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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 05:29:11 -0700
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+The Project Gutenberg EBook of Gotzen-Dammerung, by Friedrich Wilhelm Nietzsche
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+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
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+
+Title: Gotzen-Dammerung
+
+Author: Friedrich Wilhelm Nietzsche
+
+Release Date: January, 2005 [EBook #7203]
+[This file was first posted on March 26, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO Latin-1
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, GOTZEN-DAMMERUNG ***
+
+
+
+
+This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg - DE"
+(http://www.gutenberg2000.de/nietzsche/goetzend/0inhalt.htm), prepared
+by juergen@redestb.es.
+
+
+
+
+Friedrich Nietzsche
+
+Götzen-Dämmerung
+
+
+
+
+Inhaltsverzeichnis
+
+ Vorwort
+ Sprüche und Pfeile
+ Das Problem des Sokrates
+ Die "Vernunft" in der Philosophie
+ Wie die "wahre Welt" endlich zur Fabel wurde
+ Moral als Widernatur
+ Die vier grossen Irrthümer
+ Die "Verbesserer" der Menschheit
+ Was den Deutschen abgeht
+ Streifzüge eines Unzeitgemässen
+ Was ich den Alten verdanke
+ Der Hammer redet
+
+
+
+
+Götzen-Dämmerung
+
+oder
+
+Wie man mit dem Hammer philosophirt.
+
+
+
+
+Vorwort.
+
+Inmitten einer düstern und über die Maassen verantwortlichen
+Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts Kleines von -
+Kunststück: und doch, was wäre nöthiger als Heiterkeit? Kein Ding
+geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat. Das Zuviel von
+Kraft erst ist der Beweis der Kraft. - Eine Umwerthung aller Werthe,
+dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den
+wirft, der es setzt - ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden
+Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer
+gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht,
+jeder "Fall" ein Glücksfall. Vor Allem der Krieg. Der Krieg war immer
+die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister;
+selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft. Ein Spruch, dessen
+Herkunft ich der gelehrten Neugierde vorenthalte, war seit langem mein
+Wahlspruch:
+
+increscunt animi, virescit volnere virtus.
+
+Eine andere Genesung, unter Umständen mir noch erwünschter, ist Götzen
+aushorchen... Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist
+mein "böser Blick" für diese Welt, das ist auch mein "böses Ohr"...
+Hier einmal mit dem Hammer Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort
+jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet
+- welches Entzücken für Einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat, -
+für mich alten Psychologen und Rattenfänger, vor dem gerade Das, was
+still bleiben möchte, laut werden muss...
+
+Auch diese Schrift - der Titel verräth es - ist vor Allem eine
+Erholung, ein Sonnenfleck, ein Seitensprung in den Müssiggang eines
+Psychologen. Vielleicht auch ein neuer Krieg? Und werden neue Götzen
+ausgehorcht?... Diese kleine Schrift ist eine grosse Kriegserklärung;
+und was das Aushorchen von Götzen anbetrifft, so sind es dies Mal
+keine Zeitgötzen, sondern ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie
+mit einer Stimmgabel gerührt wird, - es giebt überhaupt keine älteren,
+keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen... Auch keine
+hohleren... Das hindert nicht, dass sie die geglaubtesten sind; auch
+sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze...
+
+ Turin, am 30. September 1888,
+ am Tage, da das Buch der Umwerthung
+ aller Werthe zu Ende kam.
+
+ FRIEDRICH NIETZSCHE.
+
+
+
+Sprüche und Pfeile.
+
+1.
+
+Müssiggang ist aller Psychologie Anfang. Wie? wäre Psychologie ein -
+Laster?
+
+
+2.
+
+Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er
+eigentlich weiss...
+
+
+3.
+
+Um allein zu leben, muss man ein Thier oder ein Gott sein -
+sagt Aristoteles. Fehlt der dritte Fall: man muss Beides sein -
+Philosoph...
+
+
+4.
+
+"Alle Wahrheit ist einfach." - Ist das nicht zwiefach eine Lüge? -
+
+
+5.
+
+Ich will, ein für alle Mal, Vieles nicht wissen. - Die Weisheit zieht
+auch der Erkenntniss Grenzen.
+
+
+6.
+
+Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur,
+von seiner Geistigkeit...
+
+
+7.
+
+Wie? ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein
+Fehlgriff des Menschen? -
+
+
+8.
+
+Aus der Kriegsschule des Lebens. - Was mich nicht umbringt, macht mich
+stärker.
+
+
+9.
+
+Hilf dir selber: dann hilft dir noch Jedermann. Princip der
+Nächstenliebe.
+
+
+10.
+
+Dass man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! dass man
+sie nicht hinterdrein im Stiche lässt! - Der Gewissensbiss ist
+unanständig.
+
+
+11.
+
+Kann ein Esel tragisch sein? - Dass man unter einer Last zu Grunde
+geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann?... Der Fall des
+Philosophen.
+
+
+12.
+
+Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem
+wie? - Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das.
+
+
+13.
+
+Der Mann hat das Weib geschaffen - woraus doch? Aus einer Rippe seines
+Gottes, - seines "Ideals"...
+
+
+14.
+
+Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen? du
+suchst Anhänger? - Suche Nullen.
+
+
+15.
+
+Posthume Menschen - ich zum Beispiel - werden schlechter verstanden
+als zeitgemässe, aber besser gehört. Strenger: wir werden nie
+verstanden - und daher unsre Autorität...
+
+
+16.
+
+Unter Frauen. - "Die Wahrheit? Oh Sie kennen die Wahrheit nicht! Ist
+sie nicht ein Attentat auf alle unsre pudeurs?" -
+
+
+17.
+
+Das ist ein Künstler, wie ich Künstler liebe, bescheiden in seinen
+Bedürfnissen: er will eigentlich nur Zweierlei, sein Brod und seine
+Kunst, - panem et Circen...
+
+
+18.
+
+Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt
+wenigstens einen Sinn noch hinein: das heisst, er glaubt, dass ein
+Wille bereits darin sei (Princip des "Glaubens").
+
+
+19.
+
+Wie? ihr wähltet die Tugend und den gehobenen Busen und seht zugleich
+scheel nach den Vortheilen der Unbedenklichen? - Aber mit der Tugend
+verzichtet man auf "Vortheile"... (einem Antisemiten an die Hausthür.)
+
+
+20.
+
+Das vollkommene Weib begeht Litteratur, wie es eine kleine Sünde
+begeht: zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblickend, ob es Jemand
+bemerkt und dass es Jemand bemerkt...
+
+
+21.
+
+Sich in lauter Lagen begeben, wo man keine Scheintugenden haben darf,
+wo man vielmehr, wie der Seiltänzer auf seinem Seile, entweder stürzt
+oder steht - oder davon kommt...
+
+
+22.
+
+"Böse Menschen haben keine Lieder." - Wie kommt es, dass die Russen
+Lieder haben?
+
+
+23.
+
+"Deutscher Geist": seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.
+
+
+24.
+
+Damit, dass man nach den Anfängen sucht, wird man Krebs. Der
+Historiker sieht rückwärts; endlich glaubt er auch rückwärts.
+
+
+25.
+
+Zufriedenheit schützt selbst vor Erkältung. Hat je sich ein Weib, das
+sich gut bekleidet wusste, erkältet? - Ich setze den Fall, das es kaum
+bekleidet war.
+
+
+26.
+
+Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der
+Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.
+
+
+27.
+
+Man hält das Weib für tief - warum? weil man nie bei ihm auf den Grund
+kommt. Das Weib ist noch nicht einmal flach.
+
+
+28.
+
+Wenn das Weib männliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen; und
+wenn es keine männlichen Tugenden hat, so läuft es selbst davon.
+
+
+29.
+
+"Wie viel hatte ehemals das Gewissen zu beissen? welche guten Zähne
+hatte es? - Und heute? woran fehlt es?" - Frage eines Zahnarztes.
+
+
+30.
+
+Man begeht selten eine Übereilung allein. In der ersten Übereilung
+thut man immer zu viel. Eben darum begeht man gewöhnlich noch eine
+zweite - und nunmehr thut man zu wenig...
+
+
+31.
+
+Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit
+die Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache
+der Moral: Demuth. -
+
+
+32.
+
+Es giebt einen Hass auf Lüge und Verstellung aus einem reizbaren
+Ehrbegriff; es giebt einen ebensolchen Hass aus Feigheit, insofern
+die Lüge, durch ein göttliches Gebot, verboten ist. Zu feige, um zu
+lügen...
+
+
+33.
+
+Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks. - Ohne Musik
+wäre das Leben ein Irrthum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott
+liedersingend.
+
+
+34.
+
+On ne peut penser et écrire qu'assis (G. Flaubert). - Damit habe
+ich dich, Nihilist! Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den
+heiligen Geist. Nur die ergangenen Gedanken haben Werth.
+
+
+35.
+
+Es giebt Fälle, wo wir wie Pferde sind, wir Psychologen, und in
+Unruhe gerathen: wir sehen unsren eignen Schatten vor uns auf und
+niederschwanken. Der Psychologe muss von sich absehn, um überhaupt zu
+sehn.
+
+
+36.
+
+Ob wir Immoralisten der Tugend Schaden thun? - Eben so wenig, als
+die Anarchisten den Fürsten. Erst seitdem diese angeschossen werden,
+sitzen sie wieder fest auf ihrem Thron. Moral: man muss die Moral
+anschiessen.
+
+
+37.
+
+Du läufst voran? - Thust du das als Hirt? oder als Ausnahme? Ein
+dritter Fall wäre der Entlaufene... Erste Gewissensfrage.
+
+
+38.
+
+Bist du echt? oder nur ein Schauspieler? Ein Vertreter? oder das
+Vertretene selbst? - Zuletzt bist du gar bloss ein nachgemachter
+Schauspieler... Zweite Gewissensfrage.
+
+
+39.
+
+Der Enttäuschte spricht. - Ich suchte nach grossen Menschen, ich fand
+immer nur die Affen ihres Ideals.
+
+
+40.
+
+Bist du Einer, der zusieht? oder der Hand anlegt? - oder der wegsieht,
+bei Seite geht?... Dritte Gewissensfrage.
+
+
+41.
+
+Willst du mitgehn? oder vorangehn? oder für dich gehn?... Man muss
+wissen, was man will und dass man will. Vierte Gewissensfrage.
+
+
+42.
+
+Das waren Stufen für mich ich bin über sie hinaufgestiegen, - dazu
+musste ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf
+ihnen zur Ruhe setzen...
+
+
+43.
+
+Was liegt daran, das ich Recht behalte! Ich habe zu viel Recht. - Und
+wer heute am besten lacht, lacht auch zuletzt.
+
+
+44.
+
+Formel meines Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie ein Ziel...
+
+
+
+Das Problem des Sokrates.
+
+1.
+
+Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurtheilt:
+es taugt nichts... Immer und überall hat man aus ihrem Munde denselben
+Klang gehört, - einen Klang voll Zweifel, voll Schwermuth, voll
+Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. Selbst Sokrates
+sagte, als er starb: "leben - das heisst lange krank sein: ich bin
+dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig." Selbst Sokrates hatte es
+satt. - Was beweist das? Worauf weist das? - Ehemals hätte man gesagt
+(- oh man hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran!):
+"Hier muss jedenfalls Etwas wahr sein! Der consensus sapientium
+beweist die Wahrheit." - Werden wir heute noch so reden? Dürfen wir
+das? "Hier muss jedenfalls Etwas krank sein" - geben wir zur Antwort:
+diese Weisesten aller Zeiten, man sollte sie sich erst aus der Nähe
+ansehn! Waren sie vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest?
+spät? wackelig? décadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden
+als Rabe, den ein kleiner Geruch von Aas begeistert?...
+
+
+2.
+
+Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen
+Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo
+ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht:
+ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge
+der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch
+("Geburt der Tragödie" 1872), jener consensus sapientium - das begriff
+ich immer besser - beweist am wenigsten, dass sie Recht mit dem
+hatten, worüber sie übereinstimmten: er beweist vielmehr, dass sie
+selbst, diese Weisesten, irgend worin physiologisch übereinstimmten,
+um auf gleiche Weise negativ zum Leben zu stehn, - stehn zu müssen.
+Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können zuletzt
+niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur
+als Symptome in Betracht, - an sich sind solche Urtheile Dummheiten.
+Man muss durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch
+machen, diese erstaunliche finesse zu fassen, dass der Werth des
+Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil
+ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter;
+von einem Todten nicht, aus einem andren Grunde. - Von Seiten eines
+Philosophen im Werth des Lebens ein Problem sehn bleibt dergestalt
+sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine
+Unweisheit. - Wie? und alle diese grossen Weisen - sie wären nicht nur
+décadents, sie wären nicht einmal weise gewesen? - Aber ich komme auf
+das Problem des Sokrates zurück.
+
+
+3.
+
+Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk: Sokrates
+war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich er war.
+Aber Hässlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe
+eine Widerlegung. War Sokrates überhaupt ein Grieche? Die Hässlichkeit
+ist häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten, durch Kreuzung
+gehemmten Entwicklung. Im andren Falle erscheint sie als niedergehende
+Entwicklung.
+
+Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische
+Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo.
+Aber der Verbrecher ist ein décadent. War Sokrates ein typischer
+Verbrecher? - Zum Mindesten widerspräche dem jenes berühmte
+Physiognomen-Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstössig
+klang. Ein Ausländer, der sich auf Gesichter verstand, sagte, als er
+durch Athen kam, dem Sokrates in's Gesicht, er sei ein monstrum, -
+er berge alle schlimmen Laster und Begierden in sich. Und Sokrates
+antwortete bloss: "Sie kennen mich, mein Herr!" -
+
+
+4.
+
+Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne
+Wüstheit und Anarchie in den Instinkten: eben dahin deutet auch die
+Superfötation des Logischen und jene Rhachitiker-Bosheit, die ihn
+auszeichnet. Vergessen wir auch jene Gehörs-Hallucinationen nicht,
+die, als "Dämonion des Sokrates", in's Religiöse interpretirt worden
+sind. Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm, Alles ist
+zugleich versteckt, hintergedanklich, unterirdisch. - Ich suche zu
+begreifen, aus welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung
+von Vernunft = Tugend = Glück stammt: jene bizarrste Gleichsetzung,
+die es giebt und die in Sonderheit alle Instinkte des älteren Hellenen
+gegen sich hat.
+
+
+5.
+
+Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der
+Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor Allem wird damit
+ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik
+obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die
+dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie
+stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch misstraute man
+allein solchen Präsentiren seiner Gründe. Honnette Dinge tragen,
+wie honnette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist
+unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen
+muss, ist wenig werth. Überall, wo noch die Autorität zur guten
+Sitte gehört, wo man nicht "begründet", sondern befiehlt, ist der
+Dialektiker eine Art Hanswurst: man lacht über ihn, man nimmt ihn
+nicht ernst. - Sokrates war der Hanswurst, der sich ernst nehmen
+machte: was geschah da eigentlich? -
+
+
+6.
+
+Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man
+weiss, dass man Misstrauen mit ihr erregt, dass sie wenig überredet.
+Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt: die
+Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann
+nur Nothwehr sein, in den Händen Solcher, die keine andren Waffen mehr
+haben. Man muss sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen
+Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker; Reinecke Fuchs
+war es: wie? und Sokrates war es auch? -
+
+
+7.
+
+- Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte? von
+Pöbel-Ressentiment? geniesst er als Unterdrückter seine eigne
+Ferocität in den Messerstichen des Syllogismus? Rächt er sich an
+den Vornehmen, die er fascinirt? - Man hat, als Dialektiker, ein
+schonungsloses Werkzeug in der Hand; man kann mit ihm den Tyrannen
+machen; man stellt bloss, indem man siegt. Der Dialektiker überlässt
+seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wüthend, er
+macht zugleich hülflos. Der Dialektiker depotenzirt den Intellekt
+seines Gegners. - Wie? ist Dialektik nur eine Form der Rache bei
+Sokrates?
+
+
+8.
+
+Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstossen konnte: es
+bleibt um so mehr zu erklären, dass er fascinirte. - Dass er eine
+neue Art Agon entdeckte, dass er der erste Fechtmeister davon für die
+vornehmen Kreise Athen's war, ist das Eine. Er fascinirte, indem er an
+den agonalen Trieb der Hellenen rührte, - er brachte eine Variante in
+den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war
+auch ein grosser Erotiker.
+
+
+9.
+
+Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah hinter seine vornehmen
+Athener; er begriff, dass sein Fall, seine Idiosynkrasie von Fall
+bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenerescenz
+bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu Ende. -
+Und Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöthig hatte, - sein Mittel,
+seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung... Überall
+waren die Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom
+Excess: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. "Die Triebe
+wollen den Tyrannen machen; man muss einen Gegentyrannen erfinden, der
+stärker ist"... Als jener Physiognomiker dem Sokrates enthüllt hatte,
+wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, liess der grosse
+Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm giebt.
+"Dies ist wahr, sagte er, aber ich wurde über alle Herr." Wie wurde
+Sokrates über sich Herr? - Sein Fall war im Grunde nur der extreme
+Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die
+allgemeine Noth zu werden anfieng: dass Niemand mehr über sich Herr
+war, dass die Instinkte sich gegen einander wendeten. Er fascinirte
+als dieser extreme Fall - seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach
+ihn für jedes Auge aus: er fascinirte, wie sich von selbst versteht,
+noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der Kur dieses
+Falls. -
+
+
+10.
+
+Wenn man nöthig hat, aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen, wie
+Sokrates es that, so muss die Gefahr nicht klein sein, dass etwas
+Andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals errathen
+als Retterin, es stand weder Sokrates, noch seinen "Kranken" frei,
+vernünftig zu sein, - es war de rigueur, es war ihr letztes Mittel.
+Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken
+auf die Vernünftigkeit wirft, verräth eine Nothlage: man war in
+Gefahr, man hatte nur Eine Wahl: entweder zu Grunde zu gehn oder
+- absurd-vernünftig zu sein... Der Moralismus der griechischen
+Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt; ebenso ihre
+Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heisst bloss: man
+muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein
+Tageslicht in Permanenz herstellen - das Tageslicht der Vernunft. Man
+muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die
+Instinkte, an's Unbewusste führt hinab...
+
+
+11.
+
+Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates fascinirte: er schien
+ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nöthig, noch den Irrthum
+aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die "Vernünftigkeit um jeden
+Preis" lag? - Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und
+Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie
+gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer
+Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder
+ein Ausdruck der décadence - sie verändern deren Ausdruck, sie
+schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missverständniss;
+die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, war ein
+Missverständniss... Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um
+jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt,
+im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine
+andre Krankheit - und durchaus kein Rückweg zur "Tugend", zur
+"Gesundheit", zum Glück... Die Instinkte bekämpfen müssen - das ist
+die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück
+gleich Instinkt. -
+
+
+12.
+
+- Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller
+Selbstüberlister? Sagte er sich das zuletzt, in der Weisheit seines
+Muthes zum Tode?... Sokrates wollte sterben: - nicht Athen, er gab
+sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher... Sokrates ist
+kein Arzt sprach er leise zu sich: "der Tod allein ist hier Arzt...
+Sokrates selbst war nur lange krank..."
+
+
+
+Die "Vernunft" in der Philosophie.
+
+1.
+
+Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist?...
+Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Hass gegen die
+Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägypticismus. Sie glauben
+einer Sache eine Ehre anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren,
+sub specie aetemi, - wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles,
+was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren
+Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen.
+Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn
+sie anbeten, - sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten.
+Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachsthum
+sind für sie Einwände, - Widerlegungen sogar. Was ist, wird nicht; was
+wird ist nicht... Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an's
+Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach
+Gründen, weshalb man's ihnen vorenthält. "Es muss ein Schein, eine
+Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo
+steckt der Betrüger?" - "Wir haben ihn, schreien sie glückselig, die
+Sinnlichkeit ist's! Diese Sinne, die auch sonst so unmoralisch sind,
+sie betrügen uns über die wahre Welt. Moral: loskommen von dem
+Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, - Historie ist
+nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen
+zu Allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der
+Menschheit: das ist Alles `Volk`. Philosoph sein, Mumie sein, den
+Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen! - Und
+weg vor Allem mit dem Leibe, dieser erbarmungswürdigen idée fixe der
+Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es giebt, widerlegt,
+unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu
+gebärden!"...
+
+
+2.
+
+Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen Heraklit's bei Seite.
+Wenn das andre Philosophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil
+dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugniss,
+weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. Auch
+Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art,
+wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte, - sie lügen
+überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss machen, das legt erst
+die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der
+Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer... Die "Vernunft" ist die
+Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne
+das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht... Aber
+damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere
+Fiktion ist. Die "scheinbare" Welt ist die einzige: die wahre Welt ist
+nur hinzugelogen...
+
+
+3.
+
+- Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren
+Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit
+Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das
+delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch
+Minimaldifferenzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das
+Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute genau so weit
+Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne
+anzunehmen, - als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken
+lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will
+sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. Oder
+Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte
+Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor,
+nicht einmal als Problem; ebensowenig als die Frage, welchen Werth
+überhaupt eine solche Zeichen-Convention, wie die Logik ist, hat. -
+
+
+4.
+
+Die andre Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich:
+sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen
+Das, was am Ende kommt - leider! denn es sollte gar nicht kommen! -
+die "höchsten Begriffe", das heisst die allgemeinsten, die leersten
+Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang
+als Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren:
+das Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht
+gewachsen sein... Moral: Alles, was ersten Ranges ist, muss causa
+sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als
+Werth-Anzweifelung. Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle
+höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre,
+das Vollkommne - das Alles kann nicht geworden sein, muss folglich
+causa sui sein. Das Alles aber kann auch nicht einander ungleich, kann
+nicht mit sich im Widerspruch sein... Damit haben sie ihren stupenden
+Begriff "Gott"... Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes
+gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum... Dass die
+Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen
+müssen! - Und sie hat theuer dafür gezahlt!...
+
+
+5.
+
+- Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art wir (-
+ich sage höflicher Weise wir... ) das Problem des Irrthums und der
+Scheinbarkeit in's Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung,
+den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als
+Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute
+umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns
+zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit,
+Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum,
+necessitirt zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen
+Nachrechnung bei uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist. Es steht
+damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen Gestirns: bei
+ihnen hat der Irrthum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum
+beständigen Anwalt. Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die
+Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein
+grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der
+Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusstsein bringen.
+Das sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache
+überhaupt; das glaubt an's "Ich", an's Ich als Sein, an's Ich als
+Substanz und projicirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge
+- es schafft erst damit den Begriff "Ding"... Das Sein wird überall
+als Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception "Ich"
+folgt erst, als abgeleitet, der Begriff "Sein"... Am Anfang steht das
+grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das wirkt,
+- dass Wille ein Vermögen ist... Heute wissen wir, dass er bloss ein
+Wort ist... Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt
+kam die Sicherheit, die subjektive Gewissheit in der Handhabung der
+Vemunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein:
+sie schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten,
+- die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. Woher also
+stammen sie? - Und in Indien wie in Griechenland hat man den gleichen
+Fehlgriff gemacht: "wir müssen schon einmal in einer höheren Welt
+heimisch gewesen sein (- statt in einer sehr viel niederen: was die
+Wahrheit gewesen wäre!), wir müssen göttlich gewesen sein, denn wir
+haben die Vernunft!"... In der That, Nichts hat bisher eine naivere
+Überredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel
+von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes Wort für sich,
+jeden Satz für sich, den wir sprechen! - Auch die Gegner der Eleaten
+unterlagen noch der Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter
+Anderen, als er sein Atom erfand... Die "Vernunft" in der Sprache: oh
+was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden
+Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben...
+
+
+6.
+
+Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue
+Einsicht in vier Thesen zusammendränge: ich erleichtere damit das
+Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus.
+
+Erster Satz. Die Gründe, darauf hin "diese" Welt als scheinbar
+bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, - eine andre
+Art Realität ist absolut unnachweisbar.
+
+Zweiter Satz. Die Kennzeichen, welche man dem "wahren Sein" der Dinge
+gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht Seins, des Nichts, -
+man hat die "wahre Welt" aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt
+aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine
+moralisch-optische Täuschung ist.
+
+Dritter Satz. Von einer "andren" Welt als dieser zu fabeln hat gar
+keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung,
+Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im
+letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines
+"anderen", eines "besseren" Lebens.
+
+Vierter Satz. Die Welt scheiden in eine "wahre" und eine "scheinbare",
+sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant's (eines
+hinterlistigen Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der
+décadence, - ein Symptom niedergehenden Lebens... Dass der Künstler
+den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen
+diesen Satz. Denn "der Schein" bedeutet hier die Realität noch einmal,
+nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur... Der tragische Künstler
+ist kein Pessimist, - er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und
+Furchtbaren selbst, er ist dionysisch...
+
+
+
+Wie die "wahre Welt" endlich zur Fabel wurde.
+
+Geschichte eines Irrthums.
+
+1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den
+Tugendhaften, - er lebt in ihr, er ist sie.
+
+(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend.
+Umschreibung des Satzes "ich, Plato, bin die Wahrheit".)
+
+2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den
+Weisen, den Frommen, den Tugendhaften ("für den Sünder, der Busse
+thut").
+
+(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, -
+sie wird Weib, sie wird christlich... )
+
+3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber
+schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.
+
+(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die
+Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.)
+
+4. Die wahre Welt - unerreichbar? jedenfalls unerreicht. Und als
+unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend,
+verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?...
+
+(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des
+Positivismus.)
+
+5. Die "wahre Welt" - eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht
+einmal mehr verpflichtend, - eine unnütz, eine überflüssig gewordene
+Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!
+
+(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit;
+Schamröthe Plato's; Teufelslärm aller freien Geister.)
+
+6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die
+scheinbare vielleicht?... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir
+auch die scheinbare abgeschafft!
+
+(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten
+Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)
+
+
+
+Moral als Widernatur.
+
+1.
+
+Alle Passionen haben eine Zeit, wo sie bloss verhängnissvoll sind, wo
+sie mit der Schwere der Dummheit ihr Opfer hinunterziehen - und eine
+spätere, sehr viel spätere, wo sie sich mit dem Geist verheirathen,
+sich "vergeistigen". Ehemals machte man, wegen der Dummheit in der
+Passion, der Passion selbst den Krieg: man verschwor sich zu deren
+Vernichtung, - alle alten Moral-Unthiere sind einmüthig darüber "il
+faut tuer les passions." Die berühmteste Formel dafür steht im neuen
+Testament, in jener Bergpredigt, wo, anbei gesagt, die Dinge durchaus
+nicht aus der Höhe betrachtet werden. Es wird daselbst zum Beispiel
+mit Nutzanwendung auf die Geschlechtlichkeit gesagt "wenn dich dein
+Auge ärgert, so reisse es aus": zum Glück handelt kein Christ nach
+dieser Vorschrift. Die Leidenschaften und Begierden vernichten,
+bloss um ihrer Dummheit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit
+vorzubeugen, erscheint uns heute selbst bloss als eine akute Form der
+Dummheit. Wir bewundern die Zahnärzte nicht mehr, welche die Zähne
+ausreissen, damit sie nicht mehr weh thun... Mit einiger Billigkeit
+werde andrerseits zugestanden, dass auf dem Boden, aus dem das
+Christenthum gewachsen ist, der Begriff "Vergeistigung der Passion"
+gar nicht concipirt werden konnte. Die erste Kirche kämpfte ja, wie
+bekannt, gegen die "Intelligenten" zu Gunsten der "Armen des Geistes":
+wie dürfte man von ihr einen intelligenten Krieg gegen die Passion
+erwarten? - Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in
+jedem Sinne: ihre Praktik, ihre "Kur" ist der Castratismus. Sie fragt
+nie: "wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man eine Begierde?" -
+sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin auf die Ausrottung
+(der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der
+Rachsucht) gelegt. - Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen
+heisst das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist
+lebensfeindlich...
+
+
+2.
+
+Dasselbe Mittel, Verschneidung, Ausrottung, wird instinktiv im Kampfe
+mit einer Begierde von Denen gewählt, welche zu willensschwach,
+zu degenerirt sind, um sich ein Maass in ihr auflegen zu können:
+von jenen Naturen, die la Trappe nöthig haben, im Gleidiniss
+gesprochen (und ohne Gleichniss -), irgend eine endgültige
+Feindschafts-Erklärung, eine Kluft zwischen sich und einer Passion.
+Die radikalen Mittel sind nur den Degenerirten unentbehrlich; die
+Schwäche des Willens, bestinunter geredet, die Unfähigkeit, auf
+einen Reiz nicht zu reagiren, ist selbst bloss eine andre Form der
+Degenerescenz. Die radikale Feindschaft, die Todfeindschaft gegen
+die Sinnlichkeit bleibt ein nachdenkliches Symptom: man ist damit zu
+Vermuthungen über den Gesammt-Zustand eines dergestalt Excessiven
+berechtigt. - Jene Feindschaft, jener Hass kommt übrigens erst auf
+seine Spitze, wenn solche Naturen selbst zur Radikal-Kur, zur Absage
+von ihrem "Teufel" nicht mehr Festigkeit genug haben. Man überschaue
+die ganze Geschichte der Priester und Philosophen, der Künstler
+hinzugenommen: das Giftigste gegen die Sinne ist nicht von den
+Impotenten gesagt, auch nicht von den Asketen, sondern von den
+unmöglichen Asketen, von Solchen, die es nöthig gehabt hätten, Asketen
+zu sein...
+
+
+3.
+
+Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heisst Liebe: sie ist ein
+grosser Triumph über das Christenthum. Ein andrer Triumph ist unsre
+Vergeistigung der Feindschaft. Sie besteht darin, dass man tief den
+Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben: kurz, dass man umgekehrt
+thut und schliesst als man ehedem that und schloss. Die Kirche wollte
+zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde: wir, wir Immoralisten
+und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche
+besteht... Auch im Politischen ist die Feindschaft jetzt geistiger
+geworden, - viel klüger, viel nachdenklicher, viel schonender. Fast
+jede Partei begreift ihr Selbsterhaltungs-Interesse darin, dass die
+Gegenpartei nicht von Kräften kommt; dasselbe gilt von der grossen
+Politik. Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde
+nöthiger als Freunde: im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig,
+im Gegensatz wird es erst nothwendig... Nicht anders verhalten wir
+uns gegen den "inneren Feind": auch da haben wir die Feindschaft
+vergeistigt, auch da haben wir ihren Werth begriffen. Man ist nur
+fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein; man bleibt nur
+jung unter der Voraussetzung, dass die Seele nicht sich streckt, nicht
+nach Frieden begehrt... Nichts ist uns fremder geworden als jene
+Wünschbarkeit von Ehedem, die vom "Frieden der Seele", die christliche
+Wünschbarkeit; Nichts macht uns weniger Neid als die Moral-Kuh und
+das fette Glück des guten Gewissens. Man hat auf das grosse Leben
+verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet... In vielen Fällen
+freilich ist der "Frieden der Seele" bloss ein Missverständniss, -
+etwas Anderes, das sich nur nicht ehrlicher zu benennen weiss. Ohne
+Umschweif und Vorurtheil ein paar Fälle. "Frieden der Seele" kann
+zum Beispiel die sanfte Ausstrahlung einer reichen Animalität in's
+Moralische (oder Religiöse) sein. Oder der Anfang der Müdigkeit,
+der erste Schatten, den der Abend, jede Art Abend wirft. Oder ein
+Zeichen davon, dass die Luft feucht ist, dass Südwinde herankommen.
+Oder die Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche Verdauung
+("Menschenliebe" mitunter genannt). Oder das Stille-werden des
+Genesenden, dem alle Dinge neu schmecken und der wartet... Oder
+der Zustand, der einer starken Befriedigung unsrer herrschenden
+Leidenschaft folgt, das Wohlgefühl einer seltnen Sattheit. Oder die
+Altersschwäche unsres Willens, unsrer Begehrungen, unsrer Laster. Oder
+die Faulheit, von der Eitelkeit überredet, sich moralisch aufzuputzen.
+Oder der Eintritt einer Gewissheit, selbst furchtbaren Gewissheit,
+nach einer langen Spannung und Marterung durch die Ungewissheit. Oder
+der Ausdruck der Reife und Meisterschaft mitten im Thun, Schaffen,
+Wirken, Wollen, das ruhige Athmen, die erreichte "Freiheit des
+Willens"... Götzen-Dämmerung: wer weiss? vielleicht auch nur eine Art
+"Frieden der Seele"...
+
+
+4.
+
+- Ich bringe ein Princip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral,
+das heisst jede gesunde Moral ist von einem Instinkte des Lebens
+beherrscht, - irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten
+Kanon von "Soll" und "Soll nicht" erfüllt, irgend eine Hemmung und
+Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschafft.
+Die widernatürliche Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher
+gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt
+gerade gegen die Instinkte des Lebens, - sie ist eine bald heimliche,
+bald laute und freche Verurtheilung dieser Instinkte. Indem sie sagt
+"Gott sieht das Herz an", sagt sie Nein zu den untersten und obersten
+Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens... Der
+Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat...
+Das Leben ist zu Ende, wo das "Reich Gottes" anfängt...
+
+
+5.
+
+Gesetzt, dass man das Frevelhafte einer solchen Auflehnung gegen
+das Leben begriffen hat, wie sie in der christlichen Moral beinahe
+sakrosankt geworden ist, so hat man damit, zum Glück, auch Etwas
+Andres begriffen: das Nutzlose, Scheinbare, Absurde, Lügnerische einer
+solchen Auflehnung. Eine Verurtheilung des Lebens von Seiten des
+Lebenden bleibt zuletzt doch nur das Symptom einer bestimmten Art von
+Leben: die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht damit
+aufgeworfen. Man müsste eine Stellung ausserhalb des Lebens haben, und
+andrerseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es
+gelebt haben, um das Problem vom Werth des Lebens überhaupt anrühren
+zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem ein für
+uns unzugängliches Problem ist. Wenn wir von Werthen reden, reden wir
+unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben selbst
+zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, wenn
+wir Werthe ansetzen... Daraus folgt, dass auch jene Widernatur von
+Moral, welche Gott als Gegenbegriff und Verurtheilung des Lebens
+fasst, nur ein Werthurtheil des Lebens ist - welches Lebens? Welcher
+Art von Leben? - Aber ich gab schon die Antwort: des niedergehenden,
+des geschwächten, des müden, des verurtheilten Lebens. Moral, wie sie
+bisher verstanden worden ist - wie sie zuletzt noch von Schopenhauer
+formulirt wurde als "Verneinung des Willens zum Leben" - ist der
+décadence-Instinkt selbst, der aus sich einen Imperativ macht: sie
+sagt: "geh zu Grunde" sie ist das Urtheil Verurtheilter...
+
+
+6.
+
+Erwägen wir endlich noch, welche Naivetät es überhaupt ist, zu sagen
+"so und so sollte der Mensch sein!" Die Wirklichkeit zeigt uns
+einen entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines
+verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels: und irgend ein
+armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: "nein! der Mensch
+sollte anders sein"?... Er weiss es sogar, wie er sein sollte, dieser
+Schlucker und Mucker, er malt sich an die Wand und sagt dazu "ecce
+homo!"... Aber selbst wenn der Moralist sich bloss an den Einzelnen
+wendet und zu ihm sagt: "so und so solltest du sein!" hört er nicht
+auf, sich lächerlich zu machen. Der Einzelne ist ein Stück fatum, von
+Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für
+Alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen "ändere dich" heisst
+verlangen, dass Alles sich ändert, sogar rückwärts noch... Und
+wirklich, es gab consequente Moralisten, sie wollten den Menschen
+anders, nämlich tugendhaft, sie wollten ihn nach ihrem Bilde, nämlich
+als Mucker: dazu verneinten sie die Welt! Keine kleine Tollheit!
+Keine bescheidne Art der Unbescheidenheit!... Die Moral, insofern sie
+verurtheilt, an sich, nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des
+Lebens, ist ein spezifischer Irrthum, mit dem man kein Mitleiden haben
+soll, eine Degenerirten-Idiosynkrasie, die unsäglich viel Schaden
+gestiftet hat!... Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser
+Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, Gutheissen. Wir
+verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu
+sein. Immer mehr ist uns das Auge für jene Ökonomie aufgegangen,
+welche alles Das noch braucht und auszunützen weiss, was der heilige
+Aberwitz des Priesters, der kranken Vernunft im Priester verwirft, für
+jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen
+species des Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil
+zieht, - welchen Vortheil? - Aber wir selbst, wir Immoralisten sind
+hier die Antwort... -
+
+
+
+Die vier grossen Irrthümer.
+
+1.
+
+Irrthum der Verwechslung von Ursache und Folge. - Es giebt keinen
+gefährlicheren Irrthum als die Folge mit der Ursache zu verwechseln:
+ich heisse ihn die eigentliche Verderbniss der Vernunft. Trotzdem
+gehört dieser Irrthum zu den ältesten und jüngsten Gewohnheiten der
+Menschheit: er ist selbst unter uns geheiligt, er trägt den Namen
+"Religion", "Moral". Jeder Satz, den die Religion und die Moral
+formulirt, enthält ihn; Priester und Moral-Gesetzgeber sind die
+Urheber jener Verderbniss der Vernunft. - Ich nehme ein Beispiel:
+Jedermann kennt das Buch des berühmten Cornaro, in dem er seine
+schmale Diät als Recept zu einem langen und glücklichen Leben - auch
+tugendhaften - anräth. Wenige Bücher sind so viel gelesen worden, noch
+jetzt wird es in England jährlich in vielen Tausenden von Exemplaren
+gedruckt. Ich zweifle nicht daran, dass kaum ein Buch (die Bibel, wie
+billig, ausgenommen) so viel Unheil gestiftet, so viele Leben verkürzt
+hat wie dies so wohlgemeinte Curiosum. Grund dafür: die Verwechslung
+der Folge mit der Ursache. Der biedere Italiäner sah in seiner Diät
+die Ursache seines langen Lebens: während die Vorbedingung zum langen
+Leben, die ausserordentliche Langsamkeit des Stoffwechsels, der
+geringe Verbrauch, die Ursache seiner schmalen Diät war. Es stand
+ihm nicht frei, wenig oder viel zu essen, seine Frugalität war nicht
+ein "freier Wille": er wurde krank, wenn er mehr ass. Wer aber kein
+Karpfen ist, thut nicht nur gut, sondern hat es nöthig, ordentlich
+zu essen. Ein Gelehrter unsrer Tage, mit seinem rapiden Verbrauch an
+Nervenkraft, würde sich mit dem régime Cornaro's zu Grunde richten.
+Crede experto. -
+
+
+2.
+
+Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt,
+heisst: "Thue das und das, lass das und das - so wirst du glücklich!
+Im andern Falle..." Jede Moral, jede Religion ist dieser Imperativ,
+- ich nenne ihn die grosse Erbsünde der Vernunft, die unsterbliche
+Unvernunft. In meinem Munde verwandelt sich jene Formel in ihre
+Umkehrung - erstes Beispiel meiner "Umwerthung aller Werthe": ein
+wohlgerathener Mensch, ein "Glücklicher", muss gewisse Handlungen
+thun und scheut sich instinktiv vor anderen Handlungen, er trägt die
+Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu
+Menschen und Dingen hinein. In Formel: seine Tugend ist die Folge
+seines Glücks... Langes Leben, eine reiche Nachkommenschaft ist nicht
+der Lohn der Tugend, die Tugend ist vielmehr selbst jene Verlangsamung
+des Stoffwechsels, die, unter Anderem, auch ein langes Leben, eine
+reiche Nachkommenschaft, kurz den Cornarismus im Gefolge hat. - Die
+Kirche und die Moral sagen: "ein Geschlecht, ein Volk wird durch
+Laster und Luxus zu Grunde gerichtet." Meine wiederhergestellte
+Vernunft sagt: wenn ein Volk zu Grunde geht, physiologisch degenerirt,
+so folgen daraus Laster und Luxus (das heisst das Bedürfniss nach
+immer stärkeren und häufigeren Reizen, wie sie jede erschöpfte Natur
+kennt). Dieser junge Mann wird frühzeitig blass und welk. Seine
+Freunde sagen: daran ist die und die Krankheit schuld. Ich sage: dass
+er krank wurde, dass er der Krankheit nicht widerstand, war bereits
+die Folge eines verarmten Lebens, einer hereditären Erschöpfung. Der
+Zeitungsleser sagt: diese Partei richtet sich mit einem solchen Fehler
+zu Grunde. Meine höhere Politik sagt: eine Partei, die solche Fehler
+macht, ist am Ende - sie hat ihre Instinkt-Sicherheit nicht mehr.
+Jeder Fehler in jedem Sinne ist die Folge von Instinkt-Entartung, von
+Disgregation des Willens: man definirt beinahe damit das Schlechte.
+Alles Gute ist Instinkt - und, folglich, leicht, nothwendig, frei. Die
+Mühsal ist ein Einwand, der Gott ist typisch vom Helden unterschieden
+(in meiner Sprache: die leichten Füsse das erste Attribut der
+Göttlichkeit).
+
+
+3.
+
+Irrthum einer falschen Ursächlichkeit. - Man hat zu allen Zeiten
+geglaubt, zu wissen, was eine Ursache ist: aber woher nahmen wir unser
+Wissen, genauer, unsern Glauben, hier zu wissen? Aus dem Bereich
+der berühmten "inneren Thatsachen", von denen bisher keine sich als
+thatsächlich erwiesen hat. Wir glaubten uns selbst im Akt des Willens
+ursächlich; wir meinten da wenigstens die Ursächlichkeit auf der
+That zu ertappen. Man zweifelte insgleichen nicht daran, dass alle
+antecedentia einer Handlung, ihre Ursachen, im Bewusstsein zu suchen
+seien und darin sich wiederfänden, wenn man sie suche - als "Motive":
+man wäre ja sonst zu ihr nicht frei, für sie nicht verantwortlich
+gewesen. Endlich, wer hätte bestritten, dass ein Gedanke verursacht
+wird? dass das Ich den Gedanken verursacht?... Von diesen drei
+"inneren Thatsachen", mit denen sich die Ursächlichkeit zu verbürgen
+schien, ist die erste und überzeugendste die vom Willen als Ursache;
+die Conception eines Bewusstseins ("Geistes") als Ursache und später
+noch die des Ich (des "Subjekts") als Ursache sind bloss nachgeboren,
+nachdem vom Willen die Ursächlichkeit als gegeben feststand, als
+Empirie... Inzwischen haben wir uns besser besonnen. Wir glauben heute
+kein Wort mehr von dem Allen. Die "innere Welt" ist voller Trugbilder
+und Irrlichter: der Wille ist eins von ihnen. Der Wille bewegt nichts
+mehr, erklärt folglich auch nichts mehr - er begleitet bloss Vorgänge,
+er kann auch fehlen. Das sogenannte "Motiv": ein andrer Irrthum. Bloss
+ein Oberflächenphänomen des Bewusstseins, ein Nebenher der That,
+das eher noch die antecedentia einer That verdeckt, als dass es sie
+darstellt. Und gar das Ich! Das ist zur Fabel geworden, zur Fiktion,
+zum Wortspiel: das hat ganz und gar aufgehört, zu denken, zu fühlen
+und zu wollen!... Was folgt daraus? Es giebt gar keine geistigen
+Ursachen! Die ganze angebliche Empirie dafür gieng zum Teufel! Das
+folgt daraus! - Und wir hatten einen artigen Missbrauch mit jener
+"Empirie" getrieben, wir hatten die Welt daraufhin geschaffen als
+eine Ursachen-Welt, als eine Willens-Welt, als eine Geister-Welt. Die
+älteste und längste Psychologie war hier am Werk, sie hat gar nichts
+Anderes gethan: alles Geschehen war ihr ein Thun, alles Thun Folge
+eines Willens, die Welt wurde ihr eine Vielheit von Thätern, ein
+Thäter (ein "Subjekt") schob sich allem Geschehen unter. Der Mensch
+hat seine drei "inneren Thatsachen", Das, woran er am festesten
+glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich herausprojicirt, -
+er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die
+"Dinge" als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des
+Ichs als Ursache. Was Wunder, dass er später in den Dingen immer nur
+wiederfand, was er in sie gesteckt hatte?- Das Ding selbst, nochmals
+gesagt, der Begriff Ding, ein Reflex bloss vom Glauben an's Ich als
+Ursache... Und selbst noch Ihr Atom, meine Herren Mechanisten und
+Physiker, wie viel Irrthum, wie viel rudimentäre Psychologie ist noch
+in Ihrem Atom rückständig! - Gar nicht zu reden vom "Ding an sich",
+vom horrendum pudendum der Metaphysiker! Der Irrthum vom Geist als
+Ursache mit der Realität verwechselt! Und zum Maass der Realität
+gemacht! Und Gott genannt! -
+
+
+4.
+
+Irrthum der imaginären Ursachen. - Vom Traume auszugehn: einer
+bestimmten Empfindung, zum Beispiel in Folge eines fernen
+Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache untergeschoben (oft
+ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Träumende die Hauptperson
+ist). Die Empfindung dauert inzwischen fort, in einer Art von
+Resonanz: sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in
+den Vordergrund zu treten, - nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern
+als "Sinn". Der Kanonenschuss tritt in einer causalen Weise auf, in
+einer anscheinenden Umkehrung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung,
+wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelnheiten, die wie im Blitz
+vorübergehn, der Schuss folgt... Was ist geschehen? Die Vorstellungen,
+welche ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als Ursache desselben
+missverstanden. - Thatsächlich machen wir es im Wachen ebenso.
+Unsre meisten Allgemeingefühle - jede Art Hemmung, Druck, Spannung,
+Explosion im Spiel und Gegenspiel der Organe, wie in Sonderheit der
+Zustand des nervus sympathicus - erregen unsern Ursachentrieb: wir
+wollen einen Grund haben, uns so und so zu befinden, - uns schlecht zu
+befinden oder gut zu befinden. Es genügt uns niemals, einfach bloss
+die Thatsache, dass wir uns so und so befinden, festzustellen: wir
+lassen diese Thatsache erst zu, - werden ihrer bewusst -, wenn wir ihr
+eine Art Motivirung gegeben haben. - Die Erinnerung, die in solchem
+Falle, ohne unser Wissen, in Thätigkeit tritt, führt frühere Zustände
+gleicher Art und die damit verwachsenen Causal-Interpretationen
+herauf, - nicht deren Ursächlichkeit. Der Glaube freilich, dass die
+Vorstellungen, die begleitenden Bewusstseins-Vorgänge die Ursachen
+gewesen seien, wird durch die Erinnerung auch mit heraufgebracht. So
+entsteht eine Gewöhnung an eine bestimmte Ursachen-Interpretation,
+die in Wahrheit eine Erforschung der Ursache hemmt und selbst
+ausschliesst.
+
+
+5.
+
+Psychologische Erklärung dazu. - Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes
+zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein
+Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe,
+die Sorge gegeben, - der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen
+Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz: irgend eine Erklärung ist
+besser als keine. Weil es sich im Grunde nur um ein Loswerdenwollen
+drückender Vorstellungen handelt, nimmt man es nicht gerade streng mit
+den Mitteln, sie loszuwerden: die erste Vorstellung, mit der sich das
+Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie "für wahr
+hält". Beweis der Lust ("der Kraft") als Criterium der Wahrheit. - Der
+Ursachen-Trieb ist also bedingt und erregt durch das Furchtgefühl.
+Das "Warum?" soll, wenn irgend möglich, nicht sowohl die Ursache um
+ihrer selber willen geben, als vielmehr eine Art von Ursache - eine
+beruhigende, befreiende, erleichternde Ursache. Dass etwas schon
+Bekanntes, Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache
+angesetzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. Das Neue, das
+Unerlebte, das Fremde wird als Ursache ausgeschlossen. - Es wird also
+nicht nur eine Art von Erklärungen als Ursache gesucht, sondern eine
+ausgesuchte und bevorzugte Art von Erklärungen, die, bei denen am
+schnellsten, am häufigsten das Gefühl des Fremden, Neuen, Unerlebten
+weggeschafft worden ist, - die gewöhnlichsten Erklärungen. - Folge:
+eine Art von Ursachen-Setzung überwiegt immer mehr, concentrirt sich
+zum System und tritt endlich dominirend hervor, das heisst andere
+Ursachen und Erklärungen einfach ausschliessend. - Der Banquier denkt
+sofort an's "Geschäft", der Christ an die "Sünde", das Mädchen an
+seine Liebe.
+
+
+6.
+
+Der ganze Bereich der Moral und Religion gehört unter diesen
+Begriff der imaginären Ursachen. - "Erklärung" der unangenehmen
+Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt durch Wesen, die uns
+feind sind (böse Geister: berühmtester Fall - Missverständniss der
+Hysterischen als Hexen). Dieselben sind bedingt durch Handlungen, die
+nicht zu billigen sind (das Gefühl der "Sünde", der "Sündhaftigkeit"
+einem physiologischen Missbehagen untergeschoben - man findet immer
+Gründe, mit sich unzufrieden zu sein). Dieselben sind bedingt als
+Strafen, als eine Abzahlung für Etwas, das wir nicht hätten thun, das
+wir nicht hätten sein sollen (in impudenter Form von Schopenhauer zu
+einem Satze verallgemeinert, in dem die Moral als Das erscheint, was
+sie ist, als eigentliche Giftmischerin und Verleumderin des Lebens:
+"jeder grosse Schmerz, sei er leiblich, sei er geistig, sagt aus, was
+wir verdienen; denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht
+verdienten." Welt als Wille und Vorstellung, 2, 666). Dieselben sind
+bedingt als Folgen unbedachter, schlimm auslaufender Handlungen (die
+Affekte, die Sinne als Ursache, als "schuld" angesetzt; physiologische
+Nothstände mit Hülfe anderer Nothstände als "verdient" ausgelegt). -
+"Erklärung" der angenehmen Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt
+durch Gottvertrauen. Dieselben sind bedingt durch das Bewusstsein
+guter Handlungen (das sogenannte "gute Gewissen", ein physiologischer
+Zustand, der mitunter einer glücklichen Verdauung zum Verwechseln
+ähnlich sieht). Dieselben sind bedingt durch den glücklichen Ausgang
+von Unternehmungen (- naiver Fehlschluss: der glückliche Ausgang einer
+Unternehmung schafft einem Hypochonder oder: einem Pascal durchaus
+keine angenehmen Allgemeingefühle). Dieselben sind bedingt durch
+Glaube, Liebe, Hoffnung - die christlichen Tugenden. - In Wahrheit
+sind alle diese vermeintlichen Erklärungen Folgezustände und gleichsam
+Übersetzungen von Lust oder Unlust-Gefühlen in einen falschen Dialekt:
+man ist im Zustande zu hoffen, weil das physiologische Grundgefühl
+wieder stark und reich ist; man vertraut Gott, weil das Gefühl der
+Fülle und Stärke Einem Ruhe giebt. - Die Moral und Religion gehört
+ganz und gar unter die Psychologie des Irrthums: in jedem einzelnen
+Falle wird Ursache und Wirkung verwechselt; oder die Wahrheit mit der
+Wirkung des als wahr Geglaubten verwechselt; oder ein Zustand des
+Bewusstseins mit der Ursächlichkeit dieses Zustands verwechselt.
+
+
+7.
+
+Irrthum vom freien Willen. - Wir haben heute kein Mitleid mehr mit
+dem Begriff "freier Wille": wir wissen nur zu gut, was er ist -
+das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es giebt, zum Zweck, die
+Menschheit in ihrem Sinne "verantwortlich" zu machen, das heisst sie
+von sich abhängig zu machen... Ich gebe hier nur die Psychologie alles
+Verantwortlichmachens. - überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht
+werden, pflegt es der Instinkt des Strafen- und Richten-Wollens zu
+sein, der da sucht. Man hat das Werden seiner Unschuld entkleidet,
+wenn irgend ein So-und-so Sein auf Wille, auf Absichten, auf Akte
+der Verantwortlichkeit zurückgeführt wird: die Lehre vom Willen
+ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, das heisst des
+Schuldig-finden-wollens. Die ganze alte Psychologie, die
+Willens-Psychiologie hat ihre Voraussetzung darin, dass deren Urheber,
+die Priester an der Spitze alter Gemeinwesen, sich ein Recht schaffen
+wollten, Strafen zu verhängen - oder Gott dazu ein Recht schaffen
+wollten... Die Menschen wurden "frei" gedacht, um gerichtet, um
+gestraft werden zu können, - um schuldig werden zu können: folglich
+musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im
+Bewusstsein liegend gedacht werden (- womit die grundsätzlichste
+Falschmünzerei in psychologicis zum Princip der Psychologie selbst
+gemacht war... ) Heute, wo wir in die umgekehrte Bewegung eingetreten
+sind, wo wir Immoralisten zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und
+den Strafbegriff aus der Welt wieder herauszunehmen und Psychologie,
+Geschichte, Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen
+von ihnen zu reinigen suchen, giebt es in unsern Augen keine
+radikalere Gegnerschaft als die der Theologen, welche fortfahren, mit
+dem Begriff der "sittlichen Weltordnung" die Unschuld des Werdens
+durch "Strafe" und "Schuld" zu durchseuchen. Das Christenthum ist eine
+Metaphysik des Henkers...
+
+
+8.
+
+Was kann allein unsre Lehre sein? - Dass Niemand dem Menschen seine
+Eigenschaften giebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine
+Eltern und Vorfahren, noch er selbst (- der Unsinn der hier zuletzt
+abgelehnten Vorstellung ist als "intelligible Freiheit" von Kant,
+vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden). Niemand ist dafür
+verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen
+ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die
+Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität
+alles dessen, was war und was sein wird. Er ist nicht die Folge einer
+eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks, mit ihm wird nicht der
+Versuch gemacht, ein "Ideal von Mensch" oder ein "Ideal von Glück"
+oder ein "Ideal von Moralität" zu erreichen, - es ist absurd, sein
+Wesen in irgend einen Zweck hin abwälzen zu wollen. Wir haben den
+Begriff "Zweck" erfunden: in der Realität fehlt der Zweck... Man ist
+nothwendig, man ist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man
+ist im Ganzen, - es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen,
+vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten,
+messen, vergleichen, verurtheilen... Aber es giebt Nichts ausser dem
+Ganzen! - Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art
+des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass
+die Welt weder als Sensorium, noch als "Geist" eine Einheit ist, dies
+erst ist die grosse Befreiung, - damit erst ist die Unschuld des
+Werdens wieder hergestellt... Der Begriff "Gott" war bisher der
+grösste Einwand gegen das Dasein... Wir leugnen Gott, wir leugnen die
+Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt. -
+
+
+
+Die "Verbesserer" der Menschheit.
+
+1.
+
+Man kennt meine Forderung an den Philosophen, sich jenseits von Gut
+und Böse zu stellen, - die Illusion des moralischen Urtheils unter
+sich zu haben. Diese Forderung folgt aus einer Einsicht, die von mir
+zum ersten Male formulirt worden ist: dass es gar keine moralischen
+Thatsachen giebt. Das moralische Urtheil hat Das mit dem religiösen
+gemein, dass es an Realitäten glaubt, die keine sind. Moral ist
+nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine
+Missdeutung. Das moralische Urtheil gehört, wie das religiöse, einer
+Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff des Realen,
+die Unterscheidung des Realen und Imaginären noch fehlt: so dass
+"Wahrheit" auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute
+"Einbildungen" nennen. Das moralische Urtheil ist insofern nie
+wörtlich zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber
+es bleibt als Semiotik unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden
+wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und
+Innerlichkeiten, die nicht genug wussten, um sich selbst zu
+"verstehn". Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie: man
+muss bereits wissen, worum es sich handelt, um von ihr Nutzen zu
+ziehen.
+
+
+2.
+
+Ein erstes Beispiel und ganz vorläufig. Zu allen Zeiten hat man die
+Menschen "verbessern" wollen: dies vor Allem hiess Moral. Aber unter
+dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt.
+Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch als die Züchtung einer bestimmten
+Gattung Mensch ist "Besserung" genannt worden: erst diese zoologischen
+termini drücken Realitäten aus - Realitäten freilich, von denen der
+typische "Verbesserer", der Priester, Nichts weiss - Nichts wissen
+will... Die Zähmung eines Thieres seine "Besserung" nennen ist
+in unsren Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiss, was in Menagerien
+geschieht, zweifelt daran, dass die Bestie daselbst "verbessert" wird.
+Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird
+durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden,
+durch Hunger zur krankhaften Bestie. - Nicht anders steht es mit dem
+gezähmten Menschen, den der Priester "verbessert" hat. Im frühen
+Mittelalter, wo in der That die Kirche vor Allem eine Menagerie war,
+machte man allerwärts auf die schönsten Exemplare der "blonden Bestie"
+Jagd, - man "verbesserte" zum Beispiel die vornehmen Germanen.
+Aber wie sah hinterdrein ein solcher "verbesserter", in's Kloster
+verführter Germane aus? Wie eine Caricatur des Menschen, wie eine
+Missgeburt: er war zum "Sünder" geworden, er stak im Käfig, man hatte
+ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt... Da lag er
+nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Hass gegen
+die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen Alles, was noch stark
+und glücklich war. Kurz, ein "Christ"... Physiologisch geredet: im
+Kampf mit der Bestie kann Krank machen das einzige Mittel sein, sie
+schwach zu machen. Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen,
+sie schwächte ihn, - aber sie nahm in Anspruch, ihn "verbessert" zu
+haben...
+
+
+3.
+
+Nehmen wir den andern Fall der sogenannten Moral, den Fall der
+Züchtung einer bestimmten Rasse und Art. Das grossartigste Beispiel
+dafür giebt die indische Moral, als "Gesetz des Manu" zur Religion
+sanktionirt. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier
+Rassen auf einmal zu züchten: eine priesterliche, eine kriegerische,
+eine händler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die
+Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Thierbändigern:
+eine hundert Mal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die
+Voraussetzung, um auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu
+concipiren. Man athmet auf, aus der christlichen Kranken- und
+Kerkerluft in diese gesündere, höhere, weitere Welt einzutreten. Wie
+armselig ist das "neue Testament" gegen Manu, wie schlecht riecht
+es! - Aber auch diese Organisation hatte nöthig, furchtbar zu
+sein, - nicht dies Mal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem
+Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen,
+dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn
+ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn krank zu machen, - es war
+der Kampf mit der "grossen Zahl". Vielleicht giebt es nichts unserm
+Gefühle Widersprechenderes als diese Schutzmaassregeln der indischen
+Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra 1), das "von
+den unreinen Gemüsen", ordnet an, dass die einzige Nahrung, die
+den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in
+Anbetracht, dass die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder
+Früchte, die Körner tragen, oder Wasser oder Feuer zu geben. Dasselbe
+Edikt setzt fest, dass das Wasser, welches sie nöthig haben, weder
+aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen
+werden dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern,
+welche durch die Fusstapfen der Thiere entstanden sind. Insgleichen
+wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu waschen und sich selbst zu
+waschen, da das Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur
+benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich ein Verbot an
+die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehen,
+insgleichen noch eins für die letzteren, einander dabei beizustehen...
+- Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus:
+mörderische Seuchen, scheussliche Geschlechtskrankheiten und darauf
+hin wieder "das Gesetz des Messers", die Beschneidung für die
+männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen
+Kinder anordnend. - Manu selbst sagt: "die Tschandala sind die Frucht
+von Ehebruch, Incest und Verbrechen (- dies die nothwendige Consequenz
+des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von
+Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes
+Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister; sie sollen ohne Ruhe
+von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten, von links
+nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu
+bedienen: der Gebrauch der rechten Hand und des von Links nach Rechts
+ist bloss den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse." -
+
+
+4.
+
+Diese Verfügungen sind lehrreich genug: in ihnen haben wir einmal die
+arische Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich, - wir lernen, dass
+der Begriff "reines Blut" der Gegensatz eines harmlosen Begriffs
+ist. Andrerseits wird klar, in welchem Volk sich der Hass, der
+Tschandala-Hass gegen diese "Humanität" verewigt hat, wo er Religion,
+wo er Genie geworden ist...Unter diesem Gesichtspunkte sind die
+Evangelien eine Urkunde ersten Ranges; noch mehr das Buch Henoch.
+- Das Christenthum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als
+Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der
+Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar: - es ist die antiarische
+Religion par excellence: das Christenthum die Umwerthung aller
+arischen Werthe, der Sieg der Tschandala Werthe, das Evangelium
+den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesammt-Aufstand alles
+Niedergetretenen, Elenden, Missrathenen, Schlechtweggekommenen gegen
+die "Rasse", - die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der
+Liebe...
+
+
+5.
+
+Die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den Mitteln,
+sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen als
+obersten Satz hinstellen, dass, um Moral zu machen, man den
+unbedingten Willen zum Gegentheil haben muss. Dies ist das grosse,
+das unheimliche Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die
+Psychologie der "Verbesserer" der Menschheit. Eine kleine und im
+Grunde bescheidne Thatsache, die der sogenannten pia fraus, gab mir
+den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das Erbgut aller
+Philosophen und Priester, die die Menschheit "verbesserten". Weder
+Manu, noch Plato, noch Confucius, noch die jüdischen und christlichen
+Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz
+andren Rechten nicht gezweifelt... In Formel ausgedrückt dürfte man
+sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht
+werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch. -
+
+
+
+Was den Deutschen abgeht.
+
+1.
+
+Unter Deutschen ist es heute nicht genug, Geist zu haben: man muss ihn
+noch sich nehmen, sich Geist herausnehmen...
+
+Vielleicht kenne ich die Deutschen, vielleicht darf ich selbst ihnen
+ein paar Wahrheiten sagen. Das neue Deutschland stellt ein grosses
+Quantum vererbter und angeschulter Tüchtigkeit dar, so dass es den
+aufgehäuften Schatz von Kraft eine Zeit lang selbst verschwenderisch
+ausgeben darf. Es ist nicht eine hohe Cultur, die mit ihm Herr
+geworden, noch weniger ein delikater Geschmack, eine vornehme
+"Schönheit" der Instinkte; aber männlichere Tugenden, als sonst ein
+Land Europa's aufweisen kann. Viel guther Muth und Achtung vor sich
+selber, viel Sicherheit im Verkehr, in der Gegenseitigkeit der
+Pflichten, viel Arbeitsamkeit, viel Ausdauer - und eine angeerbte
+Mässigung, welche eher des Stachels als des Hemmschuhs bedarf. Ich
+füge hinzu, dass hier noch gehorcht wird, ohne dass das Gehorchen
+demüthigt... Und Niemand verachtet seinen Gegner...
+
+Man sieht, es ist mein Wunsch, den Deutschen gerecht zu sein: ich
+möchte mir darin nicht untreu werden, - ich muss ihnen also auch
+meinen Einwand machen. Es zahlt sich theuer, zur Macht zu kommen: die
+Macht verdummt... Die Deutschen - man hiess sie einst das Volk der
+Denker: denken sie heute überhaupt noch? - Die Deutschen langweilen
+sich jetzt am Geiste, die Deutschen misstrauen jetzt dem Geiste,
+die Politik verschlingt allen Ernst für wirklich geistige Dinge -
+"Deutschland, Deutschland über Alles", ich fürchte, das war das Ende
+der deutschen Philosophie... "Giebt es deutsche Philosophen? giebt
+es deutsche Dichter? giebt es gute deutsche Bücher?" fragt man mich
+im Ausland. Ich erröthe, aber mit der Tapferkeit, die mir auch in
+verzweifelten Fällen zu eigen ist, antworte ich: "Ja, Bismarck!" -
+Dürfte ich auch nur eingestehn, welche Bücher man heute liest?...
+Vermaledeiter Instinkt der Mittelmässigkeit! -
+
+
+2.
+
+- Was der deutsche Geist sein könnte, wer hätte nicht schon darüber
+seine schwermüthigen Gedanken gehabt! Aber dies Volk hat sich
+willkürlich verdummt, seit einem Jahrtausend beinahe: nirgendswo sind
+die zwei grossen europäischen Narcotica, Alkohol und Christenthum,
+lasterhafter gemissbraucht worden. Neuerdings kam sogar noch
+ein drittes hinzu, mit dem allein schon aller feinen und kühnen
+Beweglichkeit des Geistes der Garaus gemacht werden kann, die
+Musik, unsre verstopfte verstopfende deutsche Musik. - Wie viel
+verdriessliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel
+Bier ist in der deutschen Intelligenz! Wie ist es eigentlich möglich,
+dass junge Männer, die den geistigsten Zielen ihr Dasein weihn, nicht
+den ersten Instinkt der Geistigkeit, den Selbsterhaltungs-Instinkt des
+Geistes in sich fühlen - und Bier trinken?... Der Alkoholismus der
+gelehrten Jugend ist vielleicht noch kein Fragezeichen in Absicht
+ihrer Gelehrsamkeit - man kann ohne Geist sogar ein grosser Gelehrter
+sein -, aber in jedem andren Betracht bleibt er ein Problem. - Wo
+fände man sie nicht, die sanfte Entartung, die das Bier im Geiste
+hervorbringt! Ich habe einmal in einem beinahe berühmt gewordnen Fall
+den Finger auf eine solche Entartung gelegt - die Entartung unsres
+ersten deutschen Freigeistes, des klugen David Strauss, zum Verfasser
+eines Bierbank-Evangeliums und "neuen Glaubens"... Nicht umsonst hatte
+er der "holden Braunen" sein Gelöbniss in Versen gemacht - Treue bis
+zum Tod...
+
+
+3.
+
+- Ich sprach vom deutschen Geiste: dass er gröber wird, dass er sich
+verflacht. Ist das genug? - Im Grunde ist es etwas ganz Anderes, das
+mich erschreckt: wie es immer mehr mit dem deutschen Ernste, der
+deutschen Tiefe, der deutschen Leidenschaft in geistigen Dingen
+abwärts geht. Das Pathos hat sich verändert, nicht bloss die
+Intellektualität. - Ich berühre hier und da deutsche Universitäten:
+was für eine Luft herrscht unter deren Gelehrten, welche öde,
+welche genügsam und lau gewordne Geistigkeit! Es wäre ein tiefes
+Missverständniss, wenn man mir hier die deutsche Wissenschaft
+einwenden wollte - und ausserdem ein Beweis dafür, dass man nicht
+ein Wort von mir gelesen hat. Ich bin seit siebzehn Jahren nicht
+müde geworden, den entgeistigenden Einfluss unsres jetzigen
+Wissenschafts-Betriebs an's Licht zu stellen. Das harte Helotenthum,
+zu dem der ungeheure Umfang der Wissenschaften heute jeden Einzelnen
+verurtheilt, ist ein Hauptgrund dafür, dass voller, reicher, tiefer
+angelegte Naturen keine ihnen gemässe Erziehung und Erzieher mehr
+vorfinden. Unsre Cultur leidet an Nichts mehr, als an dem Überfluss
+anmaasslicher Eckensteher und Bruchstück-Humanitäten; unsre
+Universitäten sind, wider Willen, die eigentlichen Treibhäuser für
+diese Art Instinkt-Verkümmerung des Geistes. Und ganz Europa hat
+bereits einen Begriff davon - die grosse Politik täuscht Niemanden...
+Deutschland gilt immer mehr als Europa's Flachland. - Ich suche noch
+nach einem Deutschen, mit dem ich auf meine Weise ernst sein könnte,
+- um wie viel mehr nach einem, mit dem ich heiter sein dürfte!
+Götzen-Dämmerung: ah wer begriffe es heute, von was für einem Ernste
+sich hier ein Einsiedler erholt! - Die Heiterkeit ist an uns das
+Unverständlichste...
+
+
+4.
+
+Man mache einen Überschlag: es liegt nicht nur auf der Hand, dass die
+deutsche Cultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund
+dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben als er hat - das gilt
+von Einzelnen, das gilt von Völkern. Giebt man sich für Macht, für
+grosse Politik, für Wirthschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus,
+Militär-Interessen aus, - giebt man das Quantum Verstand, Ernst,
+Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach dieser Seite weg, so fehlt
+es auf der andern Seite. Die Cultur und der Staat - man betrüge sich
+hierüber nicht - sind Antagonisten: "Cultur-Staat" ist bloss eine
+moderne Idee. Das Eine lebt vom Andern, das Eine gedeiht auf
+Unkosten des Anderen. Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische
+Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch,
+selbst antipolitisch. - Goethen gieng das Herz auf bei dem Phänomen
+Napoleon, - es gieng ihm zu beiden "Freiheits-Kriegen"... In demselben
+Augenblick, wo Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt
+Frankreich als Culturmacht eine veränderte Wichtigkeit. Schon heute
+ist viel neuer Ernst, viel neue Leidenschaft des Geistes nach Paris
+übergesiedelt; die Frage des Pessimismus zum Beispiel, die Frage
+Wagner, fast alle psychologischen und artistischen Fragen werden dort
+unvergleichlich feiner und gründlicher erwogen als in Deutschland,
+- die Deutschen sind selbst unfähig zu dieser Art Ernst. - In der
+Geschichte der europäischen Cultur bedeutet die Heraufkunft des
+"Reichs" vor allem Eins: eine Verlegung des Schwergewichts. Man weiss
+es überall bereits: in der Hauptsache - und das bleibt die Cultur -
+kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht. Man fragt: habt ihr auch
+nur Einen für Europa mitzählenden Geist aufzuweisen? wie euer Goethe,
+euer Hegel, euer Heinrich Heine, euer Schopenhauer mitzählte? - Dass
+es nicht einen einzigen deutschen Philosophen mehr giebt, darüber ist
+des Erstaunens kein Ende. -
+
+
+5.
+
+Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache
+abhanden gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Dass Erziehung,
+Bildung selbst Zweck ist - und nicht das "Reich" -, dass es zu
+diesem Zweck der Erzieherbedarf - und nicht der Gymnasiallehrer und
+Universitäts-Gelehrten - man vergass das... Erzieher thun noth, die
+selbst erzogen sind, überlegene, vornehme Geister, in jedem Augenblick
+bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süss gewordene
+Culturen, - nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und
+Universität der Jugend heute als "höhere Ammen" entgegenbringt. Die
+Erzieherfehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die erste
+Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Cultur.
+- Eine jener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger
+Freund Jakob Burckhardt in Basel: ihm zuerst verdankt Basel seinen
+Vorrang von Humanität. - Was die "höheren Schulen" Deutschlands
+thatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit
+möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den
+Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu machen. "Höhere Erziehung" und
+Unzahl - das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung
+gehört nur der Ausnahme: man muss privilegirt sein, um ein Recht auf
+ein so hohes Privilegium zu haben. Alle grossen, alle schönen Dinge
+können nie Gemeingut sein: pulchrum est paucorum hominum. - Was
+bedingt den Niedergang der deutschen Cultur? Dass "höhere Erziehung"
+kein Vorrecht mehr ist - der Demokratismus der "allgemeinen", der
+gemein gewordnen "Bildung"... Nicht zu vergessen, dass militärische
+Privilegien den Zu-Viel-Besuch der höheren Schulen, das heisst ihren
+Untergang, förmlich erzwingen. - Es steht Niemandem mehr frei, im
+jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu
+geben: unsre "höheren" Schulen sind allesammt auf die zweideutigste
+Mittelmässigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit
+Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob
+Etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann Mit 23 Jahren noch nicht
+"fertig" ist, noch nicht Antwort weiss auf die "Hauptfrage": welchen
+Beruf? - Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht
+"Berufe", genau deshalb, weil sie sich berufen weiss... Sie hat Zeit,
+sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, "fertig" zu werden,
+- mit dreissig Jahren ist man, im Sinne hoher Cultur, ein Anfänger,
+ein Kind. - Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid
+gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal: um diese Zustände in
+Schutz zu nehmen, wie es jüngst die Professoren von Heidelberg gethan
+haben, dazu hat man vielleicht Ursachen, - Gründe dafür giebt es
+nicht.
+
+
+6.
+
+- Ich stelle, um nicht aus meiner Art zu fallen, die ja-sagend ist und
+mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu thun
+hat, sofort die drei Aufgaben hin, derentwegen man Erzieher braucht.
+Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen
+und schreiben zu lernen: das Ziel in allen Dreien ist eine vornehme
+Cultur. - Sehen lernen - dem Auge die Ruhe, die Geduld, das
+An-sich-herankommen-lassen angewöhnen; das Urtheil hinausschieben,
+den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist
+die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort
+reagiren, sondern die hemmenden, die abschliessenden Instinkte in die
+Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das,
+was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das
+Wesentliche daran ist gerade, nicht "wollen", die Entscheidung
+aussetzen können. Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem
+Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten - man muss reagiren, man
+folgt jedem Impulse. In vielen Fällen ist ein solches Müssen bereits
+Krankhaftigkeit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung, - fast Alles,
+was die unphilosophische Rohheit mit dem Namen "Laster" bezeichnet,
+ist bloss jenes physiologische Unvermögen, nicht zu reagiren. -
+Eine Nutzanwendung vom Sehen-gelernt-haben: man wird als Lernender
+überhaupt langsam, misstrauisch, widerstrebend geworden sein. Man wird
+Fremdes, Neues jeder Art zunächst mit feindseliger Ruhe herankommen
+lassen, - man wird seine Hand davor zurückziehn. Das Offenstehn
+mit allen Thüren, das unterthänige Auf-dem-Bauch-Liegen vor jeder
+kleinen Thatsache, das allzeit sprungbereite Sich-hinein-Setzen,
+Sich-hinein-Stürzen in Andere und Anderes, kurz die berühmte
+moderne "Objektivität" ist schlechter Geschmack, ist unvornehm par
+excellence. -
+
+
+7.
+
+Denken lernen: man hat auf unsren Schulen keinen Begriff mehr davon.
+Selbst auf den Universitäten, sogar unter den eigentlichen Gelehrten
+der Philosophie beginnt Logik als Theorie, als Praktik, als Handwerk,
+auszusterben. Man lese deutsche Bücher: nicht mehr die entfernteste
+Erinnerung daran, dass es zum Denken einer Technik, eines Lehrplans,
+eines Willens zur Meisterschaft bedarf, - dass Denken gelernt sein
+will, wie Tanzen gelernt sein will, als eine Art Tanzen... Wer kennt
+unter Deutschen jenen feinen Schauder aus Erfahrung noch, den die
+leichten Füsse im Geistigen in alle Muskeln überströmen! - Die steife
+Tölpelei der geistigen Gebärde, die plumpe Hand beim Fassen - das ist
+in dem Grade deutsch, dass man es im Auslande mit dem deutschen Wesen
+überhaupt verwechselt. Der Deutsche hat keine Finger für nuances...
+Dass die Deutschen ihre Philosophen auch nur ausgehalten haben, vor
+Allen jenen verwachsensten Begriffs-Krüppel, den es je gegeben hat,
+den grossen Kant, giebt keinen kleinen Begriff von der deutschen
+Anmuth. - Man kann nämlich das Tanzen in jeder Form nicht von der
+vornehmen Erziehung abrechnen, Tanzen können mit den Füssen, mit den
+Begriffen, mit den Worten; habe ich noch zu sagen, dass man es auch
+mit der Feder können muss, - dass man schreiben lernen muss? - Aber
+an dieser Stelle würde ich deutschen Lesern vollkommen zum Räthsel
+werden...
+
+
+
+Streifzüge eines Unzeitgemässen.
+
+1.
+
+Meine Unmöglichen. - Seneca: oder der Toreador der Tugend. - Rousseau:
+oder die Rückkehr zur Natur in impuris naturalibus. - Schiller: oder
+der Moral-Trompeter von Säckingen. - Dante: oder die Hyäne, die in
+Gräbern dichtet. - Kant: oder cant als intelligibler Charakter.
+-Victor Hugo: oder der Pharus am Meere des Unsinns. - Liszt: oder die
+Schule der Geläufigkeit - nach Weibern. - George Sand: oder lactea
+ubertas, auf deutsch: die Milchkuh mit "schönem Stil". - Michelet:
+oder die Begeisterung, die den Rock auszieht...Carlyle: oder
+Pessimismus als zurückgetretenes Mittagessen. - John Stuart Mill: oder
+die beleidigende Klarheit. - Les fréres de Goncourt: oder die beiden
+Ajaxe im Kampf mit Homer. Musik von Offenbach. - Zola: oder die Freude
+zu stinken. -
+
+
+2.
+
+Renan. - Theologie, oder die Verderbniss der Vernunft durch die
+"Erbsünde" (das Christenthum). Zeugniss Renan, der, sobald er
+einmal ein Ja oder Nein allgemeinerer Art risquirt, mit peinlicher
+Regelmässigkeit daneben greift. Er möchte zum Beispiel la science und
+la noblesse in Eins verknüpfen: aber la science gehört zur Demokratie,
+das greift sich doch mit Händen. Er wünscht, mit keinem kleinen
+Ehrgeize, einen Aristokratismus des Geistes darzustellen: aber
+zugleich liegt er vor dessen Gegenlehre, dem évangile des humbles auf
+den Knien und nicht nur auf den Knien... Was hilft alle Freigeisterei,
+Modernität, Spötterei und Wendehals-Geschmeidigkeit, wenn man mit
+seinen Eingeweiden Christ, Katholik und sogar Priester geblieben ist!
+Renan hat seine Erfindsamkeit, ganz wie ein Jesuit und Beichtvater,
+in der Verführung; seiner Geistigkeit fehlt das breite
+Pfaffen-Geschmunzel nicht, - er wird, wie alle Priester, gefährlich
+erst, wenn er liebt. Niemand kommt ihm darin gleich, auf eine
+lebensgefährliche Weise anzubeten... Dieser Geist Renan's, ein
+Geist, der entnervt, ist ein Verhängniss mehr für das arme, kranke,
+willenskranke Frankreich. -
+
+
+3.
+
+Sainte-Beuve. - Nichts von Mann; voll eines kleinen Ingrimms gegen
+alle Mannsgeister. Schweift umher, fein, neugierig, gelangweilt,
+aushorcherisch, - eine Weibsperson im Grunde, mit einer
+Weibs-Rachsucht und Weibs-Sinnlichkeit. Als Psycholog ein Genie der
+médisance; unerschöpflich reich an Mitteln dazu; Niemand versteht
+besser, mit einem Lob Gift zu mischen. Plebejisch in den untersten
+Instinkten und mit dem ressentiment Rousseau's verwandt: folglich
+Romantiker - denn unter allem romantisme grunzt und giert der Instinkt
+Rousseau's nach Rache. Revolutionär, aber durch die Furcht leidlich
+noch im Zaum gehalten. Ohne Freiheit vor Allem, was Stärke hat
+(öffentliche Meinung, Akademie, Hof, selbst Port Royal). Erbittert
+gegen alles Grosse an Mensch und Ding, gegen Alles, was an sich
+glaubt. Dichter und Halbweib genug, um das Grosse noch als Macht zu
+fühlen; gekrümmt beständig, wie jener berühmte Wurm, weil er sich
+beständig getreten fühlt. Als Kritiker ohne Maassstab, Halt und
+Rückgrat, mit der Zunge des kosmopolitischen libertin für Vielerlei,
+aber ohne den Muth selbst zum Eingeständniss der libertinage. Als
+Historiker ohne Philosophie, ohne die Macht des philosophischen
+Blicks, - deshalb die Aufgabe des Richtens in allen Hauptsachen
+ablehnend, die "Objektivität" als Maske vorhaltend. Anders verhält er
+sich zu allen Dingen, wo ein feiner, vernutzter Geschmack die höchste
+Instanz ist: da hat er wirklich den Muth zu sich, die Lust an sich, -
+da ist er Meister. - Nach einigen Seiten eine Vorform Baudelaire's. -
+
+
+4.
+
+Die imitatio Christi gehört zu den Büchern, die ich nicht ohne einen
+physiologischen Widerstand in den Händen halte: sie haucht einen
+parfum des Ewig-Weiblichen aus, zu dem man bereits Franzose sein muss
+- oder Wagnerianer... Dieser Heilige hat eine Art von der Liebe zu
+reden, dass sogar die Pariserinnen neugierig werden. - Man sagt mir,
+dass jener klügste Jesuit, A. Comte, der seine Franzosen auf dem
+Umweg der Wissenschaft nach Rom führen wollte, sich an diesem Buche
+inspirirt habe. Ich glaube es: "die Religion des Herzens"...
+
+
+5.
+
+G. Eliot. - Sie sind den christlichen Gott los und glauben nun um,
+so mehr die christliche Moral festhalten zu müssen: das ist eine
+englische Folgerichtigkeit, wir wollen sie den Moral Weiblein á
+la Eliot nicht verübeln. In England muss man sich für jede kleine
+Emancipation von der Theologie in furchteinflössender Weise als
+Moral-Fanatiker wieder zu Ehren bringen. Das ist dort die Busse, die
+man zahlt. - Für uns Andre steht es anders. Wenn man den christlichen
+Glauben aufgiebt, zieht man sich damit das Recht zur christlichen
+Moral unter den Füssen weg. Diese versteht sich schlechterdings nicht
+von selbst: man muss diesen Punkt, den englischen Flachköpfen zum
+Trotz, immer wieder an's Licht stellen. Das Christenthum ist ein
+System, eine zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge. Bricht man
+aus ihm einen Hauptbegriff, den Glauben an Gott, heraus, so zerbricht
+man damit auch das Ganze: man hat nichts Nothwendiges mehr zwischen
+den Fingern. Das Christenthum setzt voraus, dass der Mensch nicht
+wisse, nicht wissen könne, was für ihn gut, was böse ist: er glaubt an
+Gott, der allein es weiss. Die christliche Moral ist ein Befehl; ihr
+Ursprung ist transscendent; sie ist jenseits aller Kritik, alles
+Rechts auf Kritik; sie hat nur Wahrheit, falls Gott die Wahrheit ist,
+- sie steht und fällt mit dem Glauben an Gott. - Wenn thatsächlich die
+Engländer glauben, sie wüssten von sich aus, "intuitiv", was gut und
+böse ist, wenn sie folglich vermeinen, das Christenthum als Garantie
+der Moral nicht mehr nöthig zu haben, so ist dies selbst bloss die
+Folge der Herrschaft des christlichen Werthurtheils und ein Ausdruck
+von der Stärke und Tiefe dieser Herrschaft: so dass der Ursprung der
+englischen Moral vergessen worden ist, so dass das Sehr-Bedingte ihres
+Rechts auf Dasein nicht mehr empfunden wird. Für den Engländer ist die
+Moral noch kein Problem...
+
+
+6.
+
+George Sand. - Ich las die ersten lettres d'un voyageur: wie Alles,
+was von Rousseau stammt, falsch, gemacht, Blasebalg, übertrieben.
+Ich halte diesen bunten Tapeten-Stil nicht aus; ebensowenig als die
+Pöbel-Ambition nach generösen Gefühlen. Das Schlimmste freilich bleibt
+die Weibskoketterie mit Männlichkeiten, mit Manieren ungezogener
+Jungen. - Wie kalt muss sie bei alledem gewesen sein, diese
+unausstehliche Künstlerin! Sie zog sich auf wie eine Uhr - und
+schrieb... Kalt, wie Hugo wie Balzac, wie alle Romantiker, sobald sie
+dichteten! Und wie selbstgefällig sie dabei dagelegen haben mag, diese
+fruchtbare Schreibe-Kuh, die etwas Deutsches im schlimmen Sinne an
+sich hatte, gleich Rousseau selbst, ihrem Meister, und jedenfalls erst
+beim Niedergang des französischen Geschmacks möglich war! - Aber Renan
+verehrt sie...
+
+
+7.
+
+Moral für Psychologen. - Keine Colportage-Psychologie treiben! Nie
+beobachten, um zu beobachten! Das giebt eine falsche Optik, ein
+Schielen, etwas Erzwungenes und Übertreibendes. Erleben als
+Erleben-Wollen - das geräth nicht. Man darf nicht im Erlebniss nach
+sich hinblicken, jeder Blick wird da zum "bösen Blick". Ein geborner
+Psycholog hütet sich aus Instinkt, zu sehn, um zu sehn; dasselbe gilt
+vom gebornen Maler. Er arbeitet nie "nach der Natur", - er überlässt
+seinem Instinkte, seiner camera obscura das Durchsieben und Ausdrücken
+des "Falls", der "Natur", des "Erlebten"... Das Allgemeine erst kommt
+ihm zum Bewusstsein, der Schluss, das Ergebniss: er kennt jenes
+willkürliche Abstrahiren vom einzelnen Falle nicht. - Was wird daraus,
+wenn man es anders macht? Zum Beispiel nach Art der Pariser romanciers
+gross und klein Colportage-Psychologie treibt? Das lauert gleichsam
+der Wirklichkeit auf, das bringt jeden Abend eine Handvoll
+Curiositäten mit nach Hause... Aber man sehe nur, was zuletzt
+herauskommt - ein Haufen von Klecksen, ein Mosaik besten Falls, in
+jedem Falle etwas Zusammen-Addirtes, Unruhiges, Farbenschreiendes. Das
+Schlimmste darin erreichen die Goncourt: sie setzen nicht drei Sätze
+zusammen, die nicht dem Auge, dem Psychologen-Auge einfach weh thun. -
+Die Natur, künstlerisch abgeschätzt, ist kein Modell. Sie übertreibt,
+sie verzerrt, sie lässt Lücken. Die Natur ist der Zufall. Das Studium
+"nach der Natur" scheint mir ein schlechtes Zeichen: es verräth
+Unterwerfung, Schwäche, Fatalismus, - dies Im-Staube-Liegen vor petits
+faits ist eines ganzen Künstlers unwürdig. Sehen, was ist - das gehört
+einer andern Gattung von Geistern. zu, den antiartistischen, den
+Thatsächlichen. Man muss wissen, wer man ist...
+
+
+8.
+
+Zur Psychologie des Künstlers. - Damit es Kunst giebt, damit es irgend
+ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische
+Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muss erst die
+Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu
+keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches
+haben dazu die Kraft: vor Allem der Rausch der Geschlechtserregung,
+diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches. Insgleichen der
+Rausch, der im Gefolge aller grossen Begierden, aller starken Affekte
+kommt; der Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks,
+des Siegs, aller extremen Bewegung; der Rausch der Grausamkeit; der
+Rausch in der Zerstörung; der Rausch unter gewissen meteorologischen
+Einflüssen, zum Beispiel der Frühlingsrausch; oder unter dem Einfluss
+der Narcotica; endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines
+überhäuften und geschwellten Willens. - Das Wesentliche am Rausch ist
+das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man
+an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt
+sie, - man heisst diesen Vorgang Idealisiren. Machen wir uns hier von
+einem Vorurtheil los: das Idealisiren besteht nicht, wie gemeinhin
+geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen des Kleinen, des
+Nebensächlichen. Ein ungeheures Heraustreibender Hauptzüge ist
+vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber verschwinden.
+
+
+9.
+
+Man bereichert in diesem Zustande Alles aus seiner eignen Fülle: was
+man sieht, was man will, man sieht es geschwellt, gedrängt, stark,
+überladen mit Kraft. Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die
+Dinge, bis sie seine Macht wiederspiegeln, - bis sie Reflexe seiner
+Vollkommenheit sind. Dies Verwandeln müssen in's Vollkommne ist -
+Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotzdem ihm zur Lust an
+sich; in der Kunst geniesst sich der Mensch als Vollkommenheit. - Es
+wäre erlaubt, sich einen gegensätzlichen Zustand auszudenken, ein
+spezifisches Antikünstlerthum des Instinks, - eine Art zu sein, welche
+alle Dinge verarmte, verdünnte, schwindsüchtig machte. Und in der
+That, die Geschichte ist reich an solchen Anti-Artisten, an solchen
+Ausgehungerten des Lebens: welche mit Nothwendigkeit die Dinge noch an
+sich nehmen, sie auszehren, sie magerer machen müssen. Dies ist zum
+Beispiel der Fall des echten Christen, Pascal's zum Beispiel: ein
+Christ, der zugleich Künstler wäre, kommt nicht vor... Man sei nicht
+kindlich und wende mir Raffael ein oder irgend welche homöopathische
+Christen des neunzehnten Jahrhunderts: Raffael sagte Ja, Raffael
+machte Ja, folglich war Raffael kein Christ...
+
+
+10.
+
+Was bedeutet der von mir in die Ästhetik eingeführte Gegensatz-Begriff
+apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begriffen? -
+Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die
+Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind
+Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das
+gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine
+Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des
+Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik
+und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die
+Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (-
+ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in
+je de Rolle eintreten). Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich,
+irgend eine Suggestion nicht zu verstehn, er übersieht kein Zeichen
+des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden
+Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt.
+Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich
+beständig. - Musik, wie wir sie heute verstehn, ist gleichfalls eine
+Gesammt-Erregung und -Entladung der Affekte, aber dennoch nur das
+Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts,
+ein blosses residuum des dionysischen Histrionismus. Man hat, zur
+Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem
+den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens: denn in einem
+gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu unsern Muskeln): so dass
+der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt
+und darstellt. Trotzdem ist Das der eigentlich dionysische
+Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam
+erreichte Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten
+Vermögen.
+
+
+11.
+
+Der Schauspieler, der Mime, der Tänzer, der Musiker, der Lyriker sind
+in ihren Instinkten grundverwandt und an sich Eins, aber allmählich
+spezialisirt und von einander abgetrennt - bis selbst zum Widerspruch.
+Der Lyriker blieb am längsten mit dem Musiker geeint; der Schauspieler
+mit dem Tänzer. - Der Architekt stellt weder einen dionysischen, noch
+einen apollinischen Zustand dar: hier ist es der grosse Willensakt,
+der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des grossen Willens, der zur
+Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten
+inspirirt; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im
+Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur
+Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in
+Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend.
+Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck,
+was grossen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat;
+die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen
+Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es
+Widerspruch gegen sie giebt; die in sich ruht, fatalistisch, ein
+Gesetz unter Gesetzen: Das redet als grosser Stil von sich. -
+
+
+12.
+
+Ich las das Leben Thomas Carlyle's, diese farce wider Wissen und
+Willen, diese heroisch-moralische Interpretation dyspeptischer
+Zustände. - Carlyle, ein Mann der starken Worte und Attitüden, ein
+Rhetor aus Noth, den beständig das Verlangen nach einem starken
+Glauben agaçirt und das Gefühl der Unfähigkeit dazu (- darin ein
+typischer Romantiker!). Das Verlangen nach einem starken Glauben ist
+nicht der Beweis eines starken Glaubens, vielmehr das Gegentheil. Hat
+man ihn, so darf man sich den schönen Luxus der Skepsis gestatten: man
+ist sicher genug, fest genug, gebunden genug dazu. Carlyle betäubt
+Etwas in sich durch das fortissimo seiner Verehrung für Menschen
+starken Glaubens und durch seine Wuth gegen die weniger Einfältigen:
+er bedarf des Lärms. Eine beständige leidenschaftliche Unredlichkeit
+gegen sich - das ist sein proprium, damit ist und bleibt er
+interessant. - Freilich, in England wird er gerade wegen seiner
+Redlichkeit bewundert... Nun, das ist englisch; und in Anbetracht,
+dass die Engländer das Volk des vollkommnen cant sind, sogar billig,
+und nicht nur, begreiflich. Im Grunde ist Carlyle ein englischer
+Atheist, der seine Ehre darin sucht, es nicht zu sein.
+
+
+13.
+
+Emerson. - Viel aufgeklärter, schweifender, vielfacher, raffinirter
+als Carlyle, vor Allem glücklicher... Ein Solcher, der sich instinktiv
+bloss von Ambrosia nährt, der das Unverdauliche in den Dingen
+zurücklässt. Gegen Carlyle gehalten ein Mann des Geschmacks. -
+Carlyle, der ihn sehr liebte, sagte trotzdem von ihm: "er giebt uns
+nicht genug zu beissen": was mit Recht gesagt sein mag, aber nicht
+zu Ungunsten Emerson's. - Emerson hat jene gütige und geistreiche
+Heiterkeit, welche allen Ernst entmuthigt; er weiss es schlechterdings
+nicht, wie alt er schon ist und wie jung er noch sein wird, - er
+könnte von sich mit einem Wort Lope de Vega's sagen: "yo me sucedo
+a mi mismo". Sein Geist findet immer Gründe, zufrieden und selbst
+dankbar zu sein; und bisweilen streift er die heitere Transscendenz
+jenes Biedermanns, der von einem verliebten Stelldichein tamquam re
+bene gesta zurückkam. "Ut desint vires, sprach er dankbar, tamen est
+laudanda voluptas." -
+
+
+14.
+
+Anti-Darwin. - Was den berühmten Kampf um's Leben betrifft, so scheint
+er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als
+Ausnahme; der Gesammt-Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die
+Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde
+Verschwendung, - wo gekämpft wird, kämpft man um Macht... Man soll
+nicht Malthus mit der Natur verwechseln. - Gesetzt aber, es giebt
+diesen Kampf - und in der That, er kommt vor -, so läuft er leider
+umgekehrt aus als die Schule Darwin's wünscht, als man vielleicht
+mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken, der
+Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen
+nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über
+die Starken Herr, - das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch
+klüger... Darwin hat den Geist vergessen (- das ist englisch!), die
+Schwachen haben mehr Geist... Man muss Geist nöthig haben, um Geist zu
+bekommen, - man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nöthig hat. Wer
+die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (- "lass fahren dahin!
+denkt man heute in Deutschland - das Reich muss uns doch bleiben"...).
+Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die
+List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was
+mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten
+Tugend).
+
+
+15.
+
+Psychologen-Casuistik. - Das ist ein Menschenkenner: wozu studirt
+er eigentlich die Menschen? Er will kleine Vortheile über sie
+erschnappen, oder auch grosse, - er ist ein Politikus!... Jener da
+ist auch ein Menschenkenner: und ihr sagt, der wolle Nichts damit
+für sich, das sei ein grosser "Unpersönlicher". Seht schärfer zu!
+Vielleicht will er sogar noch einen schlimmeren Vortheil: sich den
+Menschen überlegen fühlen, auf sie herabsehn dürfen, sich nicht
+mehr mit ihnen verwechseln. Dieser "Unpersönliche" ist ein
+Menschen-Verächter: und jener Erstere ist die humanere Species, was
+auch der Augenschein sagen mag. Er stellt sich wenigstens gleich, er
+stellt sich hinein...
+
+
+16.
+
+Der psychologische Takt der Deutschen scheint mir durch eine ganze
+Reihe von Fällen in Frage gestellt, deren Verzeichniss vorzulegen mich
+meine Bescheidenheit hindert. In Einem Falle wird es mir nicht an
+einem grossen Anlasse fehlen, meine These zu begründen: ich trage
+es den Deutschen nach, sich über Kant und seine "Philosophie der
+Hinterthüren", wie ich sie nenne, vergriffen zu haben, - das war nicht
+der Typus der intellektuellen Rechtschaffenheit. - Das Andre, was ich
+nicht hören mag, ist ein berüchtigtes "und": die Deutschen sagen,
+"Goethe und Schiller", - ich fürchte, sie sagen "Schiller und
+Goethe"... Kennt man noch nicht diesen Schiller? - Es giebt noch
+schlimmere "und"; ich habe mit meinen eigenen Ohren, allerdings nur
+unter Universitäts-Professoren, gehört "Schopenhauer und Hartmann"
+
+
+17.
+
+Die geistigsten Menschen, vorausgesetzt, dass sie die muthigsten sind,
+erleben auch bei weitem die schmerzhaftesten Tragödien: aber eben
+deshalb ehren sie das Leben, weil es ihnen seine grösste Gegnerschaft
+entgegenstellt.
+
+
+18.
+
+Zum "intellektuellen Gewissen". - Nichts scheint mir heute seltner als
+die echte Heuchelei. Mein Verdacht ist gross, dass diesem Gewächs die
+sanfte Luft unsrer Cultur nicht zuträglich ist. Die Heuchelei gehört
+in die Zeitalter des starken Glaubens: wo man selbst nicht bei der
+Nöthigung, einen andern Glauben zur Schau zu tragen, von dem Glauben
+losliess, den man hatte. Heute lässt man ihn los; oder, was noch
+gewöhnlicher, man legt sich noch einen zweiten Glauben zu, - ehrlich
+bleibt man in jedem Falle. Ohne Zweifel ist heute eine sehr viel
+grössere Anzahl von Überzeugungen möglich als ehemals: möglich, das
+heisst erlaubt, das heisst unschädlich. Daraus entsteht die Toleranz
+gegen sich selbst. - Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere
+Überzeugungen: diese selbst leben verträglich beisammen, - sie hüten
+sich, wie alle Welt heute, sich zu compromittiren. Womit compromittirt
+man sich heute? Wenn man Consequenz hat. Wenn man in gerader Linie
+geht. Wenn man weniger als fünfdeutig ist. Wenn man echt ist... Meine
+Furcht ist gross, dass der moderne Mensch für einige Laster einfach
+zu bequem ist: so dass diese geradezu aussterben. Alles Böse, das vom
+starken Willen bedingt ist - und vielleicht giebt es nichts Böses ohne
+Willensstärke - entartet, in unsrer lauen Luft, zur Tugend... Die
+wenigen Heuchler, die ich kennen lernte, machten die Heuchelei nach:
+sie waren, wie heutzutage fast jeder zehnte Mensch, Schauspieler. -
+
+
+19.
+
+Schön und hässlich. - Nichts ist bedingter, sagen wir beschränkter,
+als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst von der Lust des
+Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und Boden
+unter den Füssen. Das "Schöne an sich" ist bloss ein Wort, nicht
+einmal ein Begriff. Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der
+Vollkommenheit; in. ausgesuchten Fällen betet er sich darin an. Eine
+Gattung kann gar nicht anders als dergestalt zu sich allein ja sagen.
+Ihr unterster Instinkt, der der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung,
+strahlt noch in solchen Sublimitäten aus. Der Mensch glaubt die Welt
+selbst mit Schönheit überhäuft, - er vergisst sich als deren Ursache.
+Er allein hat sie mit Schönheit beschenkt, ach! nur mit einer sehr
+menschlich-allzumenschlichen Schönheit.... Im Grunde spiegelt sich
+der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild
+zurückwirft: das Urtheil "schön" ist seine Gattungs-Eitelkeit....
+Dem Skeptiker nämlich darf ein kleiner Argwohn die Frage in's Ohr
+flüstern: ist wirklich damit die Welt verschönt, dass gerade der
+Mensch sie für schön nimmt? Er hat sie vermenschlicht: das ist Alles.
+Aber Nichts, gar Nichts verbürgt uns, dass gerade der Mensch das
+Modell des Schönen abgäbe. Wer weiss, wie er sich in den Augen eines
+höheren Geschmacksrichters ausnimmt? Vielleicht gewagt? vielleicht
+selbst erheiternd? vielleicht ein wenig arbiträr?... "Oh Dionysos,
+Göttlicher, warum ziehst du mich an den Ohren?" fragte Ariadne
+einmal bei einem jener berühmten Zwiegespräche auf Naxos ihren
+philosophischen Liebhaber. "Ich finde eine Art Humor in deinen Ohren,
+Ariadne: warum sind sie nicht noch länger?"
+
+
+20.
+
+Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön: auf dieser Naivetät ruht
+alle Ästhetik, sie ist deren erste Wahrheit. Fügen wir sofort noch
+deren zweite hinzu: Nichts ist hässlich als der entartende Mensch,
+- damit ist das Reich des ästhetischen Urtheils umgrenzt. -
+Physiologisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche
+den Menschen. Es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht; er büsst
+thatsächlich dabei Kraft ein. Man kann die Wirkung des Hässlichen mit
+dem Dynamometer messen. Wo der Mensch überhaupt niedergedrückt wird,
+da wittert er die Nähe von etwas "Hässlichem". Sein Gefühl der Macht,
+sein Wille zur Macht, sein Muth, sein Stolz - das fällt mit dem
+Hässlichen, das steigt mit dem Schönen... Im einen wie im andern Falle
+machen wir einen Schluss: die Prämissen dazu sind in ungeheurer Fülle
+im Instinkte aufgehäuft. Das Hässliche wird verstanden als ein Wink
+und Symptom der Degenerescenz: was im Entferntesten an Degenerescenz
+erinnert, das wirkt in uns das Urtheil "hässlich". Jedes Anzeichen
+von Erschöpfung, von Schwere, von Alter, von Müdigkeit, jede Art
+Unfreiheit, als Krampf, als Lähmung, vor Allem der Geruch, die Farbe,
+die Form der Auflösung, der Verwesung, und sei es auch in der letzten
+Verdünnung zum Symbol - das Alles ruft die gleiche Reaktion hervor,
+das Werthurtheil "hässlich". Ein Hass springt da hervor: wen hasst da
+der Mensch? Aber es ist kein Zweifel: den Niedergang seines Typus. Er
+hasst da aus dem tiefsten Instinkte der Gattung heraus; in diesem Hass
+ist Schauder, Vorsicht, Tiefe, Fernblick, - es ist der tiefste Hass,
+den es giebt. Um seinetwillen ist die Kunst tief...
+
+
+21.
+
+Schopenhauer. Schopenhauer, der letzte Deutsche, der in Betracht kommt
+(der ein europäisches Ereigniss gleich Goethe, gleich Hegel, gleich
+Heinrich Heine ist, und nicht bloss ein lokales, ein "nationales"),
+ist für einen Psychologen ein Fall ersten Ranges: nämlich als bösartig
+genialer Versuch, zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung
+des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die grossen Selbstbejahungen
+des "Willens zum Leben", die Exuberanz-Formen des Lebens in's Feld zu
+führen. Er hat, der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das Genie,
+die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur
+Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der "Verneinung" oder
+der Verneinungs-Bedürftigkeit des "Willens" interpretirt - die grösste
+psychologische Falschmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet,
+in der Geschichte giebt. Genauer zugesehn ist er darin bloss der Erbe
+der christlichen Interpretation: nur dass er auch das vom Christenthum
+Abgelehnte, die grossen Cultur-Thatsachen der Menschheit noch in einem
+christlichen, das heisst nihilistischen Sinne gut zu heissen wusste
+(- nämlich als Wege zur "Erlösung", als Vorformen der "Erlösung", als
+Stimulantia des Bedürfnisses nach "Erlösung"... )
+
+
+22.
+
+Ich nehme einen einzelnen Fall. Schopenhauer spricht von der Schönheit
+mit einer schwermüthigen Gluth, - warum letzten Grundes? Weil er in
+ihr eine Brücke sieht, auf der man weiter gelangt, oder Durst bekommt,
+weiter zu gelangen... Sie ist ihm die Erlösung vom "Willen" auf
+Augenblicke - sie lockt zur Erlösung für immer... Insbesondere
+preist er sie als Erlöserin vom "Brennpunkte des Willens", von der
+Geschlechtlichkeit, - in der Schönheit sieht er den Zeugetrieb
+verneint... Wunderlicher Heiliger! Irgend Jemand widerspricht dir, ich
+fürchte, es ist die Natur. Wozu giebt es überhaupt Schönheit in Ton,
+Farbe, Duft, rhythmischer Bewegung in der Natur? Was treibt die
+Schönheit heraus?- Glücklicherweise widerspricht ihm auch ein
+Philosoph. Keine geringere Autorität als die des göttlichen Plato (-
+so nennt ihn Schopenhauer selbst) hält einen andern Satz aufrecht:
+dass alle Schönheit zur Zeugung reize, - dass dies gerade das proprium
+ihrer Wirkung sei, vom Sinnlichsten bis hinauf in's Geistigste...
+
+
+23.
+
+Plato geht weiter. Er sagt mit einer Unschuld, zu der man Grieche sein
+muss und nicht "Christ", dass es gar keine platonische Philosophie
+geben würde, wenn es nicht so schöne Jünglinge in Athen gäbe: deren
+Anblick sei es erst, was die Seele des Philosophen in einen erotischen
+Taumel versetze und ihr keine Ruhe lasse, bis sie den Samen aller
+hohen Dinge in ein so schönes Erdreich hinabgesenkt habe. Auch ein
+wunderlicher Heiliger! - man traut seinen Ohren nicht, gesetzt
+selbst, dass man Plato traut. Zum Mindesten erräth man, dass in Athen
+anders philosophirt wurde, vor Allem öffentlich. Nichts ist weniger
+griechisch als die Begriffs-Spinneweberei eines Einsiedlers, amor
+intellectualis dei nach Art des Spinoza. Philosophie nach Art des
+Plato wäre eher als ein erotischer Wettbewerb zu definiren, als eine
+Fortbildung und Verinnerlichung der alten agonalen Gymnastik und
+deren Voraussetzungen... Was wuchs zuletzt aus dieser philosophischen
+Erotik Plato's heraus? Eine neue Kunstform des griechischen Agon,
+die Dialektik. - Ich erinnere noch, gegen Schopenhauer und zu Ehren
+Plato's, daran, dass auch die ganze höhere Cultur und Litteratur des
+klassischen Frankreichs auf dem Boden des geschlechtlichen Interesses
+aufgewachsen ist. Man darf überall bei ihr die Galanterie, die Sinne,
+den Geschlechts-Wettbewerb, das "Weib" suchen, - man wird nie umsonst
+suchen...
+
+
+24.
+
+L'art pour l'art. - Der Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer
+der Kampf gegen die moralisirende Tendenz in der Kunst, gegen ihre
+Unterordnung unter die Moral. L'art pour l'art heisst: "der Teufel
+hole die Moral!" - Aber selbst noch diese Feindschaft verräth die
+Übergewalt des Vorurtheils. Wenn man den Zweck des Moralpredigens und
+Menschen-Verbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus
+noch lange nicht, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos,
+kurz l'art pour l'art - ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst -
+ist. "Lieber gar keinen Zweck als einen moralischen Zweck!" - so redet
+die blosse Leidenschaft. Ein Psycholog fragt dagegen: was thut alle
+Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus?
+zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen stärkt oder schwächt sie gewisse
+Werthschätzungen... Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei
+dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre? Oder aber:
+ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler kann...? Geht
+dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den
+Sinn der Kunst, das Leben? auf eine Wünschbarkeit von Leben?- Die
+Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als
+zwecklos, als ziellos, als l'art pour l'art verstehn? - Eine Frage
+bleibt zurück: die Kunst bringt auch vieles Hässliche, Harte,
+Fragwürdige des Lebens zur Erscheinung, - scheint sie nicht damit vom
+Leben zu entleiden? - Und in der That, es gab Philosophen, die ihr
+diesen Sinn liehn: "loskommen vom Willen" lehrte Schopenhauer als
+Gesammt-Absicht der Kunst, "zur Resignation stimmen" verehrte er als
+die grosse Nützlichkeit der Tragödie. - Aber dies - ich gab es schon
+zu verstehn - ist Pessimisten-Optik und "böser Blick" -: man muss an
+die Künstler selbst appelliren. Was theilt der tragische Künstler
+von sich mit? Ist es nicht gerade der Zustand ohne Furcht vor dem
+Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt? - Dieser Zustand selbst
+ist eine hohe Wünschbarkeit; wer ihn kennt, ehrt ihn mit den höchsten
+Ehren. Er theilt ihn mit, er muss ihn mittheilen, vorausgesetzt, dass
+er ein Künstler ist, ein Genie der Mittheilung. Die Tapferkeit und
+Freiheit des Gefühls vor einem mächtigen Feinde, vor einem erhabenen
+Ungemach, vor einem Problem, das Grauen erweckt - dieser siegreiche
+Zustand ist es, den der tragische Künstler auswählt, den er
+verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das Kriegerische in unserer
+Seele seine Saturnalien; wer Leid gewohnt ist, wer Leid aufsucht, der
+heroische Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein, - ihm allein
+kredenzt der Tragiker den Trunk dieser süssesten Grausamkeit. -
+
+
+25.
+
+Mit Menschen fürlieb nehmen, mit seinem Herzen offen Haus halten, das
+ist liberal, das ist aber bloss liberal. Man erkennt die Herzen, die
+der vornehmen Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten
+Fenstern und geschlossenen Läden: ihre besten Räume halten sie leer.
+Warum doch? - Weil sie Gäste erwarten, mit denen man nicht "fürlieb
+nimmt"
+
+
+26.
+
+Wir schätzen uns nicht genug mehr, wenn wir uns mittheilen. Unsre
+eigentlichen Erlebnisse sind ganz und gar nicht geschwätzig. Sie
+könnten sich selbst nicht mittheilen, wenn sie wollten. Das macht, es
+fehlt ihnen das Wort. Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch
+schon hinaus. In allem Reden liegt ein Gran Verachtung. Die Sprache,
+scheint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames
+erfunden. Mit der Sprache vulgarisirt sich bereits der Sprechende. -
+Aus einer Moral für Taubstumme und andere Philosophen.
+
+
+27.
+
+"Dies Bildniss ist bezaubernd schön!"... Das Litteratur-Weib,
+unbefriedigt, aufgeregt, öde in Herz und Eingeweide, mit schmerzhafter
+Neugierde jederzeit auf den Imperativ hinhorchend, der aus den
+Tiefen seiner Organisation "aut liberi aut libri" flüstert: das
+Litteratur-Weib, gebildet genug, die Stimme der Natur zu verstehn,
+selbst wenn sie Latein redet und andrerseits eitel und Gans genug, um
+im Geheimen auch noch französisch mit sich zu sprechen "je me verrai,
+je me lirai, je m'extasierai et je dirai: Possible, que j'aie eu tant
+d'esprit?"
+
+
+28.
+
+Die "Unpersönlichen" kommen zu Wort. - "Nichts fällt uns leichter, als
+weise, geduldig, überlegen zu sein. Wir triefen vom Öl der Nachsicht
+und des Mitgefühls, wir sind auf eine absurde Weise gerecht, wir
+verzeihen Alles. Eben darum sollten wir uns etwas strenger halten;
+eben darum sollten wir uns, von Zeit zu Zeit, einen kleinen Affekt,
+ein kleines Laster von Affect züchten. Es mag uns sauer angehn;
+und unter uns lachen wir vielleicht über den Aspekt, den wir damit
+geben. Aber was hilft es! Wir haben keine andre Art mehr übrig von
+Selbstüberwindung: dies ist unsre Asketik, unser Büsserthum"...
+Persönlich werden - die Tugend des "Unpersönlichen"...
+
+
+29.
+
+Aus einer Doctor-Promotion. - "Was ist die Aufgabe alles höheren
+Schulwesens?" - Aus dem Menschen eine Maschine zu machen. - "Was ist
+das Mittel dazu?" - Er muss lernen, sich langweilen. - "Wie erreicht
+man das?" - Durch den Begriff der Pflicht. - "Wer ist sein Vorbild
+dafür?" - Der Philolog: der lehrt ochsen. - "Wer ist der vollkommene
+Mensch?" - Der Staats-Beamte. - "Welche Philosophie giebt die höchste
+Formel für den Staats-Beamten?" - Die Kant's: der Staats-Beamte
+als Ding an sich zum Richter gesetzt über den Staats-Beamten als
+Erscheinung. -
+
+
+30.
+
+Das Recht auf Dummheit. - Der ermüdete und langsam athmende Arbeiter,
+der gutmüthig blickt, der die Dinge gehen lässt, wie sie gehn: diese
+typische Figur, der man jetzt, im Zeitalter der Arbeit (und des
+"Reichs"! -) in allen Klassen der Gesellschaft begegnet, nimmt heute
+gerade die Kunst für sich in Anspruch, eingerechnet das Buch, vor
+Allem das Journal, - um wie viel mehr die schöne Natur, Italien... Der
+Mensch des Abends, mit den "entschlafenen wilden Trieben", von denen
+Faust redet, bedarf der Sommerfrische, des Seebads, der Gletscher,
+Bayreuth's... In solchen Zeitaltern hat die Kunst ein Recht auf reine
+Thorheit, - als eine Art Ferien für Geist, Witz und Gemüth. Das
+verstand Wagner. Die reine Thorheit stellt wieder her...
+
+
+31.
+
+Noch ein Problem der Diät. - Die Mittel, mit denen Julius Cäsar sich
+gegen Kränklichkeiten und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche,
+einfachste Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien,
+beständige Strapazen - das sind, in's Grosse gerechnet, die
+Erhaltungs- und Schutz-Maassregeln überhaupt gegen die extreme
+Verletzlichkeit jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden
+Maschine, welche Genie heisst. -
+
+
+32.
+
+Der Immoralist redet. - Einem Philosophen geht Nichts mehr wider
+den Geschmack als der Mensch, sofern er wünscht... Sieht er den
+Menschen nur in seinem Thun, sieht er dieses tapferste, listigste,
+ausdauerndste Thier verirrt selbst in labyrinthische Nothlagen, wie
+bewunderungswürdig erscheint ihm der Mensch! Er spricht ihm noch
+zu... Aber der Philosoph verachtet den wünschenden Menschen, auch den
+"wünschbaren" Menschen - und überhaupt alle Wünschbarkeiten, alle
+Ideale des Menschen. Wenn ein Philosoph Nihilist sein könnte, so würde
+er es sein, weil er das Nichts hinter allen Idealen des Menschen
+findet. Oder noch nicht einmal das Nichts, - sondern nur das
+Nichtswürdige, das Absurde, das Kranke, das Feige, das Müde, alle Art
+Hefen aus dem ausgetrunkenen Becher seines Lebens... Der Mensch, der
+als Realität so verehrungswürdig ist, wie kommt es, dass er keine
+Achtung verdient, sofern er wünscht? Muss er es büssen, so tüchtig als
+Realität zu sein? Muss er sein Thun, die Kopf- und Willensanspannung
+in allem Thun, mit einem Gliederstrecken im Imaginären und Absurden
+ausgleichen? - Die Geschichte seiner Wünschbarkeiten war bisher die
+partie honteuse des Menschen: man soll sich hüten, zu lange in ihr zu
+lesen. Was den Menschen rechtfertigt, ist seine Realität, - sie wird
+ihn ewig rechtfertigen. Um wie viel mehr werth ist der wirkliche
+Mensch, verglichen mit irgend einem bloss gewünschten, erträumten,
+erstunkenen und erlogenen Menschen? mit irgend einem idealen
+Menschen?... Und nur der ideale Mensch geht dem Philosophen wider den
+Geschmack.
+
+
+33.
+
+Naturwerth des Egoismus. - Die Selbstsucht ist so viel werth, als Der
+physiologisch werth ist, der sie hat: sie kann sehr viel werth sein,
+sie kann nichtswürdig und verächtlich sein. Jeder Einzelne darf darauf
+hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende
+Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man
+auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht werth ist. Stellt
+er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der That sein Werth
+ausserordentlich, - und um des Gesammt-Lebens willen, das mit ihm
+einen Schritt weiter thut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung
+seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der Einzelne, das
+"Individuum", wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein
+Irrthum: er ist nichts für sich, kein Atom, kein "Ring der Kette",
+nichts bloss Vererbtes von Ehedem, - er ist die ganze Eine Linie
+Mensch bis zu ihm hin selber noch... Stellt er die absteigende
+Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (-
+Krankheiten sind, in's Grosse gerechnet, bereits Folgeerscheinungen
+des Verfalls, nicht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Werth zu, und
+die erste Billigkeit will, dass er den Wohlgerathenen so wenig als
+möglich wegnimmt. Er ist bloss noch deren Parasit...
+
+
+34.
+
+Christ und Anarchist. - Wenn der Anarchist, als Mundstück
+niedergehender Schichten der Gesellschaft, mit einer schönen
+Entrüstung "Recht", "Gerechtigkeit", "gleiche Rechte" verlangt, so
+steht er damit nur unter dem Drucke seiner Unkultur, welche nicht zu
+begreifen weiss, warum er eigentlich leidet, - woran er arm ist, an
+Leben... Ein Ursachen-Trieb ist in ihm mächtig: Jemand muss schuld
+daran sein, dass er sich schlecht befindet... Auch thut ihm die
+"schöne Entrüstung" selber schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle
+armen Teufel, zu schimpfen, - es giebt einen kleinen Rausch von Macht.
+Schon die Klage, das Sich-Beklagen, kann dem Leben einen Reiz geben,
+um dessentwillen man es aushält: eine feinere Dosis Rache ist in jeder
+Klage, man wirft sein Schlechtbefinden, unter Umständen selbst seine
+Schlechtigkeit Denen, die anders sind, wie ein Unrecht, wie ein
+unerlaubtes Vorrecht vor. "Bin ich eine canaille, so solltest du
+es auch sein": auf diese Logik hin macht man Revolution. - Das
+Sich-Beklagen taugt in keinem Falle etwas: es stammt aus der Schwäche.
+Ob man sein Schlecht-Befinden Andern oder sich selber zu misst -.
+Ersteres thut der Socialist, Letzteres zum Beispiel der Christ -,
+macht keinen eigentlichen Unterschied. Das Gemeinsame, sagen wir auch
+das Unwürdige daran ist, dass jemand schuld daran sein soll, dass man
+leidet - kurz, dass der Leidende sich gegen sein Leiden den Honig
+der Rache verordnet. Die Objekte dieses Rach-Bedürfnisses als eines
+Lust-Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursachen: der Leidende findet
+überall Ursachen, seine kleine Rache zu kühlen, - ist er Christ,
+nochmals gesagt, so findet er sie in sich... Der Christ und der
+Anarchist - Beide sind décadents. - Aber auch wenn der Christ die
+"Welt" verurtheilt, verleumdet, beschmutzt, so thut er es aus
+dem gleichen Instinkte, aus dem der socialistische Arbeiter die
+Gesellschaft verurtheilt, verleumdet, beschmutzt: das "jüngste
+Gericht" selbst ist noch der süsse Trost der Rache - die Revolution,
+wie sie auch der socialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner
+gedacht... Das "Jenseits" selbst - wozu ein Jenseits, wenn es nicht
+ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen?...
+
+
+35.
+
+Kritik der Décadence-Moral. Eine "altruistische" Moral, eine Moral,
+bei der die Selbstsucht verkümmert -, bleibt unter allen Umständen ein
+schlechtes Anzeichen. Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich
+von Völkern. Es fehlt am Besten, wenn es an der Selbstsucht zu fehlen
+beginnt. Instinktiv das Sich-Schädliche wählen, Gelockt-werden durch
+"uninteressirte" Motive giebt beinahe die Formel ab für décadence.
+"Nicht seinen Nutzen suchen" - das ist bloss das moralische
+Feigenblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische
+Thatsächlichkeit: "ich weiss meinen Nutzen nicht mehr zu finden"
+Disgregation der Instinkte! - Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch
+altruistisch wird. - Statt naiv zu sagen, "ich bin nichts mehr werth",
+sagt die Moral Lüge im Munde des décadent: "Nichts ist etwas werth, -
+das Leben ist nichts werth"... Ein solches Urtheil bleibt zuletzt eine
+grosse Gefahr, es wirkt ansteckend, - auf dem ganzen morbiden Boden
+der Gesellschaft wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation
+empor, bald als Religion (Christenthum), bald als Philosophie
+(Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche aus Fäulniss
+gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf
+Jahrtausende hin das Leben...
+
+
+36.
+
+Moral für Ärzte. - Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In
+einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das
+Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem
+der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte
+bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte
+wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, - nicht
+Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten...
+Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle,
+wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das
+rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens
+verlangt - zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht,
+geboren zu werden, für das Recht, zu leben... Auf eine stolze Art
+sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben.
+Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit
+Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so
+dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der noch da
+ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen
+des Erreichten und Gewollten, eine Summirung des Lebens - Alles im
+Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das
+Christenthum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem
+Christenthume nie vergessen, dass es die Schwäche des Sterbenden
+zu Gewissens-Nothzucht, dass es die Art des Todes selbst zu
+Werth-Urtheilen über Mensch und Vergangenheit gemissbraucht hat! -
+Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurtheils zum Trotz, vor Allem
+die richtige, das heisst physiologische Würdigung des sogenannten
+natürlichen Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein
+"unnatürlicher", ein Selbstmord ist. Man geht nie durch jemand Anderes
+zu Grunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den
+verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur unrechten
+Zeit, ein Feiglings Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben -, den Tod
+anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall... Endlich
+ein Rath für die Herrn Pessimisten und andere décadents. Wir haben es
+nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können
+diesen Fehler - denn bisweilen ist es ein Fehler - wieder gut machen.
+Wenn man sich abschafft, thut man die achtungswürdigste Sache, die es
+giebt: man verdient beinahe damit, zu leben... Die Gesellschaft, was
+sage ich! Das Leben selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend
+welches "Leben" in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend -, man hat
+die Andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem
+Einwand befreit... Der Pessimismus, pur, vert, beweist sich erst durch
+die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessimisten: man muss einen Schritt
+weiter gehn in seiner Logik, nicht bloss mit "Wille und Vorstellung",
+wie Schopenhauer es that, das Leben verneinen -, man muss
+Schopenhauern zuerst verneinen... Der Pessimismus, anbei gesagt, so
+ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer
+Zeit, eines Geschlechts im Ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt
+ihm, wie man der Cholera verfällt: man muss morbid genug dazu schon
+angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen décadent
+mehr; ich erinnere an das Ergebniss der Statistik, dass die Jahre, in
+denen die Cholera wüthet, sich in der Gesammt-Ziffer der Sterbefälle
+nicht von andern Jahrgängen unterscheiden.
+
+
+37.
+
+Ob wir moralischer geworden sind. - Gegen meinen Begriff "jenseits von
+Gut und Böse" hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Ferocität der
+moralischen Verdummung, die bekanntlich in Deutschland als die Moral
+selber gilt -, in's Zeug geworfen: ich hätte artige Geschichten davon
+zu erzählen. Vor Allem gab man mir die "unleugbare Überlegenheit"
+unsrer Zeit im sittlichen Urtheil zu überdenken, unsern wirklich hier
+gemachten Fortschritt: ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit uns,
+durchaus nicht als ein "höherer Mensch", als eine Art Übermensch, wie
+ich es thue, aufzustellen... Ein Schweizer Redakteur, vom "Bund",
+gieng so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Muth zu solchem
+Wagniss auszudrücken, den Sinn meines Werks dahin zu "verstehn",
+dass ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle
+beantragte. Sehr verbunden! - Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage
+aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden sind. Dass alle Welt
+das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen... Wir modernen Menschen,
+sehr zart, sehr verletzlich und hundert Rücksichten gebend und
+nehmend, bilden uns in der That ein, diese zärtliche Menschlichkeit,
+die wir darstellen, diese erreichte Einmüthigkeit in der Schonung, in
+der Hülfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen sei ein positiver
+Fortschritt, damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance
+hinaus. Aber so denkt jede Zeit, so muss sie denken. Gewiss ist, dass
+wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht
+einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus,
+nicht zu reden von unsern Muskeln. Mit diesem Unvermögen ist aber
+kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine andre, eine spätere
+Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere, verletzlichere, aus der
+sich nothwendig eine rücksichtenreiche Moral erzeugt. Denken wir unsre
+Zartheit und Spätheit, unsre physiologische Alterung weg, so verlöre
+auch unsre Moral der "Vermenschlichung" sofort ihren Werth - an sich
+hat keine Moral Werth -: sie würde uns selbst Geringschätzung machen.
+Zweifeln wir andrerseits nicht daran, dass wir Modernen mit unsrer
+dick wattirten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stossen
+Will, den Zeitgenossen Cesare Borgia's eine Komödie zum Todtlachen
+abgeben würden. In der That, wir sind über die Maassen unfreiwillig
+spasshaft, mit unsren modernen "Tugenden"... Die Abnahme der
+feindseligen und misstrauenweckenden Instinkte - und das wäre ja unser
+"Fortschritt" - stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme
+der Vitalität dar: es kostet hundert Mal mehr Mühe, mehr Vorsicht,
+ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich
+gegenseitig, da ist Jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker und
+Jeder Krankenwärter. Das heisst dann "Tugend" -: unter Menschen,
+die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer,
+überströmender, hätte man's anders genannt, "Feigheit" vielleicht,
+"Erbärmlichkeit", "Altweiber-Moral"... Unsre Milderung der Sitten -
+das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neuerung - ist eine
+Folge des Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann
+umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein: dann nämlich
+darf auch Viel gewagt, Viel herausgefordert, Viel auch vergeudet
+werden. Was Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es Gift...
+Indifferent zu sein - auch das ist eine Form der Stärke - dazu sind
+wir gleichfalls zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der
+ich als der Erste gewarnt habe, Das, was man l'impressionisme
+morale nennen könnte, ist ein Ausdruck mehr der physiologischen
+Überreizbarkeit, die Allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung,
+die mit der Mitleids-Moral Schopenhauer's versucht hat, sich
+wissenschaftlich vorzuführen - ein sehr unglücklicher Versuch! - ist
+die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche
+tief verwandt mit der christlichen Moral. Die starken Zeiten, die
+vornehmen Culturen sehen im Mitleiden, in der "Nächstenliebe", im
+Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches. - Die Zeiten
+sind zu messen nach ihren positiven Kräften - und dabei ergiebt sich
+jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance
+als die letzte grosse Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer
+ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden
+der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der
+Wissenschaftlichkeit - sammelnd, ökonomisch, machinal - als eine
+schwache Zeit... Unsre Tugenden sind bedingt, sind herausgefordert
+durch unsre Schwäche... Die "Gleichheit", eine gewisse thatsächliche
+Anähnlichung, die sich in der Theorie von "gleichen Rechten" nur zum
+Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang: die Kluft zwischen
+Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille,
+selbst zu sein, sich abzuheben, Das, was ich Pathos der Distanz nenne,
+ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite
+zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, - die Extreme selbst
+verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit... Alle unsre politischen
+Theorien und Staats-Verfassungen, das "deutsche Reich" durchaus nicht
+ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs;
+die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner
+Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze
+Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die
+Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen
+unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen
+Werthurteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller
+organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter-
+und überordnenden Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute
+zum Ideal... Unsre Socialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert
+Spencer ist ein décadent, - er sieht im Sieg des Altruismus etwas
+Wünschenswerthes!...
+
+
+38.
+
+Mein Begriff von Freiheit. - Der Werth einer Sache liegt mitunter
+nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man
+für sie bezahlt, - was sie uns kostet. Ich gebe ein Beispiel. Die
+liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald
+sie erreicht sind: es giebt später keine ärgeren und gründlicheren
+Schädiger der Freiheit, als liberale Institutionen. Man weiss ja, was
+sie zu Wege bringen: sie unterminiren den Willen zur Macht, sie sind
+die zur Moral erhobene Nivellirung von Berg und Tal, sie machen
+klein, feige und genüsslich, - mit ihnen triumphirt jedesmal das
+Heerdenthier. Liberalismus: auf deutsch Heerden-Verthierung...
+Dieselben Institutionen bringen, so lange sie noch erkämpft werden,
+ganz andere Wirkungen hervor; sie fördern dann in der That die
+Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehn, ist es der Krieg,
+der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg um liberale Institutionen,
+der als Krieg die illiberalen Instinkte dauern lässt. Und der Krieg
+erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur
+Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt,
+festhält. Dass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das
+Leben gleichgültiger wird. Dass man bereit ist, seiner Sache Menschen
+zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, dass
+die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft
+haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des "Glücks". Der
+freigewordne Mensch, um wie viel mehr der freigewordne Geist, tritt
+mit Füssen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer,
+Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der
+freie Mensch ist Krieger. - Wonach misst sich die Freiheit, bei
+Einzelnen, wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden
+muss, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten
+Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der
+höchste Widerstand überwunden wird: fünf Schritt weit von der
+Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist
+psychologisch wahr, wenn man hier unter den "Tyrannen" unerbittliche
+und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und
+Zucht gegen sich herausfordern - schönster Typus Julius Caesar -;
+dies ist auch politisch wahr, man mache nur seinen Gang durch die
+Geschichte. Die Völker, die Etwas werth waren, werth wurden, wurden
+dies nie unter liberalen Institutionen: die grosse Gefahr machte
+Etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient, die Gefahr, die uns unsre
+Hülfsmittel, unsre Tugenden, unsre Wehr und Waffen, unsern Geist erst
+kennen lehrt, - die uns zwingt, stark zu sein... Erster Grundsatz:
+man muss es nöthig haben, stark zu sein: sonst wird man's nie. - Jene
+grossen Treibhäuser für starke, für die stärkste Art Mensch, die es
+bisher gegeben hat, die aristokratischen Gemeinwesen in der Art von
+Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das
+Wort Freiheit verstehe: als Etwas, das man hat und nicht hat, das man
+will, das man erobert...
+
+
+39.
+
+Kritik der Modernität. - Unsre Institutionen taugen nichts mehr:
+darüber ist man einmüthig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an
+uns. Nachdem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen
+Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden,
+weil wir nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jeder Zeit
+die Niedergangs-Form der organisirenden Kraft: ich habe schon in
+"Menschliches, Allzumenschliches" 1, 318 die moderne Demokratie sammt
+ihren Halbheiten, wie "deutsches Reich", als Verfallsform des Staats
+gekennzeichnet. Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille,
+Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen
+zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte
+hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts
+in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich Etwas wie das
+imperium Romanum: oder wie Russland, die einzige Macht, die heute
+Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann,
+- Russland der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen
+Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des deutschen
+Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist... Der ganze Westen
+hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus
+denen Zukunft wächst: seinem "modernen Geiste" geht vielleicht Nichts
+so sehr wider den Strich. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind,
+- man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man "Freiheit".
+Was aus Institutionen Institutionen macht, wird verachtet, gehasst,
+abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das
+Wort "Autorität" auch nur laut wird. So weit geht die décadence im
+Werth-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie
+ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt...
+Zeugniss die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle
+Vernunft abhanden gekommen: das giebt aber keinen Einwand gegen die
+Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe - sie lag
+in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Mannes: damit hatte
+die Ehe Schwergewicht, während sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die
+Vernunft der Ehe - sie lag in ihrer principiellen Unlösbarkeit: damit
+bekam sie einen Accent, der, dem Zufall von Gefühl, Leidenschaft
+und Augenblick gegenüber, sich Gehör zu schaffen wusste. Sie lag
+insgleichen in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl
+der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz zu Gunsten der
+Liebes-Heirath geradezu die Grundlage der Ehe, Das, was erst aus ihr
+eine Institution macht, eliminirt. Man gründet eine Institution nie
+und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht, wie
+gesagt, auf die "Liebe", - man gründet sie auf den Geschlechtstrieb,
+auf den Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf den
+Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der
+Herrschaft, die Familie, organisirt, der Kinder und Erben braucht, um
+ein erreichtes Maass von Macht, Einfluss, Reichthum auch physiologisch
+festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen
+Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits
+die Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organisationsform in
+sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen
+kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt
+keinen Sinn. - Die moderne Ehe verlor ihren Sinn, - folglich schafft
+man sie ab. -
+
+
+40.
+
+Die Arbeiter-Frage. - Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung,
+welche heute die Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, dass es
+eine Arbeiter-Frage giebt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster
+Imperativ des Instinktes. - Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit
+dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus
+ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für
+Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die
+grosse Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, dass hier
+sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus
+Chinese zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies
+wäre geradezu eine Nothwendigkeit gewesen. Was hat man gethan? -
+Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten, - man
+hat die Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich
+selber möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit
+in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig
+gemacht, man hat ihm das Coalitions-Recht, das politische Stimmrecht
+gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits
+als Nothstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht -) empfindet? Aber
+was will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muss man auch
+die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie
+zu Herrn erzieht. -
+
+
+41.
+
+"Freiheit, die ich nicht meine..." In solchen Zeiten, wie heute,
+seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängniss mehr.
+Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich unter
+einander; ich definirte das Moderne bereits als den physiologischen
+Selbst-Widerspruch. Die Vernunft der Erziehung würde wollen, dass
+unter einem eisernen Drucke wenigstens Eins dieser Instinkt-Systeme
+paralysirt würde, um einem andren zu erlauben, zu Kräften zu kommen,
+stark zu werden, Herr zu werden. Heute müsste man das Individuum erst
+möglich machen, indem man dasselbe beschneidet: möglich, das heisst
+ganz... Das Umgekehrte geschieht: der Anspruch auf Unabhängigkeit,
+auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von Denen am
+hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu streng wäre - dies gilt
+in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das ist ein Symptom der
+décadence: unser moderner Begriff "Freiheit" ist ein Beweis von
+Instinkt-Entartung mehr. -
+
+
+42.
+
+Wo Glaube noth thut. - Nichts ist seltner unter Moralisten und
+Heiligen als Rechtschaffenheit; vielleicht sagen sie das Gegentheil,
+vielleicht glauben sie es selbst. Wenn nämlich ein Glaube nützlicher,
+wirkungsvoller, überzeugender ist, als die bewusste Heuchelei, so
+wird, aus Instinkt, die Heuchelei alsbald zur Unschuld: erster Satz
+zum Verständniss grosser Heiliger. Auch bei den Philosophen, einer
+andren Art von Heiligen, bringt es das ganze Handwerk mit sich, dass
+sie nur gewisse Wahrheiten zulassen: nämlich solche, auf die hin ihr
+Handwerk die öffentliche Sanktion hat, - Kantisch geredet, Wahrheiten
+der praktischen Vernunft. Sie wissen, was sie beweisen müssen, darin
+sind sie praktisch, - sie erkennen sich unter einander daran, dass sie
+über "die Wahrheiten" übereinstimmen. - "Du sollst nicht lügen" - auf
+deutsch: hüten Sie sich, mein Herr Philosoph, die Wahrheit zu sagen...
+
+
+43.
+
+Den Conservativen in's Ohr gesagt. - Was man früher nicht wusste, was
+man heute weiss, wissen könnte -, eine Rückbildung, eine Umkehr in
+irgend welchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen
+wenigstens wissen das. Aber alle Priester und Moralisten haben
+daran geglaubt, - sie wollten die Menschheit auf ein früheres
+Maass von Tugend zurückbringen, zurückschrauben. Moral war immer
+ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den
+Tugendpredigern nachgemacht: es giebt auch heute noch Parteien, die
+als Ziel den Krebsgang aller Dinge träumen. Aber es steht Niemandem
+frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen
+Schritt für Schritt weiter in der décadence (- dies meine Definition
+des modernen "Fortschritts"... ). Man kann diese Entwicklung hemmen
+und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln,
+vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht. -
+
+
+44.
+
+Mein Begriff vom Genie. - Grosse Männer sind wie grosse Zeiten
+Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre
+Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf
+sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, - dass
+lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu
+gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das "Genie", die
+"That", das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an
+Umgebung, an Zeitalter, an "Zeitgeist", an "öffentlicher Meinung"!
+- Man nehme den Fall Napoleon's. Das Frankreich der Revolution, und
+noch mehr das der Vorrevolution, würde aus sich den entgegengesetzten
+Typus, als der Napoleon's ist, hervorgebracht haben: es hat ihn auch
+hervorgebracht. Und weil Napoleon anders war, Erbe einer stärkeren,
+längeren, älteren Civilisation als die, welche in Frankreich in Dampf
+und Stücke gieng, wurde er hier Herr, war er allein hier Herr. Die
+grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist
+zufällig; dass sie fast immer über dieselbe Herr werden, liegt nur
+darin, dass sie stärker, dass sie älter sind, dass länger auf sie hin
+gesammelt worden ist. Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein
+Verhältniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt
+und jung: die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger,
+unsicherer, kindischer. - Dass man hierüber in Frankreich heute sehr
+anders denkt (in Deutschland auch: aber daran liegt nichts), dass dort
+die Theorie vom milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und
+beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen
+Glauben findet, das "riecht nicht gut", das macht Einem traurige
+Gedanken. - Man versteht es auch in England nicht anders, doch darüber
+wird sich kein Mensch betrüben. Dem Engländer stehen nur zwei Wege
+offen, sich mit dem Genie und "grossen Manne" abzufinden: entweder
+demokratisch in der Art Buckle's oder religiös in der Art Carlyle's.
+- Die Gefahr, die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausser
+ordentlich; die Erschöpfung jeder Art, die Sterilität folgt ihnen
+auf dem Fusse. Der grosse Mensch ist ein Ende; die grosse Zeit, die
+Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie - in Werk, in That
+- ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine
+Grösse... Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt;
+der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede
+solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das "Aufopferung"; man rühmt
+seinen "Heroismus" darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl,
+seine Hingebung für eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland: Alles
+Missverständnisse... Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht
+sich, er schont sich nicht, - mit Fatalität, verhängnissvoll,
+unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer
+unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat
+man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art höherer
+Moral... Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit: sie
+missversteht ihre Wohlthäter.-
+
+
+45.
+
+Der Verbrecher und was ihm verwandt ist. - Der Verbrecher-Typus, das
+ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein
+krank gemachter starker Mensch. Ihm fehlt die Wildniss, eine gewisse
+freiere und gefährlichere Natur und Daseinsform, in der Alles, was
+Waffe und Wehr im Instinkt des starken Menschen ist, zu Recht besteht.
+Seine Tugenden sind von der Gesellschaft in Bann gethan; seine
+lebhaftesten Triebe, die er mitgebracht hat, verwachsen alsbald mit
+den niederdrückenden Affekten, mit dem Verdacht, der Furcht, der
+Unehre. Aber dies ist beinahe das Recept zur physiologischen
+Entartung. Wer Das, was er am besten kann, am liebsten thäte, heimlich
+thun muss, mit langer Spannung, Vorsicht, Schlauheit, wird anämisch;
+und weil er immer nur Gefahr, Verfolgung, Verhängniss von seinen
+Instinkten her erntet, verkehrt sich auch sein Gefühl gegen diese
+Instinkte - er fühlt sie fatalistisch. Die Gesellschaft ist es,
+unsre zahme, mittelmässige, verschnittene Gesellschaft, in der ein
+naturwüchsiger Mensch, der vom Gebirge her oder aus den Abenteuern
+des Meeres kommt, nothwendig zum Verbrecher entartet. Oder beinahe
+nothwendig: denn es giebt Fälle, wo ein solcher Mensch sich stärker
+erweist als die Gesellschaft: der Corse Napoleon ist der berühmteste
+Fall. Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugniss
+Dostoiewsky's von Belang - Dostoiewsky's, des einzigen Psychologen,
+anbei gesagt, von dem ich Etwas zu lernen hatte: er gehört zu den
+schönsten Glücksfällen meines Lebens, mehr selbst noch als die
+Entdeckung Stendhal's. Dieser tiefe Mensch, der zehn Mal Recht hatte,
+die oberflächlichen Deutschen gering zu schätzen, hat die sibirischen
+Zuchthäusler, in deren Mitte er lange lebte, lauter schwere
+Verbrecher, für die es keinen Rückweg zur Gesellschaft mehr gab,
+sehr anders empfunden als er selbst erwartete - ungefähr als aus
+dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt, das auf
+russischer Erde überhaupt wächst. Verallgemeinern wir den Fall des
+Verbrechers: denken wir uns Naturen, denen, aus irgend einem Grunde,
+die öffentliche Zustimmung fehlt, die wissen, dass sie nicht als
+wohlthätig, als nützlich empfunden werden, - jenes Tschandala-Gefühl,
+dass man nicht als gleich gilt, sondern als ausgestossen, unwürdig,
+verunreinigend. Alle solche Naturen haben die Farbe des Unterirdischen
+auf Gedanken und Handlungen; an ihnen wird Jegliches bleicher als
+an Solchen, auf deren Dasein das Tageslicht ruht. Aber fast alle
+Existenzformen, die wir heute auszeichnen, haben ehemals unter dieser
+halben Grabesluft gelebt: der wissenschaftliche Charakter, der Artist,
+das Genie, der freie Geist, der Schauspieler, der Kaufmann, der grosse
+Entdecker... So lange der Priester als oberster Typus galt, war jede
+werthvolle Art Mensch entwerthet... Die Zeit kommt - ich verspreche
+das - wo er als der niedrigste gelten wird, als unser Tschandala, als
+die verlogenste, als die unanständigste Art Mensch... Ich richte die
+Aufmerksamkeit darauf, wie noch jetzt, unter dem mildesten Regiment
+der Sitte, das je auf Erden, zum Mindesten in Europa, geherrscht
+hat, jede Abseitigkeit, jedes lange, allzulange Unterhalb, jede
+ungewöhnliche, undurchsichtige Daseinsform jenem Typus nahe bringt,
+den der Verbrecher vollendet. Alle Neuerer des Geistes haben eine Zeit
+das fahle und fatalistische Zeichen des Tschandala auf der Stirn:
+nicht, weil sie so empfunden würden, sondern weil sie selbst die
+furchtbare Kluft fühlen, die sie von allem Herkömmlichen und in Ehren
+Stehenden trennt. Fast jedes Genie kennt als eine seiner Entwicklungen
+die "catilinarische Existenz", ein Hass-, Rache- und Aufstands-Gefühl
+gegen Alles, was schon ist, was nicht mehr wird... Catilina - die
+Präexistenz-Form jedes Caesar. -
+
+
+46.
+
+Hier ist die Aussicht frei. - Es kann Höhe der Seele sein, wenn ein
+Philosoph schweigt; es kann Liebe sein, wenn er sich widerspricht; es
+ist eine Höflichkeit des Erkennenden möglich, welche lügt. Man hat
+nicht ohne Feinheit gesagt: il est indigne des grands coeurs de
+répandre le trouble, qu'ils ressentent: nur muss man hinzufügen, dass
+vor dem Unwürdigsten sich nicht zu fürchten ebenfalls Grösse der Seele
+sein kann. Ein Weib, das liebt, opfert seine Ehre; ein Erkennender,
+welcher "liebt", opfert vielleicht seine Menschlichkeit; ein Gott,
+welcher liebte, ward Jude...
+
+
+47.
+
+Die Schönheit kein Zufall. - Auch die Schönheit einer Rasse oder
+Familie, ihre Anmuth und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet: sie
+ist, gleich dem Genie, das Schlussergebniss der accumulirten Arbeit
+von Geschlechtern. Man muss dem guten Geschmacke grosse Opfer gebracht
+haben, man muss um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben
+- das siebzehnte Jahrhundert Frankreichs ist bewunderungswürdig in
+Beidem -, man muss in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort,
+Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muss Schönheit dem
+Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben.
+Oberste Richtschnur: man muss sich auch vor sich selber nicht "gehen
+lassen". - Die guten Dinge sind über die Maassen kostspielig: und
+immer gilt das Gesetz, dass wer sie hat, ein Andrer ist, als wer
+sie erwirbt. Alles Gute ist Erbschaft: was nicht ererbt ist, ist
+unvollkommen, ist Anfang... In Athen waren zur Zeit Cicero's, der
+darüber seine Überraschung ausdrückt, die Männer und Jünglinge bei
+weitem den Frauen an Schönheit überlegen: aber welche Arbeit und
+Anstrengung im Dienste der Schönheit hatte daselbst das männliche
+Geschlecht seit Jahrhunderten von sich verlangt! - Man soll sich
+nämlich über die Methodik hier nicht vergreifen: eine blosse Zucht
+von Gefühlen und Gedanken ist beinahe Null (- hier liegt das grosse
+Missverständniss der deutschen Bildung, die ganz illusorisch ist):
+man muss den Leib zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung
+bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit
+Menschen zu leben, die sich nicht "gehen lassen", genügt vollkommen,
+um bedeutend und gewählt zu werden: in zwei, drei Geschlechtern ist
+bereits Alles verinnerlicht. Es ist entscheidend über das Loos von
+Volk und Menschheit, dass man die Cultur an der rechten Stelle beginnt
+- nicht an der "Seele" (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der
+Priester und Halb-Priester war): die rechte Stelle ist der Leib, die
+Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus... Die
+Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte -
+sie wussten, sie thaten, was Noth that; das Christenthum, das den Leib
+verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit. -
+
+
+48.
+
+Fortschritt in meinem Sinne. - Auch ich rede von "Rückkehr zur Natur",
+obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen
+ist - hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und
+Natürlichkeit, eine solche, die mit grossen Aufgaben spielt, spielen
+darf .. Um es im Gleichniss zu sagen: Napoleon war ein Stück "Rückkehr
+zur Natur", so wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis,
+noch mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen). - Aber Rousseau
+- wohin wollte der eigentlich zurück? Rousseau, dieser erste moderne
+Mensch, Idealist und canaille in Einer Person; der die moralische
+"Würde" nöthig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor
+zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese
+Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat,
+wollte "Rückkehr zur Natur" - wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau
+zurück? - Ich hasse Rousseau noch in der Revolution: sie ist der
+welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und
+canaille. Die blutige farce, mit der sich diese Revolution abspielte,
+ihre "Immoralität", geht mich wenig an: was ich hasse, ist ihre
+Rousseau'sche Moralität - die sogenannten "Wahrheiten" der Revolution,
+mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmässige zu
+sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit!... Aber es giebt gar
+kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst
+gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist... "Den Gleichen
+Gleiches, den Ungleichen Ungleiches - das wäre die wahre Rede der
+Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich
+machen." - Dass es um jene Lehre von der Gleichheit herum so
+schauerlich und blutig zu gieng, hat dieser "modernen Idee" par
+excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben, so dass die
+Revolution als Schauspiel auch die edelsten Geister verführt hat. Das
+ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. - Ich sehe nur Einen, der
+sie empfand, wie sie empfunden werden muss, mit Ekel - Goethe...
+
+
+49.
+
+Goethe - kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein
+grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch
+eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit
+der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses
+Jahrhunderts. - Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die
+Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das
+Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (- letzteres ist nur
+eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft,
+die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische
+Thätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er
+löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht
+verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich.
+Was er Wollte, das war Totalität; er bekämpfte das Auseinander
+von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (- in abschreckendster
+Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethe's), er
+disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich... Goethe war, inmitten
+eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte
+ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, - er hatte kein grösseres
+Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe
+concipirte einen starken, hochgebildeten, in aller Leiblichkeiten
+geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber
+ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der
+Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit
+ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus
+Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn
+würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für
+den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse
+sie nun Laster oder Tugend... Ein solcher freigewordner Geist steht
+mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im
+Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich
+Alles erlöst und bejaht - er verneint nicht mehr... Aber ein solcher
+Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den
+Namen des Dionysos getauft. -
+
+
+50.
+
+Man könnte sagen, dass in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert
+Das alles auch erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte:
+eine Universalität im Verstehn, im Gutheissen, ein
+Ansich-heran-kommen-lassen von Jedwedem, einen verwegnen Realismus,
+eine Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen. Wie kommt es, dass
+das Gesammt-Ergebniss kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein
+nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt
+von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, zum achtzehnten
+Jahrhundert zurückzugreifen? (- zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als
+Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Femininismus im Geschmack,
+als Socialismus in der Politik.) Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert,
+zumal in seinem Ausgange, bloss ein verstärktes verrohtes achtzehntes
+Jahrhundert, das heisst ein décadence-Jahrhundert? So dass Goethe
+nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz Europa bloss ein
+Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre? - Aber man
+missversteht grosse Menschen, wenn man sie aus der armseligen
+Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Dass man keinen Nutzen
+aus ihnen zu ziehn weiss, das gehört selbst vielleicht zur Grösse...
+
+
+51.
+
+Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe: er hätte
+drei Dinge empfunden, die ich empfinde, - auch verstehen wir uns über
+das "Kreuz"... Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch
+schriebe: nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande.
+Aber wer weiss zuletzt, ob ich auch nur wünsche, heute gelesen zu
+werden? - Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne
+versucht; der Form nach, der Substanz nach um eine kleine
+Unsterblichkeit bemüht sein - ich war noch nie bescheiden genug,
+weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen
+ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der
+"Ewigkeit"; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre
+in einem Buche sagt, - was jeder Andre in einem Buche nicht sagt...
+
+Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt,
+meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste. -
+
+
+
+Was ich den Alten verdanke.
+
+1.
+
+Zum Schluss ein Wort über jene Welt, zu der ich Zugänge gesucht, zu
+der ich vielleicht einen neuen Zugang gefunden habe - die alte Welt.
+Mein Geschmack, der der Gegensatz eines duldsamen Geschmacks sein mag,
+ist auch hier fern davon, in Bausch und Bogen ja zu sagen: er sagt
+überhaupt nicht gern ja, lieber noch Nein, am allerliebsten gar
+nichts... Das gilt von ganzen Culturen, das gilt von Büchern, - es
+gilt auch von Orten und Landschaften. Im Grunde ist es eine ganz
+kleine Anzahl antiker Bücher, die in meinem Leben mitzählen; die
+berühmtesten sind nicht darunter. Mein Sinn für Stil, für das Epigramm
+als Stil erwachte fast augenblicklich bei der Berührung mit Sallust.
+Ich habe das Erstaunen meines verehrten Lehrers Corssen nicht
+vergessen, als er seinem schlechtesten Lateiner die allererste Censur
+geben musste -, ich war mit Einem Schlage fertig. Gedrängt, streng,
+mit so viel Substanz als möglich auf dem Grunde, eine kalte Bosheit
+gegen das "schöne Wort", auch das "schöne Gefühl" - daran errieth ich
+mich. Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte
+Ambition nach römischem Stil, nach dem "aere perennius" im Stil bei
+mir wiedererkennen. - Nicht anders ergieng es mir bei der ersten
+Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe
+artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische
+Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht
+einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als
+Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine
+Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies
+damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen - das Alles ist
+römisch und, wenn man mir glauben will, vornehm par excellence. Der
+ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, - eine blosse
+Gefühls-Geschwätzigkeit...
+
+
+2.
+
+Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke;
+und, um es geradezu herauszusagen, sie können uns nicht sein, was die
+Römer sind. Man lernt nicht von den Griechen - ihre Art ist zu fremd,
+sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um "klassisch" zu wirken.
+Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je ohne
+die Römer gelernt!... Man wende mir ja nicht Plato ein. Im Verhältniss
+zu Plato bin ich ein gründlicher Skeptiker und war stets ausser
+Stande, in die Bewunderung des Artisten Plato, die unter Gelehrten
+herkömmlich ist, einzustimmen. Zuletzt habe ich hier die
+raffinirtesten Geschmacksrichter unter den Alten selbst auf
+meiner Seite. Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils
+durcheinander, er ist damit ein erster décadent des Stils: er hat
+etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura
+Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich
+selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne,
+dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, - Fontenelle zum
+Beispiel. Plato ist langweilig. - Zuletzt geht mein Misstrauen
+bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von
+allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so
+präexistent-christlich - er hat bereits den Begriff "gut" als obersten
+Begriff -, dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort
+"höherer Schwindel" oder, wenn man's lieber hört, Idealismus - als
+irgend ein andres gebrauchen möchte. Man hat theuer dafür bezahlt,
+dass dieser Athener bei den Ägyptern in die Schule gieng (- oder bei
+den Juden in Agypten?...) Im grossen Verhängniss des Christenthums
+ist Plato jene "Ideal" genannte Zweideutigkeit und Fascination, die
+den edleren Naturen des Alterthums es möglich machte, sich selbst
+misszuverstehn und die Brücke zu betreten, die zum "Kreuz" führte...
+Und wie viel Plato ist noch im Begriff "Kirche", in Bau, System,
+Praxis der Kirche! - Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von
+allem Platonismus war zu jeder Zeit Thukydides. Thukydides und,
+vielleicht, der principe Machiavell's sind mir selber am meisten
+verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und
+die Vernunft in der Realität zu sehn, - nicht in der "Vernunft", noch
+weniger in der "Moral"... Von der jämmerlichen Schönfärberei der
+Griechen in's Ideal, die der "klassisch gebildete" Jüngling als Lohn
+für seine Gymnasial-Dressur in's Leben davonträgt, kurirt Nichts
+so gründlich als Thukydides. Man muss ihn Zeile für Zeile umwenden
+und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte: es
+giebt wenige so hintergedankenreiche Denker. In ihm kommt die
+Sophisten-Cultur, will sagen die Realisten-Cultur, zu ihrem
+vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben
+allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen
+Schulen. Die griechische Philosophie als die décadence des
+griechischen Instinkts; Thukydides als die grosse Summe, die letzte
+Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die
+dem älteren Hellenen im Instinkte lag. Der Muth vor der Realität
+unterscheidet zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato: Plato
+ist ein Feigling vor der Realität, - folglich flüchtet er in's Ideal;
+Thukydides hat sich in der Gewalt, folglich behält er auch die Dinge
+in der Gewalt...
+
+
+3.
+
+In den Griechen "schöne Seelen", "goldene Mitten" und andre
+Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse,
+die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern - vor dieser "hohen
+Einfalt", einer niaiserie allemande zu guterletzt, war ich durch den
+Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten
+Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen
+Gewalt dieses Triebs, - ich sah alle ihre Institutionen wachsen
+aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen
+Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern
+entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach
+Aussen: die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit
+die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden. Man hatte
+es nöthig, stark zu sein: die Gefahr war in der Nähe -, sie lauerte
+überall. Die prachtvoll geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene
+Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Noth,
+nicht eine "Natur" gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an
+da. Und mit Festen und Künsten wollte man auch nichts Andres als sich
+obenauf fühlen, sich obenauf zeigen: es sind Mittel, sich selber
+zu verherrlichen, unter Umständen vor sich Furcht zu machen... Die
+Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurtheilen, etwa
+die Biedermännerei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber
+benutzen, was im Grunde hellenisch sei!... Die Philosophen sind ja die
+décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten, den
+vornehmen Geschmack (- gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis,
+gegen den Werth der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens).
+Die sokratischen Tugenden wurden gepredigt, weil sie den Griechen
+abhanden gekommen waren: reizbar, furchtsam, unbeständig, Komödianten
+allesammt, hatten sie ein paar Gründe zu viel, sich Moral predigen zu
+lassen. Nicht, dass es Etwas geholfen hätte: aber grosse Worte und
+Attitüden stehen décadents so gut...
+
+
+4.
+
+Ich war der erste, der, zum Verständniss des älteren, des noch reichen
+und selbst überströmenden hellenischen Instinkts, jenes wundervolle
+Phänomen ernst nahm, das den Namen des Dionysos trägt: es ist einzig
+erklärbar aus einem Zuviel von Kraft. Wer den Griechen nachgeht,
+wie jener tiefste Kenner ihrer Cultur, der heute lebt, wie Jakob
+Burckhardt in Basel, der wusste sofort, dass damit Etwas gethan sei:
+Burckhardt fügte seiner "Cultur der Griechen" einen eignen Abschnitt
+über das genannte Phänomen ein. Will man den Gegensatz, so sehe man
+die beinahe erheiternde Instinkt-Armuth der deutschen Philologen,
+wenn sie in die Nähe des Dionysischen kommen. Der berühmte Lobeck
+zumal, der mit der ehrwürdigen Sicherheit eines zwischen Büchern
+ausgetrockneten Wurms in diese Welt geheimnissvoller Zustände
+hineinkroch und sich überredete, damit wissenschaftlich zu sein, dass
+er bis zum Ekel leichtfertig und kindisch war, - Lobeck hat mit allem
+Aufwande von Gelehrsamkeit zu verstehn gegeben, eigentlich habe es mit
+allen diesen Curiositäten Nichts auf sich. In der That möchten die
+Priester den Theilhabern an solchen Orgien einiges nicht Werthlose
+mitgetheilt haben, zum Beispiel, dass der Wein zur Lust anrege, dass
+der Mensch unter Umständen von Früchten lebe, dass die Pflanzen im
+Frühjahr aufblühn, im Herbst verwelken. Was jenen so befremdlichen
+Reichthum an Riten, Symbolen und Mythen orgiastischen Ursprungs
+angeht, von dem die antike Welt ganz wörtlich überwuchert ist, so
+findet Lobeck an ihm einen Anlass, noch um einen Grad geistreicher zu
+werden. "Die Griechen, sagt er Aglaophamus I, 672, hatten sie nichts
+Anderes zu thun, so lachten, sprangen, rasten sie umher, oder, da der
+Mensch mitunter auch dazu Lust hat, so sassen sie nieder, weinten und
+jammerten. Andere kamen dann später hinzu und suchten doch irgend
+einen Grund für das auffallende Wesen; und so entstanden zur Erklärung
+jener Gebräuche jene zahllosen Festsagen und Mythen. Auf der andren
+Seite glaubte man, jenes possirliche Treiben, welches nun einmal an
+den Festtagen stattfand, gehöre auch nothwendig zur Festfeier, und
+hielt es als einen unentbehrlichen Theil des Gottesdienstes fest." -
+Das ist verächtliches Geschwätz, man wird einen Lobeck nicht einen
+Augenblick ernst nehmen. Ganz anders berührt es uns, wenn wir den
+Begriff "griechisch" prüfen, den Winckelmann und Goethe sich gebildet
+haben, und ihn unverträglich mit jenem Elemente finden, aus dem die
+dionysische Kunst wächst, - mit dem Orgiasmus. Ich zweifle in der
+That nicht daran, dass Goethe etwas Derartiges grundsätzlich aus den
+Möglichkeiten der griechischen Seele ausgeschlossen hätte. Folglich
+verstand Goethe die Griechen nicht. Denn erst in den dionysischen
+Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich
+die Grundthatsache des hellenischen Instinkts aus - sein "Wille zum
+Leben". Was verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das
+ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der
+Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphirende Ja zum Leben
+über Tod und Wandel hinaus; das wahre Leben als das Gesammt-Fortleben
+durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den
+Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol
+an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken
+Frömmigkeit. Alles Einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft,
+der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der
+Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die "Wehen der
+Gebärerin" heiligen den Schmerz überhaupt, - alles Werden und Wachsen,
+alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz... Damit es die Lust des
+Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht,
+muss es auch ewig die "Qual der Gebärerin" geben... Dies Alles
+bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese
+griechische Symbolik, die der Dionysien. In ihr ist der tiefste
+Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des
+Lebens, religiös empfunden, - der Weg selbst zum Leben, die Zeugung,
+als der heilige Weg... Erst das Christenthum, mit seinem Ressentiment
+gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas
+Unreines gemacht: es warf Koth auf den Anfang, auf die Voraussetzung
+unseres Lebens...
+
+
+5.
+
+Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und
+Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans
+wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls,
+das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten
+missverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, Etwas für
+den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauer's zu beweisen, dass
+sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz zu
+gelten hat. Das ja sagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten
+und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten
+Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend - das nannte ich
+dionysisch, das errieth ich als die Brücke zur Psychologie des
+tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen,
+nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente
+Entladung zu reinigen - so verstand es Aristoteles -: sondern um, über
+Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu
+sein, - jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich
+schliesst... Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich
+einstmals ausgieng - die "Geburt der Tragödie" war meine erste
+Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden
+zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst - ich, der letzte
+Jünger des Philosophen Dionysos, - ich, der Lehrer der ewigen
+Wiederkunft...
+
+
+
+Der Hammer redet.
+
+Also sprach Zarathustra - 3, 90.
+
+"Warum so hart! - sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle: sind
+wir denn nicht Nah-Verwandte?"
+
+Warum so weich? Oh meine Brüder, also frage ich euch: seid ihr denn
+nicht - meine Brüder?
+
+Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel
+Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? so wenig Schicksal in eurem
+Blicke?
+
+Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr
+einst mit mir - siegen?
+
+Und wenn eure Härte nicht blitzen und schneiden und zerschneiden will:
+wie könntet ihr einst mit mir - schaffen?
+
+Alle Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch dünken,
+eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, -
+
+- Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf
+Erz, - härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart allein ist das
+Edelste.
+
+Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch: werdet
+hart! - -
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, GOTZEN-DAMMERUNG ***
+
+This file should be named 7203-8.txt or 7203-8.zip
+
+Project Gutenberg eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+We are now trying to release all our eBooks one year in advance
+of the official release dates, leaving time for better editing.
+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
+even years after the official publication date.
+
+Please note neither this listing nor its contents are final til
+midnight of the last day of the month of any such announcement.
+The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at
+Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A
+preliminary version may often be posted for suggestion, comment
+and editing by those who wish to do so.
+
+Most people start at our Web sites at:
+https://gutenberg.org or
+http://promo.net/pg
+
+These Web sites include award-winning information about Project
+Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new
+eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!).
+
+
+Those of you who want to download any eBook before announcement
+can get to them as follows, and just download by date. This is
+also a good way to get them instantly upon announcement, as the
+indexes our cataloguers produce obviously take a while after an
+announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter.
+
+http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext04 or
+ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext04
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+
+Just search by the first five letters of the filename you want,
+as it appears in our Newsletters.
+
+
+Information about Project Gutenberg (one page)
+
+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
+to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright
+searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our
+projected audience is one hundred million readers. If the value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
+files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
+We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002
+If they reach just 1-2% of the world's population then the total
+will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.
+
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+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only about 4% of the present number of computer users.
+
+Here is the briefest record of our progress (* means estimated):
+
+eBooks Year Month
+
+ 1 1971 July
+ 10 1991 January
+ 100 1994 January
+ 1000 1997 August
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+ 2000 1999 December
+ 2500 2000 December
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