hinausblickte, der seine kleinen, feinen Krystallsternchen so gegen das -Fenster warf, daß man nur in einzelnen, seltenen Pausen einen Ausblick -auf die Umgebung bekam; er zeigte auch nichts weiter, als ein großes -weiß-graues Tuch, welches Häuser, Bäume, Felder und<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> jede Ungleichheit -des Terrains verhüllte und verdeckte. Die Wagen waren geheizt, aber -man merkte nichts davon; der eisige Sturm drang durch alle Ritzen, und -zwei Jünglinge, dem Pelzumhüllten gegenüber, schlugen mit den Armen -übereinander, um sich zu erwärmen.</p> - -<p>„Ob wir heute noch nachhause kommen, Alfred?“</p> - -<p>„Wollen’s hoffen“, entgegnete der Gefragte; „es wäre ungemütlich, den -Abend im Schnee zu verbringen statt unter dem Weihnachtsbaum.“</p> - -<p>Der Ältere sah nach seiner Uhr: „Es ist schon fast zwei Stunden über -die Zeit, auf dem Bahnhofe kann wohl niemand mehr sein.“</p> - -<p>Da ertönte ein schriller Pfiff — Stationslichter — der Schaffner -öffnet die Thür: „N., Aussteigen!“</p> - -<p>Mit einem Satz, die bunten Studentenmützen fröhlich lüftend, waren die -beiden Jünglinge draußen; man sah zwei vermummte Mädchengestalten und -einen etwa zehnjährigen Knaben.</p> - -<p>„Fritz, Elisabeth, Julchen, ihr alle hier? Na, kommt nur schnell -nachhause! Da ist auch Heinrich mit dem Schlitten!“ Die Thür flog zu, -der Zug dampfte weiter.</p> - -<p>Der Reisende in der Ecke seufzte schwer: „Nachhause! Die Glücklichen -gehen nachhause! O, wo ist mein Zuhause auf der ganzen weiten Welt?“</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span></p> - -<p>Heute vor fünf Jahren da hatte er zum letztenmal ein Zuhause gehabt; -nicht bei Vater und Mutter, die lagen schon lange unterm Rasen, aber -bei ihr; sie hatten zusammen unter dem brennenden Baum gestanden, -sie hatten geträumt von einer süßen, gemeinsamen Heimat — und schon -am anderen Morgen war alles zusammengebrochen! Als sich seine heißen -Wünsche nicht gleich erfüllt hatten, da war er fortgestürmt in die -Ferne ohne Abschied, Zorn und Stolz im Herzen und hochfliegende -Hoffnungen und Erwartungen auf Glück und Reichtum. Übers Weltmeer war -er gezogen, dort in Missouri wußte er eine Thür, daran durfte er nur -klopfen, damit Fortuna ihr Füllhorn über ihn ausgoß; dort lebte der -einsame Oheim, der sich nach seiner Hilfe und Gesellschaft sehnte und -den er beerben sollte.</p> - -<p>Nach mancherlei Fährlichkeiten zu Wasser und zu Lande stand er vor dem -stattlichen Hause; der Oheim war ausgegangen; ein frisches, junges -Weib, mit einem lustigen, kleinen Buben auf dem Arm, empfing ihn. -Sie war nicht herzlos, nicht unfreundlich, auch der Oheim, als er -heimkehrte, war es nicht; aber daß sich seine Aussichten hier völlig -verändert hatten, das brauchte ihm ja niemand zu sagen.</p> - -<p>Der Onkel hatte ihm unter die Arme greifen, ihm die Wege ebnen wollen -zum Vorwärtskommen; er hatte alles<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> in seinem Hochmut abgelehnt und -sich auf seine eigene Kraft verlassen. Er wurde bald inne, daß er etwas -Schweres unternommen hatte; er suchte eine Stelle als Landwirt — -man bot ihm Knechtsarbeit; er wollte als Kaufmann auf einem Comptoir -arbeiten — und fand keine Stelle.</p> - -<p>Da kam die Not. Sein kleines väterliches Vermögen war ihm im Vaterlande -sichergestellt, daran konnte und wollte er nicht rühren; an seinen -väterlichen Freund zu schreiben, konnte er sich nicht entschließen; da -ging es tief hinunter mit seinen hohen Gedanken.</p> - -<p>Monatelang hatte er als Arbeitsmann sein Brot verdient, dann war er -Sprachlehrer gewesen; er hatte sein Leben kärglich gefristet; aber -erworben, irgendetwas erworben, das er ihr bieten konnte, das hatte er -nicht.</p> - -<p>Darum schrieb er ihr nicht; was sollte er ihr schreiben? In einer -elenden Nacht, da sein ganzes Geschick sehr dunkel vor ihm lag, und -ihres auch, da wurde es ihm klar: „Mit Sorgen und mit Grämen und mit -selbst eig’ner Pein läßt Gott ihm gar nichts nehmen, es muß erbeten -sein!“</p> - -<p>Und er lernte wieder beten; das verirrte Kind klopfte an des rechten -Vaters Thür und der Vater that ihm auf und tröstete ihn.</p> - -<p>Er war mit einem Deutschen zusammengekommen, der hatte ein herrliches -Grundstück für ein industrielles Unternehmen<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> und ein großes Kapital -zum Anfang; aber ihm fehlte, was Siegfried besaß: Intelligenz, -Kenntnisse, Thatkraft. Er bot eine namhafte Summe, wenn dieser ihm sein -Geschäft in Gang bringen wolle, und fortdauernden Anteil am Gewinn.</p> - -<p>Das Unternehmen gelang; sowie dies sich zeigte, hatte Siegfried an sie -geschrieben, an seine Martha; er erhielt keine Antwort.</p> - -<p>„Sie wollen ihr den Brief nicht zeigen“, dachte er, und als nach einem -Vierteljahre keine Antwort kam, schrieb er noch einmal, diesmal an den -Vater; wieder lange, lange keine Antwort. Endlich kam der Brief zurück: -„Adressat seit Jahren tot, Angehörige verzogen.“</p> - -<p>O Gott, wie wurde nun sein Herz so schwer! Sobald sich’s thun ließ, -ging er nach Newyork, um dort womöglich Landsleute zu treffen; es -gelang ihm; sie brachten die Schreckenskunde vom Konkurs und dem gleich -darauf erfolgten Tode des Kommerzienrats; aber niemand, niemand wußte, -wo die Seinigen geblieben waren.</p> - -<p>Welche Qual! Er schrieb an den Onkel Konsul und erfuhr auch dessen Tod. -Wie lang, wie endlos lang wurde ihm das Jahr, das er durchaus noch in -Amerika verleben mußte, wenn das Unternehmen in sicheren Gang kommen -sollte!</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span></p> - -<p>Nun war er in der Heimat, bei ungünstiger Jahreszeit in Sturm und -Wetter herübergefahren, und schon wochenlang irrte er umher und suchte -sie, ohne eine Spur von ihr entdeckt zu haben. Auf der Post wußte -man nichts mehr von ihrer Adresse; die Angehörigen des Onkel Konsul -waren nach dem Süden gezogen; entferntere Bekannte erinnerten sich, in -irgendeiner Zeitung die Todesnachricht der Frau Feldwart gelesen zu -haben; sie wußten nicht mehr, wann und woher, und die Zeitung fand sich -nicht. Das war ihm gewiß: er mußte in der Heimat bleiben, mußte seine -Nachforschungen fortsetzen; es mußte ja möglich sein, sie zu finden; -wenn es gar nicht anders ging, durchs Einrücken in die Blätter.</p> - -<p>Ach, wenn er doch damals in seinem Hochmut nicht fortgegangen wäre! -Wie viel hätte er der Verlassenen sein können! Es konnte aber länger -dauern, bis er sie fand, und er wollte sich einen Wirkungskreis -schaffen, um nicht müßig zu sein, und hatte sich hier und da ein -Besitztum angesehen, das seinen Mitteln und Ansprüchen entsprach.</p> - -<p>So verlassen, so betrübt, so voll Sehnsucht hatte er sich noch nie -gefühlt wie heute; zum erstenmale kam ihm der Gedanke, sie könne -gestorben sein oder — was war schlimmer? verheiratet. Er dachte daran: -„Es ist ja Weihnachten!“ Es fiel ihm der Engelgruß ein: „Siehe, ich -verkündige<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> euch große Freude!“ Ach, in seinem Herzen da war nur Leid; -er bat den lieben Gott um einen Brosamen von der Freudenfülle, die -sich heute über die ganze Welt ergoß, und sein Herz wurde stiller und -ergebener, wenn es auch eben noch nicht fröhlich wurde.</p> - -<p>Der Bahnzug fuhr jetzt langsam an einer kleinen Station vorüber; hier -hielten die Kurierzüge nicht an, es ging weiter in die Nacht hinein. -Da auf einmal ging es langsam, immer, immer langsamer; man sah an -den Seiten schwarze, vermummte Gestalten mit Laternen und Schaufeln -arbeiten; man hörte durch den Sturm hindurch die Unterhaltung der -Schaffner mit den Leuten. Aber alle Anstrengungen waren vergeblich; -immer höher baute sich die Mauer im Hohlwege, die der Zug nicht -durchbrechen konnte; sollte er nicht ganz darunter begraben werden, -mußte man zurückkehren zu der kleinen Station; es geschah.</p> - -<p>Frierend stieg der Reisende aus und wollte eben in die Restauration -treten, da klang es durch den Sturm wie Glockengeläute und durch das -Schneetreiben schimmerte es auf einem nahen Hügel wie erleuchtete -Fenster.</p> - -<p>„Ist hier Christvesper?“ fragte er.</p> - -<p>„Ja wohl, unsere Kinder wollen eben hin.“</p> - -<p>Der Reisende fror, er hätte sich gern erst gewärmt, aber eine deutsche -Christvesper — die heimelte ihn gar zu sehr an.<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> Ach ja, es ward -ihm auch innerlich warm und wohl, als er mitsingen durfte: „Dies -ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit!“ -Er schmeckte den süßen Trost für alles Weh, der in der himmlischen -Freudenbotschaft lag; aber er betete, betete aus vollem Herzen, -Gott wolle ihm die wiederschenken, die vor fünf Jahren die letzte -Christvesper neben ihm gefeiert.</p> - -<p>Siegfried, siehst du sie nicht, die schlanke Gestalt, die gar nicht -weit von dir neben dem Pfeiler sich über ihr Gesangbuch beugt? Nein, -er sah sie nicht; sie kehrte ihm den Rücken, und ihre weiße Capote -verhüllte den jugendlichen Kopf.</p> - -<p>Als die Christvesper zu Ende war, trat er in ein Gasthaus, um sich zu -erwärmen und etwas Speise zu sich zu nehmen; wenige Reisende fand er -hier — sie waren heute alle zuhause!</p> - -<p>Eine Stunde verging in gleichgültiger Unterhaltung; Siegfried trat ans -Fenster: es hatte sich schon während des Gottesdienstes aufgehellt, -jetzt war es völlig still. Er wollte nach dem Bahnhofe und sich -erkundigen nach der Weiterreise. Ein schriller Pfiff der Lokomotive -machte es ihm wahrscheinlich, daß es die höchste Zeit sei.</p> - -<p>„Ist hier der nächste Weg nach dem Bahnhofe?“ fragte er eine -vorübereilende Frau.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span></p> - -<p>„Nein, gehen Sie hier durch die Schustergasse, das ist näher!“</p> - -<p>Er ging weiter, aber er ging wie im Traum; er war mit seinen Gedanken -bei dem Weihnachtsabend vor fünf Jahren; er dachte an Urgroßmutters -Weihnachtslied: „Du wurdest arm, daß ich würd’ reich; nun gilt mir arm -und reich sein gleich.“ Das wußte er noch, denn daran hatte er damals -seinen Antrag geknüpft. O, wie wünschte er, das ganze Lied noch zu -können, jetzt könnte er’s mit anderem Sinne singen!</p> - -<p>Was war das? War es eine Geisterstimme? Hoch über ihm klang’s herab, -und ach, mit welcher Stimme: „Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht, die uns -das höchste Gut gebracht; dich Gottessohn, dich Königskind, das man im -Stall und Kripplein find’t.“</p> - -<p>Einen Augenblick stand er wie in einen Traum versunken, dann kam -Bewußtsein und Bewegung.</p> - -<p>„Wer singt da?“ fragte er einen Schusterjungen, der eilends -vorüberlief, um noch Schuhe wegzutragen, die beschert werden sollten.</p> - -<p>„Es wird die neue Lehrerin, die Fräulein Feldwart, sein!“</p> - -<p>Ach, da war im Nu der Fremde im Hause verschwunden; unten im Flur -brannte ein trübes Lämpchen, das ihm<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span> die Treppe zeigte. Er wollte -sehr leise hinaufgehen, aber oben war kein Licht; er trat fehl und die -Stufen knarrten. Martha brach mitten im zweiten Vers ab und öffnete die -Thür.</p> - -<p>Fast erschrocken stand sie dem Manne im Reisepelz gegenüber; vorsichtig -und schüchtern trat er näher.</p> - -<p>„Erschrecken Sie nicht, Martha, es ist ein alter, treuer Freund!“</p> - -<p>Ach, jetzt wußte sie, wer es war, jetzt hielt er sie umschlungen und -mußte sie halten, damit sie nicht umsank, und dann hörte man lange, -lange nichts anderes als leises Schluchzen; ja, dies Weihnachtsgeschenk -war so groß, daß es das schwache Herz nicht gleich fassen konnte.</p> - -<p>Aber dann tauschten sie ihre Erlebnisse aus, erst abgerissen und dann -zusammenhängender, und sahen sich dabei an und fanden, daß wohl etwas -von der Rundung und dem Schmelz der ersten Jugend aus den Zügen fort -war, aber dafür etwas darin, was viel, viel schöner war; und die alte -Liebe und Treue, die war geblieben, und daran hatten sie beide niemals -gezweifelt.</p> - -<p>„Und wo kommst du heute her, Siegfried?“</p> - -<p>„Aus einem kleinen Orte, den du wohl kaum kennst, aus Weißfeld. Der -Amtmann dort hat sich in Schlesien ein größeres Gut gekauft und will -Weißfeld verkaufen; ich<span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span> habe Lust, den Kauf abzuschließen; es gefiel -mir dort gar manches.“</p> - -<p>„Was gefiel dir, Siegfried?“ fragte Martha mit strahlenden Augen.</p> - -<p>„Ach, es führte mich eine alte, krumme Frau herum; das war ein -prächtiges altes Geschöpf; ich dachte mir’s so schön, die bis zum Tode -zu pflegen. Und dann, Martha — ach, es ist fast ein bißchen sonderbar -— aber du wirst es verstehen; es war da ein kleiner eiserner Tisch -und eine Bibel darauf, und die Alte sagte, es rühre von einer früheren -Besitzerin her, die habe gewünscht, daß es so bleiben möchte, das -brächte dem Gute Segen. Das gefiel mir auch!“</p> - -<p>Er wunderte sich, als er ihr Gesicht von Thränen überströmt sah.</p> - -<p>„O Urgroßmutter! Urgroßmutter!“ rief sie aus.</p> - -<p>Da war denn Siegfried voll Erstaunen, als er den Zusammenhang erfuhr.</p> - -<p>„Ja“, sagte Martha, „‚denen, die mich lieben und meine Gebote halten, -thue ich wohl bis ins tausendste Glied!‘ Das ist gewißlich wahr! -O Siegfried! Siegfried! Es ist ein Zusammenhang da zwischen dem -Betschemel der Urgroßmutter und dem Glück ihrer Urenkelin!“</p> - -<p>Siegfried war auch bewegt.</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p> - -<p>„Das ist ein schöner Gedanke, aber auch ein ernster und -verantwortungsvoller“, sagte er, „wenn man sich als ein Glied in einer -so großen Kette betrachtet, beeinflußt von der Vergangenheit und weiter -wirkend in die Zukunft hinein.“</p> - -<p>Martha wunderte sich, daß er in Weißfeld nichts von ihr gehört habe; -aber sein Aufenthalt war nur kurz gewesen — „und“, sagte Martha, „die -Urgroßmutter hat uns gewiß selbst wieder zusammenführen wollen durch -ihr Weihnachtslied.“</p> - -<p>„Wie wird sich Suschen, mein liebes Suschen freuen, wenn ich dort -einziehe! Aber eine Bitte habe ich noch, Siegfried, eine recht große. -Nicht wahr, wir haben ein Stübchen übrig für meine alte, liebe Freundin -Klug?“</p> - -<p>Und als der glückliche Bräutigam vernommen, was diese seiner Braut -gewesen war, da stimmte er mit Freuden zu; sie sollte sogleich zum -Abendbrot gerufen werden und ihr Glück vernehmen.</p> - -<p>„Aber erst will ich alles festlich herrichten!“ sagte Martha.</p> - -<p>Sie steckte neue Lichter an das Weihnachtsbäumchen, sie deckte den -Tisch mit einem reinen, weißen Tuch und besetzte ihn mit Judiths guten -Gaben, denen „mein Georg“ einige Flaschen Rotwein beigefügt. Dann stand -das Brautpaar<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> vor der alten Freundin, die sehr überrascht und bewegt, -aber voll Liebe und treuer Wünsche war.</p> - -<p>„Und nun müssen Sie mit uns essen“, drängte Martha, „ich muß ja doch -eine Brautmutter haben!“</p> - -<p>Und an der fröhlichen Abendtafel da trug man ihr die schönen -Zukunftspläne vor. Es war ihr zuerst zu neu und wunderbar, dann faltete -sie ihre Hände wie zu einem stillen Gebete: „Ja, Kinder, wenn mir nicht -der liebe Gott ein anderes Altenstübchen anweist, so gehe ich mit; ich -will euch, so er hilft, nicht zur Last sein!“</p> - -<p>„Was werden meine Kinder, meine lieben Kinder sagen?“ ging wehmütig -durch Marthas Seele; aber sie tröstete sich: „Bis Ostern bin ich -noch bei ihnen, und Agnes, Helene und Eva müssen jedenfalls meine -Brautjungfern sein!“</p> - -<p>Das Abendbrot war verzehrt, die Uhr zeigte auf zehn.</p> - -<p>„Und nun, Martha“, sagte Siegfried, „bevor ich gehe —“</p> - -<p>Sie fiel ihm ins Wort: „Nun, Siegfried, singen wir noch einmal zusammen -Urgroßmutters Weihnachtslied!“</p> - -<p>„Ja, Martha, und mit mehr Verständnis als vor fünf Jahren.“</p> - -<p>Die Lichter am Baume strahlten, die Augen glänzten noch heller und die -Herzen schlugen in heiliger Weihnachtsfreude, als sie sangen:</p> - -<p><span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span></p> - -<div class="poetry-container"> -<div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Sei mir gegrüßt, geweihte Nacht,</div> - <div class="verse indent0">Die uns das höchste Gut gebracht,</div> - <div class="verse indent0">Dich Gottessohn, dich Königskind,</div> - <div class="verse indent0">Das man im Stall und Kripplein find’t.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Daß ich empfinge Kindesrecht,</div> - <div class="verse indent0">Wohnst du wie ein geringer Knecht;</div> - <div class="verse indent0">Drum will ich gern veracht’t und klein,</div> - <div class="verse indent0">Herr, Dir zu Lieb’ und Ehren sein.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Dein war des Himmels Herrlichkeit,</div> - <div class="verse indent0">Aller Welt Schätze weit und breit;</div> - <div class="verse indent0">Du wurdest arm, daß ich würd’ reich,</div> - <div class="verse indent0">Nun gilt mir arm und reich sein gleich.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Du kamst aus lichtem Himmelssaal</div> - <div class="verse indent0">Und gingst für mich durchs dunkle Thal;</div> - <div class="verse indent0">Ich bin zum Leid nun auch bereit,</div> - <div class="verse indent0">Da du es durch dein Leid geweiht.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Für mich, mein Lebensfürst und Gott,</div> - <div class="verse indent0">Gabst du dich hin in Todesnot;</div> - <div class="verse indent0">Daß ich dem Tod verfall’nes Kind</div> - <div class="verse indent0">Durch dich das ew’ge Leben find’.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Ich kniee an dein Kripplein hin</div> - <div class="verse indent0">Und fasse nicht das Wunder drin,</div> - <div class="verse indent0">Und bitte dich: O Herr, verleih,</div> - <div class="verse indent0">Daß dies mein Bitten ernstlich sei!</div><span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse indent2">Du giebst dich mir, Herr Christ, ich hab’</div> - <div class="verse indent0">Nur mich als arme Gegengab’.</div> - <div class="verse indent0">O nimm mich hin, Rat, Kraft und Held,</div> - <div class="verse indent0">Und mach aus mir, was dir gefällt.</div> - </div> -</div> -</div> - -<p>Ja, jetzt war ihr Bitten ernstlich; sie wußten, der Herr mußte noch -viel an ihnen thun und viel mit seiner Liebe zudecken, wenn sie ihm -gefallen sollten; sie wußten auch, daß er sie zu diesem Ende noch auf -manchen sauern Weg und manche rauhe Bahn führen werde; aber sie waren -getrost. Sie verließen sich nicht mehr auf sich selbst oder andere -menschliche Stützen, sondern auf den, der sie mit seinen Augen geleitet -durch alle die schweren Jahre, und:</p> - -<p>Herr Gott Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verläßt!</p> - -<div class="figcenter illowe8" id="schluss_deko"> - <img class="w100" src="images/schluss_deko.png" alt="Dekoration"> -</div> - -<div class="chapter padtop5"> - -<hr class="r5"> - -<p class="s5 center">Druck von Friedr. Andr. Perthes in Gotha.</p> - -<hr class="r5"> - -</div> - -<div lang='en' xml:lang='en'> -<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DAS WEIHNACHTSLIED</span> ***</div> -<div style='text-align:left'> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Updated editions will replace the previous one—the old editions will -be renamed. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part -of this license, apply to copying and distributing Project -Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ -concept and trademark. 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The following sentence, with active links to, or other -immediate access to, the full Project Gutenberg™ License must appear -prominently whenever any copy of a Project Gutenberg™ work (any work -on which the phrase “Project Gutenberg” appears, or with which the -phrase “Project Gutenberg” is associated) is accessed, displayed, -performed, viewed, copied or distributed: -</div> - -<blockquote> - <div style='display:block; margin:1em 0'> - This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most - other parts of the world at no cost and with almost no restrictions - whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms - of the Project Gutenberg License included with this eBook or online - at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. 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Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this -electronic work, or any part of this electronic work, without -prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with -active links or immediate access to the full terms of the Project -Gutenberg™ License. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, -compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including -any word processing or hypertext form. However, if you provide access -to or distribute copies of a Project Gutenberg™ work in a format -other than “Plain Vanilla ASCII” or other format used in the official -version posted on the official Project Gutenberg™ website -(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense -to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means -of obtaining a copy upon request, of the work in its original “Plain -Vanilla ASCII” or other form. 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INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the -trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone -providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in -accordance with this agreement, and any volunteers associated with the -production, promotion and distribution of Project Gutenberg™ -electronic works, harmless from all liability, costs and expenses, -including legal fees, that arise directly or indirectly from any of -the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this -or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or -additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any -Defect you cause. -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™ -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of -electronic works in formats readable by the widest variety of -computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It -exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations -from people in all walks of life. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Volunteers and financial support to provide volunteers with the -assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s -goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will -remain freely available for generations to come. In 2001, the Project -Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure -and permanent future for Project Gutenberg™ and future -generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see -Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit -501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the -state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal -Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification -number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by -U.S. federal laws and your state’s laws. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, -Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up -to date contact information can be found at the Foundation’s website -and official page at www.gutenberg.org/contact -</div> - -<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'> -Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread -public support and donations to carry out its mission of -increasing the number of public domain and licensed works that can be -freely distributed in machine-readable form accessible by the widest -array of equipment including outdated equipment. Many small donations -($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt -status with the IRS. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -The Foundation is committed to complying with the laws regulating -charities and charitable donations in all 50 states of the United -States. Compliance requirements are not uniform and it takes a -considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up -with these requirements. We do not solicit donations in locations -where we have not received written confirmation of compliance. To SEND -DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state -visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -While we cannot and do not solicit contributions from states where we -have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition -against accepting unsolicited donations from donors in such states who -approach us with offers to donate. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -International donations are gratefully accepted, but we cannot make -any statements concerning tax treatment of donations received from -outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Please check the Project Gutenberg web pages for current donation -methods and addresses. 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Thus, we do not -necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper -edition. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -Most people start at our website which has the main PG search -facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. -</div> - -<div style='display:block; margin:1em 0'> -This website includes information about Project Gutenberg™, -including how to make donations to the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to -subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. -</div> - -</div> -</div> -</body> -</html> diff --git a/old/69525-h/images/cover.jpg b/old/69525-h/images/cover.jpg Binary files differdeleted file mode 100644 index c403937..0000000 --- a/old/69525-h/images/cover.jpg +++ /dev/null diff --git a/old/69525-h/images/schluss_deko.png b/old/69525-h/images/schluss_deko.png Binary files differdeleted file mode 100644 index c45a462..0000000 --- a/old/69525-h/images/schluss_deko.png +++ /dev/null diff --git a/old/69525-h/images/titel_deko.png b/old/69525-h/images/titel_deko.png Binary files differdeleted file mode 100644 index 4e3fff7..0000000 --- a/old/69525-h/images/titel_deko.png +++ /dev/null |
