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You can also find out about how to make a +donation to Project Gutenberg, and how to get involved. + + +**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts** + +**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971** + +*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!***** + + +Title: Jenseits von Gut und Bose + +Author: Friedrick Wilhelm Nietzsche + +Release Date: January, 2005 [EBook #7204] +[This file was first posted on March 26, 2003] + +Edition: 10 + +Language: German + +Character set encoding: ISO Latin-1 + +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, JENSEITS VON GUT UND BOSE *** + + + + +This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg - +DE" (http://www.gutenberg2000.de/nietzsche/jenseits/0htmldir.htm), +prepared by juergen@redestb.es. + + + + +Friedrich Nietzsche + +Jenseits von Gut und Böse + + + + +Inhalt + + Vorrede + 1. Hauptstück: Von den Vorurtheilen der Philosophen. + 2. Hauptstück: Der freie Geist. + 3. Hauptstück: Das religiöse Wesen. + 4. Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele. + 5. Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral. + 6. Hauptstück: Wir Gelehrten. + 7. Hauptstück: Unsere Tugenden. + 8. Hauptstück: Völker und Vaterländer. + 9. Hauptstück: Was ist vornehm? + Aus hohen Bergen. Nachgesang. + + + + +Jenseits von Gut und Böse + +Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. + + + + +Vorrede. + +Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist -, wie? ist der Verdacht +nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, +sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst, +die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit +zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um +gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie +sich nicht hat einnehmen lassen: - und jede Art Dogmatik steht heute +mit betrübter und muthloser Haltung da. Wenn sie überhaupt noch steht! +Denn es giebt Spötter, welche behaupten, sie sei gefallen, alle +Dogmatik liege zu Boden, mehr noch, alle Dogmatik liege in den letzten +Zügen. Ernstlich geredet, es giebt gute Gründe zu der Hoffnung, dass +alles Dogmatisiren in der Philosophie, so feierlich, so end- und +letztgültig es sich auch gebärdet hat, doch nur eine edle Kinderei +und Anfängerei gewesen sein möge; und die Zeit ist vielleicht sehr +nahe, wo man wieder und wieder begreifen wird, was eigentlich +schon ausgereicht hat, um den Grundstein zu solchen erhabenen und +unbedingten Philosophen-Bauwerken abzugeben, welche die Dogmatiker +bisher aufbauten, - irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher +Zeit (wie der Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube +auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften), irgend ein +Wortspiel vielleicht, eine Verführung von Seiten der Grammatik +her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr +persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen. Die +Philosophie der Dogmatiker war hoffentlich nur ein Versprechen über +Jahrtausende hinweg: wie es in noch früherer Zeit die Astrologie war, +für deren Dienst vielleicht mehr Arbeit, Geld, Scharfsinn, Geduld +aufgewendet worden ist, als bisher für irgend eine wirkliche +Wissenschaft: - man verdankt ihr und ihren "überirdischen" Ansprüchen +in Asien und Agypten den grossen Stil der Baukunst. Es scheint, dass +alle grossen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in +das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflössende +Fratzen über die Erde hinwandeln müssen: eine solche Fratze war die +dogmatische Philosophie, zum Beispiel die Vedanta-Lehre in Asien, der +Platonismus in Europa. Seien wir nicht undankbar gegen sie, so gewiss +es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, langwierigste +und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum +gewesen ist, nämlich Plato's Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten +an sich. Aber nunmehr, wo er überwunden ist, wo Europa von diesem +Alpdrucke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen - Schlafs +geniessen darf, sind wir, deren Aufgabe das Wachsein selbst ist, +die Erben von all der Kraft, welche der Kampf gegen diesen Irrthum +grossgezüchtet hat. Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf +stellen und das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens, +selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato +gethan hat; ja man darf, als Arzt, fragen: "woher eine solche +Krankheit am schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch +der böse Sokrates verdorben? wäre Sokrates doch der Verderber der +Jugend gewesen? und hätte seinen Schlierling verdient?" - Aber der +Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für's "Volk" +zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von +Jahrtausenden - denn Christenthum ist Platonismus für's "Volk" - hat +in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie +auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man +nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europäische +Mensch empfindet diese Spannung als Nothstand; und es ist schon zwei +Mal im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal +durch den Jesuitismus, zum zweiten Mal durch die demokratische +Aufklärung: - als welche mit Hülfe der Pressfreiheit und des +Zeitunglesens es in der That erreichen dürfte, dass der Geist sich +selbst nicht mehr so leicht als "Noth" empfindet! (Die Deutschen haben +das Pulver erfunden - alle Achtung! aber sie haben es wieder quitt +gemacht - sie erfanden die Presse.) Aber wir, die wir weder Jesuiten, +noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir guten Europäer +und freien, sehr freien Geister - wir haben sie noch, die ganze Noth +des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch +den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel..... + +Sils-Maria, + +Oberengadin im Juni 1885. + + + + +Erstes Hauptstück: + +Von den Vorurtheilen der Philosophen. + +1. + +Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen +wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher +mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille +zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen schlimmen +fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte, - und +doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat? Was Wunder, wenn +wir endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns +ungeduldig umdrehn? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das +Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? +Was in uns will eigentlich "zur Wahrheit"? - In der that, wir machten +langen Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, - bis +wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen +blieben. Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir +wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? +Selbst Unwissenheit? - Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor +uns hin, - oder waren wir's, die vor das Problem hin traten? Wer von +uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es +scheint, von Fragen und Fragezeichen. - Und sollte man's glauben, dass +es uns schliesslich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher +gestellt, - als sei es von uns zum ersten Male gesehn, in's Auge +gefasst, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei, und vielleicht giebt es +kein grösseres. + + +2. + +"Wie könnte Etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die +Wahrheit aus dem Irrthume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen +zur Täuschung? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze? Oder +das reine sonnenhafte Schauen des Weisen aus der Begehrlichkeit? +Solcherlei Entstehung ist unmöglich; wer davon träumt, ein Narr, ja +Schlimmeres; die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, eigenen +Ursprung haben, - aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden +geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie +unableitbar! Vielmehr im Schoosse des Sein's, im Unvergänglichen, +im verborgenen Gotte, im `Ding an sich` - da muss ihr Grund liegen, +und sonst nirgendswo!" - Diese Art zu urtheilen macht das typische +Vorurtheil aus, an dem sich die Metaphysiker aller Zeiten wieder +erkennen lassen; diese Art von Werthschätzungen steht im Hintergrunde +aller ihrer logischen Prozeduren; aus diesem ihrem "Glauben" heraus +bemühn sie sich um ihr "Wissen", um Etwas, das feierlich am Ende als +"die Wahrheit" getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist der +Glaube an die Gegensätze der Werthe. Es ist auch den Vorsichtigsten +unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu +zweifeln, wo es doch am nöthigsten war: selbst wenn sie sich gelobt +hatten "de omnibus dubitandum". Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob +es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen +Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr +Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen +sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem +Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven +gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist? +Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen +zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur +Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer +und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar +noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge +ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar +entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, +verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht! - Aber wer +ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern! Man +muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen +abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack +und Hang haben als die bisherigen, - Philosophen des gefährlichen +Vielleicht in jedem Verstande. - Und allen Ernstes gesprochen: ich +sehe solche neue Philosophen heraufkommen. + + +3. + +Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf +die Finger gesehn habe, sage ich mir: man muss noch den grössten Theil +des bewussten Denkens unter die Instinkt-Thätigkeiten rechnen, und +sogar im Falle des philosophischen Denkens; man muss hier umlernen, +wie man in Betreff der Vererbung und des "Angeborenen" umgelernt hat. +So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vor- und Fortgange der +Vererbung in Betracht kommt: ebenso wenig ist "Bewusstsein" in irgend +einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt, - das +meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte +heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller +Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen +Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen +zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. Zum Beispiel, dass das +Bestimmte mehr werth sei als das Unbestimmte, der Schein weniger werth +als die "Wahrheit": dergleichen Schätzungen könnten, bei aller ihrer +regulativen Wichtigkeit für uns, doch nur Vordergrunds-Schätzungen +sein, eine bestimmte Art von niaiserie, wie sie gerade zur Erhaltung +von Wesen, wie wir sind, noth thun mag. Gesetzt nämlich, dass nicht +gerade der Mensch das "Maass der Dinge" ist..... + + +4. + +Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein +Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die +Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Arterhaltend, +vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu +behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen +Urtheile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass +ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen +der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, +Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch +die Zahl der Mensch nicht leben könnte, - dass Verzichtleisten auf +falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des +Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst +freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen +Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich +damit allein schon jenseits von Gut und Böse. + + +5. + +Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb spöttisch +zu blicken, ist nicht, dass man wieder und wieder dahinter kommt, wie +unschuldig sie sind - wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und +verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit - sondern dass es bei +ihnen nicht redlich genug zugeht: während sie allesammt einen grossen +und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit +auch nur von ferne angerührt wird. Sie stellen sich sämmtlich, als +ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer +kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik entdeckt und erreicht +hätten (zum Unterschiede von den Mystikern jeden Rangs, die ehrlicher +als sie und tölpelhafter sind - diese reden von "Inspiration" -): +während im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine +"Eingebung", zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter +Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt +wird: - sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen, +und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurtheile, +die sie "Wahrheiten" taufen - und sehr ferne von der Tapferkeit des +Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem +guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt, +sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Übermuth und +um ihrer selbst zu spotten. Die ebenso steife als sittsame Tartüfferie +des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege +lockt, welche zu seinem "kategorischen Imperativ" führen, richtiger +verführen - dies Schauspiel macht uns Verwöhnte lächeln, die wir keine +kleine Belustigung darin finden, den feinen Tücken alter Moralisten +und Moralprediger auf die Finger zu sehn. Oder gar jener Hocuspocus +von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie - "die +Liebe zu seiner Weisheit" zuletzt, das Wort richtig und billig +ausgelegt - wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von +vornherein den Muth des Angreifenden einzuschüchtern, der auf diese +unüberwindliche Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen +würde: - wie viel eigne Schüchternheit und Angreifbarkeit verräth +diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken! + + +6. + +Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie +bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine +Art ungewollter und unvermerkter mémoires; insgleichen, dass die +moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den +eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze +gewachsen ist. In der That, man thut gut (und klug), zur Erklärung +davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen +eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: +auf welche Moral will es (will er -) hinaus? Ich glaube demgemäss +nicht, dass ein "Trieb zur Erkenntniss" der Vater der Philosophie ist, +sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss +(und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber +die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade +hier als inspirirende Genien (oder Dämonen und Kobolde -) ihr Spiel +getrieben haben mögen, wird finden, dass sie Alle schon einmal +Philosophie getrieben haben, - und dass jeder Einzelne von ihnen +gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als +berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn +jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu +philosophiren. - Freilich: bei den Gelehrten, den eigentlich +wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn - "besser", wenn man +will -, da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben, +irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, +tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten übrigen Triebe +des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen +"Interessen" des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders, +etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist +beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene +Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der "hoffnungsvolle" +junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner +oder Chemiker macht: - es bezeichnet ihn nicht, dass er dies oder +jenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts +Unpersönliches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes +und entscheidendes Zeugniss dafür ab, wer er ist - das heisst, in +welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander +gestellt sind. + + +7. + +Wie boshaft Philosophen sein können! Ich kenne nichts Giftigeres als +den Scherz, den sich Epicur gegen Plato und die Platoniker erlaubte: +er nannte sie Dionysiokolakes. Das bedeutet dem Wortlaute nach und im +Vordergrunde "Schmeichler des Dionysios", also Tyrannen-Zubehör und +Speichellecker; zu alledem will es aber noch sagen "das sind Alles +Schauspieler, daran ist nichts Ächtes" (denn Dionysokolax war eine +populäre Bezeichnung des Schauspielers). Und das Letztere ist +eigentlich die Bosheit, welche Epicur gegen Plato abschoss: ihn +verdross die grossartige Manier, das Sich-in-Scene-Setzen, worauf +sich Plato sammt seinen Schülern verstand, - worauf sich Epicur nicht +verstand! er, der alte Schulmeister von Samos, der in seinem Gärtchen +zu Athen versteckt sass und dreihundert Bücher schrieb, wer weiss? +vielleicht aus Wuth und Ehrgeiz gegen Plato? - Es brauchte hundert +Jahre, bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur +gewesen war. - Kam es dahinter? - + + +8. + +In jeder Philosophie giebt es einen Punkt, wo die "Überzeugung" des +Philosophen auf die Bühne tritt: oder, um es in der Sprache eines +alten Mysteriums zu sagen: + + adventavit asinus + pulcher et fortissimus. + + +9. + +"Gemäss der Natur" wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche +Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, +verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten +und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde +und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht +- wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz leben? Leben - ist +das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist +Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, +Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ "gemäss der Natur +leben" bedeute im Grunde soviel als "gemäss dem Leben leben" - wie +könntet ihr's denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr +selbst seid und sein müsst? - In Wahrheit steht es ganz anders: indem +ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, +wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und +Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure +Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, +dass sie "der Stoa gemäss" Natur sei und möchtet alles Dasein nur +nach eurem eignen Bilde dasein machen - als eine ungeheure ewige +Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus! Mit aller eurer +Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so +hypnotisch-starr, die Natur falsch, nämlich stoisch zu sehn, bis ihr +sie nicht mehr anders zu sehen vermögt, - und irgend ein abgründlicher +Hochmuth giebt euch zuletzt noch die Tollhäusler-Hoffnung ein, dass, +weil ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht - Stoicismus ist +Selbst-Tyrannei -, auch die Natur sich tyrannisiren lässt: ist denn +der Stoiker nicht ein Stück Natur? Aber dies ist eine alte ewige +Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute +noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben. +Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; +Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille +zur Macht, zur "Schaffung der Welt", zur causa prima. + + +10. + +Der Eifer und die Feinheit, ich möchte sogar sagen: Schlauheit, mit +denen man heute überall in Europa dem Probleme "von der wirklichen +und der scheinbaren Welt" auf den Leib rückt, giebt zu denken und zu +horchen; und wer hier im Hintergrunde nur einen "Willen zur Wahrheit" +und nichts weiter hört, erfreut sich gewiss nicht der schärfsten +Ohren. In einzelnen und seltenen Fällen mag wirklich ein solcher Wille +zur Wahrheit, irgend ein ausschweifender und abenteuernder Muth, ein +Metaphysiker-Ehrgeiz des verlornen Postens dabei betheiligt sein, der +zuletzt eine Handvoll "Gewissheit" immer noch einem ganzen Wagen voll +schöner Möglichkeiten vorzieht; es mag sogar puritanische Fanatiker +des Gewissens geben, welche lieber noch sich auf ein sicheres Nichts +als auf ein ungewisses Etwas sterben legen. Aber dies ist Nihilismus +und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele: wie tapfer +auch die Gebärden einer solchen Tugend sich ausnehmen mögen. Bei den +stärkeren, lebensvolleren, nach Leben noch durstigen Denkern scheint +es aber anders zu stehen: indem sie Partei gegen den Schein nehmen und +das Wort "perspektivisch" bereits mit Hochmuth aussprechen, indem sie +die Glaubwürdigkeit ihres eigenen Leibes ungefähr so gering anschlagen +wie die Glaubwürdigkeit des Augenscheins, welcher sagt "die Erde steht +still", und dermaassen anscheinend gut gelaunt den sichersten Besitz +aus den Händen lassen (denn was glaubt man jetzt sicherer als seinen +Leib?) wer weiss, ob sie nicht im Grunde Etwas zurückerobern wollen, +das man ehemals noch sicherer besessen hat, irgend Etwas vom alten +Grundbesitz des Glaubens von Ehedem, vielleicht "die unsterbliche +Seele", vielleicht "den alten Gott", kurz, Ideen, auf welchen sich +besser, nämlich kräftiger und heiterer leben liess als auf den +"modernen Ideen"? Es ist Misstrauen gegen diese modernen Ideen darin, +es ist Unglauben an alles Das, was gestern und heute gebaut worden +ist; es ist vielleicht ein leichter Überdruss und Hohn eingemischt, +der das bric-à-brac von Begriffen verschiedenster Abkunft nicht +mehr aushält, als welches sich heute der sogenannte Positivismus +auf den Markt bringt, ein Ekel des verwöhnteren Geschmacks +vor der Jahrmarkts-Buntheit und Lappenhaftigkeit aller dieser +Wirklichkeits-Philosophaster, an denen nichts neu und ächt ist als +diese Buntheit. Man soll darin, wie mich dünkt, diesen skeptischen +Anti-Wirklichen und Erkenntniss-Mikroskopikern von heute Recht geben: +ihr Instinkt, welcher sie aus der modernen Wirklichkeit hinwegtreibt, +ist unwiderlegt, - was gehen uns ihre rückläufigen Schleichwege an! +Das Wesentliche an ihnen ist nicht, dass sie "zurück" wollen: sondern, +dass sie - weg wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft mehr +und sie würden hinaus wollen, - und nicht zurück! - + + +11. + +Es scheint mir, dass man jetzt überall bemüht ist, von dem +eigentlichen Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie ausgeübt +hat, den Blick abzulenken und namentlich über den Werth, den er sich +selbst zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und +zuerst stolz auf seine Kategorientafel, er sagte mit dieser Tafel +in den Händen: "das ist das Schwerste, was jemals zum Behufe der +Metaphysik unternommen werden konnte". - Man verstehe doch dies +"werden konnte"! er war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen, +das Vermögen zu synthetischen Urteilen a priori, entdeckt zu haben. +Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die Entwicklung und +rasche Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze und an +dem Wetteifer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres zu entdecken - +und jedenfalls "neue Vermögen"! - Aber besinnen wir uns: es ist an der +Zeit. Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? fragte sich +Kant, - und was antwortete er eigentlich? Vermöge eines Vermögens: +leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig +und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne, +dass man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche in einer +solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über dieses neue +Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant auch noch ein +moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte: - denn damals +waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht +"real-politisch". - Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie; +alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen alsbald in die +Büsche, - alle suchten nach "Vermögen". Und was fand man nicht Alles - +in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen +Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies, +hineinsang, damals, als man "finden" und "erfinden" noch nicht +auseinander zu halten wusste! Vor Allem ein Vermögen für's +"übersinnliche": Schelling taufte es die intellektuale Anschauung und +kam damit den herzlichsten Gelüsten seiner im Grunde frommgelüsteten +Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen übermüthigen und +schwärmerischen Bewegung, welche Jugend war, so kühn sie sich auch in +graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht +thun, als wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer +Entrüstung behandelt; genug, man wurde älter, - der Traum verflog. Es +kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb: man reibt sie sich heute +noch. Man hatte geträumt: voran und zuerst - der alte Kant. "Vermöge +eines Vermögens" - hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn +das - eine Antwort? Eine Erklärung? Oder nicht vielmehr nur eine +Wiederholung der Frage? Wie macht doch das Opium schlafen? "Vermöge +eines Vermögens", nämlich der virtus dormitiva - antwortet jener Arzt +bei Molière, + + quia est in eo virtus dormitiva, + cujus est natura sensus assoupire. + +Aber dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es ist endlich +an der Zeit, die Kantische Frage "Wie sind synthetische Urtheile a +priori möglich?" durch eine andre Frage zu ersetzen "warum ist der +Glaube an solche Urtheile nöthig?" - nämlich zu begreifen, dass zum +Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr +geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile +sein könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich: +synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht "möglich sein": wir +haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche +Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig, als +ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik +des Lebens gehört. - Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu +gedenken, welche "die deutsche Philosophie" - man versteht, wie ich +hoffe, ihr Anrecht auf Gänsefüsschen? - in ganz Europa ausgeübt +hat, so zweifle man nicht, dass eine gewisse virtus dormitiva +dabei betheiligt war: man war entzückt, unter edlen Müssiggängern, +Tugendhaften, Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und +politischen Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen +Philosophie, ein Gegengift gegen den noch übermächtigen Sensualismus +zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses hinüberströmte, kurz +-"sensus assoupire"....... + + +12. + +Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu +den bestwiderlegten Dingen, die es giebt; und vielleicht ist heute in +Europa Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum +bequemen Hand- und Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der +Ausdrucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen - Dank +vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, +bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. +Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle +Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an +das Letzte, was von der Erde "feststand", abschwören, dem Glauben an +den "Stoff", an die "Materie", an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom: +es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden +errungen worden ist. - Man muss aber noch weiter gehn und auch dem +"atomistischen Bedürfnisse", das immer noch ein gefährliches Nachleben +führt, auf Gebieten, wo es Niemand ahnt, gleich jenem berühmteren +"metaphysischen Bedürfnisse" - den Krieg erklären, einen +schonungslosen Krieg auf's Messer: - man muss zunächst auch jener +anderen und verhängnissvolleren Atomistik den Garaus machen, +welche das Christenthum am besten und längsten gelehrt hat, der +Seelen-Atomistik. Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen Glauben +zu bezeichnen, der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, +Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt: diesen Glauben +soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen! Es ist, unter uns +gesagt, ganz und gar nicht nöthig, "die Seele" selbst dabei los zu +werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht +zu leisten: wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, +welche, kaum dass sie an "die Seele" rühren, sie auch verlieren. Aber +der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese +steht offen: und Begriffe wie "sterbliche Seele" und "Seele als +Subjekts-Vielheit" und "Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und +Affekte" wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben. Indem +der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der bisher um +die Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen Üppigkeit wucherte, +hat er sich freilich selbst gleichsam in eine neue Öde und ein +neues Misstrauen hinaus gestossen - es mag sein, dass die älteren +Psychologen es bequemer und lustiger hatten -: zuletzt aber weiss +er sich eben damit auch zum Erfinden verurtheilt - und, wer weiss? +vielleicht zum Finden. - + + +13. + +Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als +kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will +etwas Lebendiges seine Kraft auslassen - Leben selbst ist Wille +zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten +und häufigsten Folgen davon. - Kurz, hier wie überall, Vorsicht +vor überflüssigen teleologischen Principien! - wie ein solches +der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz +Spinoza's -). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich +Principien-Sparsamkeit sein muss. + + +14. + +Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch +nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub +gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf +den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange +hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und +Finger für sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit +für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack +bezaubernd, überredend, überzeugend, - es folgt ja instinktiv dem +Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus. Was ist klar, +was "erklärt"? Erst Das, was sich sehen und tasten lässt, - bis so +weit muss man jedes Problem treiben. Umgekehrt: genau im Widerstreben +gegen die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen +Denkweise, welche eine vornehme Denkweise war, - vielleicht unter +Menschen, die sich sogar stärkerer und anspruchsvollerer Sinne +erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen höheren +Triumph darin zu finden wussten, über diese Sinne Herr zu bleiben: und +dies mittels blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie über den +bunten Sinnen-Wirbel - den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte - warfen. +Es war eine andre Art Genuss in dieser Welt-Überwältigung und +Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen +uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und +Antitheologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip +der "kleinstmöglichen Kraft" und der grösstmöglichen Dummheit. "Wo der +Mensch nichts mehr zu sehen und zu greifen hat, da hat er auch nichts +mehr zu suchen" - das ist freilich ein anderer Imperativ als der +Platonische, welcher aber doch für ein derbes arbeitsames Geschlecht +von Maschinisten und Brückenbauern der Zukunft, die lauter grobe +Arbeit abzuthun haben, gerade der rechte Imperativ sein mag. + + +15. + +Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man darauf +halten, dass die Sinnesorgane nicht Erscheinungen sind im Sinne der +idealistischen Philosophie: als solche könnten sie ja keine Ursachen +sein! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht +zu sagen als heuristisches Princip. - Wie? und Andere sagen gar, die +Aussenwelt wäre das Werk unsrer Organe? Aber dann wäre ja unser Leib, +als ein Stück dieser Aussenwelt, das Werk unsrer Organe! Aber dann +wären ja unsre Organe selbst - das Werk unsrer Organe! Dies ist, wie +mir scheint, eine gründliche reductio ad absurdum: gesetzt, dass der +Begriff causa sui etwas gründlich Absurdes ist. Folglich ist die +Aussenwelt nicht das Werk unsrer Organe -? + + +16. + +Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass +es "unmittelbare Gewissheiten" gebe, zum Beispiel "ich denke", oder, +wie es der Aberglaube Schopenhauer's war, "ich will": gleichsam als ob +hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, +als "Ding an sich", und weder von Seiten des Subjekts, noch von +Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Dass aber "unmittelbare +Gewissheit", ebenso wie "absolute Erkenntniss" und "Ding an sich", +eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal +wiederholen: man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte +losmachen! Mag das Volk glauben, dass Erkennen ein zu Ende-Kennen sei, +der Philosoph muss sich sagen: "wenn ich den Vorgang zerlege, der in +dem Satz `ich denke` ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von +verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich +ist, - zum Beispiel, dass ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein +Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung +seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es +ein `Ich` giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken +zu bezeichnen ist, - dass ich weiss, was Denken ist. Denn wenn ich +nicht darüber mich schon bei mir entschieden hätte, wonach sollte ich +abmessen, dass, was eben geschieht, nicht vielleicht `Wollen` oder +`Fühlen` sei? Genug, jenes `ich denke` setzt voraus, dass ich meinen +augenblicklichen Zustand mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne, +vergleiche, um so festzusetzen, was er ist: wegen dieser Rückbeziehung +auf anderweitiges `Wissen` hat er für mich jedenfalls keine +unmittelbare `Gewissheit`." - An Stelle jener "unmittelbaren +Gewissheit", an welche das Volk im gegebenen Falle glauben mag, +bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik +in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts, welche +heissen: "Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an +Ursache und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und +gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als +Gedanken-Ursache zu reden?" Wer sich mit der Berufung auf eine Art +Intuition der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort +zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt: "ich, denke, und weiss, +dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist" - der wird bei einem +Philosophen heute ein Lächeln und zwei Fragezeichen bereit finden. +"Mein Herr, wird der Philosoph vielleicht ihm zu verstehen geben, +es ist unwahrscheinlich, dass Sie sich nicht irren: aber warum auch +durchaus Wahrheit?" - + + +17. + +Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde +werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, +welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, - nämlich, +dass ein Gedanke kommt, wenn "er" will, und nicht wenn "ich" will; so +dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt +"ich" ist die Bedingung des Prädikats "denke". Es denkt: aber dass +dies "es" gerade jenes alte berühmte "Ich" sei, ist, milde geredet, +nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine "unmittelbare +Gewissheit". Zuletzt ist schon mit diesem "es denkt" zu viel gethan: +schon dies "es" enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht +zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen +Gewohnheit "Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört +Einer, der thätig ist, folglich -". Ungefähr nach dem gleichen Schema +suchte die ältere Atomistik zu der "Kraft", die wirkt, noch jenes +Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das +Atom; strengere Köpfe lernten endlich ohne diesen "Erdenrest" +auskommen, und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran, +auch seitens der Logiker ohne jenes kleine "es" (zu dem sich das +ehrliche alte Ich verflüchtigt hat) auszukommen. + + +18. + +An einer Theorie ist wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie +widerlegbar ist: gerade damit zieht sie feinere Köpfe an. Es scheint, +dass die hundertfach widerlegte Theorie vom "freien Willen" ihre +Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt -: immer wieder kommt jemand +und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen. + + +19. + +Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die +bekannteste Sache von der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen, +der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt, +ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass +Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen +eben zu thun pflegen: dass er ein Volks-Vorurtheil übernommen und +übertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes, +Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, - und eben im Einen Worte +steckt das Volks-Vorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht +der Philosophen Herr geworden ist. Seien wir also einmal vorsichtiger, +seien wir "unphilosophisch" -, sagen wir: in jedem Wollen ist erstens +eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem +weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem "weg" +und "hin" selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, +auch ohne dass wir "Arme und Beine" in Bewegung setzen, durch eine Art +Gewohnheit, sobald wir "wollen", sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen +und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, +so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen +commandirenden Gedanken; - und man soll ja nicht glauben, diesen +Gedanken von dem "Wollen" abscheiden zu können, wie als ob dann noch +Wille übrig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von +Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener +Affekt des Commando's. Das, was "Freiheit des Willens" genannt wird, +ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der +gehorchen muss: "ich bin frei, "er" muss gehorchen" - dies Bewusstsein +steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, +jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte +Werthschätzung "jetzt thut dies und nichts Anderes Noth", jene innere +Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum +Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der will -, befiehlt +einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es +gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am Willen ist, +- an diesem so vielfachen Dinge, für welches das Volk nur Ein Wort +hat: insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und +Gehorchenden sind, und als Gehorchende die Gefühle des Zwingens, +Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche sofort nach +dem Akte des Willens zu beginnen pflegen; insofern wir andererseits +die Gewohnheit haben, uns über diese Zweiheit vermöge des +synthetischen Begriffs "ich" hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen, hat +sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen +und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selbst +angehängt, - dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt, +Wollen genüge zur Aktion. Weil in den allermeisten Fällen nur gewollt +worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also +die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der Anschein in das +Gefühl übersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit von Wirkung gäbe; +genug, der Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grad von Sicherheit, +dass Wille und Aktion irgendwie Eins seien -, er rechnet das Gelingen, +die Ausführung des Wollens noch dem Willen selbst zu und geniesst +dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit +sich bringt. "Freiheit des Willens" - das ist das Wort für jenen +vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich +mit dem Ausführenden als Eins setzt, - der als solcher den Triumph +über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille +selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde. Der Wollende +nimmt dergestalt die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen +Werkzeuge, der dienstbaren "Unterwillen" oder Unter-Seelen - unser +Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen - zu seinem +Lustgefühle als Befehlender hinzu. L'effet c'est moi: es begiebt sich +hier, was sich in jedem gut gebauten und glücklichen Gemeinwesen +begiebt, dass die regierende Klasse sich mit den Erfolgen des +Gemeinwesens identificirt. Bei allem Wollen handelt es sich +schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie +gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler "Seelen": weshalb ein Philosoph +sich das Recht nehmen sollte, Wollen an sich schon unter den +Gesichtskreis der Moral zu fassen: Moral nämlich als Lehre von den +Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen "Leben" +entsteht. - + + +20. + +Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts +Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu +einander emporwachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie auch +in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so +gut einem Systeme angehören als die sämmtlichen Glieder der Fauna +eines Erdtheils: das verräth sich zuletzt noch darin, wie sicher die +verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von möglichen +Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne +laufen sie immer von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn: sie +mögen sich noch so unabhängig von einander mit ihrem kritischen oder +systematischen Willen fühlen: irgend Etwas in ihnen führt sie, irgend +Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene +eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken +ist in der That viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkennen, +Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten +Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals +herausgewachsen sind: - Philosophiren ist insofern eine Art von +Atavismus höchsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ahnlichkeit alles +indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach +genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht +zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik - +ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche +grammatische Funktionen - von vornherein Alles für eine gleichartige +Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet +liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung +der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen +Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt +ist) werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders "in die Welt" +blicken und auf andern Pfaden zu finden sein, als Indogermanen +oder Muselmänner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen +ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werthurtheile +und Rasse-Bedingungen. - So viel zur Zurückweisung von Locke's +Oberflächlichkeit in Bezug auf die Herkunft der Ideen. + + +21. + +Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht +worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der +ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich +tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das +Verlangen nach "Freiheit des Willens", in jenem metaphysischen +Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der +Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte +Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, +Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich +nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr +als Münchhausen'schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des +Nichts an den Haaren in's Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt +dergestalt hinter die bäurische Einfalt dieses berühmten Begriffs +"freier Wille" und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn +nunmehr, seine "Aufklärung" noch um einen Schritt weiter zu treiben +und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs "freier Wille" aus seinem +Kopfe zu streichen: ich meine den "unfreien Willen", der auf einen +Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft. Man soll nicht +"Ursache" und "Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die +Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt +-) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die +Ursache drücken und stossen lässt, bis sie "Wirkt"; man soll sich der +"Ursache", der "Wirkung" eben nur als reiner Begriffe bedienen, das +heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der +Verständigung, nicht der Erklärung. Im "An-sich" giebt es nichts +von "Causal-Verbänden", von "Nothwendigkeit", von "psychologischer +Unfreiheit", da folgt nicht "die Wirkung auf die Ursache", das regiert +kein "Gesetz". Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, +das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, +die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese +Zeichen-Welt als "an sich" in die Dinge hineindichten, hineinmischen, +so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, +nämlich mythologisch. Der "unfreie Wille" ist Mythologie: im +wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen. +- Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber +mangelt, wenn ein Denker bereits in aller "Causal-Verknüpfung" und +"psychologischer Nothwendigkeit" etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen, +Druck, Unfreiheit herausfühlt: es ist verrätherisch, gerade so zu +fühlen, - die Person verräth sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht +beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber +immer auf eine tief persönliche Weise die "Unfreiheit des Willens" +als Problem gefasst: die Einen wollen um keinen Preis ihre +"Verantwortlichkeit", den Glauben an sich, das persönliche Anrecht auf +ihr Verdienst fahren lassen (die eitlen Rassen gehören dahin -); die +Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld sein +und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus, sich +selbst irgend wohin abwälzen zu können. Diese Letzteren pflegen sich, +wenn sie Bücher schreiben, heute der Verbrecher anzunehmen; eine Art +von socialistischem Mitleiden ist ihre gefälligste Verkleidung. Und +in der That, der Fatalismus der Willensschwachen verschönert sich +erstaunlich, wenn er sich als "la religion de la souffrance humaine" +einzuführen versteht: es ist sein "guter Geschmack". + + +22. + +Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit +nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu +legen - aber jene "Gesetzmässigkeit der Natur", von der ihr Physiker +so stolz redet, wie als ob - - besteht nur Dank eurer Ausdeutung und +schlechten "Philologie", - sie ist kein Thatbestand, kein "Text", +vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, +mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam +entgegenkommt! "Überall Gleichheit vor dem Gesetz, - die Natur +hat es darin nicht anders und nicht besser als wir": ein artiger +Hintergedanke, in dem noch einmal die pöbelmännische Feindschaft gegen +alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, insgleichen ein zweiter und +feinerer Atheismus verkleidet liegt. "Ni dieu, ni maître" - so wollt +auch ihr's.- und darum "hoch das Naturgesetz"! - nicht wahr? Aber, +wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es könnte +Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und +Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf +die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose +und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen +verstünde, - ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und +Unbedingtheit in allem "Willen zur Macht" dermaassen euch vor +Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort "Tyrannei" +schliesslich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde +Metapher - als zu menschlich - erschiene; und der dennoch damit +endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, +nämlich dass sie einen "nothwendigen" und "berechenbaren" Verlauf +habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut +die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte +Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist - und +ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? - nun, um so besser. - + + +23. + +Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und +Befürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe +gewagt. Dieselbe als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur +Macht zufassen, wie ich sie fasse - daran hat noch Niemand in seinen +Gedanken selbst gestreift: sofern es nämlich erlaubt ist, in dem, was +bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem, was bisher verschwiegen +wurde, zu erkennen. Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in +die geistigste, in die anscheinend kälteste und voraussetzungsloseste +Welt gedrungen - und, wie es sich von selbst versteht, schädigend, +hemmend, blendend, verdrehend. Eine eigentliche Physio-Psychologie hat +mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie +hat "das Herz" gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen +Bedingtheit der "guten" und der "schlimmen" Triebe, macht, als feinere +Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und +Überdruss, - noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten +Triebe aus den schlimmen. Gesetzt aber, Jemand nimmt gar die Affekte +Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte, +als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grundsätzlich und +grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden +muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, - der leidet an +einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrankheit. Und +doch ist auch diese Hypothese bei weitem nicht die peinlichste und +fremdeste in diesem ungeheuren fast noch neuen Reiche gefährlicher +Erkenntnisse: - und es giebt in der That hundert gute Gründe dafür, +dass Jeder von ihm fernbleibt, der es - kann! Andrerseits: ist man +einmal mit seinem Schiffe hierhin verschlagen, nun! wohlan! jetzt +tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand +fest am Steuer! - wir fahren geradewegs über die Moral weg, wir +erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest +Moralität, indem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen, - aber +was liegt an uns! Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden und +Abenteurern eine tiefere Welt der Einsicht eröffnet: und der +Psychologe, welcher dergestalt "Opfer bringt" - es ist nicht das +sacrifizio dell'intelletto, im Gegentheil! - wird zum Mindesten +dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der +Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die +übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder +der Weg zu den Grundproblemen. + + + + +Zweites Hauptstück: + +Der freie Geist. + +24. + +O sancta simplicitas! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung +lebt der Mensch! Man kann sich nicht zu Ende wundern, wenn man sich +erst einmal die Augen für dies Wunder eingesetzt hat! Wie haben wir +Alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht! wie wussten +wir unsern Sinnen einen Freipass für alles Oberflächliche, unserm +Denken eine göttliche Begierde nach muthwilligen Sprüngen und +Fehlschlüssen zu geben! - wie haben wir es von Anfang an verstanden, +uns unsre Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreifliche +Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, +Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu geniessen! Und erst auf diesem +nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit durfte sich +bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde +eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum +Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern - als +seine Verfeinerung! Mag nämlich auch die Sprache, hier wie anderwärts, +nicht über ihre Plumpheit hinauskönnen und fortfahren, von Gegensätzen +zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt; +mag ebenfalls die eingefleischte Tartüfferie der Moral, welche jetzt +zu unserm unüberwindlichen "Fleisch und Blut" gehört, uns Wissenden +selbst die Worte im Munde umdrehen: hier und da begreifen wir es und +lachen darüber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten +in dieser vereinfachten, durch und durch künstlichen, zurecht +gedichteten, zurecht gefälschten Welt festhalten will, wie sie +unfreiwillig-willig den Irrthum liebt, weil sie, die Lebendige, - das +Leben liebt! + + +25. + +Nach einem so fröhlichen Eingang möchte ein ernstes Wort nicht +überhört werden: es wendet sich an die Ernstesten. Seht euch vor, +ihr Philosophen und Freunde der Erkenntniss, und hütet euch vor dem +Martyrium! Vor dem Leiden "um der Wahrheit willen"! Selbst vor der +eigenen Vertheidigung! Es verdirbt eurem Gewissen alle Unschuld und +feine Neutralität, es macht euch halsstarrig gegen Einwände und rothe +Tücher, es verdummt, verthiert und verstiert, wenn ihr im Kampfe mit +Gefahr, Verlästerung, Verdächtigung, Ausstossung und noch gröberen +Folgen der Feindschaft, zuletzt euch gar als Vertheidiger der Wahrheit +auf Erden ausspielen müsst: - als ob "die Wahrheit" eine so harmlose +und täppische Person wäre, dass sie Vertheidiger nöthig hätte! und +gerade euch, ihr Ritter von der traurigsten Gestalt, meine Herren +Eckensteher und Spinneweber des Geistes! Zuletzt wisst ihr gut genug, +dass nichts daran liegen darf, ob gerade ihr Recht behaltet, ebenfalls +dass bisher noch kein Philosoph Recht behalten hat, und dass eine +preiswürdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen liegen +dürfte, welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und +gelegentlich hinter euch selbst) setzt, als in allen feierlichen +Gebärden und Trümpfen vor Anklägern und Gerichtshöfen! Geht lieber bei +Seite! Flieht in's Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass +man euch verwechsele! Oder ein Wenig fürchte! Und vergesst mir den +Garten nicht, den Garten mit goldenem Gitterwerk! Und habt Menschen um +euch, die wie ein Garten sind, - oder wie Musik über Wassern, zur Zeit +des Abends, wo der Tag schon zur Erinnerung wird: - wählt die gute +Einsamkeit, die freie muthwillige leichte Einsamkeit, welche euch auch +ein Recht giebt, selbst in irgend einem Sinne noch gut zu bleiben! Wie +giftig, wie listig, wie schlecht macht jeder lange Krieg, der sich +nicht mit offener Gewalt führen lässt! Wie persönlich macht eine +lange Furcht, ein langes Augenmerk auf Feinde, auf mögliche Feinde! +Diese Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten, +Schlimm-Gehetzten, - auch die Zwangs-Einsiedler, die Spinoza's +oder Giordano Bruno's - werden zuletzt immer, und sei es unter der +geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie selbst es wissen, +zu raffinirten Rachsüchtigen und Giftmischern (man grabe doch einmal +den Grund der Ethik und Theologie Spinoza's auf!) - gar nicht +zu reden von der Tölpelei der moralischen Entrüstung, welche an +einem Philosophen das unfehlbare Zeichen dafür ist, dass ihm der +philosophische Humor davon lief. Das Martyrium des Philosophen, seine +"Aufopferung für die Wahrheit" zwingt an's Licht heraus, was vom +Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte; und gesetzt, dass man +ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so +kann in Bezug auf manchen Philosophen der gefährliche Wunsch freilich +begreiflich sein, ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn +(entartet zum "Märtyrer", zum Bühnen- und Tribünen-Schreihals). Nur +dass man sich, mit einem solchen Wunsche, darüber klar sein muss, was +man jedenfalls dabei zu sehen bekommen wird: - nur ein Satyrspiel, nur +eine Nachspiel-Farce, nur den fortwährenden Beweis dafür, dass die +lange eigentliche Tragödie zu Ende ist: vorausgesetzt, dass jede +Philosophie im Entstehen eine lange Tragödie war. - + + +26. + +Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und +Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten erlöst +ist, wo er die Regel "Mensch" vergessen darf, als deren Ausnahme: - +den Einen Fall ausgenommen, dass er von einem noch stärkeren Instinkte +geradewegs auf diese Regel gestossen wird, als Erkennender im +grossen und ausnahmsweisen Sinne. Wer nicht im Verkehr mit Menschen +gelegentlich in allen Farben der Noth, grün und grau vor Ekel, +Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert, der ist +gewiss kein Mensch höheren Geschmacks; gesetzt aber, er nimmt alle +diese Last und Unlust nicht freiwillig auf sich, er weicht ihr +immerdar aus und bleibt, wie gesagt, still und stolz auf seiner Burg +versteckt, nun, so ist Eins gewiss: er ist zur Erkenntniss nicht +gemacht, nicht vorherbestimmt. Denn als solcher würde er eines Tages +sich sagen müssen "hole der Teufel meinen guten Geschmack! aber die +Regel ist interessanter als die Ausnahme, - als ich, die Ausnahme!" +- und würde sich hinab begeben, vor Allem "hinein". Das Studium des +durchschnittlichen Menschen, lang, ernsthaft, und zu diesem Zwecke +viel Verkleidung, Selbstüberwindung, Vertraulichkeit, schlechter +Umgang - jeder Umgang ist schlechter Umgang ausser dem mit +Seines-Gleichen -: das macht ein nothwendiges Stück der +Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, vielleicht das unangenehmste, +übelriechendste, an Enttäuschungen reichste Stück. Hat er aber Glück, +wie es einem Glückskinde der Erkenntniss geziemt, so begegnet er +eigentlichen Abkürzern und Erleichterern seiner Aufgabe, - ich meine +sogenannten Cynikern, also Solchen, welche das Thier, die Gemeinheit, +die "Regel" an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von +Geistigkeit und Kitzel haben, um über sich und ihres Gleichen vor +Zeugen reden zu müssen: - mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern +wie auf ihrem eignen Miste. Cynismus ist die einzige Form, in welcher +gemeine Seelen an Das streifen, was Redlichkeit ist; und der höhere +Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Cynismus die Ohren +aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen, wenn gerade vor ihm +der Possenreisser ohne Scham oder der wissenschaftliche Satyr laut +werden. Es giebt sogar Fälle, wo zum Ekel sich die Bezauberung mischt: +da nämlich, wo an einen solchen indiskreten Bock und Affen, durch eine +Laune der Natur, das Genie gebunden ist, wie bei dem Abbé Galiani, dem +tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen +seines Jahrhunderts - er war viel tiefer als Voltaire und folglich +auch ein gut Theil schweigsamer. Häufiger schon geschieht es, dass, +wie angedeutet, der wissenschaftliche Kopf auf einen Affenleib, ein +feiner Ausnahme-Verstand auf eine gemeine Seele gesetzt ist, - unter +Ärzten und Moral-Physiologen namentlich kein seltenes Vorkommniss. Und +wo nur Einer ohne Erbitterung, vielmehr harmlos vom Menschen redet als +von einem Bauche mit zweierlei Bedürfnissen und einem Kopfe mit Einem; +überall wo Jemand immer nur Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit +sieht, sucht und sehn will, als seien es die eigentlichen und einzigen +Triebfedern der menschlichen Handlungen; kurz, wo man "schlecht" vom +Menschen redet - und nicht einmal schlimm -, da soll der Liebhaber +der Erkenntniss fein und fleissig hinhorchen, er soll seine Ohren +überhaupt dort haben, wo ohne Entrüstung geredet wird. Denn der +entrüstete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Zähnen sich selbst +(oder, zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft) +zerreisst und zerfleischt, mag zwar moralisch gerechnet, höher stehn +als der lachende und selbstzufriedene Satyr, in jedem anderen Sinne +aber ist er der gewöhnlichere, gleichgültigere, unbelehrendere Fall. +Und Niemand lügt soviel als der Entrüstete. - + + +27. + +Es ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati +denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, +nämlich kurmagati oder besten Falles "nach der Gangart des Frosches" +mandeikagati - ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu +werden? - und man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit +der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber "die guten +Freunde" anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als +Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so thut +man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des +Missverständnisses zuzugestehn: - so hat man noch, zu lachen; - oder +sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, - und auch zu lachen! + + +28. + +Was sich am schlechtesten aus einer Sprache in die andere übersetzen +lässt, ist das tempo ihres Stils: als welcher im Charakter der Rasse +seinen Grund hat, physiologischer gesprochen, im Durchschnitts-tempo +ihres "Stoffwechsels". Es giebt ehrlich gemeinte Übersetzungen, die +beinahe Fälschungen sind, als unfreiwillige Vergemeinerungen des +Originals, bloss weil sein tapferes und lustiges tempo nicht mit +übersetzt werden konnte, welches über alles Gefährliche in Dingen und +Worten wegspringt, weghilft. Der Deutsche ist beinahe des Presto in +seiner Sprache unfähig: also, wie man billig schliessen darf, auch +vieler der ergötzlichsten und verwegensten Nuances des freien, +freigeisterischen Gedankens. So gut ihm der Buffo und der Satyr fremd +ist, in Leib und Gewissen, so gut ist ihm Aristophanes und Petronius +unübersetzbar. Alles Gravitätische, Schwerflüssige, Feierlich-Plumpe, +alle langwierigen und langweiligen Gattungen des Stils sind bei den +Deutschen in überreicher Mannichfaltigkeit entwickelt, - man vergebe +mir die Thatsache, dass selbst Goethe's Prosa, in ihrer Mischung von +Steifheit und Zierlichkeit, keine Ausnahme macht, als ein Spiegelbild +der "alten guten Zeit", zu der sie gehört, und als Ausdruck des +deutschen Geschmacks, zur Zeit, wo es noch einen "deutschen Geschmack" +gab: der ein Rokoko-Geschmack war, in moribus et artibus. Lessing +macht eine Ausnahme, Dank seiner Schauspieler-Natur, die Vieles +verstand und sich auf Vieles verstand: er, der nicht umsonst der +Übersetzer Bayle's war und sich gerne in die Nähe Diderot's und +Voltaire's, noch lieber unter die römischen Lustspieldichter +flüchtete: - Lessing liebte auch im tempo die Freigeisterei, die +Flucht aus Deutschland. Aber wie vermöchte die deutsche Sprache, und +sei es selbst in der Prosa eines Lessing, das tempo Macchiavell's +nachzuahmen, der, in seinem principe, die trockne feine Luft von +Florenz athmen lässt und nicht umhin kann, die ernsteste Angelegenheit +in einem unbändigen Allegrissimo vorzutragen: vielleicht nicht ohne +ein boshaftes Artisten-Gefühl davon, welchen Gegensatz er wagt, - +Gedanken, lang, schwer, hart, gefährlich, und ein tempo des Galopps +und der allerbesten muthwilligsten Laune. Wer endlich dürfte gar eine +deutsche Übersetzung des Petronius wagen, der, mehr als irgend ein +grosser Musiker bisher, der Meister des presto gewesen ist, in +Erfindungen, Einfällen, Worten: - was liegt zuletzt an allen Sümpfen +der kranken, schlimmen Welt, auch der "alten Welt", wenn man, wie er, +die Füsse eines Windes hat, den Zug und Athem, den befreienden Hohn +eines Windes, der Alles gesund macht, indem er Alles laufen macht! Und +was Aristophanes angeht, jenen verklärenden, complementären Geist, um +dessentwillen man dem ganzen Griechenthum verzeiht, dass es da war, +gesetzt, dass man in aller Tiefe begriffen hat, was da Alles der +Verzeihung, der Verklärung bedarf: - so wüsste ich nichts, was mich +über Plato's Verborgenheit und Sphinx-Natur mehr hat träumen lassen +als jenes glücklich erhaltene petit falt: dass man unter dem +Kopfkissen seines Sterbelagers keine "Bibel" vorfand, nichts +Ägyptisches, Pythagoreisches, Platonisches, - sondern den +Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben ausgehalten - ein +griechisches Leben, zu dem er Nein sagte, - ohne einen Aristophanes! - + + +29. + +Es ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein: - es ist ein +Vorrecht der Starken. Und wer es versucht, auch mit dem besten Rechte +dazu, aber ohne es zu müssen, beweist damit, dass er wahrscheinlich +nicht nur stark, sondern bis zur Ausgelassenheit verwegen ist. Er +begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren, +welche das Leben an sich schon mit sich bringt; von denen es nicht die +kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt, +vereinsamt und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des +Gewissens zerrissen wird. Gesetzt, ein Solcher geht zu Grunde, so +geschieht es so ferne vom Verständniss der Menschen, dass sie es nicht +fühlen und mitfühlen: - und er kann nicht mehr zurück! er kann auch +zum Mitleiden der Menschen nicht mehr zurück! - - + + +30. + +Unsre höchsten Einsichten müssen - und sollen! - wie Thorheiten, unter +Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu +Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind. Das +Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen +unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselmännern, +kurz überall, wo man eine Rangordnung und nicht an Gleichheit und +gleiche Rechte glaubte, - das hebt sich nicht sowohl dadurch von +einander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen +her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst, urtheilt: das +Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge sieht, - der +Esoteriker aber von Oben herab! Es giebt Höhen der Seele, von wo aus +gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken; und, alles +Weh der Welt in Eins genommen, wer dürfte zu entscheiden wagen, ob +sein Anblick nothwendig gerade zum Mitleiden und dergestalt zur +Verdoppelung des Wehs verführen und zwingen werde?... Was der höheren +Art von Menschen zur Nahrung oder zur Labsal dient, muss einer sehr +unterschiedlichen und geringeren Art beinahe Gift sein. Die Tugenden +des gemeinen Manns würden vielleicht an einem Philosophen Laster und +Schwächen bedeuten; es wäre möglich, dass ein hochgearteter Mensch, +gesetzt, dass er entartete und zu Grunde gienge, erst dadurch in den +Besitz von Eigenschaften käme, derentwegen man nöthig hätte, ihn in +der niederen Welt, in welche er hinab sank, nunmehr wie einen Heiligen +zu verehren. Es giebt Bücher, welche für Seele und Gesundheit einen +umgekehrten Werth haben, je nachdem die niedere Seele, die niedrigere +Lebenskraft oder aber die höhere und gewaltigere sich ihrer bedienen: +im ersten Falle sind es gefährliche, anbröckelnde, auflösende Bücher, +im anderen Heroldsrufe, welche die Tapfersten zu ihrer Tapferkeit +herausfordern. Allerwelts-Bücher sind immer übelriechende Bücher: der +Kleine-Leute-Geruch klebt daran. Wo das Volk isst und trinkt, selbst +wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen +gehn, wenn man reine Luft athmen will. - - + + +31. + +Man verehrt und verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der +Nuance, welche den besten Gewinn des Lebens ausmacht, und muss es +billigerweise hart büssen, solchergestalt Menschen und Dinge mit Ja +und Nein überfallen zu haben. Es ist Alles darauf eingerichtet, dass +der schlechteste aller Geschmäcker, der Geschmack für das Unbedingte +grausam genarrt und gemissbraucht werde, bis der Mensch lernt, etwas +Kunst in seine Gefühle zu legen und lieber noch mit dem Künstlichen +den Versuch zu wagen: wie es die rechten Artisten des Lebens thun. Das +Zornige und Ehrfürchtige, das der Jugend eignet, scheint sich keine +Ruhe zu geben, bevor es nicht Menschen und Dinge so zurecht gefälscht +hat, dass es sich an ihnen auslassen kann: - Jugend ist an sich schon +etwas Fälschendes und Betrügerisches. Später, wenn die junge Seele, +durch lauter Enttäuschungen gemartert, sich endlich argwöhnisch +gegen sich selbst zurück wendet, immer noch heiss und wild, auch in +ihrem Argwohne und Gewissensbisse: wie zürnt sie sich nunmehr, wie +zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange +Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen +sei! In diesem Übergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen +gegen sein Gefühl; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel, +ja man fühlt schon das gute Gewissen als eine Gefahr, gleichsam als +Selbst-Verschleierung und Ermüdung der feineren Redlichkeit; und vor +Allem, man nimmt Partei, grundsätzlich Partei gegen "die Jugend". - +Ein Jahrzehend später: und man begreift, dass auch dies Alles noch - +Jugend war! + + +32. + +Die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch - man nennt +sie die prähistorische Zeit - wurde der Werth oder der Unwerth einer +Handlung aus ihren Folgen abgeleitet: die Handlung an sich kam dabei +ebensowenig als ihre Herkunft in Betracht, sondern ungefähr so, wie +heute noch in China eine Auszeichnung oder Schande vom Kinde auf die +Eltern zurückgreift, so war es die rückwirkende Kraft des Erfolgs oder +Misserfolgs, welche den Menschen anleitete, gut oder schlecht von +einer Handlung zu denken. Nennen wir diese Periode die vormoralische +Periode der Menschheit: der Imperativ "erkenne dich selbst!" war +damals noch unbekannt. In den letzten zehn Jahrtausenden ist man +hingegen auf einigen grossen Flächen der Erde Schritt für Schritt +so weit gekommen, nicht mehr die Folgen, sondern die Herkunft der +Handlung über ihren Werth entscheiden zu lassen: ein grosses Ereigniss +als Ganzes, eine erhebliche Verfeinerung des Blicks und Maassstabs, +die unbewusste Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werthe +und des Glaubens an "Herkunft", das Abzeichen einer Periode, welche +man im engeren Sinne als die moralische bezeichnen darf: der erste +Versuch zur Selbst-Erkenntniss ist damit gemacht. Statt der Folgen die +Herkunft: welche Umkehrung der Perspektive! Und sicherlich eine erst +nach langen Kämpfen und Schwankungen erreichte Umkehrung! Freilich: +ein verhängnissvoller neuer Aberglaube, eine eigenthümliche Engigkeit +der Interpretation kam eben damit zur Herrschaft: man interpretirte +die Herkunft einer Handlung im allerbestimmtesten Sinne als Herkunft +aus einer Absicht; man wurde Eins im Glauben daran, dass der Werth +einer Handlung im Werthe ihrer Absicht belegen sei. Die Absicht als +die ganze Herkunft und Vorgeschichte einer Handlung: unter diesem +Vorurtheile ist fast bis auf die neueste Zeit auf Erden moralisch +gelobt, getadelt, gerichtet, auch philosophirt worden. - Sollten wir +aber heute nicht bei der Nothwendigkeit angelangt sein, uns nochmals +über eine Umkehrung und Grundverschiebung der Werthe schlüssig zu +machen, Dank einer nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des +Menschen, - sollten wir nicht an der Schwelle einer Periode stehen, +welche, negativ, zunächst als die aussermoralische zu, bezeichnen +wäre: heute, wo wenigstens unter uns Immoralisten der Verdacht sich +regt, dass gerade in dem, was nicht-absichtlich an einer Handlung +ist, ihr entscheidender Werth belegen sei, und dass alle ihre +Absichtlichkeit, Alles, was von ihr gesehn, gewusst, "bewusst" werden +kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, - welche, wie jede +Haut, Etwas verräth, aber noch mehr verbirgt? Kurz, wir glauben, dass +die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung +bedarf, dazu ein Zeichen, das zu Vielerlei und folglich für sich +allein fast nichts bedeutet, - dass Moral, im bisherigen Sinne, also +Absichten-Moral ein Vorurtheil gewesen ist, eine Voreiligkeit, eine +Vorläufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der Astrologie und +Alchymie, aber jedenfalls Etwas, das überwunden werden muss. Die +Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die +Selbstüberwindung der Moral: mag das der Name für jene lange +geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den +boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probirsteinen der +Seele, vorbehalten blieb. - + + +33. + +Es hilft nichts: man muss die Gefühle der Hingebung, der Aufopferung +für den Nächsten, die ganze Selbstentäusserungs-Moral erbarmungslos +zur Rede stellen und vor Gericht führen: ebenso wie die Ästhetik der +"interesselosen Anschauung", unter welcher sich die Entmännlichung der +Kunst verführerisch genug heute ein gutes Gewissen zu schaffen sucht. +Es ist viel zu viel Zauber und Zucker in jenen Gefühlen des "für +Andere", des "nicht für mich", als dass man nicht nöthig hätte, +hier doppelt misstrauisch zu werden und zu fragen: "sind es nicht +vielleicht - Verführungen?" - Dass sie gefallen - Dem, der sie hat, +und Dem, der ihre Früchte geniesst, auch dem blossen Zuschauer, - +dies giebt noch kein Argument für sie ab, sondern fordert gerade zur +Vorsicht auf. Seien wir also vorsichtig! + + +34. + +Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen +mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in +der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser +Auge noch habhaft werden kann: - wir finden Gründe über Gründe dafür, +die uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im "Wesen +der Dinge" verlocken möchten. Wer aber unser Denken selbst, also +"den Geist" für die Falschheit der Welt verantwortlich macht - ein +ehrenhafter Ausweg, den jeder bewusste oder unbewusste advocatus dei +geht -: wer diese Welt, sammt Raum, Zeit, Gestalt, Bewegung, als +falsch erschlossen nimmt: ein Solcher hätte mindestens guten Anlass, +gegen alles Denken selbst endlich Misstrauen zu lernen: hätte es +uns nicht bisher den allergrössten Schabernack gespielt? und welche +Bürgschaft dafür gäbe es, dass es nicht fortführe, zu thun, was es +immer gethan hat? In allem Ernste: die Unschuld der Denker hat etwas +Rührendes und Ehrfurcht Einflössendes, welche ihnen erlaubt, sich auch +heute noch vor das Bewusstsein hinzustellen, mit der Bitte, dass es +ihnen ehrliche Antworten gebe: zum Beispiel ob es "real" sei, und +warum es eigentlich die äussere Welt sich so entschlossen vom +Halse halte, und was dergleichen Fragen mehr sind. Der Glaube an +"unmittelbare Gewissheiten" ist eine moralische Naivetät, welche +uns Philosophen Ehre macht: aber - wir sollen nun einmal nicht "nur +moralische" Menschen sein! Von der Moral abgesehn, ist jener Glaube +eine Dummheit, die uns wenig Ehre macht! Mag im bürgerlichen Leben das +allzeit bereite Misstrauen als Zeichen des "schlechten Charakters" +gelten und folglich unter die Unklugheiten gehören: hier unter uns, +jenseits der bürgerlichen Welt und ihres Ja's und Nein's, - was sollte +uns hindern, unklug zu sein und zu sagen: der Philosoph hat nachgerade +ein Recht auf "schlechten Charakter", als das Wesen, welches bisher +auf Erden immer am besten genarrt worden ist, - er hat heute die +Pflicht zum Misstrauen, zum boshaftesten Schielen aus jedem Abgrunde +des Verdachts heraus. - Man vergebe mir den Scherz dieser düsteren +Fratze und Wendung: denn ich selbst gerade habe längst über Betrügen +und Betrogenwerden anders denken, anders schätzen gelernt und halte +mindestens ein paar Rippenstösse für die blinde Wuth bereit, mit der +die Philosophen sich dagegen sträuben, betrogen zu werden. Warum +nicht? Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit +mehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene +Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein: +es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer +Schätzungen und Scheinbarkeiten; und wollte man, mit der tugendhaften +Begeisterung und Tölpelei mancher Philosophen, die "scheinbare +Welt" ganz abschlaffen, nun, gesetzt, ihr könntet das, - so bliebe +mindestens dabei auch von eurer "Wahrheit" nichts mehr übrig! Ja, +was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften +Gegensatz von "wahr" und "falsch" giebt? Genügt es nicht, Stufen der +Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten +und Gesammttöne des Scheins, - verschiedene valeurs, um die Sprache +der Maler zu reden? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht -, +nicht eine Fiktion sein? Und wer da fragt: "aber zur Fiktion gehört +ein Urheber?" - dürfte dem nicht rund geantwortet werden: Warum? +Gehört dieses "Gehört" nicht vielleicht mit zur Fiktion? Ist es +denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, +nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht +über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle Achtung vor den +Gouvernanten: aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem +Gouvernanten-Glauben absagte? - + + +35. + +Oh Voltaire! Oh Humanität! Oh Blödsinn! Mit der "Wahrheit", mit dem +Suchen der Wahrheit hat es etwas auf sich; und wenn der Mensch es +dabei gar zu menschlich treibt - "il ne cherche le vrai que pour faire +le bien" - ich wette, er findet nichts! + + +36. + +Gesetzt, dass nichts Anderes als real "gegeben" ist als unsre Welt der +Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen "Realität" +hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe - denn +Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander -: ist es +nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies +Gegeben nicht ausreicht, um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte +mechanistische (oder "materielle") Welt zu verstehen? Ich meine +nicht als eine Täuschung, einen "Schein", eine "Vorstellung" (im +Berkeley'schen und Schopenhauerischen Sinne), sondern als vom +gleichen Realitäts-Range, welchen unser Affekt selbst hat, - als eine +primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger +Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozesse +abzweigt und ausgestaltet (auch, wie billig, verzärtelt und abschwächt +-), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche organische +Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung, +Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind, +- als eine Vorform des Lebens? - Zuletzt ist es nicht nur erlaubt, +diesen Versuch zu machen: es ist, vom Gewissen der Methode aus, +geboten. Nicht mehrere Arten von Causalität annehmen, so lange nicht +der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste +Grenze getrieben ist (- bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen): das ist +eine Moral der Methode, der man sich heute nicht entziehen darf; - es +folgt "aus ihrer Definition", wie ein Mathematiker sagen würde. Die +Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen, +ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das - und im +Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an Causalität selbst -, +so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch +als die einzige zu setzen. "Wille" kann natürlich nur auf "Wille" +wirken - und nicht auf "Stoffe" (nicht auf "Nerven" zum Beispiel -): +genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo "Wirkungen" +anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt - und ob nicht alles +mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben +Willenskraft, Willens-Wirkung ist. - Gesetzt endlich, dass es gelänge, +unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer +Grundform des Willens zu erklären - nämlich des Willens zur Macht, wie +es in ein Satz ist -; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen +auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die +Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es ist Ein Problem - +fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende +Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen +gesehen, die Welt auf ihren "intelligiblen Charakter" hin bestimmt und +bezeichnet - sie wäre eben "Wille zur Macht" und nichts ausserdem. - + + +37. + +"Wie? Heisst das nicht, populär geredet: Gott ist widerlegt, der +Teufel aber nicht -?" Im Gegentheil! Im Gegentheil, meine Freunde! +Und, zum Teufel auch, wer zwingt euch, populär zu reden! - + + +38. + +Wie es zuletzt noch, in aller Helligkeit der neueren Zeiten, mit der +französischen Revolution gegangen ist, jener schauerlichen und, aus +der Nähe beurtheilt, überflüssigen Posse, in welche aber die edlen und +schwärmerischen Zuschauer von ganz Europa aus der Ferne her so lange +und so leidenschaftlich ihre eignen Empörungen und Begeisterungen +hinein interpretirt haben, bis der Text unter der Interpretation +verschwand: so könnte eine edle Nachwelt noch einmal die ganze +Vergangenheit missverstehen und dadurch vielleicht erst ihren Anblick +erträglich machen. - Oder vielmehr: ist dies nicht bereits geschehen? +waren wir nicht selbst - diese "edle Nachwelt"? Und ist es nicht +gerade jetzt, insofern wir dies begreifen, - damit vorbei? + + +39. + +Niemand wird so leicht eine Lehre, bloss weil sie glücklich macht, +oder tugendhaft macht, deshalb für wahr halten: die lieblichen +"Idealisten" etwa ausgenommen, welche für das Gute, Wahre, Schöne +schwärmen und in ihrem Teiche alle Arten von bunten plumpen und +gutmüthigen Wünschbarkeiten durcheinander schwimmen lassen. Glück +und Tugend sind keine Argumente. Man vergisst aber gerne, auch auf +Seiten besonnener Geister, dass Unglücklich-machen und Böse-machen +ebensowenig Gegenargumente sind. Etwas dürfte wahr sein: ob es gleich +im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre; ja es könnte selbst +zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner +völligen Erkenntniss zu Grunde gienge, - so dass sich die Stärke eines +Geistes darnach bemässe, wie viel er von der "Wahrheit" gerade noch +aushielte, deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdünnt, verhüllt, +versüsst, verdumpft, verfälscht nöthig hätte. Aber keinem Zweifel +unterliegt es, dass für die Entdeckung gewisser Theile der Wahrheit +die Bösen und Unglücklichen begünstigter sind und eine grössere +Wahrscheinlichkeit des Gelingens haben; nicht zu reden von den +Bösen, die glücklich sind, - eine Species, welche von den Moralisten +verschwiegen wird. Vielleicht, dass Härte und List günstigere +Bedingungen zur Entstehung des starken, unabhängigen Geistes und +Philosophen abgeben, als jene sanfte feine nachgebende Gutartigkeit +und Kunst des Leicht-nehmens, welche man an einem Gelehrten schätzt +und mit Recht schätzt. Vorausgesetzt, was voran steht, dass man den +Begriff "Philosoph" nicht auf den Philosophen einengt, der Bücher +schreibt - oder gar seine Philosophie in Bücher bringt! - Einen +letzten Zug zum Bilde des freigeisterischen Philosophen bringt +Stendhal bei, den ich um des deutschen Geschmacks willen nicht +unterlassen will zu unterstreichen: - denn er geht wider den deutschen +Geschmack. "Pour être bon philosophe", sagt dieser letzte grosse +Psycholog, "il faut être sec, clair, sans illusion. Un banquier, +qui a fait fortune, a une partie du caractère requis pour faire des +découvertes en philosophie, c'est-'á-dire pour voir clair dans ce qui +est." + + +40. + +Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben +sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss. Sollte nicht erst der +Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes +einhergienge? Eine fragwürdige Frage: es wäre wunderlich, wenn nicht +irgend ein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte. Es giebt +Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine Grobheit zu +verschütten und unkenntlich zu machen; es giebt Handlungen der Liebe +und einer ausschweifenden Grossmuth, hinter denen nichts räthlicher +ist, als einen Stock zu nehmen und den Augenzeugen durchzuprügeln: +damit trübt man dessen Gedächtniss. Mancher versteht sich darauf, +das eigne Gedächtniss zu trüben und zu misshandeln, um wenigstens +an diesem einzigen Mitwisser seine Rache zu haben: - die Scham ist +erfinderisch. Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am +schlimmsten schämt: es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske, - +es giebt so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein +Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob +und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durch's +Leben rollte: die Feinheit seiner Scham will es so. Einem Menschen, +der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten +Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je gelangen, und um deren +Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen: +seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine wieder +eroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt +das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich +ist in der Ausflucht vor Mittheilung, will es und fördert es, dass +eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner +Freunde herum wandelt; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm +eines Tages die Augen darüber aufgehn, dass es trotzdem dort eine +Maske von ihm giebt, - und dass es gut so ist. Jeder tiefe Geist +braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst +fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen +Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er +giebt. - + + +41. + +Man muss sich selbst seine Proben geben, dafür dass man zur +Unabhängigkeit und zum Befehlen bestimmt ist; und dies zur rechten +Zeit. Man soll seinen Proben nicht aus dem Wege gehn, obgleich sie +vielleicht das gefährlichste Spiel sind, das man spielen kann, und +zuletzt nur Proben, die vor uns selber als Zeugen und vor keinem +anderen Richter abgelegt werden. Nicht an einer Person hängen bleiben: +und sei sie die geliebteste, - jede Person ist ein Gefängniss, auch +ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben: und sei es das +leidendste und hülfbedürftigste, - es ist schon weniger schwer, sein +Herz von einem siegreichen Vaterlande los zu binden. Nicht an einem +Mitleiden hängen bleiben: und gälte es höheren Menschen, in deren +seltne Marter und Hülflosigkeit uns ein Zufall hat blicken lassen. +Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben: und locke sie Einen mit +den kostbarsten, anscheinend gerade uns aufgesparten Funden. Nicht an +seiner eignen Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und +Fremde des Vogels, der immer weiter in die Höhe flieht, um immer mehr +unter sich zu sehn: - die Gefahr des Fliegenden. Nicht an unsern +eignen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer irgend einer +Einzelheit an uns werden, zum Beispiel unsrer "Gastfreundschaft": wie +es die Gefahr der Gefahren bei hochgearteten und reichen Seelen ist, +welche verschwenderisch, fast gleichgültig mit sich selbst umgehn und +die Tugend der Liberalität bis zum Laster treiben. Man muss wissen, +sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit. + + +42. + +Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es, sie auf +einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errathe, +so wie sie sich errathen lassen - denn es gehört zu ihrer Art, irgend +worin Räthsel bleiben zu wollen -, möchten diese Philosophen der +Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als +Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein +Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung. + + +43. + +Sind es neue Freunde der "Wahrheit", diese kommenden Philosophen? +Wahrscheinlich genug: denn alle Philosophen liebten bisher ihre +Wahrheiten. Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muss +ihnen wider den Stolz gehn, auch wider den Geschmack, wenn ihre +Wahrheit gar noch eine Wahrheit für Jedermann sein soll: was bisher +der geheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war. +"Mein Urtheil ist mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer +das Recht" - sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft. Man muss +den schlechten Geschmack von sich abthun, mit Vielen übereinstimmen +zu wollen. "Gut" ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den +Mund nimmt. Und wie könnte es gar ein "Gemeingut" geben! Das Wort +widerspricht sich selbst: was gemein sein kann, hat immer nur wenig +Werth. Zuletzt muss es so stehn, wie es steht und immer stand: die +grossen Dinge bleiben für die Grossen übrig, die Abgründe für die +Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im Ganzen und +Kurzen, alles Seltene für die Seltenen. - + + +44. + +Brauche ich nach alledem noch eigens zu sagen, dass auch sie freie, +sehr freie Geister sein werden, diese Philosophen der Zukunft, - so +gewiss sie auch nicht bloss freie Geister sein werden, sondern etwas +Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes, das nicht verkannt +und verwechselt werden will? Aber, indem ich dies sage, fühle ich fast +ebenso sehr gegen sie selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und +Vorläufer sind, wir freien Geister! - die Schuldigkeit, ein altes +dummes Vorurtheil und Missverständniss von uns gemeinsam fortzublasen, +welches allzulange wie ein Nebel den Begriff "freier Geist" +undurchsichtig gemacht hat. In allen Ländern Europa's und ebenso in +Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch mit diesem Namen treibt, +eine sehr enge, eingefangne, an Ketten gelegte Art von Geistern, +welche ungefähr das Gegentheil von dem wollen, was in unsern Absichten +und Instinkten liegt, - nicht zu reden davon, dass sie in Hinsicht auf +jene heraufkommenden neuen Philosophen erst recht zugemachte Fenster +und verriegelte Thüren sein müssen. Sie gehören, kurz und schlimm, +unter die Nivellirer, diese fälschlich genannten "freien Geister" - +als beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks +und seiner "modernen Ideen": allesammt Menschen ohne Einsamkeit, ohne +eigne Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Muth noch +achtbare Sitte abgesprochen werden soll, nur dass sie eben unfrei und +zum Lachen oberflächlich sind, vor Allem mit ihrem Grundhange, in den +Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefähr die Ursache für +alles menschliche Elend und Missrathen zu sehn: wobei die Wahrheit +glücklich auf den Kopf zu stehn kommt! Was sie mit allen Kräften +erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde, +mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens +für Jedermann; ihre beiden am reichlichsten abgesungnen Lieder und +Lehren heissen "Gleichheit der Rechte" und "Mitgefühl für alles +Leidende", - und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen, +das man abschaffen muss. Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein +Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze +"Mensch" am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass +dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass +dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst in's Ungeheure wachsen, seine +Erfindungs- und Verstellungskraft (sein "Geist" -) unter langem Druck +und Zwang sich in's Feine und Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille +bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden musste: - wir +vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse +und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei +jeder Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und +Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species "Mensch" +dient, als sein Gegensatz: - wir sagen sogar nicht einmal genug, +wenn wir nur so viel sagen, und befinden uns jedenfalls, mit unserm +Reden und Schweigen an dieser Stelle, am andern Ende aller modernen +Ideologie und Heerden-Wünschbarkeit: als deren Antipoden vielleicht? +Was Wunder, dass wir "freien Geister" nicht gerade die mittheilsamsten +Geister sind? dass wir nicht in jedem Betrachte zu verrathen wünschen, +wovon ein Geist sich frei machen kann und wohin er dann vielleicht +getrieben wird? Und was es mit der gefährlichen Formel "jenseits +von Gut und Böse" auf sich hat, mit der wir uns zum Mindesten vor +Verwechslung behüten: wir sind etwas Anderes als "libres-penseurs", +"liberi pensatori", "Freidenker" und wie alle diese braven Fürsprecher +der "modernen Ideen" sich zu benennen lieben. In vielen Ländern des +Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen; den dumpfen angenehmen +Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhass, +Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die +Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen; voller Bosheit gegen +die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren, oder Geld, oder +Ämtern, oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dankbar sogar +gegen Noth und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend +einer Regel und ihrem "Vorurtheil" losmachte, dankbar gegen Gott, +Teufel, Schlaf und Wurm in uns, neugierig bis zum Laster, Forscher +bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern für Unfassbares, mit +Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste, bereit zu jedem Handwerk, +das Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagniss, +Dank einem Überschusse von "freiem Willen", mit Vorder- und +Hinterseelen, denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit +Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuss zu Ende laufen dürfte, +Verborgene unter den Mänteln des Lichts, Erobernde, ob wir gleich +Erben und Verschwendern gleich sehn, Ordner und Sammler von früh +bis Abend, Geizhälse unsres Reichthums und unsrer vollgestopften +Schubfächer, haushälterisch im Lernen und Vergessen, erfinderisch in +Schematen, mitunter stolz auf Kategorien-Tafeln, mitunter Pedanten, +mitunter Nachteulen der Arbeit auch am hellen Tage; ja, wenn es noth +thut, selbst Vogelscheuchen - und heute thut es noth: nämlich insofern +wir die geborenen geschworenen eifersüchtigen Freunde der Einsamkeit +sind, unsrer eignen tiefsten mitternächtlichsten mittäglichsten +Einsamkeit: - eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister! +und vielleicht seid auch ihr etwas davon, ihr Kommenden? ihr neuen +Philosophen? - + + + + +Drittes Hauptstück: + +Das religiöse Wesen. + +45. + +Die menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher überhaupt erreichte +Umfang menschlicher innerer Erfahrungen, die Höhen, Tiefen und Fernen +dieser Erfahrungen, die ganze bisherige Geschichte der Seele und ihre +noch unausgetrunkenen Möglichkeiten: das ist für einen geborenen +Psychologen und Freund der "grossen Jagd" das vorbestimmte +Jagdbereich. Aber wie oft muss er sich verzweifelt sagen: "ein +Einzelner! ach, nur ein Einzelner! und dieser grosse Wald und Urwald!" +Und so wünscht er sich einige hundert Jagdgehülfen und feine gelehrte +Spürhunde, welche er in die Geschichte der menschlichen Seele treiben +könnte, um dort sein Wild zusammenzutreiben. Umsonst: er erprobt es +immer wieder, gründlich und bitterlich, wie schlecht zu allen Dingen, +die gerade seine Neugierde reizen, Gehülfen und Hunde zu finden +sind. Der Übelstand, den es hat, Gelehrte auf neue und gefährliche +Jagdbereiche auszuschicken, wo Muth, Klugheit, Feinheit in jedem Sinne +noth thun, liegt darin, dass sie gerade dort nicht mehr brauchbar +sind, wo die "grosse Jagd", aber auch die grosse Gefahr beginnt: - +gerade dort verlieren sie ihr Spürauge und ihre Spürnase. Um zum +Beispiel zu errathen und festzustellen, was für eine Geschichte bisher +das Problem von Wissen und Gewissen in der Seele der homines religiosi +gehabt hat, dazu müsste Einer vielleicht selbst so tief, so verwundet, +so ungeheuer sein, wie es das intellektuelle Gewissen Pascal's war: +und dann bedürfte es immer noch jenes ausgespannten Himmels von +heller, boshafter Geistigkeit, welcher von Oben herab dies Gewimmel +von gefährlichen und schmerzlichen Erlebnissen zu übersehn, zu ordnen, +in Formeln zu zwingen vermöchte. - Aber wer thäte mir diesen Dienst! +Aber wer hätte Zeit, auf solche Diener zu warten! - sie wachsen +ersichtlich zu selten, sie sind zu allen Zeiten so unwahrscheinlich! +Zuletzt muss man Alles selber thun, um selber Einiges zu wissen: das +heisst, man hat viel zu thun! - Aber eine Neugierde meiner Art bleibt +nun einmal das angenehmste aller Laster, - Verzeihung! ich wollte +sagen: die Liebe zur Wahrheit hat ihren Lohn im Himmel und schon auf +Erden. - + + +46. + +Der Glaube, wie ihn das erste Christenthum verlangt und nicht selten +erreicht hat, inmitten einer skeptischen und südlich-freigeisterischen +Welt, die einen Jahrhunderte langen Kampf von Philosophenschulen +hinter sich und in sich hatte, hinzugerechnet die Erziehung zur +Toleranz, welche das imperium Romanum gab, - dieser Glaube ist nicht +jener treuherzige und bärbeissige Unterthanen-Glaube, mit dem etwa ein +Luther oder ein Cromwell oder sonst ein nordischer Barbar des Geistes +an ihrem Gotte und Christenthum gehangen haben; viel eher scholl +jener Glaube Pascal's, der auf schreckliche Weise einem dauernden +Selbstmorde der Vernunft ähnlich sieht, - einer zähen langlebigen +wurmhaften Vernunft, die nicht mit Einem Male und Einem Streiche +todtzumachen ist. Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: +Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit +des Geistes; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, +Selbst-Verstümmelung. Es ist Grausamkeit und religiöser Phönicismus +in diesem Glauben, der einem mürben, vielfachen und viel verwöhnten, +Gewissen zugemuthet wird: seine Voraussetzung ist, dass die +Unterwerfung des Geistes unbeschreiblich wehe thut, dass die ganze +Vergangenheit und Gewohnheit eines solchen Geistes sich gegen das +Absurdissimum wehrt, als welches ihm der "Glaube" entgegentritt. +Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche +Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, +das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel "Gott am +Kreuze" lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendswo eine gleiche +Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und +Fragwürdiges gegeben wie diese Formel: sie verhiess eine Umwerthung +aller antiken Werthe. - Es ist der Orient, der tiefe Orient, es ist +der orientalische Sklave, der auf diese Weise an Rom und seiner +vornehmen und frivolen Toleranz, am römischen "Katholicismus" des +Glaubens Rache nahm: - und immer war es nicht der Glaube, sondern die +Freiheit vom Glauben, jene halb stoische und lächelnde Unbekümmertheit +um den Ernst des Glaubens, was die Sklaven an ihren Herrn, gegen ihre +Herrn empört hat. Die "Aufklärung" empört: der Sklave nämlich will +Unbedingtes, er versteht nur das Tyrannische, auch in der Moral, er +liebt wie er hasst, ohne Nuance, bis in die Tiefe, bis zum Schmerz, +bis zur Krankheit, - sein vieles verborgenes Leiden empört sich +gegen den vornehmen Geschmack, der das Leiden zu leugnen scheint. +Die Skepsis gegen das Leiden, im Grunde nur eine Attitude der +aristokratischen Moral, ist nicht am wenigsten auch an der Entstehung +des letzten grossen Sklaven-Aufstandes betheiligt, welcher mit der +französischen Revolution begonnen hat. + + +47. + +Wo nur auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, finden +wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen: Einsamkeit, +Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit, - doch ohne dass hier mit +Sicherheit zu entscheiden wäre, was da Ursache, was Wirkung sei, und +ob hier überhaupt ein Verhältniss von Ursache und Wirkung vorliege. +Zum letzten Zweifel berechtigt, dass gerade zu ihren regelmässigsten +Symptomen, bei wilden wie bei zahmen Völkern, auch die plötzlichste +ausschweifendste Wollüstigkeit gehört, welche dann, ebenso plötzlich, +in Busskrampf und Welt- und Willens-Verneinung umschlägt: beides +vielleicht als maskirte Epilepsie deutbar? Aber nirgendswo sollte man +sich der Deutungen mehr entschlagen: um keinen Typus herum ist bisher +eine solche Fülle von Unsinn und Aberglauben aufgewachsen, keiner +scheint bisher die Menschen, selbst die Philosophen, mehr interessirt +zu haben, - es wäre an der Zeit, hier gerade ein Wenig kalt zu werden, +Vorsicht zu lernen, besser noch: wegzusehn, wegzugehn. - Noch im +Hintergrunde der letztgekommenen Philosophie, der Schopenhauerischen, +steht, beinahe als das Problem an sich, dieses schauerliche +Fragezeichen der religiösen Krisis und Erweckung. Wie ist +Willensverneinung möglich? wie ist der Heilige möglich? - das +scheint wirklich die Frage gewesen zu sein, bei der Schopenhauer +zum Philosophen wurde und anfieng. Und so war es eine ächt +Schopenhauerische Consequenz, dass sein überzeugtester Anhänger +(vielleicht auch sein letzter, was Deutschland betrifft -), nämlich +Richard Wagner, das eigne Lebenswerk gerade hier zu Ende brachte und +zuletzt noch jenen furchtbaren und ewigen Typus als Kundry auf der +Bühne vorführte, type vécu, und wie er leibt und lebt; zu gleicher +Zeit, wo die Irrenärzte fast aller Länder Europa's einen Anlass +hatten, ihn aus der Nähe zu studiren, überall, wo die religiöse +Neurose - oder, wie ich es nenne, "das religiöse Wesen" - als +"Heilsarmee" ihren letzten epidemischen Ausbruch und Aufzug gemacht +hat. - Fragt man sich aber, was eigentlich am ganzen Phänomen des +Heiligen den Menschen aller Art und Zeit, auch den Philosophen, so +unbändig interessant gewesen ist: so ist es ohne allen Zweifel der +ihm, anhaftende Anschein des Wunders, nämlich der unmittelbaren +Aufeinanderfolge von Gegensätzen, von moralisch entgegengesetzt +gewertheten Zuständen der Seele: man glaubte hier mit Händen zu +greifen, dass aus einem "schlechten Menschen" mit Einem Male ein +"Heiliger", ein guter Mensch werde. Die bisherige Psychologie litt an +dieser Stelle Schiffbruch: sollte es nicht vornehmlich darum geschehen +sein, weil sie sich unter die Herrschaft der Moral gestellt hatte, +weil sie an die moralischen Werth-Gegensätze selbst glaubte, und diese +Gegensätze in den Text und Thatbestand hineinsah, hineinlas, hinein +deutete? - Wie? Das "Wunder" nur ein Fehler der Interpretation? Ein +Mangel an Philologie? - + + +48. + +Es scheint, dass den lateinischen Rassen ihr Katholicismus viel +innerlicher zugehört, als uns Nordländern das ganze Christentum +überhaupt: und dass folglich der Unglaube in katholischen Ländern +etwas ganz Anderes zu bedeuten hat, als in protestantischen - nämlich +eine Art Empörung gegen den Geist der Rasse, während er bei uns eher +eine Rückkehr zum Geist (oder Ungeist -) der Rasse ist. Wir Nordländer +stammen unzweifelhaft aus Barbaren-Rassen, auch in Hinsicht auf unsere +Begabung zur Religion: wir sind schlecht für sie begabt. Man darf +die Kelten ausnehmen, welche deshalb auch den besten Boden für die +Aufnahme der christlichen Infektion im Norden abgegeben haben: - in +Frankreich kam das christliche Ideal, soweit es nur die blasse Sonne +des Nordens erlaubt hat, zum Ausblühen. Wie fremdartig fromm sind +unserm Geschmack selbst diese letzten französischen Skeptiker noch, +sofern etwas keltisches Blut in ihrer Abkunft ist! Wie katholisch, wie +undeutsch riecht uns Auguste Comte's Sociologie mit ihrer römischen +Logik der Instinkte! Wie jesuitisch jener liebenswürdige und +kluge Cicerone von Port-Royal, Sainte-Beuve, trotz all seiner +Jesuiten-Feindschaft! Und gar Ernest Renan: wie unzugänglich klingt +uns Nordländern die Sprache solch eines Renan, in dem alle Augenblicke +irgend ein Nichts von religiöser Spannung seine in feinerem Sinne +wollüstige und bequem sich bettende Seele um ihr Gleichgewicht bringt! +Man spreche ihm einmal diese schönen Sätze nach, - und was für Bosheit +und Übermuth regt sich sofort in unserer wahrscheinlich weniger +schönen und härteren, nämlich deutscheren Seele als Antwort! -"disons +donc hardiment que la religion est un produit de l'homme normal, que +l'homme est le plus dans le vrai quand il est le plus religieux et le +plus assuré d'une destinée infinie.... C'est quand il est bon qu'il +veut que la vertu corresponde à un ordre éternel, c'est quand il +contemple les choses d'une manière désintéressée qu'il trouve la mort +révoltante et absurde. Comment ne pas supposer que c'est dans ces +moments-là, que l'homme voit le mieux?...." Diese Sätze sind meinen +Ohren und Gewohnheiten so sehr antipodisch, dass, als ich sie fand, +mein erster Ingrimm daneben schrieb "la niaiserie religieuse par +excellence!" - bis mein letzter Ingrimm sie gar noch lieb gewann, +diese Sätze mit ihrer auf den Kopf gestellten Wahrheit! Es ist so +artig, so auszeichnend, seine eignen Antipoden zu haben! + + +49. + +Das, was an der Religiosität der alten Griechen staunen macht, ist die +unbändige Fülle von Dankbarkeit, welche sie ausströmt: - es ist eine +sehr vornehme Art Mensch, welche so vor der Natur und vor dem Leben +steht! - Später, als der Pöbel in Griechenland zum Übergewicht kommt, +überwuchert die Furcht auch in der Religion; und das Christenthum +bereitete sich vor.- + + +50. + +Die Leidenschaft für Gott: es giebt bäurische, treuherzige und +zudringliche Arten, wie die Luther's, - der ganze Protestantismus +entbehrt der südlichen delicatezza. Es giebt ein orientalisches +Aussersichsein darin, wie bei einem unverdient begnadeten oder +erhobenen Sklaven, zum Beispiel bei Augustin, der auf eine +beleidigende Weise aller Vornehmheit der Gebärden und Begierden +ermangelt. Es giebt frauenhafte Zärtlichkeit und Begehrlichkeit darin, +welche schamhaft und unwissend nach einer unio mystica et physica +drängt: wie bei Madame de Guyon. In vielen Fällen erscheint sie +wunderlich genug als Verkleidung der Pubertät eines Mädchens oder +Jünglings; hier und da selbst als Hysterie einer alten Jungfer, auch +als deren letzter Ehrgeiz: - die Kirche hat das Weib schon mehrfach in +einem solchen Falle heilig gesprochen. + + +51. + +Bisher haben sich die mächtigsten Menschen immer noch verehrend +vor dem Heiligen gebeugt, als dem Räthsel der Selbstbezwingung und +absichtlichen letzten Entbehrung: warum beugten sie sich? Sie ahnten +in ihm - und gleichsam hinter dem Fragezeichen seines gebrechlichen +und kläglichen Anscheins - die überlegene Kraft, welche sich an einer +solchen Bezwingung erproben wollte, die Stärke des Willens, in der +sie die eigne Stärke und herrschaftliche Lust wieder erkannten und zu +ehren wussten: sie ehrten Etwas an sich, wenn sie den Heiligen ehrten. +Es kam hinzu, dass der Anblick des Heiligen ihnen einen Argwohn +eingab: ein solches Ungeheures von Verneinung, von Wider-Natur wird +nicht umsonst begehrt worden sein, so sagten und fragten sie sich. +Es giebt vielleicht einen Grund dazu, eine ganz grosse Gefahr, über +welche der Asket, Dank seinen geheimen Zusprechern und Besuchern, +näher unterrichtet sein möchte? Genug, die Mächtigen der Welt lernten +vor ihm eine neue Furcht, sie ahnten eine neue Macht, einen fremden, +noch unbezwungenen Feind: - der "Wille zur Macht" war es, der sie +nöthigte, vor dem Heiligen stehen zu bleiben. Sie mussten ihn +fragen - - + + +52. + +Im jüdischen "alten Testament", dem Buche von der göttlichen +Gerechtigkeit, giebt es Menschen, Dinge und Reden in einem so grossen +Stile, dass das griechische und indische Schriftenthum ihm nichts zur +Seite zu stellen hat. Man steht mit Schrecken und Ehrfurcht vor diesen +ungeheuren Überbleibseln dessen, was der Mensch einstmals war, und +wird dabei über das alte Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen +Europa, das durchaus gegen Asien den "Fortschritt des Menschen" +bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken haben. Freilich: wer selbst +nur ein dünnes zahmes Hausthier ist und nur Hausthier-Bedürfnisse +kennt (gleich unsren Gebildeten von heute, die Christen des +"gebildeten" Christenthums hinzugenommen -), der hat unter jenen +Ruinen weder sich zu verwundern, noch gar sich zu betrüben - der +Geschmack am alten Testament ist ein Prüfstein in Hinsicht auf "Gross" +und "Klein" -: vielleicht, dass er das neue Testament, das Buch +von der Gnade, immer noch eher nach seinem Herzen findet (in +ihm ist viel von dem rechten zärtlichen dumpfen Betbrüder- und +Kleinen-Seelen-Geruch). Dieses neue Testament, eine Art Rokoko des +Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem alten Testament zu Einem Buche +zusammengeleimt zu haben, als "Bibel", als "das Buch an sich": das +ist vielleicht die grösste Verwegenheit und "Sünde wider den Geist", +welche das litterarische Europa auf dem Gewissen hat. + + +53. + +Warum heute Atheismus? - "Der Vater" in Gott ist gründlich widerlegt; +ebenso "der Richter", "der Belohner". Insgleichen sein "freier Wille": +er hört nicht, - und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu +helfen. Das Schlimmste ist: er scheint unfähig, sich deutlich +mitzutheilen: ist er unklar? - Dies ist es, was ich, als Ursachen für +den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, +fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass +zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, - dass er aber +gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt. + + +54. + +Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Descartes +- und zwar mehr aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs +- macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten +Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- +und Prädikat-Begriffs - das heisst: ein Attentat auf die +Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie, +als eine erkenntnisstheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, +antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs +antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an "die Seele", wie man an +die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: man sagte, "Ich" +ist Bedingung, "denke" ist Prädikat und bedingt - Denken ist eine +Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muss. Nun +versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob +man nicht aus diesem Netze heraus könne, - ob nicht vielleicht das +Umgekehrte wahr sei: "denke" Bedingung, "Ich" bedingt; "Ich" also +erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird. Kant +wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht +bewiesen werden könne, - das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer +Scheinexistenz des Subjekts, also "der Seele", mag ihm nicht immer +fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie +schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist. + + +55. + +Es giebt eine grosse Leiter der religiösen Grausamkeit, mit vielen +Sprossen; aber drei davon sind die wichtigsten. Einst opferte man +seinem Gotte Menschen, vielleicht gerade solche, welche man am besten +liebte, - dahin gehören die Erstlings-Opfer aller Vorzeit-Religionen, +dahin auch das Opfer des Kaisers Tiberius in der Mithrasgrotte der +Insel Capri, jener schauerlichste aller römischen Anachronismen. Dann, +in der moralischen Epoche der Menschheit, opferte man seinem Gotte +die stärksten Instinkte, die man besass, seine "Natur"; diese +Festfreude glänzt im grausamen Blicke des Asketen, des begeisterten +"Wider-Natürlichen". Endlich: was blieb noch übrig zu opfern? Musste +man nicht endlich einmal alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle +Hoffnung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukünftige +Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern? musste man nicht Gott selber +opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, den Stein, die Dummheit, +die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten? Für das Nichts Gott +opfern - dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem +Geschlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart: wir Alle +kennen schon etwas davon. - + + +56. + +Wer, gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Begierde sich lange +darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der +halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der +er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt +der Schopenhauerischen Philosophie; wer wirklich einmal mit einem +asiatischen und überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller +möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat - jenseits von +Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann +und Wahne der Moral -, der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es +eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: +für das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten +Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und +vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wieder haben +will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur +zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur +zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies +Schauspiel nöthig hat - und nöthig macht: weil er immer wieder sich +nöthig hat - und nöthig macht - - Wie? Und dies wäre nicht - circulus +vitiosus deus? + + +57. + +Mit der Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne +und gleichsam der Raum um den Menschen: seine Welt wird tiefer, immer +neue Sterne, immer neue Räthsel und Bilder kommen ihm in Sicht. +Vielleicht war Alles, woran das Auge des Geistes seinen Scharfsinn und +Tiefsinn geübt hat, eben nur ein Anlass zu seiner Übung, eine Sache +des Spiels, Etwas für Kinder und Kindsköpfe. Vielleicht erscheinen +uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten gekämpft und +gelitten worden ist, die Begriffe "Gott" und "Sünde", nicht wichtiger, +als dem alten Manne ein Kinder-Spielzeug und Kinder-Schmerz erscheint, +- und vielleicht hat dann "der alte Mensch" wieder ein andres +Spielzeug und einen andren Schmerz nöthig, - immer noch Kinds genug, +ein ewiges Kind! + + +58. + +Hat man wohl beachtet, in wiefern zu einem eigentlich religiösen +Leben (und sowohl zu seiner mikroskopischen Lieblings-Arbeit der +Selbstprüfung, als zu jener zarten Gelassenheit, welche sich "Gebet" +nennt und eine beständige Bereitschaft für das "Kommen Gottes" ist) +der äussere Müssiggang oder Halb-Müssiggang noth thut, ich meine der +Müssiggang mit gutem Gewissen, von Alters her, von Geblüt, dem das +Aristokraten-Gefühl nicht ganz fremd ist, dass Arbeit schändet, +- nämlich Seele und Leib gemein macht? Und dass folglich die +moderne, lärmende, Zeit-auskaufende, auf sich stolze, dumm-stolze +Arbeitsamkeit, mehr als alles Übrige, gerade zum "Unglauben" erzieht +und vorbereitet? Unter Denen, welche zum Beispiel jetzt in Deutschland +abseits von der Religion leben, finde ich Menschen von vielerlei Art +und Abkunft der "Freidenkerei", vor Allem aber eine Mehrzahl solcher, +denen Arbeitsamkeit, von Geschlecht zu Geschlecht, die religiösen +Instinkte aufgelöst hat: so dass sie gar nicht mehr wissen, wozu +Religionen nütze sind, und nur mit einer Art stumpfen Erstaunens ihr +Vorhandensein in der Welt gleichsam registriren. Sie fühlen sich schon +reichlich in Anspruch genommen, diese braven Leute, sei es von ihren +Geschäften, sei es von ihren Vergnügungen, gar nicht zu reden vom +"Vaterlande" und den Zeitungen und den "Pflichten der Familie": es +scheint, dass sie gar keine Zeit für die Religion übrig haben, zumal +es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäft oder +ein neues Vergnügen handelt, - denn unmöglich, sagen sie sich, geht +man in die Kirche, rein um sich die gute Laune zu verderben. Sie +sind keine Feinde der religiösen Gebräuche; verlangt man in gewissen +Fällen, etwa von Seiten des Staates, die Betheiligung an solchen +Gebräuchen, so thun sie, was man verlangt, wie man so Vieles thut -, +mit einem geduldigen und bescheidenen Ernste und ohne viel Neugierde +und Unbehagen: - sie leben eben zu sehr abseits und ausserhalb, um +selbst nur ein Für und Wider in solchen Dingen bei sich nöthig zu +finden. Zu diesen Gleichgültigen gehört heute die Überzahl der +deutschen Protestanten in den mittleren Ständen, sonderlich in den +arbeitsamen grossen Handels- und Verkehrscentren; ebenfalls die +Überzahl der arbeitsamen Gelehrten und der ganze Universitäts-Zubehör +(die Theologen ausgenommen, deren Dasein und Möglichkeit daselbst dem +Psychologen immer mehr und immer feinere Räthsel zu rathen giebt). +Man macht sich selten von Seiten frommer oder auch nur kirchlicher +Menschen eine Vorstellung davon, wieviel guter Wille, man könnte +sagen, willkürlicher Wille jetzt dazu gehört, dass ein deutscher +Gelehrter das Problem der Religion ernst nimmt; von seinem ganzen +Handwerk her (und, wie gesagt, von der handwerkerhaften Arbeitsamkeit +her, zu welcher ihn sein modernes Gewissen verpflichtet) neigt er zu +einer überlegenen, beinahe gütigen Heiterkeit gegen die Religion, zu +der sich bisweilen eine leichte Geringschätzung mischt, gerichtet +gegen die "Unsauberkeit" des Geistes, welche er überall dort +voraussetzt, wo man sich, noch zur Kirche bekennt. Es gelingt dem +Gelehrten erst mit Hülfe der Geschichte (also nicht von seiner +persönlichen Erfahrung aus), es gegenüber den Religionen zu einem +ehrfurchtsvollen Ernste und zu einer gewissen scheuen Rücksicht zu +bringen; aber wenn er sein Gefühl sogar bis zur Dankbarkeit gegen sie +gehoben hat, so ist er mit seiner Person auch noch keinen Schritt weit +dem, was noch als Kirche oder Frömmigkeit besteht, näher gekommen: +vielleicht umgekehrt. Die praktische Gleichgültigkeit gegen religiöse +Dinge, in welche hinein er geboren und erzogen ist, pflegt sich bei +ihm zur Behutsamkeit und Reinlichkeit zu sublimiren, welche die +Berührung mit religiösen Menschen und Dingen scheut; und es kann +gerade die Tiefe seiner Toleranz und Menschlichkeit sein, die ihn vor +dem feinen Nothstande ausweichen heisst, welchen das Toleriren selbst +mit sich bringt. - Jede Zeit hat ihre eigene göttliche Art von +Naivetät, um deren Erfindung sie andre Zeitalter beneiden dürfen: - +und wie viel Naivetät, verehrungswürdige, kindliche und unbegrenzt +tölpelhafte Naivetät liegt in diesem Überlegenheits-Glauben des +Gelehrten, im guten Gewissen seiner Toleranz, in der ahnungslosen +schlichten Sicherheit, mit der sein Instinkt den religiösen Menschen +als einen minderwerthigen und niedrigeren Typus behandelt, über den +er selbst hinaus, hinweg, hinauf gewachsen ist, - er, der kleine +anmaassliche Zwerg und Pöbelmann, der fleissig-flinke Kopf- und +Handarbeiter der "Ideen", der "modernen Ideen"! + + +59. + +Wer tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin +liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender +Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein. Man +findet hier und da eine leidenschaftliche und übertreibende Anbetung +der "reinen Formen", bei Philosophen wie bei Künstlern: möge Niemand +zweifeln, dass wer dergestalt den Cultus der Oberfläche nöthig hat, +irgend wann einmal einen unglückseligen Griff unter sie gethan hat. +Vielleicht giebt es sogar hinsichtlich dieser verbrannten Kinder, +der geborenen Künstler, welche den Genuss des Lebens nur noch in der +Absicht finden, sein Bild zu fälschen (gleichsam in einer langwierigen +Rache am Leben -), auch noch eine Ordnung des Ranges: man könnte den +Grad, in dem ihnen das Leben verleidet ist, daraus abnehmen, bis wie +weit sie sein Bild verfälscht, verdünnt, verjenseitigt, vergöttlicht +zu sehn wünschen, - man könnte die homines religiosi mit unter +die Künstler rechnen, als ihren höchsten Rang. Es ist die tiefe +argwöhnische Furcht vor einem unheilbaren Pessimismus, der ganze +Jahrtausende zwingt, sich mit den Zähnen in eine religiöse +Interpretation des Daseins zu verbeissen: die Furcht jenes Instinktes, +welcher ahnt, dass man der Wahrheit zu früh habhaft werden könnte, ehe +der Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist.... +Die Frömmigkeit, das "Leben in Gott", mit diesem Blicke betrachtet, +erschiene dabei als die feinste und letzte Ausgeburt der Furcht +vor der Wahrheit, als Künstler-Anbetung und -Trunkenheit vor der +consequentesten aller Fälschungen, als der Wille zur Umkehrung der +Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden Preis. Vielleicht, dass es bis jetzt +kein stärkeres Mittel gab, den Menschen selbst zu verschönern, als +eben Frömmigkeit: durch sie kann der Mensch so sehr Kunst, Oberfläche, +Farbenspiel, Güte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr +leidet. - + + +60. + +Den Menschen zu lieben um Gottes Willen - das war bis jetzt das +vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht +worden ist. Dass die Liebe zum Menschen ohne irgendeine heiligende +Hinterabsicht eine Dummheit und Thierheit mehr ist, dass der Hang zu +dieser Menschenliebe erst von einem höheren Hange sein Maass, seine +Feinheit, sein Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen hat: - +welcher Mensch es auch war, der dies zuerst empfunden und "erlebt" +hat, wie sehr auch seine Zunge gestolpert haben mag, als sie +versuchte, solch eine Zartheit auszudrücken, er bleibe uns in alle +Zeiten heilig und verehrenswerth, als der Mensch, der am höchsten +bisher geflogen und am schönsten sich verirrt hat! + + +61. + +Der Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister als der +Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die +Gesammt-Entwicklung des Menschen hat: dieser Philosoph wird sich der +Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie +er sich der jeweiligen politischen und wirthschaftlichen Zustände +bedienen wird. Der auslesende, züchtende, das heisst immer ebensowohl +der zerstörende als der schöpferische und gestaltende Einfluss, +welcher mit Hülfe der Religionen ausgeübt werden kann, ist je nach der +Art Menschen, die unter ihren Bann und Schutz gestellt werden, ein +vielfacher und verschiedener. Für die Starken, Unabhängigen, zum +Befehlen, Vorbereiteten und Vorbestimmten, in denen die Vernunft +und Kunst einer regierenden Rasse leibhaft wird, ist, Religion ein +Mittelmehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können: +als ein Band, das Herrscher und Unterthanen gemeinsam bindet und +die Gewissen der Letzteren, ihr Verborgenes und Innerlichstes, das +sich gerne dem Gehorsam entziehen möchte, den Ersteren verräth und +überantwortet; und falls einzelne Naturen einer solchen vornehmen +Herkunft, durch hohe Geistigkeit, einem abgezogeneren und +beschaulicheren Leben sich zuneigen und nur die feinste Artung +des Herrschens (über ausgesuchte Jünger oder Ordensbrüder) sich +vorbehalten, so kann Religion selbst als Mittel benutzt werden, sich +Ruhe vor dem Lärm und der Mühsal des gröberen Regierens und Reinheit +vor dem nothwendigen Schmutz alles Politik-Machens zu schaffen. So +verstanden es zum Beispiel die Brahmanen: mit Hülfe einer religiösen +Organisation gaben sie sich die Macht, dem Volke seine Könige zu +ernennen, während sie sich selber abseits und ausserhalb hielten +und fühlten, als die Menschen höherer und überköniglicher Aufgaben. +Inzwischen giebt die Religion auch einem Theile der Beherrschten +Anleitung und Gelegenheit, sich auf einstmaliges Herrschen und +Befehlen vorzubereiten, jenen langsam heraufkommenden Klassen und +Ständen nämlich, in denen, durch glückliche Ehesitten, die Kraft und +Lust des Willens, der Wille zur Selbstbeherrschung, immer im Steigen +ist: - ihnen bietet die Religion Anstösse und Versuchungen genug, +die Wege zur höheren Geistigkeit zu gehen, die Gefühle der grossen +Selbstüberwindung, des Schweigens und der Einsamkeit zu erproben: - +Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und +Veredelungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel +Herr werden will und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet. +Den gewöhnlichen Menschen endlich, den Allermeisten, welche zum Dienen +und zum allgemeinen Nutzen da sind und nur insofern dasein dürfen, +giebt die Religion eine unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und +Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams, +ein Glück und Leid mehr mit Ihres-Gleichen und Etwas von Verklärung +und Verschönerung, Etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags, der +ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbthier-Armuth ihrer Seele. Religion +und religiöse Bedeutsamkeit des Lebens legt Sonnenglanz auf solche +immer geplagte Menschen und macht ihnen selbst den eigenen Anblick +erträglich, sie wirkt, wie eine epikurische Philosophie auf Leidende +höheren Ranges zu wirken pflegt, erquickend, verfeinernd, das Leiden +gleichsam ausnützend, zuletzt gar heiligend und rechtfertigend. +Vielleicht ist am Christenthum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als +ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in +eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen +an der wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben, - und +gerade diese Härte thut Noth! - bei sich festzuhalten. + + +62. + +Zuletzt freilich, um solchen Religionen auch die schlimme +Gegenrechnung zu machen und ihre unheimliche Gefährlichkeit an's Licht +zu stellen: - es bezahlt sich immer theuer und fürchterlich, wenn +Religionen nicht als Züchtungs- und Erziehungsmittel in der Hand des +Philosophen, sondern von sich aus und souverän walten, wenn sie selber +letzte Zwecke und nicht Mittel neben anderen Mitteln sein wollen. Es +giebt bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss +von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig +Leidenden; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die +Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht +festgestellte Thier ist, die spärliche Ausnahme. Aber noch schlimmer: +je höher geartet der Typus eines Menschen ist, der durch ihn +dargestellt wird, um so mehr steigt noch die Unwahrscheinlichkeit, +dass er geräth: das Zufällige, das Gesetz des Unsinns im gesammten +Haushalte der Menschheit zeigt sich am erschrecklichsten in +seiner zerstörerischen Wirkung auf die höheren Menschen, deren +Lebensbedingungen fein, vielfach und schwer auszurechnen sind. Wie +verhalten sich nun die genannten beiden grössten Religionen zu diesem +Überschuss der misslungenen Fälle? Sie suchen zu erhalten, im Leben +festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie nehmen +grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben +allen Denen Recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und +möchten es durchsetzen, dass jede andre Empfindung des Lebens als +falsch gelte und unmöglich werde. Möchte man diese schonende und +erhaltende Fürsorge, insofern sie neben allen anderen auch dem +höchsten, bisher fast immer auch leidendsten Typus des Menschen gilt +und galt, noch so hoch anschlagen: in der Gesammt-Abrechnung gehören +die bisherigen, nämlich souveränen Religionen zu den Hauptursachen, +welche den Typus "Mensch" auf einer niedrigeren Stufe festhielten, +- sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn sollte. Man hat +ihnen Unschätzbares zu danken; und wer ist reich genug an Dankbarkeit, +um nicht vor alle dem arm zu werden, was zum Beispiel die "geistlichen +Menschen" des Christenthums bisher für Europa gethan haben! Und doch, +wenn sie den Leidenden Trost, den Unterdrückten und Verzweifelnden +Muth, den Unselbständigen einen Stab und Halt gaben und die +Innerlich-Zerstörten und Wild-Gewordenen von der Gesellschaft weg in +Klöster und seelische Zuchthäuser lockten: was mussten sie ausserdem +thun, um mit gutem Gewissen dergestalt grundsätzlich an der Erhaltung +alles Kranken und Leidenden, das heisst in That und Wahrheit an +der Verschlechterung der europäischen Rasse zu arbeiten? Alle +Werthschätzungen auf den Kopf stellen - das mussten sie! Und die +Starken zerbrechen, die grossen Hoffnungen ankränkeln, das Glück +in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche, +Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und +wohlgerathensten Typus "Mensch" zu eigen sind, in Unsicherheit, +Gewissens-Noth, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum +Irdischen und zur Herrschaft über die Erde in Hass gegen die Erde +und das Irdische verkehren - das stellte sich die Kirche zur +Aufgabe und musste es sich stellen, bis für ihre Schätzung endlich +"Entweltlichung", "Entsinnlichung" und "höherer Mensch" in Ein +Gefühl zusammenschmolzen. Gesetzt, dass man mit dem spöttischen +und unbetheiligten Auge eines epikurischen Gottes die wunderlich +schmerzliche und ebenso grobe wie feine Komödie des europäischen +Christenthums zu überschauen vermöchte, ich glaube, man fände kein +Ende mehr zu staunen und zu lachen: scheint es denn nicht, dass Ein +Wille über Europa durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat, aus dem +Menschen eine sublime Missgeburt zu machen? Wer aber mit umgekehrten +Bedürfnissen, nicht epikurisch mehr, sondern mit irgend einem +göttlichen Hammer in der Hand auf diese fast willkürliche Entartung +und Verkümmerung des Menschen zuträte, wie sie der christliche +Europäer ist (Pascal zum Beispiel), müsste er da nicht mit Grimm, mit +Mitleid, mit Entsetzen schreien: "Oh ihr Tölpel, ihr anmaassenden +mitleidigen Tölpel, was habt ihr da gemacht! War das eine Arbeit +für eure Hände! Wie habt ihr mir meinen schönsten Stein verhauen +und verhunzt! Was nahmt ihr euch heraus!" - Ich wollte sagen: +das Christenthum war bisher die verhängnissvollste Art von +Selbst-Überhebung. Menschen, nicht hoch und hart genug, um am +Menschen als Künstler gestalten zu dürfen; Menschen, nicht stark und +fernsichtig genug, um, mit einer erhabenen Selbst-Bezwingung, das +Vordergrund-Gesetz des tausendfältigen Missrathens und Zugrundegehns +walten zu lassen; Menschen, nicht vornehm genug, um die abgründlich +verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu +sehen: - solche Menschen haben, mit ihrem "Gleich vor Gott", bisher +über dem Schicksale Europa's gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, +fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches +und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer.... + + + + +Viertes Hauptstück: + +Sprüche und Zwischenspiele. + +63. + +Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine +Schüler ernst, - sogar sich selbst. + + +64. + +"Die Erkenntniss um ihrer selbst willen" - das ist der letzte +Fallstrick, den die Moral legt: damit verwickelt man sich noch einmal +völlig in sie. + + +65. + +Der Reiz der Erkenntniss wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr +so viel Scham zu überwinden wäre. + + +65 a. + +Man ist am unehrlichsten gegen seinen Gott: er darf nicht sündigen! + + +66. + +Die Neigung, sich herabzusetzen, sich bestehlen, belügen und ausbeuten +zu lassen, könnte die Scham eines Gottes unter Menschen sein. + + +67. + +Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller +Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott. + + +68. + +"Das habe ich gethan" sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan +haben - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - giebt das +Gedächtniss nach. + + +69. + +Man hat schlecht dem Leben zugeschaut, wenn man nicht auch die Hand +gesehn hat, die auf eine schonende Weise - tödtet. + + +70. + +Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer +wiederkommt. + + +71. + +Der Weise als Astronom. - So lange du noch die Sterne fühlst als ein +"Über-dir", fehlt dir noch der Blick des Erkennenden. + + +72. + +Nicht die Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfindung macht die +hohen Menschen. + + +73. + +Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus. + + +73 a. + +Mancher Pfau verdeckt vor Aller Augen seinen Pfauenschweif - und +heisst es seinen Stolz. + + +74. + +Ein Mensch mit Genie ist unausstehlich, wenn er nicht mindestens noch +zweierlei dazu besitzt: Dankbarkeit und Reinlichkeit. + + +75. + +Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den +letzten Gipfel seines Geistes hinauf. + + +76. + +Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich +selber her. + + +77. + +Mit seinen Grundsätzen will man seine Gewohnheiten tyrannisiren oder +rechtfertigen oder ehren oder beschimpfen oder verbergen: - zwei +Menschen mit gleichen Grundsätzen wollen damit wahrscheinlich noch +etwas Grund-Verschiedenes. + + +78. + +Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als +Verächter. + + +79. + +Eine Seele, die sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth +ihren Bodensatz: - ihr Unterstes kommt herauf. + + +80. + +Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn. - Was +meinte jener Gott, welcher anrieth: "erkenne dich selbst"! Hiess es +vielleicht: "höre auf, dich etwas anzugehn! werde objektiv!" - Und +Sokrates? - Und der "wissenschaftliche Mensch"? - + + +81. + +Es ist furchtbar, im Meere vor Durst zu sterben. Müsst ihr denn gleich +eure Wahrheit so salzen, dass sie nicht einmal mehr - den Durst +löscht? + + +82. + +"Mitleiden mit Allen" - wäre Härte und Tyrannei mit dir, mein Herr +Nachbar! - + + +83. + +Der Instinkt. - Wenn das Haus brennt, vergisst man sogar das +Mittagsessen. - Ja: aber man holt es auf der Asche nach. + + +84. + +Das Weib lernt hassen, in dem Maasse, in dem es zu bezaubern - +verlernt. + + +85. + +Die gleichen Affekte sind bei Mann und Weib doch im Tempo verschieden: +deshalb hören Mann und Weib nicht auf, sich misszuverstehn. + + +86. + +Die Weiber selber haben im Hintergrunde aller persönlichen Eitelkeit +immer noch ihre unpersönliche Verachtung - für das "Weib". + + +87. + +Gebunden Herz, freier Geist. - Wenn man sein Herz hart bindet und +gefangen legt, kann man seinem Geist viele Freiheiten geben: ich sagte +das schon Ein Mal. Aber man glaubt mir's nicht, gesetzt, dass man's +nicht schon weiss..... + + +88. + +Sehr klugen Personen fängt man an zu misstrauen, wenn sie verlegen +werden. + + +89. + +Fürchterliche Erlebnisse geben zu rathen, ob Der, welcher sie erlebt, +nicht etwas Fürchterliches ist. + + +90. + +Schwere, Schwermüthige Menschen werden gerade durch das, was Andre +schwer macht, durch Hass und Liebe, leichter und kommen zeitweilig an +ihre Oberfläche. + + +91. + +So kalt, so eisig, dass man sich an ihm die Finger verbrennt! Jede +Hand erschrickt, die ihn anfasst! - Und gerade darum halten Manche ihn +für glühend. + + +92. + +Wer hat nicht für seinen guten Ruf schon einmal - sich selbst +geopfert? - + + +93. + +In der Leutseligkeit ist Nichts von Menschenhass, aber eben darum +allzuviel von Menschenverachtung. + + +94. + +Reife des Mannes: das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man +als Kind hatte, beim Spiel. + + +95. + +Sich seiner Unmoralität schämen: das ist eine Stufe auf der Treppe, an +deren Ende man sich auch seiner Moralität schämt. + + +96. + +Man soll vom Leben scheiden wie Odysseus von Nausikaa schied, - mehr +segnend als verliebt. + + +97. + +Wie? Ein grosser Mann? Ich sehe immer nur den Schauspieler seines +eignen Ideals. + + +98. + +Wenn man sein Gewissen dressirt, so küsst es uns zugleich, indem es +beisst. + + +99. + +Der Enttäuschte spricht. - "Ich horchte auf Widerhall, und ich hörte +nur Lob -" + + +100. + +Vor uns selbst stellen wir uns Alle einfältiger als wir sind: wir +ruhen uns so von unsern Mitmenschen aus. + + +101. +Heute möchte sich ein Erkennender leicht als Thierwerdung Gottes +fühlen. + + +102. + +Gegenliebe entdecken sollte eigentlich den Liebenden über das geliebte +Wesen ernüchtern. "Wie? es ist bescheiden genug, sogar dich zu lieben? +Oder dumm genug? Oder - oder -" + + +103. + +Die Gefahr im Glücke. - "Nun gereicht mir Alles zum Besten, nunmehr +liebe ich jedes Schicksal: - wer hat Lust, mein Schicksal zu sein?" + + +104. + +Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe +hindert die Christen von heute, uns - zu verbrennen. + + +105. + +Dem freien Geiste, dem "Frommen der Erkenntniss" - geht die pia fraus +noch mehr wider den Geschmack (wider seine "Frömmigkeit") als die +impia fraus. Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum +Typus "freier Geist" gehört, - als seine Unfreiheit. + + +106. + +Vermöge der Musik geniessen sich die Leidenschaften selbst. + + +107. + +Wenn der Entschluss einmal gefasst ist, das Ohr auch für den besten +Gegengrund zu schliessen: Zeichen des starken Charakters. Also ein +gelegentlicher Wille zur Dummheit. + + +108. + +Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische +Ausdeutung von Phänomenen..... + + +109. + +Der Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen: er +verkleinert und verleumdet sie. + + +110. + +Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das +schöne Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden. + + +111. + +Unsre Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verletzen, wenn eben +unser Stolz verletzt wurde. + + +112. + +Wer sich zum Schauen und nicht zum Glauben vorherbestimmt fühlt, dem +sind alle Gläubigen zu lärmend und zudringlich: er erwehrt sich ihrer. + + +113. + +"Du willst ihn für dich einnehmen? So stelle dich vor ihm verlegen -" + + +114. + +Die ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe, und die +Scham in dieser Erwartung, verdirbt den Frauen von vornherein alle +Perspektiven. + + +115. + +Wo nicht Liebe oder Hass mitspielt, spielt das Weib mittelmässig. + + +116. + +Die grossen Epochen unsres Lebens liegen dort, wo wir den Muth +gewinnen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen. + + +117. + +Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille +eines anderen oder mehrer anderer Affekte. + + +118. + +Es giebt eine Unschuld der Bewunderung: Der hat sie, dem es noch nicht +in den Sinn gekommen ist, auch er könne einmal bewundert werden. + + +119. + +Der Ekel vor dem Schmutze kann so gross sein, dass er uns hindert, uns +zu reinigen, - uns zu "rechtfertigen". + + +120. + +Die Sinnlichkeit übereilt oft das Wachsthum der Liebe, so dass die +Wurzel schwach bleibt und leicht auszureissen ist. + + +121. + +Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er +Schriftsteller werden wollte - und dass er es nicht besser lernte. + + +122. + +Sich über ein Lob freuen ist bei Manchem nur eine Höflichkeit des +Herzens - und gerade das Gegenstück einer Eitelkeit des Geistes. + + +123. + +Auch das Concubinat ist corrumpirt worden: - durch die Ehe. + + +124. + +Wer auf dem Scheiterhaufen noch frohlockt, triumphirt nicht über +den Schmerz, sondern darüber, keinen Schmerz zu fühlen, wo er ihn +erwartete. Ein Gleichniss. + + +125. + +Wenn wir über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die +Unbequemlichkeit hart an, die er uns damit macht. + + +126. + +Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben grossen +Männern zu kommen. - Ja: und um dann um sie herum zu kommen. + + +127. + +Allen rechten Frauen geht Wissenschaft wider die Scham. Es ist ihnen +dabei zu Muthe, als ob man damit ihnen unter die Haut, - schlimmer +noch! unter Kleid und Putz gucken wolle. + + +128. + +Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst +du noch die Sinne zu ihr verführen. + + +129. + +Der Teufel hat die weitesten Perspektiven für Gott, deshalb hält er +sich von ihm so fern: - der Teufel nämlich als der älteste Freund der +Erkenntniss. + + +130. + +Was jemand ist, fängt an, sich zu verrathen, wenn sein Talent +nachlässt, - wenn er aufhört, zu zeigen, was er kann. Das Talent ist +auch ein Putz; ein Putz ist auch ein Versteck. + + +131. + +Die Geschlechter täuschen sich über einander: das macht, sie ehren +und lieben im Grunde nur sich selbst (oder ihr eigenes ideal, um es +gefälliger auszudrücken -). So will der Mann das Weib friedlich, - +aber gerade das Weib ist wesentlich unfriedlich, gleich der Katze, so +gut es sich auch auf den Anschein des Friedens eingeübt hat. + + +132. + +Man wird am besten für seine Tugenden bestraft. + + +133. + +Wer den Weg zu seinem Ideale nicht zu finden weiss, lebt +leichtsinniger und frecher, als der Mensch ohne Ideal. + + +134. + +Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute +Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit. + + +135. + +Der Pharisäismus ist nicht eine Entartung am guten Menschen: ein gutes +Stück davon ist vielmehr die Bedingung von allem Gut-sein. + + +136. + +Der Eine sucht einen Geburtshelfer für seine Gedanken, der Andre +Einen, dem er helfen kann: so entsteht ein gutes Gespräch. + + +137. + +Im Verkehre mit Gelehrten und Künstlern verrechnet man sich leicht in +umgekehrter Richtung: man findet hinter einem merkwürdigen Gelehrten +nicht selten einen mittelmässigen Menschen, und hinter einem +mittelmässigen Künstler sogar oft - einen sehr merkwürdigen Menschen. + + +138. + +Wir machen es auch im Wachen wie im Traume: wir erfinden und erdichten +erst den Menschen, mit dem wir verkehren - und vergessen es sofort. + + +139. + +In der Rache und in der Liebe ist das Weib barbarischer, als der Mann. + + +140. + +Rath als Räthsel. - "Soll das Band nicht reissen, - musst du erst +drauf beissen." + + +141. + +Der Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so +leicht für einen Gott hält. + + +142. + +Das züchtigste Wort, das ich gehört habe: "Dans le véritable amour +c'est l'âme, qui enveloppe le corps." + + +143. + +Was wir am besten thun, von dem möchte unsre Eitelkeit, dass es grade +als Das gelte, was uns am schwersten werde. Zum Ursprung mancher +Moral. + + +144. + +Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer +Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt +zu einer gewissen Männlichkeit des Geschmacks; der Mann ist nämlich, +mit Verlaub, "das unfruchtbare Thier". + + +145. + +Mann und Weib im Ganzen verglichen, darf man sagen: das Weib hätte +nicht das Genie des Putzes, wenn es nicht den Instinkt der zweiten +Rolle hätte. + + +146. + +Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum +Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der +Abgrund auch in dich hinein. + + +147. + +Aus alten florentinischen Novellen, überdies - aus dem Leben: buona +femmina e mala femmina vuol bastone. Sacchetti Nov. 86. + + +148. + +Den Nächsten zu einer guten Meinung verführen und hinterdrein an diese +Meinung des Nächsten gläubig glauben: wer thut es in diesem Kunststück +den Weibern gleich? - + + +149. + +Was eine Zeit als böse empfindet, ist gewöhnlich ein unzeitgemässer +Nachschlag dessen, was ehemals als gut empfunden wurde, - der +Atavismus eines älteren Ideals. + + +150. + +Um den Helden herum wird Alles zur Tragödie, um den Halbgott herum +Alles zum Satyrspiel; und um Gott herum wird Alles - wie? vielleicht +zur "Welt"? - + + +151. + +Ein Talent haben ist nicht genug: man muss auch eure Erlaubniss dazu +haben, - wie? meine Freunde? + + +152. + +"Wo der Baum der Erkenntniss steht, ist immer das Paradies": so reden +die ältesten und die jüngsten Schlangen. + + +153. + +Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse. + + +154. + +Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Misstrauen, die Spottlust +sind Anzeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehört in die +Pathologie. + + +155. + +Der Sinn für das Tragische nimmt mit der Sinnlichkeit ab und zu. + + +156. + +Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, - aber bei Gruppen, +Parteien, Völkern, Zeiten die Regel. + + +157. + +Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm +kommt man gut über manche böse Nacht hinweg. + + +158. + +Unserm stärksten Triebe, dem Tyrannen in uns, unterwirft sich nicht +nur unsre Vernunft, sondern auch unser Gewissen. + + +159. + +Man muss vergelten, Gutes und Schlimmes: aber warum gerade an der +Person, die uns Gutes oder Schlimmes that? + + +160. + +Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie +mittheilt. + + +161. + +Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos: sie beuten sie aus. + + +162. + +"Unser Nächster ist nicht unser Nachbar, sondern dessen Nachbar" - so +denkt jedes Volk. + + +163. + +Die Liebe bringt die hohen und verborgenen Eigenschaften eines +Liebenden an's Licht, - sein Seltenes, Ausnahmsweises: insofern +täuscht sie leicht über Das, was Regel an ihm ist. + + +164. + +Jesus sagte zu seinen Juden: "das Gesetz war für Knechte, - liebt +Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die +Moral an!" - + + +165. + +Angesichts jeder Partei. - Ein Hirt hat immer auch noch einen +Leithammel nöthig, - oder er muss selbst gelegentlich Hammel sein. + + +166. + +Man lügt wohl mit dem Munde; aber mit dem Maule, das man dabei macht, +sagt man doch noch die Wahrheit. + + +167. + +Bei harten Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham - und etwas +Kostbares. + + +168. + +Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: - er starb zwar nicht +daran, aber entartete, zum Laster. + + +169. + +Viel von sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen. + + +170. + +Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit, als im Tadel. + + +171. + +Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntniss beinahe zum Lachen, +wie zarte Hände an einem Cyklopen. + + +172. + +Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man +nicht Alle umarmen kann): aber gerade Das darf man dem Beliebigen +nicht verrathen..... + + +173. + +Man hasst nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn +man gleich oder höher schätzt. + + +174. + +Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein Fuhrwerk +eurer Neigungen, - auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder +unausstehlich? + + +175. + +Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte. + + +176. + +Die Eitelkeit Andrer geht uns nur dann wider den Geschmack, wenn sie +wider unsre Eitelkeit geht. + + +177. + +Ober Das, was "Wahrhaftigkeit" ist, war vielleicht noch Niemand +wahrhaftig genug. + + +178. + +Klugen Menschen glaubt man ihre Thorheiten nicht: welche Einbusse an +Menschenrechten! + + +179. + +Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig +dagegen, dass wir uns inzwischen "gebessert" haben. + + +180. + +Es giebt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten +Glaubens an eine Sache ist. + + +181. + +Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo Einem geflucht wird. + + +182. + +Die Vertraulichkeit des überlegenen erbittert, weil sie nicht +zurückgegeben werden darf. - + + +183. + +"Nicht dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube, +hat mich erschüttert." - + + +184. + +Es giebt einen Übermuth der Güte, welcher sich wie Bosheit ausnimmt. + + +185. + +"Er missfällt mir." - Warum? - "Ich bin ihm nicht gewachsen." - Hat je +ein Mensch so geantwortet? + + + + +Fünftes Hauptstück: + +Zur Naturgeschichte der Moral. + +186. + +Die moralische Empfindung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät, +vielfach, reizbar, raffinirt, als die dazu gehörige "Wissenschaft +der Moral" noch jung, anfängerhaft, plump und grobfingrig ist: - ein +anziehender Gegensatz, der bisweilen in der Person eines Moralisten +selbst sichtbar und leibhaft wird. Schon das Wort "Wissenschaft der +Moral" ist in Hinsicht auf Das, was damit bezeichnet wird, viel +zu hochmüthig und wider den guten Geschmack: welcher immer ein +Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man sollte, +in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth +thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials, +begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs +zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, +zeugen und zu Grunde gehn, - und, vielleicht, Versuche, die +wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden +Krystallisation anschaulich zu machen, - als Vorbereitung zu einer +Typenlehre der Moral. Freilich: man war bisher nicht so bescheiden. +Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der +lachen macht, von sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres, +Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft +befassten: sie wollten die Begründung der Moral, - und jeder Philosoph +hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die Moral selbst +aber galt als "gegeben". Wie ferne lag ihrem plumpen Stolze jene +unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer +Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein +genug sein könnten! Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen die +moralischen facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder +als zufällige Abkürzung kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung, +ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima's und +Erdstriches, - gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker, +Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig +wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral +gar nicht zu Gesichte: - als welche alle erst bei einer Vergleichung +vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen "Wissenschaft der +Moral" fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der +Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas +Problematisches gebe. Was die Philosophen "Begründung der Moral" +nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur +eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein +neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb +einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art +Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: - und +jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, +Vivisektion eben dieses Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit +welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine +eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die +Wissenschaftlichkeit einer "Wissenschaft", deren letzte Meister noch +wie die Kinder und die alten Weibchen reden: - "das Princip, sagt +er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), der Grundsatz, über dessen +Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo +omnes, quantum potes, juva - das ist eigentlich der Satz, welchen zu +begründen alle Sittenlehrer sich abmühen.... das eigentliche Fundament +der Ethik, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden +sucht." - Die Schwierigkeit, den angeführten Satz zu begründen, mag +freilich gross sein - bekanntlich ist es auch Schopenhauern damit +nicht geglückt -; und wer einmal gründlich nachgefühlt hat, wie +abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt, +deren Essenz Wille zur Macht ist -, der mag sich daran erinnern +lassen, dass Schopenhauer, obschon Pessimist, eigentlich - die Flöte +blies.... Täglich, nach Tisch: man lese hierüber seinen Biographen. +Und beiläufig gefragt: ein Pessimist, ein Gott- und Welt-Verneiner, +der vor der Moral Haltmacht, - der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst, +zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich - ein Pessimist? + + +187. + +Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie "es giebt in uns +einen kategorischen Imperativ", kann man immer noch fragen: was sagt +eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen, +welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen +sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will +er sich selbst an's Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will +er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären +und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem +Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen +zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und +schöpferische Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch +Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: "was an mir achtbar ist, +das ist, dass ich gehorchen kann, - und bei euch soll es nicht +anders stehn, als bei mir!" - kurz, die Moralen sind auch nur eine +Zeichensprache der Affekte. + + +188. + +Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei +gegen die "Natur", auch gegen die "Vernunft": das ist aber noch kein +Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend +einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft +unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, +dass sie ein langer Zwang ist: um den Stoicismus oder Port-Royal oder +das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern, +unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht, - +des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wie viel +Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! - +einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein +unerbittliches Gewissen wohnt - "um einer Thorheit willen", wie +utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, - "aus +Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze", wie die Anarchisten sagen, +die sich damit "frei", selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche +Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, +Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder +gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, +oder im Reden und überreden, in den Künsten ebenso wie in +den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der "Tyrannei solcher +Willkür-Gesetze" entwickelt hat; und allen Ernstes, die +Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies "Natur" +und "natürlich" sei - und nicht jenes laisser aller! jeder Künstler +weiss, wie fern vom Gefühl des Sichgehen-lassens sein "natürlichster" +Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den +Augenblicken der "Inspiration", - und wie streng und fein er gerade +da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch +Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch +der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, +Vielfaches, Vieldeutiges -). Das Wesentliche, "im Himmel und auf +Erden", wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer +Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas +heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel +Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, - irgend etwas +Verklärendes, Raffinirtes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit +des Geistes, der misstrauische Zwang in der Mittheilbarkeit der +Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb +einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen +Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was +geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den +christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und +zu rechtfertigen, - all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, +Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, +durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine +rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde: +zugegeben, dass dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist +erdrückt, erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie +überall zeigt sich "die Natur", wie sie ist, in ihrer ganzen +verschwenderischen und gleichgültigen Grossartigkeit, welche empört, +aber vornehm ist). Dass Jahrtausende lang die europäischen Denker nur +dachten, um Etwas zu beweisen -heute ist uns umgekehrt jeder Denker +verdächtig, der "Etwas beweisen will" -, dass ihnen bereits immer +feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen +sollte, etwa wie ehemals bei der asiatischen Astrologie oder wie heute +noch bei der harmlosen christlich-moralischen Auslegung der nächsten +persönlichen Ereignisse "zu Ehren Gottes" und "zum Heil der Seele": - +diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit +hat den Geist erzogen; die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen +und feineren Verstande das unentbehrliche Mittel auch der geistigen +Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral darauf hin ansehn: die "Natur" +in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit +hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach +nächsten Aufgaben pflanzt, - welche die Verengerung der Perspektive, +und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und +Wachsthums-Bedingung lehrt. "Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf +lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor +dir selbst" - dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu +sein, welcher freilich weder "kategorisch" ist, wie es der alte Kant +von ihm verlangte (daher das "sonst" -), noch an den Einzelnen sich +wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen, +Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier "Mensch", an den +Menschen. + + +189. + +Die arbeitsamen Rassen finden eine grosse Beschwerde darin, den +Müssiggang zu ertragen: es war ein Meisterstück des englischen +Instinktes, den Sonntag in dem Maasse zu heiligen und zu langweiligen, +dass der Engländer dabei wieder unvermerkt nach seinem Wochen- +und Werktage lüstern wird: - als eine Art klug erfundenen, klug +eingeschalteten Fastens, wie dergleichen auch in der antiken Welt +reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen +Völkern, nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit -). Es muss Fasten von +vielerlei Art geben; und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten +herrschen, haben die Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage +einzuschieben, an denen solch ein Trieb in Ketten gelegt wird und +wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte aus gesehn, +erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend einem +moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte +Zwangs- und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken +und niederwerfen, aber auch sich reinigen und schärfen lernt; auch +einzelne philosophische Sekten (zum Beispiel die Stoa inmitten der +hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen +und geil gewordenen Luft) erlauben eine derartige Auslegung. - Hiermit +ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade +in der christlichsten Periode Europa's und überhaupt erst unter dem +Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur +Liebe (amour-passion) sublimirt hat. + + +190. + +Es giebt Etwas in der Moral Plato's, das nicht eigentlich zu Plato +gehört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfindet, man könnte +sagen, trotz Plato: nämlich der Sokratismus, für den er eigentlich zu +vornehm war. "Keiner will sich selbst Schaden thun, daher geschieht +alles Schlechte unfreiwillig. Denn der Schlechte fügt sich selbst +Schaden zu: das würde er nicht thun, falls er wüsste, dass das +Schlechte schlecht ist. Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem +Irrthum schlecht; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn +notwendig - gut." - Diese Art zu schliessen riecht nach dem Pöbel, +der am Schlechthandeln nur die leidigen Folgen in's Auge fasst und +eigentlich urtheilt "es ist dumm, schlecht zu handeln"; während er +"gut" mit "nützlich und angenehm" ohne Weiteres als identisch nimmt. +Man darf bei jedem Utilitarismus der Moral von vornherein auf diesen +gleichen Ursprung rathen und seiner Nase folgen: man wird selten irre +gehn. - Plato hat Alles gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den +Satz seines Lehrers hinein zu interpretiren, vor Allem sich selbst -, +er, der verwegenste aller Interpreten, der den ganzen Sokrates nur +wie ein populäres Thema und Volkslied von der Gasse nahm, um es in's +Unendliche und Unmögliche zu variiren: nämlich in alle seine eignen +Masken und Vielfältigkeiten. Im Scherz gesprochen, und noch dazu +homerisch: was ist denn der platonische Sokrates, wenn nicht prósthe +Pláton opithén te Pláton mésse te Chímaira. + + +191. + +Das alte theologische Problem von "Glauben" und "Wissen" - oder, +deutlicher, von Instinkt und Vernunft - also die Frage, ob in Hinsicht +auf Werthschätzung der Dinge der Instinkt mehr Autorität verdiene, als +die Vernünftigkeit, welche nach Gründen, nach einem "Warum?", als nach +Zweckmässigkeit und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will, +- es ist immer noch jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in +der Person des Sokrates auftrat und lange vor dem Christenthum schon +die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem +Geschmack seines Talentes - dem eines überlegenen Dialektikers - +zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt; und in Wahrheit, was hat +er sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner +vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren +gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe +ihres Handelns Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im Stillen und +Geheimen, lachte er auch über sich selbst: er fand bei sich, vor +seinem feineren Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit +und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den +Instinkten lösen! Man muss ihnen und auch der Vernunft zum Recht +verhelfen, - man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft +überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die +eigentliche Falschheit jenes grossen geheimnissreichen Ironikers; er +brachte sein Gewissen dahin, sich mit einer Art Selbstüberlistung +zufrieden zu geben: im Grunde hatte er das Irrationale im moralischen +Urtheile durchschaut. - Plato, in solchen Dingen unschuldiger und ohne +die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand aller Kraft - +der grössten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte! - sich +beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel zugehen, +auf das Gute, auf "Gott"; und seit Plato sind alle Theologen und +Philosophen auf der gleichen Bahn, - das heisst, in Dingen der Moral +hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen, "der +Glaube", oder wie ich es nenne, "die Heerde" gesiegt. Man müsse +denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich +Grossvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autorität +zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war +oberflächlich. + + +192. + +Wer der Geschichte einer einzelnen Wissenschaft nachgegangen ist, +der findet in ihrer Entwicklung einen Leitfaden zum Verständniss der +ältesten und gemeinsten Vorgänge alles "Wissens und Erkennens": dort +wie hier sind die voreiligen Hypothesen, die Erdichtungen, der gute +dumme Wille zum "Glauben", der Mangel an Misstrauen und Geduld zuerst +entwickelt, - unsre Sinne lernen es spät, und lernen es nie ganz, +feine treue vorsichtige Organe der Erkenntniss zu sein. Unserm Auge +fällt es bequemer, auf einen gegebenen Anlass hin ein schon öfter +erzeugtes Bild wieder zu erzeugen, als das Abweichende und Neue eines +Eindrucks bei sich festzuhalten: letzteres braucht mehr Kraft, mehr +"Moralität". Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig; +fremde Musik hören wir schlecht. Unwillkürlich versuchen wir, beim +Hören einer andren Sprache, die gehörten Laute in Worte einzuformen, +welche uns vertrauter und heimischer klingen: so machte sich zum +Beispiel der Deutsche ehemals aus dem gehörten arcubalista das Wort +Armbrust zurecht. Das Neue findet auch unsre Sinne feindlich und +widerwillig; und überhaupt herrschen schon bei den "einfachsten" +Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht, Liebe, Hass, +eingeschlossen die passiven Affekte der Faulheit. - So wenig ein Leser +heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich +abliest - er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach +Zufall heraus und "erräth" den zu diesen fünf Worten muthmaasslich +zugehörigen Sinn -, eben so wenig sehen wir einen Baum genau und +vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt +uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu phantasiren. +Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: +wir erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses und sind +kaum dazu zu zwingen, nicht als "Erfinder" irgend einem Vorgange +zuzuschauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters +her - an's Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, +kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man +weiss. - In einem lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der +Person, mit der ich rede, je nach dem Gedanken, den sie äussert, oder +den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und feinbestimmt +vor mir, dass dieser Grad von Deutlichkeit weit über die Kraft meines +Sehvermögens hinausgeht: - die Feinheit des Muskelspiels und des +Augen-Ausdrucks muss also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich +machte die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins. + + +193. + +Quidquid luce fuit, tenebris agit: aber auch umgekehrt. Was wir im +Traume erleben, vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehört +zuletzt so gut zum Gesammt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas +"wirklich" Erlebtes: wir sind vermöge desselben reicher oder ärmer, +haben ein Bedürfniss mehr oder weniger und werden schliesslich am +hellen lichten Tage, und selbst in den heitersten Augenblicken unsres +wachen Geistes, ein Wenig von den Gewöhnungen unsrer Träume gegängelt. +Gesetzt, dass Einer in seinen Träumen oftmals geflogen ist und +endlich, sobald er träumt, sich einer Kraft und Kunst des Fliegens +wie seines Vorrechtes bewusst wird, auch wie seines eigensten +beneidenswerthen Glücks: ein Solcher, der jede Art von Bogen und +Winkeln mit dem leisesten Impulse verwirklichen zu können glaubt, +der das Gefühl einer gewissen göttlichen Leichtfertigkeit kennt, +ein "nach, Oben" ohne Spannung und Zwang, ein "nach Unten" ohne +Herablassung und Erniedrigung - ohne Schwere! - wie sollte der Mensch +solcher Traum-Erfahrungen und Traum-Gewohnheiten nicht endlich auch +für seinen wachen Tag das Wort "Glück" anders gefärbt und bestimmt +finden! wie sollte er nicht anders nach Glück - verlangen +"Aufschwung", so wie dies von Dichtern beschrieben wird, muss ihm, +gegen jenes "Fliegen" gehalten, schon zu erdenhaft, muskelhaft, +gewaltsam, schon zu "schwer" sein. + + +194. + +Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der +Verschiedenheit ihrer Gütertafeln, also darin, dass sie verschiedene +Güter für erstrebenswerth halten und auch über das Mehr und Weniger +des Werthes, über die Rangordnung der gemeinsam anerkannten Güter mit +einander uneins sind: - sie zeigt sich noch mehr in dem, was ihnen +als wirkliches Haben und Besitzen eines Gutes gilt. In Betreff eines +Weibes zum Beispiel gilt dem Bescheideneren schon die Verfügung über +den Leib und der Geschlechtsgenuss als ausreichendes und genugthuendes +Anzeichen des Habens, des Besitzens; ein Anderer, mit seinem +argwöhnischeren und anspruchsvolleren Durste nach Besitz, sieht das +"Fragezeichen", das nur Scheinbare eines solchen Habens, und will +feinere Proben, vor Allem, um zu wissen, ob das Weib nicht nur ihm +sich giebt, sondern auch für ihn lässt, was sie hat oder gerne hätte +-: so erst gilt es ihm als "besessen". Ein Dritter aber ist auch hier +noch nicht am Ende seines Misstrauens und Habenwollens, er fragt sich, +ob das Weib, wenn es Alles für ihn lässt, dies nicht etwa für ein +Phantom von ihm thut: er will erst gründlich, ja abgründlich gut +gekannt sein, um überhaupt geliebt werden zu können, er wagt es, sich +errathen zu lassen -. Erst dann fühlt er die Geliebte völlig in seinem +Besitze, wenn sie sich nicht mehr über ihn betrügt, wenn sie ihn um +seiner Teufelei und versteckten Unersättlichkeit willen eben so sehr +liebt, als um seiner Güte, Geduld und Geistigkeit willen. Jener möchte +ein Volk besitzen: und alle höheren Cagliostro- und Catilina-Künste +sind ihm zu diesem Zwecke recht. Ein Anderer, mit einem feineren +Besitzdurste, sagt sich "man darf nicht betrügen, wo man besitzen +will" -, er ist gereizt und ungeduldig bei der Vorstellung, dass eine +Maske von ihm über das Herz des Volks gebietet: "also muss ich mich +kennen lassen und, vorerst, mich selbst kennen!" Unter hülfreichen und +wohlthätigen Menschen findet man jene plumpe Arglist fast regelmässig +vor, welche sich Den, dem geholfen werden soll, erst zurecht macht: +als ob er zum Beispiel Hülfe "verdiene", gerade nach ihrer Hülfe +verlange, und für alle Hülfe sich ihnen tief dankbar, anhänglich, +unterwürfig beweisen werde, - mit diesen Einbildungen verfügen sie +über den Bedürftigen wie über ein Eigenthum, wie sie aus einem +Verlangen nach Eigenthum überhaupt wohlthätige und hülfreiche Menschen +sind. Man findet sie eifersüchtig, wenn man sie beim Helfen kreuzt +oder ihnen zuvorkommt. Die Eltern machen unwillkürlich aus dem Kinde +etwas ihnen Ähnliches - sie nennen das "Erziehung" -, keine Mutter +zweifelt im Grunde ihres Herzens daran, am Kinde sich ein Eigenthum +geboren zu haben, kein Vater bestreitet sich das Recht, es seinen +Begriffen und Werthschätzungen unterwerfen zu dürfen. Ja, ehemals +schien es den Vätern billig, über Leben und Tod des Neugebornen (wie +unter den alten Deutschen) nach Gutdünken zu verfügen. Und wie der +Vater, so sehen auch jetzt noch der Lehrer, der Stand, der Priester, +der Fürst in jedem neuen Menschen eine unbedenkliche Gelegenheit zu +neuem Besitze. Woraus folgt..... + + +195. + +Die Juden - ein Volk "geboren zur Sklaverei", wie Tacitus und die +ganze antike Welt sagt, "das auserwählte Volk unter den Völkern", wie +sie selbst sagen und glauben - die Juden haben jenes Wunderstück von +Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, Dank welchem das Leben auf +der Erde für ein Paar Jahrtausende einen neuen und gefährlichen +Reiz erhalten hat: - ihre Propheten haben "reich" "gottlos" "böse" +"gewaltthätig" "sinnlich" in Eins geschmolzen und zum ersten Male das +Wort "Welt", zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe +(zu der es gehört, das Wort für "Arm" als synonym mit "Heilig" und +"Freund" zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks: mit ihm +beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral. + + +196. + +Es giebt unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu erschliessen, +- solche die wir nie sehen werden. Das ist, unter uns gesagt, ein +Gleichniss; und ein Moral-Psycholog liest die gesammte Sternenschrift +nur als eine Gleichniss- und Zeichensprache, mit der sich Vieles +verschweigen lässt. + + +197. + +Man missversteht das Raubthier und den Raubmenschen (zum Beispiele +Cesare Borgia) gründlich, man missversteht die "Natur", so lange man +noch nach einer "Krankhaftigkeit" im Grunde dieser gesündesten aller +tropischen Unthiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen +eingeborenen "Hölle" -: wie es bisher fast alle Moralisten gethan +haben. Es scheint, dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den +Urwald und gegen die Tropen giebt? Und dass der "tropische Mensch" +um jeden Preis diskreditirt werden muss, sei es als Krankheit und +Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung? +Warum doch? Zu Gunsten der "gemässigten Zonen"? Zu Gunsten der +gemässigten Menschen? Der "Moralischen"? Der Mittelmässigen? - Dies +zum Kapitel "Moral als Furchtsamkeit". - + + +198. + +Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum +Zwecke ihres "Glückes", wie es heisst, - was sind sie Anderes, als +Verhaltungs-Vorschläge im Verhältniss zum Grade der Gefährlichkeit, in +welcher die einzelne Person mit sich selbst lebt; Recepte gegen ihre +Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so fern sie den Willen +zur Macht haben und den Herrn spielen möchten; kleine und grosse +Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter +Hausmittel und Altweiber-Weisheit; allesammt in der Form barock und +unvernünftig - weil sie sich an "Alle" wenden, weil sie generalisiren, +wo nicht generalisirt werden darf -, allesammt unbedingt redend, sich +unbedingt nehmend, allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt, +vielmehr erst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn +sie überwürzt und gefährlich zu riechen lernen, vor Allem "nach der +anderen Welt": Das ist Alles, intellektuell gemessen, wenig werth und +noch lange nicht "Wissenschaft", geschweige denn "Weisheit", sondern, +nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit, +gemischt mit Dummheit, Dummheit, Dummheit, - sei es nun jene +Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der +Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten; oder auch jenes +Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv +befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion +derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches +Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der +Aristotelismus der Moral; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer +absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der +Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um +Gotteswillen - denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder +Bürgerrecht, vorausgesetzt dass; zuletzt selbst jene entgegenkommende +und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe +gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig- +leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und +Trunkenbolde, bei denen es "wenig Gefahr mehr hat". Auch Dies zum +Kapitel "Moral als Furchtsamkeit". + + +199. + +Insofern es zu allen Zeiten, so lange es Menschen giebt, auch +Menschenheerden gegeben hat (Geschlechts-Verbände, Gemeinden, +Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer sehr viel Gehorchende im +Verhältniss zu der kleinen Zahl Befehlender, - in Anbetracht also, +dass Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt +und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, dass +durchschnittlich jetzt einem jeden das Bedürfniss darnach angeboren +ist, als eine Art formalen Gewissens, welches gebietet: "du sollst +irgend Etwas unbedingt thun, irgend Etwas unbedingt lassen", kurz "du +sollst". Dies Bedürfniss sucht sich zu sättigen und seine Form mit +einem Inhalte zu füllen; es greift dabei, gemäss seiner Stärke, +Ungeduld und Spannung, wenig wählerisch, als ein grober Appetit, zu +und nimmt an, was ihm nur von irgend welchen Befehlenden - Eltern, +Lehrern, Gesetzen, Standesvorurtheilen, öffentlichen Meinungen - +in's Ohr gerufen wird. Die seltsame Beschränktheit der menschlichen +Entwicklung, das Zögernde, Langwierige, oft Zurücklaufende und +Sich-Drehende derselben beruht darauf, dass der Heerden-Instinkt des +Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des Befehlens vererbt +wird. Denkt man sich diesen Instinkt einmal bis zu seinen letzten +Ausschweifungen schreitend, so fehlen endlich geradezu die +Befehlshaber und Unabhängigen; oder sie leiden innerlich am +schlechten Gewissen und haben nöthig, sich selbst erst eine Täuschung +vorzumachen, um befehlen zu können: nämlich als ob auch sie nur +gehorchten. Dieser Zustand besteht heute thatsächlich in Europa: ich +nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich +nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch, +dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der +Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) +oder selbst von der Heerden-Denkweise her sich Heerden-Maximen borgen, +zum Beispiel als "erste Diener ihres Volks" oder als "Werkzeuge +des gemeinen Wohls". Auf der anderen Seite giebt sich heute der +Heerdenmensch in Europa das Ansehn, als sei er die einzig erlaubte +Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er +zahm, verträglich und der Heerde nützlich ist, als die eigentlich +menschlichen Tugenden: also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiss, +Mässigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden. Für die Fälle aber, +wo man der Führer und Leithammel nicht entrathen zu können glaubt, +macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addiren kluger +Heerdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen: dieses Ursprungs sind +zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen. Welche Wohlthat, +welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz +Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für diese +Heerdenthier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das +Erscheinen Napoleon's machte, das letzte grosse Zeugniss: - die +Geschichte der Wirkung Napoleon's ist beinahe die Geschichte des +höheren Glücks, zu dem es dieses ganze Jahrhundert in seinen +werthvollsten Menschen und Augenblicken gebracht hat. + + +200. + +Der Mensch aus einem Auflösungs-Zeitalter, welches die Rassen durch +einander wirft, der als Solcher die Erbschaft einer vielfältigen +Herkunft im Leibe hat, das heisst gegensätzliche und oft nicht einmal +nur gegensätzliche Triebe und Werthmaasse, welche mit einander kämpfen +und sich selten Ruhe geben, - ein solcher Mensch der späten Culturen +und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer +Mensch sein: sein gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der +Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe; das Glück erscheint ihm, in +Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder +christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als das Glück des +Ausruhens, der Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als +"Sabbat der Sabbate", um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden, +der selbst ein solcher Mensch war. - Wirkt aber der Gegensatz und +Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr -, +und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben +auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit +sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt +und angezüchtet: so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und +Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten +Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck Alciblades und Caesar (- +denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem Geschmack, den +Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern +vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben +Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe, +in den Vordergrund tritt.- beide Typen gehören zu einander und +entspringen den gleichen Ursachen. + + +201. + +So lange die Nützlichkeit, die in den moralischen Werthurtheilen +herrscht, allein die Heerden-Nützlichkeit ist, so lange der +Blick einzig der Erhaltung der Gemeinde zugewendet ist, und das +Unmoralische genau und ausschliesslich in dem gesucht wird, was dem +Gemeinde-Bestand gefährlich scheint: so lange kann es noch keine +"Moral der Nächstenliebe" geben. Gesetzt, es findet sich auch da +bereits eine beständige kleine Übung von Rücksicht, Mitleiden, +Billigkeit, Milde, Gegenseitigkeit der Hülfeleistung, gesetzt, es +sind auch auf diesem Zustande der Gesellschaft schon alle jene Triebe +thätig, welche später mit Ehrennamen, als "Tugenden" bezeichnet +werden und schliesslich fast mit dem Begriff "Moralität" in Eins +zusammenfallen: in jener Zeit gehören sie noch gar nicht in das Reich +der moralischen Werthschätzungen - sie sind noch aussermoralisch. Eine +mitleidige Handlung zum Beispiel heisst in der besten Römerzeit weder +gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch; und wird sie selbst +gelobt, so verträgt sich mit diesem Lobe noch auf das Beste eine +Art unwilliger Geringschätzung, sobald sie nämlich mit irgend einer +Handlung zusammengehalten wird, welche der Förderung des Ganzen, der +res publica, dient. Zuletzt ist die "Liebe zum Nächsten" immer etwas +Nebensächliches, zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares +im Verhältniss zur Furcht vor dem Nächsten. Nachdem das Gefüge der +Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen äussere Gefahren +gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nächsten, welche +wieder neue Perspektiven der moralischen Werthschätzung schafft. +Gewisse starke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust, +Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht, die +bisher in einem gemeinnützigen Sinne nicht nur geehrt unter anderen +Namen, wie billig, als den eben gewählten sondern gross-gezogen und +-gezüchtet werden mussten (weil man ihrer in der Gefahr des Ganzen +gegen die Feinde des Ganzen beständig bedurfte), werden nunmehr +in ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden - jetzt, wo die +Abzugskanäle für sie fehlen - und schrittweise, als unmoralisch, +gebrandmarkt und der Verleumdung preisgegeben. Jetzt kommen die +gegensätzlichen Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren; der +Heerden-Instinkt zieht, Schritt für Schritt, seine Folgerung. Wie viel +oder wie wenig Gemein-Gefährliches, der Gleichheit Gefährliches in +einer Meinung, in einem Zustand und Affekte, in einem Willen, in einer +Begabung liegt, das ist jetzt die moralische Perspektive: die Furcht +ist auch hier wieder die Mutter der Moral. An den höchsten und +stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich ausbrechend, den +Einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederung des +Heerdengewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl +der Gemeinde zu Grunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat gleichsam, +zerbricht: folglich wird man gerade diese Triebe am besten brandmarken +und verleumden. Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum +Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden; +Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten +Furcht macht, heisst von nun an böse; die billige, bescheidene, +sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmaass der +Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren. Endlich, unter sehr +friedfertigen Zuständen, fehlt die Gelegenheit und Nöthigung immer +mehr, sein Gefühl zur Strenge und Härte zu erziehn; und jetzt beginnt +jede Strenge, selbst in der Gerechtigkeit, die Gewissen zu stören; +eine hohe und harte Vornehmheit und Selbst-Verantwortlichkeit +beleidigt beinahe und erweckt Misstrauen, "das Lamm", noch mehr "das +Schlaf" gewinnt an Achtung. Es giebt einen Punkt von krankhafter +Vermürbung und Verzärtlichung in der Geschichte der Gesellschaft, wo +sie selbst für ihren Schädiger, den Verbrecher Partei nimmt, und zwar +ernsthaft und ehrlich. Strafen: das scheint ihr irgendworin unbillig, +- gewiss ist, dass die Vorstellung "Strafe" und "Strafen-Sollen" +ihr wehe thut, ihr Furcht macht. "Genügt es nicht, ihn ungefährlich +machen? Wozu noch strafen? Strafen selbst ist fürchterlich!" - mit +dieser Frage zieht die Heerden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit ihre +letzte Consequenz. Gesetzt, man könnte überhaupt die Gefahr, den Grund +zum Fürchten abschaffen, so hätte man diese Moral mit abgeschafft: sie +wäre nicht mehr nöthig, sie hielte sich selbst nicht mehr für nöthig! +- Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend +moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ +herauszuziehen haben, den Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit: "wir +wollen, dass es irgendwann einmal Nichts mehr zu fürchten giebt!" +Irgendwann einmal - der Wille und Weg dorthin heisst heute in Europa +überall der "Fortschritt". + + +202. + +Sagen wir es sofort noch einmal, was wir schon hundert Mal gesagt +haben: denn die Ohren sind für solche Wahrheiten - für unsere +Wahrheiten - heute nicht gutwillig. Wir wissen es schon genug, wie +beleidigend es klingt, wenn Einer überhaupt den Menschen ungeschminkt +und ohne Gleichniss zu den Thieren rechnet; aber es wird beinahe +als Schuld uns angerechnet werden, dass wir gerade in Bezug auf die +Menschen der "modernen Ideen" beständig die Ausdrücke "Heerde", +"Heerden-Instinkte" und dergleichen gebrauchen. Was hilft es! Wir +können nicht anders: denn gerade hier liegt unsre neue Einsicht. Wir +fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig +geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europa's Einfluss +herrscht: man weiss ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu +wissen meinte, und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren +verhiess, - man "weiss" heute, was Gut und Böse ist. Nun muss es hart +klingen und schlecht zu Ohren gehn, wenn wir immer von Neuem darauf +bestehn: was hier zu wissen glaubt, was hier mit seinem Loben und +Tadeln sich selbst verherrlicht, sich selbst gut heisst, ist der +Instinkt des Heerdenthiers Mensch: als welcher zum Durchbruch, zum +Übergewicht, zur Vorherrschaft über andere Instinkte gekommen ist und +immer mehr kommt, gemäss der wachsenden physiologischen Annäherung +und Anähnlichung, deren Symptom er ist. Moral ist heute in Europa +Heerdenthier-Moral: - also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art +von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor +Allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche +"Möglichkeit", gegen ein solches "Sollte" wehrt sich aber diese Moral +mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und unerbittlich "ich bin die +Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral!" - ja mit Hülfe einer +Religion, welche den sublimsten Heerdenthier-Begierden zu Willen +war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, dass wir selbst in +den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer +sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die demokratische Bewegung +macht die Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die +Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes +noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer +rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen +der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der +europäischen Cultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den +friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr +zu den tölpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern, +welche sich Socialisten nennen und die "freie Gesellschaft" wollen, in +Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründlichen und instinktiven +Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die der +autonomen Heerde (bis hinaus zur Ablehnung selbst der Begriffe "Herr" +und "Knecht" - ni dieu ni maître heisst eine socialistische Formel +-); Eins im zähen Widerstande gegen jeden Sonder-Anspruch, jedes +Sonder-Recht und Vorrecht (das heisst im letzten Grunde gegen jedes +Recht: denn dann, wenn Alle gleich sind, braucht Niemand mehr "Rechte" +-); Eins im Misstrauen gegen die strafende Gerechtigkeit (wie als +ob sie eine Vergewaltigung am Schwächeren, ein Unrecht an der +nothwendigen Folge aller früheren Gesellschaft wäre -); aber ebenso +Eins in der Religion des Mitleidens, im Mitgefühl, soweit nur gefühlt, +gelebt, gelitten wird (bis hinab zum Thier, bis hinauf zu "Gott": +- die Ausschweifung eines Mitleidens mit "Gott" gehört in ein +demokratisches Zeitalter -); Eins allesammt im Schrei und der Ungeduld +des Mitleidens, im Todhass gegen das Leiden überhaupt, in der fast +weiblichen Unfähigkeit, Zuschauer dabei bleiben zu können, leiden +lassen zu können; Eins in der unfreiwilligen Verdüsterung und +Verzärtlichung, unter deren Bann Europa von einem neuen Buddhismus +bedroht scheint; Eins im Glauben an die Moral des gemeinsamen +Mitleidens, wie als ob sie die Moral an sich sei, als die Höhe, die +erreichte Höhe des Menschen, die alleinige Hoffnung der Zukunft, das +Trostmittel der Gegenwärtigen, die grosse Ablösung aller Schuld von +Ehedem: - Eins allesammt im Glauben an die Gemeinschaft als die +Erlöserin, an die Heerde also, an sich...... + + +203. + +Wir, die wir eines andren Glaubens sind -, wir, denen die +demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-Form +der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich +Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung +und Werth-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen +greifen? - Nach neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach +Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu +entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und "ewige Werthe" +umzuwerthen, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der +Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der +den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. Dem Menschen +die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem +Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche +von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen +Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher "Geschichte" hiess, ein +Ende zu machen - der Unsinn der "grössten Zahl" ist nur seine letzte +Form -: dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und +Befehlshabern nöthig sein, an deren Bilde sich Alles, was auf Erden +an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, +blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es, +das vor unsern Augen schwebt: - darf ich es laut sagen, ihr freien +Geister? Die Umstände, welche man zu ihrer Entstehung theils schaffen, +theils ausnützen müsste; die muthmaasslichen Wege und Proben, vermöge +deren eine Seele zu einer solchen Höhe und Gewalt aufwüchse, um den +Zwang zu diesen Aufgaben zu empfinden; eine Umwerthung der Werthe, +unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein +Herz in Erz verwandelt würde, dass es das Gewicht einer solchen +Verantwortlichkeit ertrüge; andererseits die Nothwendigkeit solcher +Führer, die erschreckliche Gefahr, dass sie ausbleiben oder missrathen +und entarten könnten - das sind unsre eigentlichen Sorgen und +Verdüsterungen, ihr wisst es, ihr freien Geister? das sind die +schweren fernen Gedanken und Gewitter, welche über den Himmel unseres +Lebens hingehn. Es giebt wenig so empfindliche Schmerzen, als einmal +gesehn, errathen, mitgefühlt zu haben, wie ein ausserordentlicher +Mensch aus seiner Bahn gerieth und entartete: wer aber das seltene +Auge für die Gesammt-Gefahr hat, dass "der Mensch" selbst entartet, +wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit erkannt hat, welche +bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte - +ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein "Finger Gottes" +mitspielte! - wer das Verhängniss, erräth, das in der blödsinnigen +Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der "modernen Ideen", noch mehr +in der ganzen christlich-europäischen Moral verborgen liegt: der +leidet an einer Beängstigung, mit der sich keine andere vergleichen +lässt, - er fasst es ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer +günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, aus +dem Menschen zu züchten wäre, er weiss es mit allem Wissen seines +Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten +Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an +geheimnissvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat: - +er weiss es noch besser, aus seiner schmerzlichsten Erinnerung, an +was für erbärmlichen Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher +gewöhnlich zerbrach, abbrach, absank, erbärmlich ward. Die +Gesammt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den +socialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr "Mensch der Zukunft" +erscheint, - als ihr Ideal! - diese Entartung und Verkleinerung des +Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere (oder, wie sie sagen, zum +Menschen der "freien Gesellschaft"), diese Verthierung des Menschen +zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist möglich, es ist +kein Zweifel! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, +kennt einen Ekel mehr, als die übrigen Menschen, - und vielleicht auch +eine neue Aufgabe!.... + + + + +Sechstes Hauptstück: + +Wir Gelehrten. + +204. + +Auf die Gefahr hin, dass Moralisiren sich auch hier als Das +herausstellt, was es immer war - nämlich als ein unverzagtes montrer +ses plaies, nach Balzac -, möchte ich wagen, einer ungebührlichen und +schädlichen Rangverschiebung entgegenzutreten, welche sich heute, ganz +unvermerkt und wie mit dem besten Gewissen, zwischen Wissenschaft +und Philosophie herzustellen droht. Ich meine, man muss von seiner +Erfahrung aus - Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer schlimme +Erfahrung? - ein Recht haben, über eine solche höhere Frage des Rangs +mitzureden: um nicht wie die Blinden von der Farbe oder wie Frauen +und Künstler gegen die Wissenschaft zu reden ("ach, diese schlimme +Wissenschaft! seufzt deren Instinkt und Scham, sie kommt immer +dahinter!" -). Die Unabhängigkeits-Erklärung des wissenschaftlichen +Menschen, seine Emancipation von der Philosophie, ist eine der +feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens: die +Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten steht heute +überall in voller Blüthe und in ihrem besten Frühlinge, - womit noch +nicht gesagt sein soll, dass in diesem Falle Eigenlob lieblich röche. +"Los von allen Herren!" - so will es auch hier der pöbelmännische +Instinkt; und nachdem sich die Wissenschaft mit glücklichstem Erfolge +der Theologie erwehrt hat, deren "Magd" sie zu lange war, ist sie nun +in vollem Übermuthe und Unverstande darauf hin aus, der Philosophie +Gesetze zu machen und ihrerseits einmal den "Herrn" - was sage ich! +den Philosophen zu spielen. Mein Gedächtniss - das Gedächtniss eines +wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub! - strotzt von Naivetäten des +Hochmuths, die ich seitens junger Naturforscher und alter Ärzte über +Philosophie und Philosophen gehört habe (nicht zu reden von den +gebildetsten und eingebildetsten aller Gelehrten, den Philologen und +Schulmännern, welche Beides von Berufs wegen sind -). Bald war es der +Spezialist und Eckensteher, der sich instinktiv überhaupt gegen alle +synthetischen Aufgaben und Fähigkeiten zur Wehre setzte; bald der +fleissige Arbeiter, der einen Geruch von otium und der vornehmen +Üppigkeit im Seelen-Haushalte des Philosophen bekommen hatte und +sich dabei beeinträchtigt und verkleinert fühlte. Bald war es jene +Farben-Blindheit des Nützlichkeits-Menschen, der in der Philosophie +Nichts sieht, als eine Reihe widerlegter Systeme und einen +verschwenderischen Aufwand, der Niemandem "zu Gute kommt". Bald sprang +die Furcht vor verkappter Mystik und Grenzberichtigung des Erkennens +hervor; bald die Missachtung einzelner Philosophen, welche sich +unwillkürlich zur Missachtung der Philosophie verallgemeinert hatte. +Am häufigsten endlich fand ich bei jungen Gelehrten hinter der +hochmüthigen Geringschätzung der Philosophie die schlimme Nachwirkung +eines Philosophen selbst, dem man zwar im Ganzen den Gehorsam +gekündigt hatte, ohne doch aus dem Banne seiner wegwerfenden +Werthschätzungen anderer Philosophen herausgetreten zu sein: - mit +dem Ergebniss einer Gesammt-Verstimmung gegen alle Philosophie. +(Dergestalt scheint mir zum Beispiel die Nachwirkung Schopenhauer's +auf das neueste Deutschland zu sein: - er hat es mit seiner +unintelligenten Wuth auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte +Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur +herauszubrechen, welche Cultur, Alles wohl erwogen, eine Höhe und +divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist: aber +Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität +arm, unempfänglich, undeutsch.) Überhaupt in's Grosse gerechnet, mag +es vor Allem das Menschliche, Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit +der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der +Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und dem pöbelmännischen +Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis +zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite, +Plato's, Empedokles', und wie alle diese königlichen und prachtvollen +Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht; und mit wie gutem +Rechte Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank +der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind - in Deutschland zum +Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring +und der Amalgamist Eduard von Hartmann - ein braver Mensch der +Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen darf. Es ist +in Sonderheit der Anblick jener Mischmasch-Philosophen, die sich +"Wirklichkeits-Philosophen" oder "Positivisten" nennen, welcher +ein gefährliches Misstrauen in die Seele eines jungen, ehrgeizigen +Gelehrten zu werfen im Stande ist: das sind ja besten Falls selbst +Gelehrte und Spezialisten, man greift es mit Händen! - das sind ja +allesammt überwundene und unter die Botmässigkeit der Wissenschaft +Zurückgebrachte, welche irgendwann einmal mehr von sich gewollt haben, +ohne ein Recht zu diesem "mehr" und seiner Verantwortlichkeit zu haben +- und die jetzt, ehrsam, ingrimmig, rachsüchtig, den Unglauben an die +Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie mit Wort und +That repräsentiren. Zuletzt: wie könnte es auch anders sein! Die +Wissenschaft blüht heute und hat das gute Gewissen reichlich im +Gesichte, während Das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich +gesunken ist, dieser Rest Philosophie von heute, Misstrauen und +Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht. +Philosophie auf "Erkenntnisstheorie" reduzirt, thatsächlich nicht +mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre: eine +Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinweg kommt und sich +peinlich das Recht zum Eintritt verweigert - das ist Philosophie in +den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, Etwas das Mitleiden macht. +Wie könnte eine solche Philosophie - herrschen! + + +205. + +Die Gefahren für die Entwicklung des Philosophen sind heute in +Wahrheit so vielfach, dass man zweifeln möchte, ob diese Frucht +überhaupt noch reif werden kann. Der Umfang und der Thurmbau der +Wissenschaften ist in's Ungeheure gewachsen, und damit auch die +Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als Lernender müde wird +oder sich irgendwo festhalten und "spezialisiren" lässt: so dass +er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick, +Niederblick kommt. Oder er gelangt zu spät hinauf, dann, wenn seine +beste Zeit und Kraft schon vorüber ist; oder beschädigt, vergröbert, +entartet, so dass sein Blick, sein Gesammt-Werthurtheil wenig mehr +bedeutet. Gerade die Feinheit seines intellektuellen Gewissens lässt +ihn vielleicht unterwegs zögern und sich verzögern; er fürchtet die +Verführung zum Dilettanten, zum Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn, +er weiss es zu gut, dass Einer, der vor sich selbst die Ehrfurcht +verloren hat, auch als Erkennender nicht mehr befiehlt, nicht mehr +führt: er müsste denn schon zum grossen Schauspieler werden wollen, +zum philosophischen Cagliostro und Rattenfänger der Geister, kurz +zum Verführer. Dies ist zuletzt eine Frage des Geschmacks: wenn es +selbst nicht eine Frage des Gewissens wäre. Es kommt hinzu, um die +Schwierigkeit des Philosophen noch einmal zu verdoppeln, dass er von +sich ein Urtheil, ein ja oder Nein, nicht über die Wissenschaften, +sondern über das Leben und den Werth des Lebens verlangt, - dass er +ungern daran glauben lernt, ein Recht oder gar eine Pflicht zu diesem +Urtheile zu haben, und sich nur aus den umfänglichsten - vielleicht +störendsten, zerstörendsten - Erlebnissen heraus und oft zögernd, +zweifelnd, verstummend seinen Weg zu jenem Rechte und jenem Glauben +suchen muss. In der That, die Menge hat den Philosophen lange +Zeit verwechselt und verkannt, sei es mit dem wissenschaftlichen +Menschen und idealen Gelehrten, sei es mit dem religiös-gehobenen +entsinnlichten "entweltlichten" Schwärmer und Trunkenbold Gottes; und +hört man gar heute jemanden loben, dafür, dass er "weise" lebe oder +"als ein Philosoph", so bedeutet es beinahe nicht mehr, als "klug und +abseits". Weisheit: das scheint dem Pöbel eine Art Flucht zu sein, +ein Mittel und Kunststück, sich gut aus einem schlimmen Spiele +herauszuziehn; aber der rechte Philosoph - so scheint es uns, meine +Freunde? - lebt "unphilosophisch" und "unweise", vor Allem unklug, +und fühlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen +des Lebens: - er risquirt sich beständig, er spielt das schlimme +Spiel..... + + +206. + +Im Verhältnisse zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen, welches +entweder zeugt oder gebiert, beide Worte in ihrem höchsten +Umfange genommen -, hat der Gelehrte, der wissenschaftliche +Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer: denn er +versteht sich gleich dieser nicht auf die zwei werthvollsten +Verrichtungen des Menschen. In der That, man gesteht ihnen Beiden, +den Gelehrten und den alten Jungfern, gleichsam zur Entschädigung die +Achtbarkeit zu - man unterstreicht in diesen Fällen die Achtbarkeit - +und hat noch an dem Zwange dieses Zugeständnisses den gleichen Beisatz +von Verdruss. Sehen wir genauer zu: was ist der wissenschaftliche +Mensch? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden einer +unvornehmen, das heisst nicht herrschenden, nicht autoritativen +und auch nicht selbstgenugsamen Art Mensch: er hat Arbeitsamkeit, +geduldige Einordnung in Reih und Glied, Gleichmässigkeit und Maass +im Können und Bedürfen, er hat den Instinkt für Seines gleichen und +für Das, was Seinesgleichen nöthig hat, zum Beispiel jenes Stück +Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welches es keine Ruhe der +Arbeit giebt, jenen Anspruch auf Ehre und Anerkennung (die zuerst und +zuoberst Erkennung, Erkennbarkeit voraussetzt -), jenen Sonnenschein +des guten Namens, jene beständige Besiegelung seines Werthes und +seiner Nützlichkeit, mit der das innerliche Misstrauen, der Grund +im Herzen aller abhängigen Menschen und Heerdenthiere, immer wieder +überwunden werden muss. Der Gelehrte hat, wie billig, auch die +Krankheiten und Unarten einer unvornehmen Art: er ist reich am kleinen +Neide und hat ein Luchsauge für das Niedrige solcher Naturen, zu deren +Höhen er nicht hinauf kann. Er ist zutraulich, doch nur wie Einer, +der sich gehen, aber nicht strömen lässt; und gerade vor dem Menschen +des grossen Stroms steht er um so kälter und verschlossener da, - +sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich +kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und +Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom +Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus +der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen +Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen +oder - noch lieber! - abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit +Rücksicht, mit schonender Hand natürlich -, mit zutraulichem Mitleiden +abspannen: das ist die eigentliche Kunst des Jesuitismus, der es immer +verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens einzuführen. - + + +207. + +Wie dankbar man auch immer dem objektiven Geiste entgegenkommen +mag - und wer wäre nicht schon einmal alles Subjektiven und seiner +verfluchten Ipsissimosität bis zum Sterben satt gewesen! - zuletzt +muss man aber auch gegen seine Dankbarkeit Vorsicht lernen und +der Übertreibung Einhalt thun, mit der die Entselbstung und +Entpersönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung +und Verklärung neuerdings gefeiert wird: wie es namentlich innerhalb +der Pessimisten-Schule zu geschehn pflegt, die auch gute Gründe hat, +dem "interesselosen Erkennen" ihrerseits die höchsten Ehren zu geben. +Der objektive Mensch, der nicht mehr flucht und schimpft, gleich +dem Pessimisten, der ideale Gelehrte, in dem der wissenschaftliche +Instinkt nach tausendfachem Ganz- und Halb-Missrathen einmal zum Auf- +und Ausblühen kommt, ist sicherlich eins der kostbarsten Werkzeuge, +die es giebt: aber er gehört in die Hand eines Mächtigeren. Er ist +nur ein Werkzeug, sagen wir: er ist ein Spiegel, - er ist kein +"Selbstzweck". Der objektive Mensch ist in der That ein Spiegel: vor +Allem, was erkannt werden will, zur Unterwerfung gewohnt, ohne eine +andre Lust, als wie sie das Erkennen, das "Abspiegeln" giebt, - er +wartet, bis Etwas kommt, und breitet sich dann zart hin, dass auch +leichte Fusstapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht +auf seiner Fläche und Haut verloren gehen. Was von "Person" an ihm +noch übrig ist, dünkt ihm zufällig, oft willkürlich, noch öfter +störend: so sehr ist er sich selbst zum Durchgang und Wiederschein +fremder Gestalten und Ereignisse geworden. Er besinnt sich auf "Sich" +zurück, mit Anstrengung, nicht selten falsch; er verwechselt sich +leicht, er vergreift sich in Bezug auf die eignen Nothdürfte und ist +hier allein unfein und nachlässig. Vielleicht quält ihn die Gesundheit +oder die Kleinlichkeit und Stubenluft von Weib und Freund, oder der +Mangel an Gesellen und Gesellschaft, - ja, er zwingt sich, über seine +Qual nachzudenken: umsonst! Schon schweift sein Gedanke weg, zum +allgemeineren Falle, und morgen weiss er so wenig als er es gestern +wusste, wie ihm zu helfen ist. Er hat den Ernst für sich verloren, +auch die Zeit: er ist heiter, nicht aus Mangel an Noth, sondern +aus Mangel an Fingern und Handhaben für seine Noth. Das gewohnte +Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebniss, die sonnige und +unbefangene Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn +stösst, seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von gefährlicher +Unbekümmertheit um Ja und Nein: ach, es giebt genug Fälle, wo er diese +seine Tugenden büssen muss! - und als Mensch überhaupt wird er gar zu +leicht das caput mortuum dieser Tugenden. Will man Liebe und Hass von +ihm, ich meine Liebe und Hass, wie Gott, Weib und Thier sie verstehn +-: er wird thun, was er kann, und geben, was er kann. Aber man soll +sich nicht wundern, wenn es nicht viel ist, - wenn er da gerade sich +unächt, zerbrechlich, fragwürdig und morsch zeigt. Seine Liebe ist +gewollt, sein Hass künstlich und mehr un tour de force, eine kleine +Eitelkeit und Übertreibung. Er ist eben nur ächt, so weit er objektiv +sein darf: allein in seinem heitern Totalismus ist er noch "Natur" +und "natürlich". Seine spiegelnde und ewig sich glättende Seele weiss +nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen; er befiehlt nicht; +er zerstört auch nicht. "Je ne méprise presque rien" - sagt er mit +Leibnitz: man überhöre und unterschätze das presque nicht! Er ist auch +kein Mustermensch; er geht Niemandem voran, noch nach; er stellt sich +überhaupt zu ferne, als dass er Grund hätte, zwischen Gut und Böse +Partei zu ergreifen. Wenn man ihn so lange mit dem Philosophen +verwechselt hat, mit dem cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen +der Cultur: so hat man ihm viel zu hohe Ehren gegeben und das +Wesentlichste an ihm übersehen, - er ist ein Werkzeug, ein Stück +Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des Sklaven, an sich aber +Nichts, - presque rien! Der objektive Mensch ist ein Werkzeug, ein +kostbares, leicht verletzliches und getrübtes Mess-Werkzeug und +Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll; aber er ist kein +Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein complementärer Mensch, in dem das +übrige Dasein sich rechtfertigt, kein Schluss - und noch weniger ein +Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges, +Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will: vielmehr nur ein zarter +ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf irgend einen +Inhalt und Gehalt erst warten muss, um sich nach ihm "zu gestalten", +- für gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein "selbstloser" +Mensch. Folglich auch Nichts für Weiber, in parenthesi. - + + +208. + +Wenn heute ein Philosoph zu verstehen giebt, er sei kein Skeptiker, +- ich hoffe, man hat Das aus der eben gegebenen Abschilderung des +objektiven Geistes herausgehört? - so hört alle Welt das ungern; man +sieht ihn darauf an, mit einiger Scheu, man möchte so Vieles fragen, +fragen... ja, unter furchtsamen Horchern, wie es deren jetzt in Menge +giebt, heisst er von da an gefährlich. Es ist ihnen, als ob sie, +bei seiner Ablehnung der Skepsis, von Ferne her irgend ein böses +bedrohliches Geräusch hörten, als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff +versucht werde, ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes +Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloss +Nein sagt, Nein will, sondern - schrecklich zu denken! Nein thut. +Gegen diese Art von "gutem Willen" - einem Willen zur wirklichen +thätlichen Verneinung des Lebens - giebt es anerkanntermaassen heute +kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel, als Skepsis, den sanften +holden einlullenden Mohn Skepsis; und Hamlet selbst wird heute von den +Ärzten der Zeit gegen den "Geist" und sein Rumoren unter dem Boden +verordnet. "Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen +Geräuschen? sagt der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe +als eine Art von Sicherheits-Polizei: dies unterirdische Nein ist +fürchterlich! Stille endlich, ihr pessimistischen Maulwürfe!" Der +Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht; +sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei +einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie einen Biss zu +spüren. Ja! und Nein! - das geht ihm wider die Moral; umgekehrt liebt +er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa +indem er mit Montaigne spricht: "was weiss ich?" Oder mit Sokrates: +"ich weiss, dass ich Nichts weiss". Oder: "hier traue ich mir nicht, +hier steht mir keine Thür offen." Oder: "gesetzt, sie stünde offen, +wozu gleich eintreten!" Oder: "wozu nützen alle vorschnellen +Hypothesen? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten +Geschmack gehören. Müsst ihr denn durchaus etwas Krummes gleich gerade +biegen? Durchaus jedes Loch mit irgend welchem Werge ausstopfen? Hat +das nicht Zeit? Hat die Zeit nicht Zeit? Oh ihr Teufelskerle, könnt +ihr denn gar nicht warten? Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch +die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine Philosophin." - +Also tröstet sich ein Skeptiker; und es ist wahr, dass er einigen +Trost nöthig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer +gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in +gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt; sie entsteht +jedes Mal, wenn sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang +von einander abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen +Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe in's Blut +vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch; die +besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander +nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht, +Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit. Was aber in solchen +Mischlingen am tiefsten krank wird und entartet, das ist der Wille: +sie kennen das Unabhängige im Entschlusse, das tapfere Lustgefühl im +Wollen gar nicht mehr, - sie zweifeln an der "Freiheit des Willens" +auch noch in ihren Träumen. Unser Europa von heute, der Schauplatz +eines unsinnig plötzlichen Versuchs von radikaler Stände- und folglich +Rassenmischung, ist deshalb skeptisch in allen Höhen und Tiefen, bald +mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von +einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen +überladene Wolke, - und seines Willens oft bis zum Sterben satt! +Willenslähmung: wo findet man nicht heute diesen Krüppel sitzen! Und +oft noch wie geputzt! Wie verführerisch herausgeputzt! Es giebt die +schönsten Prunk- und Lügenkleider für diese Krankheit; und dass zum +Beispiel das Meiste von dem, was sich heute als "Objektivität", +"Wissenschaftlichkeit", "l'art pour l'art", "reines willensfreies +Erkennen" in die Schauläden stellt, nur aufgeputzte Skepsis und +Willenslähmung ist, - für diese Diagnose der europäischen Krankheit +will ich einstehn. - Die Krankheit des Willens ist ungleichmässig über +Europa verbreitet: sie zeigt sich dort am grössten und vielfältigsten, +wo die Cultur schon am längsten heimisch ist, sie verschwindet +im dem Maasse, als "der Barbar" noch - oder wieder - unter dem +schlotterichten Gewande von westländischer Bildung sein Recht geltend +macht. Im jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht +erschliessen als mit Händen greifen kann, der Wille am schlimmsten +erkrankt; und Frankreich, welches immer eine meisterhafte +Geschicklichkeit gehabt hat, auch die verhängnisvollen Wendungen +seines Geistes in's Reizende und Verführerische umzukehren, zeigt +heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zauber der +Skepsis sein Cultur-Übergewicht über Europa. Die Kraft zu wollen, +und zwar einen Willen lang zu wollen, ist etwas stärker schon in +Deutschland, und im deutschen Norden wiederum stärker als in der +deutschen Mitte; erheblich stärker in England, Spanien und Corsika, +dort an das Phlegma, hier an harte Schädel gebunden, - um nicht von +Italien zu reden, welches zu jung ist, als dass es schon wüsste, was +es wollte, und das erst beweisen muss, ob es wollen kann -, aber am +allerstärksten und erstaunlichsten in jenem ungeheuren Zwischenreiche, +wo Europa gleichsam nach Asien zurückfliesst, in Russland. Da ist die +Kraft zu wollen seit langem zurückgelegt und aufgespeichert, da wartet +der Wille - ungewiss, ob als Wille der Verneinung oder der Bejahung - +in bedrohlicher Weise darauf, ausgelöst zu werden, um den Physikern +von heute ihr Leibwort abzuborgen. Es dürften nicht nur indische +Kriege und Verwicklungen in Asien dazu nöthig sein, damit Europa von +seiner grössten Gefahr entlastet werde, sondern innere Umstürze, die +Zersprengung des Reichs in kleine Körper und vor Allem die Einführung +des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die Verpflichtung für +Jedermann, zum Frühstück seine Zeitung zu lesen. Ich sage dies nicht +als Wünschender: mir würde das Entgegengesetzte eher nach dem Herzen +sein, - ich meine eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands, +dass Europa sich entschliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu +werden, nämlich Einen Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen +über Europa herrschenden Kaste, einen langen furchtbaren eigenen +Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen könnte: - damit +endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso +seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss +käme. Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste +Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, - den Zwang zur +grossen Politik. + + +209. + +Inwiefern das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer +ersichtlich eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer +anderen und stärkeren Art von Skepsis günstig sein mag, darüber möchte +ich mich vorläufig nur durch ein Gleichniss ausdrücken, welches +die Freunde der deutschen Geschichte schon verstehen werden. Jener +unbedenkliche Enthusiast für schöne grossgewachsene Grenadiere, +welcher, als König von Preussen, einem militärischen und skeptischen +Genie - und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich +heraufgekommenen Typus des Deutschen - das Dasein gab, der fragwürdige +tolle Vater Friedrichs des Grossen, hatte in Einem Punkte selbst den +Griff und die Glücks-Kralle des Genies: er wusste, woran es damals in +Deutschland fehlte, und welcher Mangel hundert Mal ängstlicher und +dringender war, als etwa der Mangel an Bildung und gesellschaftlicher +Form, - sein Widerwille gegen den jungen Friedrich kam aus der Angst +eines tiefen Instinktes. Männer fehlten; und er argwöhnte zu seinem +bittersten Verdrusse, dass sein eigner Sohn nicht Manns genug sei. +Darin betrog er sich: aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht +betrogen? Er sah seinen Sohn dem Atheismus, dem esprit, der +genüsslichen Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen verfallen: - er +sah im Hintergrunde die grosse Blutaussaugerin, die Spinne Skepsis, er +argwöhnte das unheilbare Elend eines Herzens, das zum Bösen wie zum +Guten nicht mehr hart genug ist, eines zerbrochnen Willens, der nicht +mehr befiehlt, nicht mehr befehlen kann. Aber inzwischen wuchs in +seinem Sohne jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor +- wer weiss, wie sehr gerade durch den Hass des Vaters und durch die +eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens begünstigt? - die +Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und +zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen +Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis +verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in +Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie +giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng; +es ist die deutsche Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter +und in's Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine +gute Zeit unter die Botmässigkeit des deutschen Geistes und seines +kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem +unbezwinglich starken und zähen Manns-Charakter der grossen deutschen +Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn, +allesammt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung waren) stellte +sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie +ein neuer Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur +männlichen Skepsis entscheidend hervortrat: sei es zum Beispiel als +Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden +Hand, als zäher Wille zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu +vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen +Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und +oberflächliche Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste +bekreuzigen: cet esprit fataliste, ironique, méphistophélique nennt +ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen, wie +auszeichnend diese Furcht vor dem "Mann" im deutschen Geiste ist, +durch den Europa aus seinem "dogmatischen Schlummer" geweckt wurde, so +möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden +werden musste, - und wie es noch nicht zu lange her ist, dass ein +vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaassung wagen durfte, die +Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische +Tölpel der Theilnahme Europa's zu empfehlen. Man verstehe doch endlich +das Erstaunen Napoleon's tief genug, als er Goethen zu sehen bekam: es +verräth, was man sich Jahrhunderte lang unter dem "deutschen Geiste" +gedacht hatte. "Voilà un homme!" - das wollte sagen: Das ist ja ein +Mann! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet! - - + + +210. + +Gesetzt also, dass im Bilde der Philosophen der Zukunft irgend ein Zug +zu rathen giebt, ob sie nicht vielleicht, in dem zuletzt angedeuteten +Sinne, Skeptiker sein müssen, so wäre damit doch nur ein Etwas an +ihnen bezeichnet - und nicht sie selbst. Mit dem gleichen Rechte +dürften sie sich Kritiker nennen lassen; und sicherlich werden es +Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu +taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon +ausdrücklich unterstrichen: geschah dies deshalb, weil sie, als +Kritiker an Leib und Seele, sich des Experiments in einem neuen, +vielleicht weiteren, vielleicht gefährlicheren Sinne zu bedienen +lieben? Müssen sie, in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss, mit +verwegenen und schmerzhaften Versuchen weiter gehn, als es der +weichmüthige und verzärtelte Geschmack eines demokratischen +Jahrhunderts gut heissen kann? - Es ist kein Zweifel: diese +Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen +Eigenschaften entrathen dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker +abheben, ich meine die Sicherheit der Werthmaasse, die bewusste +Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das +Alleinstehn und Sich-verantworten-können; ja, sie gestehen bei sich +eine Lust am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene +Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiss, +auch noch, wenn das Herz blutet. Sie werden härter sein (und +vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen +mögen, sie werden sich nicht mit der "Wahrheit" einlassen, damit sie +ihnen "gefalle" oder sie "erhebe" und "begeistere": - ihr Glaube wird +vielmehr gering sein, dass gerade die Wahrheit solche Lustbarkeiten +für das Gefühl mit sich bringe. Sie werden lächeln, diese strengen +Geister, wenn Einer vor ihnen sagte "jener Gedanke erhebt mich: wie +sollte er nicht wahr sein?" Oder: "jenes Werk entzückt mich: wie +sollte es nicht schön sein?" Oder: "jener Künstler vergrössert mich: +wie sollte er nicht gross sein?" - sie haben vielleicht nicht nur ein +Lächeln, sondern einen ächten Ekel vor allem derartig Schwärmerischen, +Idealistischen, Femininischen, Hermaphroditischen bereit, und wer +ihnen bis in ihre geheimen Herzenskammern zu folgen wüsste, würde +schwerlich dort die Absicht vorfinden, "christliche Gefühle" mit +dem "antiken Geschmacke" und etwa gar noch mit dem "modernen +Parlamentarismus" zu versöhnen (wie dergleichen Versöhnlichkeit in +unserm sehr unsicheren, folglich sehr versöhnlichen Jahrhundert sogar +bei Philosophen vorkommen soll). Kritische Zucht und jede Gewöhnung, +welche zur Reinlichkeit und Strenge in Dingen des Geistes führt, +werden diese Philosophen der Zukunft nicht nur von sich verlangen: sie +dürften sie wie ihre Art Schmuck selbst zur Schau tragen, - trotzdem +wollen sie deshalb noch nicht Kritiker heissen. Es scheint ihnen keine +kleine Schmach, die der Philosophie angethan wird, wenn man dekretirt, +wie es heute so gern geschieht: "Philosophie selbst ist Kritik +und kritische Wissenschaft - und gar nichts ausserdem!" Mag diese +Werthschätzung der Philosophie sich des Beifalls aller Positivisten +Frankreichs und Deutschlands erfreuen (- und es wäre möglich, dass +sie sogar dem Herzen und Geschmacke Kant's geschmeichelt hätte: man +erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke -): unsre neuen Philosophen +werden trotzdem sagen: Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und +eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen! Auch +der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker. - + + +211. + +Ich bestehe darauf, dass man endlich aufhöre, die philosophischen +Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den +Philosophen zu verwechseln, - dass man gerade hier mit Strenge "Jedem +das Seine" und Jenen nicht zu Viel, Diesen nicht viel zu Wenig gebe. +Es mag zur Erziehung des wirklichen Philosophen nöthig sein, dass er +selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat, auf welchen +seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie, stehen +bleiben, - stehen bleiben müssen; er muss selbst vielleicht Kritiker +und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter +und Sammler und Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher +und "freier Geist" und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis +menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei +Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in +jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu können. Aber dies +Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe: diese Aufgabe selbst +will etwas Anderes, - sie verlangt, dass er Werthe schaffe. Jene +philosophischen Arbeiter nach dem edlen Muster Kant's und Hegel's +haben irgend einen grossen Thatbestand von Werthschätzungen - das +heisst ehemaliger Werthsetzungen, Werthschöpfungen, welche herrschend +geworden sind und eine Zeit lang "Wahrheiten" genannt werden - +festzustellen und in Formeln zu drängen, sei es im Reiche des +Logischen oder des Politischen (Moralischen) oder des Künstlerischen. +Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte +übersichtlich, überdenkbar, fasslich, handlich zu machen, alles Lange, +ja "die Zeit" selbst, abzukürzen und die ganze Vergangenheit zu +überwältigen: eine ungeheure und wundervolle Aufgabe, in deren Dienst +sich sicherlich jeder feine Stolz, jeder zähe Wille befriedigen kann. +Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie +sagen "so soll es sein!", sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des +Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen +Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, - sie greifen mit +schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird +ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr "Erkennen" ist +Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit +ist - Wille zur Macht. - Giebt es heute solche Philosophen? Gab es +schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben?.... + + +212. + +Es will mir immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein +nothwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit +seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste: sein +Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. Bisher haben alle diese +ausserordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen +nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern +eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten -, +ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich +aber die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer +Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer +vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes +Geheimniss war: um eine neue Grösse des Menschen zu wissen, um einen +neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung. Jedes Mal deckten +sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und +Sich-fallen lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer +zeitgenössischen Moralität versteckt, wie viel Tugend überlebt sei; +jedes Mal sagten sie: "wir müssen dorthin, dorthinaus, wo ihr heute am +wenigsten zu Hause seid." Angesichts einer Welt der "modernen Ideen", +welche Jedermann in eine Ecke und "Spezialität" bannen möchte, würde +ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen +sein, die Grösse des Menschen, den Begriff "Grösse" gerade in seine +Umfänglichkeit und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu +setzen: er würde sogar den Werth und Rang darnach bestimmen, wie viel +und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie weit Einer seine +Verantwortlichkeit spannen könnte. Heute schwächt und verdünnt der +Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so sehr +zeitgemäss als Willensschwäche: also muss, im Ideale des Philosophen, +gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen +Entschliessungen in den Begriff "Grösse" hineingehören; mit so gutem +Rechte als die umgekehrte Lehre und das Ideal einer blöden entsagenden +demüthigen selbstlosen Menschlichkeit einem umgekehrten Zeitalter +angemessen war, einem solchen, das gleich dem sechszehnten Jahrhundert +an seiner aufgestauten Energie des Willens und den wildesten Wässern +und Sturmfluthen der Selbstsucht litt. Zur Zeit des Sokrates, unter +lauter Menschen des ermüdeten Instinktes, unter conservativen +Altathenern, welche sich gehen liessen - "zum Glück", wie sie sagten, +zum Vergnügen, wie sie thaten - und die dabei immer noch die alten +prunkvollen Worte in den Mund nahmen, auf die ihnen ihr Leben längst +kein Recht mehr gab, war vielleicht Ironie zur Grösse der Seele +nöthig, jene sokratische boshafte Sicherheit des alten Arztes und +Pöbelmanns, welcher schonungslos in's eigne Fleisch schnitt, wie +in's Fleisch und Herz des "Vornehmen", mit einem Blick, welcher +verständlich genug sprach: "verstellt euch vor mir nicht! Hier - sind +wir gleich!" Heute umgekehrt, wo in Europa das Heerdenthier allein +zu Ehren kommt und Ehren vertheilt, wo die "Gleichheit der Rechte" +allzuleicht sich in die Gleichheit im Unrechte umwandeln könnte: +ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden, +Bevorrechtigten, des höheren Menschen, der höheren Seele, der höheren +Pflicht, der höheren Verantwortlichkeit, der schöpferischen Machtfülle +und Herrschaftlichkeit - heute gehört das Vornehm-sein, das +Für-sich-sein-wollen, das Anders-sein-können, das Allein-stehn und +auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff "Grösse"; und der Philosoph +wird Etwas von seinem eignen Ideal verrathen, wenn er aufstellt: "der +soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, +der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, er Herr +seiner Tugenden, der überreiche des Willens; dies eben soll Grösse +heissen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können." +Und nochmals gefragt: ist heute - Grösse möglich? + + +213. + +Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es +nicht zu lehren ist: man muss es "wissen", aus Erfahrung, - oder man +soll den Stolz haben, es nicht zu wissen. Dass aber heutzutage alle +Welt von Dingen redet, in Bezug auf welche sie keine Erfahrung +haben kann, gilt am meisten und schlimmsten vom Philosophen und den +philosophischen Zuständen: - die Wenigsten kennen sie, dürfen sie +kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch. So ist +zum Beispiel jenes ächt philosophische Beieinander einer kühnen +ausgelassenen Geistigkeit, welche presto läuft, und einer +dialektischen Strenge und Nothwendigkeit, die keinen Fehltritt thut, +den meisten Denkern und Gelehrten von ihrer Erfahrung her unbekannt +und darum, falls jemand davon vor ihnen reden wollte, un glaubwürdig. +Sie stellen sich jede Nothwendigkeit als Noth, als peinliches +Folgen-müssen und Gezwungen-werden vor; und das Denken selbst gilt +ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal und +oft genug als "des Schweisses der Edlen werth" - aber ganz und gar +nicht als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermuthe, +Nächst-Verwandtes! "Denken" und eine Sache "ernst nehmen", "schwer +nehmen" - das gehört bei ihnen zu einander: so allein haben sie es +"erlebt" -. Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung +haben.- sie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts +mehr "willkürlich" und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von +Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen, +Gestalten auf seine Höhe kommt, - kurz, dass Nothwendigkeit und +"Freiheit des Willens" dann bei ihnen Eins sind. Es giebt zuletzt eine +Rangordnung seelischer Zustände, welcher die Rangordnung der Probleme +gemäss ist; und die höchsten Probleme stossen ohne Gnade Jeden zurück, +der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und Macht seiner Geistigkeit +zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein. Was hilft es, wenn gelenkige +Allerwelts-Köpfe oder ungelenke brave Mechaniker und Empiriker sich, +wie es heute so vielfach geschieht, mit ihrem Plebejer-Ehrgeize in +ihre Nähe und gleichsam an diesen "Hof der Höfe" drängen! Aber auf +solche Teppiche dürfen grobe Füsse nimmermehr treten: dafür ist +im Urgesetz der Dinge schon gesorgt; die Thüren bleiben diesen +Zudringlichen geschlossen, mögen sie sich auch die Köpfe daran stossen +und zerstossen! Für jede hohe Welt muss man geboren sein; deutlicher +gesagt, man muss für sie gezüchtet sein: ein Recht auf Philosophie - +das Wort im grossen Sinne genommen - hat man nur Dank seiner Abkunft, +die Vorfahren, das "Geblüt" entscheidet auch hier. Viele Geschlechter +müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben; jede seiner +Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt +worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und Lauf +seiner Gedanken, sondern vor Allem die Bereitwilligkeit zu grossen +Verantwortungen, die Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke, das +Sich-Abgetrennt-Fühlen von der Menge und ihren Pflichten und Tugenden, +das leutselige Beschützen und Vertheidigen dessen, was missverstanden +und verleumdet wird, sei es Gott, sei es Teufel, die Lust und Übung +in der grossen Gerechtigkeit, die Kunst des Befehlens, die Weite des +Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinauf +blickt, selten liebt.... + + + + +Siebentes Hauptstück: + +Unsere Tugenden. + +214. + +Unsere Tugenden? - Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere +Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen +und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere +Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir +Europäer von übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts, +- mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit +und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten +Grausamkeit in Geist und Sinnen, - wir werden vermuthlich, wenn +wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unsren +heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unsern heissesten +Bedürfnissen am besten vertragen lernten: wohlan, suchen wir einmal +nach ihnen in unsren Labyrinthen! - woselbst sich, wie man weiss, so +mancherlei verliert, so mancherlei ganz verloren geht. Und giebt es +etwas Schöneres, als nach seinen eigenen Tugenden suchen? Heisst dies +nicht beinahe schon: an seine eigne Tugend glauben? Dies aber "an +seine Tugend glauben" - ist dies nicht im Grunde dasselbe, was man +ehedem sein "gutes Gewissen" nannte, jener ehrwürdige langschwänzige +Begriffs-Zopf, den sich unsre Grossväter hinter ihren Kopf, oft genug +auch hinter ihren Verstand hängten? Es scheint demnach, wie wenig wir +uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken mögen, +in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir +letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren +Zopf. - Ach! Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon - anders +kommt!..... + + +215. + +Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn +Eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener +Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte, +bald mit grünen Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn treffend +und bunt überfluthend: so sind wir modernen Menschen, Dank der +complicirten Mechanik unsres "Sternenhimmels" - durch verschiedene +Moralen bestimmt; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in +verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, - und es giebt genug +Fälle, wo wir bunte Handlungen thun. + + +216. + +Seine Feinde lieben? Ich glaube, das ist gut gelernt worden: es +geschieht heute tausendfältig, im Kleinen und im Grossen; ja es +geschieht bisweilen schon das Höhere und Sublimere - wir lernen +verachten, wenn wir lieben, und gerade wenn wir am besten lieben: - +aber alles dies unbewusst, ohne Lärm, ohne Prunk, mit jener Scham und +Verborgenheit der Güte, welche dem Munde das feierliche, Wort und die +Tugend-Formel verbietet. Moral als Attitüde - geht uns heute wider +den Geschmack. Dies ist auch ein Fortschritt: wie es der Fortschritt +unsrer Väter war, dass ihnen endlich Religion als Attitüde wider +den Geschmack gieng, eingerechnet die Feindschaft und Voltairische +Bitterkeit gegen die Religion (und was Alles ehemals zur +Freigeist-Gebärdensprache gehörte). Es ist die Musik in unserm +Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem alle Puritaner-Litanei, +alle Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will. + + +217. + +Sich vor Denen in Acht nehmen, welche einen hohen Werth darauf legen, +dass man ihnen moralischen Takt und Feinheit in der moralischen +Unterscheidung zutraue! Sie vergeben es uns nie, wenn sie sich einmal +vor uns (oder gar an uns) vergriffen haben, - sie werden unvermeidlich +zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern, selbst wenn +sie noch unsre "Freunde" bleiben. - Selig sind die Vergesslichen: denn +sie werden auch mit ihren Dummheiten "fertig". + + +218. + +Die Psychologen Frankreichs - und wo giebt es heute sonst noch +Psychologen? - haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges +Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als +wenn genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der +brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts +Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer +Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung - denn es wird +langweilig -, ein anderes Ding zum Entzücken: das ist die unbewusste +Verschlagenheit, mit der sich alle guten dicken braven Geister des +Mittelmaasses zu höheren Geistern und deren Aufgaben verhalten, jene +feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit, welche tausend Mal +feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses Mittelstandes in +seinen besten Augenblicken - sogar auch als der Verstand seiner +Opfer -: zum abermaligen Beweise dafür, dass der "Instinkt" unter +allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die +intelligenteste ist. Kurz, studirt, ihr Psychologen, die Philosophie +der "Regel" im Kampfe mit der "Ausnahme": da habt ihr ein Schauspiel, +gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit! Oder, noch +heutlicher: treibt Vivisektion am "guten Menschen", am "homo bonae +voluntatis" an euch! + + +219. + +Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die Lieblings-Rache der +Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art +Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden, +endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen und fein zu werden: - +Bosheit vergeistigt. Es thut ihnen im Grunde ihres Herzens wohl, dass +es einen Maassstab giebt, vor dem auch die mit Gütern und Vorrechten +des Geistes überhäuften ihnen gleich stehn: - sie kämpfen für die +"Gleichheit Aller vor Gott" und brauchen beinahe dazu schon den +Glauben an Gott. Unter ihnen sind die kräftigsten Gegner des +Atheismus. Wer ihnen sagte "eine hohe Geistigkeit ist ausser Vergleich +mit irgend welcher Bravheit und Achtbarkeit eines eben nur moralischen +Menschen", würde sie rasend machen: - ich werde mich hüten, es zu +thun. Vielmehr möchte ich ihnen mit meinem Satze schmeicheln, dass +eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausgeburt moralischer +Qualitäten besteht; dass sie eine Synthesis aller jener Zustände ist, +welche den "nur moralischen" Menschen nachgesagt werden, nachdem sie, +einzeln, durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen Ketten +von Geschlechtern erworben sind; dass die hohe Geistigkeit eben die +Vergeistigung der Gerechtigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche +sich beauftragt weiss, die Ordnung des Ranges in der Welt aufrecht zu +erhalten, unter den Dingen selbst - und nicht nur unter Menschen. + + +220. + +Bei dem jetzt so volksthümlichen Lobe des "Uninteressirten" muss man +sich, vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewusstsein bringen, +woran eigentlich das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge +sind, um die sich der gemeine Mann gründlich und tief kümmert: die +Gebildeten eingerechnet, sogar die Gelehrten, und wenn nicht Alles +trügt, beinahe auch die Philosophen. Die Thatsache kommt dabei heraus, +dass das Allermeiste von dem, was feinere und verwöhntere Geschmäcker, +was jede höhere Natur interessirt und reizt, dem durchschnittlichen +Menschen gänzlich "uninteressant" scheint: - bemerkt er trotzdem eine +Hingebung daran, so nennt er sie "désintéressé" und wundert sich, +wie es möglich ist, "uninteressirt" zu handeln. Es hat Philosophen +gegeben, welche dieser Volks-Verwunderung noch einen verführerischen +und mystisch-jenseitigen Ausdruck zu verleihen wussten (- vielleicht +weil sie die höhere Natur nicht aus Erfahrung kannten?) - statt +die nackte und herzlich billige Wahrheit hinzustellen, dass die +"uninteressirte" Handlung eine sehr interessante und interessirte +Handlung ist, vorausgesetzt..... "Und die Liebe?" - Wie! Sogar eine +Handlung aus Liebe soll "unegoistisch" sein? Aber ihr Tölpel -! "Und +das Lob des Aufopfernden?" - Aber wer wirklich Opfer gebracht hat, +weiss, dass er etwas dafür wollte und bekam, - vielleicht etwas von +sich für etwas von sich - dass er hier hingab, um dort mehr zu haben, +vielleicht um überhaupt mehr zu sein oder sich doch als "mehr" zu +fühlen. Aber dies ist ein Reich von Fragen und Antworten, in dem ein +verwöhnterer Geist sich ungern aufhält: so sehr hat hier bereits die +Wahrheit nöthig, das Gähnen zu unterdrücken, wenn sie antworten muss. +Zuletzt ist sie ein Weib: man soll ihr nicht Gewalt anthun. + + +221. + +Es kommt vor, sagte ein moralistischer Pedant und Kleinigkeitskrämer, +dass ich einen uneigennützigen Menschen ehre und auszeichne: nicht +aber, weil er uneigennützig ist, sondern weil er mir ein Recht darauf +zu haben scheint, einem anderen Menschen auf seine eignen Unkosten zu +nützen. Genug, es fragt sich immer, wer er ist und wer Jener ist. An +Einem zum Beispiele, der zum Befehlen bestimmt und gemacht wäre, würde +Selbst-Verleugnung und bescheidenes Zurücktreten nicht eine Tugend, +sondern die Vergeudung einer Tugend sein: so scheint es mir. Jede +unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an Jedermann +wendet, sündigt nicht nur gegen den Geschmack: sie ist eine Aufreizung +zu Unterlassungs-Sünden, eine Verführung mehr unter der Maske der +Menschenfreundlichkeit - und gerade eine Verführung und Schädigung +der Höheren, Seltneren, Bevorrechteten. Man muss die Moralen zwingen, +sich zu allererst vor der Rangordnung zu beugen, man muss ihnen ihre +Anmaassung in's Gewissen schieben, - bis sie endlich mit einander +darüber in's Klare kommen, das es unmoralisch ist zu sagen: "was dem +Einen recht ist, ist dem Andern billig". - Also mein moralistischer +Pedant und bonhomme: verdiente er es wohl, dass man ihn auslachte, als +er die Moralen dergestalt zur Moralität ermahnte? Aber man soll nicht +zu viel Recht haben, wenn man die Lacher auf seiner Seite haben will; +ein Körnchen Unrecht gehört sogar zum guten Geschmack. + + +222. + +Wo heute Mitleiden gepredigt wird - und, recht gehört, wird jetzt +keine andre Religion mehr gepredigt - möge der Psycholog seine Ohren +aufmachen: durch alle Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch, der diesen +Predigern (wie allen Predigern) zu eigen ist, wird er einen heiseren, +stöhnenden, ächten Laut von Selbst-Verachtung hören. Sie gehört zu +jener Verdüsterung und Verhässlichung Europa's, welche jetzt ein +Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste Symptome schon in +einem nachdenklichen Briefe Galiani's an Madame d'Epinay urkundlich +verzeichnet sind): wenn sie nicht deren Ursache ist! Der Mensch der +"modernen Ideen", dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst +unzufrieden: dies steht fest. Er leidet: und seine Eitelkeit will, +dass er nur "mit leidet"...... + + +223. + +Der europäische Mischmensch - ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles +in Allem - braucht schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie +nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, +dass ihm keines recht auf den Leib passt, - er wechselt und wechselt. +Man sehe sich das neunzehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben +und Wechsel der Stil-Maskeraden an; auch auf die Augenblicke der +Verzweiflung darüber, dass uns "nichts steht" -. Unnütz, sich +romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder +barokko oder "national" vorzuführen, in moribus et artibus: "es +kleidet nicht"! Aber der "Geist", insbesondere der "historische +Geist", ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheil: +immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, +umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem studirt: - wir sind das +erste studirte Zeitalter in puncto der "Kostüme", ich meine der +Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet +wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum +geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen +Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. +Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch +entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa +als Pazodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, - vielleicht +dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser +Lachen noch Zukunft hat! + + +224. + +Der historische Sinn (oder die Fähigkeit, die Rangordnung von +Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine +Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der "divinatorische Instinkt" +für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der +Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte): dieser +historische Sinn, auf welchen wir Europäer als auf unsre Besonderheit +Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und tollen +Halbbarbarei gekommen, in welche Europa durch die demokratische +Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist, - erst das +neunzehnte Jahrhundert kennt diesen Sinn, als seinen sechsten Sinn. +Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die +früher hart neben einander, über einander lagen, strömt Dank jener +Mischung in uns "moderne Seelen" aus, unsre Instinkte laufen nunmehr +überallhin zurück, wir selbst sind eine Art Chaos -: schliesslich +ersieht sich "der Geist", wie gesagt, seinen Vortheil dabei. Durch +unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge +überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor +Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu +jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und +insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben +Halbbarbarei war, bedeutet "historischer Sinn" beinahe den Sinn und +Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles: womit er +sich sofort als ein unvornehmer Sinn ausweist. Wir geniessen zum +Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücklichster +Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die +Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten +Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, +selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen +wissen und wussten, - welchen zu geniessen sie sich kaum erlaubten. +Das sehr bestimmte Ja und Nein ihres Gaumens, ihr leicht bereiter +Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in Bezug auf alles Fremdartige, +ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften Neugierde, und +überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen +Cultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen, +eine Bewunderung des Fremden einzugestehen: alles dies stellt und +stimmt sie ungünstig selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche +nicht ihr Eigenthum sind oder ihre Beute werden könnten, - und kein +Sinn ist solchen Menschen unverständlicher, als gerade der historische +Sinn und seine unterwürfige Plebejer-Neugierde. Nicht anders steht es +mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-maurisch-sächsischen +Geschmacks-Synthesis, über welchen sich ein Altathener aus der +Freundschaft des Aeschylus halbtodt gelacht oder geärgert haben würde: +aber wir - nehmen gerade diese wilde Buntheit, dies Durcheinander +des Zartesten, Gröbsten und Künstlichsten, mit einer geheimen +Vertraulichkeit und Herzlichkeit an, wir geniessen ihn als das gerade +uns aufgesparte Raffinement der Kunst und lassen uns dabei von den +widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher +Shakespeare's Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören, als etwa +auf der Chiaja Neapels: wo wir mit allen unsren Sinnen, bezaubert +und willig, unsres Wegs gehn, wie sehr auch die Cloaken der +Pöbel-Quartiere in der Luft sind. Wir Menschen des "historischen +Sinns": wir haben als solche unsre Tugenden, es ist nicht zu +bestreiten, - wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer, +voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr +geduldig, sehr entgegenkommend: - wir sind mit Alledem vielleicht +nicht sehr "geschmackvoll". Gestehen wir es uns schliesslich zu: +was uns Menschen des "historischen Sinns" am schwersten zu fassen, +zu fühlen, nachzuschmecken, nachzulieben ist, was uns im Grunde +voreingenommen und fast feindlich findet, das ist gerade das +Vollkommene und Letzthin - Reife in jeder Cultur und Kunst, das +eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten +Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldene und Kalte, +welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben. Vielleicht steht +unsre grosse Tugend des historischen Sinns in einem nothwendigen +Gegensatz zum guten Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke, +und wir vermögen gerade die kleinen kurzen und höchsten Glücksfälle +und Verklärungen des menschlichen Lebens, wie sie hier und da +einmal aufglänzen, nur schlecht, nur zögernd, nur mit Zwang in uns +nachzubilden: jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft +freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb -, wo +ein Überfluss von feiner Lust in der plötzlichen Bändigung und +Versteinerung, im Feststehen und Sich-Fest-Stellen auf einem noch +zitternden Boden genossen wurde. Das Maass ist uns fremd, gestehen +wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, +Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen +wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir +Halbbarbaren - und sind erst dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am +meisten - in Gefahr sind. + + +225. + +Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: +alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heisst nach +Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind +Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich +gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht +ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit +euch! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist +nicht Mitleiden mit der socialen "Noth", mit der "Gesellschaft" und +ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von +Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger +Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten, +welche nach Herrschaft - sie nennen's "Freiheit" - trachten. Unser +Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden: - wir sehen, wie +der Mensch sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! - und es giebt +Augenblicke, wo wir gerade eurem Mitleiden mit einer unbeschreiblichen +Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren -, wo wir +euren Ernst gefährlicher als irgend welche Leichtfertigkeit finden. +Ihr wollt womöglich - und es giebt kein tolleres "womöglich" - das +Leiden abschaffen; und wir? - es scheint gerade, wir wollen es lieber +noch höher und schlimmer haben, als je es war! Wohlbefinden, wie ihr +es versteht - das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein Ende! Ein +Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich +macht, - der seinen Untergang wünschen macht! Die Zucht des Leidens, +des grossen Leidens - wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle +Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele +im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick +des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im +Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur +je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden +ist: - ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen +Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer +vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, +Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, +Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: - versteht ihr +diesen Gegensatz? Und dass euer Mitleid dem "Geschöpf im Menschen" +gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, +geglüht, geläutert werden muss, - dem, was nothwendig leiden muss +und leiden soll? Und unser Mitleid - begreift ihr's nicht, wem unser +umgekehrtes Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als +gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen? - Mitleid +also gegen Mitleid! - Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme +als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme; und jede Philosophie, +die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät. - + + +226. + +Wir Immoralisten! - Diese Welt, die uns angeht, in der wir zu fürchten +und zu lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen +Befehlens, feinen Gehorchens, eine Welt des "Beinahe" in jedem +Betrachte, häklich, verfänglich, spitzig, zärtlich: ja, sie ist gut +vertheidigt gegen plumpe Zuschauer und vertrauliche Neugierde! Wir +sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und +können da nicht heraus -, darin eben sind wir "Menschen der Pflicht", +auch wir! Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern "Ketten" +und zwischen unsern "Schwertern"; öfter, es ist nicht minder wahr, +knirschen wir darunter und sind ungeduldig über all die heimliche +Härte unsres Geschicks. Aber wir mögen thun, was wir wollen: die +Tölpel und der Augenschein sagen gegen uns "das sind Menschen ohne +Pflicht" - wir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns! + + +227. + +Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht +loskönnen, wir freien Geister - nun, wir wollen mit aller Bosheit und +Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die +allein uns übrig blieb, zu "vervollkommnen": mag ihr Glanz einmal wie +ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden +Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste liegen bleiben! Und wenn +dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die +Glieder streckt und uns zu hart findet und es besser, leichter, +zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster: bleiben wir +hart, wir letzten Stoiker! und schicken wir ihr zu Hülfe, was wir nur +an Teufelei in uns haben - unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren, +unser "nitimur in vetitum", unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte +und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten +Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche +der Zukunft schweift und schwärmt, - kommen wir unserm "Gotte" mit +allen unsern "Teufeln" zu Hülfe! Es ist wahrscheinlich, dass man uns +darob verkennt und verwechselt: was liegt daran! Man wird sagen: "ihre +"Redlichkeit" - das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr!" was liegt +daran! Und selbst wenn man Recht hätte! Waren nicht alle Götter bisher +dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was wissen wir +zuletzt von uns? Und wie der Geist heissen will, der uns führt? (es +ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen? Unsre +Redlichkeit, wir freien Geister, - sorgen wir dafür, dass sie nicht +unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit +werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; "dumm +bis zur Heiligkeit" sagt man in Russland, - sorgen wir dafür, dass +wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen +werden! Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich in ihm - zu +langweilen? Man müsste schon an's ewige Leben glauben, um.... + + +228. + +Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moral-Philosophie bisher +langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte - und dass "die +Tugend" durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist, +als durch diese Langweiligkeit ihrer Fürsprecher; womit ich noch nicht +deren allgemeine Nützlichkeit verkannt haben möchte. Es liegt viel +daran, dass so wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken, - es +liegt folglich sehr viel daran, dass die Moral nicht etwa eines Tages +interessant werde! Aber man sei unbesorgt! Es steht auch heute noch +so, wie es immer stand: ich sehe Niemanden in Europa, der einen +Begriff davon hätte (oder gäbe), dass das Nachdenken über Moral +gefährlich, verfänglich, verführerisch getrieben werden könnte, - +dass Verhängniss darin liegen könnte! Man sehe sich zum Beispiel die +unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump +und ehrenwerth in den Fusstapfen Bentham's, daher wandeln, dahin +wandeln (ein homerisches Gleichniss sagt es deutlicher), so wie er +selbst schon in den Fusstapfen des ehrenwerthen Helvétius wandelte +(nein, das war kein gefährlicher Mensch, dieser Helvétius!). Kein +neuer Gedanke, Nichts von feinerer Wendung und Faltung eines alten +Gedankens, nicht einmal eine wirkliche Historie des früher Gedachten: +eine unmögliche Litteratur im Ganzen, gesetzt, dass man sie nicht mit +einiger Bosheit sich einzusäuern versteht. Es hat sich nämlich auch +in diese Moralisten (welche man durchaus mit Nebengedanken lesen +muss, falls man sie lesen muss-), jenes alte englische Laster +eingeschlichen, das cant heisst und moralische Tartüfferie ist, +dies Mal unter die neue Form der Wissenschaftlichkeit versteckt; es +fehlt auch nicht an geheimer Abwehr von Gewissensbissen, an denen +billigerweise eine Rasse von ehemaligen Puritanern bei aller +wissenschaftlichen Befassung mit Moral leiden wird. (Ist ein Moralist +nicht das Gegenstück eines Puritaners? Nämlich als ein Denker, der +die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt? +Sollte Moralisiren nicht - unmoralisch sein?) Zuletzt wollen sie Alle, +dass die englische Moralität Recht bekomme: insofern gerade damit +der Menschheit, oder dem "allgemeinen Nutzen" oder "dem Glück der +Meisten", nein! dem Glücke Englands am besten gedient wird; sie +möchten mit allen Kräften sich beweisen, dass das Streben nach +englischem Glück, ich meine nach comfort und fashion (und, an höchster +Stelle, einem Sitz im Parlament) zugleich auch der rechte Pfad der +Tugend sei, ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben +hat, es eben in einem solchen Streben bestanden habe. Keins von +allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Heerdenthieren +(die die Sache des Egoismus als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu +führen unternehmen -) will etwas davon wissen und riechen, dass die +"allgemeine Wohlfahrt" kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer +Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, - dass, was dem Einen +billig ist, durchaus noch nicht dem Andern billig sein kann, dass die +Forderung Einer Moral für Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren +Menschen ist, kurz, dass es eine Rangordnung zwischen Mensch und +Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral giebt. Es ist +eine bescheidene und gründlich mittelmässige Art Mensch, diese +utilitarischen Engländer, und, wie gesagt: insofern sie langweilig +sind, kann man nicht hoch genug von ihrer Utilität denken. Man sollte +sie noch ermuthigen: wie es, zum Theil, mit nachfolgenden Reimen +versucht worden ist. + + Heil euch, brave Karrenschieber, + Stets "je länger, desto lieber", + Steifer stets an Kopf und Knie, + Unbegeistert, ungespässig, + Unverwüstlich-mittelmässig, + Sans genie et sans esprit! + + +229. + +Es bleibt in jenen späten Zeitaltern, die auf Menschlichkeit stolz +sein dürfen, so viel Furcht, so viel Aberglaube der Furcht vor dem +"wilden grausamen Thiere" zurück, über welches Herr geworden zu sein +eben den Stolz jener menschlicheren Zeitalter ausmacht, dass selbst +handgreifliche Wahrheiten wie auf Verabredung Jahrhunderte lang +unausgesprochen bleiben, weil sie den Anschein haben, jenem wilden, +endlich abgetödteten Thiere wieder zum Leben zu verhelfen. Ich wage +vielleicht etwas, wenn ich eine solche Wahrheit mir entschlüpfen +lasse: mögen Andre sie wieder einfangen und ihr so viel "Milch der +frommen Denkungsart" zu trinken geben, bis sie still und vergessen in +ihrer alten Ecke liegt. - Man soll über die Grausamkeit umlernen und +die Augen aufmachen; man soll endlich Ungeduld lernen, damit nicht +länger solche unbescheidne dicke Irrthümer tugendhaft und dreist +herumwandeln, wie sie zum Beispiel in Betreff der Tragödie von alten +und neuen Philosophen aufgefüttert worden sind. Fast Alles, was wir +"höhere Cultur" nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung +der Grausamkeit - dies ist mein Satz; jenes "wilde Thier" ist gar +nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur - +vergöttlicht. Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist +Grausamkeit; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar +in allem Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern +der Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von +der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der +Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier +Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japanese von +heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadt-Arbeiter, +der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianerin, +welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich "ergehen +lässt", - was diese Alle geniessen und mit geheimnissvoller Brunst in +sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der grossen +Circe "Grausamkeit". Dabei muss man freilich die tölpelhafte +Psychologie von Ehedem davon jagen, welche von der Grausamkeit nur +zu lehren wusste, dass sie beim Anblicke fremden Leides entstünde: +es giebt einen reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen +Leiden, am eignen Sich-leiden-machen, - und wo nur der Mensch zur +Selbst-Verleugnung im religiösen Sinne oder zur Selbstverstümmelung, +wie bei Phöniziern und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung, +Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Busskrampfe, zur +Gewissens-Vivisektion und zum Pascalischen sacrifizio dell'intelletto +sich überreden lässt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit +gelockt und vorwärts gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der +gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit. Zuletzt erwäge man, dass +selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt, wider den Hang +des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu +erkennen - nämlich Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten +möchte -, als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet; schon +jedes Tief- und Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung, ein +Wehe-thun-wollen am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig +zum Scheine und zu den Oberflächen hin will, - schon in jedem +Erkennen-Wollen ist ein Tropfen Grausamkeit. + + +230. + +Vielleicht versteht man nicht ohne Weiteres, was ich hier von +einem "Grundwillen des Geistes" gesagt habe: man gestatte mir eine +Erläuterung. - Das befehlerische Etwas, das vom Volke "der Geist" +genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als +Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, +einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich +herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin +die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst +und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich +anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten +anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich +Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen: ebenso wie er +bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück "Aussenwelt" +willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurecht fälscht. +Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer "Erfahrungen" auf +Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, - auf Wachsthum also; +bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachsthums, auf das Gefühl +der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar +entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender +Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein +Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem +Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand +gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit +dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gut-heissen der +Unwissenheit: wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner +aneignenden Kraft, seiner "Verdauungskraft", im Bilde geredet - und +wirklich gleicht "der Geist" am meisten noch einem Magen. Insgleichen +gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu +lassen, vielleicht mit einer muthwilligen Ahnung davon, dass es so +und so nicht steht, dass man es so und so eben nur gelten lässt, eine +Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender +Selbstgenuss an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, +am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrösserten, Verkleinerten, +Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuss an der Willkürlichkeit +aller dieser Machtäusserungen. Endlich gehört hierher jene nicht +unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen +und sich vor ihnen zu verstellen, jener beständige Druck und Drang +einer schaffenden, bildenden, wandelfähigen Kraft: der Geist geniesst +darin seine Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit, er geniesst +auch das Gefühl seiner Sicherheit darin, - gerade durch seine +Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt! - Diesem +Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur +Oberfläche - denn jede Oberfläche ist ein Mantel - wirkt jener sublime +Hang des Erkennenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich +nimmt und nehmen will: als eine Art Grausamkeit des intellektuellen +Gewissens und Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich +anerkennen wird, gesetzt dass er, wie sich gebührt, sein Auge für sich +selbst lange genug gehärtet und gespitzt hat und an strenge Zucht, +auch an strenge Worte gewöhnt ist. Er wird sagen "es ist etwas +Grausames im Hange meines Geistes": - mögen die Tugendhaften +und Liebenswürdigen es ihm auszureden suchen! In der That, es +klänge artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine +"ausschweifende Redlichkeit" nachsagte, nachraunte, nachrühmte, - uns +freien, sehr freien Geistern: - und so klingt vielleicht wirklich +einmal unser - Nachruhm? Einstweilen - denn es hat Zeit bis dahin - +möchten wir selbst wohl am wenigsten geneigt sein, uns mit dergleichen +moralischen Wort-Flittern und -Franzen aufzuputzen: unsre ganze +bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack und seine +muntere Üppigkeit. Es sind schöne glitzernde klirrende festliche +Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, +Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, - es ist +Etwas daran, das Einem den Stolz schwellen macht. Aber wir Einsiedler +und Murmelthiere, wir haben uns längst in aller Heimlichkeit eines +Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdige Wort-Prunk +zu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewussten +menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher +schmeichlerischen Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext +homo natura wieder heraus erkannt werden muss. Den Menschen +nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und +schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher +über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; +machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute +schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen +Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten +Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer +Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: "du bist mehr! +du bist höher! du bist anderer Herkunft!" - das mag eine seltsame und +tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe - wer wollte das leugnen! +Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt: +"warum überhaupt Erkenntniss?" - Jedermann wird uns darnach fragen. +Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male +selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere +Antwort.... + + +231. + +Das Lernen verwandelt uns, es thut Das, was alle Ernährung thut, die +auch nicht bloss "erhält" -: wie der Physiologe weiss. Aber im Grunde +von uns, ganz "da unten", giebt es freilich etwas Unbelehrbares, einen +Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und +Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen +Probleme redet ein unwandelbares "das bin ich"; über Mann und Weib zum +Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen, - nur +zu Ende entdecken, was darüber bei ihm "feststeht". Man findet bei +Zeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben +machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine "Überzeugungen". +Später - sieht man in ihnen nur Fusstapfen zur Selbsterkenntniss, +Wegweiser zum Probleme, das wir sind, - richtiger, zur grossen +Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren +ganz "da unten". - Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie +eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher +schon gestattet sein, über das "Weib an sich" einige Wahrheiten +herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiss, wie +sehr es eben nur - meine Wahrheiten sind. - + + +232. + +Das Weib will selbständig werden: und dazu fängt es an, die Männer +über das "Weib an sich" aufzuklären - das gehört zu den schlimmsten +Fortschritten der allgemeinen Verhässlichung Europa's. Denn was +müssen diese plumpen Versuche der weiblichen Wissenschaftlichkeit und +Selbst-Entblössung Alles an's Licht bringen! Das Weib hat so viel +Grund zur Scham; im Weibe ist so viel Pedantisches, Oberflächliches, +Schulmeisterliches, Kleinlich-Anmaassliches, Kleinlich-Zügelloses +und -Unbescheidenes versteckt - man studire nur seinen Verkehr mit +Kindern! -, das im Grunde bisher durch die Furcht vor dem Manne +am besten zurückgedrängt und gebändigt wurde. Wehe, wenn erst das +"Ewig-Langweilige am Weibe" - es ist reich daran! - sich hervorwagen +darf! wenn es seine Klugheit und Kunst, die der Anmuth, des Spielens, +Sorgen-Wegscheuchens, Erleichterns und Leicht-Nehmens, wenn es +seine feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden gründlich und +grundsätzlich zu verlernen beginnt! Es werden schon jetzt weibliche +Stimmen laut, welche, beim heiligen Aristophanes! Schrecken machen, es +wird mit medizinischer Deutlichkeit gedroht, was zuerst und zuletzt +das Weib vom Manne will. Ist es nicht vom schlechtesten Geschmacke, +wenn das Weib sich dergestalt anschickt, wissenschaftlich zu werden? +Bisher war glücklicher Weise das Aufklären Männer-Sache, Männer-Gabe +- man blieb damit "unter sich"; und man darf sich zuletzt, bei +Allem, was Weiber über "das Weib" schreiben, ein gutes Misstrauen +vorbehalten, ob das Weib über sich selbst eigentlich Aufklärung will +- und wollen kann Wenn ein Weib damit nicht einen neuen Putz für sich +sucht - ich denke doch, das Sich-Putzen gehört zum Ewig-Weiblichen? - +nun, so will es vor sich Furcht erregen: - es will damit vielleicht +Herrschaft. Aber es will nicht Wahrheit: was liegt dem Weibe an +Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger, +feindlicher als Wahrheit, - seine grosse Kunst ist die Lüge, seine +höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. Gestehen wir +es, wir Männer: wir ehren und lieben gerade diese Kunst und diesen +Instinkt am Weibe: wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu +unsrer Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen, Blicken +und zarten Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe +wie eine Thorheit erscheint. Zuletzt stelle ich die Frage: hat jemals +ein Weib selber schon einem Weibskopfe Tiefe, einem Weibsherzen +Gerechtigkeit zugestanden? Und ist es nicht wahr, dass, im Grossen +gerechnet, "das Weib" bisher vom Weibe selbst am meisten missachtet +wurde - und ganz und gar nicht von uns? - Wir Männer wünschen, dass +das Weib nicht fortfahre, sich durch Aufklärung zu compromittiren: +wie es Manns-Fürsorge und Schonung des Weibes war, als die Kirche +dekretirte: mulier taceat in ecclesia! Es geschah zum Nutzen des +Weibes, als Napoleon der allzuberedten Madame de Staël zu verstehen +gab: mulier taceat in politicis! - und ich denke, dass es ein rechter +Weiberfreund ist, der den Frauen heute zuruft: mulier taceat de +muliere! + + +233. + +Es verräth Corruption der Instinkte - noch abgesehn davon, dass es +schlechten Geschmack verräth -. wenn ein Weib sich gerade auf Madame +Roland oder Madame de Staël oder Monsieur George Sand beruft, wie als +ob damit etwas zu Gunsten des "Weibes an sich" bewiesen wäre. Unter +Männern sind die Genannten die drei komischen Weiber an sich - nichts +mehr! - und gerade die besten unfreiwilligen Gegen-Argumente gegen +Emancipation und weibliche Selbstherrlichkeit. + + +234. + +Die Dummheit in der Küche; das Weib als Köchin; die schauerliche +Gedankenlosigkeit, mit der die Ernährung der Familie und des Hausherrn +besorgt wird! Das Weib versteht nicht, was die Speise bedeutet: und +will Köchin sein! Wenn das Weib ein denkendes Geschöpf wäre, so hätte +es ja, als Köchin seit Jahrtausenden, die grössten physiologischen +Thatsachen finden, insgleichen die Heilkunst in seinen Besitz bringen +müssen! Durch schlechte Köchinnen - durch den vollkommenen Mangel an +Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des Menschen am längsten +aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt worden: es steht heute +selbst noch wenig besser. Eine Rede an höhere Töchter. + + +235. + +Es giebt Wendungen und Würfe des Geistes, es giebt Sentenzen, eine +kleine Handvoll Worte, in denen eine ganze Cultur, eine ganze +Gesellschaft sich plötzlich krystallisirt. Dahin gehört jenes +gelegentliche Wort der Madame de Lambert an ihren Sohn: "mon ami, ne +vous permettez jamais que de folies, qui vous feront grand plaisir": +- beiläufig das mütterlichste und klügste Wort, das je an einen Sohn +gerichtet worden ist. + + +236. + +Das, was Dante und Goethe vom Weibe geglaubt haben - jener, indem +er sang "ella guardava suso, ed io in lei", dieser, indem er es +übersetzte "das Ewig-Weibliche zieht uns hinan" -: ich zweifle nicht, +dass jedes edlere Weib sich gegen diesen Glauben wehren wird, denn es +glaubt eben das vom Ewig-Männlichen... + + +237. + +Sieben Weibs-Sprüchlein. + + Wie die längste Weile fleucht, + kommt ein Mann zu uns gekreucht! + + Alter, ach! und Wissenschaft + giebt auch schwacher Tugend Kraft. + + Schwarz Gewand und Schweigsamkeit + kleidet jeglich Weib - gescheidt. + + Wem im Glück ich dankbar bin? + Gott! - und meiner Schneiderin. + + Jung: beblümtes Höhlenhaus. + Alt: ein Drache fährt heraus. + + Edler Name, hübsches Bein, + Mann dazu: oh wär' _er_ mein! + + Kurze Rede, langer Sinn + - Glatteis für die Eselin! + + +237. + +Die Frauen sind von den Männern bisher wie Vögel behandelt worden, die +von irgend welcher Höhe sich hinab zu ihnen verirrt haben: als etwas +Feineres, Verletzlicheres, Wilderes, Wunderlicheres, Süsseres, +Seelenvolleres, - aber als Etwas, das man einsperren muss, damit es +nicht davonfliegt. + + +238. + +Sich im Grundprobleme "Mann und Weib" zu vergreifen, hier den +abgründlichsten Antagonismus und die Nothwendigkeit einer +ewig-feindseligen Spannung zu leugnen, hier vielleicht von gleichen +Rechten, gleicher Erziehung, gleichen Ansprüchen und Verpflichtungen +zu träumen: das ist ein typisches Zeichen von Flachköpfigkeit, und ein +Denker, der an dieser gefährlichen Stelle sich flach erwiesen hat - +flach im Instinkte! -, darf überhaupt als verdächtig, mehr noch, als +verrathen, als aufgedeckt gelten: wahrscheinlich wird er für alle +Grundfragen des Lebens, auch des zukünftigen Lebens, zu "kurz" sein +und in keine Tiefe hinunter können. Ein Mann hingegen, der Tiefe +hat, in seinem Geiste, wie in seinen Begierden, auch jene Tiefe des +Wohlwollens, welche der Strenge und Härte fähig ist, und leicht mit +ihnen verwechselt wird, kann über das Weib immer nur orientalisch +denken: er muss das Weib als Besitz, als verschliessbares Eigenthum, +als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich Vollendendes +fassen, - er muss sich hierin auf die ungeheure Vernunft Asiens, auf +Asiens Instinkt-Überlegenheit stellen: wie dies ehemals die Griechen +gethan haben, diese besten Erben und Schüler Asiens, welche, wie +bekannt, von Homer bis zu den Zeiten des Perikles, mit zunehmen - der +Cultur und Umfänglichkeit an Kraft, Schritt für Schritt auch strenger +gegen das Weib, kurz orientalischer geworden sind. Wie nothwendig, wie +logisch, wie selbst menschlich-wünschbar dies war: möge man darüber +bei sich nachdenken! + + +239. + +Das schwache Geschlecht ist in keinem Zeitalter mit solcher Achtung +von Seiten der Männer behandelt worden als in unserm Zeitalter - das +gehört zum demokratischen Hang und Grundgeschmack, ebenso wie die +Unehrerbietigkeit vor dem Alter -: was Wunder, dass sofort wieder mit +dieser Achtung Missbrauch getrieben wird? Man will mehr, man lernt +fordern, man findet zuletzt jenen Achtungszoll beinahe schon kränkend, +man würde den Wettbewerb um Rechte, ja ganz eigentlich den Kampf +vorziehn: genug, das Weib verliert an Scham. Setzen wir sofort hinzu, +dass es auch an Geschmack verliert. Es verlernt den Mann zu fürchten: +aber das Weib, das "das Fürchten verlernt", giebt seine weiblichsten +Instinkte preis. Dass das Weib sich hervor wagt, wenn das +Furcht-Einflössende am Manne, sagen wir bestimmter, wenn der Mann im +Manne nicht mehr gewollt und grossgezüchtet wird, ist billig genug, +auch begreiflich genug; was sich schwerer begreift, ist, dass +ebendamit - das Weib entartet. Dies geschieht heute: täuschen wir uns +nicht darüber! Wo nur der industrielle Geist über den militärischen +und aristokratischen Geist gesiegt hat, strebt jetzt das Weib nach der +wirthschaftlichen und rechtlichen Selbständigkeit eines Commis: "das +Weib als Commis" steht an der Pforte der sich bildenden modernen +Gesellschaft. Indem es sich dergestalt neuer Rechte bemächtigt, "Herr" +zu werden trachtet und den "Fortschritt" des Weibes auf seine Fahnen +und Fähnchen schreibt, vollzieht sich mit schrecklicher Deutlichkeit +das Umgekehrte: das Weib geht zurück. Seit der französischen +Revolution ist in Europa der Einfluss des Weibes in dem Maasse +geringer geworden, als es an Rechten und Ansprüchen zugenommen hat; +und die "Emancipation des Weibes", insofern sie von den Frauen selbst +(und nicht nur von männlichen Flachköpfen) verlangt und gefördert +wird, ergiebt sich dergestalt als ein merkwürdiges Symptom von +der zunehmenden Schwächung und Abstumpfung der allerweiblichsten +Instinkte. Es ist Dummheit in dieser Bewegung, eine beinahe +maskulinische Dummheit, deren sich ein wohlgerathenes Weib - das immer +ein kluges Weib ist - von Grund aus zu schämen hätte. Die Witterung +dafür verlieren, auf welchem Boden man am sichersten zum Siege kommt; +die Übung in seiner eigentlichen Waffenkunst vernachlässigen; sich vor +dem Manne gehen lassen, vielleicht sogar "bis zum Buche", wo man sich +früher in Zucht und feine listige Demuth nahm; dem Glauben des Mannes +an ein im Weibe verhülltes grundverschiedenes Ideal, an irgend +ein Ewig- und Nothwendig-Weibliches mit tugendhafter Dreistigkeit +entgegenarbeiten; dem Manne es nachdrücklich und geschwätzig ausreden, +dass das Weib gleich einem zarteren, wunderlich wilden und oft +angenehmen Hausthiere erhalten, versorgt, geschützt, geschont +werden müsse; das täppische und entrüstete Zusammensuchen all des +Sklavenhaften und Leibeigenen, das die Stellung des Weibes in der +bisherigen Ordnung der Gesellschaft an sich gehabt hat und noch hat +(als ob Sklaverei ein Gegenargument und nicht vielmehr eine Bedingung +jeder höheren Cultur, jeder Erhöhung der Cultur sei): - was bedeutet +dies Alles, wenn nicht eine Anbröckelung der weiblichen Instinkte, +eine Entweiblichung? Freilich, es giebt genug blödsinnige +Frauen-Freunde und Weibs-Verderber unter den gelehrten Eseln +männlichen Geschlechts, die dem Weibe anrathen, sich dergestalt zu +entweiblichen und alle die Dummheiten nachzumachen, an denen der +"Mann" in Europa, die europäische "Mannhaftigkeit" krankt, - welche +das Weib bis zur "allgemeinen Bildung", wohl gar zum Zeitungslesen +und Politisiren herunterbringen möchten. Man will hier und da selbst +Freigeister und Litteraten aus den Frauen machen: als ob ein Weib ohne +Frömmigkeit für einen tiefen und gottlosen Mann nicht etwas vollkommen +Widriges oder Lächerliches wäre -; man verdirbt fast überall ihre +Nerven mit der krankhaftesten und gefährlichsten aller Arten Musik +(unsrer deutschen neuesten Musik) und macht sie täglich hysterischer +und zu ihrem ersten und letzten Berufe, kräftige Kinder zu gebären, +unbefähigter. Man will sie überhaupt noch mehr "cultiviren" und, wie +man sagt, das "schwache Geschlecht" durch Cultur stark machen: als +ob nicht die Geschichte so eindringlich wie möglich lehrte, dass +"Cultivirung" des Menschen und Schwächung - nämlich Schwächung, +Zersplitterung, Ankränkelung der Willenskraft, immer mit einander +Schritt gegangen sind, und dass die mächtigsten und einflussreichsten +Frauen der Welt (zuletzt noch die Mutter Napoleon's) gerade ihrer +Willenskraft - und nicht den Schulmeistern! - ihre Macht und ihr +Übergewicht über die Männer verdankten. Das, was am Weibe Respekt und +oft genug Furcht einflösst, ist seine Natur, die "natürlicher" ist als +die des Mannes, seine ächte raubthierhafte listige Geschmeidigkeit, +seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät im Egoismus, +seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite, +Schweifende seiner Begierden und Tugenden..... Was, bei aller Furcht, +für diese gefährliche und schöne Katze "Weib" Mitleiden macht, ist, +dass es leidender, verletzbarer, liebebedürftiger und zur Enttäuschung +verurtheilter erscheint als irgend ein Thier. Furcht und Mitleiden: +mit diesen Gefühlen stand bisher der Mann vor dem Weibe, immer mit +einem Fusse schon in der Tragödie, welche zerreisst, indem sie +entzückt -. Wie? Und damit soll es nun zu Ende sein? Und die +Entzauberung des Weibes ist im Werke? Die Verlangweiligung des Weibes +kommt langsam herauf? Oh Europa! Europa! Man kennt das Thier mit +Hörnern, welches für dich immer am anziehendsten war, von dem dir +immer wieder Gefahr droht! Deine alte Fabel könnte noch einmal zur +"Geschichte" werden, - noch einmal- könnte eine ungeheure Dummheit +über dich Herr werden und dich davon tragen! Und unter ihr kein Gott +versteckt, nein! nur eine "Idee", eine "moderne Idee"!..... + + + + +Achtes Hauptstück: + +Völker und Vaterländer. + +240. + +Ich hörte, wieder einmal zum ersten Male - Richard Wagner's Ouverture +zu den Meistersingern: das ist eine prachtvolle, überladene, schwere +und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständniss zwei +Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen: - es ehrt die +Deutschen, dass sich ein solcher Stolz nicht verrechnete! Was für +Säfte und Kräfte, was für Jahreszeiten und Himmelsstriche sind hier +nicht gemischt! Das muthet uns bald alterthümlich, bald fremd, herb +und überjung an, das ist ebenso willkürlich als pomphaft-herkömmlich, +das ist nicht selten schelmisch, noch öfter derb und grob, - das hat +Feuer und Muth und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten, +welche zu spät reif werden. Das strömt breit und voll: und plötzlich +ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die +zwischen Ursache und Wirkung aufspringt, ein Druck, der uns träumen +macht, beinahe ein Alpdruck -, aber schon breitet und weitet sich +wieder der alte Strom von Behagen aus, von vielfältigstem Behagen, +von altem und neuem Glück, sehr eingerechnet das Glück des Künstlers +an sich selber, dessen er nicht Hehl haben will, sein erstauntes +glückliches Mitwissen um die Meisterschaft seiner hier verwendeten +Mittel, neuer neuerworbener unausgeprobter Kunstmittel, wie er uns zu +verrathen scheint. Alles in Allem keine Schönheit, kein Süden, Nichts +von südlicher feiner Helligkeit des Himmels, Nichts von Grazie, kein +Tanz, kaum ein Wille zur Logik; eine gewisse Plumpheit sogar, die noch +unterstrichen wird, wie als ob der Künstler uns sagen wollte: "sie +gehört zu meiner Absicht"; eine schwerfällige Gewandung, etwas +Willkürlich-Barbarisches und Feierliches, ein Geflirr von gelehrten +und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen; etwas Deutsches, im besten +und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches, +Unförmliches und Unausschöpfliches; eine gewisse deutsche Mächtigkeit +und Überfülle der Seele, welche keine Furcht hat, sich unter die +Raffinements des Verfalls zu verstecken, - die sich dort vielleicht +erst am wohlsten fühlt; ein rechtes ächtes Wahrzeichen der deutschen +Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch +an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den +Deutschen halte: sie sind von Vorgestern und von Übermorgen, - sie +haben noch kein Heute. + + +241. + +Wir "guten Europäer": auch wir haben Stunden, wo wir uns eine +herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und +Engen gestatten - ich gab eben eine Probe davon -, Stunden nationaler +Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer +alterthümlicher Gefühls-Überschwemmungen. Schwerfälligere Geister, als +wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und +in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden, +in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen, +je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre +"Stoffe wechseln". Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, +welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig +hätten, um solche atavistische Anfälle von Vaterländerei und +Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen +zum "guten Europäerthum" zurückzukehren. Und indem ich über diese +Möglichkeit ausschweife, begegnet mir's, dass ich Ohrenzeuge eines +Gesprächs von zwei alten "Patrioten" werde, - sie hörten beide +offenbar schlecht und sprachen darum um so lauter. "Der hält und weiss +von Philosophie so viel als ein Bauer oder Corpsstudent - sagte der +Eine -: der ist noch unschuldig. Aber was liegt heute daran! Es ist +das Zeitalter der Massen: die liegen vor allem Massenhaften auf dem +Bauche. Und so auch in politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen +neuen Thurm von Babel, irgend ein Ungeheuer von Reich und Macht +aufthürmt, heisst ihnen `gross`: - was liegt daran, dass wir +Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen einstweilen noch nicht vom alten +Glauben lassen, es sei allein der grosse Gedanke, der einer That und +Sache Grösse giebt. Gesetzt, ein Staatsmann brächte sein Volk in die +Lage, fürderhin `grosse Politik` treiben zu müssen, für welche es von +Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist: so dass es nöthig hätte, +einer neuen zweifelhaften Mittelmässigkeit zu Liebe seine alten und +sicheren Tugenden zu opfern, - gesetzt, ein Staatsmann verurtheilte +sein Volk zum `Politisiren` überhaupt, während dasselbe bisher +Besseres zu thun und zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen +vorsichtigen Ekel vor der Unruhe, Leere und lärmenden Zankteufelei +der eigentlich politisirenden Völker nicht los wurde: - gesetzt, ein +solcher Staatsmann stachle die eingeschlafnen Leidenschaften und +Begehrlichkeiten seines Volkes auf, mache ihm aus seiner bisherigen +Schüchternheit und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner +Ausländerei und heimlichen Unendlichkeit eine Verschuldung, entwerthe +ihm seine herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen +Geist eng, seinen Geschmack `national`, - wie! ein Staatsmann, der +dies Alles thäte, den sein Volk in alle Zukunft hinein, falls es +Zukunft hat, abbüssen müsste, ein solcher Staatsmann wäre gross?" +"Unzweifelhaft! antwortete ihm der andere alte Patriot heftig: sonst +hätte er es nicht gekonnt! Es war toll vielleicht, so etwas zu wollen? +Aber vielleicht war alles Grosse im Anfang nur toll!" - "Missbrauch +der Worte! schrie sein Unterredner dagegen: - stark! stark! stark +und toll! Nicht gross!" - Die alten Männer hatten sich ersichtlich +erhitzt, als sie sich dergestalt ihre "Wahrheiten" in's Gesicht +schrieen; ich aber, in meinem Glück und Jenseits, erwog, wie bald +über den Starken ein Stärkerer Herr werden wird; auch dass es für die +geistige Verflachung eines Volkes eine Ausgleichung giebt, nämlich +durch die Vertiefung eines anderen. - + + +242. + +Nenne man es nun "Civilisation" oder "Vermenschlichung" oder +"Fortschritt", worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht +wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer +politischen Formel die demokratische Bewegung Europa's: hinter +all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit +solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer +physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, - der Prozess +einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den +Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen +entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu, +das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib +einschreiben möchte, - also die langsame Heraufkunft einer wesentlich +übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch +geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische +Auszeichnung besitzt. Dieser Prozess des werdenden Europäers, welcher +durch grosse Rückfälle im Tempo verzögert werden kann, aber vielleicht +gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst - der jetzt +noch wüthende Sturm und Drang des "National-Gefühls" gehört hierher, +insgleichen der eben heraufkommende Anarchismus -: dieser Prozess +läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven +Beförderer und Lobredner, die Apostel der "modernen Ideen", am +wenigsten rechnen möchten. Die selben neuen Bedingungen, unter denen +im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen +sich herausbilden wird - ein nützliches arbeitsames, vielfach +brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch -, sind im höchsten +Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und +anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene +Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und +mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehend, eine neue Arbeit +beginnt, die Mächtigkeit des Typus gar nicht möglich macht; während +der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der +von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren +Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des +täglichen Brodes; während also die Demokratisirung Europa's auf die +Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus +hinausläuft: wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch +stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht jemals bisher +gerathen ist, - Dank der Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank +der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske. Ich wollte +sagen: die Demokratisirung Europa's ist zugleich eine unfreiwillige +Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen,- das Wort in jedem Sinne +verstanden, auch im geistigsten. + + +243. + +Ich höre mit Vergnügen, dass unsre Sonne in rascher Bewegung gegen +das Sternbild des Herkules hin begriffen ist: und ich hoffe, dass der +Mensch auf dieser Erde es darin der Sonne gleich thut. Und wir voran, +wir guten Europäer! - + + +244. + +Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung +"tief" zu nennen: jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen +Deutschthums nach ganz andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe +hat, vielleicht die "Schneidigkeit" vermisst, ist der Zweifel beinahe +zeitgemäss und patriotisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht +betrogen hat: genug, ob die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas +Anderes und Schlimmeres ist - und Etwas, das man, Gott sei Dank, mit +Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen wir also den Versuch, über +die deutsche Tiefe umzulernen: man hat Nichts dazu nöthig, als ein +wenig Vivisektion der deutschen Seele. - Die deutsche Seele ist +vor Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und +übereinandergesetzt, als wirklich gebaut: das liegt an ihrer Herkunft. +Ein Deutscher, der sich erdreisten wollte, zu behaupten "zwei +Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" würde sich an der Wahrheit +arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen +zurückbleiben. Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und +Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht +des vor-arischen Elementes, als "Volk der Mitte" in jedem Verstande, +sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, +unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, +als es andere Völker sich selber sind: - sie entschlüpfen der +Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen. +Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage "was ist +deutsch?" niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine Deutschen gewiss +gut genug: "Wir sind erkannt" jubelten sie ihm zu, - aber auch Sand +glaubte sie zu kennen. Jean Paul wusste, was er that, als er sich +ergrimmt gegen Fichte's verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und +Übertreibungen erklärte, - aber es ist wahrscheinlich, dass Goethe +anders über die Deutschen dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in +Betreff Fichtens Recht gab. Was Goethe eigentlich über die Deutschen +gedacht hat? - Aber er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich +geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen: - +wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu. Gewiss ist, dass es nicht +"die Freiheitskriege" waren, die ihn freudiger aufblicken liessen, +so wenig als die französische Revolution, - das Ereigniss, um +dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem "Mensch" umgedacht +hat, war das Erscheinen Napoleon's. Es giebt Worte Goethe's, in denen +er, wie vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Härte über Das +abspricht, was die Deutschen sich zu ihrem Stolze rechnen: das +berühmte deutsche Gemüth definirt er einmal als "Nachsicht mit fremden +und eignen Schwächen". Hat er damit Unrecht? - es kennzeichnet die +Deutschen, dass man über sie selten völlig Unrecht hat. Die deutsche +Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es giebt in ihr Höhlen, +Verstecke, Burgverliesse; ihre Unordnung hat viel vom Reize des +Geheimnissvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege +zum Chaos. Und wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der +Deutsche die Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht +und verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, +Wachsende jeder Art fühlt er als "tief". Der Deutsche selbst ist +nicht, er wird, er "entwickelt sich". "Entwicklung" ist deshalb der +eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer +Formeln: - ein regierender Begriff, der, im Bunde mit deutschem Bier +und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen. Die +Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln, die ihnen +die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche +Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik +gesetzt hat). "Gutmüthig und tückisch" - ein solches Nebeneinander, +widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu +oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben! Die +Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche +Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer +innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle +Götter das Fürchten gelernt haben. Will man die "deutsche Seele" ad +oculos demonstrirt, so sehe man nur in den deutschen Geschmack, in +deutsche Künste und Sitten hinein: welche bäurische Gleichgültigkeit +gegen "Geschmack"! Wie steht da das Edelste und Gemeinste neben +einander! Wie unordentlich und reich ist dieser ganze Seelen-Haushalt! +Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an Allem, was +er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit +"fertig"; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde +"Verdauung". Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker den +Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die "Offenheit" und +"Biederkeit": wie bequem ist es, offen und bieder zu sein! - Es ist +heute vielleicht die gefährlichste und glücklichste Verkleidung, auf +die sich der Deutsche versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkommende, +die-Karten-Aufdeckende der deutschen Redlichkeit: sie ist seine +eigentliche Mephistopheles-Kunst, mit ihr kann er es "noch weit +bringen"! Der Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen +leeren deutschen Augen - und sofort verwechselt das Ausland ihn mit +seinem Schlafrocke! - Ich wollte sagen: mag die "deutsche Tiefe" sein, +was sie will, - ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu +lachen? - wir thun gut, ihren Anschein und guten Namen auch fürderhin +in Ehren zu halten und unsern alten Ruf, als Volk der Tiefe, nicht zu +billig gegen preussische "Schneidigkeit" und Berliner Witz und Sand zu +veräussern. Es ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt, +für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu machen, gelten zu +lassen: es könnte sogar - tief sein! Zuletzt: man soll seinem Namen +Ehre machen, - man heisst nicht umsonst das "tiusche" Volk, das +Täusche-Volk... + + +245. + +Die "gute alte" Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen: +- wie glücklich wir, dass zu uns sein Rokoko noch redet, dass seine +"gute Gesellschaft", sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am +Chinesischen und Geschnörkelten, seine Höflichkeit des Herzens, sein +Verlangen nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein +Glaube an den Süden noch an irgend einen Rest in uns appelliren darf! +Ach, irgend wann wird es einmal damit vorbei sein! - aber wer darf +zweifeln, dass es noch früher mit dem Verstehen und Schmecken +Beethoven's vorbei sein wird! - der ja nur der Ausklang eines +Stil-Übergangs und Stil-Bruchs war und nicht, wie Mozart, der Ausklang +eines grossen Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks. Beethoven +ist das Zwischen-Begebniss einer alten mürben Seele, die beständig +zerbricht, und einer zukünftigen überjungen Seele, welche beständig +kommt; auf seiner Musik liegt jenes Zwielicht von ewigem Verlieren und +ewigem ausschweifendem Hoffen, - das selbe Licht, in welchem Europa +gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um den Freiheitsbaum +der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe angebetet +hatte. Aber wie schnell verbleicht jetzt gerade dies Gefühl, wie +schwer ist heute schon das Wissen um dies Gefühl, - wie fremd klingt +die Sprache jener Rousseau, Schiller, Shelley, Byron an unser Ohr, in +denen zusammen das selbe Schicksal Europa's den Weg zum Wort gefunden +hat, das in Beethoven zu singen wusste! - Was von deutscher Musik +nachher gekommen ist, gehört in die Romantik, das heisst in +eine, historisch gerechnet, noch kürzere, noch flüchtigere, noch +oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener +Übergang Europa's von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der +Demokratie war. Weber: aber was ist uns heute Freischütz und Oberon! +Oder Marschner's Hans Heiling und Vampyr! Oder selbst noch Wagner's +Tannhäuser! Das ist verklungene, wenn auch noch nicht vergessene +Musik. Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm +genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten, als +im Theater und vor der Menge; sie war von vornherein Musik zweiten +Ranges, die unter wirklichen Musikern wenig in Betracht kam. Anders +stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um +seiner leichteren reineren beglückteren Seele willen schnell verehrt +und ebenso schnell vergessen wurde: als der schöne Zwischenfall der +deutschen Musik. Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer nahm +und von Anfang an auch schwer genommen worden ist - es ist der Letzte, +der eine Schule gegründet hat -: gilt es heute unter uns nicht als +ein Glück, als ein Aufathmen, als eine Befreiung, dass gerade diese +Schumann'sche Romantik überwunden ist? Schumann, in die "sächsische +Schweiz" seiner Seele flüchtend, halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch +geartet, gewiss nicht Beethovenisch! gewiss nicht Byronisch! - seine +Manfred-Musik ist ein Missgriff und Missverständniss bis zum Unrechte +-, Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack +war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher +Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig +bei Seite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler +Zärtling, der in lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art +Mädchen und noli me tangere von Anbeginn: dieser Schumann war bereits +nur noch ein deutsches Ereigniss in der Musik, kein europäisches mehr, +wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maasse, Mozart es +gewesen ist, - mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste Gefahr, +die Stimme für die Seele Europa's zu verlieren und zu einer blossen +Vaterländerei herabzusinken. - + + +246. + +- Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das +dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden +Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei +Deutschen ein "Buch" genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher +liest! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er! Wie viele +Deutsche wissen es und fordern es von sich zu wissen, dass Kunst in +jedem guten Satze steckt, - Kunst, die errathen sein will, sofern der +Satz verstanden sein will! Ein Missverständniss über sein Tempo zum +Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden! Dass man über die +rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man +die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz +fühlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr +hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen +räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben +und umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig +genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf +so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen? Man hat zuletzt +eben "das Ohr nicht dafür": und so werden die stärksten Gegensätze des +Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben +verschwendet. - Dies waren meine Gedanken, als ich merkte, wie man +plump und ahnungslos zwei Meister in der Kunst der Prosa mit einander +verwechselte, Einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie +von der Decke einer feuchten Höhle - er rechnet auf ihren dumpfen +Klang und Wiederklang - und einen Anderen, der seine Sprache wie +einen biegsamen Degen handhabt und vom Arme bis zur Zehe hinab das +gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt, welche +beissen, zischen, schneiden will. - + + +247. + +Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun +hat, zeigt die Thatsache, dass gerade unsre guten Musiker schlecht +schreiben. Der Deutsche liest nicht laut, nicht für's Ohr, sondern +bloss mit den Augen: er hat seine Ohren dabei in's Schubfach gelegt. +Der antike Mensch las, wenn er las - es geschah selten genug - sich +selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme; man wunderte sich, wenn +jemand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter +Stimme: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, +Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo's, an denen die antike +öffentliche Welt ihre Freude hatte. Damals waren die Gesetze des +Schrift-Stils die selben, wie die des Rede-Stils; und dessen Gesetze +hiengen zum Theil von der erstaunlichen Ausbildung, den raffinirten +Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern Theil von der +Stärke, Dauer und Macht der antiken Lunge. Eine Periode ist, im Sinne +der Alten, vor Allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von +Einem Athem zusammengefasst wird. Solche Perioden, wie sie bei +Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zwei Mal schwellend und zwei Mal +absinkend und Alles innerhalb Eines Athemzugs: das sind Genüsse für +antike Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige +im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schulung zu +schätzen wussten: - wir haben eigentlich kein Recht auf die grosse +Periode, wir Modernen, wir Kurzathmigen in jedem Sinne! Diese Alten +waren ja insgesammt in der Rede selbst Dilettanten, folglich Kenner, +folglich Kritiker, - damit trieben sie ihre Redner zum Äussersten; +in gleicher Weise, wie im vorigen Jahrhundert, als alle +Italiäner und Italiänerinnen zu singen verstanden, bei ihnen das +Gesangs-Virtuosenthum (und damit auch die Kunst der Melodik -) auf die +Höhe kam. In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo +eine Art Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen +Schwingen regt) eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und ungefähr +kunstmässiger Rede: das ist die von der Kanzel herab. Der Prediger +allein wusste in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt, +inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, läuft, ausläuft, er +allein hatte Gewissen in seinen Ohren, oft genug ein böses Gewissen: +denn es fehlt nicht an Gründen dafür, dass gerade von einem Deutschen +Tüchtigkeit in der Rede selten, fast immer zu spät erreicht wird. +Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das +Meisterstück ihres grössten Predigers: die Bibel war bisher das beste +deutsche Buch. Gegen Luther's Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur +"Litteratur" - ein Ding, das nicht in Deutschland gewachsen ist und +darum auch nicht in deutsche Herzen hinein wuchs und wächst: wie es +die Bibel gethan hat. + + +248. + +Es giebt zwei Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und +zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und +gebiert. Und ebenso giebt es unter den genialen Völkern solche, denen +das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des +Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist - die Griechen zum +Beispiel waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen -; +und andre, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen +des Lebens werden, - gleich den Juden, den Römern und, in aller +Bescheidenheit gefragt, den Deutschen? - Völker gequält und entzückt +von unbekannten Fiebern und unwiderstehlich aus sich herausgedrängt, +verliebt und lüstern nach fremden Rassen (nach solchen, welche sich +"befruchten lassen" -) und dabei herrschsüchtig wie Alles, was sich +voller Zeugekräfte und folglich "von Gottes Gnaden" weiss. Diese +zwei Arten des Genie's suchen sich, wie Mann und Weib; aber sie +missverstehen auch einander, - wie Mann und Weib. + + +249. + +Jedes Volk hat seine eigne Tartüfferie, und heisst sie seine Tugenden. +- Das Beste, was man ist, kennt man nicht, - kann man nicht kennen. + + +250. + +Was Europa den Juden verdankt? - Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und +vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den +grossen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher +Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und +Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten - und folglich gerade +den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil jener +Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute +der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, - +vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen +sind dafür den Juden - dankbar. + + +251. + +Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen +Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden will -, +mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine +Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von Heute +bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald +die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die +Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe +sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke und ihre +dick verbundenen Köpfe an -), und wie sie Alle heissen mögen, diese +kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. Möge man mir +verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr +inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und +mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, +die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum +Beispiel über die Juden: man höre. - Ich bin noch keinem Deutschen +begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre; und so unbedingt +auch die Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei von Seiten aller +Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese +Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber, +sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit, insbesondere gegen +den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck dieses unmässigen Gefühls, +- darüber darf man sich nicht täuschen. Dass Deutschland reichlich +genug Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Noth hat +(und noch auf lange Noth haben wird), um auch nur mit diesem Quantum +"Jude" fertig zu werden - so wie der Italiäner, der Franzose, der +Engländer fertig geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung +-: das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen +Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muss. +"Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten +(auch nach Östreich) zu die Thore zusperren!" also gebietet der +Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, +so dass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse +ausgelöscht werden könnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die +stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie +verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich +durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen), vermöge irgend +welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte, - +Dank, vor Allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den "modernen +Ideen" nicht zu schämen braucht; sie verändern sich, wenn sie sich +verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen +macht, - als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist -: +nämlich nach dem Grundsatze "so langsam als möglich!" Ein Denker, +der die Zukunft Europa's auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen +Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den +Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und +wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte. +Das, was heute in Europa "Nation" genannt wird und eigentlich mehr +eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum +Verwechseln ähnlich sieht -), ist in jedem Falle etwas Werdendes, +Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein +solches aere perennius, wie es die Juden-Art ist: diese "Nationen" +sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen Concurrenz und Feindseligkeit +sorgfältig in Acht nehmen! Dass die Juden, wenn sie wollten - oder, +wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen +-, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über +Europa haben könnten, steht fest; dass sie nicht darauf hin arbeiten +und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie +vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa +ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo +fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem "ewigen +Juden" ein Ziel zu setzen -; und man sollte diesen Zug und Drang +(der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte +ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht +nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes +zu verweisen. Mit aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl; ungefähr +so wie der englische Adel es thut. Es liegt auf der Hand, dass am +unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten +Typen des neuen Deutschthums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel +der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse, +zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und +Gehorchens - in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch - +das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und +Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt -) +hinzuthun, hinzuzüchten liesse. Doch hier ziemt es sich, meine heitere +Deutschthümelei und Festrede abzubrechen: denn ich rühre bereits an +meinen Ernst, an das "europäische Problem", wie ich es verstehe, an +die Züchtung einer neuen über Europa, regierenden Kaste. - + + +252. + +Das ist keine philosophische Rasse - diese Engländer: Bacon bedeutet +einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, +Hume und Locke eine Erniedrigung und Werth-Minderung des Begriffs +"Philosoph" für mehr als ein Jahrhundert. Gegen Hume erhob und hob +sich Kant; Locke war es, von dem Schelling sagen durfte: "je méprise +Locke"; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung +waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmüthig, jene beiden +feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie, welche nach den +entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinander strebten und +sich dabei Unrecht thaten, wie sich eben nur Brüder Unrecht thun. - +Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wusste jener +Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf +Carlyle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen +suchte, was er von sich selbst wusste: nämlich woran es in Carlyle +fehlte - an eigentlicher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe +des geistigen Blicks, kurz, an Philosophie. - Es kennzeichnet eine +solche unphilosophische Rasse, dass sie streng zum Christenthume hält: +sie braucht seine Zucht zur "Moralisirung" und Veranmenschlichung. +Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als +der Deutsche - ist eben deshalb, als der Gemeinere von Beiden, auch +frömmer als der Deutsche: er hat das Christenthum eben noch nöthiger. +Für feinere Nüstern hat selbst dieses englische Christenthum noch +einen ächt englischen Nebengeruch von Spleen und alkoholischer +Ausschweifung, gegen welche es aus guten Gründen als Heilmittel +gebraucht wird, - das feinere Gift nämlich gegen das gröbere: eine +feinere Vergiftung ist in der That bei plumpen Völkern schon ein +Fortschritt, eine Stufe zur Vergeistigung. Die englische Plumpheit +und Bauern-Ernsthaftigkeit wird durch die christliche Gebärdensprache +und durch Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten verkleidet, +richtiger: ausgelegt und umgedeutet; und für jenes Vieh von +Trunkenbolden und Ausschweifenden, welches ehemals unter der Gewalt +des Methodismus und neuerdings wieder als "Heilsarmee" moralisch +grunzen lernt, mag wirklich ein Busskrampf die verhältnissmässig +höchste Leistung von "Humanität" sein, zu der es gesteigert werden +kann: so viel darf man billig zugestehn. Was aber auch noch am +humansten Engländer beleidigt, das ist sein Mangel an Musik, im +Gleichniss (und ohne Gleichniss -) zu reden: er hat in den Bewegungen +seiner Seele und seines Leibes keinen Takt und Tanz, ja noch nicht +einmal die Begierde nach Takt und Tanz, nach "Musik". Man höre ihn +sprechen; man sehe die schönsten Engländerinnen gehn - es giebt in +keinem Lande der Erde schönere Tauben und Schwäne, - endlich: man höre +sie singen! Aber ich verlange zu viel..... + + +253. + +Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt +werden, weil sie ihnen am gemässesten sind, es giebt Wahrheiten, die +nur für mittelmässige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen +- - auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade jetzt +hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger +Engländer - ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer - +in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht +zu gelangen anhebt. In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon +anzweifeln, dass zeitweilig solche Geister herrschen? Es wäre ein +Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister +für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen +festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen: - sie sind +vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung +zu den "Regeln". Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen +- nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu bedeuten, neue Werthe +darzustellen! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist vielleicht +grösser, auch unheimlicher als man denkt: der Könnende im grossen +Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen, +- während andererseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art +Darwin's eine gewisse Enge, Dürre und fleissige Sorglichkeit, kurz, +etwas Englisches nicht übel disponiren mag. - Vergesse man es zuletzt +den Engländern nicht, dass sie schon Ein Mal mit ihrer tiefen +Durchschnittlichkeit eine Gesammt-Depression des europäischen Geistes +verursacht haben: Das, was man "die modernen Ideen" oder "die Ideen +des achtzehnten Jahrhunderts" oder auch "die französischen Ideen" +nennt - Das also, wogegen sich der deutsche Geist mit tiefem Ekel +erhoben hat -, war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln. +Die Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler dieser Ideen +gewesen, auch ihre besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten +und gründlichsten Opfer: denn an der verdammlichen Anglomanie der +"modernen Ideen" ist zuletzt die âme française so dünn geworden +und abgemagert, dass man sich ihres sechszehnten und siebzehnten +Jahrhunderts, ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer +erfinderischen Vornehmheit heute fast mit Unglauben erinnert. Man muss +aber diesen Satz historischer Billigkeit mit den Zähnen festhalten und +gegen den Augenblick und Augenschein vertheidigen: die europäische +noblesse - des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte, kurz, das Wort in +jedem hohen Sinne genommen - ist Frankreich's Werk und Erfindung, die +europäische Gemeinheit, der Plebejismus der modernen Ideen -Englands.- + + +254. + +Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und +raffinirtesten Cultur Europa's und die hohe Schule des Geschmacks: +aber man muss dies "Frankreich des Geschmacks" zu finden wissen. Wer +zu ihm gehört, hält sich gut verborgen: - es mag eine kleine Zahl +sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, welche +nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Theil Fatalisten, +Verdüsterte, Kranke, zum Theil Verzärtelte und Verkünstelte, solche, +welche den Ehrgeiz haben, sich zu verbergen. Etwas ist Allen gemein: +sie halten sich die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem +lärmenden Maulwerk des demokratischen bourgeois. In der That wälzt +sich heut im Vordergrunde ein verdummtes und vergröbertes Frankreich, +- es hat neuerdings, bei dem Leichenbegängniss Victor Hugo's, eine +wahre Orgie des Ungeschmacks und zugleich der Selbstbewunderung +gefeiert. Auch etwas Anderes ist ihnen gemeinsam: ein guter Wille, +sich der geistigen Germanisirung zu erwehren - und ein noch besseres +Unvermögen dazu! Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem +Frankreich des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus +ist, mehr zu Hause und heimischer geworden, als er es je in +Deutschland war; nicht zu reden von Heinrich Heine, der den feineren +und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und +Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in Gestalt Taine's +- das heisst des ersten lebenden Historikers - einen beinahe +tyrannischen Einfluss ausübt. Was aber Richard Wagner betrifft: je +mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der +âme moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie "wagnerisiren", das +darf man vorhersagen, - sie thut es jetzt schon genug! Es ist dennoch +dreierlei, was auch heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und +Eigen und als unverlornes Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit +über Europa aufweisen können, trotz aller freiwilligen oder +unfreiwilligen Germanisirung und Verpöbelung des Geschmacks: einmal +die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen an die +"Form", für welche das Wort l'art pour l'art, neben tausend anderen, +erfunden ist: - dergleichen hat in Frankreich seit drei Jahrhunderten +nicht gefehlt und immer wieder, Dank der Ehrfurcht vor der "kleinen +Zahl", eine Art Kammermusik der Litteratur ermöglicht, welche im +übrigen Europa sich suchen lässt -. Das Zweite, worauf die Franzosen +eine Überlegenheit über Europa begründen können, ist ihre alte +vielfache moralistische Cultur, welche macht, dass man im Durchschnitt +selbst bei kleinen romanciers der Zeitungen und zufälligen +boulevardiers de Paris eine psychologische Reizbarkeit und Neugierde +findet, von der man zum Beispiel in Deutschland keinen Begriff +(geschweige denn die Sache!) hat. Den Deutschen fehlen dazu ein paar +Jahrhunderte moralistischer Art, welche, wie gesagt, Frankreich sich +nicht erspart hat; wer die Deutschen darum "naiv" nennt, macht ihnen +aus einem Mangel ein Lob zurecht. (Als Gegensatz zu der deutschen +Unerfahrenheit und Unschuld in voluptate psychologica, die mit der +Langweiligkeit des deutschen Verkehrs nicht gar zu fern verwandt ist, +- und als gelungenster Ausdruck einer ächt französischen Neugierde +und Erfindungsgabe für dieses Reich zarter Schauder mag Henri Beyle +gelten, jener merkwürdige vorwegnehmende und vorauslaufende Mensch, +der mit einem Napoleonischen Tempo durch sein Europa, durch mehrere +Jahrhunderte der europäischen Seele lief, als ein Ausspürer und +Entdecker dieser Seele: - es hat zweier Geschlechter bedurft, um +ihn irgendwie einzuholen, um einige der Räthsel nachzurathen, die +ihn quälten und entzückten, diesen wunderlichen Epicureer und +Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter grosser Psycholog war +-). Es giebt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit: im Wesen +der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und +Südens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und andre Dinge +thun heisst, die ein Engländer nie begreifen wird; ihr dem Süden +periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu +Zeit das provençalische und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie +vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau und der sonnenlosen +Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, - unsrer deutschen Krankheit des +Geschmacks, gegen deren Übermaass man sich augenblicklich mit grosser +Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen: die "grosse Politik" +verordnet hat (gemäss einer gefährlichen Heilkunst, welche mich warten +und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt -). Auch jetzt noch +giebt es in Frankreich ein Vorverständniss und ein Entgegenkommen für +jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich +sind, um in irgend einer Vaterländerei ihr Genüge zu finden und im +Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben wissen, - für die +geborenen Mittelländler, die "guten Europäer". - Für sie hat Bizet +Musik gemacht, dieses letzte Genie, welches eine neue Schönheit und +Verführung gesehn, - der ein Stück Süden der Musik entdeckt hat. + + +255. + +Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. +Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine +grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine +unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein +selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein Solcher +wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil +sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit +mit zurück verdirbt. Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern +dem Glauben nach, muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt, +auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel +einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnissvolleren +Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor +dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen +Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle +deutsche Musik thut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den +braunen Sonnen-Untergängen der Wüste Recht behält, deren Seele mit +der Palme verwandt ist und unter grossen schönen einsamen Raubthieren +heimisch zu sein und zu schweifen versteht..... Ich könnte mir eine +Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestünde, dass sie von +Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur dass vielleicht irgend ein +Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche +Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von +grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich +gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die +gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge +wäre. - + + +256. + +Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn +zwischen die Völker Europa's gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls +den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute +mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die +auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, nothwendig nur +Zwischenakts-Politik sein kann, - Dank Alledem und manchem heute ganz +Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn +oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, +dass Europa Eins werden will. Bei allen tieferen und umfänglicheren +Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung +in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen +Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft +vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren +Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den "Vaterländern", - sie +ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie "Patrioten" wurden. Ich +denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich +Heine, Schopenhauer: man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard +Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht durch seine eignen +Missverständnisse verführen lassen darf, - Genies seiner Art haben +selten das Recht, sich selbst zu verstehen. Noch weniger freilich +durch den ungesitteten Lärm, mit dem man sich jetzt in Frankreich +gegen Richard Wagner sperrt und wehrt: - die Thatsache bleibt +nichtsdestoweniger bestehen, dass die französische Spät-Romantik der +Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu +einander, gehören. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer +Bedürfnisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa, +dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, +hinauf drängt und sehnt - wohin? in ein neues Licht? nach einer neuen +Sonne? Aber wer möchte genau aussprechen, was alle diese Meister neuer +Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten? Gewiss ist, dass +der gleiche Sturm und Drang sie quälte, dass sie auf gleiche Weise +suchten, diese letzten grossen Suchenden! Allesammt beherrscht von +der Litteratur bis in ihre Augen und Ohren - die ersten Künstler +von weltlitterarischer Bildung - meistens sogar selber Schreibende, +Dichtende, Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne (Wagner +gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, +als Künstler überhaupt unter die Schauspieler); allesammt Fanatiker +des Ausdrucks "um jeden Preis" - ich hebe Delacroix hervor, den +Nächstverwandten Wagner's -, allesammt grosse Entdecker im Reiche +des Erhabenen, auch des Hässlichen und Grässlichen, noch grössere +Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der +Schauläden, allesammt Talente weit über ihr Genie hinaus -, Virtuosen +durch und durch, mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt, +lockt, zwingt, umwirft, geborene Feinde der Logik und der geraden +Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, +dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden; als Menschen Tantalusse des +Willens, heraufgekommene Plebejer, welche sich im Leben und Schaffen +eines vornehmen tempo, eines lento unfähig wussten, - man denke zum +Beispiel an Balzac - zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer +durch Arbeit; Antinomisten und Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige und +Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuss; allesammt zuletzt an dem +christlichen Kreuze zerbrechend und niedersinkend (und das mit Fug +und Recht: denn wer von ihnen wäre tief und ursprünglich genug +zu einer Philosophie des Antichrist gewesen? -) im Ganzen eine +verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hoch +emporreissende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert - und es +ist das Jahrhundert der Menge! - den Begriff "höherer Mensch" erst zu +lehren hatte Mögen die deutschen Freunde Richard Wagner's darüber mit +sich zu Rathe gehn, ob es in der Wagnerischen Kunst etwas schlechthin +Deutsches giebt, oder ob nicht gerade deren Auszeichnung ist, +aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu kommen: wobei nicht +unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus gerade Paris +unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die +Tiefe seiner Instinkte verlangen hiess, und wie die ganze Art seines +Auftretens, seines Selbst-Apostolats erst Angesichts des französischen +Socialisten-Vorbilds sich vollenden konnte. Vielleicht wird man, bei +einer feineren Vergleichung, zu Ehren der deutschen Natur Richard +Wagner's finden, dass er es in Allem stärker, verwegener, härter, +höher getrieben hat, als es ein Franzose des neunzehnten Jahrhunderts +treiben könnte, - Dank dem Umstande, dass wir Deutschen der Barbarei +noch näher stehen als die Franzosen -; vielleicht ist sogar das +Merkwürdigste, was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten +lateinischen Rasse für immer und nicht nur für heute unzugänglich, +unnachfühlbar, unnachahmbar: die Gestalt des Siegfried, jenes sehr +freien Menschen, der in der That bei weitem zu frei, zu hart, zu +wohlgemuth, zu gesund, zu antikatholisch für den Geschmack alter +und mürber Culturvölker sein mag. Er mag sogar eine Sünde wider die +Romantik gewesen sein, dieser antiromanische Siegfried: nun, Wagner +hat diese Sünde reichlich quitt gemacht, in seinen alten trüben +Tagen, als er - einen Geschmack vorwegnehmend, der inzwischen Politik +geworden ist - mit der ihm eignen religiösen Vehemenz den Weg nach +Rom, wenn nicht zu gehn, so doch zu predigen anfieng. - Damit man +mich, mit diesen letzten Worten, nicht missverstehe, will ich einige +kräftige Reime zu Hülfe nehmen, welche auch weniger feinen Ohren es +verrathen werden, was ich will, - was ich gegen den "letzten Wagner" +und seine Parsifal-Musik will. + +- Ist das noch deutsch? - + + Aus deutschem Herzen kam dies schwüle Kreischen? + Und deutschen Leibs ist dies Sich-selbst-Entfleischen? + Deutsch ist dies Priester-Händespreitzen, + Dies weihrauch-düftelnde Sinne-Reizen? + Und deutsch dies Stocken, Stürzen, Taumeln, + Dies ungewisse Bimbambaumeln? + Dies Nonnen-Äugeln, Ave-Glocken-Bimmeln, + Dies ganze falsch verzückte Himmel-Überhimmeln? + +- Ist Das noch deutsch? - + + Erwägt! Noch steht ihr an der Pforte: - + Denn, was ihr hört, ist Rom, - Rom's Glaube ohne Worte! + + + + +Neuntes Hauptstück: + +Was ist vornehm? + +257. + +Jede Erhöhung des Typus "Mensch" war bisher das Werk einer +aristokratischen Gesellschaft - und so wird es immer wieder sein: als +einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und +Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in +irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es +aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen +Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und +Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und +Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre +geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach +immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die +Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, +umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus "Mensch", +die fortgesetzte "Selbst-Überwindung des Menschen", um eine moralische +Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Freilich: man +darf sich über die Entstehungsgeschichte einer aristokratischen +Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus "Mensch" +-) keinen humanitären Täuschungen hingeben: die Wahrheit ist hart. +Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf +Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, +Barbaren in jedem furcht baren Verstande des Wortes, Raubmenschen, +noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, +warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht +handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe +Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden +Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme Kaste +war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht +vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, - es waren +die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet +als "die ganzeren Bestien"). + + +258. + +Corruption, als der Ausdruck davon, dass innerhalb der Instinkte +Anarchie droht, und dass der Grundbau der Affekte, der "Leben" heisst, +erschüttert ist: Corruption ist, je nach dem Lebensgebilde, an dem +sie sich zeigt, etwas Grundverschiedenes. Wenn zum Beispiel eine +Aristokratie, wie die Frankreichs am Anfange der Revolution, mit +einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und sich selbst einer +Ausschweifung ihres moralischen Gefühls zum Opfer bringt, so ist +dies Corruption: - es war eigentlich nur der Abschlussakt jener +Jahrhunderte dauernden Corruption, vermöge deren sie Schritt für +Schritt ihre herrschaftlichen Befugnisse abgegeben und sich zur +Funktion des Königthums (zuletzt gar zu dessen Putz und Prunkstück) +herabgesetzt hatte. Das Wesentliche an einer guten und gesunden +Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei es des +Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und +höchste Rechtfertigung fühlt, - dass sie deshalb mit gutem Gewissen +das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu +unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und +vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die +Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern +nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu +ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben +vermag: vergleichbar jenen sonnensüchtigen Kletterpflanzen auf Java - +man nennt sie Sipo Matador -, welche mit ihren Armen einen Eichbaum +so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch über ihm, aber auf +ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glück zur +Schau tragen können. - + + +259. + +Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, +seinen Willen dem des Andern gleich setzen: dies kann in einem +gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte +werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren +thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre +Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). Sobald man aber dies +Princip weiter nehmen wollte und womöglich gar als Grundprincip +der Gesellschaft, so würde es sich sofort erweisen als Das, was +es ist: als Wille zur Verneinung des Lebens, als Auflösungs- und +Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den Grund denken und +sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst ist +wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und +Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, +Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, - aber wozu +sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von Alters +her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? Auch jener Körper, +innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als +gleich behandeln - es geschieht in jeder gesunden Aristokratie -, muss +selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist, +alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in ihm +gegen einander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein +müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht +gewinnen wollen, - nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität +heraus, sondern weil erlebt, und weil Leben eben Wille zur Macht +ist. In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer +widerwilliger gegen Belehrung, als hier; man schwärmt jetzt überall, +unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen +der Gesellschaft, denen "der ausbeuterische Charakter" abgehn soll: +- das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden +verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die +"Ausbeutung" gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und +primitiven Gesellschaft an: sie gehört in's Wesen des Lebendigen, als +organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens +zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. - Gesetzt, dies ist +als Theorie eine Neuerung, - als Realität ist es das Ur-Faktum aller +Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich! - + + +260. + +Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, +welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich +gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander +geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und +ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt Herren-Moral und +Sklaven-Moral; - ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und +gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen +zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und +gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander +- sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. Die moralischen +Werthunterscheidungen sind entweder unter einer herrschenden Art +entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit +Wohlgefühl bewusst wurde, - oder unter den Beherrschten, den Sklaven +und Abhängigen jeden Grades. Im ersten Falle, wenn die Herrschenden es +sind, die den Begriff gut- bestimmen, sind es die erhobenen stolzen +Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung +Bestimmende empfunden werden. Der vornehme Mensch trennt die Wesen von +sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände +zum Ausdruck kommt: er verachtet sie. Man bemerke sofort, dass in +dieser ersten Art Moral der Gegensatz "gut" und "schlecht" so viel +bedeutet wie "vornehm" und "verächtlich": - der Gegensatz "gut" und +"böse" ist anderer Herkunft. Verachtet wird der Feige, der Ängstliche, +der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der +Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die +Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde +Schmeichler, vor Allem der Lügner: - es ist ein Grundglaube aller +Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist. "Wir Wahrhaftigen" +- so nannten sich im alten Griechenland die Adeligen. Es liegt auf +der Hand, dass die moralischen Werthbezeichnungen überall zuerst auf +Menschen und erst abgeleitet und spät auf Handlungen gelegt worden +sind: weshalb es ein arger Fehlgriff ist, wenn Moral-Historiker +von Fragen den Ausgang nehmen wie "warum ist die mitleidige +Handlung gelobt worden?" Die vornehme Art Mensch fühlt sich als +werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie +urtheilt "was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich", sie weiss +sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist +wertheschaffend. Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche +Moral ist Selbstverherrlichung. Im Vordergrunde steht das Gefühl der +Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, +das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte: - +auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast +nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss +von Macht erzeugt. Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen, +auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu +schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und +Ehrerbietung vor allem Strengen und Härten hat. "Ein hartes Herz legte +Wotan mir in die Brust" heisst es in einer alten skandinavischen Saga: +so ist es aus der Seele eines stolzen Wikingers heraus mit Recht +gedichtet. Eine solche Art Mensch ist eben stolz darauf, nicht zum +Mitleiden gemacht zu sein: weshalb der Held der Saga warnend hinzufügt +"wer jung schon kein hartes Herz hat, dem wird es niemals hart". +Vornehme und Tapfere, welche so denken, sind am entferntesten von +jener Moral, welche gerade im Mitleiden oder im Handeln für Andere +oder im désintéressement das Abzeichen des Moralischen sieht; +der Glaube an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine +Grundfeindschaft und Ironie gegen "Selbstlosigkeit" gehört eben so +bestimmt zur vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung und +Vorsicht vor den Mitgefühlen und dem "warmen Herzen". - Die Mächtigen +sind es, welche zu ehren verstehen, es ist ihre Kunst, ihr Reich der +Erfindung. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen - +das ganze Recht steht auf dieser doppelten Ehrfurcht -, der Glaube und +das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren und zu Ungunsten der Kommenden +ist typisch in der Moral der Mächtigen; und wenn umgekehrt die +Menschen der "modernen Ideen" beinahe instinktiv an den "Fortschritt" +und die "Zukunft" glauben und der Achtung vor dem Alter immer mehr +ermangeln, so verräth sich damit genugsam schon die unvornehme +Herkunft dieser "Ideen". Am meisten ist aber eine Moral der +Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich in der +Strenge ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pflichten +habe; dass man gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles +Fremde nach Gutdünken oder "wie es das Herz will" handeln dürfe und +jedenfalls "jenseits von Gut und Böse" -: hierhin mag Mitleiden und +dergleichen gehören. Die Fähigkeit und Pflicht zu langer Dankbarkeit +und langer Rache - beides nur innerhalb seines Gleichen -, die +Feinheit in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffinement in der +Freundschaft, eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam +als Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth, - im +Grunde, um gut freund sein zu können): Alles das sind typische +Merkmale der vornehmen Moral, welche, wie angedeutet, nicht die Moral +der "modernen Ideen" ist und deshalb heute schwer nachzufühlen, +auch schwer auszugraben und aufzudecken ist. - Es steht anders +mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral. Gesetzt, +dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, +Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisiren: was wird das +Gleichartige ihrer moralischen Werthschätzungen sein? Wahrscheinlich +wird ein pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum +Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurtheilung des Menschen mitsammt +seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden +des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen, er hat Feinheit des +Misstrauens gegen alles "Gute", was dort geehrt wird -, er möchte sich +überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden +die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu +dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, +die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der +Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren -, denn das sind hier +die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den +Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich +Nützlichkeits-Moral. Hier ist der Herd für die Entstehung jenes +berühmten Gegensatzes "gut" und "böse": - in's Böse wird die Macht und +Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furchtbarkeit, Feinheit +und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen lässt. Nach der +Sklaven-Moral erregt also der "Böse" Furcht; nach der Herren Moral ist +es gerade der "Gute", der Furcht erregt und erregen will, während der +"schlechte" Mensch als der verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz +kommt auf seine Spitze, wenn sich, gemäss der Sklavenmoral-Consequenz, +zuletzt nun auch an den "Guten" dieser Moral ein Hauch von +Geringschätzung hängt - sie mag leicht und wohlwollend sein -, weil +der Gute innerhalb der Sklaven-Denkweise jedenfalls der ungefährliche +Mensch sein muss: er ist gutmüthig, leicht zu betrügen, ein bischen +dumm vielleicht, un bonhomme. überall, wo die Sklaven-Moral zum +Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte "gut" +und "dumm" einander anzunähern. - Ein letzter Grundunterschied: das +Verlangen nach Freiheit, der Instinkt für das Glück und die Feinheiten +des Freiheits-Gefühls gehört ebenso nothwendig zur Sklaven-Moral und +-Moralität, als die Kunst und Schwärmerei in der Ehrfurcht, in der +Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk- und +Werthungsweise ist. - Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn, +warum die Liebe als Passion - es ist unsre europäische Spezialität - +schlechterdings vornehmer Abkunft sein muss: bekanntlich gehört ihre +Erfindung den provençalischen Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen +erfinderischen Menschen des "gai saber", denen Europa so Vieles und +beinahe sich selbst verdankt. - + + +261. + +Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am +schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit: er wird versucht +sein, sie noch dort zu leugnen, wo eine andre Art Mensch sie mit +beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen +vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken suchen, +welche sie selbst von sich nicht haben - und also auch nicht +"verdienen" -, und die doch hinterdrein an diese gute Meinung +selber glauben. Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos +und unehrerbietig vor sich selbst, zur andren Hälfte so +barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit gern als Ausnahme +fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr redet, +anzweifelt. Er wird zum Beispiel sagen: "ich kann mich über meinen +Werth irren und andererseits doch verlangen, dass mein Werth gerade +so, wie ich ihn ansetze, auch von Andern anerkannt werde, - aber das +ist keine Eitelkeit (sondern Dünkel oder, in den häufigeren Fällen, +Das, was `Demuth`, auch `Bescheidenheit` genannt wird)." Oder auch: +"ich kann mich aus vielen Gründen über die gute Meinung Anderer +freuen, vielleicht weil ich sie ehre und liebe und mich an jeder ihrer +Freuden erfreue, vielleicht auch weil ihre gute Meinung den Glauben +an meine eigne gute Meinung bei mir unterschreibt und kräftigt, +vielleicht weil die gute Meinung Anderer, selbst in Fällen, wo ich +sie nicht theile, mir doch nützt oder Nutzen verspricht, - aber das +ist Alles nicht Eitelkeit." Der vornehme Mensch muss es sich erst +mit Zwang, namentlich mit Hülfe der Historie, vorstellig machen, +dass, seit unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen +Volksschichten der gemeine Mensch nur Das war, was er galt: - gar +nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, mass er auch sich +keinen andern Werth bei, als seine Herren ihm beimassen (es ist das +eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen). Mag man es als die Folge +eines ungeheuren Atavismus begreifen, dass der gewöhnliche Mensch auch +jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich wartet und sich dann +derselben instinktiv unterwirft: aber durchaus nicht bloss einer +"guten" Meinung, sondern auch einer schlechten und unbilligen (man +denke zum Beispiel an den grössten Theil der Selbstschätzungen und +Selbstunterschätzungen, welche gläubige Frauen ihren Beichtvätern +ablernen, und überhaupt der gläubige Christ seiner Kirche ablernt). +Thatsächlich wird nun, gemäss dem langsamen Heraufkommen der +demokratischen Ordnung der Dinge (und seiner Ursache, der +Blutvermischung von Herren und Sklaven), der ursprünglich vornehme und +seltne Drang, sich selbst von sich aus einen Werth zuzuschreiben und +von sich "gut zu denken", mehr und mehr ermuthigt und ausgebreitet +werden: aber er hat jeder Zeit einen älteren, breiteren und +gründlicher einverleibten Hang gegen sich, - und im Phänomene der +"Eitelkeit" wird dieser ältere Hang Herr über den jüngeren. Der Eitle +freut sich über jede gute Meinung, die er über sich hört (ganz abseits +von allen Gesichtspunkten ihrer Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von +wahr und falsch), ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet: +denn er unterwirft sich beiden, er fühlt sich ihnen unterworfen, aus +jenem ältesten Instinkte der Unterwerfung, der an ihm ausbricht. - Es +ist "der Sklave" im Blute des Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit +des Sklaven - und wie viel "Sklave" ist zum Beispiel jetzt noch im +Weibe rückständig! welcher zu guten Meinungen über sich zu verführen +sucht; es ist ebenfalls der Sklave, der vor diesen Meinungen nachher +sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie nicht hervorgerufen +hätte. - Und nochmals gesagt: Eitelkeit ist ein Atavismus. + + +262. + +Eine Art entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen +Kampfe mit wesentlich gleichen ungünstigen Bedingungen. Umgekehrt +weiss man aus den Erfahrungen der Züchter, dass Arten, denen eine +überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und +Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation +des Typus neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an +monströsen Lastern) sind. Nun sehe man einmal ein aristokratisches +Gemeinwesen, etwa eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine, +sei es freiwillige, sei es unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der +Züchtung an: es sind da Menschen bei einander und auf sich angewiesen, +welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens, weil sie sich +durchsetzen müssen oder in furchtbarer Weise Gefahr laufen, +ausgerottet zu werden. Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener +Schutz, unter denen die Variation begünstigt ist; die Art hat sich +als Art nöthig, als Etwas, das sich gerade vermöge seiner Härte, +Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form überhaupt durchsetzen und +dauerhaft machen kann, im beständigen Kampfe mit den Nachbarn oder +mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten. +Die mannichfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften +vornehmlich sie es verdankt, dass sie, allen Göttern und Menschen +zum Trotz, noch da ist, dass sie noch immer obgesiegt hat: diese +Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet +sie gross. Sie thut es mit Härte, ja sie will die Härte; jede +aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend, in +der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältnisse von +Alt und jung, in den Strafgesetzen (welche allein die Abartenden +in's Auge fassen): - sie rechnet die Unduldsamkeit selbst unter die +Tugenden, unter dem Namen "Gerechtigkeit". Ein Typus mit wenigen, aber +sehr starken Zügen, eine Art strenger kriegerischer klug-schweigsamer, +geschlossener und verschlossener Menschen (und als solche vom feinsten +Gefühle für die Zauber und nuances der Societät) wird auf diese Weise +über den Wechsel der Geschlechter hinaus festgestellt; der beständige +Kampf mit immer gleichen ungünstigen Bedingungen ist, wie gesagt, +die Ursache davon, dass ein Typus fest und hart wird. Endlich aber +entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt nach; es +giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel +zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da. Mit +Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht: sie fühlt +sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend, - wollte sie +fortbestehn, so könnte sie es nur als eine Form des Luxus, als +archaisirender Geschmack. Die Variation, sei es als Abartung (in's +Höhere, Feinere, Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität, +ist plötzlich in der grössten Fülle und Pracht auf dem Schauplatz, +der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen +Wendepunkten der Geschichte zeigt sich neben einander und oft +in einander verwickelt und verstrickt ein herrliches vielfaches +urwaldhaftes Heraufwachsen und Emporstreben, eine Art tropisches Tempo +im Wetteifer des Wachsthums und ein ungeheures Zugrundegehen und +Sich-zu-Grunde-Richten, Dank den wild gegeneinander gewendeten, +gleichsam explodirenden Egoismen, welche "um Sonne und Licht" mit +einander ringen und keine Grenze, keine Zügelung, keine Schonung mehr +aus der bisherigen Moral zu entnehmen wissen. Diese Moral selbst war +es, welche die Kraft in's Ungeheure aufgehäuft, die den Bogen auf +so bedrohliche Weise gespannt hat - - jetzt ist, jetzt wird sie +"überlebt". Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo +das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral +hinweg lebt; das "Individuum" steht da, genöthigt zu einer eigenen +Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, +Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu's, lauter neue +Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und +Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die +höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse +aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein +verhängnissvolles Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize +und Schleier, die, der jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten +Verderbniss zu eigen sind. Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der +Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in's Individuum verlegt, in den +Nächsten und Freund, auf die Gasse, in's eigne Kind, in's eigne Herz, +in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille: was werden +jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese +Zeit heraufkommen? Sie entdecken, diese scharfen Beobachter und +Eckensteher, dass es schnell zum Ende geht, dass Alles um sie verdirbt +und verderben macht, dass Nichts bis übermorgen steht, Eine Art Mensch +ausgenommen, die unheilbar Mittelmässigen. Die Mittelmässigen allein +haben Aussicht, sich fortzusetzen, sich fortzupflanzen, - sie sind die +Menschen der Zukunft, die einzig überlebenden; "seid wie sie! werdet +mittelmässig!" heisst nunmehr die alleinige Moral, die noch Sinn hat, +die noch Ohren findet. - Aber sie ist schwer zu predigen, diese Moral +der Mittelmässigkeit! - sie darf es ja niemals eingestehn, was sie +ist und was sie will! sie muss von Maass und Würde und Pflicht und +Nächstenliebe reden, - sie wird noth haben, die Ironie zu verbergen! - + + +263. + +Es giebt einen Instinkt für den Rang, welcher, mehr als Alles, schon +das Anzeichen eines hohen Ranges ist; es giebt eine Lust an den +Nuancen der Ehrfurcht, die auf vornehme Abkunft und Gewohnheiten +rathen lässt. Die Feinheit, Güte und Höhe einer Seele wird gefährlich +auf die Probe gestellt, wenn Etwas an ihr vorüber geht, das ersten +Ranges ist, aber noch nicht von den Schaudern der Autorität vor +zudringlichen Griffen und Plumpheiten gehütet wird: Etwas, das, +unabgezeichnet, unentdeckt, versuchend, vielleicht willkürlich +verhüllt und verkleidet, wie ein lebendiger Prüfstein seines Weges +geht. Zu wessen Aufgabe und Übung es gehört, Seelen auszuforschen, der +wird sich in mancherlei Formen gerade dieser Kunst bedienen, um den +letzten Werth einer Seele, die unverrückbare eingeborne Rangordnung, +zu der sie gehört, festzustellen: er wird sie auf ihren Instinkt der +Ehrfurcht hin auf die Probe stellen. Différence engendre haine: die +Gemeinheit mancher Natur sprützt plötzlich wie schmutziges Wasser +hervor, wenn irgend ein heiliges Gefäss, irgend eine Kostbarkeit aus +verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des grossen +Schicksals vorübergetragen wird; und andrerseits giebt es ein +unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stillewerden +aller Gebärden, woran sich ausspricht, dass eine Seele die Nähe des +Verehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im Ganzen bisher die +Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist +vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das +Europa dem Christenthume verdankt: solche Bücher der Tiefe und der +letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von Aussen +kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahrtausende von Dauer zu +gewinnen, welche nöthig sind, sie auszuschöpfen und auszurathen. +Es ist Viel erreicht, wenn der grossen Menge (den Flachen und +Geschwind-Därmen aller Art) jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, dass +sie nicht an Alles rühren dürfe; dass es heilige Erlebnisse giebt, vor +denen sie die Schuhe auszuziehn und die unsaubere Hand fern zu halten +hat, - es ist beinahe ihre höchste Steigerung zur Menschlichkeit. +Umgekehrt wirkt an den sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der +"modernen Ideen", vielleicht Nichts so ekelerregend, als ihr Mangel +an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von +ihnen an Alles gerührt, geleckt, getastet wird; und es ist möglich, +dass sich heut im Volke, im niedern Volke, namentlich unter Bauern, +immer noch mehr relative Vornehmheit des Geschmacks und Takt der +Ehrfurcht vorfindet, als bei der zeitunglesenden Halbwelt des Geistes, +den Gebildeten. + + +264. + +Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine +Vorfahren am liebsten und beständigsten gethan haben: ob sie etwa +emsige Sparer waren und Zubehör eines Schreibtisches und Geldkastens, +bescheiden und bürgerlich in ihren Begierden, bescheiden auch in ihren +Tugenden; oder ob sie an's Befehlen von früh bis spät gewöhnt lebten, +rauhen Vergnügungen hold und daneben vielleicht noch rauheren +Pflichten und Verantwortungen; oder ob sie endlich alte Vorrechte der +Geburt und des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz +ihrem Glauben - ihrem "Gotte" - zu leben, als die Menschen eines +unerbittlichen und zarten Gewissens, welches vor jeder Vermittlung +erröthet. Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die +Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe +habe: was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem +der Rasse. Gesetzt, man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein +Schluss auf das Kind erlaubt: irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, +irgend ein Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei - wie diese Drei +zusammen zu allen Zeiten den eigentlichen Pöbel-Typus ausgemacht haben +- dergleichen muss auf das Kind so sicher übergehn, wie verderbtes +Blut; und mit Hülfe der besten Erziehung und Bildung wird man eben +nur erreichen, über eine solche Vererbung zu täuschen. - Und was will +heute Erziehung und Bildung Anderes! In unsrem sehr volksthümlichen, +will sagen pöbelhaften Zeitalter muss "Erziehung" und "Bildung" +wesentlich die Kunst, zu täuschen, sein, - über die Herkunft, den +vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen. Ein Erzieher, +der heute vor Allem Wahrhaftigkeit predigte und seinen Züchtlingen +beständig zuriefe "seid wahr! seid natürlich! gebt euch, wie ihr +seid!" - selbst ein solcher tugendhafter und treuherziger Esel würde +nach einiger Zeit zu jener furca des Horaz greifen lernen, um naturam +expellere: mit welchem Erfolge? "Pöbel" usque recurret. - + + +265. + +Auf die Gefahr hin, unschuldige Ohren missvergnügt zu machen, stelle +ich hin: der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine +jenen unverrückbaren Glauben, dass einem Wesen, wie "wir sind", andre +Wesen von Natur unterthan sein müssen und sich ihm zu opfern haben. +Die vornehme Seele nimmt diesen Thatbestand ihres Egoismus ohne jedes +Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl von Härte Zwang, Willkür darin, +vielmehr wie Etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag: - +suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen "es ist die +Gerechtigkeit selbst". Sie gesteht sich, unter Umständen, die sie +anfangs zögern lassen, zu, dass es mit ihr Gleichberechtigte giebt; +sobald sie über diese Frage des Rangs im Reinen ist, bewegt sie +sich unter diesen Gleichen und Gleichberechtigten mit der gleichen +Sicherheit in Scham und zarter Ehrfurcht, welche sie im Verkehre mit +sich selbst hat, - gemäss einer eingebornen himmlischen Mechanik, auf +welche sich alle Sterne verstehn. Es ist ein Stück ihres Egoismus +mehr, diese Feinheit und Selbstbeschränkung im Verkehre mit ihres +Gleichen - jeder Stern ist ein solcher Egoist -: sie ehrt sich in +ihnen und in den Rechten, welche sie an dieselben abgiebt, sie +zweifelt nicht, dass der Austausch von Ehren und Rechten als Wesen +alles Verkehrs ebenfalls zum naturgemässen Zustand der Dinge gehört. +Die vornehme Seele giebt, wie sie nimmt, aus dem leidenschaftlichen +und reizbaren Instinkte der Vergeltung heraus, welcher auf ihrem +Grunde liegt. Der Begriff "Gnade" hat inter pares keinen Sinn und +Wohlgeruch; es mag eine sublime Art geben, Geschenke von Oben her +gleichsam über sich ergehen zu lassen und wie Tropfen durstig +aufzutrinken: aber für diese Kunst und Gebärde hat die vornehme Seele +kein Geschick. Ihr Egoismus hindert sie hier: sie blickt ungern +überhaupt nach "Oben", - sondern entweder vor sich, horizontal und +langsam, oder hinab: - sie weiss sich in der Höhe.- + + +266. + +"Wahrhaft hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst _sucht_". - +Goethe an Rath Schlosser. + + +267. + +Es giebt ein Sprüchwort bei den Chinesen, das die Mütter schon +ihre Kinder lehren: siao-sin "mache dein Herz klein!" Dies ist der +eigentliche Grundhang in späten Civilisationen: ich zweifle nicht, +dass ein antiker Grieche auch an uns Europäern von Heute zuerst die +Selbstverkleinerung herauserkennen würde, - damit allein schon giengen +wir ihm "wider den Geschmack". - + + +268. + +Was ist zuletzt die Gemeinheit? - Worte sind Tonzeichen für Begriffe; +Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für +oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, für +Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu +verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben +Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man +muss zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben. Deshalb +verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser unter einander, als +Zugehörige verschiedener Völker, selbst wenn sie sich der gleichen +Sprache bedienen; oder vielmehr, wenn Menschen lange unter ähnlichen +Bedingungen (des Klima's, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfnisse, der +Arbeit) zusammen gelebt haben, so entsteht daraus Etwas, das "sich +versteht", ein Volk. In allen Seelen hat eine gleiche Anzahl oft +wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand gewonnen über seltner +kommende: auf sie hin versteht man sich, schnell und immer +schneller - die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines +Abkürzungs-Prozesses -; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man +sich, enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit, um so +grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth +thut, übereinzukommen; sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das +ist es, was die Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren +können. Noch bei jeder Freundschaft oder Liebschaft macht man diese +Probe: Nichts derart hat Dauer, sobald man dahinter kommt, dass +Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt, meint, wittert, +wünscht, fürchtet, als der Andere. (Die Furcht vor dem "ewigen +Missverständniss": das ist jener wohlwollende Genius, der Personen +verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Verbindungen +abhält, zu denen Sinne und Herz rathen - und nicht irgend ein +Schopenhauerischer "Genius der Gattung" -!) Welche Gruppen von +Empfindungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden, das +Wort ergreifen, den Befehl geben, das entscheidet über die gesammte +Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel. Die +Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Aufbau seiner +Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth +sieht. Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen +einander angenähert hat, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche +Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich +im Ganzen, dass die leichte Mittheilbarkeit der Noth, dass heisst im +letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und gemeinen +Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche über den Menschen bisher +verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren, +die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die +Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben +leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und +pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, +um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, +die Fortbildung des Menschen in's Ähnliche, Gewöhnliche, +Durchschnittliche, Heerdenhafte - in's Gemeine! - zu kreuzen. + + +269. + +Je mehr ein Psycholog - ein geborner, ein unvermeidlicher Psycholog +und Seelen-Errather - sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen +zukehrt, um so grösser wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken: +er hat Härte und Heiterkeit nöthig, mehr als ein andrer Mensch. Die +Verderbniss, das Zugrundegehen der höheren Menschen, der fremder +gearteten Seelen ist nämlich die Regel: es ist schrecklich, eine +solche Regel immer vor Augen zu haben. Die vielfache Marter des +Psychologen, der dieses Zugrundegehen entdeckt hat, der diese gesammte +innere "Heillosigkeit" des höheren Menschen, dieses ewige "Zu spät!" +in jedem Sinne, erst einmal und dann fast immer wieder entdeckt, durch +die ganze Geschichte hindurch, - kann vielleicht eines Tages zur +Ursache davon werden, dass er mit Erbitterung sich gegen sein eignes +Loos wendet und einen Versuch der Selbst-Zerstörung macht, - dass +er selbst "verdirbt". Man wird fast bei jedem Psychologen eine +verrätherische Vorneigung und Lust am Umgange mit alltäglichen und +wohlgeordneten Menschen wahrnehmen: daran verräth sich, dass er immer +einer Heilung bedarf, dass er eine Art Flucht und Vergessen braucht, +weg von dem, was ihm seine Einblicke und Einschnitte, was ihm +sein "Handwerk" auf's Gewissen gelegt hat. Die Furcht vor seinem +Gedächtniss ist ihm eigen. Er kommt vor dem Urtheile Anderer leicht +zum Verstummen: er hört mit einem unbewegten Gesichte zu, wie dort +verehrt, bewundert, geliebt, verklärt wird, wo er gesehen hat, +- oder er verbirgt noch sein Verstummen, indem er irgend einer +Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt. Vielleicht geht die +Paradoxie seiner Lage so weit in's Schauerliche, dass die Menge, die +Gebildeten, die Schwärmer gerade dort, wo er das grosse Mitleiden +neben der grossen Verachtung gelernt hat, ihrerseits die grosse +Verehrung lernen, - die Verehrung für "grosse Männer" und +Wunderthiere, um derentwillen man das Vaterland, die Erde, die Würde +der Menschheit, sich selber segnet und in Ehren hält, auf welche man +die Jugend hinweist, hinerzieht.... Und wer weiss, ob sich nicht +bisher in allen grossen Fällen eben das Gleiche begab: dass die Menge +einen Gott anbetete, - und dass der "Gott" nur ein armes Opferthier +war! Der Erfolg war immer der grösste Lügner, und das "Werk" selbst +ist ein Erfolg; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist +in seine Schöpfungen verkleidet, bis in's Unerkennbare; das "Werk", +das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es +geschaffen hat, geschaffen haben soll; die "grossen Männer", wie sie +verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein; in der +Welt der geschichtlichen Werthe herrscht die Falschmünzerei. Diese +grossen Dichter zum Beispiel, diese Byron, Musset, Poe, Leopardi, +Kleist, Gogol, - so wie sie nun einmal sind, vielleicht sein müssen: +Menschen der Augenblicke, begeistert, sinnlich, kindsköpfisch, im +Misstrauen und Vertrauen leichtfertig und plötzlich; mit Seelen, +an denen gewöhnlich irgend ein Bruch verhehlt werden soll; oft mit +ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit ihren +Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss, oft +in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt, bis sie den Irrlichtern +um die Sümpfe herum gleich werden und sich zu Sternen verstellen - +das Volk nennt sie dann wohl Idealisten -, oft mit einem langen Ekel +kämpfend, mit einem wiederkehrenden Gespenst von Unglauben, der kalt +macht und sie zwingt, nach gloria zu schmachten und den "Glauben an +sich" aus den Händen berauschter Schmeichler zu fressen: - welche +Marter sind diese grossen Künstler und überhaupt die höheren Menschen +für Den, der sie einmal errathen hat! Es ist so begreiflich, dass +sie gerade vom Weibe - welches hellseherisch ist in der Welt des +Leidens und leider auch weit über seine Kräfte hinaus hülf- und +rettungssüchtig - so leicht jene Ausbrüche unbegrenzten hingebendsten +Mitleids erfahren, welche die Menge, vor Allem die verehrende Menge, +nicht versteht und mit neugierigen und selbstgefälligen Deutungen +überhäuft. Dieses Mitleiden täuscht sich regelmässig über seine Kraft; +das Weib möchte glauben, dass Liebe Alles vermag, - es ist sein +eigentlicher Glaube. Ach, der Wissende des Herzens erräth, wie arm, +dumm, hülflos, anmaaslich, fehlgreifend, leichter zerstörend als +rettend auch die beste tiefste Liebe ist! - Es ist möglich, dass +unter der heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der +schmerzlichsten Fälle vom Martyrium des Wissens um die Liebe verborgen +liegt: das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das +an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebt-werden und +Nichts ausserdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren +Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten; die Geschichte +eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die +Hölle erfinden musste, um Die dorthin zu schicken, welche ihn nicht +lieben wollten, - und der endlich, wissend geworden über menschliche +Liebe, einen Gott erfinden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben- können +ist, - der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig, +so unwissend ist! Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe weiss -, +sucht den Tod. - Aber warum solchen schmerzlichen Dingen nachhängen? +Gesetzt, dass man es nicht muss. - + + +270. + +Der geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat - +es bestimmt beinahe die Rangordnung, wie tief Menschen leiden können +-, seine schaudernde Gewissheit, von der er ganz durchtränkt und +gefärbt ist, vermöge seines Leidens mehr zu wissen, als die Klügsten +und Weisesten wissen können, in vielen fernen entsetzlichen Welten +bekannt und einmal "zu Hause" gewesen zu sein, von denen "ihr nichts +wisst!"....... dieser geistige schweigende Hochmuth des Leidenden, +dieser Stolz des Auserwählten der Erkenntniss, des "Eingeweihten", +des beinahe Geopferten findet alle Formen von Verkleidung nöthig, um +sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und +überhaupt vor Allem, was nicht Seinesgleichen im Schmerz ist, zu +schützen. Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt. Eine der feinsten +Verkleidungs-Formen ist der Epicureismus und eine gewisse fürderhin +zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden +leichtfertig nimmt und sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehre +setzt. Es giebt "heitere Menschen", welche sich der Heiterkeit +bedienen, weil sie um ihretwillen missverstanden werden: - sie wollen +missverstanden sein. Es giebt "wissenschaftliche Menschen", welche +sich der Wissenschaft bedienen, weil dieselbe einen heiteren Anschein +giebt, und weil Wissenschaftlichkeit darauf schliessen lässt, dass +der Mensch oberflächlich ist: - sie wollen zu einem falschen Schlusse +verführen. Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und +verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen +sind; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein +unseliges allzugewisses Wissen. - Woraus sich ergiebt, dass es zur +feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht "vor der Maske" zu haben und +nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben. + + +271. + +Was am tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn +und Grad der Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige +Nützlichkeit, was hilft aller guter Wille für einander: zuletzt bleibt +es dabei - sie "können sich nicht riechen!" Der höchste Instinkt der +Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und +gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen: denn eben das ist +Heiligkeit - die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes. +Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des +Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig +aus der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der "Trübsal", in's +Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt -: eben so sehr als ein solcher +Hang auszeichnet - es ist ein vornehmer Hang -, trennt er auch. - +Das Mitleiden des Heiligen ist das Mitleiden mit dem Schmutz des +Menschlichen, Allzumenschlichen. Und es giebt Grade und Höhen, wo +das Mitleiden selbst von ihm als Verunreinigung, als Schmutz gefühlt +wird..... + + +272. + +Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu +Pflichten für Jedermann herabzusetzen; die eigne Verantwortlichkeit +nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen; seine Vorrechte und deren +Ausübung unter seine Pflichten rechnen. + + +273. + +Ein Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf +seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und +Hemmniss - oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthümliche +hochgeartete Güte gegen Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf +seiner Höhe ist und herrscht. Die Ungeduld und sein Bewusstsein, bis +dahin immer zur Komödie verurtheilt zu sein - denn selbst der Krieg +ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den Zweck verbirgt -, +verdirbt ihm jeden Umgang: diese Art Mensch kennt die Einsamkeit und +was sie vom Giftigsten an sich hat. + + +274. + +Das Problem der Wartenden. - Es sind Glücksfälle dazu nöthig und +vielerlei Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung +eines Problems schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt - "zum +Ausbruch", wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich nicht, +und in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen, +in wiefern sie warten, noch weniger aber, dass sie umsonst warten. +Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die +"Erlaubniss" zum Handeln giebt, - dann, wenn bereits die beste Jugend +und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist; und wie +Mancher fand, eben als er "aufsprang", mit Schrecken seine Glieder +eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer! "Es ist zu spät" - +sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer +unnütz. - Sollte, im Reiche des Genie's, der "Raffael ohne Hände", +das Wort im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme, +sondern die Regel sein? - Das Genie ist vielleicht gar nicht so +selten: aber die fünfhundert Hände, die es nöthig hat, um den kairós, +"die rechte Zeit" - zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu +fassen! + + +275. + +Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt um so schärfer +nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist - und verräth sich +selbst damit. + + +276. + +Bei aller Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere +Seele besser daran, als die vornehmere: die Gefahren der letzteren +müssen grösser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt +und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer +Lebensbedingungen, ungeheuer. - Bei einer Eidechse wächst ein Finger +nach, der ihr verloren gieng: nicht so beim Menschen. - + + +277. + +- Schlimm genug! Wieder die alte Geschichte! Wenn man sich sein Haus +fertig gebaut hat, merkt man, unversehens Etwas dabei gelernt zu +haben, das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu +bauen - anfieng. Das ewige leidige "Zu spät!" - Die Melancholie alles +Fertigen!..... + + +278. + +- Wanderer, wer bist du? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn, +ohne Liebe, mit unerrathbaren Augen; feucht und traurig wie ein +Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an's Licht gekommen +- was suchte es da unten? -, mit einer Brust, die nicht seufzt, mit +einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch +langsam greift: wer bist du? was thatest du? Ruhe dich hier aus: diese +Stelle ist gastfreundlich für Jedermann, - erhole dich! Und wer du +auch sein magst: was gefällt dir jetzt? Was dient dir zur Erholung? +Nenne es nur: was ich habe, biete ich dir an! - "Zur Erholung? Zur +Erholung? Oh du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gieb mir, ich +bitte - -" Was? Was? sprich es aus! - "Eine Maske mehr! Eine zweite +Maske!"..... + + +279. + +Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich +sind: sie haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es +erdrücken und ersticken möchten, aus Eifersucht, - ach, sie wissen zu +gut, dass es ihnen davonläuft! + + +280. + +"Schlimm! Schlimm! Wie? geht er nicht - zurück?" - Ja! Aber ihr +versteht ihn schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie +jeder, der einen grossen Sprung thun will. - - + + +281. + +- "Wird man es mir glauben? aber ich verlange, dass man mir es glaubt: +ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, nur in ganz +seltnen Fällen, nur gezwungen, immer ohne Lust `zur Sache`, bereit, +von `Mir` abzuschweifen, immer ohne Glauben an das Ergebniss, +Dank einem unbezwinglichen Misstrauen gegen die Möglichkeit der +Selbst-Erkenntniss, das mich so weit geführt hat, selbst am Begriff +`unmittelbare Erkenntniss`, welchen sich die Theoretiker erlauben, +eine contradictio in adjecto zu empfinden: - diese ganze Thatsache +ist beinahe das Sicherste, was ich über mich weiss. Es muss eine Art +Widerwillen in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben. +- Steckt darin vielleicht ein Räthsel? Wahrscheinlich; aber +glücklicherweise keins für meine eigenen Zähne. - Vielleicht verräth +es die species, zu der ich gehöre? - Aber nicht mir: wie es mir selbst +erwünscht genug ist." + + +282. + +"Aber was ist dir begegnet?" - "Ich weiss es nicht, sagte er zögernd; +vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen." - Es kommt +heute bisweilen vor, dass ein milder mässiger zurückhaltender Mensch +plötzlich rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch umwirft, +schreit, tobt, alle Welt beleidigt - und endlich bei Seite geht, +beschämt, wüthend über sich, - wohin? wozu? Um abseits zu verhungern? +Um an seiner Erinnerung zu ersticken? - Wer die Begierden einer hohen +wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine +Nahrung bereit findet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten gross sein: +heute aber ist sie ausserordentlich. In ein lärmendes und pöbelhaftes +Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen +mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich +dennoch "zugreift" - vor plötzlichem Ekel zu Grunde gehn. - Wir +haben wahrscheinlich Alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht +hingehörten; und gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten +zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus +einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsre Kost und +Tischnachbarschaft entsteht, - den Nachtisch-Ekel. + + +283. + +Es ist eine feine und zugleich vornehme Selbstbeherrschung, gesetzt, +dass man überhaupt loben will, immer nur da zu loben, wo man nicht +übereinstimmt: - im andern Falle würde man ja sich selbst loben, was +wider den guten Geschmack geht - freilich eine Selbstbeherrschung, die +einen artigen Anlass und Anstoss bietet, um beständig missverstanden +zu werden. Man muss, um sich diesen wirklichen Luxus von Geschmack und +Moralität gestatten zu dürfen, nicht unter Tölpeln des Geistes leben, +vielmehr unter Menschen, bei denen Missverständnisse und Fehlgriffe +noch durch ihre Feinheit belustigen, - oder man wird es theuer büssen +müssen! - "Er lobt mich: also giebt er mir Recht" - diese Eselei von +Schlussfolgerung verdirbt uns Einsiedlern das halbe Leben, denn es +bringt die Esel in unsre Nachbarschaft und Freundschaft. + + +284. + +Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits -. +Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, +sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf +Pferde, oft wie auf Esel: - man muss nämlich ihre Dummheit so gut +wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe sich +bewahren; auch die schwarze Brille: denn es giebt Fälle, wo uns +Niemand in die Augen, noch weniger in unsre "Gründe" sehn darf. Und +jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen, +die Höflichkeit. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, +der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist +bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, +welcher erräth, wie es bei Berührung von Mensch und Mensch - +"in Gesellschaft" - unvermeidlich-unreinlich zugehn muss. Jede +Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann - "gemein". + + +285. + +Die grössten Ereignisse und Gedanken - aber die grössten Gedanken +sind die grössten Ereignisse - werden am spätesten begriffen: die +Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, erleben solche +Ereignisse nicht, - sie leben daran vorbei. Es geschieht da Etwas, wie +im Reich der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt am spätesten +zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, leugnet der +Mensch, dass es dort - Sterne giebt. "Wie viel Jahrhunderte braucht +ein Geist, um begriffen zu werden?" - das ist auch ein Maassstab, +damit schafft man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth +thut: für Geist und Stern. - + + +286. + +"Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben". - Es giebt aber eine +umgekehrte Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die +Aussicht frei hat - aber hinab blickt. + + +287. + +- Was ist vornehm? Was bedeutet uns heute noch das Wort "vornehm"? +Woran verräth sich, woran erkennt man, unter diesem schweren +verhängten Himmel der beginnenden Pöbelherrschaft, durch den Alles +undurchsichtig und bleiern wird, den vornehmen Menschen? - Es sind +nicht die Handlungen, die ihn beweisen, - Handlungen sind immer +vieldeutig, immer unergründlich -; es sind auch die "Werke" nicht. Man +findet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von Solchen, welche +durch ihre Werke verrathen, wie eine tiefe Begierde nach dem Vornehmen +hin sie treibt: aber gerade dies Bedürfniss nach dem Vornehmen ist von +Grund aus verschieden von den Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst, +und geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels. Es +sind nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der +hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in +einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen: irgend eine +Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, +Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht +verlieren lässt.- Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich.- + + +288. + +Es giebt Menschen, welche auf eine unvermeidliche Weise Geist haben, +sie mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen, und die Hände vor +die verrätherischen Augen halten (- als ob die Hand kein Verräther +wäre! -): schliesslich kommt es immer heraus, dass sie Etwas haben, +das sie verbergen, nämlich Geist. Eins der feinsten Mittel, um +wenigstens so lange als möglich zu täuschen und sich mit Erfolg dümmer +zu stellen als man ist - was im gemeinen Leben oft so wünschenswerth +ist wie ein Regenschirm -, heisst Begeisterung: hinzugerechnet, was +hinzu gehört, zum Beispiel Tugend. Denn, wie Galiani sagt, der es +wissen musste -: vertu est enthousiasme. + + +289. + +Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem +Wiederhall der Öde, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen +Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten Worten, aus +seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art +des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags +und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und +Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle - sie kann +ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein - zum Höhlenbär oder +Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde: dessen Begriffe +selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch +ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und +Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler +glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph - gesetzt, dass ein +Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war - seine eigentlichen und +letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht +gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? - ja er +wird zweifeln, ob ein Philosoph "letzte und eigentliche" Meinungen +überhaupt haben könne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine +tiefere Höhle liege, liegen müsse - eine umfänglichere fremdere +reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem +Grunde, unter jeder "Begründung". Jede Philosophie ist eine +Vordergrunds-Philosophie - das ist ein Einsiedler-Urtheil: "es ist +etwas Willkürliches daran, dass er hier stehen blieb, zurückblickte, +sich umblickte, dass er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten +weglegte, - es ist auch etwas Misstrauisches daran." Jede Philosophie +verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, +jedes Wort auch eine Maske. + + +290. + +Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden, als das +Missverstanden-werden. Am Letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit; +am Ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht: +"ach, warum wollt ihres auch so schwer haben, wie ich?" + + +291. + +Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und +undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft als +durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um +seine Seele einmal als einfach zu geniessen; und die ganze Moral ist +eine beherzte lange Fälschung, vermöge deren überhaupt ein Genuss im +Anblick der Seele möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkte gehört +vielleicht viel Mehr in den Begriff "Kunst" hinein, als man gemeinhin +glaubt. + + +292. + +Ein Philosoph: das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche +Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen +eignen Gedanken wie von Aussen her, wie von Oben und Unten her, als +von seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird; der +selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen +schwanger geht; ein verhängnissvoller Mensch, um den herum es immer +grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht. Ein Philosoph: +ach, ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat, +- aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder zu sich zu kommen...... + + +293. + +Ein Mann, der sagt: "das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will +es schützen und gegen Jedermann vertheidigen"; ein Mann, der eine +Sache führen, einen Entschluss durchführen, einem Gedanken Treue +wahren, ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen +kann; ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die +Schwachen, Leidenden, Bedrängten, auch die Thiere gern zufallen und +von Natur zugehören, kurz ein Mann, der von Natur Herr ist, - wenn ein +solcher Mann Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat Werth! Aber was +liegt am Mitleiden Derer, welche leiden! Oder Derer, welche gar +Mitleiden predigen! Es giebt heute fast überall in Europa eine +krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen +eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage, eine Verzärtlichung, +welche sich mit Religion und philosophischem Krimskrams zu etwas +Höherem aufputzen möchte, - es giebt einen förmlichen Cultus des +Leidens. Die Unmännlichkeit dessen, was in solchen Schwärmerkreisen +"Mitleid" getauft wird, springt, wie ich meine, immer zuerst in die +Augen. - Man muss diese neueste Art des schlechten Geschmacks kräftig +und gründlich in den Bann thun; und ich wünsche endlich, dass man +das gute Amulet "gai saber" sich dagegen um Herz und Hals lege, - +"fröhliche Wissenschaft", um es den Deutschen zu verdeutlichen. + + +294. + +Das olympische Laster. - Jenem Philosophen zum Trotz, der als ächter +Engländer dem Lachen bei allen denkenden Köpfen eine üble Nachrede zu +schaffen suchte - "das Lachen ist ein arges Gebreste der menschlichen +Natur, welches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird" +(Hobbes) -, würde ich mir sogar eine Rangordnung der Philosophen +erlauben, je nach dem Range ihres Lachens - bis hinauf zu denen, die +des goldnen Gelächters fähig sind. Und gesetzt, dass auch Götter +philosophiren, wozu mich mancher Schluss schon gedrängt hat -, so +zweifle ich nicht, dass sie dabei auch auf eine übermenschliche und +neue Weise zu lachen wissen - und auf Unkosten aller ernsten Dinge! +Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen +Handlungen das Lachen nicht lassen. + + +295. + +Das Genie des Herzens, wie es jener grosse Verborgene hat, der +Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, dessen Stimme +bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss, welcher nicht +ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht +und Falte der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, dass er +zu scheinen versteht - und nicht Das, was er ist, sondern was Denen, +die ihm folgen, ein Zwang mehr ist, um sich immer näher an ihn zu +drängen, um ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen: - das +Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen +macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein +neues Verlangen zu kosten giebt, - still zu liegen wie ein Spiegel, +dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele -; das Genie des +Herzens, das die tölpische und überrasche Hand zögern und zierlicher +greifen lehrt; das den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen +Güte und süsser Geistigkeit unter trübem dickem Eise erräth und eine +Wünschelruthe für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker +vielen Schlamms und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens, +von dessen Berührung jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und +überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt, sondern +reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem +Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher +zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die noch keinen +Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und +Zurückströmens...... aber was thue ich, meine Freunde? Von wem rede +ich zu euch? Vergass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal +seinen Namen nannte? es sei denn, dass ihr nicht schon von selbst +erriethet, wer dieser fragwürdige Geist und Gott ist, der in solcher +Weise gelobt sein will. Wie es nämlich einem jeden ergeht, der von +Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so sind auch +mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg +gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben sprach, und dieser +immer wieder, kein Geringerer nämlich, als der Gott Dionysos, jener +grosse Zweideutige und Versucher Gott, dem ich einstmals, wie ihr +wisst, in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht +habe - als der Letzte, wie mir scheint, der ihm ein Opfer dargebracht +hat: denn ich fand Keinen, der es verstanden hätte, was ich damals +that. Inzwischen lernte ich Vieles, Allzuvieles über die Philosophie +dieses Gottes hinzu, und, wie gesagt, von Mund zu Mund, - ich, der +letzte jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos: und ich dürfte wohl +endlich einmal damit anfangen, euch, meinen Freunden, ein Wenig, so +weit es mir erlaubt ist, von dieser Philosophie zu kosten zu geben? +Mit halber Stimme, wie billig: denn es handelt sich dabei um +mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes, Wunderliches, Unheimliches. +Schon dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter +philosophiren, scheint mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich +ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen +möchte, - unter euch, meine Freunde, hat sie schon weniger gegen sich, +es sei denn, dass sie zu spät und nicht zur rechten Stunde kommt: +denn ihr glaubt heute ungern, wie man mir verrathen hat, an Gott +und Götter. Vielleicht auch, dass ich in der Freimüthigkeit meiner +Erzählung weiter gehn muss, als den strengen Gewohnheiten eurer Ohren +immer liebsam ist? Gewisslich gieng der genannte Gott bei dergleichen +Zwiegesprächen weiter, sehr viel weiter, und war immer um viele +Schritt mir voraus.... ja ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach +Menschenbrauch schöne feierliche Prunk- und Tugendnamen beizulegen, +viel Rühmens von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner +gewagten Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen +haben. Aber mit all diesem ehrwürdigen Plunder und Prunk weiss ein +solcher Gott nichts anzufangen. "Behalte dies, würde er sagen, für +dich und deines Gleichen und wer sonst es nöthig hat! Ich - habe +keinen Grund, meine Blösse zu decken!" - Man erräth: es fehlt dieser +Art von Gottheit und Philosophen vielleicht an Scham? - So sagte er +einmal: "unter Umständen liebe ich den Menschen - und dabei spielte er +auf Ariadne an, die zugegen war -: der Mensch ist mir ein angenehmes +tapferes erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen +hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm +gut: ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und +ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist." - "Stärker, böser +und tiefer?" fragte ich erschreckt. "Ja, sagte er noch Ein Mal, +stärker, böser und tiefer; auch schöner" - und dazu lächelte der +Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln, wie als ob er eben +eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich: es +fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham -; und es giebt überhaupt +gute Gründe dafür, zu muthmaassen, dass in einigen Stücken die Götter +insgesammt bei uns Menschen in die Schule gehn könnten. Wir Menschen +sind - menschlicher... + + +296. + +Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken! +Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, +voller Stacheln und geheimer Würzen, dass ihr mich niesen und lachen +machtet - und jetzt? Schon habt ihr eure Neuheit ausgezogen, und +einige von euch sind, ich fürchte es, bereit, zu Wahrheiten zu werden: +so unsterblich sehn sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen, +so langweilig! Und war es jemals anders? Welche Sachen schreiben +und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chnesischem Pinsel, wir +Verewiger der Dinge, welche sich schreiben lassen, was vermögen wir +denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das, was eben welk werden +will und anfängt, sich zu verriechen! Ach, immer nur abziehende und +erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle! Ach, immer nur Vögel, +die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen +lassen, - mit unserer Hand! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben +und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! Und nur euer Nachmittag +ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein +ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und +fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths: - aber Niemand erräth +mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken +und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten - - schlimmen +Gedanken! + + + +Aus hohen Bergen. + +Nachgesang. + + Oh Lebens Mittag! Feierliche Zeit! + Oh Sommergarten! + Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten: - + Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit, + Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit! + + War's nicht für euch, dass sich des Gletschers Grau + Heut schmückt mit Rosen? + Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stossen + Sich Wind und Wolke höher heut in's Blau, + Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-Schau. + + Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt - + Wer wohnt den Sternen + So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen? + Mein Reich - welch Reich hat weiter sich gereckt? + Und meinen Honig - wer hat ihn geschmeckt?.... + + - Da _seid_ ihr, Freunde! - Weh, doch _ich_ bin's nicht, + Zu dem ihr wolltet? + Ihr zögert, staunt - ach, dass ihr lieber grolltet! + Ich - bin's nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht? + Und was ich bin, euch Freunden - bin ich's nicht? + + Ein Andrer ward ich? Und mir selber fremd? + Mir selbst entsprungen? + Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen? + Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt, + Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt? + + Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht? + Ich lernte wohnen, + Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen, + Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet? + Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht? + + - Ihr alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich, + Voll Lieb' und Grausen! + Nein, geht! Zürnt nicht! Hier - könntet _ihr_ nicht hausen: + Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich - + Hier muss man Jäger sein und gemsengleich. + + Ein _schlimmer_ Jäger ward ich! - Seht, wie steil + Gespannt mein Bogen! + Der Stärkste war's, der solchen Zug gezogen--: + Doch wehe nun! Gefährlich ist _der_ Pfeil, + Wie _kein_ Pfeil, - fort von hier! Zu eurem Heil!..... + + Ihr wendet euch? - Oh Herz, du trugst genung, + Stark blieb dein Hoffen: + Halt _neuen_ Freunden deine Thüren offen! + Die alten lass! Lass die Erinnerung! + Warst einst du jung, jetzt - bist du besser jung! + + Was je uns knüpfte, Einer Hoffnung Band, - + Wer liest die Zeichen, + Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen? + Dem Pergament vergleich ich's, das die Hand + zu fassen _scheut_, - ihm gleich verbräunt, verbrannt. + + Nicht Freunde mehr, das sind - wie nenn' ich's doch? - + Nur Freunds-Gespenster! + Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster, + Das sieht mich an und spricht: "wir _waren's_ doch?"-- + Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch! + + Oh Jugend-Sehnen, das sich missverstand! + Die _ich_ ersehnte, + Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte, + Dass _alt_ sie wurden, hat sie weggebannt: + Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt. + + Oh Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit! + Oh Sommergarten! + Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten! + Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit, + Der _neuen_ Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit! + + _Dies_ Lied ist aus, - der Sehnsucht süsser Schrei + Erstarb im Munde: + Ein Zaubrer that's, der Freund zur rechten Stunde, + Der Mittags-Freund - nein! fragt nicht, wer es sei - + Um Mittag war's, da wurde Eins zu Zwei... + + Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss, + Das Fest der Feste: + Freund _Zarathustra_ kam, der Gast der Gäste! + Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss, + Die Hochzeit kam für Licht und Finsterniss... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, JENSEITS VON GUT UND BOSE *** + +This file should be named 7204-8.txt or 7204-8.zip + +Project Gutenberg eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US +unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +We are now trying to release all our eBooks one year in advance +of the official release dates, leaving time for better editing. +Please be encouraged to tell us about any error or corrections, +even years after the official publication date. + +Please note neither this listing nor its contents are final til +midnight of the last day of the month of any such announcement. +The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at +Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. 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If the value +per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2 +million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text +files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+ +We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002 +If they reach just 1-2% of the world's population then the total +will reach over half a trillion eBooks given away by year's end. + +The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks! +This is ten thousand titles each to one hundred million readers, +which is only about 4% of the present number of computer users. + +Here is the briefest record of our progress (* means estimated): + +eBooks Year Month + + 1 1971 July + 10 1991 January + 100 1994 January + 1000 1997 August + 1500 1998 October + 2000 1999 December + 2500 2000 December + 3000 2001 November + 4000 2001 October/November + 6000 2002 December* + 9000 2003 November* +10000 2004 January* + + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created +to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium. + +We need your donations more than ever! + +As of February, 2002, contributions are being solicited from people +and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut, +Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois, +Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts, +Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New +Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio, +Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South +Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West +Virginia, Wisconsin, and Wyoming. + +We have filed in all 50 states now, but these are the only ones +that have responded. + +As the requirements for other states are met, additions to this list +will be made and fund raising will begin in the additional states. +Please feel free to ask to check the status of your state. + +In answer to various questions we have received on this: + +We are constantly working on finishing the paperwork to legally +request donations in all 50 states. 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