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+The Project Gutenberg EBook of Jenseits von Gut und Bose
+by Friedrick Wilhelm Nietzsche
+
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+this or any other Project Gutenberg eBook.
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+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
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+**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971**
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+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
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+
+Title: Jenseits von Gut und Bose
+
+Author: Friedrick Wilhelm Nietzsche
+
+Release Date: January, 2005 [EBook #7204]
+[This file was first posted on March 26, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO Latin-1
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, JENSEITS VON GUT UND BOSE ***
+
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+This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg -
+DE" (http://www.gutenberg2000.de/nietzsche/jenseits/0htmldir.htm),
+prepared by juergen@redestb.es.
+
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+
+Friedrich Nietzsche
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+Jenseits von Gut und Böse
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+Inhalt
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+ Vorrede
+ 1. Hauptstück: Von den Vorurtheilen der Philosophen.
+ 2. Hauptstück: Der freie Geist.
+ 3. Hauptstück: Das religiöse Wesen.
+ 4. Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele.
+ 5. Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral.
+ 6. Hauptstück: Wir Gelehrten.
+ 7. Hauptstück: Unsere Tugenden.
+ 8. Hauptstück: Völker und Vaterländer.
+ 9. Hauptstück: Was ist vornehm?
+ Aus hohen Bergen. Nachgesang.
+
+
+
+
+Jenseits von Gut und Böse
+
+Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.
+
+
+
+
+Vorrede.
+
+Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist -, wie? ist der Verdacht
+nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren,
+sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst,
+die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit
+zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um
+gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie
+sich nicht hat einnehmen lassen: - und jede Art Dogmatik steht heute
+mit betrübter und muthloser Haltung da. Wenn sie überhaupt noch steht!
+Denn es giebt Spötter, welche behaupten, sie sei gefallen, alle
+Dogmatik liege zu Boden, mehr noch, alle Dogmatik liege in den letzten
+Zügen. Ernstlich geredet, es giebt gute Gründe zu der Hoffnung, dass
+alles Dogmatisiren in der Philosophie, so feierlich, so end- und
+letztgültig es sich auch gebärdet hat, doch nur eine edle Kinderei
+und Anfängerei gewesen sein möge; und die Zeit ist vielleicht sehr
+nahe, wo man wieder und wieder begreifen wird, was eigentlich
+schon ausgereicht hat, um den Grundstein zu solchen erhabenen und
+unbedingten Philosophen-Bauwerken abzugeben, welche die Dogmatiker
+bisher aufbauten, - irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher
+Zeit (wie der Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube
+auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften), irgend ein
+Wortspiel vielleicht, eine Verführung von Seiten der Grammatik
+her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr
+persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen. Die
+Philosophie der Dogmatiker war hoffentlich nur ein Versprechen über
+Jahrtausende hinweg: wie es in noch früherer Zeit die Astrologie war,
+für deren Dienst vielleicht mehr Arbeit, Geld, Scharfsinn, Geduld
+aufgewendet worden ist, als bisher für irgend eine wirkliche
+Wissenschaft: - man verdankt ihr und ihren "überirdischen" Ansprüchen
+in Asien und Agypten den grossen Stil der Baukunst. Es scheint, dass
+alle grossen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in
+das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflössende
+Fratzen über die Erde hinwandeln müssen: eine solche Fratze war die
+dogmatische Philosophie, zum Beispiel die Vedanta-Lehre in Asien, der
+Platonismus in Europa. Seien wir nicht undankbar gegen sie, so gewiss
+es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, langwierigste
+und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum
+gewesen ist, nämlich Plato's Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten
+an sich. Aber nunmehr, wo er überwunden ist, wo Europa von diesem
+Alpdrucke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen - Schlafs
+geniessen darf, sind wir, deren Aufgabe das Wachsein selbst ist,
+die Erben von all der Kraft, welche der Kampf gegen diesen Irrthum
+grossgezüchtet hat. Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf
+stellen und das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens,
+selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato
+gethan hat; ja man darf, als Arzt, fragen: "woher eine solche
+Krankheit am schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch
+der böse Sokrates verdorben? wäre Sokrates doch der Verderber der
+Jugend gewesen? und hätte seinen Schlierling verdient?" - Aber der
+Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für's "Volk"
+zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von
+Jahrtausenden - denn Christenthum ist Platonismus für's "Volk" - hat
+in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie
+auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man
+nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europäische
+Mensch empfindet diese Spannung als Nothstand; und es ist schon zwei
+Mal im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal
+durch den Jesuitismus, zum zweiten Mal durch die demokratische
+Aufklärung: - als welche mit Hülfe der Pressfreiheit und des
+Zeitunglesens es in der That erreichen dürfte, dass der Geist sich
+selbst nicht mehr so leicht als "Noth" empfindet! (Die Deutschen haben
+das Pulver erfunden - alle Achtung! aber sie haben es wieder quitt
+gemacht - sie erfanden die Presse.) Aber wir, die wir weder Jesuiten,
+noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir guten Europäer
+und freien, sehr freien Geister - wir haben sie noch, die ganze Noth
+des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch
+den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel.....
+
+Sils-Maria,
+
+Oberengadin im Juni 1885.
+
+
+
+
+Erstes Hauptstück:
+
+Von den Vorurtheilen der Philosophen.
+
+1.
+
+Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen
+wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher
+mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille
+zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen schlimmen
+fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte, - und
+doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat? Was Wunder, wenn
+wir endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns
+ungeduldig umdrehn? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das
+Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt?
+Was in uns will eigentlich "zur Wahrheit"? - In der that, wir machten
+langen Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, - bis
+wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen
+blieben. Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir
+wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit?
+Selbst Unwissenheit? - Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor
+uns hin, - oder waren wir's, die vor das Problem hin traten? Wer von
+uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es
+scheint, von Fragen und Fragezeichen. - Und sollte man's glauben, dass
+es uns schliesslich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher
+gestellt, - als sei es von uns zum ersten Male gesehn, in's Auge
+gefasst, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei, und vielleicht giebt es
+kein grösseres.
+
+
+2.
+
+"Wie könnte Etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die
+Wahrheit aus dem Irrthume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen
+zur Täuschung? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze? Oder
+das reine sonnenhafte Schauen des Weisen aus der Begehrlichkeit?
+Solcherlei Entstehung ist unmöglich; wer davon träumt, ein Narr, ja
+Schlimmeres; die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, eigenen
+Ursprung haben, - aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden
+geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie
+unableitbar! Vielmehr im Schoosse des Sein's, im Unvergänglichen,
+im verborgenen Gotte, im `Ding an sich` - da muss ihr Grund liegen,
+und sonst nirgendswo!" - Diese Art zu urtheilen macht das typische
+Vorurtheil aus, an dem sich die Metaphysiker aller Zeiten wieder
+erkennen lassen; diese Art von Werthschätzungen steht im Hintergrunde
+aller ihrer logischen Prozeduren; aus diesem ihrem "Glauben" heraus
+bemühn sie sich um ihr "Wissen", um Etwas, das feierlich am Ende als
+"die Wahrheit" getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist der
+Glaube an die Gegensätze der Werthe. Es ist auch den Vorsichtigsten
+unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu
+zweifeln, wo es doch am nöthigsten war: selbst wenn sie sich gelobt
+hatten "de omnibus dubitandum". Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob
+es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen
+Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr
+Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen
+sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem
+Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven
+gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist?
+Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen
+zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur
+Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer
+und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar
+noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge
+ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar
+entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft,
+verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht! - Aber wer
+ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern! Man
+muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen
+abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack
+und Hang haben als die bisherigen, - Philosophen des gefährlichen
+Vielleicht in jedem Verstande. - Und allen Ernstes gesprochen: ich
+sehe solche neue Philosophen heraufkommen.
+
+
+3.
+
+Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf
+die Finger gesehn habe, sage ich mir: man muss noch den grössten Theil
+des bewussten Denkens unter die Instinkt-Thätigkeiten rechnen, und
+sogar im Falle des philosophischen Denkens; man muss hier umlernen,
+wie man in Betreff der Vererbung und des "Angeborenen" umgelernt hat.
+So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vor- und Fortgange der
+Vererbung in Betracht kommt: ebenso wenig ist "Bewusstsein" in irgend
+einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt, - das
+meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte
+heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller
+Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen
+Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen
+zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. Zum Beispiel, dass das
+Bestimmte mehr werth sei als das Unbestimmte, der Schein weniger werth
+als die "Wahrheit": dergleichen Schätzungen könnten, bei aller ihrer
+regulativen Wichtigkeit für uns, doch nur Vordergrunds-Schätzungen
+sein, eine bestimmte Art von niaiserie, wie sie gerade zur Erhaltung
+von Wesen, wie wir sind, noth thun mag. Gesetzt nämlich, dass nicht
+gerade der Mensch das "Maass der Dinge" ist.....
+
+
+4.
+
+Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein
+Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die
+Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Arterhaltend,
+vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu
+behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen
+Urtheile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass
+ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen
+der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten,
+Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch
+die Zahl der Mensch nicht leben könnte, - dass Verzichtleisten auf
+falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des
+Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst
+freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen
+Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich
+damit allein schon jenseits von Gut und Böse.
+
+
+5.
+
+Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb spöttisch
+zu blicken, ist nicht, dass man wieder und wieder dahinter kommt, wie
+unschuldig sie sind - wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und
+verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit - sondern dass es bei
+ihnen nicht redlich genug zugeht: während sie allesammt einen grossen
+und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit
+auch nur von ferne angerührt wird. Sie stellen sich sämmtlich, als
+ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer
+kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik entdeckt und erreicht
+hätten (zum Unterschiede von den Mystikern jeden Rangs, die ehrlicher
+als sie und tölpelhafter sind - diese reden von "Inspiration" -):
+während im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine
+"Eingebung", zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter
+Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt
+wird: - sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen,
+und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurtheile,
+die sie "Wahrheiten" taufen - und sehr ferne von der Tapferkeit des
+Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem
+guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt,
+sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Übermuth und
+um ihrer selbst zu spotten. Die ebenso steife als sittsame Tartüfferie
+des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege
+lockt, welche zu seinem "kategorischen Imperativ" führen, richtiger
+verführen - dies Schauspiel macht uns Verwöhnte lächeln, die wir keine
+kleine Belustigung darin finden, den feinen Tücken alter Moralisten
+und Moralprediger auf die Finger zu sehn. Oder gar jener Hocuspocus
+von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie - "die
+Liebe zu seiner Weisheit" zuletzt, das Wort richtig und billig
+ausgelegt - wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von
+vornherein den Muth des Angreifenden einzuschüchtern, der auf diese
+unüberwindliche Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen
+würde: - wie viel eigne Schüchternheit und Angreifbarkeit verräth
+diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken!
+
+
+6.
+
+Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie
+bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine
+Art ungewollter und unvermerkter mémoires; insgleichen, dass die
+moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den
+eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze
+gewachsen ist. In der That, man thut gut (und klug), zur Erklärung
+davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen
+eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen:
+auf welche Moral will es (will er -) hinaus? Ich glaube demgemäss
+nicht, dass ein "Trieb zur Erkenntniss" der Vater der Philosophie ist,
+sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss
+(und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber
+die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade
+hier als inspirirende Genien (oder Dämonen und Kobolde -) ihr Spiel
+getrieben haben mögen, wird finden, dass sie Alle schon einmal
+Philosophie getrieben haben, - und dass jeder Einzelne von ihnen
+gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als
+berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn
+jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu
+philosophiren. - Freilich: bei den Gelehrten, den eigentlich
+wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn - "besser", wenn man
+will -, da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben,
+irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen,
+tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten übrigen Triebe
+des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen
+"Interessen" des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders,
+etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist
+beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene
+Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der "hoffnungsvolle"
+junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner
+oder Chemiker macht: - es bezeichnet ihn nicht, dass er dies oder
+jenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts
+Unpersönliches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes
+und entscheidendes Zeugniss dafür ab, wer er ist - das heisst, in
+welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander
+gestellt sind.
+
+
+7.
+
+Wie boshaft Philosophen sein können! Ich kenne nichts Giftigeres als
+den Scherz, den sich Epicur gegen Plato und die Platoniker erlaubte:
+er nannte sie Dionysiokolakes. Das bedeutet dem Wortlaute nach und im
+Vordergrunde "Schmeichler des Dionysios", also Tyrannen-Zubehör und
+Speichellecker; zu alledem will es aber noch sagen "das sind Alles
+Schauspieler, daran ist nichts Ächtes" (denn Dionysokolax war eine
+populäre Bezeichnung des Schauspielers). Und das Letztere ist
+eigentlich die Bosheit, welche Epicur gegen Plato abschoss: ihn
+verdross die grossartige Manier, das Sich-in-Scene-Setzen, worauf
+sich Plato sammt seinen Schülern verstand, - worauf sich Epicur nicht
+verstand! er, der alte Schulmeister von Samos, der in seinem Gärtchen
+zu Athen versteckt sass und dreihundert Bücher schrieb, wer weiss?
+vielleicht aus Wuth und Ehrgeiz gegen Plato? - Es brauchte hundert
+Jahre, bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur
+gewesen war. - Kam es dahinter? -
+
+
+8.
+
+In jeder Philosophie giebt es einen Punkt, wo die "Überzeugung" des
+Philosophen auf die Bühne tritt: oder, um es in der Sprache eines
+alten Mysteriums zu sagen:
+
+ adventavit asinus
+ pulcher et fortissimus.
+
+
+9.
+
+"Gemäss der Natur" wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche
+Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist,
+verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten
+und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde
+und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht
+- wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz leben? Leben - ist
+das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist
+Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein,
+Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ "gemäss der Natur
+leben" bedeute im Grunde soviel als "gemäss dem Leben leben" - wie
+könntet ihr's denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr
+selbst seid und sein müsst? - In Wahrheit steht es ganz anders: indem
+ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt,
+wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und
+Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure
+Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt,
+dass sie "der Stoa gemäss" Natur sei und möchtet alles Dasein nur
+nach eurem eignen Bilde dasein machen - als eine ungeheure ewige
+Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus! Mit aller eurer
+Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so
+hypnotisch-starr, die Natur falsch, nämlich stoisch zu sehn, bis ihr
+sie nicht mehr anders zu sehen vermögt, - und irgend ein abgründlicher
+Hochmuth giebt euch zuletzt noch die Tollhäusler-Hoffnung ein, dass,
+weil ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht - Stoicismus ist
+Selbst-Tyrannei -, auch die Natur sich tyrannisiren lässt: ist denn
+der Stoiker nicht ein Stück Natur? Aber dies ist eine alte ewige
+Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute
+noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben.
+Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders;
+Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille
+zur Macht, zur "Schaffung der Welt", zur causa prima.
+
+
+10.
+
+Der Eifer und die Feinheit, ich möchte sogar sagen: Schlauheit, mit
+denen man heute überall in Europa dem Probleme "von der wirklichen
+und der scheinbaren Welt" auf den Leib rückt, giebt zu denken und zu
+horchen; und wer hier im Hintergrunde nur einen "Willen zur Wahrheit"
+und nichts weiter hört, erfreut sich gewiss nicht der schärfsten
+Ohren. In einzelnen und seltenen Fällen mag wirklich ein solcher Wille
+zur Wahrheit, irgend ein ausschweifender und abenteuernder Muth, ein
+Metaphysiker-Ehrgeiz des verlornen Postens dabei betheiligt sein, der
+zuletzt eine Handvoll "Gewissheit" immer noch einem ganzen Wagen voll
+schöner Möglichkeiten vorzieht; es mag sogar puritanische Fanatiker
+des Gewissens geben, welche lieber noch sich auf ein sicheres Nichts
+als auf ein ungewisses Etwas sterben legen. Aber dies ist Nihilismus
+und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele: wie tapfer
+auch die Gebärden einer solchen Tugend sich ausnehmen mögen. Bei den
+stärkeren, lebensvolleren, nach Leben noch durstigen Denkern scheint
+es aber anders zu stehen: indem sie Partei gegen den Schein nehmen und
+das Wort "perspektivisch" bereits mit Hochmuth aussprechen, indem sie
+die Glaubwürdigkeit ihres eigenen Leibes ungefähr so gering anschlagen
+wie die Glaubwürdigkeit des Augenscheins, welcher sagt "die Erde steht
+still", und dermaassen anscheinend gut gelaunt den sichersten Besitz
+aus den Händen lassen (denn was glaubt man jetzt sicherer als seinen
+Leib?) wer weiss, ob sie nicht im Grunde Etwas zurückerobern wollen,
+das man ehemals noch sicherer besessen hat, irgend Etwas vom alten
+Grundbesitz des Glaubens von Ehedem, vielleicht "die unsterbliche
+Seele", vielleicht "den alten Gott", kurz, Ideen, auf welchen sich
+besser, nämlich kräftiger und heiterer leben liess als auf den
+"modernen Ideen"? Es ist Misstrauen gegen diese modernen Ideen darin,
+es ist Unglauben an alles Das, was gestern und heute gebaut worden
+ist; es ist vielleicht ein leichter Überdruss und Hohn eingemischt,
+der das bric-à-brac von Begriffen verschiedenster Abkunft nicht
+mehr aushält, als welches sich heute der sogenannte Positivismus
+auf den Markt bringt, ein Ekel des verwöhnteren Geschmacks
+vor der Jahrmarkts-Buntheit und Lappenhaftigkeit aller dieser
+Wirklichkeits-Philosophaster, an denen nichts neu und ächt ist als
+diese Buntheit. Man soll darin, wie mich dünkt, diesen skeptischen
+Anti-Wirklichen und Erkenntniss-Mikroskopikern von heute Recht geben:
+ihr Instinkt, welcher sie aus der modernen Wirklichkeit hinwegtreibt,
+ist unwiderlegt, - was gehen uns ihre rückläufigen Schleichwege an!
+Das Wesentliche an ihnen ist nicht, dass sie "zurück" wollen: sondern,
+dass sie - weg wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft mehr
+und sie würden hinaus wollen, - und nicht zurück! -
+
+
+11.
+
+Es scheint mir, dass man jetzt überall bemüht ist, von dem
+eigentlichen Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie ausgeübt
+hat, den Blick abzulenken und namentlich über den Werth, den er sich
+selbst zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und
+zuerst stolz auf seine Kategorientafel, er sagte mit dieser Tafel
+in den Händen: "das ist das Schwerste, was jemals zum Behufe der
+Metaphysik unternommen werden konnte". - Man verstehe doch dies
+"werden konnte"! er war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen,
+das Vermögen zu synthetischen Urteilen a priori, entdeckt zu haben.
+Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die Entwicklung und
+rasche Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze und an
+dem Wetteifer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres zu entdecken -
+und jedenfalls "neue Vermögen"! - Aber besinnen wir uns: es ist an der
+Zeit. Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? fragte sich
+Kant, - und was antwortete er eigentlich? Vermöge eines Vermögens:
+leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig
+und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne,
+dass man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche in einer
+solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über dieses neue
+Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant auch noch ein
+moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte: - denn damals
+waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht
+"real-politisch". - Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie;
+alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen alsbald in die
+Büsche, - alle suchten nach "Vermögen". Und was fand man nicht Alles -
+in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen
+Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies,
+hineinsang, damals, als man "finden" und "erfinden" noch nicht
+auseinander zu halten wusste! Vor Allem ein Vermögen für's
+"übersinnliche": Schelling taufte es die intellektuale Anschauung und
+kam damit den herzlichsten Gelüsten seiner im Grunde frommgelüsteten
+Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen übermüthigen und
+schwärmerischen Bewegung, welche Jugend war, so kühn sie sich auch in
+graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht
+thun, als wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer
+Entrüstung behandelt; genug, man wurde älter, - der Traum verflog. Es
+kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb: man reibt sie sich heute
+noch. Man hatte geträumt: voran und zuerst - der alte Kant. "Vermöge
+eines Vermögens" - hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn
+das - eine Antwort? Eine Erklärung? Oder nicht vielmehr nur eine
+Wiederholung der Frage? Wie macht doch das Opium schlafen? "Vermöge
+eines Vermögens", nämlich der virtus dormitiva - antwortet jener Arzt
+bei Molière,
+
+ quia est in eo virtus dormitiva,
+ cujus est natura sensus assoupire.
+
+Aber dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es ist endlich
+an der Zeit, die Kantische Frage "Wie sind synthetische Urtheile a
+priori möglich?" durch eine andre Frage zu ersetzen "warum ist der
+Glaube an solche Urtheile nöthig?" - nämlich zu begreifen, dass zum
+Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr
+geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile
+sein könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich:
+synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht "möglich sein": wir
+haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche
+Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig, als
+ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik
+des Lebens gehört. - Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu
+gedenken, welche "die deutsche Philosophie" - man versteht, wie ich
+hoffe, ihr Anrecht auf Gänsefüsschen? - in ganz Europa ausgeübt
+hat, so zweifle man nicht, dass eine gewisse virtus dormitiva
+dabei betheiligt war: man war entzückt, unter edlen Müssiggängern,
+Tugendhaften, Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und
+politischen Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen
+Philosophie, ein Gegengift gegen den noch übermächtigen Sensualismus
+zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses hinüberströmte, kurz
+-"sensus assoupire".......
+
+
+12.
+
+Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu
+den bestwiderlegten Dingen, die es giebt; und vielleicht ist heute in
+Europa Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum
+bequemen Hand- und Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der
+Ausdrucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen - Dank
+vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus,
+bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war.
+Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle
+Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an
+das Letzte, was von der Erde "feststand", abschwören, dem Glauben an
+den "Stoff", an die "Materie", an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom:
+es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden
+errungen worden ist. - Man muss aber noch weiter gehn und auch dem
+"atomistischen Bedürfnisse", das immer noch ein gefährliches Nachleben
+führt, auf Gebieten, wo es Niemand ahnt, gleich jenem berühmteren
+"metaphysischen Bedürfnisse" - den Krieg erklären, einen
+schonungslosen Krieg auf's Messer: - man muss zunächst auch jener
+anderen und verhängnissvolleren Atomistik den Garaus machen,
+welche das Christenthum am besten und längsten gelehrt hat, der
+Seelen-Atomistik. Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen Glauben
+zu bezeichnen, der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges,
+Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt: diesen Glauben
+soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen! Es ist, unter uns
+gesagt, ganz und gar nicht nöthig, "die Seele" selbst dabei los zu
+werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht
+zu leisten: wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt,
+welche, kaum dass sie an "die Seele" rühren, sie auch verlieren. Aber
+der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese
+steht offen: und Begriffe wie "sterbliche Seele" und "Seele als
+Subjekts-Vielheit" und "Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und
+Affekte" wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben. Indem
+der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der bisher um
+die Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen Üppigkeit wucherte,
+hat er sich freilich selbst gleichsam in eine neue Öde und ein
+neues Misstrauen hinaus gestossen - es mag sein, dass die älteren
+Psychologen es bequemer und lustiger hatten -: zuletzt aber weiss
+er sich eben damit auch zum Erfinden verurtheilt - und, wer weiss?
+vielleicht zum Finden. -
+
+
+13.
+
+Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als
+kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will
+etwas Lebendiges seine Kraft auslassen - Leben selbst ist Wille
+zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten
+und häufigsten Folgen davon. - Kurz, hier wie überall, Vorsicht
+vor überflüssigen teleologischen Principien! - wie ein solches
+der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz
+Spinoza's -). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich
+Principien-Sparsamkeit sein muss.
+
+
+14.
+
+Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch
+nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub
+gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf
+den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange
+hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und
+Finger für sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit
+für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack
+bezaubernd, überredend, überzeugend, - es folgt ja instinktiv dem
+Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus. Was ist klar,
+was "erklärt"? Erst Das, was sich sehen und tasten lässt, - bis so
+weit muss man jedes Problem treiben. Umgekehrt: genau im Widerstreben
+gegen die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen
+Denkweise, welche eine vornehme Denkweise war, - vielleicht unter
+Menschen, die sich sogar stärkerer und anspruchsvollerer Sinne
+erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen höheren
+Triumph darin zu finden wussten, über diese Sinne Herr zu bleiben: und
+dies mittels blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie über den
+bunten Sinnen-Wirbel - den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte - warfen.
+Es war eine andre Art Genuss in dieser Welt-Überwältigung und
+Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen
+uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und
+Antitheologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip
+der "kleinstmöglichen Kraft" und der grösstmöglichen Dummheit. "Wo der
+Mensch nichts mehr zu sehen und zu greifen hat, da hat er auch nichts
+mehr zu suchen" - das ist freilich ein anderer Imperativ als der
+Platonische, welcher aber doch für ein derbes arbeitsames Geschlecht
+von Maschinisten und Brückenbauern der Zukunft, die lauter grobe
+Arbeit abzuthun haben, gerade der rechte Imperativ sein mag.
+
+
+15.
+
+Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man darauf
+halten, dass die Sinnesorgane nicht Erscheinungen sind im Sinne der
+idealistischen Philosophie: als solche könnten sie ja keine Ursachen
+sein! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht
+zu sagen als heuristisches Princip. - Wie? und Andere sagen gar, die
+Aussenwelt wäre das Werk unsrer Organe? Aber dann wäre ja unser Leib,
+als ein Stück dieser Aussenwelt, das Werk unsrer Organe! Aber dann
+wären ja unsre Organe selbst - das Werk unsrer Organe! Dies ist, wie
+mir scheint, eine gründliche reductio ad absurdum: gesetzt, dass der
+Begriff causa sui etwas gründlich Absurdes ist. Folglich ist die
+Aussenwelt nicht das Werk unsrer Organe -?
+
+
+16.
+
+Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass
+es "unmittelbare Gewissheiten" gebe, zum Beispiel "ich denke", oder,
+wie es der Aberglaube Schopenhauer's war, "ich will": gleichsam als ob
+hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme,
+als "Ding an sich", und weder von Seiten des Subjekts, noch von
+Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Dass aber "unmittelbare
+Gewissheit", ebenso wie "absolute Erkenntniss" und "Ding an sich",
+eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal
+wiederholen: man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte
+losmachen! Mag das Volk glauben, dass Erkennen ein zu Ende-Kennen sei,
+der Philosoph muss sich sagen: "wenn ich den Vorgang zerlege, der in
+dem Satz `ich denke` ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von
+verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich
+ist, - zum Beispiel, dass ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein
+Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung
+seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es
+ein `Ich` giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken
+zu bezeichnen ist, - dass ich weiss, was Denken ist. Denn wenn ich
+nicht darüber mich schon bei mir entschieden hätte, wonach sollte ich
+abmessen, dass, was eben geschieht, nicht vielleicht `Wollen` oder
+`Fühlen` sei? Genug, jenes `ich denke` setzt voraus, dass ich meinen
+augenblicklichen Zustand mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne,
+vergleiche, um so festzusetzen, was er ist: wegen dieser Rückbeziehung
+auf anderweitiges `Wissen` hat er für mich jedenfalls keine
+unmittelbare `Gewissheit`." - An Stelle jener "unmittelbaren
+Gewissheit", an welche das Volk im gegebenen Falle glauben mag,
+bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik
+in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts, welche
+heissen: "Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an
+Ursache und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und
+gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als
+Gedanken-Ursache zu reden?" Wer sich mit der Berufung auf eine Art
+Intuition der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort
+zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt: "ich, denke, und weiss,
+dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist" - der wird bei einem
+Philosophen heute ein Lächeln und zwei Fragezeichen bereit finden.
+"Mein Herr, wird der Philosoph vielleicht ihm zu verstehen geben,
+es ist unwahrscheinlich, dass Sie sich nicht irren: aber warum auch
+durchaus Wahrheit?" -
+
+
+17.
+
+Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde
+werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen,
+welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, - nämlich,
+dass ein Gedanke kommt, wenn "er" will, und nicht wenn "ich" will; so
+dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt
+"ich" ist die Bedingung des Prädikats "denke". Es denkt: aber dass
+dies "es" gerade jenes alte berühmte "Ich" sei, ist, milde geredet,
+nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine "unmittelbare
+Gewissheit". Zuletzt ist schon mit diesem "es denkt" zu viel gethan:
+schon dies "es" enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht
+zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen
+Gewohnheit "Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört
+Einer, der thätig ist, folglich -". Ungefähr nach dem gleichen Schema
+suchte die ältere Atomistik zu der "Kraft", die wirkt, noch jenes
+Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das
+Atom; strengere Köpfe lernten endlich ohne diesen "Erdenrest"
+auskommen, und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran,
+auch seitens der Logiker ohne jenes kleine "es" (zu dem sich das
+ehrliche alte Ich verflüchtigt hat) auszukommen.
+
+
+18.
+
+An einer Theorie ist wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie
+widerlegbar ist: gerade damit zieht sie feinere Köpfe an. Es scheint,
+dass die hundertfach widerlegte Theorie vom "freien Willen" ihre
+Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt -: immer wieder kommt jemand
+und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen.
+
+
+19.
+
+Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die
+bekannteste Sache von der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen,
+der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt,
+ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass
+Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen
+eben zu thun pflegen: dass er ein Volks-Vorurtheil übernommen und
+übertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes,
+Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, - und eben im Einen Worte
+steckt das Volks-Vorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht
+der Philosophen Herr geworden ist. Seien wir also einmal vorsichtiger,
+seien wir "unphilosophisch" -, sagen wir: in jedem Wollen ist erstens
+eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem
+weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem "weg"
+und "hin" selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches,
+auch ohne dass wir "Arme und Beine" in Bewegung setzen, durch eine Art
+Gewohnheit, sobald wir "wollen", sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen
+und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist,
+so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen
+commandirenden Gedanken; - und man soll ja nicht glauben, diesen
+Gedanken von dem "Wollen" abscheiden zu können, wie als ob dann noch
+Wille übrig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von
+Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener
+Affekt des Commando's. Das, was "Freiheit des Willens" genannt wird,
+ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der
+gehorchen muss: "ich bin frei, "er" muss gehorchen" - dies Bewusstsein
+steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit,
+jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte
+Werthschätzung "jetzt thut dies und nichts Anderes Noth", jene innere
+Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum
+Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der will -, befiehlt
+einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es
+gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am Willen ist,
+- an diesem so vielfachen Dinge, für welches das Volk nur Ein Wort
+hat: insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und
+Gehorchenden sind, und als Gehorchende die Gefühle des Zwingens,
+Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche sofort nach
+dem Akte des Willens zu beginnen pflegen; insofern wir andererseits
+die Gewohnheit haben, uns über diese Zweiheit vermöge des
+synthetischen Begriffs "ich" hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen, hat
+sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen
+und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selbst
+angehängt, - dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt,
+Wollen genüge zur Aktion. Weil in den allermeisten Fällen nur gewollt
+worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also
+die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der Anschein in das
+Gefühl übersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit von Wirkung gäbe;
+genug, der Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grad von Sicherheit,
+dass Wille und Aktion irgendwie Eins seien -, er rechnet das Gelingen,
+die Ausführung des Wollens noch dem Willen selbst zu und geniesst
+dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit
+sich bringt. "Freiheit des Willens" - das ist das Wort für jenen
+vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich
+mit dem Ausführenden als Eins setzt, - der als solcher den Triumph
+über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille
+selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde. Der Wollende
+nimmt dergestalt die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen
+Werkzeuge, der dienstbaren "Unterwillen" oder Unter-Seelen - unser
+Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen - zu seinem
+Lustgefühle als Befehlender hinzu. L'effet c'est moi: es begiebt sich
+hier, was sich in jedem gut gebauten und glücklichen Gemeinwesen
+begiebt, dass die regierende Klasse sich mit den Erfolgen des
+Gemeinwesens identificirt. Bei allem Wollen handelt es sich
+schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie
+gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler "Seelen": weshalb ein Philosoph
+sich das Recht nehmen sollte, Wollen an sich schon unter den
+Gesichtskreis der Moral zu fassen: Moral nämlich als Lehre von den
+Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen "Leben"
+entsteht. -
+
+
+20.
+
+Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts
+Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu
+einander emporwachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie auch
+in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so
+gut einem Systeme angehören als die sämmtlichen Glieder der Fauna
+eines Erdtheils: das verräth sich zuletzt noch darin, wie sicher die
+verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von möglichen
+Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne
+laufen sie immer von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn: sie
+mögen sich noch so unabhängig von einander mit ihrem kritischen oder
+systematischen Willen fühlen: irgend Etwas in ihnen führt sie, irgend
+Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene
+eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken
+ist in der That viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkennen,
+Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten
+Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals
+herausgewachsen sind: - Philosophiren ist insofern eine Art von
+Atavismus höchsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ahnlichkeit alles
+indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach
+genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht
+zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik -
+ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche
+grammatische Funktionen - von vornherein Alles für eine gleichartige
+Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet
+liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung
+der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen
+Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt
+ist) werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders "in die Welt"
+blicken und auf andern Pfaden zu finden sein, als Indogermanen
+oder Muselmänner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen
+ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werthurtheile
+und Rasse-Bedingungen. - So viel zur Zurückweisung von Locke's
+Oberflächlichkeit in Bezug auf die Herkunft der Ideen.
+
+
+21.
+
+Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht
+worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der
+ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich
+tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das
+Verlangen nach "Freiheit des Willens", in jenem metaphysischen
+Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der
+Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte
+Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott,
+Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich
+nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr
+als Münchhausen'schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des
+Nichts an den Haaren in's Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt
+dergestalt hinter die bäurische Einfalt dieses berühmten Begriffs
+"freier Wille" und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn
+nunmehr, seine "Aufklärung" noch um einen Schritt weiter zu treiben
+und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs "freier Wille" aus seinem
+Kopfe zu streichen: ich meine den "unfreien Willen", der auf einen
+Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft. Man soll nicht
+"Ursache" und "Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die
+Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt
+-) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die
+Ursache drücken und stossen lässt, bis sie "Wirkt"; man soll sich der
+"Ursache", der "Wirkung" eben nur als reiner Begriffe bedienen, das
+heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der
+Verständigung, nicht der Erklärung. Im "An-sich" giebt es nichts
+von "Causal-Verbänden", von "Nothwendigkeit", von "psychologischer
+Unfreiheit", da folgt nicht "die Wirkung auf die Ursache", das regiert
+kein "Gesetz". Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander,
+das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz,
+die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese
+Zeichen-Welt als "an sich" in die Dinge hineindichten, hineinmischen,
+so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben,
+nämlich mythologisch. Der "unfreie Wille" ist Mythologie: im
+wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen.
+- Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber
+mangelt, wenn ein Denker bereits in aller "Causal-Verknüpfung" und
+"psychologischer Nothwendigkeit" etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen,
+Druck, Unfreiheit herausfühlt: es ist verrätherisch, gerade so zu
+fühlen, - die Person verräth sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht
+beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber
+immer auf eine tief persönliche Weise die "Unfreiheit des Willens"
+als Problem gefasst: die Einen wollen um keinen Preis ihre
+"Verantwortlichkeit", den Glauben an sich, das persönliche Anrecht auf
+ihr Verdienst fahren lassen (die eitlen Rassen gehören dahin -); die
+Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld sein
+und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus, sich
+selbst irgend wohin abwälzen zu können. Diese Letzteren pflegen sich,
+wenn sie Bücher schreiben, heute der Verbrecher anzunehmen; eine Art
+von socialistischem Mitleiden ist ihre gefälligste Verkleidung. Und
+in der That, der Fatalismus der Willensschwachen verschönert sich
+erstaunlich, wenn er sich als "la religion de la souffrance humaine"
+einzuführen versteht: es ist sein "guter Geschmack".
+
+
+22.
+
+Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit
+nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu
+legen - aber jene "Gesetzmässigkeit der Natur", von der ihr Physiker
+so stolz redet, wie als ob - - besteht nur Dank eurer Ausdeutung und
+schlechten "Philologie", - sie ist kein Thatbestand, kein "Text",
+vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung,
+mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam
+entgegenkommt! "Überall Gleichheit vor dem Gesetz, - die Natur
+hat es darin nicht anders und nicht besser als wir": ein artiger
+Hintergedanke, in dem noch einmal die pöbelmännische Feindschaft gegen
+alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, insgleichen ein zweiter und
+feinerer Atheismus verkleidet liegt. "Ni dieu, ni maître" - so wollt
+auch ihr's.- und darum "hoch das Naturgesetz"! - nicht wahr? Aber,
+wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es könnte
+Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und
+Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf
+die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose
+und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen
+verstünde, - ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und
+Unbedingtheit in allem "Willen zur Macht" dermaassen euch vor
+Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort "Tyrannei"
+schliesslich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde
+Metapher - als zu menschlich - erschiene; und der dennoch damit
+endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet,
+nämlich dass sie einen "nothwendigen" und "berechenbaren" Verlauf
+habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut
+die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte
+Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist - und
+ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? - nun, um so besser. -
+
+
+23.
+
+Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und
+Befürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe
+gewagt. Dieselbe als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur
+Macht zufassen, wie ich sie fasse - daran hat noch Niemand in seinen
+Gedanken selbst gestreift: sofern es nämlich erlaubt ist, in dem, was
+bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem, was bisher verschwiegen
+wurde, zu erkennen. Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in
+die geistigste, in die anscheinend kälteste und voraussetzungsloseste
+Welt gedrungen - und, wie es sich von selbst versteht, schädigend,
+hemmend, blendend, verdrehend. Eine eigentliche Physio-Psychologie hat
+mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie
+hat "das Herz" gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen
+Bedingtheit der "guten" und der "schlimmen" Triebe, macht, als feinere
+Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und
+Überdruss, - noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten
+Triebe aus den schlimmen. Gesetzt aber, Jemand nimmt gar die Affekte
+Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte,
+als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grundsätzlich und
+grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden
+muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, - der leidet an
+einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrankheit. Und
+doch ist auch diese Hypothese bei weitem nicht die peinlichste und
+fremdeste in diesem ungeheuren fast noch neuen Reiche gefährlicher
+Erkenntnisse: - und es giebt in der That hundert gute Gründe dafür,
+dass Jeder von ihm fernbleibt, der es - kann! Andrerseits: ist man
+einmal mit seinem Schiffe hierhin verschlagen, nun! wohlan! jetzt
+tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand
+fest am Steuer! - wir fahren geradewegs über die Moral weg, wir
+erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest
+Moralität, indem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen, - aber
+was liegt an uns! Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden und
+Abenteurern eine tiefere Welt der Einsicht eröffnet: und der
+Psychologe, welcher dergestalt "Opfer bringt" - es ist nicht das
+sacrifizio dell'intelletto, im Gegentheil! - wird zum Mindesten
+dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der
+Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die
+übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder
+der Weg zu den Grundproblemen.
+
+
+
+
+Zweites Hauptstück:
+
+Der freie Geist.
+
+24.
+
+O sancta simplicitas! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung
+lebt der Mensch! Man kann sich nicht zu Ende wundern, wenn man sich
+erst einmal die Augen für dies Wunder eingesetzt hat! Wie haben wir
+Alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht! wie wussten
+wir unsern Sinnen einen Freipass für alles Oberflächliche, unserm
+Denken eine göttliche Begierde nach muthwilligen Sprüngen und
+Fehlschlüssen zu geben! - wie haben wir es von Anfang an verstanden,
+uns unsre Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreifliche
+Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit,
+Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu geniessen! Und erst auf diesem
+nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit durfte sich
+bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde
+eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum
+Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern - als
+seine Verfeinerung! Mag nämlich auch die Sprache, hier wie anderwärts,
+nicht über ihre Plumpheit hinauskönnen und fortfahren, von Gegensätzen
+zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt;
+mag ebenfalls die eingefleischte Tartüfferie der Moral, welche jetzt
+zu unserm unüberwindlichen "Fleisch und Blut" gehört, uns Wissenden
+selbst die Worte im Munde umdrehen: hier und da begreifen wir es und
+lachen darüber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten
+in dieser vereinfachten, durch und durch künstlichen, zurecht
+gedichteten, zurecht gefälschten Welt festhalten will, wie sie
+unfreiwillig-willig den Irrthum liebt, weil sie, die Lebendige, - das
+Leben liebt!
+
+
+25.
+
+Nach einem so fröhlichen Eingang möchte ein ernstes Wort nicht
+überhört werden: es wendet sich an die Ernstesten. Seht euch vor,
+ihr Philosophen und Freunde der Erkenntniss, und hütet euch vor dem
+Martyrium! Vor dem Leiden "um der Wahrheit willen"! Selbst vor der
+eigenen Vertheidigung! Es verdirbt eurem Gewissen alle Unschuld und
+feine Neutralität, es macht euch halsstarrig gegen Einwände und rothe
+Tücher, es verdummt, verthiert und verstiert, wenn ihr im Kampfe mit
+Gefahr, Verlästerung, Verdächtigung, Ausstossung und noch gröberen
+Folgen der Feindschaft, zuletzt euch gar als Vertheidiger der Wahrheit
+auf Erden ausspielen müsst: - als ob "die Wahrheit" eine so harmlose
+und täppische Person wäre, dass sie Vertheidiger nöthig hätte! und
+gerade euch, ihr Ritter von der traurigsten Gestalt, meine Herren
+Eckensteher und Spinneweber des Geistes! Zuletzt wisst ihr gut genug,
+dass nichts daran liegen darf, ob gerade ihr Recht behaltet, ebenfalls
+dass bisher noch kein Philosoph Recht behalten hat, und dass eine
+preiswürdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen liegen
+dürfte, welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und
+gelegentlich hinter euch selbst) setzt, als in allen feierlichen
+Gebärden und Trümpfen vor Anklägern und Gerichtshöfen! Geht lieber bei
+Seite! Flieht in's Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass
+man euch verwechsele! Oder ein Wenig fürchte! Und vergesst mir den
+Garten nicht, den Garten mit goldenem Gitterwerk! Und habt Menschen um
+euch, die wie ein Garten sind, - oder wie Musik über Wassern, zur Zeit
+des Abends, wo der Tag schon zur Erinnerung wird: - wählt die gute
+Einsamkeit, die freie muthwillige leichte Einsamkeit, welche euch auch
+ein Recht giebt, selbst in irgend einem Sinne noch gut zu bleiben! Wie
+giftig, wie listig, wie schlecht macht jeder lange Krieg, der sich
+nicht mit offener Gewalt führen lässt! Wie persönlich macht eine
+lange Furcht, ein langes Augenmerk auf Feinde, auf mögliche Feinde!
+Diese Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten,
+Schlimm-Gehetzten, - auch die Zwangs-Einsiedler, die Spinoza's
+oder Giordano Bruno's - werden zuletzt immer, und sei es unter der
+geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie selbst es wissen,
+zu raffinirten Rachsüchtigen und Giftmischern (man grabe doch einmal
+den Grund der Ethik und Theologie Spinoza's auf!) - gar nicht
+zu reden von der Tölpelei der moralischen Entrüstung, welche an
+einem Philosophen das unfehlbare Zeichen dafür ist, dass ihm der
+philosophische Humor davon lief. Das Martyrium des Philosophen, seine
+"Aufopferung für die Wahrheit" zwingt an's Licht heraus, was vom
+Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte; und gesetzt, dass man
+ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so
+kann in Bezug auf manchen Philosophen der gefährliche Wunsch freilich
+begreiflich sein, ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn
+(entartet zum "Märtyrer", zum Bühnen- und Tribünen-Schreihals). Nur
+dass man sich, mit einem solchen Wunsche, darüber klar sein muss, was
+man jedenfalls dabei zu sehen bekommen wird: - nur ein Satyrspiel, nur
+eine Nachspiel-Farce, nur den fortwährenden Beweis dafür, dass die
+lange eigentliche Tragödie zu Ende ist: vorausgesetzt, dass jede
+Philosophie im Entstehen eine lange Tragödie war. -
+
+
+26.
+
+Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und
+Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten erlöst
+ist, wo er die Regel "Mensch" vergessen darf, als deren Ausnahme: -
+den Einen Fall ausgenommen, dass er von einem noch stärkeren Instinkte
+geradewegs auf diese Regel gestossen wird, als Erkennender im
+grossen und ausnahmsweisen Sinne. Wer nicht im Verkehr mit Menschen
+gelegentlich in allen Farben der Noth, grün und grau vor Ekel,
+Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert, der ist
+gewiss kein Mensch höheren Geschmacks; gesetzt aber, er nimmt alle
+diese Last und Unlust nicht freiwillig auf sich, er weicht ihr
+immerdar aus und bleibt, wie gesagt, still und stolz auf seiner Burg
+versteckt, nun, so ist Eins gewiss: er ist zur Erkenntniss nicht
+gemacht, nicht vorherbestimmt. Denn als solcher würde er eines Tages
+sich sagen müssen "hole der Teufel meinen guten Geschmack! aber die
+Regel ist interessanter als die Ausnahme, - als ich, die Ausnahme!"
+- und würde sich hinab begeben, vor Allem "hinein". Das Studium des
+durchschnittlichen Menschen, lang, ernsthaft, und zu diesem Zwecke
+viel Verkleidung, Selbstüberwindung, Vertraulichkeit, schlechter
+Umgang - jeder Umgang ist schlechter Umgang ausser dem mit
+Seines-Gleichen -: das macht ein nothwendiges Stück der
+Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, vielleicht das unangenehmste,
+übelriechendste, an Enttäuschungen reichste Stück. Hat er aber Glück,
+wie es einem Glückskinde der Erkenntniss geziemt, so begegnet er
+eigentlichen Abkürzern und Erleichterern seiner Aufgabe, - ich meine
+sogenannten Cynikern, also Solchen, welche das Thier, die Gemeinheit,
+die "Regel" an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von
+Geistigkeit und Kitzel haben, um über sich und ihres Gleichen vor
+Zeugen reden zu müssen: - mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern
+wie auf ihrem eignen Miste. Cynismus ist die einzige Form, in welcher
+gemeine Seelen an Das streifen, was Redlichkeit ist; und der höhere
+Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Cynismus die Ohren
+aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen, wenn gerade vor ihm
+der Possenreisser ohne Scham oder der wissenschaftliche Satyr laut
+werden. Es giebt sogar Fälle, wo zum Ekel sich die Bezauberung mischt:
+da nämlich, wo an einen solchen indiskreten Bock und Affen, durch eine
+Laune der Natur, das Genie gebunden ist, wie bei dem Abbé Galiani, dem
+tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen
+seines Jahrhunderts - er war viel tiefer als Voltaire und folglich
+auch ein gut Theil schweigsamer. Häufiger schon geschieht es, dass,
+wie angedeutet, der wissenschaftliche Kopf auf einen Affenleib, ein
+feiner Ausnahme-Verstand auf eine gemeine Seele gesetzt ist, - unter
+Ärzten und Moral-Physiologen namentlich kein seltenes Vorkommniss. Und
+wo nur Einer ohne Erbitterung, vielmehr harmlos vom Menschen redet als
+von einem Bauche mit zweierlei Bedürfnissen und einem Kopfe mit Einem;
+überall wo Jemand immer nur Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit
+sieht, sucht und sehn will, als seien es die eigentlichen und einzigen
+Triebfedern der menschlichen Handlungen; kurz, wo man "schlecht" vom
+Menschen redet - und nicht einmal schlimm -, da soll der Liebhaber
+der Erkenntniss fein und fleissig hinhorchen, er soll seine Ohren
+überhaupt dort haben, wo ohne Entrüstung geredet wird. Denn der
+entrüstete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Zähnen sich selbst
+(oder, zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft)
+zerreisst und zerfleischt, mag zwar moralisch gerechnet, höher stehn
+als der lachende und selbstzufriedene Satyr, in jedem anderen Sinne
+aber ist er der gewöhnlichere, gleichgültigere, unbelehrendere Fall.
+Und Niemand lügt soviel als der Entrüstete. -
+
+
+27.
+
+Es ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati
+denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben,
+nämlich kurmagati oder besten Falles "nach der Gangart des Frosches"
+mandeikagati - ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu
+werden? - und man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit
+der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber "die guten
+Freunde" anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als
+Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so thut
+man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des
+Missverständnisses zuzugestehn: - so hat man noch, zu lachen; - oder
+sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, - und auch zu lachen!
+
+
+28.
+
+Was sich am schlechtesten aus einer Sprache in die andere übersetzen
+lässt, ist das tempo ihres Stils: als welcher im Charakter der Rasse
+seinen Grund hat, physiologischer gesprochen, im Durchschnitts-tempo
+ihres "Stoffwechsels". Es giebt ehrlich gemeinte Übersetzungen, die
+beinahe Fälschungen sind, als unfreiwillige Vergemeinerungen des
+Originals, bloss weil sein tapferes und lustiges tempo nicht mit
+übersetzt werden konnte, welches über alles Gefährliche in Dingen und
+Worten wegspringt, weghilft. Der Deutsche ist beinahe des Presto in
+seiner Sprache unfähig: also, wie man billig schliessen darf, auch
+vieler der ergötzlichsten und verwegensten Nuances des freien,
+freigeisterischen Gedankens. So gut ihm der Buffo und der Satyr fremd
+ist, in Leib und Gewissen, so gut ist ihm Aristophanes und Petronius
+unübersetzbar. Alles Gravitätische, Schwerflüssige, Feierlich-Plumpe,
+alle langwierigen und langweiligen Gattungen des Stils sind bei den
+Deutschen in überreicher Mannichfaltigkeit entwickelt, - man vergebe
+mir die Thatsache, dass selbst Goethe's Prosa, in ihrer Mischung von
+Steifheit und Zierlichkeit, keine Ausnahme macht, als ein Spiegelbild
+der "alten guten Zeit", zu der sie gehört, und als Ausdruck des
+deutschen Geschmacks, zur Zeit, wo es noch einen "deutschen Geschmack"
+gab: der ein Rokoko-Geschmack war, in moribus et artibus. Lessing
+macht eine Ausnahme, Dank seiner Schauspieler-Natur, die Vieles
+verstand und sich auf Vieles verstand: er, der nicht umsonst der
+Übersetzer Bayle's war und sich gerne in die Nähe Diderot's und
+Voltaire's, noch lieber unter die römischen Lustspieldichter
+flüchtete: - Lessing liebte auch im tempo die Freigeisterei, die
+Flucht aus Deutschland. Aber wie vermöchte die deutsche Sprache, und
+sei es selbst in der Prosa eines Lessing, das tempo Macchiavell's
+nachzuahmen, der, in seinem principe, die trockne feine Luft von
+Florenz athmen lässt und nicht umhin kann, die ernsteste Angelegenheit
+in einem unbändigen Allegrissimo vorzutragen: vielleicht nicht ohne
+ein boshaftes Artisten-Gefühl davon, welchen Gegensatz er wagt, -
+Gedanken, lang, schwer, hart, gefährlich, und ein tempo des Galopps
+und der allerbesten muthwilligsten Laune. Wer endlich dürfte gar eine
+deutsche Übersetzung des Petronius wagen, der, mehr als irgend ein
+grosser Musiker bisher, der Meister des presto gewesen ist, in
+Erfindungen, Einfällen, Worten: - was liegt zuletzt an allen Sümpfen
+der kranken, schlimmen Welt, auch der "alten Welt", wenn man, wie er,
+die Füsse eines Windes hat, den Zug und Athem, den befreienden Hohn
+eines Windes, der Alles gesund macht, indem er Alles laufen macht! Und
+was Aristophanes angeht, jenen verklärenden, complementären Geist, um
+dessentwillen man dem ganzen Griechenthum verzeiht, dass es da war,
+gesetzt, dass man in aller Tiefe begriffen hat, was da Alles der
+Verzeihung, der Verklärung bedarf: - so wüsste ich nichts, was mich
+über Plato's Verborgenheit und Sphinx-Natur mehr hat träumen lassen
+als jenes glücklich erhaltene petit falt: dass man unter dem
+Kopfkissen seines Sterbelagers keine "Bibel" vorfand, nichts
+Ägyptisches, Pythagoreisches, Platonisches, - sondern den
+Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben ausgehalten - ein
+griechisches Leben, zu dem er Nein sagte, - ohne einen Aristophanes! -
+
+
+29.
+
+Es ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein: - es ist ein
+Vorrecht der Starken. Und wer es versucht, auch mit dem besten Rechte
+dazu, aber ohne es zu müssen, beweist damit, dass er wahrscheinlich
+nicht nur stark, sondern bis zur Ausgelassenheit verwegen ist. Er
+begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren,
+welche das Leben an sich schon mit sich bringt; von denen es nicht die
+kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt,
+vereinsamt und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des
+Gewissens zerrissen wird. Gesetzt, ein Solcher geht zu Grunde, so
+geschieht es so ferne vom Verständniss der Menschen, dass sie es nicht
+fühlen und mitfühlen: - und er kann nicht mehr zurück! er kann auch
+zum Mitleiden der Menschen nicht mehr zurück! - -
+
+
+30.
+
+Unsre höchsten Einsichten müssen - und sollen! - wie Thorheiten, unter
+Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu
+Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind. Das
+Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen
+unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselmännern,
+kurz überall, wo man eine Rangordnung und nicht an Gleichheit und
+gleiche Rechte glaubte, - das hebt sich nicht sowohl dadurch von
+einander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen
+her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst, urtheilt: das
+Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge sieht, - der
+Esoteriker aber von Oben herab! Es giebt Höhen der Seele, von wo aus
+gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken; und, alles
+Weh der Welt in Eins genommen, wer dürfte zu entscheiden wagen, ob
+sein Anblick nothwendig gerade zum Mitleiden und dergestalt zur
+Verdoppelung des Wehs verführen und zwingen werde?... Was der höheren
+Art von Menschen zur Nahrung oder zur Labsal dient, muss einer sehr
+unterschiedlichen und geringeren Art beinahe Gift sein. Die Tugenden
+des gemeinen Manns würden vielleicht an einem Philosophen Laster und
+Schwächen bedeuten; es wäre möglich, dass ein hochgearteter Mensch,
+gesetzt, dass er entartete und zu Grunde gienge, erst dadurch in den
+Besitz von Eigenschaften käme, derentwegen man nöthig hätte, ihn in
+der niederen Welt, in welche er hinab sank, nunmehr wie einen Heiligen
+zu verehren. Es giebt Bücher, welche für Seele und Gesundheit einen
+umgekehrten Werth haben, je nachdem die niedere Seele, die niedrigere
+Lebenskraft oder aber die höhere und gewaltigere sich ihrer bedienen:
+im ersten Falle sind es gefährliche, anbröckelnde, auflösende Bücher,
+im anderen Heroldsrufe, welche die Tapfersten zu ihrer Tapferkeit
+herausfordern. Allerwelts-Bücher sind immer übelriechende Bücher: der
+Kleine-Leute-Geruch klebt daran. Wo das Volk isst und trinkt, selbst
+wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen
+gehn, wenn man reine Luft athmen will. - -
+
+
+31.
+
+Man verehrt und verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der
+Nuance, welche den besten Gewinn des Lebens ausmacht, und muss es
+billigerweise hart büssen, solchergestalt Menschen und Dinge mit Ja
+und Nein überfallen zu haben. Es ist Alles darauf eingerichtet, dass
+der schlechteste aller Geschmäcker, der Geschmack für das Unbedingte
+grausam genarrt und gemissbraucht werde, bis der Mensch lernt, etwas
+Kunst in seine Gefühle zu legen und lieber noch mit dem Künstlichen
+den Versuch zu wagen: wie es die rechten Artisten des Lebens thun. Das
+Zornige und Ehrfürchtige, das der Jugend eignet, scheint sich keine
+Ruhe zu geben, bevor es nicht Menschen und Dinge so zurecht gefälscht
+hat, dass es sich an ihnen auslassen kann: - Jugend ist an sich schon
+etwas Fälschendes und Betrügerisches. Später, wenn die junge Seele,
+durch lauter Enttäuschungen gemartert, sich endlich argwöhnisch
+gegen sich selbst zurück wendet, immer noch heiss und wild, auch in
+ihrem Argwohne und Gewissensbisse: wie zürnt sie sich nunmehr, wie
+zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange
+Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen
+sei! In diesem Übergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen
+gegen sein Gefühl; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel,
+ja man fühlt schon das gute Gewissen als eine Gefahr, gleichsam als
+Selbst-Verschleierung und Ermüdung der feineren Redlichkeit; und vor
+Allem, man nimmt Partei, grundsätzlich Partei gegen "die Jugend". -
+Ein Jahrzehend später: und man begreift, dass auch dies Alles noch -
+Jugend war!
+
+
+32.
+
+Die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch - man nennt
+sie die prähistorische Zeit - wurde der Werth oder der Unwerth einer
+Handlung aus ihren Folgen abgeleitet: die Handlung an sich kam dabei
+ebensowenig als ihre Herkunft in Betracht, sondern ungefähr so, wie
+heute noch in China eine Auszeichnung oder Schande vom Kinde auf die
+Eltern zurückgreift, so war es die rückwirkende Kraft des Erfolgs oder
+Misserfolgs, welche den Menschen anleitete, gut oder schlecht von
+einer Handlung zu denken. Nennen wir diese Periode die vormoralische
+Periode der Menschheit: der Imperativ "erkenne dich selbst!" war
+damals noch unbekannt. In den letzten zehn Jahrtausenden ist man
+hingegen auf einigen grossen Flächen der Erde Schritt für Schritt
+so weit gekommen, nicht mehr die Folgen, sondern die Herkunft der
+Handlung über ihren Werth entscheiden zu lassen: ein grosses Ereigniss
+als Ganzes, eine erhebliche Verfeinerung des Blicks und Maassstabs,
+die unbewusste Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werthe
+und des Glaubens an "Herkunft", das Abzeichen einer Periode, welche
+man im engeren Sinne als die moralische bezeichnen darf: der erste
+Versuch zur Selbst-Erkenntniss ist damit gemacht. Statt der Folgen die
+Herkunft: welche Umkehrung der Perspektive! Und sicherlich eine erst
+nach langen Kämpfen und Schwankungen erreichte Umkehrung! Freilich:
+ein verhängnissvoller neuer Aberglaube, eine eigenthümliche Engigkeit
+der Interpretation kam eben damit zur Herrschaft: man interpretirte
+die Herkunft einer Handlung im allerbestimmtesten Sinne als Herkunft
+aus einer Absicht; man wurde Eins im Glauben daran, dass der Werth
+einer Handlung im Werthe ihrer Absicht belegen sei. Die Absicht als
+die ganze Herkunft und Vorgeschichte einer Handlung: unter diesem
+Vorurtheile ist fast bis auf die neueste Zeit auf Erden moralisch
+gelobt, getadelt, gerichtet, auch philosophirt worden. - Sollten wir
+aber heute nicht bei der Nothwendigkeit angelangt sein, uns nochmals
+über eine Umkehrung und Grundverschiebung der Werthe schlüssig zu
+machen, Dank einer nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des
+Menschen, - sollten wir nicht an der Schwelle einer Periode stehen,
+welche, negativ, zunächst als die aussermoralische zu, bezeichnen
+wäre: heute, wo wenigstens unter uns Immoralisten der Verdacht sich
+regt, dass gerade in dem, was nicht-absichtlich an einer Handlung
+ist, ihr entscheidender Werth belegen sei, und dass alle ihre
+Absichtlichkeit, Alles, was von ihr gesehn, gewusst, "bewusst" werden
+kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, - welche, wie jede
+Haut, Etwas verräth, aber noch mehr verbirgt? Kurz, wir glauben, dass
+die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung
+bedarf, dazu ein Zeichen, das zu Vielerlei und folglich für sich
+allein fast nichts bedeutet, - dass Moral, im bisherigen Sinne, also
+Absichten-Moral ein Vorurtheil gewesen ist, eine Voreiligkeit, eine
+Vorläufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der Astrologie und
+Alchymie, aber jedenfalls Etwas, das überwunden werden muss. Die
+Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die
+Selbstüberwindung der Moral: mag das der Name für jene lange
+geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den
+boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probirsteinen der
+Seele, vorbehalten blieb. -
+
+
+33.
+
+Es hilft nichts: man muss die Gefühle der Hingebung, der Aufopferung
+für den Nächsten, die ganze Selbstentäusserungs-Moral erbarmungslos
+zur Rede stellen und vor Gericht führen: ebenso wie die Ästhetik der
+"interesselosen Anschauung", unter welcher sich die Entmännlichung der
+Kunst verführerisch genug heute ein gutes Gewissen zu schaffen sucht.
+Es ist viel zu viel Zauber und Zucker in jenen Gefühlen des "für
+Andere", des "nicht für mich", als dass man nicht nöthig hätte,
+hier doppelt misstrauisch zu werden und zu fragen: "sind es nicht
+vielleicht - Verführungen?" - Dass sie gefallen - Dem, der sie hat,
+und Dem, der ihre Früchte geniesst, auch dem blossen Zuschauer, -
+dies giebt noch kein Argument für sie ab, sondern fordert gerade zur
+Vorsicht auf. Seien wir also vorsichtig!
+
+
+34.
+
+Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen
+mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in
+der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser
+Auge noch habhaft werden kann: - wir finden Gründe über Gründe dafür,
+die uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im "Wesen
+der Dinge" verlocken möchten. Wer aber unser Denken selbst, also
+"den Geist" für die Falschheit der Welt verantwortlich macht - ein
+ehrenhafter Ausweg, den jeder bewusste oder unbewusste advocatus dei
+geht -: wer diese Welt, sammt Raum, Zeit, Gestalt, Bewegung, als
+falsch erschlossen nimmt: ein Solcher hätte mindestens guten Anlass,
+gegen alles Denken selbst endlich Misstrauen zu lernen: hätte es
+uns nicht bisher den allergrössten Schabernack gespielt? und welche
+Bürgschaft dafür gäbe es, dass es nicht fortführe, zu thun, was es
+immer gethan hat? In allem Ernste: die Unschuld der Denker hat etwas
+Rührendes und Ehrfurcht Einflössendes, welche ihnen erlaubt, sich auch
+heute noch vor das Bewusstsein hinzustellen, mit der Bitte, dass es
+ihnen ehrliche Antworten gebe: zum Beispiel ob es "real" sei, und
+warum es eigentlich die äussere Welt sich so entschlossen vom
+Halse halte, und was dergleichen Fragen mehr sind. Der Glaube an
+"unmittelbare Gewissheiten" ist eine moralische Naivetät, welche
+uns Philosophen Ehre macht: aber - wir sollen nun einmal nicht "nur
+moralische" Menschen sein! Von der Moral abgesehn, ist jener Glaube
+eine Dummheit, die uns wenig Ehre macht! Mag im bürgerlichen Leben das
+allzeit bereite Misstrauen als Zeichen des "schlechten Charakters"
+gelten und folglich unter die Unklugheiten gehören: hier unter uns,
+jenseits der bürgerlichen Welt und ihres Ja's und Nein's, - was sollte
+uns hindern, unklug zu sein und zu sagen: der Philosoph hat nachgerade
+ein Recht auf "schlechten Charakter", als das Wesen, welches bisher
+auf Erden immer am besten genarrt worden ist, - er hat heute die
+Pflicht zum Misstrauen, zum boshaftesten Schielen aus jedem Abgrunde
+des Verdachts heraus. - Man vergebe mir den Scherz dieser düsteren
+Fratze und Wendung: denn ich selbst gerade habe längst über Betrügen
+und Betrogenwerden anders denken, anders schätzen gelernt und halte
+mindestens ein paar Rippenstösse für die blinde Wuth bereit, mit der
+die Philosophen sich dagegen sträuben, betrogen zu werden. Warum
+nicht? Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit
+mehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene
+Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein:
+es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer
+Schätzungen und Scheinbarkeiten; und wollte man, mit der tugendhaften
+Begeisterung und Tölpelei mancher Philosophen, die "scheinbare
+Welt" ganz abschlaffen, nun, gesetzt, ihr könntet das, - so bliebe
+mindestens dabei auch von eurer "Wahrheit" nichts mehr übrig! Ja,
+was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften
+Gegensatz von "wahr" und "falsch" giebt? Genügt es nicht, Stufen der
+Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten
+und Gesammttöne des Scheins, - verschiedene valeurs, um die Sprache
+der Maler zu reden? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht -,
+nicht eine Fiktion sein? Und wer da fragt: "aber zur Fiktion gehört
+ein Urheber?" - dürfte dem nicht rund geantwortet werden: Warum?
+Gehört dieses "Gehört" nicht vielleicht mit zur Fiktion? Ist es
+denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt,
+nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht
+über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle Achtung vor den
+Gouvernanten: aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem
+Gouvernanten-Glauben absagte? -
+
+
+35.
+
+Oh Voltaire! Oh Humanität! Oh Blödsinn! Mit der "Wahrheit", mit dem
+Suchen der Wahrheit hat es etwas auf sich; und wenn der Mensch es
+dabei gar zu menschlich treibt - "il ne cherche le vrai que pour faire
+le bien" - ich wette, er findet nichts!
+
+
+36.
+
+Gesetzt, dass nichts Anderes als real "gegeben" ist als unsre Welt der
+Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen "Realität"
+hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe - denn
+Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander -: ist es
+nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies
+Gegeben nicht ausreicht, um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte
+mechanistische (oder "materielle") Welt zu verstehen? Ich meine
+nicht als eine Täuschung, einen "Schein", eine "Vorstellung" (im
+Berkeley'schen und Schopenhauerischen Sinne), sondern als vom
+gleichen Realitäts-Range, welchen unser Affekt selbst hat, - als eine
+primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger
+Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozesse
+abzweigt und ausgestaltet (auch, wie billig, verzärtelt und abschwächt
+-), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche organische
+Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung,
+Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind,
+- als eine Vorform des Lebens? - Zuletzt ist es nicht nur erlaubt,
+diesen Versuch zu machen: es ist, vom Gewissen der Methode aus,
+geboten. Nicht mehrere Arten von Causalität annehmen, so lange nicht
+der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste
+Grenze getrieben ist (- bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen): das ist
+eine Moral der Methode, der man sich heute nicht entziehen darf; - es
+folgt "aus ihrer Definition", wie ein Mathematiker sagen würde. Die
+Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen,
+ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das - und im
+Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an Causalität selbst -,
+so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch
+als die einzige zu setzen. "Wille" kann natürlich nur auf "Wille"
+wirken - und nicht auf "Stoffe" (nicht auf "Nerven" zum Beispiel -):
+genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo "Wirkungen"
+anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt - und ob nicht alles
+mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben
+Willenskraft, Willens-Wirkung ist. - Gesetzt endlich, dass es gelänge,
+unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer
+Grundform des Willens zu erklären - nämlich des Willens zur Macht, wie
+es in ein Satz ist -; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen
+auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die
+Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es ist Ein Problem -
+fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende
+Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen
+gesehen, die Welt auf ihren "intelligiblen Charakter" hin bestimmt und
+bezeichnet - sie wäre eben "Wille zur Macht" und nichts ausserdem. -
+
+
+37.
+
+"Wie? Heisst das nicht, populär geredet: Gott ist widerlegt, der
+Teufel aber nicht -?" Im Gegentheil! Im Gegentheil, meine Freunde!
+Und, zum Teufel auch, wer zwingt euch, populär zu reden! -
+
+
+38.
+
+Wie es zuletzt noch, in aller Helligkeit der neueren Zeiten, mit der
+französischen Revolution gegangen ist, jener schauerlichen und, aus
+der Nähe beurtheilt, überflüssigen Posse, in welche aber die edlen und
+schwärmerischen Zuschauer von ganz Europa aus der Ferne her so lange
+und so leidenschaftlich ihre eignen Empörungen und Begeisterungen
+hinein interpretirt haben, bis der Text unter der Interpretation
+verschwand: so könnte eine edle Nachwelt noch einmal die ganze
+Vergangenheit missverstehen und dadurch vielleicht erst ihren Anblick
+erträglich machen. - Oder vielmehr: ist dies nicht bereits geschehen?
+waren wir nicht selbst - diese "edle Nachwelt"? Und ist es nicht
+gerade jetzt, insofern wir dies begreifen, - damit vorbei?
+
+
+39.
+
+Niemand wird so leicht eine Lehre, bloss weil sie glücklich macht,
+oder tugendhaft macht, deshalb für wahr halten: die lieblichen
+"Idealisten" etwa ausgenommen, welche für das Gute, Wahre, Schöne
+schwärmen und in ihrem Teiche alle Arten von bunten plumpen und
+gutmüthigen Wünschbarkeiten durcheinander schwimmen lassen. Glück
+und Tugend sind keine Argumente. Man vergisst aber gerne, auch auf
+Seiten besonnener Geister, dass Unglücklich-machen und Böse-machen
+ebensowenig Gegenargumente sind. Etwas dürfte wahr sein: ob es gleich
+im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre; ja es könnte selbst
+zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner
+völligen Erkenntniss zu Grunde gienge, - so dass sich die Stärke eines
+Geistes darnach bemässe, wie viel er von der "Wahrheit" gerade noch
+aushielte, deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdünnt, verhüllt,
+versüsst, verdumpft, verfälscht nöthig hätte. Aber keinem Zweifel
+unterliegt es, dass für die Entdeckung gewisser Theile der Wahrheit
+die Bösen und Unglücklichen begünstigter sind und eine grössere
+Wahrscheinlichkeit des Gelingens haben; nicht zu reden von den
+Bösen, die glücklich sind, - eine Species, welche von den Moralisten
+verschwiegen wird. Vielleicht, dass Härte und List günstigere
+Bedingungen zur Entstehung des starken, unabhängigen Geistes und
+Philosophen abgeben, als jene sanfte feine nachgebende Gutartigkeit
+und Kunst des Leicht-nehmens, welche man an einem Gelehrten schätzt
+und mit Recht schätzt. Vorausgesetzt, was voran steht, dass man den
+Begriff "Philosoph" nicht auf den Philosophen einengt, der Bücher
+schreibt - oder gar seine Philosophie in Bücher bringt! - Einen
+letzten Zug zum Bilde des freigeisterischen Philosophen bringt
+Stendhal bei, den ich um des deutschen Geschmacks willen nicht
+unterlassen will zu unterstreichen: - denn er geht wider den deutschen
+Geschmack. "Pour être bon philosophe", sagt dieser letzte grosse
+Psycholog, "il faut être sec, clair, sans illusion. Un banquier,
+qui a fait fortune, a une partie du caractère requis pour faire des
+découvertes en philosophie, c'est-'á-dire pour voir clair dans ce qui
+est."
+
+
+40.
+
+Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben
+sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss. Sollte nicht erst der
+Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes
+einhergienge? Eine fragwürdige Frage: es wäre wunderlich, wenn nicht
+irgend ein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte. Es giebt
+Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine Grobheit zu
+verschütten und unkenntlich zu machen; es giebt Handlungen der Liebe
+und einer ausschweifenden Grossmuth, hinter denen nichts räthlicher
+ist, als einen Stock zu nehmen und den Augenzeugen durchzuprügeln:
+damit trübt man dessen Gedächtniss. Mancher versteht sich darauf,
+das eigne Gedächtniss zu trüben und zu misshandeln, um wenigstens
+an diesem einzigen Mitwisser seine Rache zu haben: - die Scham ist
+erfinderisch. Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am
+schlimmsten schämt: es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske, -
+es giebt so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein
+Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob
+und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durch's
+Leben rollte: die Feinheit seiner Scham will es so. Einem Menschen,
+der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten
+Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je gelangen, und um deren
+Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen:
+seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine wieder
+eroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt
+das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich
+ist in der Ausflucht vor Mittheilung, will es und fördert es, dass
+eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner
+Freunde herum wandelt; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm
+eines Tages die Augen darüber aufgehn, dass es trotzdem dort eine
+Maske von ihm giebt, - und dass es gut so ist. Jeder tiefe Geist
+braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst
+fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen
+Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er
+giebt. -
+
+
+41.
+
+Man muss sich selbst seine Proben geben, dafür dass man zur
+Unabhängigkeit und zum Befehlen bestimmt ist; und dies zur rechten
+Zeit. Man soll seinen Proben nicht aus dem Wege gehn, obgleich sie
+vielleicht das gefährlichste Spiel sind, das man spielen kann, und
+zuletzt nur Proben, die vor uns selber als Zeugen und vor keinem
+anderen Richter abgelegt werden. Nicht an einer Person hängen bleiben:
+und sei sie die geliebteste, - jede Person ist ein Gefängniss, auch
+ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben: und sei es das
+leidendste und hülfbedürftigste, - es ist schon weniger schwer, sein
+Herz von einem siegreichen Vaterlande los zu binden. Nicht an einem
+Mitleiden hängen bleiben: und gälte es höheren Menschen, in deren
+seltne Marter und Hülflosigkeit uns ein Zufall hat blicken lassen.
+Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben: und locke sie Einen mit
+den kostbarsten, anscheinend gerade uns aufgesparten Funden. Nicht an
+seiner eignen Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und
+Fremde des Vogels, der immer weiter in die Höhe flieht, um immer mehr
+unter sich zu sehn: - die Gefahr des Fliegenden. Nicht an unsern
+eignen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer irgend einer
+Einzelheit an uns werden, zum Beispiel unsrer "Gastfreundschaft": wie
+es die Gefahr der Gefahren bei hochgearteten und reichen Seelen ist,
+welche verschwenderisch, fast gleichgültig mit sich selbst umgehn und
+die Tugend der Liberalität bis zum Laster treiben. Man muss wissen,
+sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.
+
+
+42.
+
+Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es, sie auf
+einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errathe,
+so wie sie sich errathen lassen - denn es gehört zu ihrer Art, irgend
+worin Räthsel bleiben zu wollen -, möchten diese Philosophen der
+Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als
+Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein
+Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.
+
+
+43.
+
+Sind es neue Freunde der "Wahrheit", diese kommenden Philosophen?
+Wahrscheinlich genug: denn alle Philosophen liebten bisher ihre
+Wahrheiten. Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muss
+ihnen wider den Stolz gehn, auch wider den Geschmack, wenn ihre
+Wahrheit gar noch eine Wahrheit für Jedermann sein soll: was bisher
+der geheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war.
+"Mein Urtheil ist mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer
+das Recht" - sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft. Man muss
+den schlechten Geschmack von sich abthun, mit Vielen übereinstimmen
+zu wollen. "Gut" ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den
+Mund nimmt. Und wie könnte es gar ein "Gemeingut" geben! Das Wort
+widerspricht sich selbst: was gemein sein kann, hat immer nur wenig
+Werth. Zuletzt muss es so stehn, wie es steht und immer stand: die
+grossen Dinge bleiben für die Grossen übrig, die Abgründe für die
+Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im Ganzen und
+Kurzen, alles Seltene für die Seltenen. -
+
+
+44.
+
+Brauche ich nach alledem noch eigens zu sagen, dass auch sie freie,
+sehr freie Geister sein werden, diese Philosophen der Zukunft, - so
+gewiss sie auch nicht bloss freie Geister sein werden, sondern etwas
+Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes, das nicht verkannt
+und verwechselt werden will? Aber, indem ich dies sage, fühle ich fast
+ebenso sehr gegen sie selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und
+Vorläufer sind, wir freien Geister! - die Schuldigkeit, ein altes
+dummes Vorurtheil und Missverständniss von uns gemeinsam fortzublasen,
+welches allzulange wie ein Nebel den Begriff "freier Geist"
+undurchsichtig gemacht hat. In allen Ländern Europa's und ebenso in
+Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch mit diesem Namen treibt,
+eine sehr enge, eingefangne, an Ketten gelegte Art von Geistern,
+welche ungefähr das Gegentheil von dem wollen, was in unsern Absichten
+und Instinkten liegt, - nicht zu reden davon, dass sie in Hinsicht auf
+jene heraufkommenden neuen Philosophen erst recht zugemachte Fenster
+und verriegelte Thüren sein müssen. Sie gehören, kurz und schlimm,
+unter die Nivellirer, diese fälschlich genannten "freien Geister" -
+als beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks
+und seiner "modernen Ideen": allesammt Menschen ohne Einsamkeit, ohne
+eigne Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Muth noch
+achtbare Sitte abgesprochen werden soll, nur dass sie eben unfrei und
+zum Lachen oberflächlich sind, vor Allem mit ihrem Grundhange, in den
+Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefähr die Ursache für
+alles menschliche Elend und Missrathen zu sehn: wobei die Wahrheit
+glücklich auf den Kopf zu stehn kommt! Was sie mit allen Kräften
+erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde,
+mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens
+für Jedermann; ihre beiden am reichlichsten abgesungnen Lieder und
+Lehren heissen "Gleichheit der Rechte" und "Mitgefühl für alles
+Leidende", - und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen,
+das man abschaffen muss. Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein
+Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze
+"Mensch" am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass
+dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass
+dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst in's Ungeheure wachsen, seine
+Erfindungs- und Verstellungskraft (sein "Geist" -) unter langem Druck
+und Zwang sich in's Feine und Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille
+bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden musste: - wir
+vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse
+und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei
+jeder Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und
+Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species "Mensch"
+dient, als sein Gegensatz: - wir sagen sogar nicht einmal genug,
+wenn wir nur so viel sagen, und befinden uns jedenfalls, mit unserm
+Reden und Schweigen an dieser Stelle, am andern Ende aller modernen
+Ideologie und Heerden-Wünschbarkeit: als deren Antipoden vielleicht?
+Was Wunder, dass wir "freien Geister" nicht gerade die mittheilsamsten
+Geister sind? dass wir nicht in jedem Betrachte zu verrathen wünschen,
+wovon ein Geist sich frei machen kann und wohin er dann vielleicht
+getrieben wird? Und was es mit der gefährlichen Formel "jenseits
+von Gut und Böse" auf sich hat, mit der wir uns zum Mindesten vor
+Verwechslung behüten: wir sind etwas Anderes als "libres-penseurs",
+"liberi pensatori", "Freidenker" und wie alle diese braven Fürsprecher
+der "modernen Ideen" sich zu benennen lieben. In vielen Ländern des
+Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen; den dumpfen angenehmen
+Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhass,
+Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die
+Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen; voller Bosheit gegen
+die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren, oder Geld, oder
+Ämtern, oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dankbar sogar
+gegen Noth und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend
+einer Regel und ihrem "Vorurtheil" losmachte, dankbar gegen Gott,
+Teufel, Schlaf und Wurm in uns, neugierig bis zum Laster, Forscher
+bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern für Unfassbares, mit
+Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste, bereit zu jedem Handwerk,
+das Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagniss,
+Dank einem Überschusse von "freiem Willen", mit Vorder- und
+Hinterseelen, denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit
+Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuss zu Ende laufen dürfte,
+Verborgene unter den Mänteln des Lichts, Erobernde, ob wir gleich
+Erben und Verschwendern gleich sehn, Ordner und Sammler von früh
+bis Abend, Geizhälse unsres Reichthums und unsrer vollgestopften
+Schubfächer, haushälterisch im Lernen und Vergessen, erfinderisch in
+Schematen, mitunter stolz auf Kategorien-Tafeln, mitunter Pedanten,
+mitunter Nachteulen der Arbeit auch am hellen Tage; ja, wenn es noth
+thut, selbst Vogelscheuchen - und heute thut es noth: nämlich insofern
+wir die geborenen geschworenen eifersüchtigen Freunde der Einsamkeit
+sind, unsrer eignen tiefsten mitternächtlichsten mittäglichsten
+Einsamkeit: - eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister!
+und vielleicht seid auch ihr etwas davon, ihr Kommenden? ihr neuen
+Philosophen? -
+
+
+
+
+Drittes Hauptstück:
+
+Das religiöse Wesen.
+
+45.
+
+Die menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher überhaupt erreichte
+Umfang menschlicher innerer Erfahrungen, die Höhen, Tiefen und Fernen
+dieser Erfahrungen, die ganze bisherige Geschichte der Seele und ihre
+noch unausgetrunkenen Möglichkeiten: das ist für einen geborenen
+Psychologen und Freund der "grossen Jagd" das vorbestimmte
+Jagdbereich. Aber wie oft muss er sich verzweifelt sagen: "ein
+Einzelner! ach, nur ein Einzelner! und dieser grosse Wald und Urwald!"
+Und so wünscht er sich einige hundert Jagdgehülfen und feine gelehrte
+Spürhunde, welche er in die Geschichte der menschlichen Seele treiben
+könnte, um dort sein Wild zusammenzutreiben. Umsonst: er erprobt es
+immer wieder, gründlich und bitterlich, wie schlecht zu allen Dingen,
+die gerade seine Neugierde reizen, Gehülfen und Hunde zu finden
+sind. Der Übelstand, den es hat, Gelehrte auf neue und gefährliche
+Jagdbereiche auszuschicken, wo Muth, Klugheit, Feinheit in jedem Sinne
+noth thun, liegt darin, dass sie gerade dort nicht mehr brauchbar
+sind, wo die "grosse Jagd", aber auch die grosse Gefahr beginnt: -
+gerade dort verlieren sie ihr Spürauge und ihre Spürnase. Um zum
+Beispiel zu errathen und festzustellen, was für eine Geschichte bisher
+das Problem von Wissen und Gewissen in der Seele der homines religiosi
+gehabt hat, dazu müsste Einer vielleicht selbst so tief, so verwundet,
+so ungeheuer sein, wie es das intellektuelle Gewissen Pascal's war:
+und dann bedürfte es immer noch jenes ausgespannten Himmels von
+heller, boshafter Geistigkeit, welcher von Oben herab dies Gewimmel
+von gefährlichen und schmerzlichen Erlebnissen zu übersehn, zu ordnen,
+in Formeln zu zwingen vermöchte. - Aber wer thäte mir diesen Dienst!
+Aber wer hätte Zeit, auf solche Diener zu warten! - sie wachsen
+ersichtlich zu selten, sie sind zu allen Zeiten so unwahrscheinlich!
+Zuletzt muss man Alles selber thun, um selber Einiges zu wissen: das
+heisst, man hat viel zu thun! - Aber eine Neugierde meiner Art bleibt
+nun einmal das angenehmste aller Laster, - Verzeihung! ich wollte
+sagen: die Liebe zur Wahrheit hat ihren Lohn im Himmel und schon auf
+Erden. -
+
+
+46.
+
+Der Glaube, wie ihn das erste Christenthum verlangt und nicht selten
+erreicht hat, inmitten einer skeptischen und südlich-freigeisterischen
+Welt, die einen Jahrhunderte langen Kampf von Philosophenschulen
+hinter sich und in sich hatte, hinzugerechnet die Erziehung zur
+Toleranz, welche das imperium Romanum gab, - dieser Glaube ist nicht
+jener treuherzige und bärbeissige Unterthanen-Glaube, mit dem etwa ein
+Luther oder ein Cromwell oder sonst ein nordischer Barbar des Geistes
+an ihrem Gotte und Christenthum gehangen haben; viel eher scholl
+jener Glaube Pascal's, der auf schreckliche Weise einem dauernden
+Selbstmorde der Vernunft ähnlich sieht, - einer zähen langlebigen
+wurmhaften Vernunft, die nicht mit Einem Male und Einem Streiche
+todtzumachen ist. Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung:
+Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit
+des Geistes; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung,
+Selbst-Verstümmelung. Es ist Grausamkeit und religiöser Phönicismus
+in diesem Glauben, der einem mürben, vielfachen und viel verwöhnten,
+Gewissen zugemuthet wird: seine Voraussetzung ist, dass die
+Unterwerfung des Geistes unbeschreiblich wehe thut, dass die ganze
+Vergangenheit und Gewohnheit eines solchen Geistes sich gegen das
+Absurdissimum wehrt, als welches ihm der "Glaube" entgegentritt.
+Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche
+Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach,
+das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel "Gott am
+Kreuze" lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendswo eine gleiche
+Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und
+Fragwürdiges gegeben wie diese Formel: sie verhiess eine Umwerthung
+aller antiken Werthe. - Es ist der Orient, der tiefe Orient, es ist
+der orientalische Sklave, der auf diese Weise an Rom und seiner
+vornehmen und frivolen Toleranz, am römischen "Katholicismus" des
+Glaubens Rache nahm: - und immer war es nicht der Glaube, sondern die
+Freiheit vom Glauben, jene halb stoische und lächelnde Unbekümmertheit
+um den Ernst des Glaubens, was die Sklaven an ihren Herrn, gegen ihre
+Herrn empört hat. Die "Aufklärung" empört: der Sklave nämlich will
+Unbedingtes, er versteht nur das Tyrannische, auch in der Moral, er
+liebt wie er hasst, ohne Nuance, bis in die Tiefe, bis zum Schmerz,
+bis zur Krankheit, - sein vieles verborgenes Leiden empört sich
+gegen den vornehmen Geschmack, der das Leiden zu leugnen scheint.
+Die Skepsis gegen das Leiden, im Grunde nur eine Attitude der
+aristokratischen Moral, ist nicht am wenigsten auch an der Entstehung
+des letzten grossen Sklaven-Aufstandes betheiligt, welcher mit der
+französischen Revolution begonnen hat.
+
+
+47.
+
+Wo nur auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, finden
+wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen: Einsamkeit,
+Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit, - doch ohne dass hier mit
+Sicherheit zu entscheiden wäre, was da Ursache, was Wirkung sei, und
+ob hier überhaupt ein Verhältniss von Ursache und Wirkung vorliege.
+Zum letzten Zweifel berechtigt, dass gerade zu ihren regelmässigsten
+Symptomen, bei wilden wie bei zahmen Völkern, auch die plötzlichste
+ausschweifendste Wollüstigkeit gehört, welche dann, ebenso plötzlich,
+in Busskrampf und Welt- und Willens-Verneinung umschlägt: beides
+vielleicht als maskirte Epilepsie deutbar? Aber nirgendswo sollte man
+sich der Deutungen mehr entschlagen: um keinen Typus herum ist bisher
+eine solche Fülle von Unsinn und Aberglauben aufgewachsen, keiner
+scheint bisher die Menschen, selbst die Philosophen, mehr interessirt
+zu haben, - es wäre an der Zeit, hier gerade ein Wenig kalt zu werden,
+Vorsicht zu lernen, besser noch: wegzusehn, wegzugehn. - Noch im
+Hintergrunde der letztgekommenen Philosophie, der Schopenhauerischen,
+steht, beinahe als das Problem an sich, dieses schauerliche
+Fragezeichen der religiösen Krisis und Erweckung. Wie ist
+Willensverneinung möglich? wie ist der Heilige möglich? - das
+scheint wirklich die Frage gewesen zu sein, bei der Schopenhauer
+zum Philosophen wurde und anfieng. Und so war es eine ächt
+Schopenhauerische Consequenz, dass sein überzeugtester Anhänger
+(vielleicht auch sein letzter, was Deutschland betrifft -), nämlich
+Richard Wagner, das eigne Lebenswerk gerade hier zu Ende brachte und
+zuletzt noch jenen furchtbaren und ewigen Typus als Kundry auf der
+Bühne vorführte, type vécu, und wie er leibt und lebt; zu gleicher
+Zeit, wo die Irrenärzte fast aller Länder Europa's einen Anlass
+hatten, ihn aus der Nähe zu studiren, überall, wo die religiöse
+Neurose - oder, wie ich es nenne, "das religiöse Wesen" - als
+"Heilsarmee" ihren letzten epidemischen Ausbruch und Aufzug gemacht
+hat. - Fragt man sich aber, was eigentlich am ganzen Phänomen des
+Heiligen den Menschen aller Art und Zeit, auch den Philosophen, so
+unbändig interessant gewesen ist: so ist es ohne allen Zweifel der
+ihm, anhaftende Anschein des Wunders, nämlich der unmittelbaren
+Aufeinanderfolge von Gegensätzen, von moralisch entgegengesetzt
+gewertheten Zuständen der Seele: man glaubte hier mit Händen zu
+greifen, dass aus einem "schlechten Menschen" mit Einem Male ein
+"Heiliger", ein guter Mensch werde. Die bisherige Psychologie litt an
+dieser Stelle Schiffbruch: sollte es nicht vornehmlich darum geschehen
+sein, weil sie sich unter die Herrschaft der Moral gestellt hatte,
+weil sie an die moralischen Werth-Gegensätze selbst glaubte, und diese
+Gegensätze in den Text und Thatbestand hineinsah, hineinlas, hinein
+deutete? - Wie? Das "Wunder" nur ein Fehler der Interpretation? Ein
+Mangel an Philologie? -
+
+
+48.
+
+Es scheint, dass den lateinischen Rassen ihr Katholicismus viel
+innerlicher zugehört, als uns Nordländern das ganze Christentum
+überhaupt: und dass folglich der Unglaube in katholischen Ländern
+etwas ganz Anderes zu bedeuten hat, als in protestantischen - nämlich
+eine Art Empörung gegen den Geist der Rasse, während er bei uns eher
+eine Rückkehr zum Geist (oder Ungeist -) der Rasse ist. Wir Nordländer
+stammen unzweifelhaft aus Barbaren-Rassen, auch in Hinsicht auf unsere
+Begabung zur Religion: wir sind schlecht für sie begabt. Man darf
+die Kelten ausnehmen, welche deshalb auch den besten Boden für die
+Aufnahme der christlichen Infektion im Norden abgegeben haben: - in
+Frankreich kam das christliche Ideal, soweit es nur die blasse Sonne
+des Nordens erlaubt hat, zum Ausblühen. Wie fremdartig fromm sind
+unserm Geschmack selbst diese letzten französischen Skeptiker noch,
+sofern etwas keltisches Blut in ihrer Abkunft ist! Wie katholisch, wie
+undeutsch riecht uns Auguste Comte's Sociologie mit ihrer römischen
+Logik der Instinkte! Wie jesuitisch jener liebenswürdige und
+kluge Cicerone von Port-Royal, Sainte-Beuve, trotz all seiner
+Jesuiten-Feindschaft! Und gar Ernest Renan: wie unzugänglich klingt
+uns Nordländern die Sprache solch eines Renan, in dem alle Augenblicke
+irgend ein Nichts von religiöser Spannung seine in feinerem Sinne
+wollüstige und bequem sich bettende Seele um ihr Gleichgewicht bringt!
+Man spreche ihm einmal diese schönen Sätze nach, - und was für Bosheit
+und Übermuth regt sich sofort in unserer wahrscheinlich weniger
+schönen und härteren, nämlich deutscheren Seele als Antwort! -"disons
+donc hardiment que la religion est un produit de l'homme normal, que
+l'homme est le plus dans le vrai quand il est le plus religieux et le
+plus assuré d'une destinée infinie.... C'est quand il est bon qu'il
+veut que la vertu corresponde à un ordre éternel, c'est quand il
+contemple les choses d'une manière désintéressée qu'il trouve la mort
+révoltante et absurde. Comment ne pas supposer que c'est dans ces
+moments-là, que l'homme voit le mieux?...." Diese Sätze sind meinen
+Ohren und Gewohnheiten so sehr antipodisch, dass, als ich sie fand,
+mein erster Ingrimm daneben schrieb "la niaiserie religieuse par
+excellence!" - bis mein letzter Ingrimm sie gar noch lieb gewann,
+diese Sätze mit ihrer auf den Kopf gestellten Wahrheit! Es ist so
+artig, so auszeichnend, seine eignen Antipoden zu haben!
+
+
+49.
+
+Das, was an der Religiosität der alten Griechen staunen macht, ist die
+unbändige Fülle von Dankbarkeit, welche sie ausströmt: - es ist eine
+sehr vornehme Art Mensch, welche so vor der Natur und vor dem Leben
+steht! - Später, als der Pöbel in Griechenland zum Übergewicht kommt,
+überwuchert die Furcht auch in der Religion; und das Christenthum
+bereitete sich vor.-
+
+
+50.
+
+Die Leidenschaft für Gott: es giebt bäurische, treuherzige und
+zudringliche Arten, wie die Luther's, - der ganze Protestantismus
+entbehrt der südlichen delicatezza. Es giebt ein orientalisches
+Aussersichsein darin, wie bei einem unverdient begnadeten oder
+erhobenen Sklaven, zum Beispiel bei Augustin, der auf eine
+beleidigende Weise aller Vornehmheit der Gebärden und Begierden
+ermangelt. Es giebt frauenhafte Zärtlichkeit und Begehrlichkeit darin,
+welche schamhaft und unwissend nach einer unio mystica et physica
+drängt: wie bei Madame de Guyon. In vielen Fällen erscheint sie
+wunderlich genug als Verkleidung der Pubertät eines Mädchens oder
+Jünglings; hier und da selbst als Hysterie einer alten Jungfer, auch
+als deren letzter Ehrgeiz: - die Kirche hat das Weib schon mehrfach in
+einem solchen Falle heilig gesprochen.
+
+
+51.
+
+Bisher haben sich die mächtigsten Menschen immer noch verehrend
+vor dem Heiligen gebeugt, als dem Räthsel der Selbstbezwingung und
+absichtlichen letzten Entbehrung: warum beugten sie sich? Sie ahnten
+in ihm - und gleichsam hinter dem Fragezeichen seines gebrechlichen
+und kläglichen Anscheins - die überlegene Kraft, welche sich an einer
+solchen Bezwingung erproben wollte, die Stärke des Willens, in der
+sie die eigne Stärke und herrschaftliche Lust wieder erkannten und zu
+ehren wussten: sie ehrten Etwas an sich, wenn sie den Heiligen ehrten.
+Es kam hinzu, dass der Anblick des Heiligen ihnen einen Argwohn
+eingab: ein solches Ungeheures von Verneinung, von Wider-Natur wird
+nicht umsonst begehrt worden sein, so sagten und fragten sie sich.
+Es giebt vielleicht einen Grund dazu, eine ganz grosse Gefahr, über
+welche der Asket, Dank seinen geheimen Zusprechern und Besuchern,
+näher unterrichtet sein möchte? Genug, die Mächtigen der Welt lernten
+vor ihm eine neue Furcht, sie ahnten eine neue Macht, einen fremden,
+noch unbezwungenen Feind: - der "Wille zur Macht" war es, der sie
+nöthigte, vor dem Heiligen stehen zu bleiben. Sie mussten ihn
+fragen - -
+
+
+52.
+
+Im jüdischen "alten Testament", dem Buche von der göttlichen
+Gerechtigkeit, giebt es Menschen, Dinge und Reden in einem so grossen
+Stile, dass das griechische und indische Schriftenthum ihm nichts zur
+Seite zu stellen hat. Man steht mit Schrecken und Ehrfurcht vor diesen
+ungeheuren Überbleibseln dessen, was der Mensch einstmals war, und
+wird dabei über das alte Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen
+Europa, das durchaus gegen Asien den "Fortschritt des Menschen"
+bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken haben. Freilich: wer selbst
+nur ein dünnes zahmes Hausthier ist und nur Hausthier-Bedürfnisse
+kennt (gleich unsren Gebildeten von heute, die Christen des
+"gebildeten" Christenthums hinzugenommen -), der hat unter jenen
+Ruinen weder sich zu verwundern, noch gar sich zu betrüben - der
+Geschmack am alten Testament ist ein Prüfstein in Hinsicht auf "Gross"
+und "Klein" -: vielleicht, dass er das neue Testament, das Buch
+von der Gnade, immer noch eher nach seinem Herzen findet (in
+ihm ist viel von dem rechten zärtlichen dumpfen Betbrüder- und
+Kleinen-Seelen-Geruch). Dieses neue Testament, eine Art Rokoko des
+Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem alten Testament zu Einem Buche
+zusammengeleimt zu haben, als "Bibel", als "das Buch an sich": das
+ist vielleicht die grösste Verwegenheit und "Sünde wider den Geist",
+welche das litterarische Europa auf dem Gewissen hat.
+
+
+53.
+
+Warum heute Atheismus? - "Der Vater" in Gott ist gründlich widerlegt;
+ebenso "der Richter", "der Belohner". Insgleichen sein "freier Wille":
+er hört nicht, - und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu
+helfen. Das Schlimmste ist: er scheint unfähig, sich deutlich
+mitzutheilen: ist er unklar? - Dies ist es, was ich, als Ursachen für
+den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen,
+fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass
+zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, - dass er aber
+gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt.
+
+
+54.
+
+Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Descartes
+- und zwar mehr aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs
+- macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten
+Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt-
+und Prädikat-Begriffs - das heisst: ein Attentat auf die
+Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie,
+als eine erkenntnisstheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen,
+antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs
+antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an "die Seele", wie man an
+die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: man sagte, "Ich"
+ist Bedingung, "denke" ist Prädikat und bedingt - Denken ist eine
+Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muss. Nun
+versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob
+man nicht aus diesem Netze heraus könne, - ob nicht vielleicht das
+Umgekehrte wahr sei: "denke" Bedingung, "Ich" bedingt; "Ich" also
+erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird. Kant
+wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht
+bewiesen werden könne, - das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer
+Scheinexistenz des Subjekts, also "der Seele", mag ihm nicht immer
+fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie
+schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist.
+
+
+55.
+
+Es giebt eine grosse Leiter der religiösen Grausamkeit, mit vielen
+Sprossen; aber drei davon sind die wichtigsten. Einst opferte man
+seinem Gotte Menschen, vielleicht gerade solche, welche man am besten
+liebte, - dahin gehören die Erstlings-Opfer aller Vorzeit-Religionen,
+dahin auch das Opfer des Kaisers Tiberius in der Mithrasgrotte der
+Insel Capri, jener schauerlichste aller römischen Anachronismen. Dann,
+in der moralischen Epoche der Menschheit, opferte man seinem Gotte
+die stärksten Instinkte, die man besass, seine "Natur"; diese
+Festfreude glänzt im grausamen Blicke des Asketen, des begeisterten
+"Wider-Natürlichen". Endlich: was blieb noch übrig zu opfern? Musste
+man nicht endlich einmal alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle
+Hoffnung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukünftige
+Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern? musste man nicht Gott selber
+opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, den Stein, die Dummheit,
+die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten? Für das Nichts Gott
+opfern - dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem
+Geschlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart: wir Alle
+kennen schon etwas davon. -
+
+
+56.
+
+Wer, gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Begierde sich lange
+darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der
+halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der
+er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt
+der Schopenhauerischen Philosophie; wer wirklich einmal mit einem
+asiatischen und überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller
+möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat - jenseits von
+Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann
+und Wahne der Moral -, der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es
+eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht:
+für das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten
+Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und
+vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wieder haben
+will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur
+zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur
+zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies
+Schauspiel nöthig hat - und nöthig macht: weil er immer wieder sich
+nöthig hat - und nöthig macht - - Wie? Und dies wäre nicht - circulus
+vitiosus deus?
+
+
+57.
+
+Mit der Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne
+und gleichsam der Raum um den Menschen: seine Welt wird tiefer, immer
+neue Sterne, immer neue Räthsel und Bilder kommen ihm in Sicht.
+Vielleicht war Alles, woran das Auge des Geistes seinen Scharfsinn und
+Tiefsinn geübt hat, eben nur ein Anlass zu seiner Übung, eine Sache
+des Spiels, Etwas für Kinder und Kindsköpfe. Vielleicht erscheinen
+uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten gekämpft und
+gelitten worden ist, die Begriffe "Gott" und "Sünde", nicht wichtiger,
+als dem alten Manne ein Kinder-Spielzeug und Kinder-Schmerz erscheint,
+- und vielleicht hat dann "der alte Mensch" wieder ein andres
+Spielzeug und einen andren Schmerz nöthig, - immer noch Kinds genug,
+ein ewiges Kind!
+
+
+58.
+
+Hat man wohl beachtet, in wiefern zu einem eigentlich religiösen
+Leben (und sowohl zu seiner mikroskopischen Lieblings-Arbeit der
+Selbstprüfung, als zu jener zarten Gelassenheit, welche sich "Gebet"
+nennt und eine beständige Bereitschaft für das "Kommen Gottes" ist)
+der äussere Müssiggang oder Halb-Müssiggang noth thut, ich meine der
+Müssiggang mit gutem Gewissen, von Alters her, von Geblüt, dem das
+Aristokraten-Gefühl nicht ganz fremd ist, dass Arbeit schändet,
+- nämlich Seele und Leib gemein macht? Und dass folglich die
+moderne, lärmende, Zeit-auskaufende, auf sich stolze, dumm-stolze
+Arbeitsamkeit, mehr als alles Übrige, gerade zum "Unglauben" erzieht
+und vorbereitet? Unter Denen, welche zum Beispiel jetzt in Deutschland
+abseits von der Religion leben, finde ich Menschen von vielerlei Art
+und Abkunft der "Freidenkerei", vor Allem aber eine Mehrzahl solcher,
+denen Arbeitsamkeit, von Geschlecht zu Geschlecht, die religiösen
+Instinkte aufgelöst hat: so dass sie gar nicht mehr wissen, wozu
+Religionen nütze sind, und nur mit einer Art stumpfen Erstaunens ihr
+Vorhandensein in der Welt gleichsam registriren. Sie fühlen sich schon
+reichlich in Anspruch genommen, diese braven Leute, sei es von ihren
+Geschäften, sei es von ihren Vergnügungen, gar nicht zu reden vom
+"Vaterlande" und den Zeitungen und den "Pflichten der Familie": es
+scheint, dass sie gar keine Zeit für die Religion übrig haben, zumal
+es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäft oder
+ein neues Vergnügen handelt, - denn unmöglich, sagen sie sich, geht
+man in die Kirche, rein um sich die gute Laune zu verderben. Sie
+sind keine Feinde der religiösen Gebräuche; verlangt man in gewissen
+Fällen, etwa von Seiten des Staates, die Betheiligung an solchen
+Gebräuchen, so thun sie, was man verlangt, wie man so Vieles thut -,
+mit einem geduldigen und bescheidenen Ernste und ohne viel Neugierde
+und Unbehagen: - sie leben eben zu sehr abseits und ausserhalb, um
+selbst nur ein Für und Wider in solchen Dingen bei sich nöthig zu
+finden. Zu diesen Gleichgültigen gehört heute die Überzahl der
+deutschen Protestanten in den mittleren Ständen, sonderlich in den
+arbeitsamen grossen Handels- und Verkehrscentren; ebenfalls die
+Überzahl der arbeitsamen Gelehrten und der ganze Universitäts-Zubehör
+(die Theologen ausgenommen, deren Dasein und Möglichkeit daselbst dem
+Psychologen immer mehr und immer feinere Räthsel zu rathen giebt).
+Man macht sich selten von Seiten frommer oder auch nur kirchlicher
+Menschen eine Vorstellung davon, wieviel guter Wille, man könnte
+sagen, willkürlicher Wille jetzt dazu gehört, dass ein deutscher
+Gelehrter das Problem der Religion ernst nimmt; von seinem ganzen
+Handwerk her (und, wie gesagt, von der handwerkerhaften Arbeitsamkeit
+her, zu welcher ihn sein modernes Gewissen verpflichtet) neigt er zu
+einer überlegenen, beinahe gütigen Heiterkeit gegen die Religion, zu
+der sich bisweilen eine leichte Geringschätzung mischt, gerichtet
+gegen die "Unsauberkeit" des Geistes, welche er überall dort
+voraussetzt, wo man sich, noch zur Kirche bekennt. Es gelingt dem
+Gelehrten erst mit Hülfe der Geschichte (also nicht von seiner
+persönlichen Erfahrung aus), es gegenüber den Religionen zu einem
+ehrfurchtsvollen Ernste und zu einer gewissen scheuen Rücksicht zu
+bringen; aber wenn er sein Gefühl sogar bis zur Dankbarkeit gegen sie
+gehoben hat, so ist er mit seiner Person auch noch keinen Schritt weit
+dem, was noch als Kirche oder Frömmigkeit besteht, näher gekommen:
+vielleicht umgekehrt. Die praktische Gleichgültigkeit gegen religiöse
+Dinge, in welche hinein er geboren und erzogen ist, pflegt sich bei
+ihm zur Behutsamkeit und Reinlichkeit zu sublimiren, welche die
+Berührung mit religiösen Menschen und Dingen scheut; und es kann
+gerade die Tiefe seiner Toleranz und Menschlichkeit sein, die ihn vor
+dem feinen Nothstande ausweichen heisst, welchen das Toleriren selbst
+mit sich bringt. - Jede Zeit hat ihre eigene göttliche Art von
+Naivetät, um deren Erfindung sie andre Zeitalter beneiden dürfen: -
+und wie viel Naivetät, verehrungswürdige, kindliche und unbegrenzt
+tölpelhafte Naivetät liegt in diesem Überlegenheits-Glauben des
+Gelehrten, im guten Gewissen seiner Toleranz, in der ahnungslosen
+schlichten Sicherheit, mit der sein Instinkt den religiösen Menschen
+als einen minderwerthigen und niedrigeren Typus behandelt, über den
+er selbst hinaus, hinweg, hinauf gewachsen ist, - er, der kleine
+anmaassliche Zwerg und Pöbelmann, der fleissig-flinke Kopf- und
+Handarbeiter der "Ideen", der "modernen Ideen"!
+
+
+59.
+
+Wer tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin
+liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender
+Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein. Man
+findet hier und da eine leidenschaftliche und übertreibende Anbetung
+der "reinen Formen", bei Philosophen wie bei Künstlern: möge Niemand
+zweifeln, dass wer dergestalt den Cultus der Oberfläche nöthig hat,
+irgend wann einmal einen unglückseligen Griff unter sie gethan hat.
+Vielleicht giebt es sogar hinsichtlich dieser verbrannten Kinder,
+der geborenen Künstler, welche den Genuss des Lebens nur noch in der
+Absicht finden, sein Bild zu fälschen (gleichsam in einer langwierigen
+Rache am Leben -), auch noch eine Ordnung des Ranges: man könnte den
+Grad, in dem ihnen das Leben verleidet ist, daraus abnehmen, bis wie
+weit sie sein Bild verfälscht, verdünnt, verjenseitigt, vergöttlicht
+zu sehn wünschen, - man könnte die homines religiosi mit unter
+die Künstler rechnen, als ihren höchsten Rang. Es ist die tiefe
+argwöhnische Furcht vor einem unheilbaren Pessimismus, der ganze
+Jahrtausende zwingt, sich mit den Zähnen in eine religiöse
+Interpretation des Daseins zu verbeissen: die Furcht jenes Instinktes,
+welcher ahnt, dass man der Wahrheit zu früh habhaft werden könnte, ehe
+der Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist....
+Die Frömmigkeit, das "Leben in Gott", mit diesem Blicke betrachtet,
+erschiene dabei als die feinste und letzte Ausgeburt der Furcht
+vor der Wahrheit, als Künstler-Anbetung und -Trunkenheit vor der
+consequentesten aller Fälschungen, als der Wille zur Umkehrung der
+Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden Preis. Vielleicht, dass es bis jetzt
+kein stärkeres Mittel gab, den Menschen selbst zu verschönern, als
+eben Frömmigkeit: durch sie kann der Mensch so sehr Kunst, Oberfläche,
+Farbenspiel, Güte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr
+leidet. -
+
+
+60.
+
+Den Menschen zu lieben um Gottes Willen - das war bis jetzt das
+vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht
+worden ist. Dass die Liebe zum Menschen ohne irgendeine heiligende
+Hinterabsicht eine Dummheit und Thierheit mehr ist, dass der Hang zu
+dieser Menschenliebe erst von einem höheren Hange sein Maass, seine
+Feinheit, sein Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen hat: -
+welcher Mensch es auch war, der dies zuerst empfunden und "erlebt"
+hat, wie sehr auch seine Zunge gestolpert haben mag, als sie
+versuchte, solch eine Zartheit auszudrücken, er bleibe uns in alle
+Zeiten heilig und verehrenswerth, als der Mensch, der am höchsten
+bisher geflogen und am schönsten sich verirrt hat!
+
+
+61.
+
+Der Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister als der
+Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die
+Gesammt-Entwicklung des Menschen hat: dieser Philosoph wird sich der
+Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie
+er sich der jeweiligen politischen und wirthschaftlichen Zustände
+bedienen wird. Der auslesende, züchtende, das heisst immer ebensowohl
+der zerstörende als der schöpferische und gestaltende Einfluss,
+welcher mit Hülfe der Religionen ausgeübt werden kann, ist je nach der
+Art Menschen, die unter ihren Bann und Schutz gestellt werden, ein
+vielfacher und verschiedener. Für die Starken, Unabhängigen, zum
+Befehlen, Vorbereiteten und Vorbestimmten, in denen die Vernunft
+und Kunst einer regierenden Rasse leibhaft wird, ist, Religion ein
+Mittelmehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können:
+als ein Band, das Herrscher und Unterthanen gemeinsam bindet und
+die Gewissen der Letzteren, ihr Verborgenes und Innerlichstes, das
+sich gerne dem Gehorsam entziehen möchte, den Ersteren verräth und
+überantwortet; und falls einzelne Naturen einer solchen vornehmen
+Herkunft, durch hohe Geistigkeit, einem abgezogeneren und
+beschaulicheren Leben sich zuneigen und nur die feinste Artung
+des Herrschens (über ausgesuchte Jünger oder Ordensbrüder) sich
+vorbehalten, so kann Religion selbst als Mittel benutzt werden, sich
+Ruhe vor dem Lärm und der Mühsal des gröberen Regierens und Reinheit
+vor dem nothwendigen Schmutz alles Politik-Machens zu schaffen. So
+verstanden es zum Beispiel die Brahmanen: mit Hülfe einer religiösen
+Organisation gaben sie sich die Macht, dem Volke seine Könige zu
+ernennen, während sie sich selber abseits und ausserhalb hielten
+und fühlten, als die Menschen höherer und überköniglicher Aufgaben.
+Inzwischen giebt die Religion auch einem Theile der Beherrschten
+Anleitung und Gelegenheit, sich auf einstmaliges Herrschen und
+Befehlen vorzubereiten, jenen langsam heraufkommenden Klassen und
+Ständen nämlich, in denen, durch glückliche Ehesitten, die Kraft und
+Lust des Willens, der Wille zur Selbstbeherrschung, immer im Steigen
+ist: - ihnen bietet die Religion Anstösse und Versuchungen genug,
+die Wege zur höheren Geistigkeit zu gehen, die Gefühle der grossen
+Selbstüberwindung, des Schweigens und der Einsamkeit zu erproben: -
+Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und
+Veredelungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel
+Herr werden will und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet.
+Den gewöhnlichen Menschen endlich, den Allermeisten, welche zum Dienen
+und zum allgemeinen Nutzen da sind und nur insofern dasein dürfen,
+giebt die Religion eine unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und
+Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams,
+ein Glück und Leid mehr mit Ihres-Gleichen und Etwas von Verklärung
+und Verschönerung, Etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags, der
+ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbthier-Armuth ihrer Seele. Religion
+und religiöse Bedeutsamkeit des Lebens legt Sonnenglanz auf solche
+immer geplagte Menschen und macht ihnen selbst den eigenen Anblick
+erträglich, sie wirkt, wie eine epikurische Philosophie auf Leidende
+höheren Ranges zu wirken pflegt, erquickend, verfeinernd, das Leiden
+gleichsam ausnützend, zuletzt gar heiligend und rechtfertigend.
+Vielleicht ist am Christenthum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als
+ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in
+eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen
+an der wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben, - und
+gerade diese Härte thut Noth! - bei sich festzuhalten.
+
+
+62.
+
+Zuletzt freilich, um solchen Religionen auch die schlimme
+Gegenrechnung zu machen und ihre unheimliche Gefährlichkeit an's Licht
+zu stellen: - es bezahlt sich immer theuer und fürchterlich, wenn
+Religionen nicht als Züchtungs- und Erziehungsmittel in der Hand des
+Philosophen, sondern von sich aus und souverän walten, wenn sie selber
+letzte Zwecke und nicht Mittel neben anderen Mitteln sein wollen. Es
+giebt bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss
+von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig
+Leidenden; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die
+Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht
+festgestellte Thier ist, die spärliche Ausnahme. Aber noch schlimmer:
+je höher geartet der Typus eines Menschen ist, der durch ihn
+dargestellt wird, um so mehr steigt noch die Unwahrscheinlichkeit,
+dass er geräth: das Zufällige, das Gesetz des Unsinns im gesammten
+Haushalte der Menschheit zeigt sich am erschrecklichsten in
+seiner zerstörerischen Wirkung auf die höheren Menschen, deren
+Lebensbedingungen fein, vielfach und schwer auszurechnen sind. Wie
+verhalten sich nun die genannten beiden grössten Religionen zu diesem
+Überschuss der misslungenen Fälle? Sie suchen zu erhalten, im Leben
+festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie nehmen
+grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben
+allen Denen Recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und
+möchten es durchsetzen, dass jede andre Empfindung des Lebens als
+falsch gelte und unmöglich werde. Möchte man diese schonende und
+erhaltende Fürsorge, insofern sie neben allen anderen auch dem
+höchsten, bisher fast immer auch leidendsten Typus des Menschen gilt
+und galt, noch so hoch anschlagen: in der Gesammt-Abrechnung gehören
+die bisherigen, nämlich souveränen Religionen zu den Hauptursachen,
+welche den Typus "Mensch" auf einer niedrigeren Stufe festhielten,
+- sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn sollte. Man hat
+ihnen Unschätzbares zu danken; und wer ist reich genug an Dankbarkeit,
+um nicht vor alle dem arm zu werden, was zum Beispiel die "geistlichen
+Menschen" des Christenthums bisher für Europa gethan haben! Und doch,
+wenn sie den Leidenden Trost, den Unterdrückten und Verzweifelnden
+Muth, den Unselbständigen einen Stab und Halt gaben und die
+Innerlich-Zerstörten und Wild-Gewordenen von der Gesellschaft weg in
+Klöster und seelische Zuchthäuser lockten: was mussten sie ausserdem
+thun, um mit gutem Gewissen dergestalt grundsätzlich an der Erhaltung
+alles Kranken und Leidenden, das heisst in That und Wahrheit an
+der Verschlechterung der europäischen Rasse zu arbeiten? Alle
+Werthschätzungen auf den Kopf stellen - das mussten sie! Und die
+Starken zerbrechen, die grossen Hoffnungen ankränkeln, das Glück
+in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche,
+Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und
+wohlgerathensten Typus "Mensch" zu eigen sind, in Unsicherheit,
+Gewissens-Noth, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum
+Irdischen und zur Herrschaft über die Erde in Hass gegen die Erde
+und das Irdische verkehren - das stellte sich die Kirche zur
+Aufgabe und musste es sich stellen, bis für ihre Schätzung endlich
+"Entweltlichung", "Entsinnlichung" und "höherer Mensch" in Ein
+Gefühl zusammenschmolzen. Gesetzt, dass man mit dem spöttischen
+und unbetheiligten Auge eines epikurischen Gottes die wunderlich
+schmerzliche und ebenso grobe wie feine Komödie des europäischen
+Christenthums zu überschauen vermöchte, ich glaube, man fände kein
+Ende mehr zu staunen und zu lachen: scheint es denn nicht, dass Ein
+Wille über Europa durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat, aus dem
+Menschen eine sublime Missgeburt zu machen? Wer aber mit umgekehrten
+Bedürfnissen, nicht epikurisch mehr, sondern mit irgend einem
+göttlichen Hammer in der Hand auf diese fast willkürliche Entartung
+und Verkümmerung des Menschen zuträte, wie sie der christliche
+Europäer ist (Pascal zum Beispiel), müsste er da nicht mit Grimm, mit
+Mitleid, mit Entsetzen schreien: "Oh ihr Tölpel, ihr anmaassenden
+mitleidigen Tölpel, was habt ihr da gemacht! War das eine Arbeit
+für eure Hände! Wie habt ihr mir meinen schönsten Stein verhauen
+und verhunzt! Was nahmt ihr euch heraus!" - Ich wollte sagen:
+das Christenthum war bisher die verhängnissvollste Art von
+Selbst-Überhebung. Menschen, nicht hoch und hart genug, um am
+Menschen als Künstler gestalten zu dürfen; Menschen, nicht stark und
+fernsichtig genug, um, mit einer erhabenen Selbst-Bezwingung, das
+Vordergrund-Gesetz des tausendfältigen Missrathens und Zugrundegehns
+walten zu lassen; Menschen, nicht vornehm genug, um die abgründlich
+verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu
+sehen: - solche Menschen haben, mit ihrem "Gleich vor Gott", bisher
+über dem Schicksale Europa's gewaltet, bis endlich eine verkleinerte,
+fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches
+und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer....
+
+
+
+
+Viertes Hauptstück:
+
+Sprüche und Zwischenspiele.
+
+63.
+
+Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine
+Schüler ernst, - sogar sich selbst.
+
+
+64.
+
+"Die Erkenntniss um ihrer selbst willen" - das ist der letzte
+Fallstrick, den die Moral legt: damit verwickelt man sich noch einmal
+völlig in sie.
+
+
+65.
+
+Der Reiz der Erkenntniss wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr
+so viel Scham zu überwinden wäre.
+
+
+65 a.
+
+Man ist am unehrlichsten gegen seinen Gott: er darf nicht sündigen!
+
+
+66.
+
+Die Neigung, sich herabzusetzen, sich bestehlen, belügen und ausbeuten
+zu lassen, könnte die Scham eines Gottes unter Menschen sein.
+
+
+67.
+
+Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller
+Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott.
+
+
+68.
+
+"Das habe ich gethan" sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan
+haben - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - giebt das
+Gedächtniss nach.
+
+
+69.
+
+Man hat schlecht dem Leben zugeschaut, wenn man nicht auch die Hand
+gesehn hat, die auf eine schonende Weise - tödtet.
+
+
+70.
+
+Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer
+wiederkommt.
+
+
+71.
+
+Der Weise als Astronom. - So lange du noch die Sterne fühlst als ein
+"Über-dir", fehlt dir noch der Blick des Erkennenden.
+
+
+72.
+
+Nicht die Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfindung macht die
+hohen Menschen.
+
+
+73.
+
+Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus.
+
+
+73 a.
+
+Mancher Pfau verdeckt vor Aller Augen seinen Pfauenschweif - und
+heisst es seinen Stolz.
+
+
+74.
+
+Ein Mensch mit Genie ist unausstehlich, wenn er nicht mindestens noch
+zweierlei dazu besitzt: Dankbarkeit und Reinlichkeit.
+
+
+75.
+
+Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den
+letzten Gipfel seines Geistes hinauf.
+
+
+76.
+
+Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich
+selber her.
+
+
+77.
+
+Mit seinen Grundsätzen will man seine Gewohnheiten tyrannisiren oder
+rechtfertigen oder ehren oder beschimpfen oder verbergen: - zwei
+Menschen mit gleichen Grundsätzen wollen damit wahrscheinlich noch
+etwas Grund-Verschiedenes.
+
+
+78.
+
+Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als
+Verächter.
+
+
+79.
+
+Eine Seele, die sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth
+ihren Bodensatz: - ihr Unterstes kommt herauf.
+
+
+80.
+
+Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn. - Was
+meinte jener Gott, welcher anrieth: "erkenne dich selbst"! Hiess es
+vielleicht: "höre auf, dich etwas anzugehn! werde objektiv!" - Und
+Sokrates? - Und der "wissenschaftliche Mensch"? -
+
+
+81.
+
+Es ist furchtbar, im Meere vor Durst zu sterben. Müsst ihr denn gleich
+eure Wahrheit so salzen, dass sie nicht einmal mehr - den Durst
+löscht?
+
+
+82.
+
+"Mitleiden mit Allen" - wäre Härte und Tyrannei mit dir, mein Herr
+Nachbar! -
+
+
+83.
+
+Der Instinkt. - Wenn das Haus brennt, vergisst man sogar das
+Mittagsessen. - Ja: aber man holt es auf der Asche nach.
+
+
+84.
+
+Das Weib lernt hassen, in dem Maasse, in dem es zu bezaubern -
+verlernt.
+
+
+85.
+
+Die gleichen Affekte sind bei Mann und Weib doch im Tempo verschieden:
+deshalb hören Mann und Weib nicht auf, sich misszuverstehn.
+
+
+86.
+
+Die Weiber selber haben im Hintergrunde aller persönlichen Eitelkeit
+immer noch ihre unpersönliche Verachtung - für das "Weib".
+
+
+87.
+
+Gebunden Herz, freier Geist. - Wenn man sein Herz hart bindet und
+gefangen legt, kann man seinem Geist viele Freiheiten geben: ich sagte
+das schon Ein Mal. Aber man glaubt mir's nicht, gesetzt, dass man's
+nicht schon weiss.....
+
+
+88.
+
+Sehr klugen Personen fängt man an zu misstrauen, wenn sie verlegen
+werden.
+
+
+89.
+
+Fürchterliche Erlebnisse geben zu rathen, ob Der, welcher sie erlebt,
+nicht etwas Fürchterliches ist.
+
+
+90.
+
+Schwere, Schwermüthige Menschen werden gerade durch das, was Andre
+schwer macht, durch Hass und Liebe, leichter und kommen zeitweilig an
+ihre Oberfläche.
+
+
+91.
+
+So kalt, so eisig, dass man sich an ihm die Finger verbrennt! Jede
+Hand erschrickt, die ihn anfasst! - Und gerade darum halten Manche ihn
+für glühend.
+
+
+92.
+
+Wer hat nicht für seinen guten Ruf schon einmal - sich selbst
+geopfert? -
+
+
+93.
+
+In der Leutseligkeit ist Nichts von Menschenhass, aber eben darum
+allzuviel von Menschenverachtung.
+
+
+94.
+
+Reife des Mannes: das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man
+als Kind hatte, beim Spiel.
+
+
+95.
+
+Sich seiner Unmoralität schämen: das ist eine Stufe auf der Treppe, an
+deren Ende man sich auch seiner Moralität schämt.
+
+
+96.
+
+Man soll vom Leben scheiden wie Odysseus von Nausikaa schied, - mehr
+segnend als verliebt.
+
+
+97.
+
+Wie? Ein grosser Mann? Ich sehe immer nur den Schauspieler seines
+eignen Ideals.
+
+
+98.
+
+Wenn man sein Gewissen dressirt, so küsst es uns zugleich, indem es
+beisst.
+
+
+99.
+
+Der Enttäuschte spricht. - "Ich horchte auf Widerhall, und ich hörte
+nur Lob -"
+
+
+100.
+
+Vor uns selbst stellen wir uns Alle einfältiger als wir sind: wir
+ruhen uns so von unsern Mitmenschen aus.
+
+
+101.
+Heute möchte sich ein Erkennender leicht als Thierwerdung Gottes
+fühlen.
+
+
+102.
+
+Gegenliebe entdecken sollte eigentlich den Liebenden über das geliebte
+Wesen ernüchtern. "Wie? es ist bescheiden genug, sogar dich zu lieben?
+Oder dumm genug? Oder - oder -"
+
+
+103.
+
+Die Gefahr im Glücke. - "Nun gereicht mir Alles zum Besten, nunmehr
+liebe ich jedes Schicksal: - wer hat Lust, mein Schicksal zu sein?"
+
+
+104.
+
+Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe
+hindert die Christen von heute, uns - zu verbrennen.
+
+
+105.
+
+Dem freien Geiste, dem "Frommen der Erkenntniss" - geht die pia fraus
+noch mehr wider den Geschmack (wider seine "Frömmigkeit") als die
+impia fraus. Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum
+Typus "freier Geist" gehört, - als seine Unfreiheit.
+
+
+106.
+
+Vermöge der Musik geniessen sich die Leidenschaften selbst.
+
+
+107.
+
+Wenn der Entschluss einmal gefasst ist, das Ohr auch für den besten
+Gegengrund zu schliessen: Zeichen des starken Charakters. Also ein
+gelegentlicher Wille zur Dummheit.
+
+
+108.
+
+Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische
+Ausdeutung von Phänomenen.....
+
+
+109.
+
+Der Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen: er
+verkleinert und verleumdet sie.
+
+
+110.
+
+Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das
+schöne Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden.
+
+
+111.
+
+Unsre Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verletzen, wenn eben
+unser Stolz verletzt wurde.
+
+
+112.
+
+Wer sich zum Schauen und nicht zum Glauben vorherbestimmt fühlt, dem
+sind alle Gläubigen zu lärmend und zudringlich: er erwehrt sich ihrer.
+
+
+113.
+
+"Du willst ihn für dich einnehmen? So stelle dich vor ihm verlegen -"
+
+
+114.
+
+Die ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe, und die
+Scham in dieser Erwartung, verdirbt den Frauen von vornherein alle
+Perspektiven.
+
+
+115.
+
+Wo nicht Liebe oder Hass mitspielt, spielt das Weib mittelmässig.
+
+
+116.
+
+Die grossen Epochen unsres Lebens liegen dort, wo wir den Muth
+gewinnen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen.
+
+
+117.
+
+Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille
+eines anderen oder mehrer anderer Affekte.
+
+
+118.
+
+Es giebt eine Unschuld der Bewunderung: Der hat sie, dem es noch nicht
+in den Sinn gekommen ist, auch er könne einmal bewundert werden.
+
+
+119.
+
+Der Ekel vor dem Schmutze kann so gross sein, dass er uns hindert, uns
+zu reinigen, - uns zu "rechtfertigen".
+
+
+120.
+
+Die Sinnlichkeit übereilt oft das Wachsthum der Liebe, so dass die
+Wurzel schwach bleibt und leicht auszureissen ist.
+
+
+121.
+
+Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er
+Schriftsteller werden wollte - und dass er es nicht besser lernte.
+
+
+122.
+
+Sich über ein Lob freuen ist bei Manchem nur eine Höflichkeit des
+Herzens - und gerade das Gegenstück einer Eitelkeit des Geistes.
+
+
+123.
+
+Auch das Concubinat ist corrumpirt worden: - durch die Ehe.
+
+
+124.
+
+Wer auf dem Scheiterhaufen noch frohlockt, triumphirt nicht über
+den Schmerz, sondern darüber, keinen Schmerz zu fühlen, wo er ihn
+erwartete. Ein Gleichniss.
+
+
+125.
+
+Wenn wir über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die
+Unbequemlichkeit hart an, die er uns damit macht.
+
+
+126.
+
+Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben grossen
+Männern zu kommen. - Ja: und um dann um sie herum zu kommen.
+
+
+127.
+
+Allen rechten Frauen geht Wissenschaft wider die Scham. Es ist ihnen
+dabei zu Muthe, als ob man damit ihnen unter die Haut, - schlimmer
+noch! unter Kleid und Putz gucken wolle.
+
+
+128.
+
+Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst
+du noch die Sinne zu ihr verführen.
+
+
+129.
+
+Der Teufel hat die weitesten Perspektiven für Gott, deshalb hält er
+sich von ihm so fern: - der Teufel nämlich als der älteste Freund der
+Erkenntniss.
+
+
+130.
+
+Was jemand ist, fängt an, sich zu verrathen, wenn sein Talent
+nachlässt, - wenn er aufhört, zu zeigen, was er kann. Das Talent ist
+auch ein Putz; ein Putz ist auch ein Versteck.
+
+
+131.
+
+Die Geschlechter täuschen sich über einander: das macht, sie ehren
+und lieben im Grunde nur sich selbst (oder ihr eigenes ideal, um es
+gefälliger auszudrücken -). So will der Mann das Weib friedlich, -
+aber gerade das Weib ist wesentlich unfriedlich, gleich der Katze, so
+gut es sich auch auf den Anschein des Friedens eingeübt hat.
+
+
+132.
+
+Man wird am besten für seine Tugenden bestraft.
+
+
+133.
+
+Wer den Weg zu seinem Ideale nicht zu finden weiss, lebt
+leichtsinniger und frecher, als der Mensch ohne Ideal.
+
+
+134.
+
+Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute
+Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit.
+
+
+135.
+
+Der Pharisäismus ist nicht eine Entartung am guten Menschen: ein gutes
+Stück davon ist vielmehr die Bedingung von allem Gut-sein.
+
+
+136.
+
+Der Eine sucht einen Geburtshelfer für seine Gedanken, der Andre
+Einen, dem er helfen kann: so entsteht ein gutes Gespräch.
+
+
+137.
+
+Im Verkehre mit Gelehrten und Künstlern verrechnet man sich leicht in
+umgekehrter Richtung: man findet hinter einem merkwürdigen Gelehrten
+nicht selten einen mittelmässigen Menschen, und hinter einem
+mittelmässigen Künstler sogar oft - einen sehr merkwürdigen Menschen.
+
+
+138.
+
+Wir machen es auch im Wachen wie im Traume: wir erfinden und erdichten
+erst den Menschen, mit dem wir verkehren - und vergessen es sofort.
+
+
+139.
+
+In der Rache und in der Liebe ist das Weib barbarischer, als der Mann.
+
+
+140.
+
+Rath als Räthsel. - "Soll das Band nicht reissen, - musst du erst
+drauf beissen."
+
+
+141.
+
+Der Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so
+leicht für einen Gott hält.
+
+
+142.
+
+Das züchtigste Wort, das ich gehört habe: "Dans le véritable amour
+c'est l'âme, qui enveloppe le corps."
+
+
+143.
+
+Was wir am besten thun, von dem möchte unsre Eitelkeit, dass es grade
+als Das gelte, was uns am schwersten werde. Zum Ursprung mancher
+Moral.
+
+
+144.
+
+Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer
+Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt
+zu einer gewissen Männlichkeit des Geschmacks; der Mann ist nämlich,
+mit Verlaub, "das unfruchtbare Thier".
+
+
+145.
+
+Mann und Weib im Ganzen verglichen, darf man sagen: das Weib hätte
+nicht das Genie des Putzes, wenn es nicht den Instinkt der zweiten
+Rolle hätte.
+
+
+146.
+
+Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum
+Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der
+Abgrund auch in dich hinein.
+
+
+147.
+
+Aus alten florentinischen Novellen, überdies - aus dem Leben: buona
+femmina e mala femmina vuol bastone. Sacchetti Nov. 86.
+
+
+148.
+
+Den Nächsten zu einer guten Meinung verführen und hinterdrein an diese
+Meinung des Nächsten gläubig glauben: wer thut es in diesem Kunststück
+den Weibern gleich? -
+
+
+149.
+
+Was eine Zeit als böse empfindet, ist gewöhnlich ein unzeitgemässer
+Nachschlag dessen, was ehemals als gut empfunden wurde, - der
+Atavismus eines älteren Ideals.
+
+
+150.
+
+Um den Helden herum wird Alles zur Tragödie, um den Halbgott herum
+Alles zum Satyrspiel; und um Gott herum wird Alles - wie? vielleicht
+zur "Welt"? -
+
+
+151.
+
+Ein Talent haben ist nicht genug: man muss auch eure Erlaubniss dazu
+haben, - wie? meine Freunde?
+
+
+152.
+
+"Wo der Baum der Erkenntniss steht, ist immer das Paradies": so reden
+die ältesten und die jüngsten Schlangen.
+
+
+153.
+
+Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.
+
+
+154.
+
+Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Misstrauen, die Spottlust
+sind Anzeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehört in die
+Pathologie.
+
+
+155.
+
+Der Sinn für das Tragische nimmt mit der Sinnlichkeit ab und zu.
+
+
+156.
+
+Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, - aber bei Gruppen,
+Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.
+
+
+157.
+
+Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm
+kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.
+
+
+158.
+
+Unserm stärksten Triebe, dem Tyrannen in uns, unterwirft sich nicht
+nur unsre Vernunft, sondern auch unser Gewissen.
+
+
+159.
+
+Man muss vergelten, Gutes und Schlimmes: aber warum gerade an der
+Person, die uns Gutes oder Schlimmes that?
+
+
+160.
+
+Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie
+mittheilt.
+
+
+161.
+
+Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos: sie beuten sie aus.
+
+
+162.
+
+"Unser Nächster ist nicht unser Nachbar, sondern dessen Nachbar" - so
+denkt jedes Volk.
+
+
+163.
+
+Die Liebe bringt die hohen und verborgenen Eigenschaften eines
+Liebenden an's Licht, - sein Seltenes, Ausnahmsweises: insofern
+täuscht sie leicht über Das, was Regel an ihm ist.
+
+
+164.
+
+Jesus sagte zu seinen Juden: "das Gesetz war für Knechte, - liebt
+Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die
+Moral an!" -
+
+
+165.
+
+Angesichts jeder Partei. - Ein Hirt hat immer auch noch einen
+Leithammel nöthig, - oder er muss selbst gelegentlich Hammel sein.
+
+
+166.
+
+Man lügt wohl mit dem Munde; aber mit dem Maule, das man dabei macht,
+sagt man doch noch die Wahrheit.
+
+
+167.
+
+Bei harten Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham - und etwas
+Kostbares.
+
+
+168.
+
+Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: - er starb zwar nicht
+daran, aber entartete, zum Laster.
+
+
+169.
+
+Viel von sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen.
+
+
+170.
+
+Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit, als im Tadel.
+
+
+171.
+
+Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntniss beinahe zum Lachen,
+wie zarte Hände an einem Cyklopen.
+
+
+172.
+
+Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man
+nicht Alle umarmen kann): aber gerade Das darf man dem Beliebigen
+nicht verrathen.....
+
+
+173.
+
+Man hasst nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn
+man gleich oder höher schätzt.
+
+
+174.
+
+Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein Fuhrwerk
+eurer Neigungen, - auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder
+unausstehlich?
+
+
+175.
+
+Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte.
+
+
+176.
+
+Die Eitelkeit Andrer geht uns nur dann wider den Geschmack, wenn sie
+wider unsre Eitelkeit geht.
+
+
+177.
+
+Ober Das, was "Wahrhaftigkeit" ist, war vielleicht noch Niemand
+wahrhaftig genug.
+
+
+178.
+
+Klugen Menschen glaubt man ihre Thorheiten nicht: welche Einbusse an
+Menschenrechten!
+
+
+179.
+
+Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig
+dagegen, dass wir uns inzwischen "gebessert" haben.
+
+
+180.
+
+Es giebt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten
+Glaubens an eine Sache ist.
+
+
+181.
+
+Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo Einem geflucht wird.
+
+
+182.
+
+Die Vertraulichkeit des überlegenen erbittert, weil sie nicht
+zurückgegeben werden darf. -
+
+
+183.
+
+"Nicht dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube,
+hat mich erschüttert." -
+
+
+184.
+
+Es giebt einen Übermuth der Güte, welcher sich wie Bosheit ausnimmt.
+
+
+185.
+
+"Er missfällt mir." - Warum? - "Ich bin ihm nicht gewachsen." - Hat je
+ein Mensch so geantwortet?
+
+
+
+
+Fünftes Hauptstück:
+
+Zur Naturgeschichte der Moral.
+
+186.
+
+Die moralische Empfindung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät,
+vielfach, reizbar, raffinirt, als die dazu gehörige "Wissenschaft
+der Moral" noch jung, anfängerhaft, plump und grobfingrig ist: - ein
+anziehender Gegensatz, der bisweilen in der Person eines Moralisten
+selbst sichtbar und leibhaft wird. Schon das Wort "Wissenschaft der
+Moral" ist in Hinsicht auf Das, was damit bezeichnet wird, viel
+zu hochmüthig und wider den guten Geschmack: welcher immer ein
+Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man sollte,
+in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth
+thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials,
+begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs
+zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen,
+zeugen und zu Grunde gehn, - und, vielleicht, Versuche, die
+wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden
+Krystallisation anschaulich zu machen, - als Vorbereitung zu einer
+Typenlehre der Moral. Freilich: man war bisher nicht so bescheiden.
+Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der
+lachen macht, von sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres,
+Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft
+befassten: sie wollten die Begründung der Moral, - und jeder Philosoph
+hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die Moral selbst
+aber galt als "gegeben". Wie ferne lag ihrem plumpen Stolze jene
+unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer
+Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein
+genug sein könnten! Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen die
+moralischen facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder
+als zufällige Abkürzung kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung,
+ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima's und
+Erdstriches, - gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker,
+Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig
+wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral
+gar nicht zu Gesichte: - als welche alle erst bei einer Vergleichung
+vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen "Wissenschaft der
+Moral" fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der
+Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas
+Problematisches gebe. Was die Philosophen "Begründung der Moral"
+nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur
+eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein
+neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb
+einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art
+Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: - und
+jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung,
+Vivisektion eben dieses Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit
+welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine
+eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die
+Wissenschaftlichkeit einer "Wissenschaft", deren letzte Meister noch
+wie die Kinder und die alten Weibchen reden: - "das Princip, sagt
+er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), der Grundsatz, über dessen
+Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo
+omnes, quantum potes, juva - das ist eigentlich der Satz, welchen zu
+begründen alle Sittenlehrer sich abmühen.... das eigentliche Fundament
+der Ethik, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden
+sucht." - Die Schwierigkeit, den angeführten Satz zu begründen, mag
+freilich gross sein - bekanntlich ist es auch Schopenhauern damit
+nicht geglückt -; und wer einmal gründlich nachgefühlt hat, wie
+abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt,
+deren Essenz Wille zur Macht ist -, der mag sich daran erinnern
+lassen, dass Schopenhauer, obschon Pessimist, eigentlich - die Flöte
+blies.... Täglich, nach Tisch: man lese hierüber seinen Biographen.
+Und beiläufig gefragt: ein Pessimist, ein Gott- und Welt-Verneiner,
+der vor der Moral Haltmacht, - der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst,
+zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich - ein Pessimist?
+
+
+187.
+
+Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie "es giebt in uns
+einen kategorischen Imperativ", kann man immer noch fragen: was sagt
+eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen,
+welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen
+sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will
+er sich selbst an's Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will
+er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären
+und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem
+Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen
+zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und
+schöpferische Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch
+Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: "was an mir achtbar ist,
+das ist, dass ich gehorchen kann, - und bei euch soll es nicht
+anders stehn, als bei mir!" - kurz, die Moralen sind auch nur eine
+Zeichensprache der Affekte.
+
+
+188.
+
+Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei
+gegen die "Natur", auch gegen die "Vernunft": das ist aber noch kein
+Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend
+einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft
+unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist,
+dass sie ein langer Zwang ist: um den Stoicismus oder Port-Royal oder
+das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern,
+unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht, -
+des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wie viel
+Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! -
+einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein
+unerbittliches Gewissen wohnt - "um einer Thorheit willen", wie
+utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, - "aus
+Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze", wie die Anarchisten sagen,
+die sich damit "frei", selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche
+Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit,
+Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder
+gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren,
+oder im Reden und überreden, in den Künsten ebenso wie in
+den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der "Tyrannei solcher
+Willkür-Gesetze" entwickelt hat; und allen Ernstes, die
+Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies "Natur"
+und "natürlich" sei - und nicht jenes laisser aller! jeder Künstler
+weiss, wie fern vom Gefühl des Sichgehen-lassens sein "natürlichster"
+Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den
+Augenblicken der "Inspiration", - und wie streng und fein er gerade
+da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch
+Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch
+der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes,
+Vielfaches, Vieldeutiges -). Das Wesentliche, "im Himmel und auf
+Erden", wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer
+Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas
+heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel
+Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, - irgend etwas
+Verklärendes, Raffinirtes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit
+des Geistes, der misstrauische Zwang in der Mittheilbarkeit der
+Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb
+einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen
+Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was
+geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den
+christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und
+zu rechtfertigen, - all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte,
+Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt,
+durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine
+rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde:
+zugegeben, dass dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist
+erdrückt, erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie
+überall zeigt sich "die Natur", wie sie ist, in ihrer ganzen
+verschwenderischen und gleichgültigen Grossartigkeit, welche empört,
+aber vornehm ist). Dass Jahrtausende lang die europäischen Denker nur
+dachten, um Etwas zu beweisen -heute ist uns umgekehrt jeder Denker
+verdächtig, der "Etwas beweisen will" -, dass ihnen bereits immer
+feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen
+sollte, etwa wie ehemals bei der asiatischen Astrologie oder wie heute
+noch bei der harmlosen christlich-moralischen Auslegung der nächsten
+persönlichen Ereignisse "zu Ehren Gottes" und "zum Heil der Seele": -
+diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit
+hat den Geist erzogen; die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen
+und feineren Verstande das unentbehrliche Mittel auch der geistigen
+Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral darauf hin ansehn: die "Natur"
+in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit
+hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach
+nächsten Aufgaben pflanzt, - welche die Verengerung der Perspektive,
+und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und
+Wachsthums-Bedingung lehrt. "Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf
+lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor
+dir selbst" - dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu
+sein, welcher freilich weder "kategorisch" ist, wie es der alte Kant
+von ihm verlangte (daher das "sonst" -), noch an den Einzelnen sich
+wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen,
+Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier "Mensch", an den
+Menschen.
+
+
+189.
+
+Die arbeitsamen Rassen finden eine grosse Beschwerde darin, den
+Müssiggang zu ertragen: es war ein Meisterstück des englischen
+Instinktes, den Sonntag in dem Maasse zu heiligen und zu langweiligen,
+dass der Engländer dabei wieder unvermerkt nach seinem Wochen-
+und Werktage lüstern wird: - als eine Art klug erfundenen, klug
+eingeschalteten Fastens, wie dergleichen auch in der antiken Welt
+reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen
+Völkern, nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit -). Es muss Fasten von
+vielerlei Art geben; und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten
+herrschen, haben die Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage
+einzuschieben, an denen solch ein Trieb in Ketten gelegt wird und
+wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte aus gesehn,
+erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend einem
+moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte
+Zwangs- und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken
+und niederwerfen, aber auch sich reinigen und schärfen lernt; auch
+einzelne philosophische Sekten (zum Beispiel die Stoa inmitten der
+hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen
+und geil gewordenen Luft) erlauben eine derartige Auslegung. - Hiermit
+ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade
+in der christlichsten Periode Europa's und überhaupt erst unter dem
+Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur
+Liebe (amour-passion) sublimirt hat.
+
+
+190.
+
+Es giebt Etwas in der Moral Plato's, das nicht eigentlich zu Plato
+gehört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfindet, man könnte
+sagen, trotz Plato: nämlich der Sokratismus, für den er eigentlich zu
+vornehm war. "Keiner will sich selbst Schaden thun, daher geschieht
+alles Schlechte unfreiwillig. Denn der Schlechte fügt sich selbst
+Schaden zu: das würde er nicht thun, falls er wüsste, dass das
+Schlechte schlecht ist. Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem
+Irrthum schlecht; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn
+notwendig - gut." - Diese Art zu schliessen riecht nach dem Pöbel,
+der am Schlechthandeln nur die leidigen Folgen in's Auge fasst und
+eigentlich urtheilt "es ist dumm, schlecht zu handeln"; während er
+"gut" mit "nützlich und angenehm" ohne Weiteres als identisch nimmt.
+Man darf bei jedem Utilitarismus der Moral von vornherein auf diesen
+gleichen Ursprung rathen und seiner Nase folgen: man wird selten irre
+gehn. - Plato hat Alles gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den
+Satz seines Lehrers hinein zu interpretiren, vor Allem sich selbst -,
+er, der verwegenste aller Interpreten, der den ganzen Sokrates nur
+wie ein populäres Thema und Volkslied von der Gasse nahm, um es in's
+Unendliche und Unmögliche zu variiren: nämlich in alle seine eignen
+Masken und Vielfältigkeiten. Im Scherz gesprochen, und noch dazu
+homerisch: was ist denn der platonische Sokrates, wenn nicht prósthe
+Pláton opithén te Pláton mésse te Chímaira.
+
+
+191.
+
+Das alte theologische Problem von "Glauben" und "Wissen" - oder,
+deutlicher, von Instinkt und Vernunft - also die Frage, ob in Hinsicht
+auf Werthschätzung der Dinge der Instinkt mehr Autorität verdiene, als
+die Vernünftigkeit, welche nach Gründen, nach einem "Warum?", als nach
+Zweckmässigkeit und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will,
+- es ist immer noch jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in
+der Person des Sokrates auftrat und lange vor dem Christenthum schon
+die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem
+Geschmack seines Talentes - dem eines überlegenen Dialektikers -
+zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt; und in Wahrheit, was hat
+er sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner
+vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren
+gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe
+ihres Handelns Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im Stillen und
+Geheimen, lachte er auch über sich selbst: er fand bei sich, vor
+seinem feineren Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit
+und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den
+Instinkten lösen! Man muss ihnen und auch der Vernunft zum Recht
+verhelfen, - man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft
+überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die
+eigentliche Falschheit jenes grossen geheimnissreichen Ironikers; er
+brachte sein Gewissen dahin, sich mit einer Art Selbstüberlistung
+zufrieden zu geben: im Grunde hatte er das Irrationale im moralischen
+Urtheile durchschaut. - Plato, in solchen Dingen unschuldiger und ohne
+die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand aller Kraft -
+der grössten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte! - sich
+beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel zugehen,
+auf das Gute, auf "Gott"; und seit Plato sind alle Theologen und
+Philosophen auf der gleichen Bahn, - das heisst, in Dingen der Moral
+hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen, "der
+Glaube", oder wie ich es nenne, "die Heerde" gesiegt. Man müsse
+denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich
+Grossvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autorität
+zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war
+oberflächlich.
+
+
+192.
+
+Wer der Geschichte einer einzelnen Wissenschaft nachgegangen ist,
+der findet in ihrer Entwicklung einen Leitfaden zum Verständniss der
+ältesten und gemeinsten Vorgänge alles "Wissens und Erkennens": dort
+wie hier sind die voreiligen Hypothesen, die Erdichtungen, der gute
+dumme Wille zum "Glauben", der Mangel an Misstrauen und Geduld zuerst
+entwickelt, - unsre Sinne lernen es spät, und lernen es nie ganz,
+feine treue vorsichtige Organe der Erkenntniss zu sein. Unserm Auge
+fällt es bequemer, auf einen gegebenen Anlass hin ein schon öfter
+erzeugtes Bild wieder zu erzeugen, als das Abweichende und Neue eines
+Eindrucks bei sich festzuhalten: letzteres braucht mehr Kraft, mehr
+"Moralität". Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig;
+fremde Musik hören wir schlecht. Unwillkürlich versuchen wir, beim
+Hören einer andren Sprache, die gehörten Laute in Worte einzuformen,
+welche uns vertrauter und heimischer klingen: so machte sich zum
+Beispiel der Deutsche ehemals aus dem gehörten arcubalista das Wort
+Armbrust zurecht. Das Neue findet auch unsre Sinne feindlich und
+widerwillig; und überhaupt herrschen schon bei den "einfachsten"
+Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht, Liebe, Hass,
+eingeschlossen die passiven Affekte der Faulheit. - So wenig ein Leser
+heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich
+abliest - er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach
+Zufall heraus und "erräth" den zu diesen fünf Worten muthmaasslich
+zugehörigen Sinn -, eben so wenig sehen wir einen Baum genau und
+vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt
+uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu phantasiren.
+Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso:
+wir erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses und sind
+kaum dazu zu zwingen, nicht als "Erfinder" irgend einem Vorgange
+zuzuschauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters
+her - an's Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer,
+kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man
+weiss. - In einem lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der
+Person, mit der ich rede, je nach dem Gedanken, den sie äussert, oder
+den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und feinbestimmt
+vor mir, dass dieser Grad von Deutlichkeit weit über die Kraft meines
+Sehvermögens hinausgeht: - die Feinheit des Muskelspiels und des
+Augen-Ausdrucks muss also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich
+machte die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins.
+
+
+193.
+
+Quidquid luce fuit, tenebris agit: aber auch umgekehrt. Was wir im
+Traume erleben, vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehört
+zuletzt so gut zum Gesammt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas
+"wirklich" Erlebtes: wir sind vermöge desselben reicher oder ärmer,
+haben ein Bedürfniss mehr oder weniger und werden schliesslich am
+hellen lichten Tage, und selbst in den heitersten Augenblicken unsres
+wachen Geistes, ein Wenig von den Gewöhnungen unsrer Träume gegängelt.
+Gesetzt, dass Einer in seinen Träumen oftmals geflogen ist und
+endlich, sobald er träumt, sich einer Kraft und Kunst des Fliegens
+wie seines Vorrechtes bewusst wird, auch wie seines eigensten
+beneidenswerthen Glücks: ein Solcher, der jede Art von Bogen und
+Winkeln mit dem leisesten Impulse verwirklichen zu können glaubt,
+der das Gefühl einer gewissen göttlichen Leichtfertigkeit kennt,
+ein "nach, Oben" ohne Spannung und Zwang, ein "nach Unten" ohne
+Herablassung und Erniedrigung - ohne Schwere! - wie sollte der Mensch
+solcher Traum-Erfahrungen und Traum-Gewohnheiten nicht endlich auch
+für seinen wachen Tag das Wort "Glück" anders gefärbt und bestimmt
+finden! wie sollte er nicht anders nach Glück - verlangen
+"Aufschwung", so wie dies von Dichtern beschrieben wird, muss ihm,
+gegen jenes "Fliegen" gehalten, schon zu erdenhaft, muskelhaft,
+gewaltsam, schon zu "schwer" sein.
+
+
+194.
+
+Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der
+Verschiedenheit ihrer Gütertafeln, also darin, dass sie verschiedene
+Güter für erstrebenswerth halten und auch über das Mehr und Weniger
+des Werthes, über die Rangordnung der gemeinsam anerkannten Güter mit
+einander uneins sind: - sie zeigt sich noch mehr in dem, was ihnen
+als wirkliches Haben und Besitzen eines Gutes gilt. In Betreff eines
+Weibes zum Beispiel gilt dem Bescheideneren schon die Verfügung über
+den Leib und der Geschlechtsgenuss als ausreichendes und genugthuendes
+Anzeichen des Habens, des Besitzens; ein Anderer, mit seinem
+argwöhnischeren und anspruchsvolleren Durste nach Besitz, sieht das
+"Fragezeichen", das nur Scheinbare eines solchen Habens, und will
+feinere Proben, vor Allem, um zu wissen, ob das Weib nicht nur ihm
+sich giebt, sondern auch für ihn lässt, was sie hat oder gerne hätte
+-: so erst gilt es ihm als "besessen". Ein Dritter aber ist auch hier
+noch nicht am Ende seines Misstrauens und Habenwollens, er fragt sich,
+ob das Weib, wenn es Alles für ihn lässt, dies nicht etwa für ein
+Phantom von ihm thut: er will erst gründlich, ja abgründlich gut
+gekannt sein, um überhaupt geliebt werden zu können, er wagt es, sich
+errathen zu lassen -. Erst dann fühlt er die Geliebte völlig in seinem
+Besitze, wenn sie sich nicht mehr über ihn betrügt, wenn sie ihn um
+seiner Teufelei und versteckten Unersättlichkeit willen eben so sehr
+liebt, als um seiner Güte, Geduld und Geistigkeit willen. Jener möchte
+ein Volk besitzen: und alle höheren Cagliostro- und Catilina-Künste
+sind ihm zu diesem Zwecke recht. Ein Anderer, mit einem feineren
+Besitzdurste, sagt sich "man darf nicht betrügen, wo man besitzen
+will" -, er ist gereizt und ungeduldig bei der Vorstellung, dass eine
+Maske von ihm über das Herz des Volks gebietet: "also muss ich mich
+kennen lassen und, vorerst, mich selbst kennen!" Unter hülfreichen und
+wohlthätigen Menschen findet man jene plumpe Arglist fast regelmässig
+vor, welche sich Den, dem geholfen werden soll, erst zurecht macht:
+als ob er zum Beispiel Hülfe "verdiene", gerade nach ihrer Hülfe
+verlange, und für alle Hülfe sich ihnen tief dankbar, anhänglich,
+unterwürfig beweisen werde, - mit diesen Einbildungen verfügen sie
+über den Bedürftigen wie über ein Eigenthum, wie sie aus einem
+Verlangen nach Eigenthum überhaupt wohlthätige und hülfreiche Menschen
+sind. Man findet sie eifersüchtig, wenn man sie beim Helfen kreuzt
+oder ihnen zuvorkommt. Die Eltern machen unwillkürlich aus dem Kinde
+etwas ihnen Ähnliches - sie nennen das "Erziehung" -, keine Mutter
+zweifelt im Grunde ihres Herzens daran, am Kinde sich ein Eigenthum
+geboren zu haben, kein Vater bestreitet sich das Recht, es seinen
+Begriffen und Werthschätzungen unterwerfen zu dürfen. Ja, ehemals
+schien es den Vätern billig, über Leben und Tod des Neugebornen (wie
+unter den alten Deutschen) nach Gutdünken zu verfügen. Und wie der
+Vater, so sehen auch jetzt noch der Lehrer, der Stand, der Priester,
+der Fürst in jedem neuen Menschen eine unbedenkliche Gelegenheit zu
+neuem Besitze. Woraus folgt.....
+
+
+195.
+
+Die Juden - ein Volk "geboren zur Sklaverei", wie Tacitus und die
+ganze antike Welt sagt, "das auserwählte Volk unter den Völkern", wie
+sie selbst sagen und glauben - die Juden haben jenes Wunderstück von
+Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, Dank welchem das Leben auf
+der Erde für ein Paar Jahrtausende einen neuen und gefährlichen
+Reiz erhalten hat: - ihre Propheten haben "reich" "gottlos" "böse"
+"gewaltthätig" "sinnlich" in Eins geschmolzen und zum ersten Male das
+Wort "Welt", zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe
+(zu der es gehört, das Wort für "Arm" als synonym mit "Heilig" und
+"Freund" zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks: mit ihm
+beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral.
+
+
+196.
+
+Es giebt unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu erschliessen,
+- solche die wir nie sehen werden. Das ist, unter uns gesagt, ein
+Gleichniss; und ein Moral-Psycholog liest die gesammte Sternenschrift
+nur als eine Gleichniss- und Zeichensprache, mit der sich Vieles
+verschweigen lässt.
+
+
+197.
+
+Man missversteht das Raubthier und den Raubmenschen (zum Beispiele
+Cesare Borgia) gründlich, man missversteht die "Natur", so lange man
+noch nach einer "Krankhaftigkeit" im Grunde dieser gesündesten aller
+tropischen Unthiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen
+eingeborenen "Hölle" -: wie es bisher fast alle Moralisten gethan
+haben. Es scheint, dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den
+Urwald und gegen die Tropen giebt? Und dass der "tropische Mensch"
+um jeden Preis diskreditirt werden muss, sei es als Krankheit und
+Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung?
+Warum doch? Zu Gunsten der "gemässigten Zonen"? Zu Gunsten der
+gemässigten Menschen? Der "Moralischen"? Der Mittelmässigen? - Dies
+zum Kapitel "Moral als Furchtsamkeit". -
+
+
+198.
+
+Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum
+Zwecke ihres "Glückes", wie es heisst, - was sind sie Anderes, als
+Verhaltungs-Vorschläge im Verhältniss zum Grade der Gefährlichkeit, in
+welcher die einzelne Person mit sich selbst lebt; Recepte gegen ihre
+Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so fern sie den Willen
+zur Macht haben und den Herrn spielen möchten; kleine und grosse
+Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter
+Hausmittel und Altweiber-Weisheit; allesammt in der Form barock und
+unvernünftig - weil sie sich an "Alle" wenden, weil sie generalisiren,
+wo nicht generalisirt werden darf -, allesammt unbedingt redend, sich
+unbedingt nehmend, allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt,
+vielmehr erst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn
+sie überwürzt und gefährlich zu riechen lernen, vor Allem "nach der
+anderen Welt": Das ist Alles, intellektuell gemessen, wenig werth und
+noch lange nicht "Wissenschaft", geschweige denn "Weisheit", sondern,
+nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit,
+gemischt mit Dummheit, Dummheit, Dummheit, - sei es nun jene
+Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der
+Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten; oder auch jenes
+Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv
+befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion
+derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches
+Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der
+Aristotelismus der Moral; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer
+absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der
+Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um
+Gotteswillen - denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder
+Bürgerrecht, vorausgesetzt dass; zuletzt selbst jene entgegenkommende
+und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe
+gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-
+leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und
+Trunkenbolde, bei denen es "wenig Gefahr mehr hat". Auch Dies zum
+Kapitel "Moral als Furchtsamkeit".
+
+
+199.
+
+Insofern es zu allen Zeiten, so lange es Menschen giebt, auch
+Menschenheerden gegeben hat (Geschlechts-Verbände, Gemeinden,
+Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer sehr viel Gehorchende im
+Verhältniss zu der kleinen Zahl Befehlender, - in Anbetracht also,
+dass Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt
+und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, dass
+durchschnittlich jetzt einem jeden das Bedürfniss darnach angeboren
+ist, als eine Art formalen Gewissens, welches gebietet: "du sollst
+irgend Etwas unbedingt thun, irgend Etwas unbedingt lassen", kurz "du
+sollst". Dies Bedürfniss sucht sich zu sättigen und seine Form mit
+einem Inhalte zu füllen; es greift dabei, gemäss seiner Stärke,
+Ungeduld und Spannung, wenig wählerisch, als ein grober Appetit, zu
+und nimmt an, was ihm nur von irgend welchen Befehlenden - Eltern,
+Lehrern, Gesetzen, Standesvorurtheilen, öffentlichen Meinungen -
+in's Ohr gerufen wird. Die seltsame Beschränktheit der menschlichen
+Entwicklung, das Zögernde, Langwierige, oft Zurücklaufende und
+Sich-Drehende derselben beruht darauf, dass der Heerden-Instinkt des
+Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des Befehlens vererbt
+wird. Denkt man sich diesen Instinkt einmal bis zu seinen letzten
+Ausschweifungen schreitend, so fehlen endlich geradezu die
+Befehlshaber und Unabhängigen; oder sie leiden innerlich am
+schlechten Gewissen und haben nöthig, sich selbst erst eine Täuschung
+vorzumachen, um befehlen zu können: nämlich als ob auch sie nur
+gehorchten. Dieser Zustand besteht heute thatsächlich in Europa: ich
+nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich
+nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch,
+dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der
+Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes)
+oder selbst von der Heerden-Denkweise her sich Heerden-Maximen borgen,
+zum Beispiel als "erste Diener ihres Volks" oder als "Werkzeuge
+des gemeinen Wohls". Auf der anderen Seite giebt sich heute der
+Heerdenmensch in Europa das Ansehn, als sei er die einzig erlaubte
+Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er
+zahm, verträglich und der Heerde nützlich ist, als die eigentlich
+menschlichen Tugenden: also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiss,
+Mässigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden. Für die Fälle aber,
+wo man der Führer und Leithammel nicht entrathen zu können glaubt,
+macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addiren kluger
+Heerdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen: dieses Ursprungs sind
+zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen. Welche Wohlthat,
+welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz
+Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für diese
+Heerdenthier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das
+Erscheinen Napoleon's machte, das letzte grosse Zeugniss: - die
+Geschichte der Wirkung Napoleon's ist beinahe die Geschichte des
+höheren Glücks, zu dem es dieses ganze Jahrhundert in seinen
+werthvollsten Menschen und Augenblicken gebracht hat.
+
+
+200.
+
+Der Mensch aus einem Auflösungs-Zeitalter, welches die Rassen durch
+einander wirft, der als Solcher die Erbschaft einer vielfältigen
+Herkunft im Leibe hat, das heisst gegensätzliche und oft nicht einmal
+nur gegensätzliche Triebe und Werthmaasse, welche mit einander kämpfen
+und sich selten Ruhe geben, - ein solcher Mensch der späten Culturen
+und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer
+Mensch sein: sein gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der
+Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe; das Glück erscheint ihm, in
+Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder
+christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als das Glück des
+Ausruhens, der Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als
+"Sabbat der Sabbate", um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden,
+der selbst ein solcher Mensch war. - Wirkt aber der Gegensatz und
+Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr -,
+und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben
+auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit
+sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt
+und angezüchtet: so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und
+Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten
+Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck Alciblades und Caesar (-
+denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem Geschmack, den
+Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern
+vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben
+Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe,
+in den Vordergrund tritt.- beide Typen gehören zu einander und
+entspringen den gleichen Ursachen.
+
+
+201.
+
+So lange die Nützlichkeit, die in den moralischen Werthurtheilen
+herrscht, allein die Heerden-Nützlichkeit ist, so lange der
+Blick einzig der Erhaltung der Gemeinde zugewendet ist, und das
+Unmoralische genau und ausschliesslich in dem gesucht wird, was dem
+Gemeinde-Bestand gefährlich scheint: so lange kann es noch keine
+"Moral der Nächstenliebe" geben. Gesetzt, es findet sich auch da
+bereits eine beständige kleine Übung von Rücksicht, Mitleiden,
+Billigkeit, Milde, Gegenseitigkeit der Hülfeleistung, gesetzt, es
+sind auch auf diesem Zustande der Gesellschaft schon alle jene Triebe
+thätig, welche später mit Ehrennamen, als "Tugenden" bezeichnet
+werden und schliesslich fast mit dem Begriff "Moralität" in Eins
+zusammenfallen: in jener Zeit gehören sie noch gar nicht in das Reich
+der moralischen Werthschätzungen - sie sind noch aussermoralisch. Eine
+mitleidige Handlung zum Beispiel heisst in der besten Römerzeit weder
+gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch; und wird sie selbst
+gelobt, so verträgt sich mit diesem Lobe noch auf das Beste eine
+Art unwilliger Geringschätzung, sobald sie nämlich mit irgend einer
+Handlung zusammengehalten wird, welche der Förderung des Ganzen, der
+res publica, dient. Zuletzt ist die "Liebe zum Nächsten" immer etwas
+Nebensächliches, zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares
+im Verhältniss zur Furcht vor dem Nächsten. Nachdem das Gefüge der
+Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen äussere Gefahren
+gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nächsten, welche
+wieder neue Perspektiven der moralischen Werthschätzung schafft.
+Gewisse starke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust,
+Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht, die
+bisher in einem gemeinnützigen Sinne nicht nur geehrt unter anderen
+Namen, wie billig, als den eben gewählten sondern gross-gezogen und
+-gezüchtet werden mussten (weil man ihrer in der Gefahr des Ganzen
+gegen die Feinde des Ganzen beständig bedurfte), werden nunmehr
+in ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden - jetzt, wo die
+Abzugskanäle für sie fehlen - und schrittweise, als unmoralisch,
+gebrandmarkt und der Verleumdung preisgegeben. Jetzt kommen die
+gegensätzlichen Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren; der
+Heerden-Instinkt zieht, Schritt für Schritt, seine Folgerung. Wie viel
+oder wie wenig Gemein-Gefährliches, der Gleichheit Gefährliches in
+einer Meinung, in einem Zustand und Affekte, in einem Willen, in einer
+Begabung liegt, das ist jetzt die moralische Perspektive: die Furcht
+ist auch hier wieder die Mutter der Moral. An den höchsten und
+stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich ausbrechend, den
+Einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederung des
+Heerdengewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl
+der Gemeinde zu Grunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat gleichsam,
+zerbricht: folglich wird man gerade diese Triebe am besten brandmarken
+und verleumden. Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum
+Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden;
+Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten
+Furcht macht, heisst von nun an böse; die billige, bescheidene,
+sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmaass der
+Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren. Endlich, unter sehr
+friedfertigen Zuständen, fehlt die Gelegenheit und Nöthigung immer
+mehr, sein Gefühl zur Strenge und Härte zu erziehn; und jetzt beginnt
+jede Strenge, selbst in der Gerechtigkeit, die Gewissen zu stören;
+eine hohe und harte Vornehmheit und Selbst-Verantwortlichkeit
+beleidigt beinahe und erweckt Misstrauen, "das Lamm", noch mehr "das
+Schlaf" gewinnt an Achtung. Es giebt einen Punkt von krankhafter
+Vermürbung und Verzärtlichung in der Geschichte der Gesellschaft, wo
+sie selbst für ihren Schädiger, den Verbrecher Partei nimmt, und zwar
+ernsthaft und ehrlich. Strafen: das scheint ihr irgendworin unbillig,
+- gewiss ist, dass die Vorstellung "Strafe" und "Strafen-Sollen"
+ihr wehe thut, ihr Furcht macht. "Genügt es nicht, ihn ungefährlich
+machen? Wozu noch strafen? Strafen selbst ist fürchterlich!" - mit
+dieser Frage zieht die Heerden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit ihre
+letzte Consequenz. Gesetzt, man könnte überhaupt die Gefahr, den Grund
+zum Fürchten abschaffen, so hätte man diese Moral mit abgeschafft: sie
+wäre nicht mehr nöthig, sie hielte sich selbst nicht mehr für nöthig!
+- Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend
+moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ
+herauszuziehen haben, den Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit: "wir
+wollen, dass es irgendwann einmal Nichts mehr zu fürchten giebt!"
+Irgendwann einmal - der Wille und Weg dorthin heisst heute in Europa
+überall der "Fortschritt".
+
+
+202.
+
+Sagen wir es sofort noch einmal, was wir schon hundert Mal gesagt
+haben: denn die Ohren sind für solche Wahrheiten - für unsere
+Wahrheiten - heute nicht gutwillig. Wir wissen es schon genug, wie
+beleidigend es klingt, wenn Einer überhaupt den Menschen ungeschminkt
+und ohne Gleichniss zu den Thieren rechnet; aber es wird beinahe
+als Schuld uns angerechnet werden, dass wir gerade in Bezug auf die
+Menschen der "modernen Ideen" beständig die Ausdrücke "Heerde",
+"Heerden-Instinkte" und dergleichen gebrauchen. Was hilft es! Wir
+können nicht anders: denn gerade hier liegt unsre neue Einsicht. Wir
+fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig
+geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europa's Einfluss
+herrscht: man weiss ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu
+wissen meinte, und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren
+verhiess, - man "weiss" heute, was Gut und Böse ist. Nun muss es hart
+klingen und schlecht zu Ohren gehn, wenn wir immer von Neuem darauf
+bestehn: was hier zu wissen glaubt, was hier mit seinem Loben und
+Tadeln sich selbst verherrlicht, sich selbst gut heisst, ist der
+Instinkt des Heerdenthiers Mensch: als welcher zum Durchbruch, zum
+Übergewicht, zur Vorherrschaft über andere Instinkte gekommen ist und
+immer mehr kommt, gemäss der wachsenden physiologischen Annäherung
+und Anähnlichung, deren Symptom er ist. Moral ist heute in Europa
+Heerdenthier-Moral: - also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art
+von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor
+Allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche
+"Möglichkeit", gegen ein solches "Sollte" wehrt sich aber diese Moral
+mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und unerbittlich "ich bin die
+Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral!" - ja mit Hülfe einer
+Religion, welche den sublimsten Heerdenthier-Begierden zu Willen
+war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, dass wir selbst in
+den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer
+sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die demokratische Bewegung
+macht die Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die
+Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes
+noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer
+rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen
+der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der
+europäischen Cultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den
+friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr
+zu den tölpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern,
+welche sich Socialisten nennen und die "freie Gesellschaft" wollen, in
+Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründlichen und instinktiven
+Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die der
+autonomen Heerde (bis hinaus zur Ablehnung selbst der Begriffe "Herr"
+und "Knecht" - ni dieu ni maître heisst eine socialistische Formel
+-); Eins im zähen Widerstande gegen jeden Sonder-Anspruch, jedes
+Sonder-Recht und Vorrecht (das heisst im letzten Grunde gegen jedes
+Recht: denn dann, wenn Alle gleich sind, braucht Niemand mehr "Rechte"
+-); Eins im Misstrauen gegen die strafende Gerechtigkeit (wie als
+ob sie eine Vergewaltigung am Schwächeren, ein Unrecht an der
+nothwendigen Folge aller früheren Gesellschaft wäre -); aber ebenso
+Eins in der Religion des Mitleidens, im Mitgefühl, soweit nur gefühlt,
+gelebt, gelitten wird (bis hinab zum Thier, bis hinauf zu "Gott":
+- die Ausschweifung eines Mitleidens mit "Gott" gehört in ein
+demokratisches Zeitalter -); Eins allesammt im Schrei und der Ungeduld
+des Mitleidens, im Todhass gegen das Leiden überhaupt, in der fast
+weiblichen Unfähigkeit, Zuschauer dabei bleiben zu können, leiden
+lassen zu können; Eins in der unfreiwilligen Verdüsterung und
+Verzärtlichung, unter deren Bann Europa von einem neuen Buddhismus
+bedroht scheint; Eins im Glauben an die Moral des gemeinsamen
+Mitleidens, wie als ob sie die Moral an sich sei, als die Höhe, die
+erreichte Höhe des Menschen, die alleinige Hoffnung der Zukunft, das
+Trostmittel der Gegenwärtigen, die grosse Ablösung aller Schuld von
+Ehedem: - Eins allesammt im Glauben an die Gemeinschaft als die
+Erlöserin, an die Heerde also, an sich......
+
+
+203.
+
+Wir, die wir eines andren Glaubens sind -, wir, denen die
+demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-Form
+der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich
+Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung
+und Werth-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen
+greifen? - Nach neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach
+Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu
+entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und "ewige Werthe"
+umzuwerthen, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der
+Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der
+den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. Dem Menschen
+die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem
+Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche
+von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen
+Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher "Geschichte" hiess, ein
+Ende zu machen - der Unsinn der "grössten Zahl" ist nur seine letzte
+Form -: dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und
+Befehlshabern nöthig sein, an deren Bilde sich Alles, was auf Erden
+an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist,
+blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es,
+das vor unsern Augen schwebt: - darf ich es laut sagen, ihr freien
+Geister? Die Umstände, welche man zu ihrer Entstehung theils schaffen,
+theils ausnützen müsste; die muthmaasslichen Wege und Proben, vermöge
+deren eine Seele zu einer solchen Höhe und Gewalt aufwüchse, um den
+Zwang zu diesen Aufgaben zu empfinden; eine Umwerthung der Werthe,
+unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein
+Herz in Erz verwandelt würde, dass es das Gewicht einer solchen
+Verantwortlichkeit ertrüge; andererseits die Nothwendigkeit solcher
+Führer, die erschreckliche Gefahr, dass sie ausbleiben oder missrathen
+und entarten könnten - das sind unsre eigentlichen Sorgen und
+Verdüsterungen, ihr wisst es, ihr freien Geister? das sind die
+schweren fernen Gedanken und Gewitter, welche über den Himmel unseres
+Lebens hingehn. Es giebt wenig so empfindliche Schmerzen, als einmal
+gesehn, errathen, mitgefühlt zu haben, wie ein ausserordentlicher
+Mensch aus seiner Bahn gerieth und entartete: wer aber das seltene
+Auge für die Gesammt-Gefahr hat, dass "der Mensch" selbst entartet,
+wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit erkannt hat, welche
+bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte -
+ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein "Finger Gottes"
+mitspielte! - wer das Verhängniss, erräth, das in der blödsinnigen
+Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der "modernen Ideen", noch mehr
+in der ganzen christlich-europäischen Moral verborgen liegt: der
+leidet an einer Beängstigung, mit der sich keine andere vergleichen
+lässt, - er fasst es ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer
+günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, aus
+dem Menschen zu züchten wäre, er weiss es mit allem Wissen seines
+Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten
+Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an
+geheimnissvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat: -
+er weiss es noch besser, aus seiner schmerzlichsten Erinnerung, an
+was für erbärmlichen Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher
+gewöhnlich zerbrach, abbrach, absank, erbärmlich ward. Die
+Gesammt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den
+socialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr "Mensch der Zukunft"
+erscheint, - als ihr Ideal! - diese Entartung und Verkleinerung des
+Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere (oder, wie sie sagen, zum
+Menschen der "freien Gesellschaft"), diese Verthierung des Menschen
+zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist möglich, es ist
+kein Zweifel! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat,
+kennt einen Ekel mehr, als die übrigen Menschen, - und vielleicht auch
+eine neue Aufgabe!....
+
+
+
+
+Sechstes Hauptstück:
+
+Wir Gelehrten.
+
+204.
+
+Auf die Gefahr hin, dass Moralisiren sich auch hier als Das
+herausstellt, was es immer war - nämlich als ein unverzagtes montrer
+ses plaies, nach Balzac -, möchte ich wagen, einer ungebührlichen und
+schädlichen Rangverschiebung entgegenzutreten, welche sich heute, ganz
+unvermerkt und wie mit dem besten Gewissen, zwischen Wissenschaft
+und Philosophie herzustellen droht. Ich meine, man muss von seiner
+Erfahrung aus - Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer schlimme
+Erfahrung? - ein Recht haben, über eine solche höhere Frage des Rangs
+mitzureden: um nicht wie die Blinden von der Farbe oder wie Frauen
+und Künstler gegen die Wissenschaft zu reden ("ach, diese schlimme
+Wissenschaft! seufzt deren Instinkt und Scham, sie kommt immer
+dahinter!" -). Die Unabhängigkeits-Erklärung des wissenschaftlichen
+Menschen, seine Emancipation von der Philosophie, ist eine der
+feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens: die
+Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten steht heute
+überall in voller Blüthe und in ihrem besten Frühlinge, - womit noch
+nicht gesagt sein soll, dass in diesem Falle Eigenlob lieblich röche.
+"Los von allen Herren!" - so will es auch hier der pöbelmännische
+Instinkt; und nachdem sich die Wissenschaft mit glücklichstem Erfolge
+der Theologie erwehrt hat, deren "Magd" sie zu lange war, ist sie nun
+in vollem Übermuthe und Unverstande darauf hin aus, der Philosophie
+Gesetze zu machen und ihrerseits einmal den "Herrn" - was sage ich!
+den Philosophen zu spielen. Mein Gedächtniss - das Gedächtniss eines
+wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub! - strotzt von Naivetäten des
+Hochmuths, die ich seitens junger Naturforscher und alter Ärzte über
+Philosophie und Philosophen gehört habe (nicht zu reden von den
+gebildetsten und eingebildetsten aller Gelehrten, den Philologen und
+Schulmännern, welche Beides von Berufs wegen sind -). Bald war es der
+Spezialist und Eckensteher, der sich instinktiv überhaupt gegen alle
+synthetischen Aufgaben und Fähigkeiten zur Wehre setzte; bald der
+fleissige Arbeiter, der einen Geruch von otium und der vornehmen
+Üppigkeit im Seelen-Haushalte des Philosophen bekommen hatte und
+sich dabei beeinträchtigt und verkleinert fühlte. Bald war es jene
+Farben-Blindheit des Nützlichkeits-Menschen, der in der Philosophie
+Nichts sieht, als eine Reihe widerlegter Systeme und einen
+verschwenderischen Aufwand, der Niemandem "zu Gute kommt". Bald sprang
+die Furcht vor verkappter Mystik und Grenzberichtigung des Erkennens
+hervor; bald die Missachtung einzelner Philosophen, welche sich
+unwillkürlich zur Missachtung der Philosophie verallgemeinert hatte.
+Am häufigsten endlich fand ich bei jungen Gelehrten hinter der
+hochmüthigen Geringschätzung der Philosophie die schlimme Nachwirkung
+eines Philosophen selbst, dem man zwar im Ganzen den Gehorsam
+gekündigt hatte, ohne doch aus dem Banne seiner wegwerfenden
+Werthschätzungen anderer Philosophen herausgetreten zu sein: - mit
+dem Ergebniss einer Gesammt-Verstimmung gegen alle Philosophie.
+(Dergestalt scheint mir zum Beispiel die Nachwirkung Schopenhauer's
+auf das neueste Deutschland zu sein: - er hat es mit seiner
+unintelligenten Wuth auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte
+Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur
+herauszubrechen, welche Cultur, Alles wohl erwogen, eine Höhe und
+divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist: aber
+Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität
+arm, unempfänglich, undeutsch.) Überhaupt in's Grosse gerechnet, mag
+es vor Allem das Menschliche, Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit
+der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der
+Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und dem pöbelmännischen
+Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis
+zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite,
+Plato's, Empedokles', und wie alle diese königlichen und prachtvollen
+Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht; und mit wie gutem
+Rechte Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank
+der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind - in Deutschland zum
+Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring
+und der Amalgamist Eduard von Hartmann - ein braver Mensch der
+Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen darf. Es ist
+in Sonderheit der Anblick jener Mischmasch-Philosophen, die sich
+"Wirklichkeits-Philosophen" oder "Positivisten" nennen, welcher
+ein gefährliches Misstrauen in die Seele eines jungen, ehrgeizigen
+Gelehrten zu werfen im Stande ist: das sind ja besten Falls selbst
+Gelehrte und Spezialisten, man greift es mit Händen! - das sind ja
+allesammt überwundene und unter die Botmässigkeit der Wissenschaft
+Zurückgebrachte, welche irgendwann einmal mehr von sich gewollt haben,
+ohne ein Recht zu diesem "mehr" und seiner Verantwortlichkeit zu haben
+- und die jetzt, ehrsam, ingrimmig, rachsüchtig, den Unglauben an die
+Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie mit Wort und
+That repräsentiren. Zuletzt: wie könnte es auch anders sein! Die
+Wissenschaft blüht heute und hat das gute Gewissen reichlich im
+Gesichte, während Das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich
+gesunken ist, dieser Rest Philosophie von heute, Misstrauen und
+Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht.
+Philosophie auf "Erkenntnisstheorie" reduzirt, thatsächlich nicht
+mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre: eine
+Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinweg kommt und sich
+peinlich das Recht zum Eintritt verweigert - das ist Philosophie in
+den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, Etwas das Mitleiden macht.
+Wie könnte eine solche Philosophie - herrschen!
+
+
+205.
+
+Die Gefahren für die Entwicklung des Philosophen sind heute in
+Wahrheit so vielfach, dass man zweifeln möchte, ob diese Frucht
+überhaupt noch reif werden kann. Der Umfang und der Thurmbau der
+Wissenschaften ist in's Ungeheure gewachsen, und damit auch die
+Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als Lernender müde wird
+oder sich irgendwo festhalten und "spezialisiren" lässt: so dass
+er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick,
+Niederblick kommt. Oder er gelangt zu spät hinauf, dann, wenn seine
+beste Zeit und Kraft schon vorüber ist; oder beschädigt, vergröbert,
+entartet, so dass sein Blick, sein Gesammt-Werthurtheil wenig mehr
+bedeutet. Gerade die Feinheit seines intellektuellen Gewissens lässt
+ihn vielleicht unterwegs zögern und sich verzögern; er fürchtet die
+Verführung zum Dilettanten, zum Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn,
+er weiss es zu gut, dass Einer, der vor sich selbst die Ehrfurcht
+verloren hat, auch als Erkennender nicht mehr befiehlt, nicht mehr
+führt: er müsste denn schon zum grossen Schauspieler werden wollen,
+zum philosophischen Cagliostro und Rattenfänger der Geister, kurz
+zum Verführer. Dies ist zuletzt eine Frage des Geschmacks: wenn es
+selbst nicht eine Frage des Gewissens wäre. Es kommt hinzu, um die
+Schwierigkeit des Philosophen noch einmal zu verdoppeln, dass er von
+sich ein Urtheil, ein ja oder Nein, nicht über die Wissenschaften,
+sondern über das Leben und den Werth des Lebens verlangt, - dass er
+ungern daran glauben lernt, ein Recht oder gar eine Pflicht zu diesem
+Urtheile zu haben, und sich nur aus den umfänglichsten - vielleicht
+störendsten, zerstörendsten - Erlebnissen heraus und oft zögernd,
+zweifelnd, verstummend seinen Weg zu jenem Rechte und jenem Glauben
+suchen muss. In der That, die Menge hat den Philosophen lange
+Zeit verwechselt und verkannt, sei es mit dem wissenschaftlichen
+Menschen und idealen Gelehrten, sei es mit dem religiös-gehobenen
+entsinnlichten "entweltlichten" Schwärmer und Trunkenbold Gottes; und
+hört man gar heute jemanden loben, dafür, dass er "weise" lebe oder
+"als ein Philosoph", so bedeutet es beinahe nicht mehr, als "klug und
+abseits". Weisheit: das scheint dem Pöbel eine Art Flucht zu sein,
+ein Mittel und Kunststück, sich gut aus einem schlimmen Spiele
+herauszuziehn; aber der rechte Philosoph - so scheint es uns, meine
+Freunde? - lebt "unphilosophisch" und "unweise", vor Allem unklug,
+und fühlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen
+des Lebens: - er risquirt sich beständig, er spielt das schlimme
+Spiel.....
+
+
+206.
+
+Im Verhältnisse zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen, welches
+entweder zeugt oder gebiert, beide Worte in ihrem höchsten
+Umfange genommen -, hat der Gelehrte, der wissenschaftliche
+Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer: denn er
+versteht sich gleich dieser nicht auf die zwei werthvollsten
+Verrichtungen des Menschen. In der That, man gesteht ihnen Beiden,
+den Gelehrten und den alten Jungfern, gleichsam zur Entschädigung die
+Achtbarkeit zu - man unterstreicht in diesen Fällen die Achtbarkeit -
+und hat noch an dem Zwange dieses Zugeständnisses den gleichen Beisatz
+von Verdruss. Sehen wir genauer zu: was ist der wissenschaftliche
+Mensch? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden einer
+unvornehmen, das heisst nicht herrschenden, nicht autoritativen
+und auch nicht selbstgenugsamen Art Mensch: er hat Arbeitsamkeit,
+geduldige Einordnung in Reih und Glied, Gleichmässigkeit und Maass
+im Können und Bedürfen, er hat den Instinkt für Seines gleichen und
+für Das, was Seinesgleichen nöthig hat, zum Beispiel jenes Stück
+Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welches es keine Ruhe der
+Arbeit giebt, jenen Anspruch auf Ehre und Anerkennung (die zuerst und
+zuoberst Erkennung, Erkennbarkeit voraussetzt -), jenen Sonnenschein
+des guten Namens, jene beständige Besiegelung seines Werthes und
+seiner Nützlichkeit, mit der das innerliche Misstrauen, der Grund
+im Herzen aller abhängigen Menschen und Heerdenthiere, immer wieder
+überwunden werden muss. Der Gelehrte hat, wie billig, auch die
+Krankheiten und Unarten einer unvornehmen Art: er ist reich am kleinen
+Neide und hat ein Luchsauge für das Niedrige solcher Naturen, zu deren
+Höhen er nicht hinauf kann. Er ist zutraulich, doch nur wie Einer,
+der sich gehen, aber nicht strömen lässt; und gerade vor dem Menschen
+des grossen Stroms steht er um so kälter und verschlossener da, -
+sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich
+kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und
+Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom
+Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus
+der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen
+Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen
+oder - noch lieber! - abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit
+Rücksicht, mit schonender Hand natürlich -, mit zutraulichem Mitleiden
+abspannen: das ist die eigentliche Kunst des Jesuitismus, der es immer
+verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens einzuführen. -
+
+
+207.
+
+Wie dankbar man auch immer dem objektiven Geiste entgegenkommen
+mag - und wer wäre nicht schon einmal alles Subjektiven und seiner
+verfluchten Ipsissimosität bis zum Sterben satt gewesen! - zuletzt
+muss man aber auch gegen seine Dankbarkeit Vorsicht lernen und
+der Übertreibung Einhalt thun, mit der die Entselbstung und
+Entpersönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung
+und Verklärung neuerdings gefeiert wird: wie es namentlich innerhalb
+der Pessimisten-Schule zu geschehn pflegt, die auch gute Gründe hat,
+dem "interesselosen Erkennen" ihrerseits die höchsten Ehren zu geben.
+Der objektive Mensch, der nicht mehr flucht und schimpft, gleich
+dem Pessimisten, der ideale Gelehrte, in dem der wissenschaftliche
+Instinkt nach tausendfachem Ganz- und Halb-Missrathen einmal zum Auf-
+und Ausblühen kommt, ist sicherlich eins der kostbarsten Werkzeuge,
+die es giebt: aber er gehört in die Hand eines Mächtigeren. Er ist
+nur ein Werkzeug, sagen wir: er ist ein Spiegel, - er ist kein
+"Selbstzweck". Der objektive Mensch ist in der That ein Spiegel: vor
+Allem, was erkannt werden will, zur Unterwerfung gewohnt, ohne eine
+andre Lust, als wie sie das Erkennen, das "Abspiegeln" giebt, - er
+wartet, bis Etwas kommt, und breitet sich dann zart hin, dass auch
+leichte Fusstapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht
+auf seiner Fläche und Haut verloren gehen. Was von "Person" an ihm
+noch übrig ist, dünkt ihm zufällig, oft willkürlich, noch öfter
+störend: so sehr ist er sich selbst zum Durchgang und Wiederschein
+fremder Gestalten und Ereignisse geworden. Er besinnt sich auf "Sich"
+zurück, mit Anstrengung, nicht selten falsch; er verwechselt sich
+leicht, er vergreift sich in Bezug auf die eignen Nothdürfte und ist
+hier allein unfein und nachlässig. Vielleicht quält ihn die Gesundheit
+oder die Kleinlichkeit und Stubenluft von Weib und Freund, oder der
+Mangel an Gesellen und Gesellschaft, - ja, er zwingt sich, über seine
+Qual nachzudenken: umsonst! Schon schweift sein Gedanke weg, zum
+allgemeineren Falle, und morgen weiss er so wenig als er es gestern
+wusste, wie ihm zu helfen ist. Er hat den Ernst für sich verloren,
+auch die Zeit: er ist heiter, nicht aus Mangel an Noth, sondern
+aus Mangel an Fingern und Handhaben für seine Noth. Das gewohnte
+Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebniss, die sonnige und
+unbefangene Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn
+stösst, seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von gefährlicher
+Unbekümmertheit um Ja und Nein: ach, es giebt genug Fälle, wo er diese
+seine Tugenden büssen muss! - und als Mensch überhaupt wird er gar zu
+leicht das caput mortuum dieser Tugenden. Will man Liebe und Hass von
+ihm, ich meine Liebe und Hass, wie Gott, Weib und Thier sie verstehn
+-: er wird thun, was er kann, und geben, was er kann. Aber man soll
+sich nicht wundern, wenn es nicht viel ist, - wenn er da gerade sich
+unächt, zerbrechlich, fragwürdig und morsch zeigt. Seine Liebe ist
+gewollt, sein Hass künstlich und mehr un tour de force, eine kleine
+Eitelkeit und Übertreibung. Er ist eben nur ächt, so weit er objektiv
+sein darf: allein in seinem heitern Totalismus ist er noch "Natur"
+und "natürlich". Seine spiegelnde und ewig sich glättende Seele weiss
+nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen; er befiehlt nicht;
+er zerstört auch nicht. "Je ne méprise presque rien" - sagt er mit
+Leibnitz: man überhöre und unterschätze das presque nicht! Er ist auch
+kein Mustermensch; er geht Niemandem voran, noch nach; er stellt sich
+überhaupt zu ferne, als dass er Grund hätte, zwischen Gut und Böse
+Partei zu ergreifen. Wenn man ihn so lange mit dem Philosophen
+verwechselt hat, mit dem cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen
+der Cultur: so hat man ihm viel zu hohe Ehren gegeben und das
+Wesentlichste an ihm übersehen, - er ist ein Werkzeug, ein Stück
+Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des Sklaven, an sich aber
+Nichts, - presque rien! Der objektive Mensch ist ein Werkzeug, ein
+kostbares, leicht verletzliches und getrübtes Mess-Werkzeug und
+Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll; aber er ist kein
+Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein complementärer Mensch, in dem das
+übrige Dasein sich rechtfertigt, kein Schluss - und noch weniger ein
+Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges,
+Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will: vielmehr nur ein zarter
+ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf irgend einen
+Inhalt und Gehalt erst warten muss, um sich nach ihm "zu gestalten",
+- für gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein "selbstloser"
+Mensch. Folglich auch Nichts für Weiber, in parenthesi. -
+
+
+208.
+
+Wenn heute ein Philosoph zu verstehen giebt, er sei kein Skeptiker,
+- ich hoffe, man hat Das aus der eben gegebenen Abschilderung des
+objektiven Geistes herausgehört? - so hört alle Welt das ungern; man
+sieht ihn darauf an, mit einiger Scheu, man möchte so Vieles fragen,
+fragen... ja, unter furchtsamen Horchern, wie es deren jetzt in Menge
+giebt, heisst er von da an gefährlich. Es ist ihnen, als ob sie,
+bei seiner Ablehnung der Skepsis, von Ferne her irgend ein böses
+bedrohliches Geräusch hörten, als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff
+versucht werde, ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes
+Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloss
+Nein sagt, Nein will, sondern - schrecklich zu denken! Nein thut.
+Gegen diese Art von "gutem Willen" - einem Willen zur wirklichen
+thätlichen Verneinung des Lebens - giebt es anerkanntermaassen heute
+kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel, als Skepsis, den sanften
+holden einlullenden Mohn Skepsis; und Hamlet selbst wird heute von den
+Ärzten der Zeit gegen den "Geist" und sein Rumoren unter dem Boden
+verordnet. "Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen
+Geräuschen? sagt der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe
+als eine Art von Sicherheits-Polizei: dies unterirdische Nein ist
+fürchterlich! Stille endlich, ihr pessimistischen Maulwürfe!" Der
+Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht;
+sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei
+einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie einen Biss zu
+spüren. Ja! und Nein! - das geht ihm wider die Moral; umgekehrt liebt
+er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa
+indem er mit Montaigne spricht: "was weiss ich?" Oder mit Sokrates:
+"ich weiss, dass ich Nichts weiss". Oder: "hier traue ich mir nicht,
+hier steht mir keine Thür offen." Oder: "gesetzt, sie stünde offen,
+wozu gleich eintreten!" Oder: "wozu nützen alle vorschnellen
+Hypothesen? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten
+Geschmack gehören. Müsst ihr denn durchaus etwas Krummes gleich gerade
+biegen? Durchaus jedes Loch mit irgend welchem Werge ausstopfen? Hat
+das nicht Zeit? Hat die Zeit nicht Zeit? Oh ihr Teufelskerle, könnt
+ihr denn gar nicht warten? Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch
+die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine Philosophin." -
+Also tröstet sich ein Skeptiker; und es ist wahr, dass er einigen
+Trost nöthig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer
+gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in
+gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt; sie entsteht
+jedes Mal, wenn sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang
+von einander abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen
+Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe in's Blut
+vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch; die
+besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander
+nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht,
+Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit. Was aber in solchen
+Mischlingen am tiefsten krank wird und entartet, das ist der Wille:
+sie kennen das Unabhängige im Entschlusse, das tapfere Lustgefühl im
+Wollen gar nicht mehr, - sie zweifeln an der "Freiheit des Willens"
+auch noch in ihren Träumen. Unser Europa von heute, der Schauplatz
+eines unsinnig plötzlichen Versuchs von radikaler Stände- und folglich
+Rassenmischung, ist deshalb skeptisch in allen Höhen und Tiefen, bald
+mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von
+einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen
+überladene Wolke, - und seines Willens oft bis zum Sterben satt!
+Willenslähmung: wo findet man nicht heute diesen Krüppel sitzen! Und
+oft noch wie geputzt! Wie verführerisch herausgeputzt! Es giebt die
+schönsten Prunk- und Lügenkleider für diese Krankheit; und dass zum
+Beispiel das Meiste von dem, was sich heute als "Objektivität",
+"Wissenschaftlichkeit", "l'art pour l'art", "reines willensfreies
+Erkennen" in die Schauläden stellt, nur aufgeputzte Skepsis und
+Willenslähmung ist, - für diese Diagnose der europäischen Krankheit
+will ich einstehn. - Die Krankheit des Willens ist ungleichmässig über
+Europa verbreitet: sie zeigt sich dort am grössten und vielfältigsten,
+wo die Cultur schon am längsten heimisch ist, sie verschwindet
+im dem Maasse, als "der Barbar" noch - oder wieder - unter dem
+schlotterichten Gewande von westländischer Bildung sein Recht geltend
+macht. Im jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht
+erschliessen als mit Händen greifen kann, der Wille am schlimmsten
+erkrankt; und Frankreich, welches immer eine meisterhafte
+Geschicklichkeit gehabt hat, auch die verhängnisvollen Wendungen
+seines Geistes in's Reizende und Verführerische umzukehren, zeigt
+heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zauber der
+Skepsis sein Cultur-Übergewicht über Europa. Die Kraft zu wollen,
+und zwar einen Willen lang zu wollen, ist etwas stärker schon in
+Deutschland, und im deutschen Norden wiederum stärker als in der
+deutschen Mitte; erheblich stärker in England, Spanien und Corsika,
+dort an das Phlegma, hier an harte Schädel gebunden, - um nicht von
+Italien zu reden, welches zu jung ist, als dass es schon wüsste, was
+es wollte, und das erst beweisen muss, ob es wollen kann -, aber am
+allerstärksten und erstaunlichsten in jenem ungeheuren Zwischenreiche,
+wo Europa gleichsam nach Asien zurückfliesst, in Russland. Da ist die
+Kraft zu wollen seit langem zurückgelegt und aufgespeichert, da wartet
+der Wille - ungewiss, ob als Wille der Verneinung oder der Bejahung -
+in bedrohlicher Weise darauf, ausgelöst zu werden, um den Physikern
+von heute ihr Leibwort abzuborgen. Es dürften nicht nur indische
+Kriege und Verwicklungen in Asien dazu nöthig sein, damit Europa von
+seiner grössten Gefahr entlastet werde, sondern innere Umstürze, die
+Zersprengung des Reichs in kleine Körper und vor Allem die Einführung
+des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die Verpflichtung für
+Jedermann, zum Frühstück seine Zeitung zu lesen. Ich sage dies nicht
+als Wünschender: mir würde das Entgegengesetzte eher nach dem Herzen
+sein, - ich meine eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands,
+dass Europa sich entschliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu
+werden, nämlich Einen Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen
+über Europa herrschenden Kaste, einen langen furchtbaren eigenen
+Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen könnte: - damit
+endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso
+seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss
+käme. Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste
+Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, - den Zwang zur
+grossen Politik.
+
+
+209.
+
+Inwiefern das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer
+ersichtlich eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer
+anderen und stärkeren Art von Skepsis günstig sein mag, darüber möchte
+ich mich vorläufig nur durch ein Gleichniss ausdrücken, welches
+die Freunde der deutschen Geschichte schon verstehen werden. Jener
+unbedenkliche Enthusiast für schöne grossgewachsene Grenadiere,
+welcher, als König von Preussen, einem militärischen und skeptischen
+Genie - und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich
+heraufgekommenen Typus des Deutschen - das Dasein gab, der fragwürdige
+tolle Vater Friedrichs des Grossen, hatte in Einem Punkte selbst den
+Griff und die Glücks-Kralle des Genies: er wusste, woran es damals in
+Deutschland fehlte, und welcher Mangel hundert Mal ängstlicher und
+dringender war, als etwa der Mangel an Bildung und gesellschaftlicher
+Form, - sein Widerwille gegen den jungen Friedrich kam aus der Angst
+eines tiefen Instinktes. Männer fehlten; und er argwöhnte zu seinem
+bittersten Verdrusse, dass sein eigner Sohn nicht Manns genug sei.
+Darin betrog er sich: aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht
+betrogen? Er sah seinen Sohn dem Atheismus, dem esprit, der
+genüsslichen Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen verfallen: - er
+sah im Hintergrunde die grosse Blutaussaugerin, die Spinne Skepsis, er
+argwöhnte das unheilbare Elend eines Herzens, das zum Bösen wie zum
+Guten nicht mehr hart genug ist, eines zerbrochnen Willens, der nicht
+mehr befiehlt, nicht mehr befehlen kann. Aber inzwischen wuchs in
+seinem Sohne jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor
+- wer weiss, wie sehr gerade durch den Hass des Vaters und durch die
+eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens begünstigt? - die
+Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und
+zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen
+Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis
+verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in
+Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie
+giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng;
+es ist die deutsche Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter
+und in's Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine
+gute Zeit unter die Botmässigkeit des deutschen Geistes und seines
+kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem
+unbezwinglich starken und zähen Manns-Charakter der grossen deutschen
+Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn,
+allesammt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung waren) stellte
+sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie
+ein neuer Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur
+männlichen Skepsis entscheidend hervortrat: sei es zum Beispiel als
+Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden
+Hand, als zäher Wille zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu
+vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen
+Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und
+oberflächliche Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste
+bekreuzigen: cet esprit fataliste, ironique, méphistophélique nennt
+ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen, wie
+auszeichnend diese Furcht vor dem "Mann" im deutschen Geiste ist,
+durch den Europa aus seinem "dogmatischen Schlummer" geweckt wurde, so
+möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden
+werden musste, - und wie es noch nicht zu lange her ist, dass ein
+vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaassung wagen durfte, die
+Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische
+Tölpel der Theilnahme Europa's zu empfehlen. Man verstehe doch endlich
+das Erstaunen Napoleon's tief genug, als er Goethen zu sehen bekam: es
+verräth, was man sich Jahrhunderte lang unter dem "deutschen Geiste"
+gedacht hatte. "Voilà un homme!" - das wollte sagen: Das ist ja ein
+Mann! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet! - -
+
+
+210.
+
+Gesetzt also, dass im Bilde der Philosophen der Zukunft irgend ein Zug
+zu rathen giebt, ob sie nicht vielleicht, in dem zuletzt angedeuteten
+Sinne, Skeptiker sein müssen, so wäre damit doch nur ein Etwas an
+ihnen bezeichnet - und nicht sie selbst. Mit dem gleichen Rechte
+dürften sie sich Kritiker nennen lassen; und sicherlich werden es
+Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu
+taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon
+ausdrücklich unterstrichen: geschah dies deshalb, weil sie, als
+Kritiker an Leib und Seele, sich des Experiments in einem neuen,
+vielleicht weiteren, vielleicht gefährlicheren Sinne zu bedienen
+lieben? Müssen sie, in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss, mit
+verwegenen und schmerzhaften Versuchen weiter gehn, als es der
+weichmüthige und verzärtelte Geschmack eines demokratischen
+Jahrhunderts gut heissen kann? - Es ist kein Zweifel: diese
+Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen
+Eigenschaften entrathen dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker
+abheben, ich meine die Sicherheit der Werthmaasse, die bewusste
+Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das
+Alleinstehn und Sich-verantworten-können; ja, sie gestehen bei sich
+eine Lust am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene
+Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiss,
+auch noch, wenn das Herz blutet. Sie werden härter sein (und
+vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen
+mögen, sie werden sich nicht mit der "Wahrheit" einlassen, damit sie
+ihnen "gefalle" oder sie "erhebe" und "begeistere": - ihr Glaube wird
+vielmehr gering sein, dass gerade die Wahrheit solche Lustbarkeiten
+für das Gefühl mit sich bringe. Sie werden lächeln, diese strengen
+Geister, wenn Einer vor ihnen sagte "jener Gedanke erhebt mich: wie
+sollte er nicht wahr sein?" Oder: "jenes Werk entzückt mich: wie
+sollte es nicht schön sein?" Oder: "jener Künstler vergrössert mich:
+wie sollte er nicht gross sein?" - sie haben vielleicht nicht nur ein
+Lächeln, sondern einen ächten Ekel vor allem derartig Schwärmerischen,
+Idealistischen, Femininischen, Hermaphroditischen bereit, und wer
+ihnen bis in ihre geheimen Herzenskammern zu folgen wüsste, würde
+schwerlich dort die Absicht vorfinden, "christliche Gefühle" mit
+dem "antiken Geschmacke" und etwa gar noch mit dem "modernen
+Parlamentarismus" zu versöhnen (wie dergleichen Versöhnlichkeit in
+unserm sehr unsicheren, folglich sehr versöhnlichen Jahrhundert sogar
+bei Philosophen vorkommen soll). Kritische Zucht und jede Gewöhnung,
+welche zur Reinlichkeit und Strenge in Dingen des Geistes führt,
+werden diese Philosophen der Zukunft nicht nur von sich verlangen: sie
+dürften sie wie ihre Art Schmuck selbst zur Schau tragen, - trotzdem
+wollen sie deshalb noch nicht Kritiker heissen. Es scheint ihnen keine
+kleine Schmach, die der Philosophie angethan wird, wenn man dekretirt,
+wie es heute so gern geschieht: "Philosophie selbst ist Kritik
+und kritische Wissenschaft - und gar nichts ausserdem!" Mag diese
+Werthschätzung der Philosophie sich des Beifalls aller Positivisten
+Frankreichs und Deutschlands erfreuen (- und es wäre möglich, dass
+sie sogar dem Herzen und Geschmacke Kant's geschmeichelt hätte: man
+erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke -): unsre neuen Philosophen
+werden trotzdem sagen: Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und
+eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen! Auch
+der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker. -
+
+
+211.
+
+Ich bestehe darauf, dass man endlich aufhöre, die philosophischen
+Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den
+Philosophen zu verwechseln, - dass man gerade hier mit Strenge "Jedem
+das Seine" und Jenen nicht zu Viel, Diesen nicht viel zu Wenig gebe.
+Es mag zur Erziehung des wirklichen Philosophen nöthig sein, dass er
+selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat, auf welchen
+seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie, stehen
+bleiben, - stehen bleiben müssen; er muss selbst vielleicht Kritiker
+und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter
+und Sammler und Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher
+und "freier Geist" und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis
+menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei
+Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in
+jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu können. Aber dies
+Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe: diese Aufgabe selbst
+will etwas Anderes, - sie verlangt, dass er Werthe schaffe. Jene
+philosophischen Arbeiter nach dem edlen Muster Kant's und Hegel's
+haben irgend einen grossen Thatbestand von Werthschätzungen - das
+heisst ehemaliger Werthsetzungen, Werthschöpfungen, welche herrschend
+geworden sind und eine Zeit lang "Wahrheiten" genannt werden -
+festzustellen und in Formeln zu drängen, sei es im Reiche des
+Logischen oder des Politischen (Moralischen) oder des Künstlerischen.
+Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte
+übersichtlich, überdenkbar, fasslich, handlich zu machen, alles Lange,
+ja "die Zeit" selbst, abzukürzen und die ganze Vergangenheit zu
+überwältigen: eine ungeheure und wundervolle Aufgabe, in deren Dienst
+sich sicherlich jeder feine Stolz, jeder zähe Wille befriedigen kann.
+Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie
+sagen "so soll es sein!", sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des
+Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen
+Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, - sie greifen mit
+schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird
+ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr "Erkennen" ist
+Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit
+ist - Wille zur Macht. - Giebt es heute solche Philosophen? Gab es
+schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben?....
+
+
+212.
+
+Es will mir immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein
+nothwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit
+seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste: sein
+Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. Bisher haben alle diese
+ausserordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen
+nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern
+eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten -,
+ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich
+aber die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer
+Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer
+vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes
+Geheimniss war: um eine neue Grösse des Menschen zu wissen, um einen
+neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung. Jedes Mal deckten
+sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und
+Sich-fallen lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer
+zeitgenössischen Moralität versteckt, wie viel Tugend überlebt sei;
+jedes Mal sagten sie: "wir müssen dorthin, dorthinaus, wo ihr heute am
+wenigsten zu Hause seid." Angesichts einer Welt der "modernen Ideen",
+welche Jedermann in eine Ecke und "Spezialität" bannen möchte, würde
+ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen
+sein, die Grösse des Menschen, den Begriff "Grösse" gerade in seine
+Umfänglichkeit und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu
+setzen: er würde sogar den Werth und Rang darnach bestimmen, wie viel
+und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie weit Einer seine
+Verantwortlichkeit spannen könnte. Heute schwächt und verdünnt der
+Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so sehr
+zeitgemäss als Willensschwäche: also muss, im Ideale des Philosophen,
+gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen
+Entschliessungen in den Begriff "Grösse" hineingehören; mit so gutem
+Rechte als die umgekehrte Lehre und das Ideal einer blöden entsagenden
+demüthigen selbstlosen Menschlichkeit einem umgekehrten Zeitalter
+angemessen war, einem solchen, das gleich dem sechszehnten Jahrhundert
+an seiner aufgestauten Energie des Willens und den wildesten Wässern
+und Sturmfluthen der Selbstsucht litt. Zur Zeit des Sokrates, unter
+lauter Menschen des ermüdeten Instinktes, unter conservativen
+Altathenern, welche sich gehen liessen - "zum Glück", wie sie sagten,
+zum Vergnügen, wie sie thaten - und die dabei immer noch die alten
+prunkvollen Worte in den Mund nahmen, auf die ihnen ihr Leben längst
+kein Recht mehr gab, war vielleicht Ironie zur Grösse der Seele
+nöthig, jene sokratische boshafte Sicherheit des alten Arztes und
+Pöbelmanns, welcher schonungslos in's eigne Fleisch schnitt, wie
+in's Fleisch und Herz des "Vornehmen", mit einem Blick, welcher
+verständlich genug sprach: "verstellt euch vor mir nicht! Hier - sind
+wir gleich!" Heute umgekehrt, wo in Europa das Heerdenthier allein
+zu Ehren kommt und Ehren vertheilt, wo die "Gleichheit der Rechte"
+allzuleicht sich in die Gleichheit im Unrechte umwandeln könnte:
+ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden,
+Bevorrechtigten, des höheren Menschen, der höheren Seele, der höheren
+Pflicht, der höheren Verantwortlichkeit, der schöpferischen Machtfülle
+und Herrschaftlichkeit - heute gehört das Vornehm-sein, das
+Für-sich-sein-wollen, das Anders-sein-können, das Allein-stehn und
+auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff "Grösse"; und der Philosoph
+wird Etwas von seinem eignen Ideal verrathen, wenn er aufstellt: "der
+soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste,
+der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, er Herr
+seiner Tugenden, der überreiche des Willens; dies eben soll Grösse
+heissen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können."
+Und nochmals gefragt: ist heute - Grösse möglich?
+
+
+213.
+
+Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es
+nicht zu lehren ist: man muss es "wissen", aus Erfahrung, - oder man
+soll den Stolz haben, es nicht zu wissen. Dass aber heutzutage alle
+Welt von Dingen redet, in Bezug auf welche sie keine Erfahrung
+haben kann, gilt am meisten und schlimmsten vom Philosophen und den
+philosophischen Zuständen: - die Wenigsten kennen sie, dürfen sie
+kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch. So ist
+zum Beispiel jenes ächt philosophische Beieinander einer kühnen
+ausgelassenen Geistigkeit, welche presto läuft, und einer
+dialektischen Strenge und Nothwendigkeit, die keinen Fehltritt thut,
+den meisten Denkern und Gelehrten von ihrer Erfahrung her unbekannt
+und darum, falls jemand davon vor ihnen reden wollte, un glaubwürdig.
+Sie stellen sich jede Nothwendigkeit als Noth, als peinliches
+Folgen-müssen und Gezwungen-werden vor; und das Denken selbst gilt
+ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal und
+oft genug als "des Schweisses der Edlen werth" - aber ganz und gar
+nicht als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermuthe,
+Nächst-Verwandtes! "Denken" und eine Sache "ernst nehmen", "schwer
+nehmen" - das gehört bei ihnen zu einander: so allein haben sie es
+"erlebt" -. Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung
+haben.- sie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts
+mehr "willkürlich" und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von
+Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen,
+Gestalten auf seine Höhe kommt, - kurz, dass Nothwendigkeit und
+"Freiheit des Willens" dann bei ihnen Eins sind. Es giebt zuletzt eine
+Rangordnung seelischer Zustände, welcher die Rangordnung der Probleme
+gemäss ist; und die höchsten Probleme stossen ohne Gnade Jeden zurück,
+der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und Macht seiner Geistigkeit
+zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein. Was hilft es, wenn gelenkige
+Allerwelts-Köpfe oder ungelenke brave Mechaniker und Empiriker sich,
+wie es heute so vielfach geschieht, mit ihrem Plebejer-Ehrgeize in
+ihre Nähe und gleichsam an diesen "Hof der Höfe" drängen! Aber auf
+solche Teppiche dürfen grobe Füsse nimmermehr treten: dafür ist
+im Urgesetz der Dinge schon gesorgt; die Thüren bleiben diesen
+Zudringlichen geschlossen, mögen sie sich auch die Köpfe daran stossen
+und zerstossen! Für jede hohe Welt muss man geboren sein; deutlicher
+gesagt, man muss für sie gezüchtet sein: ein Recht auf Philosophie -
+das Wort im grossen Sinne genommen - hat man nur Dank seiner Abkunft,
+die Vorfahren, das "Geblüt" entscheidet auch hier. Viele Geschlechter
+müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben; jede seiner
+Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt
+worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und Lauf
+seiner Gedanken, sondern vor Allem die Bereitwilligkeit zu grossen
+Verantwortungen, die Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke, das
+Sich-Abgetrennt-Fühlen von der Menge und ihren Pflichten und Tugenden,
+das leutselige Beschützen und Vertheidigen dessen, was missverstanden
+und verleumdet wird, sei es Gott, sei es Teufel, die Lust und Übung
+in der grossen Gerechtigkeit, die Kunst des Befehlens, die Weite des
+Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinauf
+blickt, selten liebt....
+
+
+
+
+Siebentes Hauptstück:
+
+Unsere Tugenden.
+
+214.
+
+Unsere Tugenden? - Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere
+Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen
+und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere
+Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir
+Europäer von übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts,
+- mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit
+und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten
+Grausamkeit in Geist und Sinnen, - wir werden vermuthlich, wenn
+wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unsren
+heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unsern heissesten
+Bedürfnissen am besten vertragen lernten: wohlan, suchen wir einmal
+nach ihnen in unsren Labyrinthen! - woselbst sich, wie man weiss, so
+mancherlei verliert, so mancherlei ganz verloren geht. Und giebt es
+etwas Schöneres, als nach seinen eigenen Tugenden suchen? Heisst dies
+nicht beinahe schon: an seine eigne Tugend glauben? Dies aber "an
+seine Tugend glauben" - ist dies nicht im Grunde dasselbe, was man
+ehedem sein "gutes Gewissen" nannte, jener ehrwürdige langschwänzige
+Begriffs-Zopf, den sich unsre Grossväter hinter ihren Kopf, oft genug
+auch hinter ihren Verstand hängten? Es scheint demnach, wie wenig wir
+uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken mögen,
+in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir
+letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren
+Zopf. - Ach! Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon - anders
+kommt!.....
+
+
+215.
+
+Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn
+Eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener
+Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte,
+bald mit grünen Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn treffend
+und bunt überfluthend: so sind wir modernen Menschen, Dank der
+complicirten Mechanik unsres "Sternenhimmels" - durch verschiedene
+Moralen bestimmt; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in
+verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, - und es giebt genug
+Fälle, wo wir bunte Handlungen thun.
+
+
+216.
+
+Seine Feinde lieben? Ich glaube, das ist gut gelernt worden: es
+geschieht heute tausendfältig, im Kleinen und im Grossen; ja es
+geschieht bisweilen schon das Höhere und Sublimere - wir lernen
+verachten, wenn wir lieben, und gerade wenn wir am besten lieben: -
+aber alles dies unbewusst, ohne Lärm, ohne Prunk, mit jener Scham und
+Verborgenheit der Güte, welche dem Munde das feierliche, Wort und die
+Tugend-Formel verbietet. Moral als Attitüde - geht uns heute wider
+den Geschmack. Dies ist auch ein Fortschritt: wie es der Fortschritt
+unsrer Väter war, dass ihnen endlich Religion als Attitüde wider
+den Geschmack gieng, eingerechnet die Feindschaft und Voltairische
+Bitterkeit gegen die Religion (und was Alles ehemals zur
+Freigeist-Gebärdensprache gehörte). Es ist die Musik in unserm
+Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem alle Puritaner-Litanei,
+alle Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will.
+
+
+217.
+
+Sich vor Denen in Acht nehmen, welche einen hohen Werth darauf legen,
+dass man ihnen moralischen Takt und Feinheit in der moralischen
+Unterscheidung zutraue! Sie vergeben es uns nie, wenn sie sich einmal
+vor uns (oder gar an uns) vergriffen haben, - sie werden unvermeidlich
+zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern, selbst wenn
+sie noch unsre "Freunde" bleiben. - Selig sind die Vergesslichen: denn
+sie werden auch mit ihren Dummheiten "fertig".
+
+
+218.
+
+Die Psychologen Frankreichs - und wo giebt es heute sonst noch
+Psychologen? - haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges
+Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als
+wenn genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der
+brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts
+Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer
+Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung - denn es wird
+langweilig -, ein anderes Ding zum Entzücken: das ist die unbewusste
+Verschlagenheit, mit der sich alle guten dicken braven Geister des
+Mittelmaasses zu höheren Geistern und deren Aufgaben verhalten, jene
+feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit, welche tausend Mal
+feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses Mittelstandes in
+seinen besten Augenblicken - sogar auch als der Verstand seiner
+Opfer -: zum abermaligen Beweise dafür, dass der "Instinkt" unter
+allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die
+intelligenteste ist. Kurz, studirt, ihr Psychologen, die Philosophie
+der "Regel" im Kampfe mit der "Ausnahme": da habt ihr ein Schauspiel,
+gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit! Oder, noch
+heutlicher: treibt Vivisektion am "guten Menschen", am "homo bonae
+voluntatis" an euch!
+
+
+219.
+
+Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die Lieblings-Rache der
+Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art
+Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden,
+endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen und fein zu werden: -
+Bosheit vergeistigt. Es thut ihnen im Grunde ihres Herzens wohl, dass
+es einen Maassstab giebt, vor dem auch die mit Gütern und Vorrechten
+des Geistes überhäuften ihnen gleich stehn: - sie kämpfen für die
+"Gleichheit Aller vor Gott" und brauchen beinahe dazu schon den
+Glauben an Gott. Unter ihnen sind die kräftigsten Gegner des
+Atheismus. Wer ihnen sagte "eine hohe Geistigkeit ist ausser Vergleich
+mit irgend welcher Bravheit und Achtbarkeit eines eben nur moralischen
+Menschen", würde sie rasend machen: - ich werde mich hüten, es zu
+thun. Vielmehr möchte ich ihnen mit meinem Satze schmeicheln, dass
+eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausgeburt moralischer
+Qualitäten besteht; dass sie eine Synthesis aller jener Zustände ist,
+welche den "nur moralischen" Menschen nachgesagt werden, nachdem sie,
+einzeln, durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen Ketten
+von Geschlechtern erworben sind; dass die hohe Geistigkeit eben die
+Vergeistigung der Gerechtigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche
+sich beauftragt weiss, die Ordnung des Ranges in der Welt aufrecht zu
+erhalten, unter den Dingen selbst - und nicht nur unter Menschen.
+
+
+220.
+
+Bei dem jetzt so volksthümlichen Lobe des "Uninteressirten" muss man
+sich, vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewusstsein bringen,
+woran eigentlich das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge
+sind, um die sich der gemeine Mann gründlich und tief kümmert: die
+Gebildeten eingerechnet, sogar die Gelehrten, und wenn nicht Alles
+trügt, beinahe auch die Philosophen. Die Thatsache kommt dabei heraus,
+dass das Allermeiste von dem, was feinere und verwöhntere Geschmäcker,
+was jede höhere Natur interessirt und reizt, dem durchschnittlichen
+Menschen gänzlich "uninteressant" scheint: - bemerkt er trotzdem eine
+Hingebung daran, so nennt er sie "désintéressé" und wundert sich,
+wie es möglich ist, "uninteressirt" zu handeln. Es hat Philosophen
+gegeben, welche dieser Volks-Verwunderung noch einen verführerischen
+und mystisch-jenseitigen Ausdruck zu verleihen wussten (- vielleicht
+weil sie die höhere Natur nicht aus Erfahrung kannten?) - statt
+die nackte und herzlich billige Wahrheit hinzustellen, dass die
+"uninteressirte" Handlung eine sehr interessante und interessirte
+Handlung ist, vorausgesetzt..... "Und die Liebe?" - Wie! Sogar eine
+Handlung aus Liebe soll "unegoistisch" sein? Aber ihr Tölpel -! "Und
+das Lob des Aufopfernden?" - Aber wer wirklich Opfer gebracht hat,
+weiss, dass er etwas dafür wollte und bekam, - vielleicht etwas von
+sich für etwas von sich - dass er hier hingab, um dort mehr zu haben,
+vielleicht um überhaupt mehr zu sein oder sich doch als "mehr" zu
+fühlen. Aber dies ist ein Reich von Fragen und Antworten, in dem ein
+verwöhnterer Geist sich ungern aufhält: so sehr hat hier bereits die
+Wahrheit nöthig, das Gähnen zu unterdrücken, wenn sie antworten muss.
+Zuletzt ist sie ein Weib: man soll ihr nicht Gewalt anthun.
+
+
+221.
+
+Es kommt vor, sagte ein moralistischer Pedant und Kleinigkeitskrämer,
+dass ich einen uneigennützigen Menschen ehre und auszeichne: nicht
+aber, weil er uneigennützig ist, sondern weil er mir ein Recht darauf
+zu haben scheint, einem anderen Menschen auf seine eignen Unkosten zu
+nützen. Genug, es fragt sich immer, wer er ist und wer Jener ist. An
+Einem zum Beispiele, der zum Befehlen bestimmt und gemacht wäre, würde
+Selbst-Verleugnung und bescheidenes Zurücktreten nicht eine Tugend,
+sondern die Vergeudung einer Tugend sein: so scheint es mir. Jede
+unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an Jedermann
+wendet, sündigt nicht nur gegen den Geschmack: sie ist eine Aufreizung
+zu Unterlassungs-Sünden, eine Verführung mehr unter der Maske der
+Menschenfreundlichkeit - und gerade eine Verführung und Schädigung
+der Höheren, Seltneren, Bevorrechteten. Man muss die Moralen zwingen,
+sich zu allererst vor der Rangordnung zu beugen, man muss ihnen ihre
+Anmaassung in's Gewissen schieben, - bis sie endlich mit einander
+darüber in's Klare kommen, das es unmoralisch ist zu sagen: "was dem
+Einen recht ist, ist dem Andern billig". - Also mein moralistischer
+Pedant und bonhomme: verdiente er es wohl, dass man ihn auslachte, als
+er die Moralen dergestalt zur Moralität ermahnte? Aber man soll nicht
+zu viel Recht haben, wenn man die Lacher auf seiner Seite haben will;
+ein Körnchen Unrecht gehört sogar zum guten Geschmack.
+
+
+222.
+
+Wo heute Mitleiden gepredigt wird - und, recht gehört, wird jetzt
+keine andre Religion mehr gepredigt - möge der Psycholog seine Ohren
+aufmachen: durch alle Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch, der diesen
+Predigern (wie allen Predigern) zu eigen ist, wird er einen heiseren,
+stöhnenden, ächten Laut von Selbst-Verachtung hören. Sie gehört zu
+jener Verdüsterung und Verhässlichung Europa's, welche jetzt ein
+Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste Symptome schon in
+einem nachdenklichen Briefe Galiani's an Madame d'Epinay urkundlich
+verzeichnet sind): wenn sie nicht deren Ursache ist! Der Mensch der
+"modernen Ideen", dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst
+unzufrieden: dies steht fest. Er leidet: und seine Eitelkeit will,
+dass er nur "mit leidet"......
+
+
+223.
+
+Der europäische Mischmensch - ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles
+in Allem - braucht schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie
+nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei,
+dass ihm keines recht auf den Leib passt, - er wechselt und wechselt.
+Man sehe sich das neunzehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben
+und Wechsel der Stil-Maskeraden an; auch auf die Augenblicke der
+Verzweiflung darüber, dass uns "nichts steht" -. Unnütz, sich
+romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder
+barokko oder "national" vorzuführen, in moribus et artibus: "es
+kleidet nicht"! Aber der "Geist", insbesondere der "historische
+Geist", ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheil:
+immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht,
+umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem studirt: - wir sind das
+erste studirte Zeitalter in puncto der "Kostüme", ich meine der
+Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet
+wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum
+geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen
+Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung.
+Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch
+entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa
+als Pazodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, - vielleicht
+dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser
+Lachen noch Zukunft hat!
+
+
+224.
+
+Der historische Sinn (oder die Fähigkeit, die Rangordnung von
+Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine
+Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der "divinatorische Instinkt"
+für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der
+Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte): dieser
+historische Sinn, auf welchen wir Europäer als auf unsre Besonderheit
+Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und tollen
+Halbbarbarei gekommen, in welche Europa durch die demokratische
+Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist, - erst das
+neunzehnte Jahrhundert kennt diesen Sinn, als seinen sechsten Sinn.
+Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die
+früher hart neben einander, über einander lagen, strömt Dank jener
+Mischung in uns "moderne Seelen" aus, unsre Instinkte laufen nunmehr
+überallhin zurück, wir selbst sind eine Art Chaos -: schliesslich
+ersieht sich "der Geist", wie gesagt, seinen Vortheil dabei. Durch
+unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge
+überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor
+Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu
+jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und
+insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben
+Halbbarbarei war, bedeutet "historischer Sinn" beinahe den Sinn und
+Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles: womit er
+sich sofort als ein unvornehmer Sinn ausweist. Wir geniessen zum
+Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücklichster
+Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die
+Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten
+Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft,
+selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen
+wissen und wussten, - welchen zu geniessen sie sich kaum erlaubten.
+Das sehr bestimmte Ja und Nein ihres Gaumens, ihr leicht bereiter
+Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in Bezug auf alles Fremdartige,
+ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften Neugierde, und
+überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen
+Cultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen,
+eine Bewunderung des Fremden einzugestehen: alles dies stellt und
+stimmt sie ungünstig selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche
+nicht ihr Eigenthum sind oder ihre Beute werden könnten, - und kein
+Sinn ist solchen Menschen unverständlicher, als gerade der historische
+Sinn und seine unterwürfige Plebejer-Neugierde. Nicht anders steht es
+mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-maurisch-sächsischen
+Geschmacks-Synthesis, über welchen sich ein Altathener aus der
+Freundschaft des Aeschylus halbtodt gelacht oder geärgert haben würde:
+aber wir - nehmen gerade diese wilde Buntheit, dies Durcheinander
+des Zartesten, Gröbsten und Künstlichsten, mit einer geheimen
+Vertraulichkeit und Herzlichkeit an, wir geniessen ihn als das gerade
+uns aufgesparte Raffinement der Kunst und lassen uns dabei von den
+widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher
+Shakespeare's Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören, als etwa
+auf der Chiaja Neapels: wo wir mit allen unsren Sinnen, bezaubert
+und willig, unsres Wegs gehn, wie sehr auch die Cloaken der
+Pöbel-Quartiere in der Luft sind. Wir Menschen des "historischen
+Sinns": wir haben als solche unsre Tugenden, es ist nicht zu
+bestreiten, - wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer,
+voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr
+geduldig, sehr entgegenkommend: - wir sind mit Alledem vielleicht
+nicht sehr "geschmackvoll". Gestehen wir es uns schliesslich zu:
+was uns Menschen des "historischen Sinns" am schwersten zu fassen,
+zu fühlen, nachzuschmecken, nachzulieben ist, was uns im Grunde
+voreingenommen und fast feindlich findet, das ist gerade das
+Vollkommene und Letzthin - Reife in jeder Cultur und Kunst, das
+eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten
+Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldene und Kalte,
+welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben. Vielleicht steht
+unsre grosse Tugend des historischen Sinns in einem nothwendigen
+Gegensatz zum guten Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke,
+und wir vermögen gerade die kleinen kurzen und höchsten Glücksfälle
+und Verklärungen des menschlichen Lebens, wie sie hier und da
+einmal aufglänzen, nur schlecht, nur zögernd, nur mit Zwang in uns
+nachzubilden: jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft
+freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb -, wo
+ein Überfluss von feiner Lust in der plötzlichen Bändigung und
+Versteinerung, im Feststehen und Sich-Fest-Stellen auf einem noch
+zitternden Boden genossen wurde. Das Maass ist uns fremd, gestehen
+wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen,
+Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen
+wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir
+Halbbarbaren - und sind erst dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am
+meisten - in Gefahr sind.
+
+
+225.
+
+Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus:
+alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heisst nach
+Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind
+Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich
+gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht
+ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit
+euch! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist
+nicht Mitleiden mit der socialen "Noth", mit der "Gesellschaft" und
+ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von
+Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger
+Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten,
+welche nach Herrschaft - sie nennen's "Freiheit" - trachten. Unser
+Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden: - wir sehen, wie
+der Mensch sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! - und es giebt
+Augenblicke, wo wir gerade eurem Mitleiden mit einer unbeschreiblichen
+Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren -, wo wir
+euren Ernst gefährlicher als irgend welche Leichtfertigkeit finden.
+Ihr wollt womöglich - und es giebt kein tolleres "womöglich" - das
+Leiden abschaffen; und wir? - es scheint gerade, wir wollen es lieber
+noch höher und schlimmer haben, als je es war! Wohlbefinden, wie ihr
+es versteht - das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein Ende! Ein
+Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich
+macht, - der seinen Untergang wünschen macht! Die Zucht des Leidens,
+des grossen Leidens - wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle
+Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele
+im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick
+des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im
+Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur
+je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden
+ist: - ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen
+Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer
+vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm,
+Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner,
+Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: - versteht ihr
+diesen Gegensatz? Und dass euer Mitleid dem "Geschöpf im Menschen"
+gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt,
+geglüht, geläutert werden muss, - dem, was nothwendig leiden muss
+und leiden soll? Und unser Mitleid - begreift ihr's nicht, wem unser
+umgekehrtes Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als
+gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen? - Mitleid
+also gegen Mitleid! - Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme
+als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme; und jede Philosophie,
+die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät. -
+
+
+226.
+
+Wir Immoralisten! - Diese Welt, die uns angeht, in der wir zu fürchten
+und zu lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen
+Befehlens, feinen Gehorchens, eine Welt des "Beinahe" in jedem
+Betrachte, häklich, verfänglich, spitzig, zärtlich: ja, sie ist gut
+vertheidigt gegen plumpe Zuschauer und vertrauliche Neugierde! Wir
+sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und
+können da nicht heraus -, darin eben sind wir "Menschen der Pflicht",
+auch wir! Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern "Ketten"
+und zwischen unsern "Schwertern"; öfter, es ist nicht minder wahr,
+knirschen wir darunter und sind ungeduldig über all die heimliche
+Härte unsres Geschicks. Aber wir mögen thun, was wir wollen: die
+Tölpel und der Augenschein sagen gegen uns "das sind Menschen ohne
+Pflicht" - wir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns!
+
+
+227.
+
+Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht
+loskönnen, wir freien Geister - nun, wir wollen mit aller Bosheit und
+Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die
+allein uns übrig blieb, zu "vervollkommnen": mag ihr Glanz einmal wie
+ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden
+Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste liegen bleiben! Und wenn
+dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die
+Glieder streckt und uns zu hart findet und es besser, leichter,
+zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster: bleiben wir
+hart, wir letzten Stoiker! und schicken wir ihr zu Hülfe, was wir nur
+an Teufelei in uns haben - unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren,
+unser "nitimur in vetitum", unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte
+und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten
+Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche
+der Zukunft schweift und schwärmt, - kommen wir unserm "Gotte" mit
+allen unsern "Teufeln" zu Hülfe! Es ist wahrscheinlich, dass man uns
+darob verkennt und verwechselt: was liegt daran! Man wird sagen: "ihre
+"Redlichkeit" - das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr!" was liegt
+daran! Und selbst wenn man Recht hätte! Waren nicht alle Götter bisher
+dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was wissen wir
+zuletzt von uns? Und wie der Geist heissen will, der uns führt? (es
+ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen? Unsre
+Redlichkeit, wir freien Geister, - sorgen wir dafür, dass sie nicht
+unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit
+werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; "dumm
+bis zur Heiligkeit" sagt man in Russland, - sorgen wir dafür, dass
+wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen
+werden! Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich in ihm - zu
+langweilen? Man müsste schon an's ewige Leben glauben, um....
+
+
+228.
+
+Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moral-Philosophie bisher
+langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte - und dass "die
+Tugend" durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist,
+als durch diese Langweiligkeit ihrer Fürsprecher; womit ich noch nicht
+deren allgemeine Nützlichkeit verkannt haben möchte. Es liegt viel
+daran, dass so wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken, - es
+liegt folglich sehr viel daran, dass die Moral nicht etwa eines Tages
+interessant werde! Aber man sei unbesorgt! Es steht auch heute noch
+so, wie es immer stand: ich sehe Niemanden in Europa, der einen
+Begriff davon hätte (oder gäbe), dass das Nachdenken über Moral
+gefährlich, verfänglich, verführerisch getrieben werden könnte, -
+dass Verhängniss darin liegen könnte! Man sehe sich zum Beispiel die
+unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump
+und ehrenwerth in den Fusstapfen Bentham's, daher wandeln, dahin
+wandeln (ein homerisches Gleichniss sagt es deutlicher), so wie er
+selbst schon in den Fusstapfen des ehrenwerthen Helvétius wandelte
+(nein, das war kein gefährlicher Mensch, dieser Helvétius!). Kein
+neuer Gedanke, Nichts von feinerer Wendung und Faltung eines alten
+Gedankens, nicht einmal eine wirkliche Historie des früher Gedachten:
+eine unmögliche Litteratur im Ganzen, gesetzt, dass man sie nicht mit
+einiger Bosheit sich einzusäuern versteht. Es hat sich nämlich auch
+in diese Moralisten (welche man durchaus mit Nebengedanken lesen
+muss, falls man sie lesen muss-), jenes alte englische Laster
+eingeschlichen, das cant heisst und moralische Tartüfferie ist,
+dies Mal unter die neue Form der Wissenschaftlichkeit versteckt; es
+fehlt auch nicht an geheimer Abwehr von Gewissensbissen, an denen
+billigerweise eine Rasse von ehemaligen Puritanern bei aller
+wissenschaftlichen Befassung mit Moral leiden wird. (Ist ein Moralist
+nicht das Gegenstück eines Puritaners? Nämlich als ein Denker, der
+die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt?
+Sollte Moralisiren nicht - unmoralisch sein?) Zuletzt wollen sie Alle,
+dass die englische Moralität Recht bekomme: insofern gerade damit
+der Menschheit, oder dem "allgemeinen Nutzen" oder "dem Glück der
+Meisten", nein! dem Glücke Englands am besten gedient wird; sie
+möchten mit allen Kräften sich beweisen, dass das Streben nach
+englischem Glück, ich meine nach comfort und fashion (und, an höchster
+Stelle, einem Sitz im Parlament) zugleich auch der rechte Pfad der
+Tugend sei, ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben
+hat, es eben in einem solchen Streben bestanden habe. Keins von
+allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Heerdenthieren
+(die die Sache des Egoismus als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu
+führen unternehmen -) will etwas davon wissen und riechen, dass die
+"allgemeine Wohlfahrt" kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer
+Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, - dass, was dem Einen
+billig ist, durchaus noch nicht dem Andern billig sein kann, dass die
+Forderung Einer Moral für Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren
+Menschen ist, kurz, dass es eine Rangordnung zwischen Mensch und
+Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral giebt. Es ist
+eine bescheidene und gründlich mittelmässige Art Mensch, diese
+utilitarischen Engländer, und, wie gesagt: insofern sie langweilig
+sind, kann man nicht hoch genug von ihrer Utilität denken. Man sollte
+sie noch ermuthigen: wie es, zum Theil, mit nachfolgenden Reimen
+versucht worden ist.
+
+ Heil euch, brave Karrenschieber,
+ Stets "je länger, desto lieber",
+ Steifer stets an Kopf und Knie,
+ Unbegeistert, ungespässig,
+ Unverwüstlich-mittelmässig,
+ Sans genie et sans esprit!
+
+
+229.
+
+Es bleibt in jenen späten Zeitaltern, die auf Menschlichkeit stolz
+sein dürfen, so viel Furcht, so viel Aberglaube der Furcht vor dem
+"wilden grausamen Thiere" zurück, über welches Herr geworden zu sein
+eben den Stolz jener menschlicheren Zeitalter ausmacht, dass selbst
+handgreifliche Wahrheiten wie auf Verabredung Jahrhunderte lang
+unausgesprochen bleiben, weil sie den Anschein haben, jenem wilden,
+endlich abgetödteten Thiere wieder zum Leben zu verhelfen. Ich wage
+vielleicht etwas, wenn ich eine solche Wahrheit mir entschlüpfen
+lasse: mögen Andre sie wieder einfangen und ihr so viel "Milch der
+frommen Denkungsart" zu trinken geben, bis sie still und vergessen in
+ihrer alten Ecke liegt. - Man soll über die Grausamkeit umlernen und
+die Augen aufmachen; man soll endlich Ungeduld lernen, damit nicht
+länger solche unbescheidne dicke Irrthümer tugendhaft und dreist
+herumwandeln, wie sie zum Beispiel in Betreff der Tragödie von alten
+und neuen Philosophen aufgefüttert worden sind. Fast Alles, was wir
+"höhere Cultur" nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung
+der Grausamkeit - dies ist mein Satz; jenes "wilde Thier" ist gar
+nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur -
+vergöttlicht. Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist
+Grausamkeit; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar
+in allem Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern
+der Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von
+der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der
+Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier
+Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japanese von
+heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadt-Arbeiter,
+der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianerin,
+welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich "ergehen
+lässt", - was diese Alle geniessen und mit geheimnissvoller Brunst in
+sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der grossen
+Circe "Grausamkeit". Dabei muss man freilich die tölpelhafte
+Psychologie von Ehedem davon jagen, welche von der Grausamkeit nur
+zu lehren wusste, dass sie beim Anblicke fremden Leides entstünde:
+es giebt einen reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen
+Leiden, am eignen Sich-leiden-machen, - und wo nur der Mensch zur
+Selbst-Verleugnung im religiösen Sinne oder zur Selbstverstümmelung,
+wie bei Phöniziern und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung,
+Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Busskrampfe, zur
+Gewissens-Vivisektion und zum Pascalischen sacrifizio dell'intelletto
+sich überreden lässt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit
+gelockt und vorwärts gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der
+gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit. Zuletzt erwäge man, dass
+selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt, wider den Hang
+des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu
+erkennen - nämlich Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten
+möchte -, als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet; schon
+jedes Tief- und Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung, ein
+Wehe-thun-wollen am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig
+zum Scheine und zu den Oberflächen hin will, - schon in jedem
+Erkennen-Wollen ist ein Tropfen Grausamkeit.
+
+
+230.
+
+Vielleicht versteht man nicht ohne Weiteres, was ich hier von
+einem "Grundwillen des Geistes" gesagt habe: man gestatte mir eine
+Erläuterung. - Das befehlerische Etwas, das vom Volke "der Geist"
+genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als
+Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit,
+einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich
+herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin
+die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst
+und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich
+anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten
+anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich
+Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen: ebenso wie er
+bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück "Aussenwelt"
+willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurecht fälscht.
+Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer "Erfahrungen" auf
+Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, - auf Wachsthum also;
+bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachsthums, auf das Gefühl
+der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar
+entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender
+Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein
+Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem
+Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand
+gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit
+dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gut-heissen der
+Unwissenheit: wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner
+aneignenden Kraft, seiner "Verdauungskraft", im Bilde geredet - und
+wirklich gleicht "der Geist" am meisten noch einem Magen. Insgleichen
+gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu
+lassen, vielleicht mit einer muthwilligen Ahnung davon, dass es so
+und so nicht steht, dass man es so und so eben nur gelten lässt, eine
+Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender
+Selbstgenuss an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels,
+am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrösserten, Verkleinerten,
+Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuss an der Willkürlichkeit
+aller dieser Machtäusserungen. Endlich gehört hierher jene nicht
+unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen
+und sich vor ihnen zu verstellen, jener beständige Druck und Drang
+einer schaffenden, bildenden, wandelfähigen Kraft: der Geist geniesst
+darin seine Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit, er geniesst
+auch das Gefühl seiner Sicherheit darin, - gerade durch seine
+Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt! - Diesem
+Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur
+Oberfläche - denn jede Oberfläche ist ein Mantel - wirkt jener sublime
+Hang des Erkennenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich
+nimmt und nehmen will: als eine Art Grausamkeit des intellektuellen
+Gewissens und Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich
+anerkennen wird, gesetzt dass er, wie sich gebührt, sein Auge für sich
+selbst lange genug gehärtet und gespitzt hat und an strenge Zucht,
+auch an strenge Worte gewöhnt ist. Er wird sagen "es ist etwas
+Grausames im Hange meines Geistes": - mögen die Tugendhaften
+und Liebenswürdigen es ihm auszureden suchen! In der That, es
+klänge artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine
+"ausschweifende Redlichkeit" nachsagte, nachraunte, nachrühmte, - uns
+freien, sehr freien Geistern: - und so klingt vielleicht wirklich
+einmal unser - Nachruhm? Einstweilen - denn es hat Zeit bis dahin -
+möchten wir selbst wohl am wenigsten geneigt sein, uns mit dergleichen
+moralischen Wort-Flittern und -Franzen aufzuputzen: unsre ganze
+bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack und seine
+muntere Üppigkeit. Es sind schöne glitzernde klirrende festliche
+Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit,
+Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, - es ist
+Etwas daran, das Einem den Stolz schwellen macht. Aber wir Einsiedler
+und Murmelthiere, wir haben uns längst in aller Heimlichkeit eines
+Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdige Wort-Prunk
+zu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewussten
+menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher
+schmeichlerischen Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext
+homo natura wieder heraus erkannt werden muss. Den Menschen
+nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und
+schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher
+über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden;
+machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute
+schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen
+Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten
+Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer
+Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: "du bist mehr!
+du bist höher! du bist anderer Herkunft!" - das mag eine seltsame und
+tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe - wer wollte das leugnen!
+Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt:
+"warum überhaupt Erkenntniss?" - Jedermann wird uns darnach fragen.
+Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male
+selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere
+Antwort....
+
+
+231.
+
+Das Lernen verwandelt uns, es thut Das, was alle Ernährung thut, die
+auch nicht bloss "erhält" -: wie der Physiologe weiss. Aber im Grunde
+von uns, ganz "da unten", giebt es freilich etwas Unbelehrbares, einen
+Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und
+Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen
+Probleme redet ein unwandelbares "das bin ich"; über Mann und Weib zum
+Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen, - nur
+zu Ende entdecken, was darüber bei ihm "feststeht". Man findet bei
+Zeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben
+machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine "Überzeugungen".
+Später - sieht man in ihnen nur Fusstapfen zur Selbsterkenntniss,
+Wegweiser zum Probleme, das wir sind, - richtiger, zur grossen
+Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren
+ganz "da unten". - Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie
+eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher
+schon gestattet sein, über das "Weib an sich" einige Wahrheiten
+herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiss, wie
+sehr es eben nur - meine Wahrheiten sind. -
+
+
+232.
+
+Das Weib will selbständig werden: und dazu fängt es an, die Männer
+über das "Weib an sich" aufzuklären - das gehört zu den schlimmsten
+Fortschritten der allgemeinen Verhässlichung Europa's. Denn was
+müssen diese plumpen Versuche der weiblichen Wissenschaftlichkeit und
+Selbst-Entblössung Alles an's Licht bringen! Das Weib hat so viel
+Grund zur Scham; im Weibe ist so viel Pedantisches, Oberflächliches,
+Schulmeisterliches, Kleinlich-Anmaassliches, Kleinlich-Zügelloses
+und -Unbescheidenes versteckt - man studire nur seinen Verkehr mit
+Kindern! -, das im Grunde bisher durch die Furcht vor dem Manne
+am besten zurückgedrängt und gebändigt wurde. Wehe, wenn erst das
+"Ewig-Langweilige am Weibe" - es ist reich daran! - sich hervorwagen
+darf! wenn es seine Klugheit und Kunst, die der Anmuth, des Spielens,
+Sorgen-Wegscheuchens, Erleichterns und Leicht-Nehmens, wenn es
+seine feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden gründlich und
+grundsätzlich zu verlernen beginnt! Es werden schon jetzt weibliche
+Stimmen laut, welche, beim heiligen Aristophanes! Schrecken machen, es
+wird mit medizinischer Deutlichkeit gedroht, was zuerst und zuletzt
+das Weib vom Manne will. Ist es nicht vom schlechtesten Geschmacke,
+wenn das Weib sich dergestalt anschickt, wissenschaftlich zu werden?
+Bisher war glücklicher Weise das Aufklären Männer-Sache, Männer-Gabe
+- man blieb damit "unter sich"; und man darf sich zuletzt, bei
+Allem, was Weiber über "das Weib" schreiben, ein gutes Misstrauen
+vorbehalten, ob das Weib über sich selbst eigentlich Aufklärung will
+- und wollen kann Wenn ein Weib damit nicht einen neuen Putz für sich
+sucht - ich denke doch, das Sich-Putzen gehört zum Ewig-Weiblichen? -
+nun, so will es vor sich Furcht erregen: - es will damit vielleicht
+Herrschaft. Aber es will nicht Wahrheit: was liegt dem Weibe an
+Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger,
+feindlicher als Wahrheit, - seine grosse Kunst ist die Lüge, seine
+höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. Gestehen wir
+es, wir Männer: wir ehren und lieben gerade diese Kunst und diesen
+Instinkt am Weibe: wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu
+unsrer Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen, Blicken
+und zarten Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe
+wie eine Thorheit erscheint. Zuletzt stelle ich die Frage: hat jemals
+ein Weib selber schon einem Weibskopfe Tiefe, einem Weibsherzen
+Gerechtigkeit zugestanden? Und ist es nicht wahr, dass, im Grossen
+gerechnet, "das Weib" bisher vom Weibe selbst am meisten missachtet
+wurde - und ganz und gar nicht von uns? - Wir Männer wünschen, dass
+das Weib nicht fortfahre, sich durch Aufklärung zu compromittiren:
+wie es Manns-Fürsorge und Schonung des Weibes war, als die Kirche
+dekretirte: mulier taceat in ecclesia! Es geschah zum Nutzen des
+Weibes, als Napoleon der allzuberedten Madame de Staël zu verstehen
+gab: mulier taceat in politicis! - und ich denke, dass es ein rechter
+Weiberfreund ist, der den Frauen heute zuruft: mulier taceat de
+muliere!
+
+
+233.
+
+Es verräth Corruption der Instinkte - noch abgesehn davon, dass es
+schlechten Geschmack verräth -. wenn ein Weib sich gerade auf Madame
+Roland oder Madame de Staël oder Monsieur George Sand beruft, wie als
+ob damit etwas zu Gunsten des "Weibes an sich" bewiesen wäre. Unter
+Männern sind die Genannten die drei komischen Weiber an sich - nichts
+mehr! - und gerade die besten unfreiwilligen Gegen-Argumente gegen
+Emancipation und weibliche Selbstherrlichkeit.
+
+
+234.
+
+Die Dummheit in der Küche; das Weib als Köchin; die schauerliche
+Gedankenlosigkeit, mit der die Ernährung der Familie und des Hausherrn
+besorgt wird! Das Weib versteht nicht, was die Speise bedeutet: und
+will Köchin sein! Wenn das Weib ein denkendes Geschöpf wäre, so hätte
+es ja, als Köchin seit Jahrtausenden, die grössten physiologischen
+Thatsachen finden, insgleichen die Heilkunst in seinen Besitz bringen
+müssen! Durch schlechte Köchinnen - durch den vollkommenen Mangel an
+Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des Menschen am längsten
+aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt worden: es steht heute
+selbst noch wenig besser. Eine Rede an höhere Töchter.
+
+
+235.
+
+Es giebt Wendungen und Würfe des Geistes, es giebt Sentenzen, eine
+kleine Handvoll Worte, in denen eine ganze Cultur, eine ganze
+Gesellschaft sich plötzlich krystallisirt. Dahin gehört jenes
+gelegentliche Wort der Madame de Lambert an ihren Sohn: "mon ami, ne
+vous permettez jamais que de folies, qui vous feront grand plaisir":
+- beiläufig das mütterlichste und klügste Wort, das je an einen Sohn
+gerichtet worden ist.
+
+
+236.
+
+Das, was Dante und Goethe vom Weibe geglaubt haben - jener, indem
+er sang "ella guardava suso, ed io in lei", dieser, indem er es
+übersetzte "das Ewig-Weibliche zieht uns hinan" -: ich zweifle nicht,
+dass jedes edlere Weib sich gegen diesen Glauben wehren wird, denn es
+glaubt eben das vom Ewig-Männlichen...
+
+
+237.
+
+Sieben Weibs-Sprüchlein.
+
+ Wie die längste Weile fleucht,
+ kommt ein Mann zu uns gekreucht!
+
+ Alter, ach! und Wissenschaft
+ giebt auch schwacher Tugend Kraft.
+
+ Schwarz Gewand und Schweigsamkeit
+ kleidet jeglich Weib - gescheidt.
+
+ Wem im Glück ich dankbar bin?
+ Gott! - und meiner Schneiderin.
+
+ Jung: beblümtes Höhlenhaus.
+ Alt: ein Drache fährt heraus.
+
+ Edler Name, hübsches Bein,
+ Mann dazu: oh wär' _er_ mein!
+
+ Kurze Rede, langer Sinn
+ - Glatteis für die Eselin!
+
+
+237.
+
+Die Frauen sind von den Männern bisher wie Vögel behandelt worden, die
+von irgend welcher Höhe sich hinab zu ihnen verirrt haben: als etwas
+Feineres, Verletzlicheres, Wilderes, Wunderlicheres, Süsseres,
+Seelenvolleres, - aber als Etwas, das man einsperren muss, damit es
+nicht davonfliegt.
+
+
+238.
+
+Sich im Grundprobleme "Mann und Weib" zu vergreifen, hier den
+abgründlichsten Antagonismus und die Nothwendigkeit einer
+ewig-feindseligen Spannung zu leugnen, hier vielleicht von gleichen
+Rechten, gleicher Erziehung, gleichen Ansprüchen und Verpflichtungen
+zu träumen: das ist ein typisches Zeichen von Flachköpfigkeit, und ein
+Denker, der an dieser gefährlichen Stelle sich flach erwiesen hat -
+flach im Instinkte! -, darf überhaupt als verdächtig, mehr noch, als
+verrathen, als aufgedeckt gelten: wahrscheinlich wird er für alle
+Grundfragen des Lebens, auch des zukünftigen Lebens, zu "kurz" sein
+und in keine Tiefe hinunter können. Ein Mann hingegen, der Tiefe
+hat, in seinem Geiste, wie in seinen Begierden, auch jene Tiefe des
+Wohlwollens, welche der Strenge und Härte fähig ist, und leicht mit
+ihnen verwechselt wird, kann über das Weib immer nur orientalisch
+denken: er muss das Weib als Besitz, als verschliessbares Eigenthum,
+als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich Vollendendes
+fassen, - er muss sich hierin auf die ungeheure Vernunft Asiens, auf
+Asiens Instinkt-Überlegenheit stellen: wie dies ehemals die Griechen
+gethan haben, diese besten Erben und Schüler Asiens, welche, wie
+bekannt, von Homer bis zu den Zeiten des Perikles, mit zunehmen - der
+Cultur und Umfänglichkeit an Kraft, Schritt für Schritt auch strenger
+gegen das Weib, kurz orientalischer geworden sind. Wie nothwendig, wie
+logisch, wie selbst menschlich-wünschbar dies war: möge man darüber
+bei sich nachdenken!
+
+
+239.
+
+Das schwache Geschlecht ist in keinem Zeitalter mit solcher Achtung
+von Seiten der Männer behandelt worden als in unserm Zeitalter - das
+gehört zum demokratischen Hang und Grundgeschmack, ebenso wie die
+Unehrerbietigkeit vor dem Alter -: was Wunder, dass sofort wieder mit
+dieser Achtung Missbrauch getrieben wird? Man will mehr, man lernt
+fordern, man findet zuletzt jenen Achtungszoll beinahe schon kränkend,
+man würde den Wettbewerb um Rechte, ja ganz eigentlich den Kampf
+vorziehn: genug, das Weib verliert an Scham. Setzen wir sofort hinzu,
+dass es auch an Geschmack verliert. Es verlernt den Mann zu fürchten:
+aber das Weib, das "das Fürchten verlernt", giebt seine weiblichsten
+Instinkte preis. Dass das Weib sich hervor wagt, wenn das
+Furcht-Einflössende am Manne, sagen wir bestimmter, wenn der Mann im
+Manne nicht mehr gewollt und grossgezüchtet wird, ist billig genug,
+auch begreiflich genug; was sich schwerer begreift, ist, dass
+ebendamit - das Weib entartet. Dies geschieht heute: täuschen wir uns
+nicht darüber! Wo nur der industrielle Geist über den militärischen
+und aristokratischen Geist gesiegt hat, strebt jetzt das Weib nach der
+wirthschaftlichen und rechtlichen Selbständigkeit eines Commis: "das
+Weib als Commis" steht an der Pforte der sich bildenden modernen
+Gesellschaft. Indem es sich dergestalt neuer Rechte bemächtigt, "Herr"
+zu werden trachtet und den "Fortschritt" des Weibes auf seine Fahnen
+und Fähnchen schreibt, vollzieht sich mit schrecklicher Deutlichkeit
+das Umgekehrte: das Weib geht zurück. Seit der französischen
+Revolution ist in Europa der Einfluss des Weibes in dem Maasse
+geringer geworden, als es an Rechten und Ansprüchen zugenommen hat;
+und die "Emancipation des Weibes", insofern sie von den Frauen selbst
+(und nicht nur von männlichen Flachköpfen) verlangt und gefördert
+wird, ergiebt sich dergestalt als ein merkwürdiges Symptom von
+der zunehmenden Schwächung und Abstumpfung der allerweiblichsten
+Instinkte. Es ist Dummheit in dieser Bewegung, eine beinahe
+maskulinische Dummheit, deren sich ein wohlgerathenes Weib - das immer
+ein kluges Weib ist - von Grund aus zu schämen hätte. Die Witterung
+dafür verlieren, auf welchem Boden man am sichersten zum Siege kommt;
+die Übung in seiner eigentlichen Waffenkunst vernachlässigen; sich vor
+dem Manne gehen lassen, vielleicht sogar "bis zum Buche", wo man sich
+früher in Zucht und feine listige Demuth nahm; dem Glauben des Mannes
+an ein im Weibe verhülltes grundverschiedenes Ideal, an irgend
+ein Ewig- und Nothwendig-Weibliches mit tugendhafter Dreistigkeit
+entgegenarbeiten; dem Manne es nachdrücklich und geschwätzig ausreden,
+dass das Weib gleich einem zarteren, wunderlich wilden und oft
+angenehmen Hausthiere erhalten, versorgt, geschützt, geschont
+werden müsse; das täppische und entrüstete Zusammensuchen all des
+Sklavenhaften und Leibeigenen, das die Stellung des Weibes in der
+bisherigen Ordnung der Gesellschaft an sich gehabt hat und noch hat
+(als ob Sklaverei ein Gegenargument und nicht vielmehr eine Bedingung
+jeder höheren Cultur, jeder Erhöhung der Cultur sei): - was bedeutet
+dies Alles, wenn nicht eine Anbröckelung der weiblichen Instinkte,
+eine Entweiblichung? Freilich, es giebt genug blödsinnige
+Frauen-Freunde und Weibs-Verderber unter den gelehrten Eseln
+männlichen Geschlechts, die dem Weibe anrathen, sich dergestalt zu
+entweiblichen und alle die Dummheiten nachzumachen, an denen der
+"Mann" in Europa, die europäische "Mannhaftigkeit" krankt, - welche
+das Weib bis zur "allgemeinen Bildung", wohl gar zum Zeitungslesen
+und Politisiren herunterbringen möchten. Man will hier und da selbst
+Freigeister und Litteraten aus den Frauen machen: als ob ein Weib ohne
+Frömmigkeit für einen tiefen und gottlosen Mann nicht etwas vollkommen
+Widriges oder Lächerliches wäre -; man verdirbt fast überall ihre
+Nerven mit der krankhaftesten und gefährlichsten aller Arten Musik
+(unsrer deutschen neuesten Musik) und macht sie täglich hysterischer
+und zu ihrem ersten und letzten Berufe, kräftige Kinder zu gebären,
+unbefähigter. Man will sie überhaupt noch mehr "cultiviren" und, wie
+man sagt, das "schwache Geschlecht" durch Cultur stark machen: als
+ob nicht die Geschichte so eindringlich wie möglich lehrte, dass
+"Cultivirung" des Menschen und Schwächung - nämlich Schwächung,
+Zersplitterung, Ankränkelung der Willenskraft, immer mit einander
+Schritt gegangen sind, und dass die mächtigsten und einflussreichsten
+Frauen der Welt (zuletzt noch die Mutter Napoleon's) gerade ihrer
+Willenskraft - und nicht den Schulmeistern! - ihre Macht und ihr
+Übergewicht über die Männer verdankten. Das, was am Weibe Respekt und
+oft genug Furcht einflösst, ist seine Natur, die "natürlicher" ist als
+die des Mannes, seine ächte raubthierhafte listige Geschmeidigkeit,
+seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät im Egoismus,
+seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite,
+Schweifende seiner Begierden und Tugenden..... Was, bei aller Furcht,
+für diese gefährliche und schöne Katze "Weib" Mitleiden macht, ist,
+dass es leidender, verletzbarer, liebebedürftiger und zur Enttäuschung
+verurtheilter erscheint als irgend ein Thier. Furcht und Mitleiden:
+mit diesen Gefühlen stand bisher der Mann vor dem Weibe, immer mit
+einem Fusse schon in der Tragödie, welche zerreisst, indem sie
+entzückt -. Wie? Und damit soll es nun zu Ende sein? Und die
+Entzauberung des Weibes ist im Werke? Die Verlangweiligung des Weibes
+kommt langsam herauf? Oh Europa! Europa! Man kennt das Thier mit
+Hörnern, welches für dich immer am anziehendsten war, von dem dir
+immer wieder Gefahr droht! Deine alte Fabel könnte noch einmal zur
+"Geschichte" werden, - noch einmal- könnte eine ungeheure Dummheit
+über dich Herr werden und dich davon tragen! Und unter ihr kein Gott
+versteckt, nein! nur eine "Idee", eine "moderne Idee"!.....
+
+
+
+
+Achtes Hauptstück:
+
+Völker und Vaterländer.
+
+240.
+
+Ich hörte, wieder einmal zum ersten Male - Richard Wagner's Ouverture
+zu den Meistersingern: das ist eine prachtvolle, überladene, schwere
+und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständniss zwei
+Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen: - es ehrt die
+Deutschen, dass sich ein solcher Stolz nicht verrechnete! Was für
+Säfte und Kräfte, was für Jahreszeiten und Himmelsstriche sind hier
+nicht gemischt! Das muthet uns bald alterthümlich, bald fremd, herb
+und überjung an, das ist ebenso willkürlich als pomphaft-herkömmlich,
+das ist nicht selten schelmisch, noch öfter derb und grob, - das hat
+Feuer und Muth und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten,
+welche zu spät reif werden. Das strömt breit und voll: und plötzlich
+ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die
+zwischen Ursache und Wirkung aufspringt, ein Druck, der uns träumen
+macht, beinahe ein Alpdruck -, aber schon breitet und weitet sich
+wieder der alte Strom von Behagen aus, von vielfältigstem Behagen,
+von altem und neuem Glück, sehr eingerechnet das Glück des Künstlers
+an sich selber, dessen er nicht Hehl haben will, sein erstauntes
+glückliches Mitwissen um die Meisterschaft seiner hier verwendeten
+Mittel, neuer neuerworbener unausgeprobter Kunstmittel, wie er uns zu
+verrathen scheint. Alles in Allem keine Schönheit, kein Süden, Nichts
+von südlicher feiner Helligkeit des Himmels, Nichts von Grazie, kein
+Tanz, kaum ein Wille zur Logik; eine gewisse Plumpheit sogar, die noch
+unterstrichen wird, wie als ob der Künstler uns sagen wollte: "sie
+gehört zu meiner Absicht"; eine schwerfällige Gewandung, etwas
+Willkürlich-Barbarisches und Feierliches, ein Geflirr von gelehrten
+und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen; etwas Deutsches, im besten
+und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches,
+Unförmliches und Unausschöpfliches; eine gewisse deutsche Mächtigkeit
+und Überfülle der Seele, welche keine Furcht hat, sich unter die
+Raffinements des Verfalls zu verstecken, - die sich dort vielleicht
+erst am wohlsten fühlt; ein rechtes ächtes Wahrzeichen der deutschen
+Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch
+an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den
+Deutschen halte: sie sind von Vorgestern und von Übermorgen, - sie
+haben noch kein Heute.
+
+
+241.
+
+Wir "guten Europäer": auch wir haben Stunden, wo wir uns eine
+herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und
+Engen gestatten - ich gab eben eine Probe davon -, Stunden nationaler
+Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer
+alterthümlicher Gefühls-Überschwemmungen. Schwerfälligere Geister, als
+wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und
+in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden,
+in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen,
+je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre
+"Stoffe wechseln". Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken,
+welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig
+hätten, um solche atavistische Anfälle von Vaterländerei und
+Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen
+zum "guten Europäerthum" zurückzukehren. Und indem ich über diese
+Möglichkeit ausschweife, begegnet mir's, dass ich Ohrenzeuge eines
+Gesprächs von zwei alten "Patrioten" werde, - sie hörten beide
+offenbar schlecht und sprachen darum um so lauter. "Der hält und weiss
+von Philosophie so viel als ein Bauer oder Corpsstudent - sagte der
+Eine -: der ist noch unschuldig. Aber was liegt heute daran! Es ist
+das Zeitalter der Massen: die liegen vor allem Massenhaften auf dem
+Bauche. Und so auch in politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen
+neuen Thurm von Babel, irgend ein Ungeheuer von Reich und Macht
+aufthürmt, heisst ihnen `gross`: - was liegt daran, dass wir
+Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen einstweilen noch nicht vom alten
+Glauben lassen, es sei allein der grosse Gedanke, der einer That und
+Sache Grösse giebt. Gesetzt, ein Staatsmann brächte sein Volk in die
+Lage, fürderhin `grosse Politik` treiben zu müssen, für welche es von
+Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist: so dass es nöthig hätte,
+einer neuen zweifelhaften Mittelmässigkeit zu Liebe seine alten und
+sicheren Tugenden zu opfern, - gesetzt, ein Staatsmann verurtheilte
+sein Volk zum `Politisiren` überhaupt, während dasselbe bisher
+Besseres zu thun und zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen
+vorsichtigen Ekel vor der Unruhe, Leere und lärmenden Zankteufelei
+der eigentlich politisirenden Völker nicht los wurde: - gesetzt, ein
+solcher Staatsmann stachle die eingeschlafnen Leidenschaften und
+Begehrlichkeiten seines Volkes auf, mache ihm aus seiner bisherigen
+Schüchternheit und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner
+Ausländerei und heimlichen Unendlichkeit eine Verschuldung, entwerthe
+ihm seine herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen
+Geist eng, seinen Geschmack `national`, - wie! ein Staatsmann, der
+dies Alles thäte, den sein Volk in alle Zukunft hinein, falls es
+Zukunft hat, abbüssen müsste, ein solcher Staatsmann wäre gross?"
+"Unzweifelhaft! antwortete ihm der andere alte Patriot heftig: sonst
+hätte er es nicht gekonnt! Es war toll vielleicht, so etwas zu wollen?
+Aber vielleicht war alles Grosse im Anfang nur toll!" - "Missbrauch
+der Worte! schrie sein Unterredner dagegen: - stark! stark! stark
+und toll! Nicht gross!" - Die alten Männer hatten sich ersichtlich
+erhitzt, als sie sich dergestalt ihre "Wahrheiten" in's Gesicht
+schrieen; ich aber, in meinem Glück und Jenseits, erwog, wie bald
+über den Starken ein Stärkerer Herr werden wird; auch dass es für die
+geistige Verflachung eines Volkes eine Ausgleichung giebt, nämlich
+durch die Vertiefung eines anderen. -
+
+
+242.
+
+Nenne man es nun "Civilisation" oder "Vermenschlichung" oder
+"Fortschritt", worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht
+wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer
+politischen Formel die demokratische Bewegung Europa's: hinter
+all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit
+solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer
+physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, - der Prozess
+einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den
+Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen
+entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu,
+das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib
+einschreiben möchte, - also die langsame Heraufkunft einer wesentlich
+übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch
+geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische
+Auszeichnung besitzt. Dieser Prozess des werdenden Europäers, welcher
+durch grosse Rückfälle im Tempo verzögert werden kann, aber vielleicht
+gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst - der jetzt
+noch wüthende Sturm und Drang des "National-Gefühls" gehört hierher,
+insgleichen der eben heraufkommende Anarchismus -: dieser Prozess
+läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven
+Beförderer und Lobredner, die Apostel der "modernen Ideen", am
+wenigsten rechnen möchten. Die selben neuen Bedingungen, unter denen
+im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen
+sich herausbilden wird - ein nützliches arbeitsames, vielfach
+brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch -, sind im höchsten
+Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und
+anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene
+Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und
+mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehend, eine neue Arbeit
+beginnt, die Mächtigkeit des Typus gar nicht möglich macht; während
+der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der
+von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren
+Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des
+täglichen Brodes; während also die Demokratisirung Europa's auf die
+Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus
+hinausläuft: wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch
+stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht jemals bisher
+gerathen ist, - Dank der Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank
+der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske. Ich wollte
+sagen: die Demokratisirung Europa's ist zugleich eine unfreiwillige
+Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen,- das Wort in jedem Sinne
+verstanden, auch im geistigsten.
+
+
+243.
+
+Ich höre mit Vergnügen, dass unsre Sonne in rascher Bewegung gegen
+das Sternbild des Herkules hin begriffen ist: und ich hoffe, dass der
+Mensch auf dieser Erde es darin der Sonne gleich thut. Und wir voran,
+wir guten Europäer! -
+
+
+244.
+
+Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung
+"tief" zu nennen: jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen
+Deutschthums nach ganz andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe
+hat, vielleicht die "Schneidigkeit" vermisst, ist der Zweifel beinahe
+zeitgemäss und patriotisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht
+betrogen hat: genug, ob die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas
+Anderes und Schlimmeres ist - und Etwas, das man, Gott sei Dank, mit
+Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen wir also den Versuch, über
+die deutsche Tiefe umzulernen: man hat Nichts dazu nöthig, als ein
+wenig Vivisektion der deutschen Seele. - Die deutsche Seele ist
+vor Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und
+übereinandergesetzt, als wirklich gebaut: das liegt an ihrer Herkunft.
+Ein Deutscher, der sich erdreisten wollte, zu behaupten "zwei
+Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" würde sich an der Wahrheit
+arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen
+zurückbleiben. Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und
+Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht
+des vor-arischen Elementes, als "Volk der Mitte" in jedem Verstande,
+sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller,
+unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher,
+als es andere Völker sich selber sind: - sie entschlüpfen der
+Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen.
+Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage "was ist
+deutsch?" niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine Deutschen gewiss
+gut genug: "Wir sind erkannt" jubelten sie ihm zu, - aber auch Sand
+glaubte sie zu kennen. Jean Paul wusste, was er that, als er sich
+ergrimmt gegen Fichte's verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und
+Übertreibungen erklärte, - aber es ist wahrscheinlich, dass Goethe
+anders über die Deutschen dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in
+Betreff Fichtens Recht gab. Was Goethe eigentlich über die Deutschen
+gedacht hat? - Aber er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich
+geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen: -
+wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu. Gewiss ist, dass es nicht
+"die Freiheitskriege" waren, die ihn freudiger aufblicken liessen,
+so wenig als die französische Revolution, - das Ereigniss, um
+dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem "Mensch" umgedacht
+hat, war das Erscheinen Napoleon's. Es giebt Worte Goethe's, in denen
+er, wie vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Härte über Das
+abspricht, was die Deutschen sich zu ihrem Stolze rechnen: das
+berühmte deutsche Gemüth definirt er einmal als "Nachsicht mit fremden
+und eignen Schwächen". Hat er damit Unrecht? - es kennzeichnet die
+Deutschen, dass man über sie selten völlig Unrecht hat. Die deutsche
+Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es giebt in ihr Höhlen,
+Verstecke, Burgverliesse; ihre Unordnung hat viel vom Reize des
+Geheimnissvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege
+zum Chaos. Und wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der
+Deutsche die Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht
+und verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende,
+Wachsende jeder Art fühlt er als "tief". Der Deutsche selbst ist
+nicht, er wird, er "entwickelt sich". "Entwicklung" ist deshalb der
+eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer
+Formeln: - ein regierender Begriff, der, im Bunde mit deutschem Bier
+und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen. Die
+Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln, die ihnen
+die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche
+Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik
+gesetzt hat). "Gutmüthig und tückisch" - ein solches Nebeneinander,
+widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu
+oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben! Die
+Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche
+Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer
+innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle
+Götter das Fürchten gelernt haben. Will man die "deutsche Seele" ad
+oculos demonstrirt, so sehe man nur in den deutschen Geschmack, in
+deutsche Künste und Sitten hinein: welche bäurische Gleichgültigkeit
+gegen "Geschmack"! Wie steht da das Edelste und Gemeinste neben
+einander! Wie unordentlich und reich ist dieser ganze Seelen-Haushalt!
+Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an Allem, was
+er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit
+"fertig"; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde
+"Verdauung". Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker den
+Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die "Offenheit" und
+"Biederkeit": wie bequem ist es, offen und bieder zu sein! - Es ist
+heute vielleicht die gefährlichste und glücklichste Verkleidung, auf
+die sich der Deutsche versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkommende,
+die-Karten-Aufdeckende der deutschen Redlichkeit: sie ist seine
+eigentliche Mephistopheles-Kunst, mit ihr kann er es "noch weit
+bringen"! Der Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen
+leeren deutschen Augen - und sofort verwechselt das Ausland ihn mit
+seinem Schlafrocke! - Ich wollte sagen: mag die "deutsche Tiefe" sein,
+was sie will, - ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu
+lachen? - wir thun gut, ihren Anschein und guten Namen auch fürderhin
+in Ehren zu halten und unsern alten Ruf, als Volk der Tiefe, nicht zu
+billig gegen preussische "Schneidigkeit" und Berliner Witz und Sand zu
+veräussern. Es ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt,
+für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu machen, gelten zu
+lassen: es könnte sogar - tief sein! Zuletzt: man soll seinem Namen
+Ehre machen, - man heisst nicht umsonst das "tiusche" Volk, das
+Täusche-Volk...
+
+
+245.
+
+Die "gute alte" Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen:
+- wie glücklich wir, dass zu uns sein Rokoko noch redet, dass seine
+"gute Gesellschaft", sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am
+Chinesischen und Geschnörkelten, seine Höflichkeit des Herzens, sein
+Verlangen nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein
+Glaube an den Süden noch an irgend einen Rest in uns appelliren darf!
+Ach, irgend wann wird es einmal damit vorbei sein! - aber wer darf
+zweifeln, dass es noch früher mit dem Verstehen und Schmecken
+Beethoven's vorbei sein wird! - der ja nur der Ausklang eines
+Stil-Übergangs und Stil-Bruchs war und nicht, wie Mozart, der Ausklang
+eines grossen Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks. Beethoven
+ist das Zwischen-Begebniss einer alten mürben Seele, die beständig
+zerbricht, und einer zukünftigen überjungen Seele, welche beständig
+kommt; auf seiner Musik liegt jenes Zwielicht von ewigem Verlieren und
+ewigem ausschweifendem Hoffen, - das selbe Licht, in welchem Europa
+gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um den Freiheitsbaum
+der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe angebetet
+hatte. Aber wie schnell verbleicht jetzt gerade dies Gefühl, wie
+schwer ist heute schon das Wissen um dies Gefühl, - wie fremd klingt
+die Sprache jener Rousseau, Schiller, Shelley, Byron an unser Ohr, in
+denen zusammen das selbe Schicksal Europa's den Weg zum Wort gefunden
+hat, das in Beethoven zu singen wusste! - Was von deutscher Musik
+nachher gekommen ist, gehört in die Romantik, das heisst in
+eine, historisch gerechnet, noch kürzere, noch flüchtigere, noch
+oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener
+Übergang Europa's von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der
+Demokratie war. Weber: aber was ist uns heute Freischütz und Oberon!
+Oder Marschner's Hans Heiling und Vampyr! Oder selbst noch Wagner's
+Tannhäuser! Das ist verklungene, wenn auch noch nicht vergessene
+Musik. Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm
+genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten, als
+im Theater und vor der Menge; sie war von vornherein Musik zweiten
+Ranges, die unter wirklichen Musikern wenig in Betracht kam. Anders
+stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um
+seiner leichteren reineren beglückteren Seele willen schnell verehrt
+und ebenso schnell vergessen wurde: als der schöne Zwischenfall der
+deutschen Musik. Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer nahm
+und von Anfang an auch schwer genommen worden ist - es ist der Letzte,
+der eine Schule gegründet hat -: gilt es heute unter uns nicht als
+ein Glück, als ein Aufathmen, als eine Befreiung, dass gerade diese
+Schumann'sche Romantik überwunden ist? Schumann, in die "sächsische
+Schweiz" seiner Seele flüchtend, halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch
+geartet, gewiss nicht Beethovenisch! gewiss nicht Byronisch! - seine
+Manfred-Musik ist ein Missgriff und Missverständniss bis zum Unrechte
+-, Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack
+war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher
+Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig
+bei Seite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler
+Zärtling, der in lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art
+Mädchen und noli me tangere von Anbeginn: dieser Schumann war bereits
+nur noch ein deutsches Ereigniss in der Musik, kein europäisches mehr,
+wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maasse, Mozart es
+gewesen ist, - mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste Gefahr,
+die Stimme für die Seele Europa's zu verlieren und zu einer blossen
+Vaterländerei herabzusinken. -
+
+
+246.
+
+- Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das
+dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden
+Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei
+Deutschen ein "Buch" genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher
+liest! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er! Wie viele
+Deutsche wissen es und fordern es von sich zu wissen, dass Kunst in
+jedem guten Satze steckt, - Kunst, die errathen sein will, sofern der
+Satz verstanden sein will! Ein Missverständniss über sein Tempo zum
+Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden! Dass man über die
+rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man
+die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz
+fühlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr
+hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen
+räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben
+und umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig
+genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf
+so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen? Man hat zuletzt
+eben "das Ohr nicht dafür": und so werden die stärksten Gegensätze des
+Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben
+verschwendet. - Dies waren meine Gedanken, als ich merkte, wie man
+plump und ahnungslos zwei Meister in der Kunst der Prosa mit einander
+verwechselte, Einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie
+von der Decke einer feuchten Höhle - er rechnet auf ihren dumpfen
+Klang und Wiederklang - und einen Anderen, der seine Sprache wie
+einen biegsamen Degen handhabt und vom Arme bis zur Zehe hinab das
+gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt, welche
+beissen, zischen, schneiden will. -
+
+
+247.
+
+Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun
+hat, zeigt die Thatsache, dass gerade unsre guten Musiker schlecht
+schreiben. Der Deutsche liest nicht laut, nicht für's Ohr, sondern
+bloss mit den Augen: er hat seine Ohren dabei in's Schubfach gelegt.
+Der antike Mensch las, wenn er las - es geschah selten genug - sich
+selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme; man wunderte sich, wenn
+jemand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter
+Stimme: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen,
+Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo's, an denen die antike
+öffentliche Welt ihre Freude hatte. Damals waren die Gesetze des
+Schrift-Stils die selben, wie die des Rede-Stils; und dessen Gesetze
+hiengen zum Theil von der erstaunlichen Ausbildung, den raffinirten
+Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern Theil von der
+Stärke, Dauer und Macht der antiken Lunge. Eine Periode ist, im Sinne
+der Alten, vor Allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von
+Einem Athem zusammengefasst wird. Solche Perioden, wie sie bei
+Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zwei Mal schwellend und zwei Mal
+absinkend und Alles innerhalb Eines Athemzugs: das sind Genüsse für
+antike Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige
+im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schulung zu
+schätzen wussten: - wir haben eigentlich kein Recht auf die grosse
+Periode, wir Modernen, wir Kurzathmigen in jedem Sinne! Diese Alten
+waren ja insgesammt in der Rede selbst Dilettanten, folglich Kenner,
+folglich Kritiker, - damit trieben sie ihre Redner zum Äussersten;
+in gleicher Weise, wie im vorigen Jahrhundert, als alle
+Italiäner und Italiänerinnen zu singen verstanden, bei ihnen das
+Gesangs-Virtuosenthum (und damit auch die Kunst der Melodik -) auf die
+Höhe kam. In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo
+eine Art Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen
+Schwingen regt) eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und ungefähr
+kunstmässiger Rede: das ist die von der Kanzel herab. Der Prediger
+allein wusste in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt,
+inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, läuft, ausläuft, er
+allein hatte Gewissen in seinen Ohren, oft genug ein böses Gewissen:
+denn es fehlt nicht an Gründen dafür, dass gerade von einem Deutschen
+Tüchtigkeit in der Rede selten, fast immer zu spät erreicht wird.
+Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das
+Meisterstück ihres grössten Predigers: die Bibel war bisher das beste
+deutsche Buch. Gegen Luther's Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur
+"Litteratur" - ein Ding, das nicht in Deutschland gewachsen ist und
+darum auch nicht in deutsche Herzen hinein wuchs und wächst: wie es
+die Bibel gethan hat.
+
+
+248.
+
+Es giebt zwei Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und
+zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und
+gebiert. Und ebenso giebt es unter den genialen Völkern solche, denen
+das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des
+Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist - die Griechen zum
+Beispiel waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen -;
+und andre, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen
+des Lebens werden, - gleich den Juden, den Römern und, in aller
+Bescheidenheit gefragt, den Deutschen? - Völker gequält und entzückt
+von unbekannten Fiebern und unwiderstehlich aus sich herausgedrängt,
+verliebt und lüstern nach fremden Rassen (nach solchen, welche sich
+"befruchten lassen" -) und dabei herrschsüchtig wie Alles, was sich
+voller Zeugekräfte und folglich "von Gottes Gnaden" weiss. Diese
+zwei Arten des Genie's suchen sich, wie Mann und Weib; aber sie
+missverstehen auch einander, - wie Mann und Weib.
+
+
+249.
+
+Jedes Volk hat seine eigne Tartüfferie, und heisst sie seine Tugenden.
+- Das Beste, was man ist, kennt man nicht, - kann man nicht kennen.
+
+
+250.
+
+Was Europa den Juden verdankt? - Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und
+vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den
+grossen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher
+Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und
+Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten - und folglich gerade
+den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil jener
+Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute
+der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, -
+vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen
+sind dafür den Juden - dankbar.
+
+
+251.
+
+Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen
+Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden will -,
+mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine
+Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von Heute
+bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald
+die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die
+Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe
+sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke und ihre
+dick verbundenen Köpfe an -), und wie sie Alle heissen mögen, diese
+kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. Möge man mir
+verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr
+inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und
+mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng,
+die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum
+Beispiel über die Juden: man höre. - Ich bin noch keinem Deutschen
+begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre; und so unbedingt
+auch die Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei von Seiten aller
+Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese
+Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber,
+sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit, insbesondere gegen
+den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck dieses unmässigen Gefühls,
+- darüber darf man sich nicht täuschen. Dass Deutschland reichlich
+genug Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Noth hat
+(und noch auf lange Noth haben wird), um auch nur mit diesem Quantum
+"Jude" fertig zu werden - so wie der Italiäner, der Franzose, der
+Engländer fertig geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung
+-: das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen
+Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muss.
+"Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten
+(auch nach Östreich) zu die Thore zusperren!" also gebietet der
+Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist,
+so dass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse
+ausgelöscht werden könnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die
+stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie
+verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich
+durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen), vermöge irgend
+welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte, -
+Dank, vor Allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den "modernen
+Ideen" nicht zu schämen braucht; sie verändern sich, wenn sie sich
+verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen
+macht, - als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist -:
+nämlich nach dem Grundsatze "so langsam als möglich!" Ein Denker,
+der die Zukunft Europa's auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen
+Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den
+Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und
+wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte.
+Das, was heute in Europa "Nation" genannt wird und eigentlich mehr
+eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum
+Verwechseln ähnlich sieht -), ist in jedem Falle etwas Werdendes,
+Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein
+solches aere perennius, wie es die Juden-Art ist: diese "Nationen"
+sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen Concurrenz und Feindseligkeit
+sorgfältig in Acht nehmen! Dass die Juden, wenn sie wollten - oder,
+wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen
+-, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über
+Europa haben könnten, steht fest; dass sie nicht darauf hin arbeiten
+und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie
+vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa
+ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo
+fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem "ewigen
+Juden" ein Ziel zu setzen -; und man sollte diesen Zug und Drang
+(der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte
+ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht
+nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes
+zu verweisen. Mit aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl; ungefähr
+so wie der englische Adel es thut. Es liegt auf der Hand, dass am
+unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten
+Typen des neuen Deutschthums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel
+der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse,
+zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und
+Gehorchens - in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch -
+das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und
+Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt -)
+hinzuthun, hinzuzüchten liesse. Doch hier ziemt es sich, meine heitere
+Deutschthümelei und Festrede abzubrechen: denn ich rühre bereits an
+meinen Ernst, an das "europäische Problem", wie ich es verstehe, an
+die Züchtung einer neuen über Europa, regierenden Kaste. -
+
+
+252.
+
+Das ist keine philosophische Rasse - diese Engländer: Bacon bedeutet
+einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes,
+Hume und Locke eine Erniedrigung und Werth-Minderung des Begriffs
+"Philosoph" für mehr als ein Jahrhundert. Gegen Hume erhob und hob
+sich Kant; Locke war es, von dem Schelling sagen durfte: "je méprise
+Locke"; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung
+waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmüthig, jene beiden
+feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie, welche nach den
+entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinander strebten und
+sich dabei Unrecht thaten, wie sich eben nur Brüder Unrecht thun. -
+Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wusste jener
+Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf
+Carlyle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen
+suchte, was er von sich selbst wusste: nämlich woran es in Carlyle
+fehlte - an eigentlicher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe
+des geistigen Blicks, kurz, an Philosophie. - Es kennzeichnet eine
+solche unphilosophische Rasse, dass sie streng zum Christenthume hält:
+sie braucht seine Zucht zur "Moralisirung" und Veranmenschlichung.
+Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als
+der Deutsche - ist eben deshalb, als der Gemeinere von Beiden, auch
+frömmer als der Deutsche: er hat das Christenthum eben noch nöthiger.
+Für feinere Nüstern hat selbst dieses englische Christenthum noch
+einen ächt englischen Nebengeruch von Spleen und alkoholischer
+Ausschweifung, gegen welche es aus guten Gründen als Heilmittel
+gebraucht wird, - das feinere Gift nämlich gegen das gröbere: eine
+feinere Vergiftung ist in der That bei plumpen Völkern schon ein
+Fortschritt, eine Stufe zur Vergeistigung. Die englische Plumpheit
+und Bauern-Ernsthaftigkeit wird durch die christliche Gebärdensprache
+und durch Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten verkleidet,
+richtiger: ausgelegt und umgedeutet; und für jenes Vieh von
+Trunkenbolden und Ausschweifenden, welches ehemals unter der Gewalt
+des Methodismus und neuerdings wieder als "Heilsarmee" moralisch
+grunzen lernt, mag wirklich ein Busskrampf die verhältnissmässig
+höchste Leistung von "Humanität" sein, zu der es gesteigert werden
+kann: so viel darf man billig zugestehn. Was aber auch noch am
+humansten Engländer beleidigt, das ist sein Mangel an Musik, im
+Gleichniss (und ohne Gleichniss -) zu reden: er hat in den Bewegungen
+seiner Seele und seines Leibes keinen Takt und Tanz, ja noch nicht
+einmal die Begierde nach Takt und Tanz, nach "Musik". Man höre ihn
+sprechen; man sehe die schönsten Engländerinnen gehn - es giebt in
+keinem Lande der Erde schönere Tauben und Schwäne, - endlich: man höre
+sie singen! Aber ich verlange zu viel.....
+
+
+253.
+
+Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt
+werden, weil sie ihnen am gemässesten sind, es giebt Wahrheiten, die
+nur für mittelmässige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen
+- - auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade jetzt
+hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger
+Engländer - ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer -
+in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht
+zu gelangen anhebt. In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon
+anzweifeln, dass zeitweilig solche Geister herrschen? Es wäre ein
+Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister
+für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen
+festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen: - sie sind
+vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung
+zu den "Regeln". Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen
+- nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu bedeuten, neue Werthe
+darzustellen! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist vielleicht
+grösser, auch unheimlicher als man denkt: der Könnende im grossen
+Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen,
+- während andererseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art
+Darwin's eine gewisse Enge, Dürre und fleissige Sorglichkeit, kurz,
+etwas Englisches nicht übel disponiren mag. - Vergesse man es zuletzt
+den Engländern nicht, dass sie schon Ein Mal mit ihrer tiefen
+Durchschnittlichkeit eine Gesammt-Depression des europäischen Geistes
+verursacht haben: Das, was man "die modernen Ideen" oder "die Ideen
+des achtzehnten Jahrhunderts" oder auch "die französischen Ideen"
+nennt - Das also, wogegen sich der deutsche Geist mit tiefem Ekel
+erhoben hat -, war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln.
+Die Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler dieser Ideen
+gewesen, auch ihre besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten
+und gründlichsten Opfer: denn an der verdammlichen Anglomanie der
+"modernen Ideen" ist zuletzt die âme française so dünn geworden
+und abgemagert, dass man sich ihres sechszehnten und siebzehnten
+Jahrhunderts, ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer
+erfinderischen Vornehmheit heute fast mit Unglauben erinnert. Man muss
+aber diesen Satz historischer Billigkeit mit den Zähnen festhalten und
+gegen den Augenblick und Augenschein vertheidigen: die europäische
+noblesse - des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte, kurz, das Wort in
+jedem hohen Sinne genommen - ist Frankreich's Werk und Erfindung, die
+europäische Gemeinheit, der Plebejismus der modernen Ideen -Englands.-
+
+
+254.
+
+Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und
+raffinirtesten Cultur Europa's und die hohe Schule des Geschmacks:
+aber man muss dies "Frankreich des Geschmacks" zu finden wissen. Wer
+zu ihm gehört, hält sich gut verborgen: - es mag eine kleine Zahl
+sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, welche
+nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Theil Fatalisten,
+Verdüsterte, Kranke, zum Theil Verzärtelte und Verkünstelte, solche,
+welche den Ehrgeiz haben, sich zu verbergen. Etwas ist Allen gemein:
+sie halten sich die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem
+lärmenden Maulwerk des demokratischen bourgeois. In der That wälzt
+sich heut im Vordergrunde ein verdummtes und vergröbertes Frankreich,
+- es hat neuerdings, bei dem Leichenbegängniss Victor Hugo's, eine
+wahre Orgie des Ungeschmacks und zugleich der Selbstbewunderung
+gefeiert. Auch etwas Anderes ist ihnen gemeinsam: ein guter Wille,
+sich der geistigen Germanisirung zu erwehren - und ein noch besseres
+Unvermögen dazu! Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem
+Frankreich des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus
+ist, mehr zu Hause und heimischer geworden, als er es je in
+Deutschland war; nicht zu reden von Heinrich Heine, der den feineren
+und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und
+Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in Gestalt Taine's
+- das heisst des ersten lebenden Historikers - einen beinahe
+tyrannischen Einfluss ausübt. Was aber Richard Wagner betrifft: je
+mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der
+âme moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie "wagnerisiren", das
+darf man vorhersagen, - sie thut es jetzt schon genug! Es ist dennoch
+dreierlei, was auch heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und
+Eigen und als unverlornes Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit
+über Europa aufweisen können, trotz aller freiwilligen oder
+unfreiwilligen Germanisirung und Verpöbelung des Geschmacks: einmal
+die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen an die
+"Form", für welche das Wort l'art pour l'art, neben tausend anderen,
+erfunden ist: - dergleichen hat in Frankreich seit drei Jahrhunderten
+nicht gefehlt und immer wieder, Dank der Ehrfurcht vor der "kleinen
+Zahl", eine Art Kammermusik der Litteratur ermöglicht, welche im
+übrigen Europa sich suchen lässt -. Das Zweite, worauf die Franzosen
+eine Überlegenheit über Europa begründen können, ist ihre alte
+vielfache moralistische Cultur, welche macht, dass man im Durchschnitt
+selbst bei kleinen romanciers der Zeitungen und zufälligen
+boulevardiers de Paris eine psychologische Reizbarkeit und Neugierde
+findet, von der man zum Beispiel in Deutschland keinen Begriff
+(geschweige denn die Sache!) hat. Den Deutschen fehlen dazu ein paar
+Jahrhunderte moralistischer Art, welche, wie gesagt, Frankreich sich
+nicht erspart hat; wer die Deutschen darum "naiv" nennt, macht ihnen
+aus einem Mangel ein Lob zurecht. (Als Gegensatz zu der deutschen
+Unerfahrenheit und Unschuld in voluptate psychologica, die mit der
+Langweiligkeit des deutschen Verkehrs nicht gar zu fern verwandt ist,
+- und als gelungenster Ausdruck einer ächt französischen Neugierde
+und Erfindungsgabe für dieses Reich zarter Schauder mag Henri Beyle
+gelten, jener merkwürdige vorwegnehmende und vorauslaufende Mensch,
+der mit einem Napoleonischen Tempo durch sein Europa, durch mehrere
+Jahrhunderte der europäischen Seele lief, als ein Ausspürer und
+Entdecker dieser Seele: - es hat zweier Geschlechter bedurft, um
+ihn irgendwie einzuholen, um einige der Räthsel nachzurathen, die
+ihn quälten und entzückten, diesen wunderlichen Epicureer und
+Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter grosser Psycholog war
+-). Es giebt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit: im Wesen
+der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und
+Südens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und andre Dinge
+thun heisst, die ein Engländer nie begreifen wird; ihr dem Süden
+periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu
+Zeit das provençalische und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie
+vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau und der sonnenlosen
+Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, - unsrer deutschen Krankheit des
+Geschmacks, gegen deren Übermaass man sich augenblicklich mit grosser
+Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen: die "grosse Politik"
+verordnet hat (gemäss einer gefährlichen Heilkunst, welche mich warten
+und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt -). Auch jetzt noch
+giebt es in Frankreich ein Vorverständniss und ein Entgegenkommen für
+jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich
+sind, um in irgend einer Vaterländerei ihr Genüge zu finden und im
+Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben wissen, - für die
+geborenen Mittelländler, die "guten Europäer". - Für sie hat Bizet
+Musik gemacht, dieses letzte Genie, welches eine neue Schönheit und
+Verführung gesehn, - der ein Stück Süden der Musik entdeckt hat.
+
+
+255.
+
+Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten.
+Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine
+grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine
+unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein
+selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein Solcher
+wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil
+sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit
+mit zurück verdirbt. Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern
+dem Glauben nach, muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt,
+auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel
+einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnissvolleren
+Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor
+dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen
+Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle
+deutsche Musik thut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den
+braunen Sonnen-Untergängen der Wüste Recht behält, deren Seele mit
+der Palme verwandt ist und unter grossen schönen einsamen Raubthieren
+heimisch zu sein und zu schweifen versteht..... Ich könnte mir eine
+Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestünde, dass sie von
+Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur dass vielleicht irgend ein
+Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche
+Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von
+grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich
+gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die
+gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge
+wäre. -
+
+
+256.
+
+Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn
+zwischen die Völker Europa's gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls
+den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute
+mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die
+auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, nothwendig nur
+Zwischenakts-Politik sein kann, - Dank Alledem und manchem heute ganz
+Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn
+oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht,
+dass Europa Eins werden will. Bei allen tieferen und umfänglicheren
+Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung
+in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen
+Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft
+vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren
+Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den "Vaterländern", - sie
+ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie "Patrioten" wurden. Ich
+denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich
+Heine, Schopenhauer: man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard
+Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht durch seine eignen
+Missverständnisse verführen lassen darf, - Genies seiner Art haben
+selten das Recht, sich selbst zu verstehen. Noch weniger freilich
+durch den ungesitteten Lärm, mit dem man sich jetzt in Frankreich
+gegen Richard Wagner sperrt und wehrt: - die Thatsache bleibt
+nichtsdestoweniger bestehen, dass die französische Spät-Romantik der
+Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu
+einander, gehören. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer
+Bedürfnisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa,
+dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus,
+hinauf drängt und sehnt - wohin? in ein neues Licht? nach einer neuen
+Sonne? Aber wer möchte genau aussprechen, was alle diese Meister neuer
+Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten? Gewiss ist, dass
+der gleiche Sturm und Drang sie quälte, dass sie auf gleiche Weise
+suchten, diese letzten grossen Suchenden! Allesammt beherrscht von
+der Litteratur bis in ihre Augen und Ohren - die ersten Künstler
+von weltlitterarischer Bildung - meistens sogar selber Schreibende,
+Dichtende, Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne (Wagner
+gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker,
+als Künstler überhaupt unter die Schauspieler); allesammt Fanatiker
+des Ausdrucks "um jeden Preis" - ich hebe Delacroix hervor, den
+Nächstverwandten Wagner's -, allesammt grosse Entdecker im Reiche
+des Erhabenen, auch des Hässlichen und Grässlichen, noch grössere
+Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der
+Schauläden, allesammt Talente weit über ihr Genie hinaus -, Virtuosen
+durch und durch, mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt,
+lockt, zwingt, umwirft, geborene Feinde der Logik und der geraden
+Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren,
+dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden; als Menschen Tantalusse des
+Willens, heraufgekommene Plebejer, welche sich im Leben und Schaffen
+eines vornehmen tempo, eines lento unfähig wussten, - man denke zum
+Beispiel an Balzac - zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer
+durch Arbeit; Antinomisten und Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige und
+Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuss; allesammt zuletzt an dem
+christlichen Kreuze zerbrechend und niedersinkend (und das mit Fug
+und Recht: denn wer von ihnen wäre tief und ursprünglich genug
+zu einer Philosophie des Antichrist gewesen? -) im Ganzen eine
+verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hoch
+emporreissende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert - und es
+ist das Jahrhundert der Menge! - den Begriff "höherer Mensch" erst zu
+lehren hatte Mögen die deutschen Freunde Richard Wagner's darüber mit
+sich zu Rathe gehn, ob es in der Wagnerischen Kunst etwas schlechthin
+Deutsches giebt, oder ob nicht gerade deren Auszeichnung ist,
+aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu kommen: wobei nicht
+unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus gerade Paris
+unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die
+Tiefe seiner Instinkte verlangen hiess, und wie die ganze Art seines
+Auftretens, seines Selbst-Apostolats erst Angesichts des französischen
+Socialisten-Vorbilds sich vollenden konnte. Vielleicht wird man, bei
+einer feineren Vergleichung, zu Ehren der deutschen Natur Richard
+Wagner's finden, dass er es in Allem stärker, verwegener, härter,
+höher getrieben hat, als es ein Franzose des neunzehnten Jahrhunderts
+treiben könnte, - Dank dem Umstande, dass wir Deutschen der Barbarei
+noch näher stehen als die Franzosen -; vielleicht ist sogar das
+Merkwürdigste, was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten
+lateinischen Rasse für immer und nicht nur für heute unzugänglich,
+unnachfühlbar, unnachahmbar: die Gestalt des Siegfried, jenes sehr
+freien Menschen, der in der That bei weitem zu frei, zu hart, zu
+wohlgemuth, zu gesund, zu antikatholisch für den Geschmack alter
+und mürber Culturvölker sein mag. Er mag sogar eine Sünde wider die
+Romantik gewesen sein, dieser antiromanische Siegfried: nun, Wagner
+hat diese Sünde reichlich quitt gemacht, in seinen alten trüben
+Tagen, als er - einen Geschmack vorwegnehmend, der inzwischen Politik
+geworden ist - mit der ihm eignen religiösen Vehemenz den Weg nach
+Rom, wenn nicht zu gehn, so doch zu predigen anfieng. - Damit man
+mich, mit diesen letzten Worten, nicht missverstehe, will ich einige
+kräftige Reime zu Hülfe nehmen, welche auch weniger feinen Ohren es
+verrathen werden, was ich will, - was ich gegen den "letzten Wagner"
+und seine Parsifal-Musik will.
+
+- Ist das noch deutsch? -
+
+ Aus deutschem Herzen kam dies schwüle Kreischen?
+ Und deutschen Leibs ist dies Sich-selbst-Entfleischen?
+ Deutsch ist dies Priester-Händespreitzen,
+ Dies weihrauch-düftelnde Sinne-Reizen?
+ Und deutsch dies Stocken, Stürzen, Taumeln,
+ Dies ungewisse Bimbambaumeln?
+ Dies Nonnen-Äugeln, Ave-Glocken-Bimmeln,
+ Dies ganze falsch verzückte Himmel-Überhimmeln?
+
+- Ist Das noch deutsch? -
+
+ Erwägt! Noch steht ihr an der Pforte: -
+ Denn, was ihr hört, ist Rom, - Rom's Glaube ohne Worte!
+
+
+
+
+Neuntes Hauptstück:
+
+Was ist vornehm?
+
+257.
+
+Jede Erhöhung des Typus "Mensch" war bisher das Werk einer
+aristokratischen Gesellschaft - und so wird es immer wieder sein: als
+einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und
+Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in
+irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es
+aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen
+Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und
+Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und
+Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre
+geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach
+immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die
+Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer,
+umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus "Mensch",
+die fortgesetzte "Selbst-Überwindung des Menschen", um eine moralische
+Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Freilich: man
+darf sich über die Entstehungsgeschichte einer aristokratischen
+Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus "Mensch"
+-) keinen humanitären Täuschungen hingeben: die Wahrheit ist hart.
+Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf
+Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch natürlichen Natur,
+Barbaren in jedem furcht baren Verstande des Wortes, Raubmenschen,
+noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden,
+warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht
+handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe
+Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden
+Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme Kaste
+war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht
+vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, - es waren
+die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet
+als "die ganzeren Bestien").
+
+
+258.
+
+Corruption, als der Ausdruck davon, dass innerhalb der Instinkte
+Anarchie droht, und dass der Grundbau der Affekte, der "Leben" heisst,
+erschüttert ist: Corruption ist, je nach dem Lebensgebilde, an dem
+sie sich zeigt, etwas Grundverschiedenes. Wenn zum Beispiel eine
+Aristokratie, wie die Frankreichs am Anfange der Revolution, mit
+einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und sich selbst einer
+Ausschweifung ihres moralischen Gefühls zum Opfer bringt, so ist
+dies Corruption: - es war eigentlich nur der Abschlussakt jener
+Jahrhunderte dauernden Corruption, vermöge deren sie Schritt für
+Schritt ihre herrschaftlichen Befugnisse abgegeben und sich zur
+Funktion des Königthums (zuletzt gar zu dessen Putz und Prunkstück)
+herabgesetzt hatte. Das Wesentliche an einer guten und gesunden
+Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei es des
+Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und
+höchste Rechtfertigung fühlt, - dass sie deshalb mit gutem Gewissen
+das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu
+unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und
+vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die
+Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern
+nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu
+ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben
+vermag: vergleichbar jenen sonnensüchtigen Kletterpflanzen auf Java -
+man nennt sie Sipo Matador -, welche mit ihren Armen einen Eichbaum
+so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch über ihm, aber auf
+ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glück zur
+Schau tragen können. -
+
+
+259.
+
+Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten,
+seinen Willen dem des Andern gleich setzen: dies kann in einem
+gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte
+werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren
+thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre
+Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). Sobald man aber dies
+Princip weiter nehmen wollte und womöglich gar als Grundprincip
+der Gesellschaft, so würde es sich sofort erweisen als Das, was
+es ist: als Wille zur Verneinung des Lebens, als Auflösungs- und
+Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den Grund denken und
+sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst ist
+wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und
+Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen,
+Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, - aber wozu
+sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von Alters
+her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? Auch jener Körper,
+innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als
+gleich behandeln - es geschieht in jeder gesunden Aristokratie -, muss
+selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist,
+alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in ihm
+gegen einander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein
+müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht
+gewinnen wollen, - nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität
+heraus, sondern weil erlebt, und weil Leben eben Wille zur Macht
+ist. In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer
+widerwilliger gegen Belehrung, als hier; man schwärmt jetzt überall,
+unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen
+der Gesellschaft, denen "der ausbeuterische Charakter" abgehn soll:
+- das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden
+verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die
+"Ausbeutung" gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und
+primitiven Gesellschaft an: sie gehört in's Wesen des Lebendigen, als
+organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens
+zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. - Gesetzt, dies ist
+als Theorie eine Neuerung, - als Realität ist es das Ur-Faktum aller
+Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich! -
+
+
+260.
+
+Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen,
+welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich
+gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander
+geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und
+ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt Herren-Moral und
+Sklaven-Moral; - ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und
+gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen
+zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und
+gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander
+- sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. Die moralischen
+Werthunterscheidungen sind entweder unter einer herrschenden Art
+entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit
+Wohlgefühl bewusst wurde, - oder unter den Beherrschten, den Sklaven
+und Abhängigen jeden Grades. Im ersten Falle, wenn die Herrschenden es
+sind, die den Begriff gut- bestimmen, sind es die erhobenen stolzen
+Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung
+Bestimmende empfunden werden. Der vornehme Mensch trennt die Wesen von
+sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände
+zum Ausdruck kommt: er verachtet sie. Man bemerke sofort, dass in
+dieser ersten Art Moral der Gegensatz "gut" und "schlecht" so viel
+bedeutet wie "vornehm" und "verächtlich": - der Gegensatz "gut" und
+"böse" ist anderer Herkunft. Verachtet wird der Feige, der Ängstliche,
+der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der
+Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die
+Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde
+Schmeichler, vor Allem der Lügner: - es ist ein Grundglaube aller
+Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist. "Wir Wahrhaftigen"
+- so nannten sich im alten Griechenland die Adeligen. Es liegt auf
+der Hand, dass die moralischen Werthbezeichnungen überall zuerst auf
+Menschen und erst abgeleitet und spät auf Handlungen gelegt worden
+sind: weshalb es ein arger Fehlgriff ist, wenn Moral-Historiker
+von Fragen den Ausgang nehmen wie "warum ist die mitleidige
+Handlung gelobt worden?" Die vornehme Art Mensch fühlt sich als
+werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie
+urtheilt "was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich", sie weiss
+sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist
+wertheschaffend. Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche
+Moral ist Selbstverherrlichung. Im Vordergrunde steht das Gefühl der
+Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung,
+das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte: -
+auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast
+nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss
+von Macht erzeugt. Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen,
+auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu
+schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und
+Ehrerbietung vor allem Strengen und Härten hat. "Ein hartes Herz legte
+Wotan mir in die Brust" heisst es in einer alten skandinavischen Saga:
+so ist es aus der Seele eines stolzen Wikingers heraus mit Recht
+gedichtet. Eine solche Art Mensch ist eben stolz darauf, nicht zum
+Mitleiden gemacht zu sein: weshalb der Held der Saga warnend hinzufügt
+"wer jung schon kein hartes Herz hat, dem wird es niemals hart".
+Vornehme und Tapfere, welche so denken, sind am entferntesten von
+jener Moral, welche gerade im Mitleiden oder im Handeln für Andere
+oder im désintéressement das Abzeichen des Moralischen sieht;
+der Glaube an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine
+Grundfeindschaft und Ironie gegen "Selbstlosigkeit" gehört eben so
+bestimmt zur vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung und
+Vorsicht vor den Mitgefühlen und dem "warmen Herzen". - Die Mächtigen
+sind es, welche zu ehren verstehen, es ist ihre Kunst, ihr Reich der
+Erfindung. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen -
+das ganze Recht steht auf dieser doppelten Ehrfurcht -, der Glaube und
+das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren und zu Ungunsten der Kommenden
+ist typisch in der Moral der Mächtigen; und wenn umgekehrt die
+Menschen der "modernen Ideen" beinahe instinktiv an den "Fortschritt"
+und die "Zukunft" glauben und der Achtung vor dem Alter immer mehr
+ermangeln, so verräth sich damit genugsam schon die unvornehme
+Herkunft dieser "Ideen". Am meisten ist aber eine Moral der
+Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich in der
+Strenge ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pflichten
+habe; dass man gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles
+Fremde nach Gutdünken oder "wie es das Herz will" handeln dürfe und
+jedenfalls "jenseits von Gut und Böse" -: hierhin mag Mitleiden und
+dergleichen gehören. Die Fähigkeit und Pflicht zu langer Dankbarkeit
+und langer Rache - beides nur innerhalb seines Gleichen -, die
+Feinheit in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffinement in der
+Freundschaft, eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam
+als Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth, - im
+Grunde, um gut freund sein zu können): Alles das sind typische
+Merkmale der vornehmen Moral, welche, wie angedeutet, nicht die Moral
+der "modernen Ideen" ist und deshalb heute schwer nachzufühlen,
+auch schwer auszugraben und aufzudecken ist. - Es steht anders
+mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral. Gesetzt,
+dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien,
+Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisiren: was wird das
+Gleichartige ihrer moralischen Werthschätzungen sein? Wahrscheinlich
+wird ein pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum
+Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurtheilung des Menschen mitsammt
+seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden
+des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen, er hat Feinheit des
+Misstrauens gegen alles "Gute", was dort geehrt wird -, er möchte sich
+überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden
+die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu
+dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden,
+die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der
+Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren -, denn das sind hier
+die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den
+Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich
+Nützlichkeits-Moral. Hier ist der Herd für die Entstehung jenes
+berühmten Gegensatzes "gut" und "böse": - in's Böse wird die Macht und
+Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furchtbarkeit, Feinheit
+und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen lässt. Nach der
+Sklaven-Moral erregt also der "Böse" Furcht; nach der Herren Moral ist
+es gerade der "Gute", der Furcht erregt und erregen will, während der
+"schlechte" Mensch als der verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz
+kommt auf seine Spitze, wenn sich, gemäss der Sklavenmoral-Consequenz,
+zuletzt nun auch an den "Guten" dieser Moral ein Hauch von
+Geringschätzung hängt - sie mag leicht und wohlwollend sein -, weil
+der Gute innerhalb der Sklaven-Denkweise jedenfalls der ungefährliche
+Mensch sein muss: er ist gutmüthig, leicht zu betrügen, ein bischen
+dumm vielleicht, un bonhomme. überall, wo die Sklaven-Moral zum
+Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte "gut"
+und "dumm" einander anzunähern. - Ein letzter Grundunterschied: das
+Verlangen nach Freiheit, der Instinkt für das Glück und die Feinheiten
+des Freiheits-Gefühls gehört ebenso nothwendig zur Sklaven-Moral und
+-Moralität, als die Kunst und Schwärmerei in der Ehrfurcht, in der
+Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk- und
+Werthungsweise ist. - Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn,
+warum die Liebe als Passion - es ist unsre europäische Spezialität -
+schlechterdings vornehmer Abkunft sein muss: bekanntlich gehört ihre
+Erfindung den provençalischen Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen
+erfinderischen Menschen des "gai saber", denen Europa so Vieles und
+beinahe sich selbst verdankt. -
+
+
+261.
+
+Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am
+schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit: er wird versucht
+sein, sie noch dort zu leugnen, wo eine andre Art Mensch sie mit
+beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen
+vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken suchen,
+welche sie selbst von sich nicht haben - und also auch nicht
+"verdienen" -, und die doch hinterdrein an diese gute Meinung
+selber glauben. Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos
+und unehrerbietig vor sich selbst, zur andren Hälfte so
+barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit gern als Ausnahme
+fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr redet,
+anzweifelt. Er wird zum Beispiel sagen: "ich kann mich über meinen
+Werth irren und andererseits doch verlangen, dass mein Werth gerade
+so, wie ich ihn ansetze, auch von Andern anerkannt werde, - aber das
+ist keine Eitelkeit (sondern Dünkel oder, in den häufigeren Fällen,
+Das, was `Demuth`, auch `Bescheidenheit` genannt wird)." Oder auch:
+"ich kann mich aus vielen Gründen über die gute Meinung Anderer
+freuen, vielleicht weil ich sie ehre und liebe und mich an jeder ihrer
+Freuden erfreue, vielleicht auch weil ihre gute Meinung den Glauben
+an meine eigne gute Meinung bei mir unterschreibt und kräftigt,
+vielleicht weil die gute Meinung Anderer, selbst in Fällen, wo ich
+sie nicht theile, mir doch nützt oder Nutzen verspricht, - aber das
+ist Alles nicht Eitelkeit." Der vornehme Mensch muss es sich erst
+mit Zwang, namentlich mit Hülfe der Historie, vorstellig machen,
+dass, seit unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen
+Volksschichten der gemeine Mensch nur Das war, was er galt: - gar
+nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, mass er auch sich
+keinen andern Werth bei, als seine Herren ihm beimassen (es ist das
+eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen). Mag man es als die Folge
+eines ungeheuren Atavismus begreifen, dass der gewöhnliche Mensch auch
+jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich wartet und sich dann
+derselben instinktiv unterwirft: aber durchaus nicht bloss einer
+"guten" Meinung, sondern auch einer schlechten und unbilligen (man
+denke zum Beispiel an den grössten Theil der Selbstschätzungen und
+Selbstunterschätzungen, welche gläubige Frauen ihren Beichtvätern
+ablernen, und überhaupt der gläubige Christ seiner Kirche ablernt).
+Thatsächlich wird nun, gemäss dem langsamen Heraufkommen der
+demokratischen Ordnung der Dinge (und seiner Ursache, der
+Blutvermischung von Herren und Sklaven), der ursprünglich vornehme und
+seltne Drang, sich selbst von sich aus einen Werth zuzuschreiben und
+von sich "gut zu denken", mehr und mehr ermuthigt und ausgebreitet
+werden: aber er hat jeder Zeit einen älteren, breiteren und
+gründlicher einverleibten Hang gegen sich, - und im Phänomene der
+"Eitelkeit" wird dieser ältere Hang Herr über den jüngeren. Der Eitle
+freut sich über jede gute Meinung, die er über sich hört (ganz abseits
+von allen Gesichtspunkten ihrer Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von
+wahr und falsch), ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet:
+denn er unterwirft sich beiden, er fühlt sich ihnen unterworfen, aus
+jenem ältesten Instinkte der Unterwerfung, der an ihm ausbricht. - Es
+ist "der Sklave" im Blute des Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit
+des Sklaven - und wie viel "Sklave" ist zum Beispiel jetzt noch im
+Weibe rückständig! welcher zu guten Meinungen über sich zu verführen
+sucht; es ist ebenfalls der Sklave, der vor diesen Meinungen nachher
+sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie nicht hervorgerufen
+hätte. - Und nochmals gesagt: Eitelkeit ist ein Atavismus.
+
+
+262.
+
+Eine Art entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen
+Kampfe mit wesentlich gleichen ungünstigen Bedingungen. Umgekehrt
+weiss man aus den Erfahrungen der Züchter, dass Arten, denen eine
+überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und
+Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation
+des Typus neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an
+monströsen Lastern) sind. Nun sehe man einmal ein aristokratisches
+Gemeinwesen, etwa eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine,
+sei es freiwillige, sei es unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der
+Züchtung an: es sind da Menschen bei einander und auf sich angewiesen,
+welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens, weil sie sich
+durchsetzen müssen oder in furchtbarer Weise Gefahr laufen,
+ausgerottet zu werden. Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener
+Schutz, unter denen die Variation begünstigt ist; die Art hat sich
+als Art nöthig, als Etwas, das sich gerade vermöge seiner Härte,
+Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form überhaupt durchsetzen und
+dauerhaft machen kann, im beständigen Kampfe mit den Nachbarn oder
+mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten.
+Die mannichfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften
+vornehmlich sie es verdankt, dass sie, allen Göttern und Menschen
+zum Trotz, noch da ist, dass sie noch immer obgesiegt hat: diese
+Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet
+sie gross. Sie thut es mit Härte, ja sie will die Härte; jede
+aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend, in
+der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältnisse von
+Alt und jung, in den Strafgesetzen (welche allein die Abartenden
+in's Auge fassen): - sie rechnet die Unduldsamkeit selbst unter die
+Tugenden, unter dem Namen "Gerechtigkeit". Ein Typus mit wenigen, aber
+sehr starken Zügen, eine Art strenger kriegerischer klug-schweigsamer,
+geschlossener und verschlossener Menschen (und als solche vom feinsten
+Gefühle für die Zauber und nuances der Societät) wird auf diese Weise
+über den Wechsel der Geschlechter hinaus festgestellt; der beständige
+Kampf mit immer gleichen ungünstigen Bedingungen ist, wie gesagt,
+die Ursache davon, dass ein Typus fest und hart wird. Endlich aber
+entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt nach; es
+giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel
+zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da. Mit
+Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht: sie fühlt
+sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend, - wollte sie
+fortbestehn, so könnte sie es nur als eine Form des Luxus, als
+archaisirender Geschmack. Die Variation, sei es als Abartung (in's
+Höhere, Feinere, Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität,
+ist plötzlich in der grössten Fülle und Pracht auf dem Schauplatz,
+der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen
+Wendepunkten der Geschichte zeigt sich neben einander und oft
+in einander verwickelt und verstrickt ein herrliches vielfaches
+urwaldhaftes Heraufwachsen und Emporstreben, eine Art tropisches Tempo
+im Wetteifer des Wachsthums und ein ungeheures Zugrundegehen und
+Sich-zu-Grunde-Richten, Dank den wild gegeneinander gewendeten,
+gleichsam explodirenden Egoismen, welche "um Sonne und Licht" mit
+einander ringen und keine Grenze, keine Zügelung, keine Schonung mehr
+aus der bisherigen Moral zu entnehmen wissen. Diese Moral selbst war
+es, welche die Kraft in's Ungeheure aufgehäuft, die den Bogen auf
+so bedrohliche Weise gespannt hat - - jetzt ist, jetzt wird sie
+"überlebt". Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo
+das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral
+hinweg lebt; das "Individuum" steht da, genöthigt zu einer eigenen
+Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung,
+Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu's, lauter neue
+Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und
+Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die
+höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse
+aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein
+verhängnissvolles Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize
+und Schleier, die, der jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten
+Verderbniss zu eigen sind. Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der
+Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in's Individuum verlegt, in den
+Nächsten und Freund, auf die Gasse, in's eigne Kind, in's eigne Herz,
+in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille: was werden
+jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese
+Zeit heraufkommen? Sie entdecken, diese scharfen Beobachter und
+Eckensteher, dass es schnell zum Ende geht, dass Alles um sie verdirbt
+und verderben macht, dass Nichts bis übermorgen steht, Eine Art Mensch
+ausgenommen, die unheilbar Mittelmässigen. Die Mittelmässigen allein
+haben Aussicht, sich fortzusetzen, sich fortzupflanzen, - sie sind die
+Menschen der Zukunft, die einzig überlebenden; "seid wie sie! werdet
+mittelmässig!" heisst nunmehr die alleinige Moral, die noch Sinn hat,
+die noch Ohren findet. - Aber sie ist schwer zu predigen, diese Moral
+der Mittelmässigkeit! - sie darf es ja niemals eingestehn, was sie
+ist und was sie will! sie muss von Maass und Würde und Pflicht und
+Nächstenliebe reden, - sie wird noth haben, die Ironie zu verbergen! -
+
+
+263.
+
+Es giebt einen Instinkt für den Rang, welcher, mehr als Alles, schon
+das Anzeichen eines hohen Ranges ist; es giebt eine Lust an den
+Nuancen der Ehrfurcht, die auf vornehme Abkunft und Gewohnheiten
+rathen lässt. Die Feinheit, Güte und Höhe einer Seele wird gefährlich
+auf die Probe gestellt, wenn Etwas an ihr vorüber geht, das ersten
+Ranges ist, aber noch nicht von den Schaudern der Autorität vor
+zudringlichen Griffen und Plumpheiten gehütet wird: Etwas, das,
+unabgezeichnet, unentdeckt, versuchend, vielleicht willkürlich
+verhüllt und verkleidet, wie ein lebendiger Prüfstein seines Weges
+geht. Zu wessen Aufgabe und Übung es gehört, Seelen auszuforschen, der
+wird sich in mancherlei Formen gerade dieser Kunst bedienen, um den
+letzten Werth einer Seele, die unverrückbare eingeborne Rangordnung,
+zu der sie gehört, festzustellen: er wird sie auf ihren Instinkt der
+Ehrfurcht hin auf die Probe stellen. Différence engendre haine: die
+Gemeinheit mancher Natur sprützt plötzlich wie schmutziges Wasser
+hervor, wenn irgend ein heiliges Gefäss, irgend eine Kostbarkeit aus
+verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des grossen
+Schicksals vorübergetragen wird; und andrerseits giebt es ein
+unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stillewerden
+aller Gebärden, woran sich ausspricht, dass eine Seele die Nähe des
+Verehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im Ganzen bisher die
+Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist
+vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das
+Europa dem Christenthume verdankt: solche Bücher der Tiefe und der
+letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von Aussen
+kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahrtausende von Dauer zu
+gewinnen, welche nöthig sind, sie auszuschöpfen und auszurathen.
+Es ist Viel erreicht, wenn der grossen Menge (den Flachen und
+Geschwind-Därmen aller Art) jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, dass
+sie nicht an Alles rühren dürfe; dass es heilige Erlebnisse giebt, vor
+denen sie die Schuhe auszuziehn und die unsaubere Hand fern zu halten
+hat, - es ist beinahe ihre höchste Steigerung zur Menschlichkeit.
+Umgekehrt wirkt an den sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der
+"modernen Ideen", vielleicht Nichts so ekelerregend, als ihr Mangel
+an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von
+ihnen an Alles gerührt, geleckt, getastet wird; und es ist möglich,
+dass sich heut im Volke, im niedern Volke, namentlich unter Bauern,
+immer noch mehr relative Vornehmheit des Geschmacks und Takt der
+Ehrfurcht vorfindet, als bei der zeitunglesenden Halbwelt des Geistes,
+den Gebildeten.
+
+
+264.
+
+Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine
+Vorfahren am liebsten und beständigsten gethan haben: ob sie etwa
+emsige Sparer waren und Zubehör eines Schreibtisches und Geldkastens,
+bescheiden und bürgerlich in ihren Begierden, bescheiden auch in ihren
+Tugenden; oder ob sie an's Befehlen von früh bis spät gewöhnt lebten,
+rauhen Vergnügungen hold und daneben vielleicht noch rauheren
+Pflichten und Verantwortungen; oder ob sie endlich alte Vorrechte der
+Geburt und des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz
+ihrem Glauben - ihrem "Gotte" - zu leben, als die Menschen eines
+unerbittlichen und zarten Gewissens, welches vor jeder Vermittlung
+erröthet. Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die
+Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe
+habe: was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem
+der Rasse. Gesetzt, man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein
+Schluss auf das Kind erlaubt: irgend eine widrige Unenthaltsamkeit,
+irgend ein Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei - wie diese Drei
+zusammen zu allen Zeiten den eigentlichen Pöbel-Typus ausgemacht haben
+- dergleichen muss auf das Kind so sicher übergehn, wie verderbtes
+Blut; und mit Hülfe der besten Erziehung und Bildung wird man eben
+nur erreichen, über eine solche Vererbung zu täuschen. - Und was will
+heute Erziehung und Bildung Anderes! In unsrem sehr volksthümlichen,
+will sagen pöbelhaften Zeitalter muss "Erziehung" und "Bildung"
+wesentlich die Kunst, zu täuschen, sein, - über die Herkunft, den
+vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen. Ein Erzieher,
+der heute vor Allem Wahrhaftigkeit predigte und seinen Züchtlingen
+beständig zuriefe "seid wahr! seid natürlich! gebt euch, wie ihr
+seid!" - selbst ein solcher tugendhafter und treuherziger Esel würde
+nach einiger Zeit zu jener furca des Horaz greifen lernen, um naturam
+expellere: mit welchem Erfolge? "Pöbel" usque recurret. -
+
+
+265.
+
+Auf die Gefahr hin, unschuldige Ohren missvergnügt zu machen, stelle
+ich hin: der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine
+jenen unverrückbaren Glauben, dass einem Wesen, wie "wir sind", andre
+Wesen von Natur unterthan sein müssen und sich ihm zu opfern haben.
+Die vornehme Seele nimmt diesen Thatbestand ihres Egoismus ohne jedes
+Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl von Härte Zwang, Willkür darin,
+vielmehr wie Etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag: -
+suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen "es ist die
+Gerechtigkeit selbst". Sie gesteht sich, unter Umständen, die sie
+anfangs zögern lassen, zu, dass es mit ihr Gleichberechtigte giebt;
+sobald sie über diese Frage des Rangs im Reinen ist, bewegt sie
+sich unter diesen Gleichen und Gleichberechtigten mit der gleichen
+Sicherheit in Scham und zarter Ehrfurcht, welche sie im Verkehre mit
+sich selbst hat, - gemäss einer eingebornen himmlischen Mechanik, auf
+welche sich alle Sterne verstehn. Es ist ein Stück ihres Egoismus
+mehr, diese Feinheit und Selbstbeschränkung im Verkehre mit ihres
+Gleichen - jeder Stern ist ein solcher Egoist -: sie ehrt sich in
+ihnen und in den Rechten, welche sie an dieselben abgiebt, sie
+zweifelt nicht, dass der Austausch von Ehren und Rechten als Wesen
+alles Verkehrs ebenfalls zum naturgemässen Zustand der Dinge gehört.
+Die vornehme Seele giebt, wie sie nimmt, aus dem leidenschaftlichen
+und reizbaren Instinkte der Vergeltung heraus, welcher auf ihrem
+Grunde liegt. Der Begriff "Gnade" hat inter pares keinen Sinn und
+Wohlgeruch; es mag eine sublime Art geben, Geschenke von Oben her
+gleichsam über sich ergehen zu lassen und wie Tropfen durstig
+aufzutrinken: aber für diese Kunst und Gebärde hat die vornehme Seele
+kein Geschick. Ihr Egoismus hindert sie hier: sie blickt ungern
+überhaupt nach "Oben", - sondern entweder vor sich, horizontal und
+langsam, oder hinab: - sie weiss sich in der Höhe.-
+
+
+266.
+
+"Wahrhaft hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst _sucht_". -
+Goethe an Rath Schlosser.
+
+
+267.
+
+Es giebt ein Sprüchwort bei den Chinesen, das die Mütter schon
+ihre Kinder lehren: siao-sin "mache dein Herz klein!" Dies ist der
+eigentliche Grundhang in späten Civilisationen: ich zweifle nicht,
+dass ein antiker Grieche auch an uns Europäern von Heute zuerst die
+Selbstverkleinerung herauserkennen würde, - damit allein schon giengen
+wir ihm "wider den Geschmack". -
+
+
+268.
+
+Was ist zuletzt die Gemeinheit? - Worte sind Tonzeichen für Begriffe;
+Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für
+oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, für
+Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu
+verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben
+Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man
+muss zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben. Deshalb
+verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser unter einander, als
+Zugehörige verschiedener Völker, selbst wenn sie sich der gleichen
+Sprache bedienen; oder vielmehr, wenn Menschen lange unter ähnlichen
+Bedingungen (des Klima's, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfnisse, der
+Arbeit) zusammen gelebt haben, so entsteht daraus Etwas, das "sich
+versteht", ein Volk. In allen Seelen hat eine gleiche Anzahl oft
+wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand gewonnen über seltner
+kommende: auf sie hin versteht man sich, schnell und immer
+schneller - die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines
+Abkürzungs-Prozesses -; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man
+sich, enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit, um so
+grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth
+thut, übereinzukommen; sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das
+ist es, was die Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren
+können. Noch bei jeder Freundschaft oder Liebschaft macht man diese
+Probe: Nichts derart hat Dauer, sobald man dahinter kommt, dass
+Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt, meint, wittert,
+wünscht, fürchtet, als der Andere. (Die Furcht vor dem "ewigen
+Missverständniss": das ist jener wohlwollende Genius, der Personen
+verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Verbindungen
+abhält, zu denen Sinne und Herz rathen - und nicht irgend ein
+Schopenhauerischer "Genius der Gattung" -!) Welche Gruppen von
+Empfindungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden, das
+Wort ergreifen, den Befehl geben, das entscheidet über die gesammte
+Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel. Die
+Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Aufbau seiner
+Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth
+sieht. Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen
+einander angenähert hat, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche
+Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich
+im Ganzen, dass die leichte Mittheilbarkeit der Noth, dass heisst im
+letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und gemeinen
+Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche über den Menschen bisher
+verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren,
+die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die
+Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben
+leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und
+pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen,
+um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile,
+die Fortbildung des Menschen in's Ähnliche, Gewöhnliche,
+Durchschnittliche, Heerdenhafte - in's Gemeine! - zu kreuzen.
+
+
+269.
+
+Je mehr ein Psycholog - ein geborner, ein unvermeidlicher Psycholog
+und Seelen-Errather - sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen
+zukehrt, um so grösser wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken:
+er hat Härte und Heiterkeit nöthig, mehr als ein andrer Mensch. Die
+Verderbniss, das Zugrundegehen der höheren Menschen, der fremder
+gearteten Seelen ist nämlich die Regel: es ist schrecklich, eine
+solche Regel immer vor Augen zu haben. Die vielfache Marter des
+Psychologen, der dieses Zugrundegehen entdeckt hat, der diese gesammte
+innere "Heillosigkeit" des höheren Menschen, dieses ewige "Zu spät!"
+in jedem Sinne, erst einmal und dann fast immer wieder entdeckt, durch
+die ganze Geschichte hindurch, - kann vielleicht eines Tages zur
+Ursache davon werden, dass er mit Erbitterung sich gegen sein eignes
+Loos wendet und einen Versuch der Selbst-Zerstörung macht, - dass
+er selbst "verdirbt". Man wird fast bei jedem Psychologen eine
+verrätherische Vorneigung und Lust am Umgange mit alltäglichen und
+wohlgeordneten Menschen wahrnehmen: daran verräth sich, dass er immer
+einer Heilung bedarf, dass er eine Art Flucht und Vergessen braucht,
+weg von dem, was ihm seine Einblicke und Einschnitte, was ihm
+sein "Handwerk" auf's Gewissen gelegt hat. Die Furcht vor seinem
+Gedächtniss ist ihm eigen. Er kommt vor dem Urtheile Anderer leicht
+zum Verstummen: er hört mit einem unbewegten Gesichte zu, wie dort
+verehrt, bewundert, geliebt, verklärt wird, wo er gesehen hat,
+- oder er verbirgt noch sein Verstummen, indem er irgend einer
+Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt. Vielleicht geht die
+Paradoxie seiner Lage so weit in's Schauerliche, dass die Menge, die
+Gebildeten, die Schwärmer gerade dort, wo er das grosse Mitleiden
+neben der grossen Verachtung gelernt hat, ihrerseits die grosse
+Verehrung lernen, - die Verehrung für "grosse Männer" und
+Wunderthiere, um derentwillen man das Vaterland, die Erde, die Würde
+der Menschheit, sich selber segnet und in Ehren hält, auf welche man
+die Jugend hinweist, hinerzieht.... Und wer weiss, ob sich nicht
+bisher in allen grossen Fällen eben das Gleiche begab: dass die Menge
+einen Gott anbetete, - und dass der "Gott" nur ein armes Opferthier
+war! Der Erfolg war immer der grösste Lügner, und das "Werk" selbst
+ist ein Erfolg; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist
+in seine Schöpfungen verkleidet, bis in's Unerkennbare; das "Werk",
+das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es
+geschaffen hat, geschaffen haben soll; die "grossen Männer", wie sie
+verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein; in der
+Welt der geschichtlichen Werthe herrscht die Falschmünzerei. Diese
+grossen Dichter zum Beispiel, diese Byron, Musset, Poe, Leopardi,
+Kleist, Gogol, - so wie sie nun einmal sind, vielleicht sein müssen:
+Menschen der Augenblicke, begeistert, sinnlich, kindsköpfisch, im
+Misstrauen und Vertrauen leichtfertig und plötzlich; mit Seelen,
+an denen gewöhnlich irgend ein Bruch verhehlt werden soll; oft mit
+ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit ihren
+Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss, oft
+in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt, bis sie den Irrlichtern
+um die Sümpfe herum gleich werden und sich zu Sternen verstellen -
+das Volk nennt sie dann wohl Idealisten -, oft mit einem langen Ekel
+kämpfend, mit einem wiederkehrenden Gespenst von Unglauben, der kalt
+macht und sie zwingt, nach gloria zu schmachten und den "Glauben an
+sich" aus den Händen berauschter Schmeichler zu fressen: - welche
+Marter sind diese grossen Künstler und überhaupt die höheren Menschen
+für Den, der sie einmal errathen hat! Es ist so begreiflich, dass
+sie gerade vom Weibe - welches hellseherisch ist in der Welt des
+Leidens und leider auch weit über seine Kräfte hinaus hülf- und
+rettungssüchtig - so leicht jene Ausbrüche unbegrenzten hingebendsten
+Mitleids erfahren, welche die Menge, vor Allem die verehrende Menge,
+nicht versteht und mit neugierigen und selbstgefälligen Deutungen
+überhäuft. Dieses Mitleiden täuscht sich regelmässig über seine Kraft;
+das Weib möchte glauben, dass Liebe Alles vermag, - es ist sein
+eigentlicher Glaube. Ach, der Wissende des Herzens erräth, wie arm,
+dumm, hülflos, anmaaslich, fehlgreifend, leichter zerstörend als
+rettend auch die beste tiefste Liebe ist! - Es ist möglich, dass
+unter der heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der
+schmerzlichsten Fälle vom Martyrium des Wissens um die Liebe verborgen
+liegt: das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das
+an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebt-werden und
+Nichts ausserdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren
+Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten; die Geschichte
+eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die
+Hölle erfinden musste, um Die dorthin zu schicken, welche ihn nicht
+lieben wollten, - und der endlich, wissend geworden über menschliche
+Liebe, einen Gott erfinden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben- können
+ist, - der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig,
+so unwissend ist! Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe weiss -,
+sucht den Tod. - Aber warum solchen schmerzlichen Dingen nachhängen?
+Gesetzt, dass man es nicht muss. -
+
+
+270.
+
+Der geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat -
+es bestimmt beinahe die Rangordnung, wie tief Menschen leiden können
+-, seine schaudernde Gewissheit, von der er ganz durchtränkt und
+gefärbt ist, vermöge seines Leidens mehr zu wissen, als die Klügsten
+und Weisesten wissen können, in vielen fernen entsetzlichen Welten
+bekannt und einmal "zu Hause" gewesen zu sein, von denen "ihr nichts
+wisst!"....... dieser geistige schweigende Hochmuth des Leidenden,
+dieser Stolz des Auserwählten der Erkenntniss, des "Eingeweihten",
+des beinahe Geopferten findet alle Formen von Verkleidung nöthig, um
+sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und
+überhaupt vor Allem, was nicht Seinesgleichen im Schmerz ist, zu
+schützen. Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt. Eine der feinsten
+Verkleidungs-Formen ist der Epicureismus und eine gewisse fürderhin
+zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden
+leichtfertig nimmt und sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehre
+setzt. Es giebt "heitere Menschen", welche sich der Heiterkeit
+bedienen, weil sie um ihretwillen missverstanden werden: - sie wollen
+missverstanden sein. Es giebt "wissenschaftliche Menschen", welche
+sich der Wissenschaft bedienen, weil dieselbe einen heiteren Anschein
+giebt, und weil Wissenschaftlichkeit darauf schliessen lässt, dass
+der Mensch oberflächlich ist: - sie wollen zu einem falschen Schlusse
+verführen. Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und
+verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen
+sind; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein
+unseliges allzugewisses Wissen. - Woraus sich ergiebt, dass es zur
+feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht "vor der Maske" zu haben und
+nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.
+
+
+271.
+
+Was am tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn
+und Grad der Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige
+Nützlichkeit, was hilft aller guter Wille für einander: zuletzt bleibt
+es dabei - sie "können sich nicht riechen!" Der höchste Instinkt der
+Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und
+gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen: denn eben das ist
+Heiligkeit - die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes.
+Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des
+Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig
+aus der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der "Trübsal", in's
+Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt -: eben so sehr als ein solcher
+Hang auszeichnet - es ist ein vornehmer Hang -, trennt er auch. -
+Das Mitleiden des Heiligen ist das Mitleiden mit dem Schmutz des
+Menschlichen, Allzumenschlichen. Und es giebt Grade und Höhen, wo
+das Mitleiden selbst von ihm als Verunreinigung, als Schmutz gefühlt
+wird.....
+
+
+272.
+
+Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu
+Pflichten für Jedermann herabzusetzen; die eigne Verantwortlichkeit
+nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen; seine Vorrechte und deren
+Ausübung unter seine Pflichten rechnen.
+
+
+273.
+
+Ein Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf
+seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und
+Hemmniss - oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthümliche
+hochgeartete Güte gegen Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf
+seiner Höhe ist und herrscht. Die Ungeduld und sein Bewusstsein, bis
+dahin immer zur Komödie verurtheilt zu sein - denn selbst der Krieg
+ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den Zweck verbirgt -,
+verdirbt ihm jeden Umgang: diese Art Mensch kennt die Einsamkeit und
+was sie vom Giftigsten an sich hat.
+
+
+274.
+
+Das Problem der Wartenden. - Es sind Glücksfälle dazu nöthig und
+vielerlei Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung
+eines Problems schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt - "zum
+Ausbruch", wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich nicht,
+und in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen,
+in wiefern sie warten, noch weniger aber, dass sie umsonst warten.
+Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die
+"Erlaubniss" zum Handeln giebt, - dann, wenn bereits die beste Jugend
+und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist; und wie
+Mancher fand, eben als er "aufsprang", mit Schrecken seine Glieder
+eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer! "Es ist zu spät" -
+sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer
+unnütz. - Sollte, im Reiche des Genie's, der "Raffael ohne Hände",
+das Wort im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme,
+sondern die Regel sein? - Das Genie ist vielleicht gar nicht so
+selten: aber die fünfhundert Hände, die es nöthig hat, um den kairós,
+"die rechte Zeit" - zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu
+fassen!
+
+
+275.
+
+Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt um so schärfer
+nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist - und verräth sich
+selbst damit.
+
+
+276.
+
+Bei aller Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere
+Seele besser daran, als die vornehmere: die Gefahren der letzteren
+müssen grösser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt
+und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer
+Lebensbedingungen, ungeheuer. - Bei einer Eidechse wächst ein Finger
+nach, der ihr verloren gieng: nicht so beim Menschen. -
+
+
+277.
+
+- Schlimm genug! Wieder die alte Geschichte! Wenn man sich sein Haus
+fertig gebaut hat, merkt man, unversehens Etwas dabei gelernt zu
+haben, das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu
+bauen - anfieng. Das ewige leidige "Zu spät!" - Die Melancholie alles
+Fertigen!.....
+
+
+278.
+
+- Wanderer, wer bist du? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn,
+ohne Liebe, mit unerrathbaren Augen; feucht und traurig wie ein
+Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an's Licht gekommen
+- was suchte es da unten? -, mit einer Brust, die nicht seufzt, mit
+einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch
+langsam greift: wer bist du? was thatest du? Ruhe dich hier aus: diese
+Stelle ist gastfreundlich für Jedermann, - erhole dich! Und wer du
+auch sein magst: was gefällt dir jetzt? Was dient dir zur Erholung?
+Nenne es nur: was ich habe, biete ich dir an! - "Zur Erholung? Zur
+Erholung? Oh du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gieb mir, ich
+bitte - -" Was? Was? sprich es aus! - "Eine Maske mehr! Eine zweite
+Maske!".....
+
+
+279.
+
+Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich
+sind: sie haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es
+erdrücken und ersticken möchten, aus Eifersucht, - ach, sie wissen zu
+gut, dass es ihnen davonläuft!
+
+
+280.
+
+"Schlimm! Schlimm! Wie? geht er nicht - zurück?" - Ja! Aber ihr
+versteht ihn schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie
+jeder, der einen grossen Sprung thun will. - -
+
+
+281.
+
+- "Wird man es mir glauben? aber ich verlange, dass man mir es glaubt:
+ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, nur in ganz
+seltnen Fällen, nur gezwungen, immer ohne Lust `zur Sache`, bereit,
+von `Mir` abzuschweifen, immer ohne Glauben an das Ergebniss,
+Dank einem unbezwinglichen Misstrauen gegen die Möglichkeit der
+Selbst-Erkenntniss, das mich so weit geführt hat, selbst am Begriff
+`unmittelbare Erkenntniss`, welchen sich die Theoretiker erlauben,
+eine contradictio in adjecto zu empfinden: - diese ganze Thatsache
+ist beinahe das Sicherste, was ich über mich weiss. Es muss eine Art
+Widerwillen in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben.
+- Steckt darin vielleicht ein Räthsel? Wahrscheinlich; aber
+glücklicherweise keins für meine eigenen Zähne. - Vielleicht verräth
+es die species, zu der ich gehöre? - Aber nicht mir: wie es mir selbst
+erwünscht genug ist."
+
+
+282.
+
+"Aber was ist dir begegnet?" - "Ich weiss es nicht, sagte er zögernd;
+vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen." - Es kommt
+heute bisweilen vor, dass ein milder mässiger zurückhaltender Mensch
+plötzlich rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch umwirft,
+schreit, tobt, alle Welt beleidigt - und endlich bei Seite geht,
+beschämt, wüthend über sich, - wohin? wozu? Um abseits zu verhungern?
+Um an seiner Erinnerung zu ersticken? - Wer die Begierden einer hohen
+wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine
+Nahrung bereit findet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten gross sein:
+heute aber ist sie ausserordentlich. In ein lärmendes und pöbelhaftes
+Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen
+mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich
+dennoch "zugreift" - vor plötzlichem Ekel zu Grunde gehn. - Wir
+haben wahrscheinlich Alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht
+hingehörten; und gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten
+zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus
+einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsre Kost und
+Tischnachbarschaft entsteht, - den Nachtisch-Ekel.
+
+
+283.
+
+Es ist eine feine und zugleich vornehme Selbstbeherrschung, gesetzt,
+dass man überhaupt loben will, immer nur da zu loben, wo man nicht
+übereinstimmt: - im andern Falle würde man ja sich selbst loben, was
+wider den guten Geschmack geht - freilich eine Selbstbeherrschung, die
+einen artigen Anlass und Anstoss bietet, um beständig missverstanden
+zu werden. Man muss, um sich diesen wirklichen Luxus von Geschmack und
+Moralität gestatten zu dürfen, nicht unter Tölpeln des Geistes leben,
+vielmehr unter Menschen, bei denen Missverständnisse und Fehlgriffe
+noch durch ihre Feinheit belustigen, - oder man wird es theuer büssen
+müssen! - "Er lobt mich: also giebt er mir Recht" - diese Eselei von
+Schlussfolgerung verdirbt uns Einsiedlern das halbe Leben, denn es
+bringt die Esel in unsre Nachbarschaft und Freundschaft.
+
+
+284.
+
+Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits -.
+Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben,
+sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf
+Pferde, oft wie auf Esel: - man muss nämlich ihre Dummheit so gut
+wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe sich
+bewahren; auch die schwarze Brille: denn es giebt Fälle, wo uns
+Niemand in die Augen, noch weniger in unsre "Gründe" sehn darf. Und
+jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen,
+die Höflichkeit. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes,
+der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist
+bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit,
+welcher erräth, wie es bei Berührung von Mensch und Mensch -
+"in Gesellschaft" - unvermeidlich-unreinlich zugehn muss. Jede
+Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann - "gemein".
+
+
+285.
+
+Die grössten Ereignisse und Gedanken - aber die grössten Gedanken
+sind die grössten Ereignisse - werden am spätesten begriffen: die
+Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, erleben solche
+Ereignisse nicht, - sie leben daran vorbei. Es geschieht da Etwas, wie
+im Reich der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt am spätesten
+zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, leugnet der
+Mensch, dass es dort - Sterne giebt. "Wie viel Jahrhunderte braucht
+ein Geist, um begriffen zu werden?" - das ist auch ein Maassstab,
+damit schafft man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth
+thut: für Geist und Stern. -
+
+
+286.
+
+"Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben". - Es giebt aber eine
+umgekehrte Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die
+Aussicht frei hat - aber hinab blickt.
+
+
+287.
+
+- Was ist vornehm? Was bedeutet uns heute noch das Wort "vornehm"?
+Woran verräth sich, woran erkennt man, unter diesem schweren
+verhängten Himmel der beginnenden Pöbelherrschaft, durch den Alles
+undurchsichtig und bleiern wird, den vornehmen Menschen? - Es sind
+nicht die Handlungen, die ihn beweisen, - Handlungen sind immer
+vieldeutig, immer unergründlich -; es sind auch die "Werke" nicht. Man
+findet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von Solchen, welche
+durch ihre Werke verrathen, wie eine tiefe Begierde nach dem Vornehmen
+hin sie treibt: aber gerade dies Bedürfniss nach dem Vornehmen ist von
+Grund aus verschieden von den Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst,
+und geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels. Es
+sind nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der
+hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in
+einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen: irgend eine
+Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat,
+Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht
+verlieren lässt.- Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich.-
+
+
+288.
+
+Es giebt Menschen, welche auf eine unvermeidliche Weise Geist haben,
+sie mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen, und die Hände vor
+die verrätherischen Augen halten (- als ob die Hand kein Verräther
+wäre! -): schliesslich kommt es immer heraus, dass sie Etwas haben,
+das sie verbergen, nämlich Geist. Eins der feinsten Mittel, um
+wenigstens so lange als möglich zu täuschen und sich mit Erfolg dümmer
+zu stellen als man ist - was im gemeinen Leben oft so wünschenswerth
+ist wie ein Regenschirm -, heisst Begeisterung: hinzugerechnet, was
+hinzu gehört, zum Beispiel Tugend. Denn, wie Galiani sagt, der es
+wissen musste -: vertu est enthousiasme.
+
+
+289.
+
+Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem
+Wiederhall der Öde, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen
+Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten Worten, aus
+seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art
+des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags
+und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und
+Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle - sie kann
+ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein - zum Höhlenbär oder
+Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde: dessen Begriffe
+selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch
+ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und
+Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler
+glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph - gesetzt, dass ein
+Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war - seine eigentlichen und
+letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht
+gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? - ja er
+wird zweifeln, ob ein Philosoph "letzte und eigentliche" Meinungen
+überhaupt haben könne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine
+tiefere Höhle liege, liegen müsse - eine umfänglichere fremdere
+reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem
+Grunde, unter jeder "Begründung". Jede Philosophie ist eine
+Vordergrunds-Philosophie - das ist ein Einsiedler-Urtheil: "es ist
+etwas Willkürliches daran, dass er hier stehen blieb, zurückblickte,
+sich umblickte, dass er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten
+weglegte, - es ist auch etwas Misstrauisches daran." Jede Philosophie
+verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck,
+jedes Wort auch eine Maske.
+
+
+290.
+
+Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden, als das
+Missverstanden-werden. Am Letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit;
+am Ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht:
+"ach, warum wollt ihres auch so schwer haben, wie ich?"
+
+
+291.
+
+Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und
+undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft als
+durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um
+seine Seele einmal als einfach zu geniessen; und die ganze Moral ist
+eine beherzte lange Fälschung, vermöge deren überhaupt ein Genuss im
+Anblick der Seele möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkte gehört
+vielleicht viel Mehr in den Begriff "Kunst" hinein, als man gemeinhin
+glaubt.
+
+
+292.
+
+Ein Philosoph: das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche
+Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen
+eignen Gedanken wie von Aussen her, wie von Oben und Unten her, als
+von seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird; der
+selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen
+schwanger geht; ein verhängnissvoller Mensch, um den herum es immer
+grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht. Ein Philosoph:
+ach, ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat,
+- aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder zu sich zu kommen......
+
+
+293.
+
+Ein Mann, der sagt: "das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will
+es schützen und gegen Jedermann vertheidigen"; ein Mann, der eine
+Sache führen, einen Entschluss durchführen, einem Gedanken Treue
+wahren, ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen
+kann; ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die
+Schwachen, Leidenden, Bedrängten, auch die Thiere gern zufallen und
+von Natur zugehören, kurz ein Mann, der von Natur Herr ist, - wenn ein
+solcher Mann Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat Werth! Aber was
+liegt am Mitleiden Derer, welche leiden! Oder Derer, welche gar
+Mitleiden predigen! Es giebt heute fast überall in Europa eine
+krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen
+eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage, eine Verzärtlichung,
+welche sich mit Religion und philosophischem Krimskrams zu etwas
+Höherem aufputzen möchte, - es giebt einen förmlichen Cultus des
+Leidens. Die Unmännlichkeit dessen, was in solchen Schwärmerkreisen
+"Mitleid" getauft wird, springt, wie ich meine, immer zuerst in die
+Augen. - Man muss diese neueste Art des schlechten Geschmacks kräftig
+und gründlich in den Bann thun; und ich wünsche endlich, dass man
+das gute Amulet "gai saber" sich dagegen um Herz und Hals lege, -
+"fröhliche Wissenschaft", um es den Deutschen zu verdeutlichen.
+
+
+294.
+
+Das olympische Laster. - Jenem Philosophen zum Trotz, der als ächter
+Engländer dem Lachen bei allen denkenden Köpfen eine üble Nachrede zu
+schaffen suchte - "das Lachen ist ein arges Gebreste der menschlichen
+Natur, welches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird"
+(Hobbes) -, würde ich mir sogar eine Rangordnung der Philosophen
+erlauben, je nach dem Range ihres Lachens - bis hinauf zu denen, die
+des goldnen Gelächters fähig sind. Und gesetzt, dass auch Götter
+philosophiren, wozu mich mancher Schluss schon gedrängt hat -, so
+zweifle ich nicht, dass sie dabei auch auf eine übermenschliche und
+neue Weise zu lachen wissen - und auf Unkosten aller ernsten Dinge!
+Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen
+Handlungen das Lachen nicht lassen.
+
+
+295.
+
+Das Genie des Herzens, wie es jener grosse Verborgene hat, der
+Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, dessen Stimme
+bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss, welcher nicht
+ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht
+und Falte der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, dass er
+zu scheinen versteht - und nicht Das, was er ist, sondern was Denen,
+die ihm folgen, ein Zwang mehr ist, um sich immer näher an ihn zu
+drängen, um ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen: - das
+Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen
+macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein
+neues Verlangen zu kosten giebt, - still zu liegen wie ein Spiegel,
+dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele -; das Genie des
+Herzens, das die tölpische und überrasche Hand zögern und zierlicher
+greifen lehrt; das den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen
+Güte und süsser Geistigkeit unter trübem dickem Eise erräth und eine
+Wünschelruthe für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker
+vielen Schlamms und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens,
+von dessen Berührung jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und
+überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt, sondern
+reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem
+Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher
+zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die noch keinen
+Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und
+Zurückströmens...... aber was thue ich, meine Freunde? Von wem rede
+ich zu euch? Vergass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal
+seinen Namen nannte? es sei denn, dass ihr nicht schon von selbst
+erriethet, wer dieser fragwürdige Geist und Gott ist, der in solcher
+Weise gelobt sein will. Wie es nämlich einem jeden ergeht, der von
+Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so sind auch
+mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg
+gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben sprach, und dieser
+immer wieder, kein Geringerer nämlich, als der Gott Dionysos, jener
+grosse Zweideutige und Versucher Gott, dem ich einstmals, wie ihr
+wisst, in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht
+habe - als der Letzte, wie mir scheint, der ihm ein Opfer dargebracht
+hat: denn ich fand Keinen, der es verstanden hätte, was ich damals
+that. Inzwischen lernte ich Vieles, Allzuvieles über die Philosophie
+dieses Gottes hinzu, und, wie gesagt, von Mund zu Mund, - ich, der
+letzte jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos: und ich dürfte wohl
+endlich einmal damit anfangen, euch, meinen Freunden, ein Wenig, so
+weit es mir erlaubt ist, von dieser Philosophie zu kosten zu geben?
+Mit halber Stimme, wie billig: denn es handelt sich dabei um
+mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes, Wunderliches, Unheimliches.
+Schon dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter
+philosophiren, scheint mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich
+ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen
+möchte, - unter euch, meine Freunde, hat sie schon weniger gegen sich,
+es sei denn, dass sie zu spät und nicht zur rechten Stunde kommt:
+denn ihr glaubt heute ungern, wie man mir verrathen hat, an Gott
+und Götter. Vielleicht auch, dass ich in der Freimüthigkeit meiner
+Erzählung weiter gehn muss, als den strengen Gewohnheiten eurer Ohren
+immer liebsam ist? Gewisslich gieng der genannte Gott bei dergleichen
+Zwiegesprächen weiter, sehr viel weiter, und war immer um viele
+Schritt mir voraus.... ja ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach
+Menschenbrauch schöne feierliche Prunk- und Tugendnamen beizulegen,
+viel Rühmens von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner
+gewagten Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen
+haben. Aber mit all diesem ehrwürdigen Plunder und Prunk weiss ein
+solcher Gott nichts anzufangen. "Behalte dies, würde er sagen, für
+dich und deines Gleichen und wer sonst es nöthig hat! Ich - habe
+keinen Grund, meine Blösse zu decken!" - Man erräth: es fehlt dieser
+Art von Gottheit und Philosophen vielleicht an Scham? - So sagte er
+einmal: "unter Umständen liebe ich den Menschen - und dabei spielte er
+auf Ariadne an, die zugegen war -: der Mensch ist mir ein angenehmes
+tapferes erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen
+hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm
+gut: ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und
+ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist." - "Stärker, böser
+und tiefer?" fragte ich erschreckt. "Ja, sagte er noch Ein Mal,
+stärker, böser und tiefer; auch schöner" - und dazu lächelte der
+Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln, wie als ob er eben
+eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich: es
+fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham -; und es giebt überhaupt
+gute Gründe dafür, zu muthmaassen, dass in einigen Stücken die Götter
+insgesammt bei uns Menschen in die Schule gehn könnten. Wir Menschen
+sind - menschlicher...
+
+
+296.
+
+Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken!
+Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft,
+voller Stacheln und geheimer Würzen, dass ihr mich niesen und lachen
+machtet - und jetzt? Schon habt ihr eure Neuheit ausgezogen, und
+einige von euch sind, ich fürchte es, bereit, zu Wahrheiten zu werden:
+so unsterblich sehn sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen,
+so langweilig! Und war es jemals anders? Welche Sachen schreiben
+und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chnesischem Pinsel, wir
+Verewiger der Dinge, welche sich schreiben lassen, was vermögen wir
+denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das, was eben welk werden
+will und anfängt, sich zu verriechen! Ach, immer nur abziehende und
+erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle! Ach, immer nur Vögel,
+die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen
+lassen, - mit unserer Hand! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben
+und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! Und nur euer Nachmittag
+ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein
+ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und
+fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths: - aber Niemand erräth
+mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken
+und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten - - schlimmen
+Gedanken!
+
+
+
+Aus hohen Bergen.
+
+Nachgesang.
+
+ Oh Lebens Mittag! Feierliche Zeit!
+ Oh Sommergarten!
+ Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten: -
+ Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit,
+ Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!
+
+ War's nicht für euch, dass sich des Gletschers Grau
+ Heut schmückt mit Rosen?
+ Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stossen
+ Sich Wind und Wolke höher heut in's Blau,
+ Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-Schau.
+
+ Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt -
+ Wer wohnt den Sternen
+ So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen?
+ Mein Reich - welch Reich hat weiter sich gereckt?
+ Und meinen Honig - wer hat ihn geschmeckt?....
+
+ - Da _seid_ ihr, Freunde! - Weh, doch _ich_ bin's nicht,
+ Zu dem ihr wolltet?
+ Ihr zögert, staunt - ach, dass ihr lieber grolltet!
+ Ich - bin's nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht?
+ Und was ich bin, euch Freunden - bin ich's nicht?
+
+ Ein Andrer ward ich? Und mir selber fremd?
+ Mir selbst entsprungen?
+ Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen?
+ Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,
+ Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?
+
+ Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?
+ Ich lernte wohnen,
+ Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
+ Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?
+ Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?
+
+ - Ihr alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich,
+ Voll Lieb' und Grausen!
+ Nein, geht! Zürnt nicht! Hier - könntet _ihr_ nicht hausen:
+ Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich -
+ Hier muss man Jäger sein und gemsengleich.
+
+ Ein _schlimmer_ Jäger ward ich! - Seht, wie steil
+ Gespannt mein Bogen!
+ Der Stärkste war's, der solchen Zug gezogen--:
+ Doch wehe nun! Gefährlich ist _der_ Pfeil,
+ Wie _kein_ Pfeil, - fort von hier! Zu eurem Heil!.....
+
+ Ihr wendet euch? - Oh Herz, du trugst genung,
+ Stark blieb dein Hoffen:
+ Halt _neuen_ Freunden deine Thüren offen!
+ Die alten lass! Lass die Erinnerung!
+ Warst einst du jung, jetzt - bist du besser jung!
+
+ Was je uns knüpfte, Einer Hoffnung Band, -
+ Wer liest die Zeichen,
+ Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen?
+ Dem Pergament vergleich ich's, das die Hand
+ zu fassen _scheut_, - ihm gleich verbräunt, verbrannt.
+
+ Nicht Freunde mehr, das sind - wie nenn' ich's doch? -
+ Nur Freunds-Gespenster!
+ Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster,
+ Das sieht mich an und spricht: "wir _waren's_ doch?"--
+ Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch!
+
+ Oh Jugend-Sehnen, das sich missverstand!
+ Die _ich_ ersehnte,
+ Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte,
+ Dass _alt_ sie wurden, hat sie weggebannt:
+ Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.
+
+ Oh Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!
+ Oh Sommergarten!
+ Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
+ Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit,
+ Der _neuen_ Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!
+
+ _Dies_ Lied ist aus, - der Sehnsucht süsser Schrei
+ Erstarb im Munde:
+ Ein Zaubrer that's, der Freund zur rechten Stunde,
+ Der Mittags-Freund - nein! fragt nicht, wer es sei -
+ Um Mittag war's, da wurde Eins zu Zwei...
+
+ Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss,
+ Das Fest der Feste:
+ Freund _Zarathustra_ kam, der Gast der Gäste!
+ Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss,
+ Die Hochzeit kam für Licht und Finsterniss...
+
+
+
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+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, JENSEITS VON GUT UND BOSE ***
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+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
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+The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at
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