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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 05:29:12 -0700
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+The Project Gutenberg EBook of Die Geburt der Tragoedie
+by Friedrich Wilhelm Nietzsche
+
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+this or any other Project Gutenberg eBook.
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+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
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+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
+
+
+Title: Die Geburt der Tragoedie
+
+Author: Friedrich Wilhelm Nietzsche
+
+Release Date: January, 2005 [EBook #7206]
+[This file was first posted on March 26, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO Latin-1
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DIE GEBURT DER TRAGOEDIE ***
+
+
+
+
+This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg -
+DE" (http://www.gutenberg2000.de/nietzsche/tragoedi/tragoedi.htm),
+prepared by juergen@redestb.es.
+
+
+
+
+Friedrich Nietzsche
+
+Die Geburt der Tragödie
+
+Versuch einer Selbstkritik.
+
+
+
+
+1.
+
+Was auch diesem fragwürdigen Buche zu Grunde liegen mag: es muss eine
+Frage ersten Ranges und Reizes gewesen sein, noch dazu eine tief
+persönliche Frage, - Zeugniss dafür ist die Zeit, in der es entstand,
+trotz der es entstand, die aufregende Zeit des deutsch-französischen
+Krieges von 1870/71. Während die Donner der Schlacht von Wörth über
+Europa weggiengen, sass der Grübler und Räthselfreund, dem die
+Vaterschaft dieses Buches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der
+Alpen, sehr vergrübelt und verräthselt, folglich sehr bekümmert und
+unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Griechen
+nieder, - den Kern des wunderlichen und schlecht zugänglichen Buches,
+dem diese späte Vorrede (oder Nachrede) gewidmet sein soll. Einige
+Wochen darauf: und er befand sich selbst unter den Mauern von Metz,
+immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zur
+vorgeblichen "Heiterkeit" der Griechen und der griechischen Kunst
+gesetzt hatte; bis er endlich in jenem Monat tiefster Spannung, als
+man in Versailles über den Frieden berieth, auch mit sich zum Frieden
+kam und, langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit
+genesend, die "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"
+letztgültig bei sich feststellte. - Aus der Musik? Musik und Tragödie?
+Griechen und Tragödien-Musik? Griechen und das Kunstwerk des
+Pessimismus? Die wohlgerathenste, schönste, bestbeneidete, zum Leben
+verführendste Art der bisherigen Menschen, die Griechen - wie?
+gerade sie hatten die Tragödie nöthig? Mehr noch - die Kunst? Wozu -
+griechische Kunst?
+
+Man erräth, an welche Stelle hiermit das grosse Fragezeichen vom
+Werth des Daseins gesetzt war. Ist Pessimismus nothwendig das Zeichen
+des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und
+geschwächten Instinkte? - wie er es bei den Indern war, wie er es,
+allem Anschein nach, bei uns, den "modernen" Menschen und Europäern
+ist? Giebt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle
+Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des
+Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des
+Daseins? Giebt es vielleicht ein Leiden an der Ueberfülle selbst?
+Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem
+Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an
+dem sie ihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was "das
+Fürchten" ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten,
+stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure
+Phänomen des Dionysischen? Was, aus ihm geboren, die Tragödie? - Und
+wiederum: das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral,
+die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen
+- wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des
+Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden
+Instinkte sein? Und die "griechische Heiterkeit" des späteren
+Griechenthums nur eine Abendröthe? Der epikurische Wille gegen den
+Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft
+selbst, unsere Wissenschaft - ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom
+des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher -
+alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine
+Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Nothwehr gegen -
+die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit?
+Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? Oh Sokrates, Sokrates, war das
+vielleicht dein Geheimniss? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies
+vielleicht deine - Ironie? - -
+
+
+2.
+
+Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches,
+ein Problem mit Hörnern, nicht nothwendig gerade ein Stier, jedenfalls
+ein neues Problem: heute würde ich sagen, dass es das Problem
+der Wissenschaft selbst war - Wissenschaft zum ersten Male als
+problematisch, als fragwürdig gefasst. Aber das Buch, in dem mein
+jugendlicher Muth und Argwohn sich damals ausliess - was für ein
+unmögliches Buch musste aus einer so jugendwidrigen Aufgabe erwachsen!
+Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welche
+alle hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen, hingestellt auf den
+Boden der Kunst - denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf
+dem Boden der Wissenschaft erkannt werden - ein Buch vielleicht
+für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver
+Fähigkeiten (das heisst für eine Ausnahme- Art von Künstlern, nach
+denen man suchen muss und nicht einmal suchen möchte...), voller
+psychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer
+Artisten-Metaphysik im Hintergrunde, ein Jugendwerk voller Jugendmuth
+und Jugend-Schwermuth, unabhängig, trotzig-selbstständig auch noch, wo
+es sich einer Autorität und eignen Verehrung zu beugen scheint, kurz
+ein Erstlingswerk auch in jedem schlimmen Sinne des Wortes, trotz
+seines greisenhaften Problems, mit jedem Fehler der Jugend behaftet,
+vor allem mit ihrem "Viel zu lang", ihrem "Sturm und Drang":
+andererseits, in Hinsicht auf den Erfolg, den es hatte (in Sonderheit
+bei dem grossen Künstler, an den es sich wie zu einem Zwiegespräch
+wendete, bei Richard Wagner) ein bewiesenes Buch, ich meine ein
+solches, das jedenfalls "den Besten seiner Zeit" genug gethan hat.
+Darauf hin sollte es schon mit einiger Rücksicht und Schweigsamkeit
+behandelt werden; trotzdem will ich nicht gänzlich unterdrücken, wie
+unangenehm es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn
+Jahren vor mir steht, - vor einem älteren, hundert Mal verwöhnteren,
+aber keineswegs kälter gewordenen Auge, das auch jener Aufgabe selbst
+nicht fremder wurde, an welche sich jenes verwegene Buch zum ersten
+Male herangewagt hat, - die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers
+zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens....
+
+
+3.
+
+Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches Buch, - ich heisse
+es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und
+bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen,
+ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr
+überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, misstrauisch
+selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens, als Buch für
+Eingeweihte, als "Musik" für Solche, die auf Musik getauft, die auf
+gemeinsame und seltene Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an
+verbunden sind, als Erkennungszeichen für Blutsverwandte in artibus, -
+ein hochmüthiges und schwärmerisches Buch, das sich gegen das profanum
+vulgus der "Gebildeten" von vornherein noch mehr als gegen das "Volk"
+abschliesst, welches aber, wie seine Wirkung bewies und beweist, sich
+gut genug auch darauf verstehen muss, sich seine Mitschwärmer zu
+suchen und sie auf neue Schleichwege und Tanzplätze zu locken. Hier
+redete jedenfalls - das gestand man sich mit Neugierde ebenso als mit
+Abneigung ein - eine fremde Stimme, der Jünger eines noch "unbekannten
+Gottes", der sich einstweilen unter die Kapuze des Gelehrten, unter
+die Schwere und dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst unter
+die schlechten Manieren des Wagnerianers versteckt hat; hier war ein
+Geist mit fremden, noch namenlosen Bedürfnissen, ein Gedächtniss
+strotzend von Fragen, Erfahrungen, Verborgenheiten, welchen der Name
+Dionysos wie ein Fragezeichen mehr beigeschrieben war; hier sprach -
+so sagte man sich mit Argwohn - etwas wie eine mystische und beinahe
+mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig
+darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in
+einer fremden Zunge stammelt. Sie hätte singen sollen, diese "neue
+Seele" - und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu
+sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es
+vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe: - bleibt doch auch
+heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu
+entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, dass hier ein
+Problem vorliegt, - und dass die Griechen, so lange wir keine Antwort
+auf die Frage "was ist dionysisch?" haben, nach wie vor gänzlich
+unerkannt und unvorstellbar sind...
+
+
+4.
+
+Ja, was ist dionysisch? - In diesem Buche steht eine Antwort darauf,
+- ein "Wissender" redet da, der Eingeweihte und Jünger seines Gottes.
+Vielleicht würde ich jetzt vorsichtiger und weniger beredt von einer
+so schweren psychologischen Frage reden, wie sie der Ursprung der
+Tragödie bei den Griechen ist. Eine Grundfrage ist das Verhältniss
+des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität, - blieb dies
+Verhältniss sich gleich? oder drehte es sich um? - jene Frage, ob
+wirklich sein immer stärkeres Verlangen nach Schönheit, nach Festen,
+Lustbarkeiten, neuen Culten, aus Mangel, aus Entbehrung, aus
+Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist? Gesetzt nämlich, gerade dies
+wäre wahr - und Perikles (oder Thukydides) giebt es uns in der grossen
+Leichenrede zu verstehen -: woher müsste dann das entgegengesetzte
+Verlangen, das der Zeit nach früher hervortrat, stammen, das Verlangen
+nach dem Hässlichen, der gute strenge Wille des älteren Hellenen zum
+Pessimismus, zum tragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren,
+Bösen, Räthselhaften, Vernichtenden, Verhängnissvollen auf dem Grunde
+des Daseins, - woher müsste dann die Tragödie stammen? Vielleicht
+aus der Lust, aus der Kraft, aus überströmender Gesundheit, aus
+übergrosser Fülle? Und welche Bedeutung hat dann, physiologisch
+gefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst
+erwuchs, der dionysische Wahnsinn? Wie? Ist Wahnsinn vielleicht nicht
+nothwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der überspäten
+Cultur? Giebt es vielleicht - eine Frage für Irrenärzte - Neurosen der
+Gesundheit? der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit? Worauf weist jene
+Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus welchem Selbsterlebniss, auf
+welchen Drang hin musste sich der Grieche den dionysischen Schwärmer
+und Urmenschen als Satyr denken? Und was den Ursprung des tragischen
+Chors betrifft: gab es in jenen Jahrhunderten, wo der griechische
+Leib blühte, die griechische Seele von Leben überschäumte, vielleicht
+endemische Entzückungen? Visionen und Hallucinationen, welche sich
+ganzen Gemeinden, ganzen Cultversammlungen mittheilten? Wie? wenn die
+Griechen, gerade im Reichthum ihrer Jugend, den Willen zum Tragischen
+hatten und Pessimisten waren? wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein
+Wort Plato's zu gebrauchen, der die grössten Segnungen über Hellas
+gebracht hat? Und wenn, andererseits und umgekehrt, die Griechen
+gerade in den Zeiten ihrer Auflösung und Schwäche, immer
+optimistischer, oberflächlicher, schauspielerischer, auch nach Logik
+und Logisirung der Welt brünstiger, also zugleich "heiterer" und
+"wissenschaftlicher" wurden? Wie? könnte vielleicht, allen "modernen
+Ideen" und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der
+Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der
+praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie
+selbst, mit der er gleichzeitig ist, - ein Symptom der absinkenden
+Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein? Und
+gerade nicht - der Pessimismus? War Epikur ein Optimist - gerade als
+Leidender? - - Man sieht, es ist ein ganzes Bündel schwerer Fragen,
+mit dem sich dieses Buch belastet hat, - fügen wir seine schwerste
+Frage noch hinzu! Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn, -
+die Moral? . . .
+
+
+5.
+
+Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst - und nicht die
+Moral - als die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen
+hingestellt; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach
+wieder, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt
+gerechtfertigt ist. In der That, das ganze Buch kennt nur einen
+Künstler-Sinn und - Hintersinn hinter allem Geschehen, - einen "Gott",
+wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und
+unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten
+wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne
+werden will, der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle und
+Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst. Die
+Welt, in jedem Augenblicke die erreichte Erlösung Gottes, als die
+ewig wechselnde, ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten,
+Widerspruchreichsten, der nur im Scheine sich zu erlösen weiss: diese
+ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müssig, phantastisch
+nennen -, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist
+verräth, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische
+Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird. Hier
+kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus "jenseits
+von Gut und Böse" an, hier kommt jene "Perversität der Gesinnung" zu
+Wort und Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist,
+im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern,
+- eine Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt
+der Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die
+"Erscheinungen" (im Sinne des idealistischen terminus technicus),
+sondern unter die "Täuschungen", als Schein, Wahn, Irrthum,
+Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst. Vielleicht lässt sich die Tiefe
+dieses widermoralischen Hanges am besten aus dem behutsamen und
+feindseligen Schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen Buche
+das Christenthum behandelt ist, - das Christenthum als die
+ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema's, welche die
+Menschheit bisher anzuhören bekommen hat. In Wahrheit, es giebt zu
+der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie
+in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz als die
+christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will und mit
+ihren absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit
+Gottes, die Kunst, jede Kunst in's Reich der Lüge verweist, - das
+heisst verneint, verdammt, verurtheilt. Hinter einer derartigen Denk-
+und Werthungsweise, welche kunstfeindlich sein muss, so lange sie
+irgendwie ächt ist, empfand ich von jeher auch das Lebensfeindliche,
+den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn
+alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit
+des Perspektivischen und des Irrthums. Christenthum war von Anfang an,
+wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben,
+welcher sich unter dem Glauben an ein "anderes" oder "besseres" Leben
+nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die
+"Welt", der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und
+Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu
+verleumden, im Grunde ein Verlangen in's Nichts, an's Ende, in's
+Ausruhen, hin zum "Sabbat der Sabbate" - dies Alles dünkte mich,
+ebenso wie der unbedingte Wille des Christenthums, nur moralische
+Werthe gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste
+Form aller möglichen Formen eines "Willens zum Untergang", zum
+Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit,
+Erschöpfung, Verarmung an Leben, - denn vor der Moral (in Sonderheit
+christlichen, das heisst unbedingten Moral) muss das Leben beständig
+und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell
+Unmoralisches ist, - muss endlich das Leben, erdrückt unter dem
+Gewichte der Verachtung und des ewigen Nein's, als begehrens-unwürdig,
+als unwerth an sich empfunden werden. Moral selbst - wie? sollte Moral
+nicht ein "Wille zur Verneinung des Lebens", ein heimlicher Instinkt
+der Vernichtung, ein Verfalls-, Verkleinerungs-, Verleumdungsprincip,
+ein Anfang vom Ende sein? Und, folglich, die Gefahr der Gefahren?...
+Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen
+Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens,
+und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des
+Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen?
+Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige
+Freiheit - denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist? - auf den
+Namen eines griechischen Gottes: ich hiess sie die dionysische. -
+
+
+6.
+
+Man versteht, an welche Aufgabe ich bereits mit diesem Buche zu rühren
+wagte?... Wie sehr bedauere ich es jetzt, dass ich damals noch nicht
+den Muth (oder die Unbescheidenheit?) hatte, um mir in jedem Betrachte
+für so eigne Anschauungen und Wagnisse auch eine eigne Sprache zu
+erlauben, - dass ich mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen
+Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken suchte, welche
+dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke,
+von Grund aus entgegen giengen! Wie dachte doch Schopenhauer über
+die Tragödie? "Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur
+Erhebung giebt - sagt er, Welt als Wille und Vorstellung II, 495 - ist
+das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes
+Genügen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit nicht werth sei:
+darin besteht der tragische Geist -, er leitet demnach zur Resignation
+hin". Oh wie anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir
+damals gerade dieser ganze Resignationismus! - Aber es giebt etwas
+viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, als
+mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und
+verdorben zu haben: dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose
+griechische Problem, wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der
+modernsten Dinge verdarb! Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu
+hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies! Dass ich, auf
+Grund der deutschen letzten Musik, vom "deutschen Wesen" zu fabeln
+begann, wie als ob es eben im Begriff sei, sich selbst zu entdecken
+und wiederzufinden - und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der
+nicht vor Langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft
+zur Führung Europa's gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig
+abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs- Begründung,
+seinen Uebergang zur Vermittelmässigung, zur Demokratie und den
+"modernen Ideen" machte! In der That, inzwischen lernte ich
+hoffnungslos und schonungslos genug von diesem "deutschen Wesen"
+denken, insgleichen von der jetzigen deutschen Musik, als welche
+Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller möglichen
+Kunstformen: überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges,
+doppelt gefährlich, bei einem Volke, das den Trunk liebt und die
+Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten Eigenschaft als
+berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum. - Abseits freilich
+von allen übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf
+Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb,
+bleibt das grosse dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist,
+auch in Betreff der Musik, fort und fort bestehen: wie müsste eine
+Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre,
+gleich der deutschen, - sondern dionysischen? . . .
+
+
+7.
+
+- Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht Ihr
+Buch Romantik ist? Lässt sich der tiefe Hass gegen "Jetztzeit",
+"Wirklichkeit" und "moderne Ideen" weiter treiben, als es in Ihrer
+Artisten-Metaphysik geschehen ist? - welche lieber noch an das Nichts,
+lieber noch an den Teufel, als an das "Jetzt" glaubt? Brummt nicht
+ein Grundbass von Zorn und Vernichtungslust unter aller Ihrer
+contrapunktischen Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei hinweg, eine
+wüthende Entschlossenheit gegen Alles, was "jetzt" ist, ein Wille,
+welcher nicht gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist und zu sagen
+scheint "lieber mag Nichts wahr sein, als dass ihr Recht hättet,
+als dass eure Wahrheit Recht behielte!" Hören Sie selbst, mein Herr
+Pessimist und Kunstvergöttlicher, mit aufgeschlossnerem Ohre eine
+einzige ausgewählte Stelle Ihres Buches an, jene nicht unberedte
+Drachentödter-Stelle, welche für junge Ohren und Herzen verfänglich
+rattenfängerisch klingen mag: wie? ist das nicht das ächte rechte
+Romantiker-Bekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismus von
+1850 hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finale präludirt,
+- Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten
+Glauben, vor dem alten Gotte . . . Wie? ist Ihr Pessimisten-Buch nicht
+selbst ein Stück Antigriechenthum und Romantik, selbst etwas "ebenso
+Berauschendes als Benebelndes", ein Narkotikum jedenfalls, ein Stück
+Musik sogar, deutscher Musik? Aber man höre:
+
+"Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser
+Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in's
+Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die
+stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoktrinen
+des Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen, resolut zu
+leben: sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch dieser
+Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, eine
+neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie als die
+ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss:
+
+ Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,
+ In's Leben zieh'n die einzigste Gestalt?"
+
+"Sollte es nicht nöthig sein?" . . . Nein, drei Mal nein! ihr
+jungen Romantiker: es sollte nicht nöthig sein! Aber es ist sehr
+wahrscheinlich, dass es so endet, dass ihr so endet, nämlich
+"getröstet", wie geschrieben steht, trotz aller Selbsterziehung
+zum Ernst und zum Schrecken, "metaphysisch getröstet", kurz, wie
+Romantiker enden, christlich Nein! Ihr solltet vorerst die Kunst
+des diesseitigen Trostes lernen, - ihr solltet lachen lernen, meine
+jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt;
+vielleicht dass ihr darauf hin, als Lachende, irgendwann einmal alle
+metaphysische Trösterei zum Teufel schickt - und die Metaphysik voran!
+Oder, um es in der Sprache jenes dionysischen Unholds zu sagen, der
+Zarathustra heisst:
+
+"Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher! Und vergesst mir auch
+die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser
+noch: ihr steht auch auf dem Kopf!"
+
+"Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte
+mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen
+Anderen fand ich heute stark genug dazu."
+
+"Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln
+winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig,
+ein Selig-Leichtfertiger:" -
+
+"Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein
+Ungeduldiger, kein Unbedingter, Einer, der Sprünge und Seitensprünge
+liebt: ich selber setzte mir diese Krone auf!"
+
+"Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen
+Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig: ihr
+höheren Menschen, lernt mir - lachen!"
+
+
+
+Vorwort an Richard Wagner.
+
+Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten, Aufregungen und
+Missverständnisse ferne zu halten, zu denen die in dieser Schrift
+vereinigten Gedanken bei dem eigenthümlichen Character unserer
+aesthetischen Oeffentlichkeit Anlass geben werden, und um auch die
+Einleitungsworte zu derselben mit der gleichen beschaulichen Wonne
+schreiben zu können, deren Zeichen sie selbst, als das Petrefact guter
+und erhebender Stunden, auf jedem Blatte trägt, vergegenwärtige ich
+mir den Augenblick, in dem Sie, mein hochverehrter Freund, diese
+Schrift empfangen werden: wie Sie, vielleicht nach einer abendlichen
+Wanderung im Winterschnee, den entfesselten Prometheus auf dem
+Titelblatte betrachten, meinen Namen lesen und sofort überzeugt sind,
+dass, mag in dieser Schrift stehen, was da wolle, der Verfasser etwas
+Ernstes und Eindringliches zu sagen hat, ebenfalls dass er, bei allem,
+was er sich erdachte, mit Ihnen wie mit einem Gegenwärtigen verkehrte
+und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendes niederschreiben durfte.
+Sie werden dabei sich erinnern, dass ich zu gleicher Zeit, als Ihre
+herrliche Festschrift über Beethoven entstand, das heisst in den
+Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochnen Krieges mich zu
+diesen Gedanken sammelte. Doch würden diejenigen irren, welche etwa
+bei dieser Sammlung an den Gegensatz von patriotischer Erregung und
+aesthetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel
+denken sollten: denen möchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen
+dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem
+ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht
+eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und
+Wendepunkt hingestellt wird. Vielleicht aber wird es für eben
+dieselben überhaupt anstössig sein, ein aesthetisches Problem so ernst
+genommen zu sehn, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr als ein
+lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel
+zum "Ernst des Daseins" zu erkennen im Stande sind: als ob Niemand
+wüsste, was es bei dieser Gegenüberstellung mit einem solchen "Ernste
+des Daseins" auf sich habe. Diesen Ernsthaften diene zur Belehrung,
+dass ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich
+metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt
+bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn,
+diese Schrift gewidmet haben will.
+
+Basel, Ende des Jahres 187l.
+
+
+
+
+1.
+
+Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben,
+wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren
+Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung
+der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen
+gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit
+der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch
+eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den
+Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung
+zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten
+ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden
+Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss,
+dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung
+und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und
+der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide
+so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen
+Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren
+Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu
+perpetuiren, den das gemeinsame Wort "Kunst" nur scheinbar überbrückt;
+bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen
+"Willens", mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung
+zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der
+attischen Tragödie erzeugen.
+
+Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns
+zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches;
+zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender
+Gegensatz, wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu
+bemerken ist. Im Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des
+Lucretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen,
+im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Gliederbau
+übermenschlicher Wesen, und der hellenische Dichter, um die
+Geheimnisse der poetischen Zeugung befragt, würde ebenfalls an den
+Traum erinnert und eine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie Hans
+Sachs in den Meistersingern giebt:
+
+ Mein Freund, das grad' ist Dichters Werk,
+ dass er sein Träumen deut' und merk'.
+ Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn
+ wird ihm im Traume aufgethan:
+ all' Dichtkunst und Poëterei
+ ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.
+
+Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch
+voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja
+auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir
+geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen
+sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei
+dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die
+durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens ist dies meine
+Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich manches Zeugniss
+und die Aussprüche der Dichter beizubringen hätte. Der philosophische
+Mensch hat sogar das Vorgefühl, dass auch unter dieser Wirklichkeit,
+in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege,
+dass also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet
+geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge
+als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen
+philosophischer Befähigung. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit
+des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur
+Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen
+Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für
+das Leben. Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder sind
+es, die er mit jener Allverständigkeit an sich erfährt: auch das
+Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die
+Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze
+"göttliche Komödie" des Lebens, mit dem Inferno, zieht an ihm vorbei,
+nicht nur wie ein Schattenspiel - denn er lebt und leidet mit in
+diesen Scenen - und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung
+des Scheins; und vielleicht erinnert sich Mancher, gleich mir, in den
+Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes sich mitunter ermuthigend
+und mit Erfolg zugerufen zu haben: "Es ist ein Traum! Ich will ihn
+weiter träumen!" Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die
+die Causalität eines und desselben Traumes über drei und mehr
+aufeinanderfolgende Nächte hin fortzusetzen im Stande waren:
+Thatsachen, welche deutlich Zeugniss dafür abgeben, dass unser
+innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tiefer
+Lust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfährt.
+
+Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist gleichfalls von
+den Griechen in ihrem Apollo ausgedrückt worden: Apollo, als der Gott
+aller bildnerischen Kräfte, ist zugleich der wahrsagende Gott. Er, der
+seiner Wurzel nach der "Scheinende", die Lichtgottheit ist, beherrscht
+auch den schönen Schein der inneren Phantasie-Welt. Die höhere
+Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der
+lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe
+Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur
+ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und
+überhaupt der Künste, durch die das Leben möglich und lebenswerth
+gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht
+überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls
+der Schein als plumpe Wirklichkeit uns betrügen würde - darf nicht im
+Bilde des Apollo fehlen: jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von
+den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes.
+Sein Auge muss "sonnenhaft", gemäss seinem Ursprunge, sein; auch wenn
+es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf
+ihm. Und so möchte von Apollo in einem excentrischen Sinne das gelten,
+was Schopenhauer von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen
+sagt. Welt als Wille und Vorstellung I, S. 416 "Wie auf dem tobenden
+Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt
+und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug
+vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig
+der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium
+individuationis". Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das
+unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen
+des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und
+man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii
+individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze
+Lust und Weisheit des "Scheines", sammt seiner Schönheit, zu uns
+spräche.
+
+An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen
+geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an
+den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom
+Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden
+scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung
+hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii
+individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur
+emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen,
+das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht
+wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem
+alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei
+dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des
+Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung
+das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Auch im
+deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen
+Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu
+Ort: in diesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die
+bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in
+Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es giebt
+Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder aus Stumpfsinn, sich von
+solchen Erscheinungen wie von "Volkskrankheiten", spöttisch oder
+bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abwenden: die Armen
+ahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und gespenstisch eben diese
+ihre "Gesundheit" sich ausnimmt, wenn an ihnen das glühende Leben
+dionysischer Schwärmer vorüberbraust.
+
+Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund
+zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete,
+feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest
+mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde
+ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der
+Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet:
+unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das
+Beethoven'sche Jubellied der "Freude" in ein Gemälde und bleibe mit
+seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll
+in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt
+ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren,
+feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder "freche Mode"
+zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium
+der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht
+nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der
+Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem
+geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert
+sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das
+Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die
+Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung.
+Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so
+tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich,
+er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter
+im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist
+Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten
+Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern
+des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier
+geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des
+dionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: "Ihr
+stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?" -
+
+
+2.
+
+Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz, das
+Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur
+selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen,
+und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem
+Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren
+Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe
+oder künstlerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als
+rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet,
+sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische
+Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen unmittelbaren
+Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler "Nachahmer",
+und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer
+Rauschkünstler oder endlich - wie beispielsweise in der griechischen
+Tragödie - zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir uns
+etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen Trunkenheit und
+mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden
+Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische
+Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d.h. seine Einheit mit dem
+innersten Grunde der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde
+offenbart.
+
+Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegenüberstellungen nahen
+wir uns jetzt den Griechen, um zu erkennen, in welchem Grade und bis
+zu welcher Höhe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen
+sind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss
+des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem
+aristotelischen Ausdrucke, "die Nachahmung der Natur" tiefer zu
+verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der Griechen ist trotz
+aller Traumlitteratur derselben und zahlreichen Traumanecdoten nur
+vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei
+der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres
+Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich
+nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Spätergeborenen, auch
+für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse,
+Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge
+der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine
+Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die träumenden
+Griechen als Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu
+bezeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich
+hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt.
+
+Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn
+die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen
+Griechen von den dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Enden der
+alten Welt - um die neuere hier bei Seite zu lassen - von Rom bis
+Babylon können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren
+Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält,
+wie der bärtige Satyr, dem der Bock Namen und Attribute verlieh, zu
+Dionysus selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer
+überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über
+jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten;
+gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis
+zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir
+immer als der eigentliche "Hexentrank" erschienen ist. Gegen die
+fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und
+Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang
+völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolz
+sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner
+gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft
+ungeschlachten dionysischen. Es ist die dorische Kunst, in der
+sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat.
+Bedenklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als endlich
+aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche Triebe
+Bahnbrachen: jetzt beschränkte sich das Wirken des delphischen
+Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit
+abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu
+nehmen. Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte
+des griechischen Cultus: wohin man blickt, sind die Umwälzungen
+dieses Ereignisses sichtbar. Es war die Versöhnung zweier Gegner, mit
+scharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien und
+mit periodischer Uebersendung von Ehrengeschenken; im Grunde war die
+Kluft nicht überbrückt. Sehen wir aber, wie sich unter dem Drucke
+jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offenbarte, so erkennen
+wir jetzt, im Vergleiche mit jenen babylonischen Sakäen und ihrem
+Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen
+Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und
+Verklärungstagen.
+
+Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst
+bei ihnen wird die Zerreissung des principii individuationis ein
+künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexentrank aus Wollust
+und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung und
+Doppelheit in den Affecten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn
+- wie Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern -, jene Erscheinung,
+dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne
+entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder
+der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenen
+griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der
+Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu
+seufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwiefach
+gestimmter Schwärmer war für die homerisch- griechische Welt etwas
+Neues und Unerhörtes: und insbesondere erregte ihr die dionysische
+Musik Schrecken und Grausen. Wenn die Musik scheinbar bereits als
+eine apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau
+genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur
+Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des
+Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeuteten
+Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das
+Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der
+dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die
+erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und
+die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen
+Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner
+symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur
+Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als
+Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur
+symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal
+die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des
+Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch
+bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte,
+die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm.
+Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss
+der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt
+sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der
+dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen
+verstanden! Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf
+ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war, als sich ihm
+das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd
+nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier
+diese dionysische Welt vor ihm verdecke.
+
+
+3.
+
+Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Gebäude der
+apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die
+Fundamente erblicken, auf die es begründet ist. Hier gewahren wir nun
+zuerst die herrlichen olympischen Göttergestalten, die auf den Giebeln
+dieses Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden
+Reliefs dargestellt seine Friese zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo
+steht, als eine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Anspruch
+einer ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen.
+Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene
+ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf uns Apollo als
+Vater derselben gelten. Welches war das ungeheure Bedürfniss, aus dem
+eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang?
+
+Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier
+herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach
+unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei
+ihnen sucht, der wird unmuthig und enttäuscht ihnen bald den Rücken
+kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und
+Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu
+uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut
+oder böse ist. Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem
+phantastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fragen, mit
+welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen Menschen das Leben
+genossen haben mögen, dass, wohin sie sehen, Helena, das "in süsser
+Sinnlichkeit schwebende" Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen
+entgegenlacht. Diesem bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen
+wir aber zurufen: "Geh' nicht von dannen, sondern höre erst, was die
+griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aussagt, das sich
+hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet. Es geht die
+alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem
+Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als
+er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für
+den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und
+unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen,
+endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: `Elendes
+Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du
+mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste
+ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren
+zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für
+dich - bald zu sterben`."
+
+Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Götterwelt?
+Wie die entzückungsreiche Vision des gefolterten Märtyrers zu seinen
+Peinigungen.
+
+Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt
+uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und
+Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er
+vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes
+ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über
+allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira jener Geier des
+grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisen
+Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde
+zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, sammt ihren
+mythischen Exempeln, an der die schwermüthigen Etrurier zu Grunde
+gegangen sind - wurde von den Griechen durch jene künstlerische
+Mittelwelt der Olympier fortwährend von Neuem überwunden, jedenfalls
+verhüllt und dem Anblick entzogen. Um leben zu können, mussten die
+Griechen diese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen
+Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der
+ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen
+apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische
+Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem
+Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende,
+so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein
+ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie
+umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb,
+der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende
+Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt
+entstehn, in der sich der hellenische "Wille" einen verklärenden
+Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem
+sie es selbst leben - die allein genügende Theodicee! Das Dasein
+unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an
+sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche Schmerz der
+homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor
+allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit
+Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, "das Allerschlimmste
+sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal
+zu sterben". Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt sie wieder vom
+kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel
+des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist
+des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu
+sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der
+apollinischen Stufe, der "Wille" nach diesem Dasein, so eins fühlt
+sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem
+Preisliede wird.
+
+Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren
+Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen
+mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort "naiv" in Geltung
+gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst
+ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der
+Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen
+müssten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau's
+sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am
+Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte.
+Wo uns das "Naive" in der Kunst begegnet, haben wir die höchste
+Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: welche immer erst ein
+Titanenreich zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige
+Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche
+Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger
+geworden sein muss. Aber wie selten wird das Naive, jenes völlige
+Verschlungensein in der Schönheit des Scheines, erreicht! Wie
+unaussprechbar erhaben ist deshalb Homer, der sich, als Einzelner,
+zu jener apollinischen Volkscultur verhält, wie der einzelne
+Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt.
+Die homerische "Naivetät" ist nur als der vollkommene Sieg der
+apollinischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solche Illusion,
+wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig
+verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt: nach
+diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch
+unsre Täuschung. In den Griechen wollte der "Wille" sich selbst,
+in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen; um
+sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als
+verherrlichenwerth empfinden sie mussten sich in einer höheren Sphäre
+wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als
+Imperativ oder als Vorwurf wirkte Dies ist die Sphäre der Schönheit,
+in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser
+Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische "Wille" gegen das dem
+künstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des
+Leidens und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive
+Künstler.
+
+
+4.
+
+Ueber diesen naiven Künstler giebt uns die Traumanalogie einige
+Belehrung Wenn wir uns den Träumenden vergegenwärtigen, wie er, mitten
+in der Illusion der Traumwelt und ohne sie zu stören, sich zuruft "es
+ist ein Traum, ich will ihn weiter träumen", wenn wir hieraus auf eine
+tiefe innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn wir
+andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am Schauen träumen
+zu können, den Tag und seine schreckliche Zudringlichkeit völlig
+vergessen haben müssen so dürfen wir uns alle diese Erscheinungen
+etwa in folgender Weise, unter der Leitung des traumdeutenden Apollo,
+interpretiren. So gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der
+wachen und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich
+bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein gelebte
+dünkt so möchte ich doch, bei allem Anscheine einer Paradoxie, für
+jenen geheimnissvollen Grund unseres Wesens, dessen Erscheinung
+wir sind, gerade die entgegengesetzte Werthschätzung des Traumes
+behaupten. Je mehr ich nämlich hin der Natur jene allgewaltigen
+Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum
+Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich
+zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und
+Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die
+entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung
+braucht: welchen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm
+bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d.h. als ein fortwährendes
+Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als
+empirische Realität zu empfinden genöthigt sind. Sehen wir also einmal
+von unsrer eignen "Realität" für einen Augenblick ab, fassen wir unser
+empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem
+Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum
+als der Schein des Scheins, somit als eine noch höhere Befriedigung
+der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus diesem selben Grunde
+hat der innerste Kern der Natur jene unbeschreibliche Lust an dem
+naiven Künstler und dem naiven Kunstwerke, das gleichlfalls nur
+"Schein des Scheins" ist. Rafael, selbst einer jener unsterblichen
+"Naiven", hat uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes
+Depotenziren des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven
+Künstlers und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In
+seiner Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen
+Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern,
+die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der
+Welt der "Schein" ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des
+Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer
+Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im
+ersten Schein Befangenen nichts sehen - ein leuchtendes Schweben
+in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden
+Anschauen. Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene
+apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche
+Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch
+Intuition, ihre gegenseitige Nothwendigkeit Apollo aber tritt uns
+wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis
+entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine
+Erlösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabenen
+Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der
+Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde und dann,
+ins Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden
+Kahne, inmitten des Meeres, sitze.
+
+Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie überhaupt
+imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur Ein Gesetz,
+das Individuum d.h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums,
+das Maass im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit,
+fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können,
+Selbsterkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Nothwendigkeit
+der Schönheit die Forderung des "Erkenne dich selbst" und des "Nicht
+zu viel!" her, während Selbstüberhebung und Uebermaass als die
+eigentlich feindseligen Dämonen der nicht-apollinischen Sphäre, daher
+als Eigenschaften der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters,
+und der ausser-apollinischen Welt d.h. der Barbarenwelt, erachtet
+wurden. Wegen seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen musste
+Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner übermässigen
+Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx löste, musste Oedipus in
+einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen: so interpretirte der
+delphische Gott die griechische Vergangenheit.
+
+"Titanenhaft" und "barbarisch" dünkte dem apollinischen Griechen auch
+die Wirkung, die das Dionysische erregte: ohne dabei sich verhehlen
+zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen
+gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr
+empfinden: sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte
+auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss,
+der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe!
+Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben! Das "Titanische" und das
+"Barbarische" war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit wie das
+Apollinische! Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und
+die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische
+Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang,
+wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und
+Erkenntniss, bis zum durchdringenden Schrei, laut wurde: denken wir
+uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende
+Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklange, bedeuten
+konnte! Die Musen der Künste des "Scheins" verblassten vor einer
+Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit
+des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das
+Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der
+Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die
+apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit,
+der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich
+aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das
+Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet.
+Aber eben so gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten
+wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes starrer und
+drohender als je sich äusserte. Ich vermag nämlich den dorischen Staat
+und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des
+Apollinischen zu erklären: nur in einem unausgesetzten Widerstreben
+gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen konnte
+eine so trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine
+so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein so grausames und
+rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer sein.
+
+Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden, was ich am
+Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das Dionysische und das
+Apollinische in immer neuen auf einander folgenden Geburten, und sich
+gegenseitig steigernd das hellenische Wesen beherrscht haben: wie
+aus dem "erzenen" Zeitalter, mit seinen Titanenkämpfen und seiner
+herben Volksphilosophie, sich unter dem Walten des apollinischen
+Schönheitstriebes die homerische Welt entwickelt, wie diese "naive"
+Herrlichkeit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen
+verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich
+das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und
+Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere hellenische
+Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien, in vier
+grosse Kunststufen zerfällt: so sind wir jetzt gedrängt, weiter nach
+dem letzten Plane dieses Werdens und Treibens zu fragen, falls uns
+nicht etwa die letzterreichte Periode, die der dorischen Kunst, als
+die Spitze und Absicht jener Kunsttriebe gelten sollte: und hier
+bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk
+der attischen Tragödie und des dramatischen Dithyrambus, als das
+gemeinsame Ziel beider Triebe, deren geheimnissvolles Ehebündniss,
+nach langem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde - das
+zugleich Antigone und Kassandra ist - verherrlicht hat.
+
+
+5.
+
+Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Untersuchung, die
+auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen Genius und seines
+Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolle Verständniss jenes
+Einheitsmysteriums gerichtet ist. Hier fragen wir nun zunächst, wo
+jener neue Keim sich zuerst in der hellenischen Welt bemerkbar macht,
+der sich nachher bis zur Tragödie und zum dramatischen Dithyrambus
+entwickelt. Hierüber giebt uns das Alterthum selbst bildlich
+Aufschluss, wenn es als die Urväter und Fackelträger der griechischen
+Dichtung Homer und Archilochus auf Bildwerken, Gemmen u.s.w. neben
+einander stellt, in der sicheren Empfindung, dass nur diese Beiden
+gleich völlig originalen Naturen, von denen aus ein Feuerstrom auf die
+gesammte griechische Nachwelt fortfliesse, zu erachten seien. Homer,
+der in sich versunkene greise Träumer, der Typus des apollinischen,
+naiven Künstlers, sieht nun staunend den leidenschaftlichen Kopf
+des wild durch's Dasein getriebenen kriegerischen Musendieners
+Archilochus: und die neuere Aesthetik wusste nur deutend hinzuzufügen,
+dass hier dem "objectiven" Künstler der erste "subjective" entgegen
+gestellt sei. Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den
+subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder
+Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven,
+Erlösung vom "Ich" und Stillschweigen jedes individuellen Willens und
+Gelüstens fordern, ja ohne Objectivität, ohne reines interesseloses
+Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung
+glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen,
+wie der "Lyriker" als Künstler möglich ist: er, der, nach der
+Erfahrung aller Zeiten, immer "ich" sagt und die ganze chromatische
+Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt.
+Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den
+Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner
+Begierde; ist er, der erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit
+der eigentliche Nichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung, die
+ihm, dem Dichter, gerade auch das delphische Orakel, der Herd der
+"objectiven" Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat?
+
+Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm
+selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische
+Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich als den vorbereitenden
+Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern,
+mit geordneter Causalität der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu
+haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung ("Die Empfindung
+ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser
+bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung
+geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee").
+Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik
+hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität
+des Lyrikers mit dem Musiker - der gegenüber unsre neuere Lyrik wie
+ein Götterbild ohne Kopf erscheint - so können wir jetzt, auf Grund
+unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik, uns in folgender
+Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler,
+gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins
+geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, wenn
+anders diese mit Recht eine Wiederholung der Welt und ein zweiter
+Abguss derselben genannt worden ist; jetzt aber wird diese Musik
+ihm wieder wie in einem gleichnissartige Traumbilde, unter der
+apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose
+Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung
+im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes
+Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits
+in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine
+Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die
+jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines,
+versinnlicht. Das "Ich" des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des
+Seins: seine "Subjectivität" im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine
+Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine
+rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Lykambes
+kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in
+orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir
+sehen den berauschten Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken
+- wie ihn uns Euripides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf
+hoher Alpentrift, in der Mittagssonne -: und jetzt tritt Apollo an ihn
+heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch-musikalische
+Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam Bilderfunken um
+sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien
+und dramatische Dithyramben heissen.
+
+Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine
+Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes
+Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der
+lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und
+Einheitszustande eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die
+eine ganz andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene
+Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztgenannte in diesen
+Bildern und nur in ihnen mit freudigem Behagen lebt und nicht müde
+wird, sie bis auf die kleinsten Züge hin liebevoll anzuschauen,
+während selbst das Bild des zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild
+ist, dessen zürnenden Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine
+geniesst - so dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das
+Einswerden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten geschützt ist
+-, so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts als er selbst und
+gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als
+bewegender Mittelpunkt jener Welt "ich" sagen darf: nur ist diese
+Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch- realen
+Menschen, sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im
+Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische
+Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun denken wir uns
+einmal, wie er unter diesen Abbildern auch sich selbst als Nichtgenius
+erblickt d.h. sein "Subject", das ganze Gewühl subjectiver, auf ein
+bestimmtes, ihm real dünkendes Ding gerichteter Leidenschaften und
+Willensregungen; wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und
+der mit ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere
+von sich selbst jenes Wörtchen "ich" spräche, so wird uns jetzt dieser
+Schein nicht mehr verführen können, wie er allerdings diejenigen
+verführt hat, die den Lyriker als den subjectiven Dichter bezeichnet
+haben. In Wahrheit ist Archilochus, der leidenschaftlich entbrannte
+liebende und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits
+nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen
+Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch
+ausspricht: während jener subjectiv wollende und begehrende Mensch
+Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein kann. Es ist aber
+gar nicht nöthig, dass der Lyriker gerade nur das Phänomen des
+Menschen Archilochus vor sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins;
+und die Tragödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers
+von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen entfernen kann.
+
+Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker für die
+philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt hat, glaubt
+einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann,
+während ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysik der Musik,
+das Mittel in die Hand gegeben war, mit dem jene Schwierigkeit
+entscheidend beseitigt werden konnte: wie ich dies, in seinem Geiste
+und zu seiner Ehre, hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er
+als das eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und
+Vorstellung I, S. 295): "Es ist das Subject des Willens, d.h. das
+eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden füllt, oft als ein
+entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als
+ein gehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegter
+Gemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den
+Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als
+Subjects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche,
+selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange des immer
+beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses
+Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich, was sich im Ganzen
+des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand
+ausmacht. In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran,
+um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen: wir folgen; doch nur
+auf Augenblicke: immer von Neuem entreisst das Wollen, die Erinnerung
+an unsere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen Beschauung; aber auch
+immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöne Umgebung, in
+welcher sich die reine willenlose Erkenntniss uns darbietet. Darum
+geht im Liede und der lyrischen Stimmung das Wollen (das persönliche
+Interesse des Zwecks) und das reine Anschauen der sich darbietenden
+Umgebung wundersam gemischt durch einander: es werden Beziehungen
+zwischen beiden gesucht und imaginirt; die subjective Stimmung, die
+Affection des Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese
+wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so
+gemischten und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied der
+Abdruck".
+
+Wer vermöchte in dieser Schilderung zu verkennen, dass hier die Lyrik
+als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum
+Ziele kommende Kunst charakterisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren
+Wesen darin bestehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen
+d.h. der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam durch
+einander gemischt seien? Wir behaupten vielmehr, dass der ganze
+Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer
+die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven,
+überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende
+und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner,
+nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das
+Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen
+erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine
+wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert. Denn dies
+muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich
+sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer
+Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig
+die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir
+von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben
+schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung
+von Kunstwerken unsre höchste Würde haben - denn nur als aesthetisches
+Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: - während
+freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein
+andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr
+dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im
+Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen
+nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und
+Zuschauer jener Kunstkomödie, einen ewigen Genuss bereitet. Nur soweit
+der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler
+der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst;
+denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen
+Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber
+anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich
+Dichter, Schauspieler und Zuschauer.
+
+
+6.
+
+In Betreff des Archilochus hat die gelehrte Forschung entdeckt, dass
+er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe, und dass ihm,
+dieser That halber, jene einzige Stellung neben Homer, in der
+allgemeinen Schätzung der Griechen zukomme. Was aber ist das Volkslied
+im Gegensatz zu dem völlig apollinischen Epos? Was anders als das
+perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und des
+Dionysischen; seine ungeheure, über alle Völker sich erstreckende
+und in immer neuen Geburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein
+Zeugniss dafür, wie stark jener künstlerische Doppeltrieb der Natur
+ist: der in analoger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt,
+wie die orgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik
+verewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie jede
+an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf das Stärkste
+durch dionysische Strömungen erregt worden ist, welche wir immer als
+Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zu betrachten haben.
+
+Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musikalischer
+Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eine parallele
+Traumerscheinung sucht und diese in der Dichtung ausspricht. Die
+Melodie ist also das Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrere
+Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann. Sie
+ist auch das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven
+Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und
+zwar immer wieder von Neuem; nichts Anderes will uns die Strophenform
+des Volksliedes sagen: welches Phänomen ich immer mit Erstaunen
+betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklärung fand. Wer eine
+Sammlung von Volksliedern z.B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie
+hin ansieht, der wird unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend
+gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer
+Buntheit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine
+dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen wildfremde
+Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und
+unregelmässige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen: und dies
+haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen
+Feste im Zeitalter des Terpander gethan.
+
+In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das
+Stärkste angespannt, die Musik nachzuahmen: deshalb beginnt mit
+Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem
+tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig mögliche
+Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das
+Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck
+und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne
+dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei
+Hauptströmungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs-
+und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal
+tiefer über die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen
+Bau's, des Wortmaterial's bei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung
+dieses Gegensatzes zu begreifen; ja es wird Einem dabei handgreiflich
+deutlich, dass zwischen Homer und Pindar die orgiastischen
+Flötenweisen des Olympus erklungen sein müssen, die noch im Zeitalter
+des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu
+trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen
+Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen
+zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein bekanntes,
+unserer Aesthetik nur anstössig dünkendes Phänomen unserer Tage.
+Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven'sche Symphonie die
+einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch dass eine
+Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstück erzeugten
+Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt:
+an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und das doch
+wahrlich erklärenswerthe Phänomen zu übersehen, ist recht in der Art
+jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine
+Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pastorale
+und einen Satz als "Scene am Bach", einen anderen als "lustiges
+Zusammensein der Landleute" bezeichnet, so sind das ebenfalls nur
+gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen - und nicht etwa
+die nachgeahmten Gegenstände der Musik - Vorstellungen, die über den
+dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren
+können, ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern
+haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wir
+uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpferische Volksmenge
+zu übertragen, um zur Ahnung zu kommen, wie das strophische Volkslied
+entsteht, und wie das ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der
+Nachahmung der Musik aufgeregt wird.
+
+Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende
+Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, so
+können wir jetzt fragen: "als was erscheint die Musik im Spiegel der
+Bildlichkeit und der Begriffe?" Sie erscheint als Wille, das Wort
+im Schopenhauerischen Sinne genommen, d.h. als Gegensatz der
+aesthetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Hier
+unterscheide man nun so scharf als möglich den Begriff des Wesens von
+dem der Erscheinung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich
+Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst
+zu bannen wäre - denn der Wille ist das an sich Unaesthetische -;
+aber sie erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildern
+auszudrücken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft, vom
+Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe,
+in apollinischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die
+ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende, Begehrende,
+Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern deutet, ruht er selbst
+in der stillen Meeresruhe der apollinischen Betrachtung, so sehr auch
+alles, was er durch das Medium der Musik anschaut, um ihn herum in
+drängender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch
+dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im
+Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen, Sehnen,
+Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich
+deutet. Dies ist das Phänomen des Lyrikers: als apollinischer Genius
+interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, während er
+selbst, völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtes
+Sonnenauge ist.
+
+Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik eben so
+abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer
+völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht,
+sondern ihn nur neben sich erträgt. Die Dichtung des Lyrikers kann
+nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und
+Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede
+nöthigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache
+auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den
+Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht,
+somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller
+Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur
+Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der
+Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach
+Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung
+der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik,
+während deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns
+auch keinen Schritt näher gebracht werden kann.
+
+
+7.
+
+Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir jetzt zu Hülfe
+nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht zu finden, als welches wir den
+Ursprung der griechischen Tragödie bezeichnen müssen. Ich denke nichts
+Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses
+Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt,
+geschweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der
+antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander genäht und
+wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mit
+voller Entschiedenheit, dass die Tragödie aus dem tragischen Chore
+entstanden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war:
+woher wir die Verpflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem
+eigentlichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den geläufigen
+Kunstredensarten - dass er der idealische Zuschauer sei oder das
+Volk gegenüber der fürstlichen Region der Scene zu vertreten habe
+- irgendwie genügen zu lassen. Jener zuletzt erwähnte, für manchen
+Politiker erhaben klingende Erläuterungsgedanke - als ob das
+unwandelbare Sittengesetz von den demokratischen Athenern in
+dem Volkschore dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen
+Ausschreitungen und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht
+behalte - mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles nahegelegt
+sein: auf die ursprüngliche Formation der Tragödie ist er ohne
+Einfluss, da von jenen rein religiösen Ursprüngen der ganze Gegensatz
+von Volk und Fürst, überhaupt jegliche politisch-sociale Sphäre
+ausgeschlossen ist; aber wir möchten es auch in Hinsicht auf die uns
+bekannte classische Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für
+Blasphemie erachten, hier von der Ahnung einer "constitutionellen
+Volksvertretung" zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht
+zurückgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksvertretung
+kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und haben sie
+hoffentlich auch in ihrer Tragödie nicht einmal "geahnt".
+
+Viel berühmter als diese politische Erklärung des Chors ist der
+Gedanke A. W. Schlegel's, der uns den Chor gewissermaassen als den
+Inbegriff und Extract der Zuschauermenge, als den "idealischen
+Zuschauer" zu betrachten anempfiehlt. Diese Ansicht, zusammengehalten
+mit jener historischen Ueberlieferung, dass ursprünglich die Tragödie
+nur Chor war, erweist sich als das was sie ist, als eine rohe,
+unwissenschaftliche, doch glänzende Behauptung, die ihren Glanz
+aber nur durch ihre concentrirte Form des Ausdrucks, durch die echt
+germanische Voreingenommenheit für Alles, was "idealisch" genannt wird
+und durch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat. Wir sind nämlich
+erstaunt, sobald wir das uns gut bekannte Theaterpublicum mit jenem
+Chore vergleichen und uns fragen, ob es wohl möglich sei, aus diesem
+Publicum je etwas dem tragischen Chore Analoges herauszuidealisiren.
+Wir leugnen dies im Stillen und wundern uns jetzt eben so über die
+Kühnheit der Schlegel'schen Behauptung wie über die total verschiedene
+Natur des griechischen Publicums. Wir hatten nämlich doch immer
+gemeint, dass der rechte Zuschauer, er sei wer er wolle, sich immer
+bewusst bleiben müsse, ein Kunstwerk vor sich zu haben, nicht eine
+empirische Realität: während der tragische Chor der Griechen in den
+Gestalten der Bühne leibhafte Existenzen zu erkennen genöthigt ist.
+Der Okeanidenchor glaubt wirklich den Titan Prometheus vor sich zu
+sehen und hält sich selbst für eben so real wie den Gott der Scene.
+Und das sollte die höchste und reinste Art des Zuschauers sein, gleich
+den Okeaniden den Prometheus für leiblich vorhanden und real zu
+halten? Und es wäre das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die
+Bühne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien? Wir
+hatten an ein aesthetisches Publicum geglaubt und den einzelnen
+Zuschauer für um so befähigter gehalten, je mehr er im Stande war,
+das Kunstwerk als Kunst d.h. aesthetisch zu nehmen; und jetzt deutete
+uns der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische
+Zuschauer die Welt der Scene gar nicht aesthetisch, sondern leibhaft
+empirisch auf sich wirken lasse. O über diese Griechen! seufzen wir;
+sie werfen uns unsre Aesthetik um! Daran aber gewöhnt, wiederholten
+wir den Sdllegel'schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam.
+
+Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel:
+der Chor an sich, ohne Bühne, also die primitive Gestalt der Tragödie
+und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit
+einander. Was wäre das für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff
+des Zuschauers herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der
+"Zuschauer an sich" zu gelten hätte. Der Zuschauer ohne Schauspiel ist
+ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die Geburt der Tragödie
+weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse,
+noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklären
+sei und halten dies Problem für zu tief, um von so flachen
+Betrachtungsarten auch nur berührt zu werden.
+
+Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung des Chors
+hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede zur Braut von Messina
+verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die
+Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein
+abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische
+Freiheit zu bewahren.
+
+Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den gemeinen
+Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen Poesie
+gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst auf dem Theater
+nur ein künstlicher, die Architektur nur eine symbolische sei und die
+metrische Sprache einen idealen Charakter trage, herrsche immer noch
+der Irrthum im Ganzen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine
+poetische Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die
+Einführung des Chores sei der entscheidende Schritt, mit dem jedem
+Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der Krieg erklärt werde.
+- Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, für die unser
+sich überlegen wähnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort
+"Pseudoidealismus" gebraucht. Ich fürchte, wir sind dagegen mit
+unserer jetzigen Verehrung des Natürlichen und Wirklichen am
+Gegenpol alles Idealismus angelangt, nämlich in der Region der
+Wachsfigurencabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei
+gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quäle man uns nicht
+mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche
+"Pseudoidealismus" überwunden sei.
+
+Freilich ist es ein "idealer" Boden, auf dem, nach der richtigen
+Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der
+ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch
+emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der
+Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste eines fingirten
+Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt.
+Die Tragödie ist auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich
+schon deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der
+Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine willkürlich
+zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt; vielmehr eine Welt
+von gleicher Realität und Glaubwürdigkeit wie sie der Olymp sammt
+seinen Insassen für den gläubigen Hellenen besass. Der Satyr als der
+dionysische Choreut lebt in einer religiös zugestandenen Wirklichkeit
+unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit ihm die
+Tragödie beginnt, dass aus ihm die dionysische Weisheit der Tragödie
+spricht, ist ein hier uns eben so befremdendes Phänomen wie überhaupt
+die Entstehung der Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen
+wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung
+hinstelle, dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu dem
+Culturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die dionysische Musik
+zur Civilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, dass sie von
+der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vom Tageslicht. In
+gleicher Weise, glaube ich, fühlte sich der griechische Culturmensch
+im Angesicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die nächste
+Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und die
+Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem
+übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur
+zurückführt. Der metaphysische Trost, - mit welchem, wie ich schon
+hier andeute, uns jede wahre Tragödie entlässt - dass das Leben im
+Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar
+mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter
+Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam
+hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel
+der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben.
+
+Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und
+schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem
+Blicke mitten in das furchtbare Vernidhtungstreiben der sogenannten
+Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat
+und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des
+Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet
+ihn sich - das Leben.
+
+Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der
+gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während
+seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles persönlich
+in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese
+Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen
+Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche
+Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als
+solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die
+Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch
+Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in
+das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu
+handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge
+ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen
+zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten.
+Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das
+Umschleiertsein durch die Illusion - das ist die Hamletlehre, nicht
+jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel
+Reflexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum
+Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! - die wahre Erkenntniss,
+der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln
+antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen
+Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine
+Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird,
+sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in
+einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der
+einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das
+Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische
+im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes
+Silen: es ekelt ihn.
+
+Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende,
+heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag jene Ekelgedanken
+über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen
+umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als
+die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als
+die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des
+Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst; an der
+Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhin
+beschriebenen Anwandlungen.
+
+
+8.
+
+Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeit sind Beide
+Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten
+Sehnsucht; aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der
+Grieche nach seinem Waldmenschen, wie verschämt und weichlich tändelte
+der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden
+weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keine Erkenntniss
+gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch unerbrochen sind - das
+sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem
+Affen zusammenfiel. Im Gegentheil: es war das Urbild des Menschen,
+der Ausdruck seiner höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter
+Schwärmer, den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse,
+in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheitsverkünder
+aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der
+geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit
+ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Erhabenes und
+Göttliches: so musste er besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick
+des dionysischen Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene
+Schäfer beleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmert grossartigen
+Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung;
+hier war die Illusion der Cultur von dem Urbilde des Menschen
+weggewischt, hier enthüllte sich der wahre Mensch, der bärtige Satyr,
+der zu seinem Gotte aufjubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur
+lügenhaften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der tragischen
+Kunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine lebendige Mauer gegen
+die anstürmende Wirklichkeit, weil er - der Satyrchor - das Dasein
+wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet als der gemeinhin
+sich als einzige Realität achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie
+liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit
+eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der
+ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deshalb den
+lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen
+von sich werfen. Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und
+der sich als einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher
+wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und
+der gesammten Erscheinungswelt: und wie die Tragödie mit ihrem
+metaphysischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei
+dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hinweist, so spricht
+bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes
+Urverhältniss zwischen Ding an sich und Erscheinung aus. Jener
+idyllische Schäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der
+ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen; der dionysische
+Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft - er
+sieht sich zum Satyr verzaubert.
+
+Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die schwärmende
+Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie selbst vor ihren eignen
+Augen verwandelt, so dass sie sich als wiederhergestellte Naturgenien,
+als Satyrn, zu erblicken wähnen. Die spätere Constitution des
+Tragödienchors ist die künstlerische Nachahmung jenes natürlichen
+Phänomens; bei der nun allerdings eine Scheidung von dionysischen
+Zuschauern und dionysischen Verzauberten nöthig wurde. Nur muss
+man sich immer gegenwärtig halten, dass das Publicum der attischen
+Tragödie sich selbst in dem Chore der Orchestra wiederfand, dass es im
+Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab: denn alles ist nur
+ein grosser erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder
+von solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen.
+Das Schlegel'sche Wort muss sich uns hier in einem tieferen Sinne
+erschliessen. Der Chor ist der "idealische Zuschauer", insofern er
+der einzige Schauer ist, der Schauer der Visionswelt der Scene.
+Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen
+unbekannt: in ihren Theatern war es Jedem, bei dem in concentrischen
+Bogen sich erhebenden Terrassenbau des Zuschauerraumes, möglich, die
+gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und
+in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen. Nach dieser
+Einsicht dürfen wir den Chor, auf seiner primitiven Stufe in der
+Urtragödie, eine Selbstspiegelung des dionysischen Menschen nennen:
+welches Phänomen am deutlichsten durch den Prozess des Schauspielers
+zu machen ist, der, bei wahrhafter Begabung, sein von ihm
+darzustellendes Rollenbild zum Greifen wahrnehmbar vor seinen Augen
+schweben sieht. Der Satyrchor ist zu allererst eine Vision der
+dionysischen Masse, wie wiederum die Welt der Bühne eine Vision dieses
+Satyrchors ist: die Kraft dieser Vision ist stark genug, um gegen den
+Eindruck der "Realität", gegen die rings auf den Sitzreihen gelagerten
+Bildungsmenschen den Blick stumpf und unempfindlich zu machen. Die
+Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal:
+die Architektur der Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild,
+welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus
+erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bild
+des Dionysus offenbar wird.
+
+Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Erklärung des
+Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei unserer gelehrtenhaften
+Anschauung über die elementaren künstlerischen Prozesse, fast
+anstössig; während nichts ausgemachter sein kann, als dass der Dichter
+nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht,
+die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er
+hineinblickt. Durch eine eigenthümliche Schwäche der modernen Begabung
+sind wir geneigt, uns das aesthetische Urphänomen zu complicirt und
+abstract vorzustellen. Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht
+eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm
+wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Character ist für
+ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes,
+sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person, die
+von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das fortwährende
+Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer
+so viel anschaulicher als alle Dichter? Weil er um so viel mehr
+anschaut. Wir reden über Poesie so abstract, weil wir alle schlechte
+Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das aesthetische Phänomen
+einfach; man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel
+zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist
+man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und
+aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker.
+
+Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese
+künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen
+Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie sich innerlich eins weiss.
+Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramatische Urphänomen: sich
+selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man
+wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen
+wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung des Dramas.
+Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der mit seinen Bildern nicht
+verschmilzt, sondern sie, dem Maler ähnlich, mit betrachtendem Auge
+ausser sich sieht; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums
+durch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen
+epidemisch auf: eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise
+verzaubert. Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen
+Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lorbeerzweigen
+in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein
+Prozessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ihren
+bürgerlichen Namen: der dithyrambische Chor ist ein Chor von
+Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale
+Stellung völlig vergessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb
+aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle
+andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steigerung des
+apollinischen Einzelsängers; während im Dithyramb eine Gemeinde
+von unbewussten Schauspielern vor uns steht, die sich selbst unter
+einander als verwandelt ansehen.
+
+Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. In
+dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr,
+und als Satyr wiederum schaut er den Gott d.h. er sieht in seiner
+Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung
+seines Zustandes. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig.
+
+Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den
+dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder
+in einer apollinischen Bilderwelt entladet. Jene Chorpartien, mit
+denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermaassen der
+Mutterschooss des ganzen sogenannten Dialogs d.h. der gesammten
+Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas. In mehreren auf einander
+folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision
+des Dramas aus: die durchaus Traumerscheinung und insofern epischer
+Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation eines dionysischen
+Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im
+Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem
+Ursein darstellt. Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung
+dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine
+ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden.
+
+Der Chor der griechischen Tragödie, das Symbol der gesammten
+dionysisch erregten Masse, findet an dieser unserer Auffassung seine
+volle Erklärung. Während wir, mit der Gewöhnung an die Stellung eines
+Chors auf der modernen Bühne, zumal eines Opernchors, gar nicht
+begreifen konnten, wie jener tragische Chor der Griechen älter,
+ursprünglicher, ja wichtiger sein sollte, als die eigentliche
+"Action", - wie dies doch so deutlich überliefert war - während
+wir wiederum mit jener überlieferten hohen Wichtigkeit und
+Ursprünglichkeit nicht reimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen
+dienenden Wesen, ja zuerst nur aus bocksartigen Satyrn zusammengesetzt
+worden sei, während uns die Orchestra vor der Scene immer ein Räthsel
+blieb, sind wir jetzt zu der Einsicht gekommen, dass die Scene sammt
+der Action im Grunde und ursprünglich nur als Vision gedacht wurde,
+dass die einzige "Realität" eben der Chor ist, der die Vision aus sich
+erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und
+des Wortes redet. Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und
+Meister Dionysus und ist darum ewig der dienende Chor: er sieht, wie
+dieser, der Gott, leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb
+selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden
+Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der
+Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Orakel- und
+Weisheitssprüche: als der mitleidende ist er zugleich der weise, aus
+dem Herzen der Welt die Wahrheit verkündende. So entsteht denn jene
+phantastische und so anstössig scheinende Figur des weisen und
+begeisterten Satyrs, der zugleich "der tumbe Mensch" im Gegensatz zum
+Gotte ist: Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol
+derselben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst: Musiker,
+Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person.
+
+Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist
+gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueberlieferung, zuerst, in
+der allerältesten Periode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden,
+sondern wird nur als vorhanden vorgestellt: d.h. ursprünglich ist die
+Tragödie nur "Chor" und nicht "Drama". Später wird nun der Versuch
+gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt
+sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen;
+damit beginnt das "Drama" im engeren Sinne. Jetzt bekommt der
+dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem
+Grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn der tragische Held auf
+der Bühne erscheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen
+sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene
+Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner jüngst
+abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen
+Anschauen derselben sich verzehrend - wie ihm nun plötzlich ein
+ähnlich gestaltetes, ähnlich schreitendes Frauenbild in Verhüllung
+entgegengeführt wird: denken wir uns seine plötzliche zitternde
+Unruhe, sein stürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung
+- so haben wir ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch
+erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit
+dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwillkürlich übertrug
+er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde Bild des Gottes auf
+jene maskirte Gestalt und löste ihre Realität gleichsam in eine
+geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies ist der apollinische
+Traumeszustand, in dem die Welt des Tages sich verschleiert und eine
+neue Welt, deutlicher, verständlicher, ergreifender als jene und doch
+schattengleicher, in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu
+gebiert. Demgemäss erkennen wir in der Tragödie einen durchgreifenden
+Stilgegensatz: Sprache, Farbe, Beweglichkeit, Dynamik der Rede
+treten in der dionysischen Lyrik des Chors und andrerseits in der
+apollinischen Traumwelt der Scene als völlig gesonderte Sphären des
+Ausdrucks aus einander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich
+Dionysus objectivirt, sind nicht mehr "ein ewiges Meer, ein wechselnd
+Weben, ein glühend Leben", wie es die Musik des Chors ist, nicht mehr
+jene nur empfundenen, nicht zum Bilde verdichteten Kräfte, in denen
+der begeisterte Dionysusdiener die Nähe des Gottes spürt: jetzt
+spricht, von der Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der
+epischen Gestaltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch
+Kräfte, sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers.
+
+
+9.
+
+Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tragödie, im
+Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig, schön
+aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen, dessen
+Natur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze die grösste Kraft nur
+potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der
+Bewegung verräth. So überrascht uns die Sprache der sophokleischen
+Helden durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass
+wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken wähnen,
+mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem Grunde so kurz
+ist. Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberfläche kommenden und
+sichtbar werdenden Charakter des Helden ab - der im Grunde nichts mehr
+ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d.h. Erscheinung
+durch und durch - dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der in
+diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben wir plötzlich
+ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss zu einem bekannten
+optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in's
+Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle farbige
+Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind
+jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das
+Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in's
+Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur
+Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes. Nur in diesem
+Sinne dürfen wir glauben, den ernsthaften und bedeutenden Begriff der
+"griechischen Heiterkeit" richtig zu fassen; während wir allerdings
+den falsch verstandenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande
+ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart
+antreffen.
+
+Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige
+Oedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der
+zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber
+am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft
+um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der
+edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen:
+durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die
+sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch dieses Handeln wird ein
+höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf
+den Ruinen der umgestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter,
+insofern er zugleich religiöser Denker ist, sagen: als Dichter zeigt
+er uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den der
+Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Verderben löst;
+die echt hellenische Freude an dieser dialektischen Lösung ist so
+gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener Heiterkeit über das
+ganze Werk kommt, der den schauderhaften Voraussetzungen jenes
+Prozesses überall die Spitze abbricht. Im "Oedipus auf Kolonos"
+treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung
+emporgehoben; dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise
+gegenüber, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender
+preisgegeben ist - steht die überirdische Heiterkeit, die aus
+göttlicher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der Held in
+seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt, die
+weit über sein Leben hinausgreift, während sein bewusstes Tichten und
+Trachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird
+der für das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten
+der Oedipusfabel langsam entwirrt - und die tiefste menschliche Freude
+überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück der Dialektik. Wenn wir
+mit dieser Erklärung dem Dichter gerecht geworden sind, so kann doch
+immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft
+ist: und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters
+nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in
+den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der Mörder seines
+Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der Räthsellöser der Sphinx!
+Was sagt uns die geheimnissvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten?
+Es giebt einen uralten, besonders persischen Volksglauben, dass ein
+weiser Magier nur aus Incest geboren werden könne: was wir uns, im
+Hinblick auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus,
+sofort so zu interpretiren haben, dass dort, wo durch weissagende und
+magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetz
+der Individuation, und überhaupt der eigentliche Zauber der Natur
+gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit - wie dort der Incest -
+als Ursache vorausgegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur
+zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch,
+dass man ihr siegreich widerstrebt, d.h. durch das Unnatürliche?
+Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Dreiheit der
+Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das Räthsel der Natur -
+jener doppeltgearteten Sphinx - löst, muss auch als Mörder des Vaters
+und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der
+Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade
+die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der,
+welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung
+stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe.
+"Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist
+ein Verbrechen an der Natur": solche schreckliche Sätze ruft uns der
+Mythus zu: der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl
+die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus, so dass er
+plötzlich zu tönen beginnt - in sophokleischen Melodieen!
+
+Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der Activität
+gegenüber, welche den Prometheus des Aeschylus umleuchtet. Was uns
+hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte, was er aber als Dichter
+durch sein gleichnissartiges Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns
+der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu
+enthüllen gewusst:
+
+ "Hier sitz ich, forme Menschen
+ Nach meinem Bilde,
+ Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
+ Zu leiden, zu weinen,
+ Zu geniessen und zu freuen sich
+ Und dein nicht zu achten,
+ Wie ich!"
+
+Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine
+Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden, weil er in
+seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben
+in seiner Hand hat. Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das
+seinem Grundgedanken nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmigkeit
+ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtigkeit: das
+unermessliche Leid des kühnen "Einzelnen" auf der einen Seite, und die
+göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die
+zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener
+beiden Leidenswelten - dies alles erinnert auf das Stärkste an den
+Mittelpunkt und Hauptsatz der aeschyleischen Weltbetrachtung, die über
+Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht.
+Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit der Aeschylus die olympische
+Welt auf seine Gerechtigkeitswagschalen stellt, müssen wir uns
+vergegenwärtigen, dass der tiefsinnige Grieche einen unverrückbar
+festen Untergrund des metaphysischen Denkens in seinen Mysterien
+hatte, und dass sich an den Olympiern alle seine skeptischen
+Anwandelungen entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere
+empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl
+wechselseitiger Abhängigkeit: und gerade im Prometheus des Aeschylus
+ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler fand in sich
+den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter
+wenigstens vernichten zu können: und dies durch seine höhere Weisheit,
+die er freilich durch ewiges Leiden zu büssen gezwungen war. Das
+herrliche "Können" des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu
+gering bezahlt ist, der herbe Stolz des Künstlers - das ist Inhalt und
+Seele der aeschyleischen Dichtung, während Sophokles in seinem Oedipus
+das Siegeslied des Heiligen präludirend anstimmt. Aber auch mit jener
+Deutung, die Aeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche
+Schreckenstiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des
+Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen
+Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem
+schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Prometheussage ist ein
+ursprüngliches Eigenthum der gesammten arischen Völkergemeinde und ein
+Document für deren Begabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte
+nicht ohne Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische
+Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die der
+Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass zwischen beiden
+Mythen ein Verwandtschaftsgrad existiert, wie zwischen Bruder
+und Schwester. Die Voraussetzung jenes Prometheusmythus ist der
+überschwängliche Werth, den eine naive Menschheit dem Feuer beilegt
+als dem wahren Palladium jeder aufsteigenden Cultur: dass aber der
+Mensch frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Geschenk
+vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmenden Sonnenbrand
+empfängt, erschien jenen beschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel,
+als ein Raub an der göttlichen Natur. Und so stellt gleich das erste
+philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch
+zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die
+Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit
+theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun
+wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Fluth von Leiden
+und von Kümmernissen mit denen die beleidigten Himmlischen das edel
+emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen - müssen: ein herber
+Gedanke, der durch die Würde, die er dem Frevel ertheilt, seltsam
+gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht, in welchem die
+Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die
+Lüsternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affectionen
+als der Ursprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arische
+Vorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen
+Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der
+ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden ist, als
+die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und zwar sowohl der
+menschlichen Schuld, als des dadurch verwirkten Leidens. Das Unheil
+im Wesen der Dinge - das der beschauliche Arier nicht geneigt ist
+wegzudeuteln -, der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm
+als ein Durcheinander verschiedener Welten, z.B. einer göttlichen und
+einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber
+als einzelne neben einer andern für ihre Individuation zu leiden
+hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem
+Versuche über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das
+eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den
+Dingen verborgenen Urwiderspruch d.h. er frevelt und leidet. So wird
+von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die Sünde als Weib
+verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe
+begangen wird. Uebrigens sagt der Hexenchor:
+
+ "Wir nehmen das nicht so genau:
+ Mit tausend Schritten macht's die Frau;
+ Doch wie sie auch sich eilen kann,
+ Mit einem Sprunge macht's der Mann".
+
+Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht - nämlich die dem
+titanisch strebenden Individuum gebotene Nothwendigkeit des Frevels
+- der muss auch zugleich das Unapollinische dieser pessimistischen
+Vorstellung empfinden; denn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch
+zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass
+er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen
+Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. Damit
+aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer
+Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der
+einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung
+des ganzen See's ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe
+Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig
+apollinische "Wille" das Hellenenthum zu bannen suchte. Jene plötzlich
+anschwellende Fluth des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen
+Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken, wie der Bruder des
+Prometheus, der Titan Atlas, die Erde. Dieser titanische Drang,
+gleichsam der Atlas aller Einzelnen zu werden und sie mit breitem
+Rücken höher und höher, weiter und weiter zu tragen, ist das
+Gemeinsame zwischen dem Prometheischen und dem Dionysischen. Der
+aeschyleische Prometheus ist in diesem Betracht eine dionysische
+Maske, während in jenem vorhin erwähnten tiefen Zuge nach
+Gerechtigkeit Aeschylus seine väterliche Abstammung von Apollo,
+dem Gotte der Individuation und der Gerechtigkeitsgrenzen, dem
+Einsichtigen verräth. Und so möchte das Doppelwesen des aeschyleischen
+Prometheus, seine zugleich dionysische und apollinische Natur in
+begrifflicher Formel so ausgedrückt werden können: "Alles Vorhandene
+ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt."
+
+Das ist deine Welt! Das heisst eine Welt! -
+
+
+10.
+
+Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechische
+Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum
+Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene
+Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf
+behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört
+hat, der tragische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten
+Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u.s.w. nur Masken
+jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen
+Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für
+die so oft angestaunte typische "Idealität" jener berühmten Figuren.
+Es hat ich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als
+Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen
+wäre, dass die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen
+Bühne nicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfunden
+zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und
+Werthabschätzung der "Idee" im Gegensatze zum "Idol", zum Abbild tief
+im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie
+Plato's zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der
+hellenischen Bühne etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus
+erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines
+kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens
+verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt,
+ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass er
+überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint,
+ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen
+dionysischen Zustand durch jene gleichnissartige Erscheinung deutet.
+In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien,
+jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von
+dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen
+zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt
+werde: wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich
+dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und
+Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell
+und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu
+betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die
+olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden. In
+jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur
+eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen
+Herrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt
+des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll
+zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der
+brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt
+es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in
+Individuen zertrümmerten Welt: wie es der Mythus durch die in ewige
+Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder
+sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus nocheinmal
+gebären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle
+Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung
+und zugleich damit die Mysterienlehre der Tragödie zusammen: die
+Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung
+der Individuation als des Urgrundes des Uebels, die Kunst als die
+freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei,
+als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. -
+
+Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dichtung
+der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über
+die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem
+übermächtigen Einflusse der tragischen Dichtung, werden die
+homerischen Mythen von Neuem umgeboren und zeigen in dieser
+Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer
+noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan
+Prometheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt, dass einst
+seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten
+Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das
+Bündniss des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit dem
+Titanen. So wird das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus
+dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und nackten
+Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der homerischen Welt mit der
+unverhüllten Miene der Wahrheit an: sie erbleichen, sie zittern vor
+dem blitzartigen Auge dieser Göttin - bis sie die mächtige Faust
+des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt.
+Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus
+als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem
+öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen
+dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen
+Hülle aus. Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern
+befreite und den Mythus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte?
+Dies ist die heraklesmässige Kraft der Musik: als welche, in der
+Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den Mythus mit neuer
+tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpretiren weiss; wie wir dies als
+das mächtigste Vermögen der Musik früher schon zu charakterisiren
+hatten. Denn es ist das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge
+einer angeblich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von
+irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen
+Ansprüchen behandelt zu werden: und die Griechen waren bereits völlig
+auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Jugendtraum mit Scharfsinn und
+Willkür in eine historisch-pragmatische Jugendgeschichte umzustempeln.
+Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn
+nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den
+strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus
+als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisirt
+werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdigkeit der Mythen
+zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und
+Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für
+den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf
+historische Grundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt
+der neugeborne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand
+blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie gezeigt, mit
+einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen Welt
+erregte. Nach diesem letzten Aufglänzen fällt er zusammen, seine
+Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischen Luciane des
+Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und
+verwüsteten Blumen. Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem
+tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal erhebt er
+sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft,
+sammt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge
+mit letztem, mächtigem Leuchten.
+
+Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden
+noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest? Er starb
+unter deinen gewaltsamen Händen: und jetzt brauchtest du einen
+nachgemachten, maskirten Mythus, der sich wie der Affe des Herakles
+mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der
+Mythus starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du
+auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern, auch
+so brachtest du es nur zu einer nachgemachten maskirten Musik. Und
+weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo; jage alle
+Leidenschaften von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis,
+spitze und feile dir für die Reden deiner Helden eine sophistische
+Dialektik zurecht - auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte
+Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte Reden.
+
+
+11.
+
+Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtliche
+ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord, in
+Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch, während jene alle in
+hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn
+es nämlich einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner
+Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, so zeigt
+uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen solchen glücklichen
+Naturzustand: sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden
+Blicken steht schon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit muthiger
+Gebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie
+dagegen entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere; wie
+einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen
+Eiland den erschütternden Schrei hörten "der grosse Pan ist todt": so
+klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische
+Welt: "die Tragödie ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren
+gegangen! Fort, fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen!
+Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen der vormaligen
+Meister einmal satt essen könnt!"
+
+Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung aufblühte, die in der
+Tragödie ihre Vorgängerin und Meisterin verehrte, da war mit Schrecken
+wahrzunehmen, dass sie allerdings die Züge ihrer Mutter trage, aber
+dieselben, die jene in ihrem langen Todeskampfe gezeigt hatte. Diesen
+Todeskampf der Tragödie kämpfte Euripides; jene spätere Kunstgattung
+ist als neue reattische Komödie bekannt. In ihr lebte die entartete
+Gestalt der Tragödie fort, zum Denkmale ihres überaus mühseligen und
+gewaltsamen Hinscheidens.
+
+Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftliche Zuneigung
+begreiflich, welche die Dichter der neueren Komödie zu Euripides
+empfanden; so dass der Wunsch des Philemon nicht weiter befremdet, der
+sich sogleich aufhängen lassen mochte, nur um den Euripides in der
+Unterwelt aufsuchen zu können: wenn er nur überhaupt überzeugt sein
+dürfte, dass der Verstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei.
+Will man aber in aller Kürze und ohne den Anspruch, damit etwas
+Erschöpfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was Euripides mit
+Menander und Philemon gemein hat und was für jene so aufregend
+vorbildlich wirkte: so genügt es zu sagen, dass der Zuschauer von
+Euripides auf die Bühne gebracht worden ist. Wer erkannt hat, aus
+welchem Stoffe die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden
+formten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maske der
+Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch über die gänzlich
+abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein. Der Mensch des
+alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräumen auf die
+Scene, der Spiegel, in dem früher nur die grossen und kühnen Züge
+zum Ausdruck kamen, zeigte jetzt jene peinliche Treue, die auch die
+misslungenen Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der
+typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den Händen der
+neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab als
+gutmüthigverschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischen
+Interesse's steht. Was Euripides sich in den aristophanischen
+"Fröschen" zum Verdienst anrechnet, dass er die tragische Kunst durch
+seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das
+ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen
+sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf der
+euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut zu reden
+verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht: man lernte selbst
+bei Euripides sprechen, und dessen rühmt er sich selbst im Wettkampfe
+mit Aeschylus: wie durch ihn jetzt das Volk kunstmässig und mit
+den schlausten Sophisticationen zu beobachten, zu verhandeln und
+Folgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der
+öffentlichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich
+gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit
+welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten
+könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine
+politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin
+in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr
+oder der Halbmensch den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt
+der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie er das
+allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben dargestellt
+habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei. Wenn jetzt die
+ganze Masse philosophiere, mit unerhörter Klugheit Land und Gut
+verwalte und ihre Prozesse führe, so sei dies sein Verdienst und der
+Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit.
+
+An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte sich jetzt
+die neuere Komödie wenden, für die Euripides gewissermaassen der
+Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal der Chor der Zuschauer
+eingeübt werden musste. Sobald dieser in der euripideischen Tonart
+zu singen geübt war, erhob sich jene schachspielartige Gattung des
+Schauspiels, die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der
+Schlauheit und Verschlagenheit. Euripides aber - der Chorlehrer -
+wurde unaufhörlich gepriesen: ja man würde sich getödtet haben, um
+noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst hätte, dass die
+tragischen Dichter eben so todt seien wie die Tragödie. Mit ihr aber
+hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben,
+nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den
+Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift
+"als Greis leichtsinnig und grillig" gilt auch vom greisen
+Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune
+sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand, der des Sclaven,
+kommt, wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft: und wenn
+jetzt überhaupt noch von "griechischer Heiterkeit" die Rede sein
+darf, so ist es die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu
+verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder
+Zukünftiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser
+Schein der "griechischen Heiterkeit" war es, der die tiefsinnigen und
+furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so
+empörte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem
+Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuss nicht nur
+verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung.
+Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhunderte
+fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums mit fast
+unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeitsfarbe festhielt
+- als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit seiner Geburt der
+Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklit gegeben
+hätte, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden
+wären, die doch - jedes für sich - aus dem Boden einer solchen
+greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht
+zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren
+Existenzgrund hinweisen.
+
+Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zuschauer auf die
+Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil über
+das Drama erst wahrhaft zu befähigen, so entsteht der Schein, als ob
+die ältere tragische Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer
+nicht herausgekommen sei und man möchte versucht sein, die radicale
+Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen
+Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt über
+Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist "Publicum" nur ein Wort und
+durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher
+soll dem Künstler die Verpflichtung kommen, sich einer Kraft zu
+accomodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich,
+seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen dieser
+Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem gemeinsamen Ausdruck
+aller dieser ihm untergeordneten Capacitäten mehr Achtung empfinden
+als vor dem relativ am höchsten begabten einzelnen Zuschauer? In
+Wahrheit hat kein griechischer Künstler mit grösserer Verwegenheit
+und Selbstgenugsamkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch
+behandelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse
+sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz
+öffentlich in's Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er über die
+Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor
+dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den
+Keulenschlägen seiner Misserfolge längst vor der Mitte seiner Laufbahn
+zusammengebrochen. Wir sehen bei dieser Erwägung, dass unser Ausdruck,
+Euripides habe den Zuschauer auf die Bühne gebracht, um den Zuschauer
+wahrhaft urtheilsfähig zu machen, nur ein provisorischer war, und dass
+wir nach einem tieferen Verständniss seiner Tendenz zu suchen haben.
+Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und Sophokles
+Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im Vollbesitze der
+Volksgunst standen, wie also bei diesen Vorgängern des Euripides
+keineswegs von einem Missverhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum
+die Rede sein kann. Was trieb den reichbegabten und unablässig zum
+Schaffen gedrängten Künstler so gewaltsam von dem Wege ab, über dem
+die Sonne der grössten Dichternamen und der unbewölkte Himmel der
+Volksgunst leuchteten? Welche sonderbare Rücksicht auf den Zuschauer
+führte ihn dem Zuschauer entgegen? Wie konnte er aus zu hoher Achtung
+vor seinem Publicum - sein Publicum missachten?
+
+Euripides fühlte sich - das ist die Lösung des eben dargestellten
+Räthsels - als Dichter wohl über die Masse, nicht aber über, zwei
+seiner Zuschauer erhaben: die Masse brachte er auf die Bühne, jene
+beiden Zuschauer verehrte er als die allein urtheilsfähigen Richter
+und Meister aller seiner Kunst: ihren Weisungen und Mahnungen folgend
+übertrug er die ganze Welt von Empfindungen, Leidenschaften und
+Erfahrungen, die bis jetzt auf den Zuschauerbänken als unsichtbarer
+Chor zu jeder Festvorstellung sich einstellten, in die Seelen seiner
+Bühnenhelden, ihren Forderungen gab er nach, als er für diese neuen
+Charaktere auch das neue Wort und den neuen Ton suchte, in ihren
+Stimmen allein hörte er die gültigen Richtersprüche seines Schaffens
+eben so wie die siegverheissende Ermuthigung, wenn er von der Justiz
+des Publicums sich wieder einmal verurtheilt sah.
+
+Von diesen beiden Zuschauern ist der eine - Euripides selbst,
+Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen,
+dass die ausserordentliche Fülle seines kritischen Talentes, ähnlich
+wie bei Lessing, einen productiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht
+erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe. Mit dieser Begabung,
+mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens
+hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den
+Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkelgewordenen
+Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wiederzuerkennen. Und hier nun war
+ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der aeschyleischen
+Tragödie Eingeweihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas
+Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine gewisse
+täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthselhafte Tiefe, ja
+Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatte immer noch
+einen Kometenschweif an sich, der in's Ungewisse, Unaufhellbare zu
+deuten schien. Dasselbe Zwielicht lag über dem Bau des Drama's, zumal
+über der Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die Lösung
+der ethischen Probleme! Wie fragwürdig die Behandlung der Mythen! Wie
+ungleichmässig die Vertheilung von Glück und Unglück! Selbst in der
+Sprache der älteren Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens
+räthselhaft; besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse,
+zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit der
+Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater, und er, der
+Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen Vorgänger nicht
+verstehe. Galt ihm aber der Verstand als die eigentliche Wurzel alles
+Geniessens und Schaffens, so musste er fragen und um sich schauen,
+ob denn Niemand so denke wie er und sich gleichfalls jene
+Incommensurabilität eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die
+besten Einzelnen hatten nur ein misstrauisches Lächeln für ihn;
+erklären aber konnte ihm Keiner, warum seinen Bedenken und
+Einwendungen gegenüber die grossen Meister doch im Rechte seien. Und
+in diesem qualvollen Zustande fand er den anderen Zuschauer, der die
+Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete. Mit diesem im Bunde
+durfte er es wagen, aus seiner Vereinsamung heraus den ungeheuren
+Kampf gegen die Kunstwerke des Aeschylus und Sophokles zu beginnen -
+nicht mit Streitschriften, sondern als dramatischer Dichter, der seine
+Vorstellung von der Tragödie der überlieferten entgegenstellt. -
+
+
+12.
+
+Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namen nennen, verharren wir
+hier einen Augenblick, um uns jenen früher geschilderten Eindruck
+des Zwiespältigen und Incommensurabeln im Wesen der aeschyleischen
+Tragödie selbst in's Gedächtniss zurückzurufen. Denken wir an unsere
+eigene Befremdung dem Chore und dem tragischen Helden jener Tragödie
+gegenüber, die wir beide mit unseren Gewohnheiten ebensowenig wie mit
+der Ueberlieferung zu reimen wussten - bis wir jene Doppelheit selbst
+als Ursprung und Wesen der griechischen Tragödie wiederfanden, als den
+Ausdruck zweier in einander gewobenen Kunsttriebe, des Apollinischen
+und des Dionysischen.
+
+Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysische Element aus der
+Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer Kunst,
+Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen - dies ist die jetzt in heller
+Beleuchtung sich uns enthüllende Tendenz des Euripides.
+
+Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage nach dem Werth
+und der Bedeutung dieser Tendenz in einem Mythus seinen Zeitgenossen
+auf das Nachdrücklichste vorgelegt. Darf überhaupt das Dionysische
+bestehn? Ist es nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden
+auszurotten? Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre:
+aber der Gott Dionysus ist zu mächtig; der verständigste Gegner - wie
+Pentheus in den "Bacchen" - wird unvermuthet von ihm bezaubert und
+läuft nachher mit dieser Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil
+der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des
+greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der klügsten Einzelnen werfe
+jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung
+des Dionysus nicht um, ja es gezieme sich, solchen wunderbaren Kräften
+gegenüber, mindestens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu
+zeigen: wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an einer
+so lauen Betheiligun; Anstoss nehme und den Diplomaten - wie hier
+den Kadmus - schliesslich in einen Drachen verwandle. Dies sagt uns
+ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch
+dem Dionysus widerstanden hat - um am Ende desselben mit einer
+Glorification seines Gegners und einem Selbstmorde seine Laufhahn zu
+schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen,
+nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehn, sich vom Thurme
+herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit
+seiner Tendenz; ach, und sie war bereits ausgeführt! Das Wunderbare
+war geschehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz
+gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und
+zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. Auch Euripides
+war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war
+nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon,
+genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und
+das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an
+ihm zu Grunde. Mag nun auch Euripides uns durch seinen Widerruf zu
+trösten suchen, es gelingt ihm nicht: der herrlichste Tempel liegt
+in Trümmern; was nützt uns die Wehklage des Zerstörers und sein
+Geständniss, dass es der schönste aller Tempel gewesen sei? Und selbst
+dass Euripides zur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in
+einen Drachen verwandelt worden ist - wen möchte diese erbärmliche
+Compensation befriedigen?
+
+Nähern wir uns jetzt jener sokratischen Tendenz, mit der Euripides die
+aeschyleische Tragödie bekämpfte und besiegte.
+
+Welches Ziel - so müssen wir uns jetzt fragen - konnte die
+euripideische Absicht, das Drama allein auf das Undionysische zu
+gründen, in der höchsten Idealität ihrer Durchführung überhaupt haben?
+Welche Form des Drama's blieb noch übrig, wenn es nicht aus dem
+Geburtsschoosse der Musik, in jenem geheimnissvollen Zwielicht des
+Dionysischen geboren werden sollte? Allein das dramatisirte Epos:
+in welchem apollinischen Kunstgebiete nun freilich die tragische
+Wirkung unerreichbar ist. Es kommt hierbei nicht auf den Inhalt der
+dargestellten Ereignisse an; ja ich möchte behaupten, dass es Goethe
+in seiner projectirten "Nausikaa" unmöglich gewesen sein würde, den
+Selbstmord jenes idyllischen Wesens - der den fünften Act ausfüllen
+sollte - tragisch ergreifend zu machen; so ungemein ist die Gewalt des
+Episch-Apollinischen, dass es die schreckensvollsten Dinge mit jener
+Lust am Scheine und der Erlösung durch den Schein vor unseren Augen
+verzaubert. Der Dichter des dramatisirten Epos kann eben so wenig wie
+der epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig verschmelzen: er ist
+immer noch ruhig unbewegte, aus weiten Augen blickende Anschauung, die
+die Bilder vorsich sieht. Der Schauspieler in diesem dramatisirten
+Epos bleibt im tiefsten Grunde immer noch Rhapsode; die Weihe des
+inneren Träumens liegt auf allen seinen Actionen, so dass er niemals
+ganz Schauspieler ist.
+
+Wie verhält sich nun diesem Ideal des apollinischen Drama's gegenüber
+das euripideische Stück? Wie zu dem feierlichen Rhapsoden der alten
+Zeit jener jüngere, der sein Wesen im platonischen "Jon" also
+beschreibt: "Wenn ich etwas Trauriges sage, füllen sich meine Augen
+mit Thränen; ist aber das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich,
+dann stehen die Haare meines Hauptes vor Schauder zu Berge, und
+mein Herz klopft." Hier merken wir nichts mehr von jenem epischen
+Verlorensein im Scheine, von der affectlosen Kühle des wahren
+Schauspielers, der gerade in seiner höchsten Thätigkeit, ganz Schein
+und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem
+klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer
+Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler
+führt er ihn aus. Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch im
+Ausführen. So ist das euripideische Drama ein zugleich kühles und
+feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich befähigt; es
+ist ihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen,
+während es andererseits sich von den dionysischen Elementen möglichst
+gelöst hat, und jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel
+braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe,
+des apollinischen und des dionysischen, liegen können. Diese
+Erregungsmittel sind kühle paradoxe Gedanken - an Stelle der
+apollinischen Anschauungen - und feurige Affecte - an Stelle der
+dionysischen Entzückungen - und zwar höchst realistisch nachgemachte,
+keineswegs in den Aether der Kunst getauchte Gedanken und Affecte.
+
+Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides überhaupt nicht
+gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, dass
+sich vielmehr seine undionysische Tendenz in eine naturalistische
+und unkünstlerische verirrt hat, so werden wir jetzt dem Wesen des
+aesthetischen Sokratismus schon näher treten dürfen; dessen oberstes
+Gesetz ungefähr so lautet: "alles muss verständig sein, um schön zu
+sein"; als Parallelsatz zu dem sokratischen "nur der Wissende ist
+tugendhaft." Mit diesem Kanon in der Hand maass Euripides alles
+Einzelne und rectificirte es gemäss diesem Princip: die Sprache, die
+Charaktere, den dramaturgischen Aufbau, die Chormusik. Was wir im
+Vergleich mit der sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als
+dichterischen Mangel und Rückschritt anzurechnen pflegen, das ist
+zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Prozesses, jener
+verwegenen Verständigkeit. Der euripideische Prolog diene uns als
+Beispiel für die Productivität jener rationalistischen Methode. Nichts
+kann unserer Bühnentechnik widerstrebender sein als der Prolog im
+Drama des Euripides. Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange
+des Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis
+jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde, das
+würde ein moderner Theaterdichter als ein muthwilliges und nicht zu
+verzeihendes Verzichtleisten auf den Effect der Spannung bezeichnen.
+Man weiss ja alles, was geschehen wird; wer wird abwarten wollen,
+dass dies wirklich geschieht? - da ja hier keinesfalls das aufregende
+Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später eintretenden
+Wirklichkeit stattfindet. Ganz anders reflectirte Euripides. Die
+Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf der epischen Spannung, auf
+der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen
+werde: vielmehr auf jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in
+denen die Leidenschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem
+breiten und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur Handlung
+bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt
+als verwerflich. Das aber, was die genussvolle Hingabe an solche
+Scenen am stärksten erschwert, ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied,
+eine Lücke im Gewebe der Vorgeschichte; so lange der Zuhörer noch
+ausrechnen muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und
+jener Conflict der Neigungen und Absichten für Voraussetzungen habe,
+ist seine volle Versenkung in das Leiden und Thun der Hauptpersonen,
+ist das athemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich. Die
+aeschyleisch-sophokleische Tragödie verwandte die geistreichsten
+Kunstmittel, um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen
+zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen Fäden in die Hand zu
+geben: ein Zug, in dem sich jene edle Künstlerschaft bewährt, die das
+nothwendige Formelle gleichsam maskirt und als Zufälliges erscheinen
+lässt. Immerhin aber glaubte Euripides zu bemerken, dass während
+jener ersten Scenen der Zuschauer in eigenthümlicher Unruhe sei,
+um das Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die
+dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für ihn
+verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Exposition
+und legte ihn einer Person in den Mund, der man Vertrauen schenken
+durfte: eine Gottheit musste häufig den Verlauf der Tragödie dem
+Publicum gewissermaassen garantieren und jeden Zweifel an der Realität
+des Mythus nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität
+der empirischen Welt nur durch die Appellation an die Wahrhaftigkeit
+Gottes und seine Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen vermochte. Dieselbe
+göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am Schlusse
+seines Drama's, um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher
+zu stellen; dies ist die Aufgabe des berüchtigten deux ex
+machina. Zwischen der epischen Vorschau und Hinausschau liegt die
+dramatischlyrische Gegenwart, das eigentliche "Drama."
+
+So ist Euripides als Dichter vor allem der Wiederhall seiner bewussten
+Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine so denkwürdige
+Stellung in der Geschichte der griechischen Kunst.
+
+Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-productives Schaffen oft zu
+Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift des Anaxagoras
+für das Drama lebendig machen, deren erste Worte lauten: "im Anfang
+war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung." Und wenn
+Anaxagoras mit seinem "Nous" unter den Philosophen wie der erste
+Nüchterne unter lauter Trunkenen erschien, so mag auch Euripides sein
+Verhältniss zu den anderen Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen
+Bilde begriffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des
+Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffen ausgeschlossen war,
+war noch alles in einem chaotischen Urbrei beisammen; so musste
+Euripides urtheilen, so musste er die "trunkenen" Dichter als der
+erste "Nüchterne" verurtheilen. Das, was Sophokles von Aeschylus
+gesagt hat, er thue das Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im
+Sinne des Euripides gesagt: der nur so viel hätte gelten lassen, dass
+Aeschylus, weil er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch
+der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen des Dichters,
+insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur
+ironisch und stellt es der Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters
+gleich; sei doch der Dichter nicht eher fähig zu dichten als bis
+er bewusstlos geworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne.
+Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das
+Gegenstück des "unverständigen" Dichters der Welt zu zeigen; sein
+aesthetischer Grundsatz "alles muss bewusst sein, um schön zu sein",
+ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem sokratischen "alles muss
+bewusst sein, um gut zu sein". Demgemäss darf uns Euripides als der
+Dichter des aesthetischen Sokratismus gelten. Sokrates aber war jener
+zweite Zuschauer, der die ältere Tragödie nicht begriff und deshalb
+nicht achtete; mit ihm im Bunde wagte Euripides, der Herold eines
+neuen Kunstschaffens zu sein. Wenn an diesem die ältere Tragödie zu
+Grunde ging, so ist also der aesthetische Sokratismus das mörderische
+Princip: insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der älteren
+Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus,
+den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und, obschon
+bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofes zerrissen
+zu werden, doch den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt:
+welcher, wie damals, als er vor dem Edonerkönig Lykurg floh, sich in
+die Tiefen des Meeres rettete, nämlich in die mystischen Fluthen eines
+die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus.
+
+
+13.
+
+Dass Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe,
+entging dem gleichzeitigen Alterthume nicht; und der beredteste
+Ausdruck für diesen glücklichen Spürsinn ist jene in Athen umlaufende
+Sage, Sokrates pflege dem Euripides im Dichten zu helfen. Beide
+Namen wurden von den Anhängern der "guten alten Zeit" in einem Athem
+genannt, wenn es galt, die Volksverführer der Gegenwart aufzuzählen:
+von deren Einflusse es herrühre, dass die alte marathonische
+vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer mehr einer
+zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung der
+leiblichen und seelischen Kräfte, zum Opfer falle. In dieser Tonart,
+halb mit Entrüstung, halb mit Verachtung, pflegt die aristophanische
+Komödie von jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren, welche
+zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht genug darüber
+wundern können, dass Sokrates als der erste und oberste Sophist,
+als der Spiegel und Inbegriff aller sophistischen Bestrebungen bei
+Aristophanes erscheine: wobei es einzig einen Trost gewährt, den
+Aristophanes selbst als einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der
+Poesie an den Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen
+Instincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu nehmen,
+fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des Sokrates und des
+Euripides aus der antiken Empfindung heraus zu erweisen; in welchem
+Sinne namentlich daran zu erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der
+tragischen Kunst sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur,
+wenn ein neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter
+den Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe
+Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche,
+welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnet,
+zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem Euripides der zweite Preis
+im Wettkampfe der Weisheit gebühre.
+
+Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles genannt; er, der
+sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue das Rechte und zwar,
+weil er wisse, was das Rechte sei. Offenbar ist gerade der Grad der
+Helligkeit dieses Wissens dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam
+als die drei "Wissenden" ihrer Zeit auszeichnet.
+
+Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte Hochschätzung des
+Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen
+vorfand, der sich eingestehe, nichts zu wissen; während er, auf seiner
+kritischen Wanderung durch Athen, bei den grössten Staatsmännern,
+Rednern, Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung
+des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle jene
+Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere
+Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. "Nur aus
+Instinct": mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der
+sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die
+bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden
+Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des
+Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit
+und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus
+glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu müssen: er, der Einzelne,
+tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der
+Vorläufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in
+eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum
+grössten Glücke rechnen würden.
+
+Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedesmal, Angesichts
+des Sokrates, ergreift und die uns immer und immer wieder anreizt,
+Sinn und Absicht dieser fragwürdigsten Erscheinung des Alterthums
+zu erkennen. Wer ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das
+griechische Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus,
+als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste
+Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden Anbetung gewiss ist?
+Welche dämonische Kraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub
+zu schütten sich erkühnen darf? Welcher Halbgott ist es, dem der
+Geisterchor der Edelsten der Menschheit zurufen muss: "Weh! Weh! Du
+hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt,
+sie zerfällt!"
+
+Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare
+Erscheinung, die als "Dämonion des Sokrates" bezeichnet wird. In
+besonderen Lagen, in denen sein ungeheurer Verstand in's Schwanken
+gerieth, gewann er einen festen Anhalt durch eine in solchen Momenten
+sich äussernde göttliche Stimme. Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt,
+immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich
+abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd
+entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der
+Instinct gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das
+Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates
+der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer - eine wahre
+Monstrosität per defectum! Und zwar nehmen wir hier einen monstrosen
+defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass Sokrates als der
+specifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre, in dem die logische
+Natur durch eine Superfötation eben so excessiv entwickelt ist wie im
+Mystiker jene instinctive Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in
+Sokrates erscheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen
+sich selbst zu kehren; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt er
+eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten instinctiven
+Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung antreffen. Wer
+nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät und Sicherheit der
+sokratischen Lebensrichtung aus den platonischen Schriften gespürt
+hat, der fühlt auch, wie das ungeheure Triebrad des logischen
+Sokratismus gleichsam hinter Sokrates in Bewegung ist, und wie dies
+durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden
+muss. Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung hatte,
+das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit dem er seine
+göttliche Berufung überall und noch vor seinen Richtern geltend
+machte. Ihn darin zu widerlegen war im Grunde eben so unmöglich als
+seinen die Instincte auflösenden Einfluss gut zu heissen. Bei diesem
+unlösbaren Conflicte war, als er einmal vor das Forum des griechischen
+Staates gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilung geboten,
+die Verbannung; als etwas durchaus Räthselhaftes, Unrubricirbares,
+Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenze weisen dürfen, ohne
+dass irgend eine Nachwelt im Recht gewesen wäre, die Athener einer
+schmählichen That zu zeihen. Dass aber der Tod und nicht nur die
+Verbannung über ihn ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst,
+mit völliger Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode,
+durchgesetzt zu haben: er ging in den Tod, mit jener Ruhe, mit der
+er nach Plato's Schilderung als der letzte der Zecher im frühen
+Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen neuen Tag zu beginnen;
+indess hinter ihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenen
+Tischgenossen zurückbleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker,
+zu träumen. Der sterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst
+geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat sich der
+typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung
+seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen.
+
+
+14.
+
+Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des Sokrates auf
+die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie der holde Wahnsinn
+künstlerischer Begeisterung geglüht hat - denken wir uns, wie es
+jenem Auge versagt war, in die dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen
+zu schauen - was eigentlich musste es in der "erhabenen und
+hochgepriesenen" tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken?
+Etwas recht Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit
+Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen, dazu das Ganze so bunt
+und mannichfaltig, dass es einer besonnenen Gemüthsart widerstreben
+müsse, für reizbare und empfindliche Seelen aber ein gefährlicher
+Zunder sei. Wir wissen, welche einzige Gattung der Dichtkunst von ihm
+begriffen wurde, die aesopische Fabel: und dies geschah gewiss mit
+jener lächelnden Anbequemung, mit welcher der ehrliche gute Gellert in
+der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der Poesie singt:
+
+ "Du siehst an mir, wozu sie nützt,
+ Dem, der nicht viel Verstand besitzt
+ Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen".
+
+Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal "die
+Wahrheit zu sagen": abgesehen davon, dass sie sich an den wendet, der
+"nicht viel Verstand besitzt", also nicht an den Philosophen: ein
+zweifacher Grund, von ihr fern zu bleiben. Wie Plato, rechnete er
+sie zu den schmeichlerischen Künsten, die nur das Angenehme, nicht
+das Nützliche darstellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern
+Enthaltsamkeit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen
+Reizungen; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tragödiendichter
+Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte, um Schüler des
+Sokrates werden zu können. Wo aber unbesiegbare Anlagen gegen die
+sokratischen Maximen ankämpften, war die Kraft derselben, sammt der
+Wucht jenes ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die
+Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen zu drängen.
+
+Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der in der
+Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewiss nicht hinter
+dem naiven Cynismus seines Meisters zurückgeblieben ist, hat doch aus
+voller künstlerischer Nothwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen,
+die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen
+innerlich verwandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der älteren Kunst
+zu machen hatte, - dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also
+noch einer niedrigeren Sphäre als die empirische Welt ist, angehöre
+- durfte vor allem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden:
+und so sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus
+zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende Idee
+darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf einem Umwege
+ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets heimisch gewesen war und
+von wo aus Sophokles und die ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen
+Vorwurf protestirten. Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen
+in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem
+excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch
+Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen
+Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte
+schwebt und damit auch das strenge ältere Gesetz der einheitlichen
+sprachlichen Form durchbrochen hat; auf welchem Wege die cynischen
+Schriftsteller noch weiter gegangen sind, die in der grössten
+Buntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen
+prosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des
+"rasenden Sokrates", den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht
+haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die
+schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen ihren Kindern rettete: auf
+einen engen Raum zusammengedrängt und dem einen Steuermann Sokrates
+ängstlich unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die
+an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte.
+Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen
+Kunstform gegeben, das Vorbild des Roman's: der als die unendlich
+gesteigerte aesopische Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in
+einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie
+viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie:
+nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie
+Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.
+
+Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst und zwingt sie
+zu einem engen Sich- Anklammern an den Stamm der Dialektik. In dem
+logischen Schematismus hat sich die apollinische Tendenz verpuppt: wie
+wir bei Euripides etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung
+des Dionysischen in den naturalistischen Affect wahrzunehmen hatten.
+Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, erinnert uns
+an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund
+und Gegengrund seine Handlungen vertheidigen muss und dadurch so
+oft in Gefahr geräth, unser tragisches Mitleiden einzubüssen: denn
+wer vermöchte das optimistische Element im Wesen der Dialektik zu
+verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in
+kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische Element,
+das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen
+allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung
+treiben muss - bis zum Todessprunge in's bürgerliche Schauspiel. Man
+vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze:
+"Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der
+Tugendhafte ist der Glückliche": in diesen drei Grundformen des
+Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte
+Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube
+und Moral ein nothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die
+transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und
+frechen Princip der "poetischen Gerechtigkeit" mit seinem üblichen
+deus ex machina erniedrigt.
+
+Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen
+Bühnenwelt gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der ganze
+musikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie? Als etwas Zufälliges,
+als eine auch wohl zu missende Reminiscenz an den Ursprung der
+Tragödie; während wir doch eingesehen haben, dass der Chor nur als
+Ursache der Tragödie und des Tragischen überhaupt verstanden werden
+kann. Schon bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in Betreff des
+Chors - ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der dionysische
+Boden der Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem
+Chor den Hauptantheil der Wirkung anzuvertrauen, sondern schränkt
+sein Bereich dermaassen ein, dass er jetzt fast den Schauspielern
+coordinirt erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in die
+Scene hineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört
+ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine
+Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles
+jedenfalls durch seine Praxis und, der Ueberlieferung nach, sogar
+durch eine Schrift anempfohlen hat, ist der erste Schritt zur
+Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides, Agathon und der
+neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit auf einander folgen.
+Die optimistische Dialektik treibt mit der Geissel ihrer Syllogismen
+die Musik aus der Tragödie: d.h. sie zerstört das Wesen der Tragödie,
+welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung
+dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die
+Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lässt.
+
+Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische
+Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört grossartigen
+Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken,
+wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute: die wir
+doch nicht im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als
+eine nur auflösende negative Macht zu begreifen. Und so gewiss die
+allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine Zersetzung
+der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige
+Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen dem
+Sokratismus und der Kunst nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss
+bestehe und ob die Geburt eines "künstlerischen Sokrates" überhaupt
+etwas in sich Widerspruchsvolles sei.
+
+Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst
+gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs,
+einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters kam ihm, wie er im
+Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumerscheinung,
+die immer dasselbe sagte: "Sokrates, treibe Musik!" Er beruhigt sich
+bis zu seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei
+die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine Gottheit
+ihn an jene "gemeine, populäre Musik" erinnern werde. Endlich im
+Gefängniss versteht er sich, um sein Gewissen gänzlich zu entlasten,
+auch dazu, jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in
+dieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige
+aesopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnenden
+Stimme Aehnliches, was ihn zu diesen Uebungen drängte, es war seine
+apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbarenkönig ein edles
+Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer
+Gottheit zu versündigen - durch sein Nichtsverstehn. Jenes Wort
+der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer
+Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht - so
+musste er sich fragen - ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch
+sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit,
+aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein
+nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft?
+
+
+15.
+
+Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen muss nun ausgesprochen
+werden, wie der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja
+in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immer
+grösser werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat,
+wie derselbe zur Neuschaffung der Kunst - und zwar der Kunst im
+bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne - immer wieder
+nöthigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit
+verbürgt.
+
+Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innerste Abhängigkeit
+jeder Kunst von den Griechen, den Griechen von Homer bis auf Sokrates,
+überzeugend dargethan war, musste es uns mit diesen Griechen ergehen
+wie den Athenern mit Sokrates. Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat
+einmal sich mit tiefem Missmuthe von den Griechen zu befreien gesucht,
+weil Angesichts derselben alles Selbstgeleistete, scheinbar völlig
+Originelle, und recht aufrichtig Bewunderte plötzlich Farbe und Leben
+zu verlieren schien und zur misslungenen Copie, ja zur Caricatur
+zusammenschrumpfte. Und so bricht immer von Neuem einmal der herzliche
+Ingrimm gegen jenes anmaassliche Völkchen hervor das sich erkühnte,
+alles Nichteinheimische für alle Zeiten als "barbarisch" zu
+bezeichnen: wer sind jene, fragt man sich, die, obschon sie nur
+einen ephemeren historischen Glanz, nur lächerlich engbegrenzte
+Institutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeit der Sitte aufzuweisen
+haben und sogar mit hässlichen Lastern gekennzeichnet sind, doch die
+Würde und Sonderstellung unter den Völkern in Anspruch nehmen, die
+dem Genius unter der Masse zukommt? Leider war man nicht so glücklich
+den Schierlingsbecher zu finden, mit dem ein solches Wesen einfach
+abgethan werden konnte: denn alles Gift, das Neid, Verläumdung und
+Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jene selbstgenugsame
+Herrlichkeit zu vernichten. Und so schämt und fürchtet man sich vor
+den Griechen; es sei denn, dass Einer die Wahrheit über alles achte
+und so sich auch diese Wahrheit einzugestehn wage, dass die Griechen
+unsere und jegliche Cultur als Wagenlenker in den Händen haben, dass
+aber fase immer Wagen und Pferde von zu geringem Stoffe und der Glorie
+ihrer Führer unangemessen sind, die dann es für einen Scherz erachten,
+ein solches Gespann in den Abgrund zu jagen: über den sie selbst, mit
+dem Sprunge des Achilles, hinwegsetzen.
+
+Um die Würde einer solchen Führerstellung auch für Sokrates zu
+erweisen, genügt es in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten
+Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen, über
+dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen, unsere nächste
+Aufgabe ist. Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches
+Genügen am Vorhandenen, wie der Künstler, und ist wie jener vor der
+praktischen Ethik des Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren
+leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes Genügen geschützt. Wenn
+nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit
+verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der
+Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der
+theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes
+Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft
+gelingenden Enthüllung. Es gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um
+jene eine nackte Göttin und um nichts Anderes zu thun wäre. Denn dann
+müsste es ihren Jüngern zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch
+gerade durch die Erde graben wollten: von denen ein Jeder einsieht,
+dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung, nur ein ganz
+kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei,
+welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder
+überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint,
+wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche
+wählt. Wenn jetzt nun Einer zur Ueberzeugung beweist, dass auf diesem
+directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wird
+noch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dass er
+sich nicht inzwischen genügen lasse, edles Gestein zu finden oder
+Naturgesetze zu entdecken. Darum hat Lessing, der ehrlichste
+theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihm mehr am Suchen
+der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei: womit das Grundgeheimniss
+der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen,
+aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten
+Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn nicht des
+Uebermuthes, eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der
+Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube,
+dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten
+Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu
+erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene
+metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und
+führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie
+in Kunst umschlagen muss: auf welchees eigentlich, bei diesem
+Mechanismus, abgesehn ist.
+
+Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedankens, auf Sokrates hin:
+so erscheint er uns als der Erste, der an der Hand jenes Instinctes
+der Wissenschaft nicht nur leben, sondern - was bei weitem mehr ist -
+auch sterben konnte: und deshalb ist das Bild des sterbenden Sokrates
+als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen
+das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen
+Jeden an deren Bestimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflich
+und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu freilich
+wenn die Gründe nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen
+muss, den ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der
+Wissenschaft soeben bezeichnete.
+
+Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, dem Mystagogen
+der Wissenschaft, eine Philosophenschule nach der anderen, wie Welle
+auf Welle, sich ablöst, wie eine nie geahnte Universalität der
+Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt und als
+eigentliche Aufgabe für jeden höher Befähigten die Wissenschaft
+auf die hohe See führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig
+vertrieben werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein
+gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit
+Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt
+wurde; wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide
+der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen,
+in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten
+Weltgeschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze
+unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz verbraucht
+worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die
+praktischen d.h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker
+verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen
+und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so
+abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne
+vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn
+er, wie der Bewohner der Fidschiinseln, als Sohn seine Eltern, als
+Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der
+selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen
+könnte - der übrigens überall in der Welt vorhanden ist und vorhanden
+war, wo nicht die Kunst in irgend welchen Formen, besonders als
+Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes
+Pesthauchs erschienen ist.
+
+Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates das Urbild
+des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die
+Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die
+Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich
+begreift. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom
+Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen
+der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein: so
+wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates
+ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur
+über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten
+sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopferung, des
+Heroismus und jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele, die
+der apollinische Grieche Sophrosyne nannte, wurden von Sokrates und
+seinen gleichgesinnten Nachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus der
+Dialektik des Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet.
+Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat
+und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der
+Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel,
+der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfinden als die Begierde,
+jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu
+spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokrates
+als der Lehrer einer ganz neuen Form der "griechischen Heiterkeit"
+und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und
+diese Entladung zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen
+auf edle Jünglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius,
+finden wird.
+
+Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt,
+unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik
+verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der
+Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht
+abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte,
+so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines
+Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie,
+wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken
+sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt
+und endlich sich in den Schwanz beisst - da bricht die neue Form der
+Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu
+werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.
+
+Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen erlabten Augen, auf
+die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns umfluthet, so gewahren
+wir die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen
+optimistischen Erkenntniss in tragische Resignation und
+Kunstbedürftigkeit umgeschlagen: während allerdings dieselbe Gier, auf
+ihren niederen Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die
+dionysisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie dies an
+der Bekämpfung der aeschyleischen Tragödie durch den Sokratismus
+beispielsweise dargestellt wurde.
+
+Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pforten der Gegenwart
+und Zukunft: wird jenes "Umschlagen" zu immer neuen Configurationen
+des Genius und gerade des musiktreibenden Sokrates führen? Wird das
+über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen
+der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten
+werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben
+und Wirbeln, das sich jetzt "die Gegenwart" nennt, in Fetzen zu
+reissen? - Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile
+bei Seite, als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener
+ungeheuren Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber
+dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss!
+
+
+16.
+
+An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klar zu machen
+gesucht, wie die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik
+eben so gewiss zu Grunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein
+geboren werden kann. Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern
+und andererseits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen,
+müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der
+Gegenwart gegenüber stellen; wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe
+treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersättlichen
+optimistischen Erkenntniss und der tragischen Kunstbedürftigkeit in
+den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will
+hierbei von allen den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu
+jeder Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten und die
+auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss um sich greifen, dass
+von den theatralischen Künsten z.B. allein die Posse und das Ballet
+in einem einigermaassen üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für
+Jedermann wohlriechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der
+erlauchtesten Gegnerschaft der tragischen Weltbetrachtung reden und
+meine damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft,
+mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auch die
+Mächte bei Namen genannt werden, welche mir eine Wiedergeburt der
+Tragödie - und welche andere selige Hoffnungen für das deutsche Wesen!
+- zu verbürgen scheinen.
+
+Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe hineinstürzen, hüllen wir uns in
+die Rüstung unsrer bisher eroberten Erkenntnisse. Im Gegensatz zu
+allen denen, welche beflissen sind, die Künste aus einem einzigen
+Princip, als dem nothwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks abzuleiten,
+halte ich den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten
+der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen
+die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten zweier in ihrem
+tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten.
+Apollo steht vor mir, als der verklärende Genius des principii
+individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu
+erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der
+Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern
+des Sein's, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieser
+ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als
+der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend
+aufthut, ist einem Einzigen der grossen Denker in dem Maasse offenbar
+geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen
+Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung
+vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle,
+Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst
+sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller
+Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille
+und Vorstellung I, p. 310). Auf diese wichtigste Erkenntniss aller
+Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik
+erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen
+Wahrheit, seinen Stempel gedrückt, wenn er im "Beethoven" feststellt,
+dass die Musik nach ganz anderen aesthetischen Principien als alle
+bildenden Künste und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit
+zu bemessen sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer
+missleiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen Welt
+geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe, von der Musik
+eine ähnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu
+fordern, nämlich die Erregung des Gefallens an schönen Formen. Nach
+der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke
+Nöthigung, mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der
+tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen: denn erst jetzt
+glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die Phraseologie unserer
+üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem der Tragödie mir leibhaft
+vor die Seele stellen zu können: wodurch mir ein so befremdlich
+eigenthümlicher Blick in das Hellenische vergönnt war, dass
+es mir scheinen musste, als ob unsre so stolz sich gebärdende
+classisch-hellenische Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an
+Schattenspielen und Aeusserlichkeiten sich zu weiden gewusst habe.
+
+Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frage berühren:
+welche aesthetische Wirkung entsteht, wenn jene an sich getrennten
+Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander
+in Thätigkeit gerathen? Oder in kürzerer Form: wie verhält sich
+die Musik zu Bild und Begriff? - Schopenhauer, dem Richard Wagner
+gerade für diesen Punkt eine nicht zu überbietende Deutlichkeit und
+Durchsichtigkeit der Darstellung nachrühmt, äussert sich hierüber am
+ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ich hier in ihrer ganzen
+Länge wiedergeben werde. Welt als Wille und Vorstellung I, p. 309:
+"Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die
+Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache
+ansehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Analogie
+beider ist, dessen Erkenntniss erfordert wird, um jene Analogie
+einzusehen. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt
+angesehen eine im höchsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar
+zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den
+einzelnen Dingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere
+Allgemeinheit der Abstraction, sondern ganz anderer Art und ist
+verbunden mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit. Sie gleicht
+hierin den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche als die
+allgemeinen Formen aller möglichen Objecte der Erfahrung und auf alle
+a priori anwendbar, doch nicht abstract, sondern anschaulich und
+durchgängig bestimmt sind. Alle möglichen Bestrebungen, Erregungen und
+Aeusserungen des Willens, alle jene Vorgänge im Innern des Menschen,
+welche die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefühl wirft, sind
+durch die unendlich vielen möglichen Melodien auszudrücken, aber immer
+in der Allgemeinheit blosser Form, ohne den Stoff, immer nur nach
+dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele
+derselben, ohne Körper. Aus diesem innigen Verhältniss, welches die
+Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch dies zu erklären,
+dass, wenn zu irgend einer Scene, Handlung, Vorgang, Umgebung, eine
+passende Musik ertönt, diese uns den geheimsten Sinn derselben
+aufzuschliessen scheint und als der richtigste und deutlichste
+Commentar dazu auftritt; imgleichen, dass es Dem, der sich dem
+Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt, ist, als sähe er alle
+möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehen:
+dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit angeben
+zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten. Denn die
+Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden,
+dass sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten
+Objectität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst
+ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller
+Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man könnte demnach die Welt
+ebensowohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen: daraus
+also ist es erklärlich, warum Musik jedes Gemälde, ja jede Scene des
+wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit
+hervortreten lässt; freilich um so mehr, je analoger ihre Melodie dem
+innern Geiste der gegebenen Erscheinung ist. Hierauf beruht es, dass
+man ein Gedicht als Gesang, oder eine anschauliche Darstellung als
+Pantomime, oder beides als Oper der Musik unterlegen kann. Solche
+einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik
+untergelegt, sind nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden
+oder entsprechend; sondern sie stehen zu ihr nur im Verhältniss eines
+beliebigen Beispiels zu einem allgemeinen Begriff: sie stellen in
+der Bestimmtheit der Wirklichkeit Dasjenige dar, was die Musik in
+der Allgemeinheit blosser Form aussagt. Denn die Melodien sind
+gewissermaassen, gleich den allgemeinen Begriffen, ein Abstractum
+der Wirklichkeit. Diese nämlich, also die Welt der einzelnen Dinge,
+liefert das Anschauliche, das Besondere und Individuelle, den
+einzelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur
+Allgemeinheit der Melodien, welche beide Allgemeinheiten einander aber
+in gewisser Hinsicht entgegengesetzt sind; indem die Begriffe nur
+die allererst aus der Anschauung abstrahirten Formen, gleichsam die
+abgezogene äussere Schale der Dinge enthalten, also ganz eigentlich
+Abstracta sind; die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung
+vorhergängigen Kern, oder das Herz der Dinge giebt. Dies Verhältniss
+liesse sich recht gut in der Sprache der Scholastiker ausdrücken,
+indem man sagte: die Begriffe sind die universalia post rem, die
+Musik aber giebt die universalia ante rem, und die Wirklichkeit die
+universalia in re. Dass aber überhaupt eine Beziehung zwischen einer
+Composition und einer anschaulichen Darstellung möglich ist, beruht,
+wie gesagt, darauf, dass beide nur ganz verschiedene Ausdrücke
+desselben innern Wesens der Welt sind. Wann nun im einzelnen Fall
+eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist, also der Componist die
+Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheit ausmachen, in der
+allgemeinen Sprache der Musik auszusprechen gewusst hat: dann ist
+die Melodie des Liedes, die Musik der Oper ausdrucksvoll. Die vom
+Componisten aufgefundene Analogie zwischen jenen beiden muss aber
+aus der unmittelbaren Erkenntniss des Wesens der Welt, seiner
+Vernunft unbewusst, hervorgegangen und darf nicht, mit bewusster
+Absichtlichkeit, durch Begriffe vermittelte Nachahmung sein: sonst
+spricht die Musik nicht das innere Wesen, den Willen selbst aus;
+sondern ahmt nur seine Erscheinung ungenügend nach; wie dies alle
+eigentlich nachbildende Musik thut". -
+
+Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauer's, die Musik als die
+Sprache des Willens unmittelbar und fühlen unsere Phantasie angeregt,
+jene zu uns redende, unsichtbare und doch so lebhaft bewegte
+Geisterwelt zu gestalten und sie in einem analogen Beispiel uns zu
+verkörpern. Andrerseits kommt Bild und Begriff, unter der Einwirkung
+einer wahrhaft entsprechenden Musik, zu einer erhöhten Bedeutsamkeit.
+Zweierlei Wirkungen pflegt also die dionysische Kunst auf das
+apollinische Kunstvermögen auszuüben: die Musik reizt zum
+gleichnissartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit, die Musik
+lässt sodann das gleichnissartige Bild in höchster Bedeutsamkeit
+hervortreten. Aus diesen an sich verständlichen und keiner tieferen
+Beobachtung unzugänglichen Thatsachen erschliesse ich die Befähigung
+der Musik, den Mythus d.h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und
+gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen
+Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem Phänomen des Lyrikers
+habe ich dargestellt, wie die Musik im Lyriker darnach ringt, in
+apollinischen Bildern über ihr Wesen sich kund zu geben: denken wir
+uns jetzt, dass die Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer
+höchsten Verbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir für
+möglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck für ihre
+eigentliche dionysische Weisheit zu finden wisse; und wo anders werden
+wir diesen Ausdruck zu suchen haben, wenn nicht in der Tragödie und
+überhaupt im Begriff des Tragischen?
+
+Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie
+des Scheines und der Schönheit begriffen wird, ist das Tragische in
+ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten; erst aus dem Geiste der Musik
+heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums.
+Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns
+nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht,
+die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio
+individuationis, das ewige Leben jenseit aller Erscheinung und trotz
+aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude
+am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv unbewussten
+dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste
+Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch
+nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine
+Vernichtung nicht berührt wird. "Wir glauben an das ewige Leben", so
+ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare Idee dieses
+Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat die Kunst des Plastikers:
+hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende
+Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit
+über das dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem
+gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In der
+dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe
+Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: "Seid wie ich
+bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die
+ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem
+Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!"
+
+
+17.
+
+Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins
+überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen,
+sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie
+alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss,
+wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz
+hineinzublicken - und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer
+Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus.
+Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen
+dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die
+Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem
+Uebermaass von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stossenden
+Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des
+Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen
+in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der
+unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die
+Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung
+ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen,
+nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen
+Zeugungslust wir verschmolzen sind.
+
+Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt uns jetzt mit
+lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunstwerk der Griechen
+wirklich aus dem Geiste der Musik herausgeboren ist: durch welchen
+Gedanken wir zum ersten Male dem ursprünglichen und so erstaunlichen
+Sinne des Chors gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen
+wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen
+Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen
+Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig
+geworden ist; ihre Helden sprechen gewissermaassen oberflächlicher
+als sie handeln, der Mythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus
+nicht seine adäquate Objectivation. Das Gefüge der Scenen und die
+anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit, als der Dichter
+selbst in Worte und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei
+Shakespeare beobachtet wird, dessen Hamlet z.B. in einem ähnlichen
+Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht aus den
+Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Ueberschauen
+des Ganzen jene früher erwähnte Hamletlehre zu entnehmen ist. In
+Betreff der griechischen Tragödie, die uns freilich nur als Wortdrama
+entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, dass jene Incongruenz
+zwischen Mythus und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher
+und bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine
+oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach den
+Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht vergisst
+man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war, die höchste
+Vergeistigung und Idealität des Mythus zu erreichen, ihm als
+schöpferischem Musiker in jedem Augenblick gelingen konnte! Wir
+freilich müssen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast auf
+gelehrtem Wege reconstruiren, um etwas von jenem unvergleichlichen
+Troste zu empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss.
+Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur, wenn wir
+Griechen wären, als solche empfunden haben: während wir in der ganzen
+Entfaltung der griechischen Musik - der uns bekannten und vertrauten,
+so unendlich reicheren gegenüber - nur das in schüchternem
+Kraftgefühle angestimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu
+hören glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester sagen,
+die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder,
+welche nicht wissen, welches erhabene Spielzeug unter ihren Händen
+entstanden ist und - zertrümmert wird.
+
+Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mythischer
+Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik bis zur attischen
+Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach eben erst errungener
+üppiger Entfaltung, ab und verschwindet gleichsam von der Oberfläche
+der hellenischen Kunst: während die aus diesem Ringen geborne
+dionysische Weltbetrachtung in den Mysterien weiterlebt und in den
+wunderbarsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört, ernstere
+Naturen an sich zu ziehen Ob sie nicht aus ihrer mystischen Tiefe
+einst wieder als Kunst emporsteigen wird?
+
+Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren Entgegenwirken
+die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärke hat, um das
+künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen
+Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragödie durch den
+dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft
+aus ihrem Gleise gedrängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf
+einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen
+Weltbetrachtung zu schliessen; und erst nachdem der Geist der
+Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf
+universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist
+dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu hoffen sein: für welche
+Culturform wir das Symbol des musiktreibenden Sokrates, in dem früher
+erörterten Sinne, hinzustellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung
+verstehe ich unter dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in
+der Person des Sokrates an's Licht gekommenen Glauben an die
+Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens.
+
+Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärtsdringenden
+Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwärtigen,
+wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde und wie durch diese
+Vernichtung die Poesie aus ihrem natürlichen idealen Boden, als eine
+nunmehr heimathlose, verdrängt war. Haben wir mit Recht der Musik die
+Kraft zugesprochen, den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so
+werden wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen
+haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feindlich
+entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des neueren attischen
+Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das innere Wesen, den Willen
+selbst aussprach, sondern nur die Erscheinung ungenügend, in einer
+durch Begriffe vermittelten Nachahmung wiedergab: von welcher
+innerlich entarteten Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit
+demselben Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen
+Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende Instinct des
+Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst,
+die Tragödie des Euripides und die Musik der neueren Dithyrambiker
+in dem gleichen Gefühle des Hasses zusammenfasste und in allen drei
+Phänomenen die Merkmale einer degenerirten Cultur witterte. Durch
+jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum
+imitatorischen Conterfei der Erscheinung z.B. einer Schlacht, eines
+Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft
+gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere Ergetzung nur dadurch
+zu erregen sucht, dass sie uns zwingt, äusserliche Analogien zwischen
+einem Vorgange des Lebens und der Natur und gewissen rhythmischen
+Figuren und charakteristischen Klängen der Musik zu suchen, wenn sich
+unser Verstand an der Erkenntniss dieser Analogien befriedigen soll,
+so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Empfängniss
+des Mythischen unmöglich ist; denn der Mythus will als ein einziges
+Exempel einer in's Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und
+Wahrheit anschaulich empfunden werden. Die wahrhaft dionysische
+Musik tritt uns als ein solcher allgemeiner Spiegel des Weltwillens
+gegenüber: jenes anschauliche Ereigniss, das sich in diesem Spiegel
+bricht, erweitert sich sofort für unser Gefühl zum Abbilde einer
+ewigen Wahrheit. Umgekehrt wird ein solches anschauliches Ereigniss
+durch die Tonmalerei des neueren Dithyrambus sofort jedes mythischen
+Charakters entkleidet; jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbilde der
+Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung
+selbst: durch welche Armuth sie für unsere Empfindung die Erscheinung
+selbst noch herabzieht, so dass jetzt z.B. eine derartig musikalisch
+imitirte Schlacht sich in Marschlärm, Signalklängen u.s.w. erschöpft,
+und unsere Phantasie gerade bei diesen Oberflächlichkeiten
+festgehalten wird. Die Tonmalerei ist also in jeder Beziehung das
+Gegenstück zu der mythenschaffenden Kraft der wahren Musik: durch
+sie wird die Erscheinung noch ärmer als sie ist, während durch
+die dionysische Musik die einzelne Erscheinung sich zum Weltbilde
+bereichert und erweitert. Es war ein mächtiger Sieg des undionysischen
+Geistes, als er, in der Entfaltung des neueren Dithyrambus, die
+Musik sich selbst entfremdet und sie zur Sclavin der Erscheinung
+herabgedrückt hatte. Euripides, der in einem höhern Sinne eine
+durchaus unmusikalische Natur genannt werden muss, ist aus eben
+diesem Grunde leidenschaftlicher Anhänger der neueren dithyrambischen
+Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Räubers alle ihre
+Effectstücke und Manieren.
+
+Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses undionysischen,
+gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thätigkeit, wenn wir unsere
+Blicke auf das Ueberhandnehmen der Charakterdarstellung und des
+psychologischen Raffinements in der Tragödie von Sophokles ab richten.
+Der Charakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern lassen,
+sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge und Schattirungen,
+durch feinste Bestimmtheit aller Linien individuell wirken, dass
+der Zuschauer überhaupt nicht mehr den Mythus, sondern die mächtige
+Naturwahrheit und die Imitationskraft des Künstlers empfindet. Auch
+hier gewahren wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und
+die Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir
+athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher die
+wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künstlerische
+Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung auf der Linie des
+Charakteristischen geht schnell weiter: während noch Sophokles ganze
+Charactere malt und zu ihrer raffinirten Entfaltung den Mythus
+ins Joch spannt, malt Euripides bereits nur noch grosse einzelne
+Charakterzüge, die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen;
+in der neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit einem
+Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, verschmitzte Sclaven
+in unermüdlicher Wiederholung. Wohin ist jetzt der mythenbildende
+Geist der Musik? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entweder
+Aufregungs- oder Erinnerungsmusik d.h. entweder ein Stimulanzmittel
+für stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere
+kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an: schon bei Euripides
+geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst zu singen anfangen, recht
+lüderlich zu; wohin mag es bei seinen frechen Nachfolgern gekommen
+sein?
+
+Am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neue undionysische Geist
+in den Schlüssen der neueren Dramen. In der alten Tragödie war der
+metaphysische Trost am Ende zu spüren gewesen, ohne den die Lust
+an der Tragödie überhaupt nicht zu erklären ist; am reinsten tönt
+vielleicht im Oedipus auf Kolonos der versöhnende Klang aus einer
+anderen Welt. Jetzt, als der Genius der Musik aus der Tragödie
+entflohen war, ist, im strengen Sinne, die Tragödie todt: denn woher
+sollte man jetzt jenen metaphysischen Trost schöpfen können? Man
+suchte daher nach einer irdischen Lösung der tragischen Dissonanz;
+der Held, nachdem er durch das Schicksal hinreichend gemartert war,
+erntete in einer stattlichen Heirat, in göttlichen Ehrenbezeugungen
+einen wohlverdienten Lohn. Der Held war zum Gladiator geworden, dem
+man, nachdem er tüchtig geschunden und mit Wunden überdeckt war,
+gelegentlich die Freiheit schenkte. Der deus ex machina ist an Stelle
+des metaphysischen Trostes getreten. Ich will nicht sagen, dass die
+tragische Weltbetrachtung überall und völlig durch den andrängenden
+Geist des Undionysischen zerstört wurde: wir wissen nur, dass sie
+sich aus der Kunst gleichsam in die Unterwelt, in einer Entartung
+zum Geheimcult, flüchten musste. Aber auf dem weitesten Gebiete der
+Oberfläche des hellenischen Wesens wüthete der verzehrende Hauch jenes
+Geistes, welcher sich in jener Form der "griechischen Heiterkeit"
+kundgiebt, von der bereits früher, als von einer greisenhaft
+unproductiven Daseinslust, die Rede war; diese Heiterkeit ist ein
+Gegenstück zu der herrlichen "Naivetät" der älteren Griechen, wie sie,
+nach der gegebenen Charakteristik, zu fassen ist als die aus einem
+düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüthe der apollinischen Cultur, als
+der Sieg, den der hellenische Wille durch seine Schönheitsspiegelung
+über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt. Die
+edelste Form jener anderen Form der "griechischen Heiterkeit", der
+alexandrinischen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen:
+sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus
+dem Geiste des Undionysischen ableitete - dass sie die dionysische
+Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzulösen trachtet,
+dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische
+Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott
+der Maschinen und Schmelztiegel, d.h. die im Dienste des höheren
+Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister, dass
+sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die
+Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande
+ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren
+Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: "Ich
+will dich: du bist werth erkannt zu werden".
+
+
+18.
+
+Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel,
+durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im
+Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die
+sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige
+Wunde des Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen
+Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst, jenen
+wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der
+Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst: um von den
+gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in
+jedem Augenblick bereithält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen
+sind überhaupt nur für die edler ausgestatteten Naturen, von denen die
+Last und Schwere des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden
+wird und die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust
+hinwegzutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir
+Cultur nennen: je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine
+vorzugsweise sokratische oder künstlerische oder tragische Cultur:
+oder wenn man historische Exemplificationen erlauben will: es giebt
+entweder eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine
+buddhaistische Cultur.
+
+Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur
+befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften
+ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen
+Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere
+Erziehungsmittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere
+Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht
+als beabsichtigte Existenz. In einem fast erschreckenden Sinne ist
+hier eine lange Zeit der Gebildete allein in der Form des Gelehrten
+gefunden worden; selbst unsere dichterischen Künste haben sich aus
+gelehrten Imitationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des
+Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen Form aus
+künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen, recht eigentlich
+gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste einem ächten Griechen der
+an sich verständliche moderne Culturmensch Faust erscheinen, der durch
+alle Facultäten unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und
+dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates
+zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch die Grenzen
+jener sokratischen Erkenntnisslust zu ahnen beginnt und aus dem weiten
+wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu
+Eckermann, mit Bezug auf Napoleon, äussert: "Ja mein Guter, es giebt
+auch eine Productivität der Thaten", so hat er, in anmuthig naiver
+Weise, daran erinnert, dass der nicht theoretische Mensch für den
+modernen Menschen etwas Unglaubwürdiges und Staunenerregendes ist,
+so dass es wieder der Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so
+befremdende Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu finden.
+
+Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse dieser
+sokratischen Cultur verborgen liegt! Der unumschränkt sich wähnende
+Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses
+Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Cultur bis in die
+niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich
+unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an
+das Erdenglück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen
+allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende Forderung eines
+solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörung eines
+Euripideischen deus ex machina umschlägt! Man soll es merken: die
+alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer
+existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen
+Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes
+und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs und
+Beruhigungsworte von der "Würde des Menschen" und der "Würde der
+Arbeit" verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung
+entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen
+Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten
+gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle
+Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, solchen drohenden Stürmen
+entgegen, sicheren Muthes an unsere blassen und ermüdeten Religionen
+zu appelliren, die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen
+entartet sind: so dass der Mythus, die nothwendige Voraussetzung jeder
+Religion, bereits überall gelähmt ist, und selbst auf diesem Bereich
+jener optimistische Geist zur Herrschaft gekommen ist, den wir als den
+Vernichtungskeim unserer Gesellschaft eben bezeichnet haben.
+
+Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlummernde Unheil
+allmählich den modernen Menschen zu ängstigen beginnt, und er,
+unruhig, aus dem Schatze seiner Erfahrungen nach Mitteln greift, um
+die Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben;
+während er also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt:
+haben grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen
+Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen
+gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt
+darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale
+Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem
+Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt
+wurde, welche, an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste
+Wesen der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit und
+Weisheit Kant's und Schopenhauer's ist der schwerste Sieg gelungen,
+der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus,
+der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die
+Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf
+die ihm unbedenklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit
+und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster
+Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich nur
+dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen
+und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten
+und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss
+von diesem dadurch unmöglich zu machen, d.h., nach einem
+Schopenhauer'schen Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern
+(W. a. W. u. V. I, p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur
+eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren
+wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als
+höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch
+die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem
+Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige
+Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu
+ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit
+dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug ins
+Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die
+stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen
+jenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen "resolut
+zu leben": sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch
+dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken,
+eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie
+als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss:
+
+ Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,
+ In's Leben ziehn die einzigste Gestalt?
+
+Nachdem aber die sokratische Cultur von zwei Seiten aus erschüttert
+ist und das Scepter ihrer Unfehlbarkeit nur noch mit zitternden Händen
+zu halten vermag, einmal aus Furcht vor ihren eigenen Consequenzen,
+die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der
+ewigen Gültigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem früheren naiven
+Zutrauen überzeugt ist: so ist es ein trauriges Schauspiel, wie sich
+der Tanz ihres Denkens sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt,
+um sie zu umarmen, und sie dann plötzlich wieder, wie Mephistopheles
+die verführerischen Lamien, schaudernd fahren lässt. Das ist ja das
+Merkmal jenes "Bruches", von dem Jedermann als von dem Urleiden der
+modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch vor
+seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt
+sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich
+läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch
+mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das
+optimistische Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur,
+die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde
+gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden d.h. vor ihren
+Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst offenbart diese
+allgemeine Noth: umsonst dass man sich an alle grossen productiven
+Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze
+"Weltlitteratur" zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt
+und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten
+hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe: er
+bleibt doch der ewig Hungernde, der "Kritiker" ohne Lust und Kraft,
+der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector
+ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet.
+
+
+19.
+
+Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur nicht
+schärfer bezeichnen, als wenn man sie die Cultur der Oper nennt: denn
+auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit eigener Naivetät über ihr
+Wollen und Erkennen ausgesprochen, zu unserer Verwunderung, wenn wir
+die Genesis der Oper und die Thatsachen der Opernentwicklung mit
+den ewigen Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen
+zusammenhalten. Ich erinnere zunächst an die Entstehung des stilo
+rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass diese
+gänzlich veräusserlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von
+einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleichsam als die Wiedergeburt
+aller wahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich
+soeben die unaussprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina's
+erhoben hatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige
+Ueppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer
+dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende Lust an der
+Oper verantwortlich machen? Dass in derselben Zeit, ja in demselben
+Volke neben dem Gewölbebau Palestrinischer Harmonien, an dem das
+gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für
+eine halbmusikalisch Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer
+im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkünstlerischen Tendenz zu
+erklären.
+
+Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich vernehmen will,
+entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr spricht als singt und dass
+er den pathetischen Wortausdruck in diesem Halbgesange verschärft:
+durch diese Verschärfung des Pathos erleichtert er das Verständniss
+des Wortes und überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die
+eigentliche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik
+einmal zur Unzeit das Obergewicht ertheilt, wodurch sofort Pathos
+der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde gehen müsste: während
+er andrerseits immer den Trieb zu musikalischer Entladung und zu
+virtuosenhafter Präsentation seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm
+der "Dichter" zu Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen
+Interjectionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u.s.w. zu bieten
+weiss: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem rein musikalischen
+Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort, ausruhen kann. Dieser Wechsel
+affectvoll eindringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganz
+gesungener Interjection, der im Wesen des stilo rappresentativo
+liegt, dies rasch wechselnde Bemühen, bald auf den Begriff und
+die Vorstellung, bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu
+wirken, ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des
+Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so innerlich
+Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung des Recitativs zu
+schliessen hat, der ausserhalb aller künstlerischen Instincte liegt.
+Das Recitativ ist nach dieser Schilderung zu definiren als die
+Vermischung des epischen und des lyrischen Vortrags und zwar
+keinesfalls die innerlich beständige Mischung, die bei so gänzlich
+disparaten Dingen nicht erreicht werden konnte, sondern die
+äusserlichste mosaikartige Conglutination, wie etwas Derartiges im
+Bereich der Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. Dies war
+aber nicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs: vielmehr glauben
+sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch jenen stilo
+rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik gelöst sei, aus dem
+sich allein die ungeheure Wirkung eines Orpheus, Amphion, ja auch
+der griechischen Tragödie erklären lasse. Der neue Stil galt als die
+Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen:
+ja man durfte sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen
+Auffassung der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume
+überlassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Menschheit
+hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene
+unübertroffne Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben müsste,
+von der die Dichter in ihren Schäferspielen so rührend zu erzählen
+wussten. Hier sehen wir in das innerlichste Werden dieser recht
+eigentlich modernen Kunstgattung, der Oper: ein mächtiges Bedürfniss
+erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedürfniss unaesthetischer
+Art: die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche
+Existenz des künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt
+als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper als das
+wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch guten Wesens,
+das zugleich in allen seinen Handlungen einem natürlichen Kunsttriebe
+folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um,
+bei der leisesten Gefühlserregung, sofort mit voller Stimme zu singen.
+Es ist für uns jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaffnen
+Bilde des paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen
+die alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und verlornen
+Menschen ankämpften: so dass die Oper als das Oppositionsdogma vom
+guten Menschen zu verstehen ist, mit dem aber zugleich ein Trostmittel
+gegen jenen Pessimismus gefunden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten
+jener Zeit, bei der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am
+stärksten gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der
+eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunstform in der
+Befriedigung eines gänzlich unaesthetischen Bedürfnisses liegt, in der
+optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung
+des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen:
+welches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und
+entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der
+socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhören
+können. Der "gute Urmensch" will seine Rechte: welche paradiesischen
+Aussichten!
+
+Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung meiner
+Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien mit unserer
+alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper ist die Geburt des
+theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Künstlers:
+eine der befremdlichsten Thatsachen in der Geschichte aller Künste. Es
+war die Forderung recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man
+vor allem das Wort verstehen müsse: so dass eine Wiedergeburt der
+Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Gesangesweise
+entdecken werde, bei welcher das Textwort über den Contrapunkt wie der
+Herr über den Diener herrsche. Denn die Worte seien um so viel edler
+als das begleitende harmonische System, um wie viel die Seele edler
+als der Körper sei. Mit der laienhaft unmusikalischen Rohheit dieser
+Ansichten wurde in den Anfängen der Oper die Verbindung von Musik,
+Bild und Wort behandelt; im Sinne dieser Aesthetik kam es auch in den
+vornehmen Laienkreisen von Florenz, durch hier patronisirte Dichter
+und Sänger, zu den ersten Experimenten. Der kunstohnmächtige Mensch
+erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch, dass er der
+unkünstlerische Mensch an sich ist. Weil er die dionysische Tiefe
+der Musik nicht ahnt, verwandelt er sich den Musikgenuss zur
+verstandesmässigen Wort- und Tonrhetorik der Leidenschaft im stilo
+rappresentativo und zur Wohllust der Gesangeskünste; weil er
+keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinisten und
+Decorationskünstler in seinen Dienst; weil er das wahre Wesen
+des Künstlers nicht zu erfassen weiss, zaubert er vor sich den
+"künstlerischen Urmenschen" nach seinem Geschmack hin d.h. den
+Menschen, der in der Leidenschaft singt und Verse spricht. Er träumt
+sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um
+Gesänge und Dichtungen zu erzeugen: als ob jeder Affect im Stande
+gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen. Die Voraussetzung der
+Oper ist ein falscher Glaube über den künstlerischen Prozess und zwar
+jener idyllische Glaube, dass eigentlich jeder empfindende Mensch
+Künstler sei. Im Sinne dieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des
+Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismus
+des theoretischen Menschen dictirt.
+
+Sollten wir wünschen, die beiden eben geschilderten, bei der
+Entstehung der Oper wirksamen Vorstellungen unter einen Begriff zu
+vereinigen, so würde uns nur übrig bleiben, von einer idyllischen
+Tendenz der Oper zu sprechen: wobei wir uns allein der Ausdrucksweise
+und Erklärung Schillers zu bedienen hätten. Entweder, sagt dieser,
+ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als
+verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein
+Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das
+erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester
+Bedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal jener beiden
+Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam zu machen, dass in ihnen
+das Ideal nicht als unerreicht, die Natur nicht als verloren empfunden
+wird. Es gab nach dieser Empfindung eine Urzeit des Menschen, in der
+er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das
+Ideal der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstlerschaft,
+erreicht hatte: von welchem vollkommnen Urmenschen wir alle abstammen
+sollten, ja dessen getreues Ebenbild wir noch wären: nur müssten wir
+Einiges von uns werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu
+erkennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von überflüssiger
+Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur. Der Bildungsmensch der
+Renaissance liess sich durch seine opernhafte Imitation der
+griechischen Tragödie zu einem solchen Zusammenklang von Natur und
+Ideal, zu einer idyllischen Wirklichkeit zurückgeleiten, er benutzte
+diese Tragödie, wie Dante den Virgil benutzte, um bis an die Pforten
+des Paradieses geführt zu werden: während er von hier aus selbständig
+noch weiter schritt und von einer Imitation der höchsten griechischen
+Kunstform zu einer "Wiederbringung aller Dinge", zu einer Nachbildung
+der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen überging. Welche
+zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwegenen Bestrebungen, mitten
+im Schoosse der theoretischen Cultur! - einzig nur aus dem tröstenden
+Glauben zu erklären, dass "der Mensch an sich" der ewig tugendhafte
+Opernheld, der ewig flötende oder singende Schäfer sei, der sich
+endlich immer als solchen wiederfinden müsse, falls er sich selbst
+irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig
+die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokratischen
+Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische Duftsäule
+emporsteigt.
+
+Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener elegische
+Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiterkeit des ewigen
+Wiederfindens, die bequeme Lust an einer idyllischen Wirklichkeit, die
+man wenigstens sich als wirklich in jedem Augenblicke vorstellen kann:
+wobei man vielleicht einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit
+nichts als ein phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der
+es an dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit den
+eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu vergleichen vermöchte,
+mit Ekel zurufen müsste: Weg mit dem Phantom! Trotzdem würde man sich
+täuschen, wenn man glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die
+Oper ist, einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst,
+verscheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den Kampf
+gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die sich in ihr so
+naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht, ja deren eigentliche
+Kunstform sie ist. Was ist aber für die Kunst selbst von dem Wirken
+einer Kunstform zu erwarten, deren Ursprünge überhaupt nicht im
+aesthetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halb
+moralischen Sphäre auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen
+hat und über diese hybride Entstehung nur hier und da einmal
+hinwegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährt sich dieses
+parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen der wahren Kunst?
+Wird nicht zu muthmaassen sein, dass, unter seinen idyllischen
+Verführungen, unter seinen alexandrinischen Schmeichelkünsten, die
+höchste und wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst - das Auge
+vom Blick in's Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den
+heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu
+retten - zu einer leeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz
+entarten werde? Was wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen
+und des Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie
+am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe? wo die Musik als
+Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit dem Körper,
+das Textwort mit der Seele verglichen wird? wo das höchste Ziel
+bestenfalls auf eine umschreibende Tonmalerei gerichtet sein wird,
+ähnlich wie ehedem im neuen attischen Dithyrambus? wo der Musik ihre
+wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet
+ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung, das
+Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem Spiele der Linien
+und Proportionen eine äusserliche Ergetzung zu erregen. Einer strengen
+Betrachtung fällt dieser verhängnissvolle Einfluss der Oper auf die
+Musik geradezu mit der gesammten modernen Musikentwicklung zusammen;
+dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsentirten
+Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender Schnelligkeit
+gelungen, die Musik ihrer dionysischen Weltbestimmung zu entkleiden
+und ihr einen formenspielerischen, vergnüglichen Charakter
+aufzuprägen: mit welcher Veränderung nur etwa die Metamorphose des
+aeschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen
+verglichen werden dürfte.
+
+Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten Exemplification
+das Entschwinden des dionysischen Geistes mit einer höchst
+auffälligen, aber bisher unerklärten Umwandlung und Degeneration
+des griechischen Menschen in Zusammenhang gebracht haben - welche
+Hoffnungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten
+Auspicien den umgekehrten Prozess, das allmähliche Erwachen des
+dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! Es ist
+nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen
+Frohndienste der Omphale erschlafft. Aus dem dionysischen Grunde
+des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den
+Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus
+ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr
+von dieser Cultur als das Schrecklich Unerklärliche, als das
+Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir
+sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven,
+von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. Was vermag die
+erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage günstigsten Falls mit diesem
+aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigenden Dämon zu beginnen? Weder
+von dem Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelodie aus, noch mit Hülfe
+des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der contrapunktischen
+Dialektik will sich die Formel finden lassen, in deren dreimal
+gewaltigem Licht man jenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum
+Reden zu zwingen vermöchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere
+Aesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen "Schönheit", nach
+dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musikgenius
+schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach der ewigen Schönheit
+ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt werden wollen. Man mag
+sich nur diese Musikgönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen,
+wenn sie so unermüdlich Schönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich
+dabei wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten
+Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht vielmehr für
+die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne
+empfindungsarme Nüchternheit einen aesthetischen Vorwand suchen: wobei
+ich z.B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag sich
+der Lügner und Heuchler in Acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten
+aller unserer Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde
+Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen
+Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen:
+alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal
+vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen.
+
+Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden
+Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es
+ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen
+Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch
+diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der
+ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als
+die in Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen können: wohin
+weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik
+und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform,
+über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend
+unterrichten können? Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns,
+die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen,
+das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und
+Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind: nur dass
+wir gleichsam in umgekehrter Ordnung die grossen Hauptepochen des
+hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt
+aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tragödie
+zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfindung, als ob die
+Geburt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine
+Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten
+habe, nachdem für eine lange Zeit ungeheure von aussen her
+eindringende Mächte den in hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden
+zu einer Knechtschaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich
+darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen
+Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer romanischen
+Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er nur von einem Volke
+unentwegt zu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu können
+schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist, von den
+Griechen. Und wann brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr
+als jetzt, wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erleben und in Gefahr
+sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu können,
+wohin sie will?
+
+
+20.
+
+Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen Richters,
+abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen Männern bisher der
+deutsche Geist von den Griechen zu lernen am kräftigsten gerungen hat;
+und wenn wir mit Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe
+Goethe's, Schiller's und Winckelmann's dieses einzige Lob zugesprochen
+werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen, dass seit jener
+Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes Kampfes, das Streben auf
+einer gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen, in
+unbegreiflicher Weise schwächer und schwächer geworden ist. Sollten
+wir, um nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen, nicht
+daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend welchem Hauptpunkte
+es auch jenen Kämpfern nicht gelungen sein möchte, in den Kern des
+hellenischen Wesens einzudringen und einen dauernden Liebesbund
+zwischen der deutschen und der griechischen Cultur herzustellen? So
+dass vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in den
+ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie, nach solchen
+Vorgängern, auf diesem Bildungswege noch weiter wie jene und überhaupt
+zum Ziele kommen würden. Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil
+über den Werth der Griechen für die Bildung in der bedenklichsten
+Weise entarten; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den
+verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu hören;
+anderwärts tändelt eine gänzlich wirkungslose Schönrednerei mit
+der "griechischen Harmonie", der "griechischen Schönheit", der
+"griechischen Heiterkeit". Und gerade in den Kreisen, deren Würde
+es sein könnte, aus dem griechischen Strombett unermüdet, zum Heile
+deutscher Bildung, zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den
+höheren Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den
+Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufinden, nicht selten bis zu
+einem sceptischen Preisgeben des hellenischen Ideals und bis zu einer
+gänzlichen Verkehrung der wahren Absicht aller Alterthumsstudien.
+Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein
+zuverlässiger Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer
+Sprachmikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht
+auch das griechische Alterthum, neben anderen Alterthümern, sich
+"historisch" anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode und mit den
+überlegenen Mienen unserer jetzigen gebildeten Geschichtsschreibung.
+Wenn demnach die eigentliche Bildungskraft der höheren Lehranstalten
+wohl noch niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in
+der Gegenwart, wenn der "Journalist", der papierne Sclave des Tages,
+in jeder Rücksicht auf Bildung den Sieg über den höheren Lehrer
+davongetragen hat, und Letzterem nur noch die bereits oft erlebte
+Metamorphose übrig bleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise des
+Journalisten, mit der "leichten Eleganz" dieser Sphäre, als heiterer
+gebildeter Schmetterling zu bewegen - in welcher peinlichen Verwirrung
+müssen die derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes
+Phänomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher
+unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre, das
+Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wiedergeburt der
+Tragödie? Es giebt keine andere Kunstperiode, in der sich die
+sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst so befremdet und
+abgeneigt gegenübergestanden hätten, als wir das in der Gegenwart mit
+Augen sehn. Wir verstehen es, warum eine so schwächliche Bildung die
+wahre Kunst hasst; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber
+sollte nicht eine ganze Art der Cultur, nämlich jene sokratisch-
+alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine so
+zierlich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung ist,
+auslaufen konnte! Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe,
+nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in
+den hellenischen Zauberberg führt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen
+nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem sehnsüchtigen Blick, den
+die Goethische Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat
+über das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher Helden zu
+hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganz anderen, von
+allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührten Seite die Pforte
+von selbst aufthäte - unter dem mystischen Klange der wiedererweckten
+Tragödienmusik.
+
+Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch bevorstehende
+Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu verkümmern suchen; denn in
+ihm finden wir allein unsre Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung
+des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wüssten wir
+sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur
+irgend welche tröstliche Erwartung für die Zukunft erwecken könnte?
+Vergebens spähen wir nach einer einzigen kräftig geästeten Wurzel,
+nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub,
+Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos
+Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter mit
+Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten
+Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg,
+unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoffnungslos, allein
+mit Ross und Hund zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war
+unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die
+Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. -
+
+Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster geschilderte
+Wildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der dionysische Zauber
+berührt! Ein Sturmwind packt alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne,
+Verkümmerte, hüllt es wirbelnd in eine rothe Staubwolke und trägt es
+wie ein Geier in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem
+Entschwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkung
+an's goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so üppig lebendig,
+so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tragödie sitzt inmitten dieses
+Ueberflusses an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie
+horcht einem fernen schwermüthigen Gesange - er erzählt von den
+Müttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. - Ja,
+meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die
+Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist
+vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und
+wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren
+Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn
+ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien
+nach Griechenland geleiten! Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt
+an die Wunder eures Gottes!
+
+
+21.
+
+Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurückgleitend, die
+dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass nur von den Griechen
+gelernt werden kann, was ein solches wundergleiches plötzliches
+Aufwachen der Tragödie für den innersten Lebensgrund eines Volkes
+zu bedeuten hat. Es ist das Volk der tragischen Mysterien, das die
+Perserschlachten schlägt: und wiederum braucht das Volk, das jene
+Kriege geführt hat, die Tragödie als nothwendigen Genesungstrank. Wer
+würde gerade bei diesem Volke, nachdem es durch mehrere Generationen
+von den stärksten Zuckungen des dionysischen Dämon bis in's Innerste
+erregt wurde, noch einen so gleichmässig kräftigen Erguss des
+einfachsten politischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte,
+der ursprünglichen männlichen Kampflust vermuthen? Ist es doch bei
+jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer Erregungen immer zu
+spüren, wie die dionysische Lösung von den Fesseln des Individuums
+sich am allerersten in einer bis zur Gleichgültigkeit, ja
+Feindseligkeit gesteigerten Beeinträchtigung der politischen Instincte
+fühlbar macht, so gewiss andererseits der staatenbildende Apollo auch
+der Genius des principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn
+nicht ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit leben können.
+Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum
+indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht in's
+Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit
+ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf: wie diese
+wiederum eine Philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche
+Unlust der Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden.
+Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten Geltung der
+politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster Verweltlichung, deren
+grossartigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck das römische
+imperium ist.
+
+Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführerischer Wahl
+gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in classischer Reinheit
+eine dritte Form hinzuzuerfinden, freilich nicht zu langem eigenen
+Gebrauche, aber eben darum für die Unsterblichkeit. Denn dass die
+Lieblinge der Götter früh sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so
+gewiss, dass sie mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch
+von dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des
+Leders habe; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z.B. dem römischen
+Nationaltriebe zu eigen war, gehört wahrscheinlich nicht zu den
+nothwendigen Prädicaten der Vollkommenheit. Wenn wir aber fragen, mit
+welchem Heilmittel es den Griechen ermöglicht war, in ihrer grossen
+Zeit, bei der ausserordentlichen Stärke ihrer dionysischen und
+politischen Triebe, weder durch ein ekstatisches Brüten, noch
+durch ein verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu
+erschöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie sie
+ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender Wein
+hat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volksleben erregenden,
+reinigenden und entladenden Gewalt der Tragödie eingedenk sein; deren
+höchsten Werth wir erst ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den
+Griechen, als Inbegriff aller prophylaktischen Heilkräfte, als die
+zwischen den stärksten und an sich verhängnissvollsten Eigenschaften
+des Volkes waltende Mittlerin entgegentritt.
+
+Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich hinein, so dass
+sie geradezu die Musik, bei den Griechen, wie bei uns, zur Vollendung
+bringt, stellt dann aber den tragischen Mythus und den tragischen
+Helden daneben, der dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze
+dionysische Welt auf seinen Rücken nimmt und uns davon entlastet:
+während sie andrerseits durch denselben tragischen Mythus, in der
+Person des tragischen Helden, von dem gierigen Drange nach diesem
+Dasein zu erlösen weiss, und mit mahnender Hand an ein anderes Sein
+und an eine höhere Lust erinnert, zu welcher der kämpfende Held
+durch seinen Untergang, nicht durch seine Siege sich ahnungsvoll
+vorbereitet. Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung
+ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes
+Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob die
+Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen
+Welt des Mythus sei. Dieser edlen Täuschung vertrauend darf sie jetzt
+ihre Glieder zum dithyrambischen Tanze bewegen und sich unbedenklich
+einem orgiastischen Gefühle der Freiheit hingeben, in welchem sie als
+Musik an sich, ohne jene Täuschung, nicht zu schwelgen wagen dürfte.
+Der Mythus schützt uns vor der Musik, wie er ihr andrerseits erst die
+höchste Freiheit giebt. Dafür verleiht die Musik, als Gegengeschenk,
+dem tragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende
+metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige
+Hülfe, nie zu erreichen vermögen; und insbesondere überkommt durch sie
+den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefühl einer höchsten
+Lust, zu der der Weg durch Untergang und Verneinung führt, so dass
+er zu hören meint, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm
+vernehmlich spräche.
+
+Habe ich dieser schwierigen Vorstellung mit den letzten Sätzen
+vielleicht nur einen vorläufigen, für Wenige sofort verständlichen
+Ausdruck zu geben vermocht, so darf ich gerade an dieser Stelle nicht
+ablassen, meine Freunde zu einem nochmaligen Versuche anzureizen
+und sie zu bitten, an einem einzelnen Beispiele unsrer gemeinsamen
+Erfahrung sich für die Erkenntniss des allgemeinen Satzes
+vorzubereiten. Bei diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene
+beziehn, welche die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und
+Affecte der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hülfe
+der Musikempfindung anzunähern; denn diese alle reden nicht Musik als
+Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe, nicht weiter als in
+die Vorhallen der Musikperception, ohne je deren innerste Heiligthümer
+berühren zu dürfen; manche von diesen, wie Gervinus, gelangen auf
+diesem Wege nicht einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen
+habe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in
+ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur
+durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung stehen. An diese ächten
+Musiker richte ich die Frage, ob sie sich einen Menschen denken
+können, der den dritten Act von "Tristan und Isolde" ohne alle
+Beihülfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu
+percipiren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen
+aller Seelenflügel zu verathmen? Ein Mensch, der wie hier das Ohr
+gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das
+rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten
+zerstäubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen
+fühlt, er sollte nicht jählings zerbrechen? Er sollte es ertragen,
+in der elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, den
+Wiederklang zahlloser Lust - und Weherufe aus dem "weiten Raum der
+Weltennacht" zu vernehmen, ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysik
+sich seiner Urheimat unaufhaltsam zuzuflüchten? Wenn aber doch ein
+solches Werk als Ganzes percipirt werden kann, ohne Verneinung der
+Individualexistenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen werden
+konnte, ohne ihren Schöpfer zu zerschmettern - woher nehmen wir die
+Lösung eines solchen Widerspruches?
+
+Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung und jene Musik
+der tragische Mythus und der tragische Held, im Grunde nur als
+Gleichniss der alleruniversalsten Thatsachen, von denen allein die
+Musik auf directem Wege reden kann. Als Gleichniss würde nun aber
+der Mythus, wenn wir als rein dionysische Wesen empfänden, gänzlich
+wirkungslos und unbeachtet neben uns stehen bleiben, und uns keinen
+Augenblick abwendig davon machen, unser Ohr dem Wiederklang der
+universalia ante rem zu bieten. Hier bricht jedoch die apollinische
+Kraft, auf Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums
+gerichtet, mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Täuschung hervor:
+plötzlich glauben wir nur noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos
+und dumpf sich fragt: "die alte Weise; was weckt sie mich?" Und was
+uns früher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seins
+anmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie "öd und leer das
+Meer." Und wo wir athemlos zu erlöschen wähnten, im krampfartigen
+Sichausrecken aller Gefühle, und nur ein Weniges uns mit dieser
+Existenz zusammenknüpfte, hören und sehen wir jetzt nur den zum
+Tode verwundeten und doch nicht sterbenden Helden, mit seinem
+verzweiflungsvollen Rufe: "Sehnen! Sehnen! Im Sterben mich zu sehnen,
+vor Sehnsucht nicht zu sterben!" Und wenn früher der Jubel des Horns
+nach solchem Uebermaass und solcher Ueberzahl verzehrender Qualen
+fast wie der Qualen höchste uns das Herz zerschnitt, so steht jetzt
+zwischen uns und diesem "Jubel an sich" der jauchzende Kurwenal, dem
+Schiffe, das Isolden trägt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden
+in uns hineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das
+Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild des Mythus
+uns vor dem unmittelbaren Anschauen der höchsten Weltidee, wie der
+Gedanke und das Wort uns vor dem ungedämmten Ergusse des unbewussten
+Willens rettet. Durch jene herrliche apollinische Täuschung dünkt es
+uns, als ob uns selbst das Tonreich wie eine plastische Welt gegenüber
+träte, als ob auch in ihr nur Tristan's und Isoldens Schicksal, wie
+in einem allerzartesten und ausdrucksfähigsten Stoffe, geformt und
+bildnerisch ausgeprägt worden sei.
+
+So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit
+und entzückt uns für die Individuen; an diese fesselt es unsre
+Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen
+und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn; es führt an uns
+Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in
+ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes,
+des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung
+reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen
+Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des
+dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes
+Weltbild, z.B. Tristan und Isolde, sehe und es, durch die Musik,
+nur noch besser und innerlicher sehen solle. Was vermag nicht der
+heilkundige Zauber des Apollo, wenn er selbst in uns die Täuschung
+aufregen kann, als ob wirklich das Dionysische, im Dienste des
+Apollinischen, dessen Wirkungen zu steigern vermöchte, ja als ob die
+Musik sogar wesentlich Darstellungskunst für einen apollinischen
+Inhalt sei?
+
+Bei jener prästabilirten Harmonie, die zwischen dem vollendeten Drama
+und seiner Musik waltet, erreicht das Drama einen höchsten, für
+das Wortdrama sonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit. Wie
+alle lebendigen Gestalten der Scene in den selbständig bewegten
+Melodienlinien sich zur Deutlichkeit der geschwungenen Linie vor
+uns vereinfachen, ertönt uns das Nebeneinander dieser Linien in
+dem mit dem bewegten Vorgange auf zarteste Weise sympathisirenden
+Harmonienwechsel: durch welchen uns die Relationen der Dinge in
+sinnlich wahrnehmbarer, keinesfalls abstracter Weise, unmittelbar
+vernehmbar werden, wie wir gleichfalls durch ihn erkennen, dass
+erst in diesen Relationen das Wesen eines Charakters und einer
+Melodienlinie sich rein offenbare. Und während uns so die Musik
+zwingt, mehr und innerlicher als sonst zu sehen, und den Vorgang der
+Scene wie ein zartes Gespinnst vor uns auszubreiten, ist für unser
+vergeistigtes, in's Innere blickendes Auge die Welt der Bühne eben so
+unendlich erweitert als von innen heraus erleuchtet. Was vermöchte der
+Wortdichter Analoges zu bieten, der mit einem viel unvollkommneren
+Mechanismus, auf indirectem Wege, vom Wort und vom Begriff aus, jene
+innerliche Erweiterung der schaubaren Bühnenwelt und ihre innere
+Erleuchtung zu erreichen sich abmüht? Nimmt nun zwar auch die
+musikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den
+Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das
+Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen.
+
+Aber von diesem geschilderten Vorgang wäre doch eben so bestimmt
+zu sagen, dass er nur ein herrlicher Schein, nämlich jene vorhin
+erwähnte apollinische Täuschung sei, durch deren Wirkung wir von
+dem dionysischen Andrange und Uebermaasse entlastet werden sollen.
+Im Grunde ist ja das Verhältniss der Musik zum Drama gerade das
+umgekehrte: die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama
+nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben.
+Jene Identität zwischen der Melodienlinie und der lebendigen Gestalt,
+zwischen der Harmonie und den Charakterrelationen jener Gestalt ist
+in einem entgegengesetzten Sinne wahr, als es uns, beim Anschauen der
+musikalischen Tragödie, dünken möchte. Wir mögen die Gestalt uns auf
+das Sichtbarste bewegen, beleben und von innen heraus beleuchten, sie
+bleibt immer nur die Erscheinung, von der es keine Brücke giebt, die
+in die wahre Realität, in's Herz der Welt führte. Aus diesem Herzen
+heraus aber redet die Musik; und zahllose Erscheinungen jener Art
+dürften an der gleichen Musik vorüberziehn, sie würden nie das Wesen
+derselben erschöpfen, sondern immer nur ihre veräusserlichten Abbilder
+sein. Mit dem populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und
+Körper ist freilich für das schwierige Verhältniss von Musik und Drama
+nichts zu erklären und alles zu verwirren; aber die unphilosophische
+Rohheit jenes Gegensatzes scheint gerade bei unseren Aesthetikern, wer
+weiss aus welchen Gründen, zu einem gern bekannten Glaubensartikel
+geworden zu sein, während sie über einen Gegensatz der Erscheinung
+und des Dinges an sich nichts gelernt haben oder, aus ebenfalls
+unbekannten Gründen, nichts lernen mochten.
+
+Sollte es sich bei unserer Analysis ergeben haben, dass das
+Apollinische in der Tragödie durch seine Täuschung völlig den Sieg
+über das dionysische Urelement der Musik davongetragen und sich diese
+zu ihren Absichten, nämlich zu einer höchsten Verdeutlichung des
+Drama's, nutzbar gemacht habe, so wäre freilich eine sehr wichtige
+Einschränkung hinzuzufügen: in dem allerwesentlichsten Punkte ist jene
+apollinische Täuschung durchbrochen und vernichtet. Das Drama, das in
+so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewegungen und Gestalten,
+mit Hülfe der Musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe
+am Webstuhl im Auf - und Niederzucken entstehen sehen - erreicht als
+Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen
+liegt. In der Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische
+wieder das Uebergewicht; sie schliesst mit einem Klange, der niemals
+von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit
+erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als
+die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der
+eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluss
+das apollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit
+dionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine
+apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige
+Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie
+durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren: Dionysus
+redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des
+Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt
+erreicht ist.
+
+
+22.
+
+Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer wahren
+musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach seinen Erfahrungen
+vergegenwärtigen. Ich denke das Phänomen dieser Wirkung nach beiden
+Seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sich seine eignen
+Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Er wird sich nämlich
+erinnern, wie er, im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus,
+zu einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt
+die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei, sondern
+in's Innere zu dringen vermöge, und als ob er die Wallungen des
+Willens, den Kampf der Motive, den anschwellenden Strom der
+Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der Musik, gleichsam sinnlich
+sichtbar, wie eine Fülle lebendig bewegter Linien und Figuren vor sich
+sehe und damit bis in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen
+hinabtauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung seiner auf
+Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe bewusst wird, fühlt
+er doch eben so bestimmt, dass diese lange Reihe apollinischer
+Kunstwirkungen doch nicht jenes beglückte Verharren in willenlosem
+Anschauen erzeugt, das der Plastiker und der epische Dichter, also
+die eigentlich apollinischen Künstler, durch ihre Kunstwerke bei
+ihm hervorbringen: das heisst die in jenem Anschauen erreichte
+Rechtfertigung der Welt der individuatio, als welche die Spitze und
+der Inbegriff der apollinischen Kunst ist. Er schaut die verklärte
+Welt der Bühne und verneint sie doch. Er sieht den tragischen Helden
+vor sich in epischer Deutlichkeit und Schönheit und erfreut sich doch
+an seiner Vernichtung. Er begreift bis in's Innerste den Vorgang
+der Scene und flüchtet sich gern in's Unbegreifliche. Er fühlt die
+Handlungen des Helden als gerechtfertigt und ist doch noch mehr
+erhoben, wenn diese Handlungen den Urheber vernichten. Er schaudert
+vor den Leiden, die den Helden treffen werden und ahnt doch bei ihnen
+eine höhere, viel übermächtigere Lust. Er schaut mehr und tiefer als
+je und wünscht sich doch erblindet. Woher werden wir diese wunderbare
+Selbstentzweiung, dies Umbrechen der apollinischen Spitze, abzuleiten
+haben, wenn nicht aus dem dionysischen Zauber, der, zum Schein die
+apollinischen Regungen auf's Höchste reizend, doch noch diesen
+Ueberschwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zu zwingen
+vermag. Der tragische Mythus ist nur zu verstehen als eine
+Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel;
+er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst
+verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität
+zurückzuflüchten sucht; wo sie dann, mit Isolden, ihren metaphysischen
+Schwanengesang also anzustimmen scheint:
+
+ In des Wonnemeeres
+ wogendem Schwall,
+ in der Duft - Wellen
+ tönendem Schall,
+ in des Weltathems
+ wehendem All
+ ertrinken - versinken
+ unbewusst - höchste Lust!
+
+So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft
+aesthetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er, gleich
+einer üppigen Gottheit der individuatio, seine Gestalten schafft, in
+welchem Sinne sein Werk kaum als "Nachahmung der Natur" zu begreifen
+wäre - wie dann aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze
+Welt der Erscheinungen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre
+Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse des
+Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser Rückkehr zur
+Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der
+Tragödie und von der sowohl apollinischen als dionysischen Erregung
+des Zuhörers unsere Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht
+müde werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg der
+sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie bewirkte Entladung
+von Affecten als das eigentlich Tragische zu charakterisiren: welche
+Unverdrossenheit mich auf den Gedanken bringt, sie möchten überhaupt
+keine aesthetisch erregbaren Menschen sein und beim Anhören der
+Tragödie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen. Noch
+nie, seit Aristoteles, ist eine Erklärung der tragischen Wirkung
+gegeben worden, aus der auf künstlerische Zustände, auf eine
+aesthetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen werden dürfte. Bald
+soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die ernsten Vorgänge zu einer
+erleichternden Entladung gedrängt werden, bald sollen wir uns bei dem
+Sieg guter und edler Principien, bei der Aufopferung des Helden im
+Sinne einer sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fühlen;
+und so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschen gerade das und
+nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlich ergiebt sich daraus,
+dass diese alle, sammt ihren interpretirenden Aesthetikern, von
+der Tragödie als einer höchsten Kunst nichts erfahren haben. Jene
+pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die
+Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die
+moralischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merkwürdige
+Ahnung Goethe's. "Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse", sagt
+er, "ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation
+zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht.
+Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein,
+dass das höchste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen
+gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um ein
+solches Werk hervorzubringen?" Diese so tiefsinnige letzte Frage
+dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen, bejahen,
+nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunen erlebt
+haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur ein aesthetisches
+Spiel sein kann: weshalb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das
+Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist.
+Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus
+ausseraesthetischen Sphären zu erzählen hat und über den pathologisch
+- moralischen Prozess sich nicht hinausgehoben fühlt, mag nur
+an seiner aesthetischen Natur verzweifeln: wogegen wir ihm die
+Interpretation Shakespeare's nach der Manier des Gervinus und das
+fleissige Aufspüren der "poetischen Gerechtigkeit" als unschuldigen
+Ersatz anempfehlen.
+
+So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der aesthetische Zuhörer
+wieder geboren, an dessen Stelle bisher in den Theaterräumen ein
+seltsames Quidproquo, mit halb moralischen und halb gelehrten
+Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der "Kritiker". In seiner bisherigen
+Sphäre war Alles künstlich und nur mit einem Scheine des Lebens
+übertüncht. Der darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr,
+was er mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu
+beginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden Dramatiker
+oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten Resten des Lebens
+in diesem anspruchsvoll öden und zum Geniessen unfähigen Wesen. Aus
+derartigen "Kritikern" bestand aber bisher das Publicum; der Student,
+der Schulknabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war wider
+sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu einer gleichen
+Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die edleren Naturen unter
+den Künstlern rechneten bei einem solchen Publicum auf die Erregung
+moralisch - religiöser Kräfte, und der Anruf der "sittlichen
+Weltordnung" trat vikarirend ein, wo eigentlich ein gewaltiger
+Kunstzauber den ächten Zuhörer entzücken sollte. Oder es wurde vom
+Dramatiker eine grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der
+politischen und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der
+Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähnlichen
+Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder kriegerischen
+Momenten, oder vor der Rednerbühne des Parlaments oder bei der
+Verurtheilung des Verbrechens und des Lasters: welche Entfremdung der
+eigentlichen Kunstabsichten hier und da geradezu zu einem Cultus der
+Tendenz führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstelten
+Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle Depravation
+jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die Tendenz, das Theater
+als Veranstaltung zur moralischen Volksbildung zu verwenden, die
+zu Schiller's Zeit ernsthaft genommen wurde, bereits unter die
+unglaubwürdigen Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet
+wird. Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist in
+der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen
+war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungsobject der niedrigsten
+Art, und die aesthetische Kritik wurde als das Bindemittel einer
+eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärmlich -
+unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauerische
+Parabel von den Stachelschweinen zu verstehen giebt; so dass zu keiner
+Zeit so viel über Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten
+worden ist. Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im
+Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten? Mag
+Jeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten: er wird mit der
+Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter "Bildung" vorstellt,
+vorausgesetzt dass er die Frage überhaupt zu beantworten sucht und
+nicht vor Ueberraschung bereits verstummt ist.
+
+Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur Befähigte,
+ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich zum kritischen
+Barbaren geworden war, von einer eben so unerwarteten als gänzlich
+unverständlichen Wirkung zu erzählen haben, die etwa eine glücklich
+gelungene Lohengrinaufführung auf ihn ausübte: nur dass ihm vielleicht
+jede Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass auch
+jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus unvergleichliche
+Empfindung, die ihn damals erschütterte, vereinzelt blieb und wie ein
+räthselhaftes Gestirn nach kurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er
+geahnt, was der aesthetische Zuhörer ist.
+
+
+23.
+
+Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er dem wahren
+aesthetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Gemeinschaft der
+sokratisch - kritischen Menschen gehört, der mag sich nur aufrichtig
+nach der Empfindung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellte
+Wunder empfängt: ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge
+psychologische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er
+mit einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als ein der
+Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen zulässt oder
+ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet. Daran nämlich wird er
+messen können, wie weit er überhaupt befähigt ist, den Mythus, das
+zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der
+Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche
+ist aber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch den
+kritisch - historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühle, um nur
+etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Abstractionen, sich die
+einstmalige Existenz des Mythus glaublich zu machen. Ohne Mythus aber
+geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig:
+erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze
+Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des
+apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen
+Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt
+allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge
+Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und
+seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigeren
+ungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen
+Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen
+Vorstellungen verbürgt.
+
+Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten
+Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte
+Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige sich das regellose,
+von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen
+Phantasie: man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen
+Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen
+Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist - das ist die
+Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus
+gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig
+hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend
+nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthümern
+nach ihnen graben müsste. Worauf weist das ungeheure historische
+Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln
+zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht
+auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des
+mythischen Mutterschoosses? Man frage sich, ob das fieberhafte und so
+unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas Anderes ist, als das gierige
+Zugreifen und Nach-Nahrung- Haschen des Hungernden - und wer möchte
+einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie
+verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sich die
+kräftigste, heilsamste Nahrung in "Historie und Kritik" zu verwandeln
+pflegt?
+
+Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerzlich verzweifeln,
+wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner Cultur unlösbar
+verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem civilisirten
+Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können; und das, was lange
+Zeit der grosse Vorzug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren
+Uebergewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur, dürfte
+uns, bei diesem Anblick, nöthigen, darin das Glück zu preisen, dass
+diese unsere so fragwürdige Cultur bis jetzt mit dem edeln Kerne
+unseres Volkscharakters nichts gemein hat. Alle unsere Hoffnungen
+strecken sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus,
+dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und
+Bildungskrampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft
+verborgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich
+gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen
+entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation
+hervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik
+zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so überschwänglich
+gut und zart tönte dieser Choral Luther's, als der erste dionysische
+Lockruf, der aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings,
+hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall jener
+weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer, denen wir die
+deutsche Musik danken - und denen wir die Wiedergeburt des deutschen
+Mythus danken werden!
+
+Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freund auf einen
+hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung führen muss, wo er nur wenige
+Gefährten haben wird, und rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an
+unseren leuchtenden Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von
+ihnen haben wir bis jetzt, zur Reinigung unserer aesthetischen
+Erkenntniss, jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein
+gesondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren gegenseitige
+Berührung und Steigerung wir durch die griechische Tragödie zu einer
+Ahnung kamen. Durch ein merkwürdiges Auseinanderreissen beider
+künstlerischen Urtriebe musste uns der Untergang der griechischen
+Tragödie herbeigeführt erscheinen: mit welchem Vorgange eine
+Degeneration und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im
+Einklang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie nothwendig
+und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat,
+in ihren Fundamenten verwachsen sind. Jener Untergang der Tragödie
+war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen
+unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen
+anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch
+auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in
+gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des
+Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm
+vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade
+nur so viel ist ein Volk - wie übrigens auch ein Mensch - werth, als
+es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag:
+denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste
+innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der
+wahren, d.h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil
+davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen
+und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit
+gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der
+unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen
+Consequenzen, verbunden ist. Die griechische Kunst und vornehmlich die
+griechische Tragödie hielt vor Allem die Vernichtung des Mythus auf:
+man musste sie mit vernichten, um, losgelöst von dem heimischen Boden,
+ungezügelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der That leben
+zu können. Auch jetzt noch versucht jener metaphysische Trieb, sich
+eine, wenngleich abgeschwächte Form der Verklärung zu schaffen, in
+dem zum Leben drängenden Sokratismus der Wissenschaft: aber auf den
+niederen Stufen führte derselbe Trieb nur zu einem fieberhaften
+Suchen, das sich allmählich in ein Pandämonium überallher
+zusammengehäufter Mythen und Superstitionen verlor: in dessen Mitte
+der Hellene dennoch ungestillten Herzens sass, bis er es verstand, mit
+griechischer Heiterkeit und griechischem Leichtsinn, als Graeculus,
+jenes Fieber zu maskiren oder in irgend einem orientalisch dumpfen
+Aberglauben sich völlig zu betäuben.
+
+Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wiedererweckung des
+alexandrinisch - römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert,
+nach einem langen schwer zu beschreibenden Zwischenacte, in der
+auffälligsten Weise angenähert. Auf den Höhen dieselbe überreiche
+Wissenslust, dasselbe ungesättigte Finderglück, dieselbe ungeheure
+Verweltlichung, daneben ein heimatloses Herumschweifen, ein gieriges
+Sichdrängen an fremde Tische, eine leichtsinnige Vergötterung der
+Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie saeculi, der
+"Jetztzeit": welche gleichen Symptome auf einen gleichen Mangel im
+Herzen dieser Cultur zu rathen geben, auf die Vernichtung des Mythus.
+Es scheint kaum möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden
+Mythus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueberpflanzen
+heillos zu beschädigen: welcher vielleicht einmal stark und gesund
+genug ist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfe wieder
+auszuscheiden, für gewöhnlich aber siech und verkümmert oder in
+krankhaftem Wuchern sich verzehren muss. Wir halten so viel von dem
+reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von
+ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente zu
+erwarten wagen und es für möglich erachten, dass der deutsche Geist
+sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird Mancher meinen,
+jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen
+beginnen: wozu er eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in
+der siegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges
+erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in dem Wetteifer suchen
+muss, der erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, Luther's ebensowohl
+als unserer grossen Künstler und Dichter, stets werth zu sein. Aber
+nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine
+mythische Heimat, ohne ein "Wiederbringen" aller deutschen Dinge,
+kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem
+Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst verlorne Heimat
+zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt - so mag er nur
+dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der über
+ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.
+
+
+24.
+
+Wir hatten unter den eigenthümlichen Kunstwirkungen der musikalischen
+Tragödie eine apollinische Täuschung hervorzuheben, durch die wir
+vor dem unmittelbaren Einssein mit der dionysischen Musik gerettet
+werden sollen, während unsre musikalische Erregung sich auf einem
+apollinischen Gebiete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren
+Mittelwelt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben, wie
+eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen Vorgangs,
+überhaupt das Drama, in einem Grade von innen heraus sichtbar und
+verständlich wurde, der in aller sonstigen apollinischen Kunst
+unerreichbar ist: so dass wir hier, wo diese gleichsam durch den Geist
+der Musik beschwingt und emporgetragen war, die höchste Steigerung
+ihrer Kräfte und somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des
+Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen
+Kunstabsichten anerkennen mussten.
+
+Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei der inneren
+Beleuchtung durch die Musik nicht die eigenthümliche Wirkung der
+schwächeren Grade apollinischer Kunst; was das Epos oder der beseelte
+Stein vermögen, das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der
+Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz einer
+höheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen lassen. Wir
+schauten das Drama an und drangen mit bohrendem Blick in seine
+innere bewegte Welt der Motive - und doch war uns, als ob nur ein
+Gleichnissbild an uns vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast
+zu errathen glaubten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen
+wünschten, um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste
+Deutlichkeit des Bildes genügte uns nicht: denn dieses schien eben
+sowohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es mit seiner
+gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers, zur
+Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes aufzufordern schien,
+hielt wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeit das Auge
+gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen.
+
+Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen und zugleich
+über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlich
+vorstellen, wie bestimmt und klar diese beiden Prozesse bei der
+Betrachtung des tragischen Mythus nebeneinander bestehen und
+nebeneinander empfunden werden: während die wahrhaft aesthetischen
+Zuschauer mir bestätigen werden, dass unter den eigenthümlichen
+Wirkungen der Tragödie jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei. Man
+übertrage sich nun dieses Phänomen des aesthetischen Zuschauers in
+einen analogen Prozess im tragischen Künstler, und man wird die
+Genesis des tragischen Mythus verstanden haben. Er theilt mit der
+apollinischen Kunstsphäre die volle Lust am Schein und am Schauen und
+zugleich verneint er diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung
+an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des
+tragischen Mythus ist zunächst ein episches Ereigniss mit der
+Verherrlichung des kämpfenden Helden: woher stammt aber jener an
+sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schicksale des Helden,
+die schmerzlichsten Ueberwindungen, die qualvollsten Gegensätze der
+Motive, kurz die Exemplification jener Weisheit des Silen, oder,
+aesehetisch ausgedrückt, das Hässliche und Disharmonische, in so
+zahllosen Formen, mit solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt
+wird und gerade in dem üppigsten und jugendlichsten Alter eines
+Volkes, wenn nicht gerade an diesem Allen eine höhere Lust percipirt
+wird?
+
+Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht, würde am wenigsten
+die Entstehung einer Kunstform erklären; wenn anders die Kunst
+nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein
+metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren
+Ueberwindung neben sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er
+überhaupt zur Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser
+metaphysischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt: was verklärt
+er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem Bilde des leidenden
+Helden vorführt? Die "Realität". dieser Erscheinungswelt am wenigsten,
+denn er sagt uns gerade: "Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer
+Leben! Dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!"
+
+Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns damit zu verklären?
+Wenn aber nicht, worin liegt dann die aesthetische Lust, mit der wir
+auch jene Bilder an uns vorüberziehen lassen? Ich frage nach der
+aesthetischen Lust und weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder
+ausserdem mitunter noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form
+des Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen können. Wer
+die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen moralischen Quellen
+ableiten wollte, wie es freilich in der Aesthetik nur allzu lange
+üblich war, der mag nur nicht glauben, etwas für die Kunst damit
+gethan zu haben: die vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen
+muss. Für die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade die erste
+Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der rein aesthetischen
+Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids, der Furcht, des
+Sittlich - Erhabenen überzugreifen. Wie kann das Hässliche und das
+Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische
+Lust erregen?
+
+Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf in eine
+Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den früheren Satz
+wiederhole, dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und
+die Welt gerechtfertigt erscheint: in welchem Sinne uns gerade der
+tragische Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und
+Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der
+ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses schwer zu
+fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem
+Wege einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren
+Bedeutung der musikalischen Dissonanz: wie überhaupt die Musik, neben
+die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter
+der Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen Phänomens zu
+verstehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat eine
+gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung der Dissonanz in der
+Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten
+Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen
+Mythus.
+
+Sollte sich nicht inzwischen dadurch, dass wir die Musikrelation der
+Dissonanz zu Hülfe nahmen, jenes schwierige Problem der tragischen
+Wirkung wesentlich erleichtert haben? Verstehen wir doch jetzt, was
+es heissen will, in der Tragödie zugleich schauen zu wollen und sich
+über das Schauen hinaus zu sehnen: welchen Zustand wir in Betreff der
+künstlerisch verwendeten Dissonanz eben so zu charakterisiren hätten,
+dass wir hören wollen und über das Hören uns zugleich hinaussehnen.
+Jenes Streben in's Unendliche, der Flügelschlag der Sehnsucht, bei
+der höchsten Lust an der deutlich percipirten Wirklichkeit, erinnern
+daran, dass wir in beiden Zuständen ein dionysisches Phänomen zu
+erkennen haben, das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufhauen
+und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust
+offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen
+die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend
+Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft.
+
+Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtig abzuschätzen,
+dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes, sondern eben so
+nothwendig an den tragischen Mythus dieses Volkes als den zweiten
+Zeugen jener Befähigung zu denken haben. Es ist nun, bei dieser
+engsten Verwandtschaft zwischen Musik und Mythus, in gleicher Weise
+zu vermuthen, dass mit einer Entartung und Depravation des Einen eine
+Verkümmerung der Anderen verbunden sein wird: wenn anders in der
+Schwächung des Mythus überhaupt eine Abschwächung des dionysischen
+Vermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides dürfte uns aber ein Blick
+auf die Entwicklung des deutschen Wesens nicht in Zweifel lassen: in
+der Oper wie in dem abstracten Charakter unseres mythenlosen Daseins,
+in einer zur Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom
+Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich unkünstlerische,
+als am Leben zehrende Natur des sokratischen Optimismus enthüllt.
+Zu unserem Troste aber gab es Anzeichen dafür, dass trotzdem der
+deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft
+unzerstört, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in
+einem unzugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Abgrunde
+zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu verstehen zu
+geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt noch seinen uralten
+dionysischen Mythus in selig - ernsten Visionen träumt. Glaube
+Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig
+verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die
+von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in
+aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er Drachen
+tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken - und
+Wotan's Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können!
+
+Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik glaubt, ihr
+wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet. In ihr haben wir,
+wiedergeboren aus der Musik, den tragischen Mythus - und in ihm dürft
+ihr Alles hoffen und das Schmerzlichste vergessen! Das Schmerzlichste
+aber ist für uns alle - die lange Entwürdigung, unter der der deutsche
+Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge
+lebte. Ihr versteht das Wort - wie ihr auch, zum Schluss, meine
+Hoffnungen verstehen werdet.
+
+
+25.
+
+Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise Ausdruck der
+dionysischen Befähigung eines Volkes und von einander untrennbar.
+Beide entstammen einem Kunstbereiche, das jenseits des Apollinischen
+liegt; beide verklären eine Region, in deren Lustaccorden die
+Dissonanz eben so wie das schreckliche Weltbild reizvoll verklingt;
+beide spielen mit dem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigen
+Zauberkünsten vertrauend; beide rechtfertigen durch dieses Spiel
+die Existenz selbst der "schlechtesten Welt." Hier zeigt sich
+das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige
+und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt
+der Erscheinung in's Dasein ruft: in deren Mitte ein neuer
+Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuation
+im Leben festzuhalten. Könnten wir uns eine Menschwerdung der
+Dissonanz denken - und was ist sonst der Mensch? - so würde diese
+Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die
+ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die
+wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen
+Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick
+das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten
+Augenblicks drängen.
+
+Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen
+Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum
+in's Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft
+wieder überwunden werden kann, so dass diese beiden Kunsttriebe ihre
+Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger
+Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die dionysischen
+Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben, da muss auch bereits
+Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns herniedergestiegen sein; dessen
+üppigste Schönheitswirkungen wohl eine nächste Generation schauen
+wird.
+
+Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder am sichersten,
+durch Intuition, nachempfinden, wenn er einmal, sei es auch im Traume,
+in eine althellenische Existenz sich zurückversetzt fühlte: im
+Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem
+Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben
+sich Wiederspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem
+Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte
+Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer
+Gebärdensprache - würde er nicht, bei diesem fortwährenden Einströmen
+der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend ausrufen müssen: "Seliges
+Volk der Hellenen! Wie gross muss unter euch Dionysus sein, wenn der
+delische Gott solche Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen
+Wahnsinn zu heilen!" - Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser
+Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm aufblickend,
+entgegnen: "Sage aber auch dies, du wunderlicher Fremdling: wie
+viel musste dies Volk leiden, um so schön werden zu können! Jetzt
+aber folge mir zur Tragödie und opfere mit mir im Tempel beider
+Gottheiten!"
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DIE GEBURT DER TRAGOEDIE ***
+
+This file should be named 7206-8.txt or 7206-8.zip
+
+Project Gutenberg eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+We are now trying to release all our eBooks one year in advance
+of the official release dates, leaving time for better editing.
+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
+even years after the official publication date.
+
+Please note neither this listing nor its contents are final til
+midnight of the last day of the month of any such announcement.
+The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at
+Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A
+preliminary version may often be posted for suggestion, comment
+and editing by those who wish to do so.
+
+Most people start at our Web sites at:
+https://gutenberg.org or
+http://promo.net/pg
+
+These Web sites include award-winning information about Project
+Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new
+eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!).
+
+
+Those of you who want to download any eBook before announcement
+can get to them as follows, and just download by date. This is
+also a good way to get them instantly upon announcement, as the
+indexes our cataloguers produce obviously take a while after an
+announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter.
+
+http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext04 or
+ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext04
+
+Or /etext03, 02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90
+
+Just search by the first five letters of the filename you want,
+as it appears in our Newsletters.
+
+
+Information about Project Gutenberg (one page)
+
+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
+to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright
+searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our
+projected audience is one hundred million readers. If the value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
+files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
+We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002
+If they reach just 1-2% of the world's population then the total
+will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.
+
+The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks!
+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only about 4% of the present number of computer users.
+
+Here is the briefest record of our progress (* means estimated):
+
+eBooks Year Month
+
+ 1 1971 July
+ 10 1991 January
+ 100 1994 January
+ 1000 1997 August
+ 1500 1998 October
+ 2000 1999 December
+ 2500 2000 December
+ 3000 2001 November
+ 4000 2001 October/November
+ 6000 2002 December*
+ 9000 2003 November*
+10000 2004 January*
+
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created
+to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium.
+
+We need your donations more than ever!
+
+As of February, 2002, contributions are being solicited from people
+and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut,
+Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois,
+Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts,
+Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New
+Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio,
+Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South
+Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West
+Virginia, Wisconsin, and Wyoming.
+
+We have filed in all 50 states now, but these are the only ones
+that have responded.
+
+As the requirements for other states are met, additions to this list
+will be made and fund raising will begin in the additional states.
+Please feel free to ask to check the status of your state.
+
+In answer to various questions we have received on this:
+
+We are constantly working on finishing the paperwork to legally
+request donations in all 50 states. If your state is not listed and
+you would like to know if we have added it since the list you have,
+just ask.
+
+While we cannot solicit donations from people in states where we are
+not yet registered, we know of no prohibition against accepting
+donations from donors in these states who approach us with an offer to
+donate.
+
+International donations are accepted, but we don't know ANYTHING about
+how to make them tax-deductible, or even if they CAN be made
+deductible, and don't have the staff to handle it even if there are
+ways.
+
+Donations by check or money order may be sent to:
+
+Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+PMB 113
+1739 University Ave.
+Oxford, MS 38655-4109
+
+Contact us if you want to arrange for a wire transfer or payment
+method other than by check or money order.
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been approved by
+the US Internal Revenue Service as a 501(c)(3) organization with EIN
+[Employee Identification Number] 64-622154. Donations are
+tax-deductible to the maximum extent permitted by law. As fund-raising
+requirements for other states are met, additions to this list will be
+made and fund-raising will begin in the additional states.
+
+We need your donations more than ever!
+
+You can get up to date donation information online at:
+
+https://www.gutenberg.org/donation.html
+
+
+***
+
+If you can't reach Project Gutenberg,
+you can always email directly to:
+
+Michael S. Hart <hart@pobox.com>
+
+Prof. Hart will answer or forward your message.
+
+We would prefer to send you information by email.
+
+
+**The Legal Small Print**
+
+
+(Three Pages)
+
+***START**THE SMALL PRINT!**FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS**START***
+Why is this "Small Print!" statement here? You know: lawyers.
+They tell us you might sue us if there is something wrong with
+your copy of this eBook, even if you got it for free from
+someone other than us, and even if what's wrong is not our
+fault. So, among other things, this "Small Print!" statement
+disclaims most of our liability to you. It also tells you how
+you may distribute copies of this eBook if you want to.
+
+*BEFORE!* YOU USE OR READ THIS EBOOK
+By using or reading any part of this PROJECT GUTENBERG-tm
+eBook, you indicate that you understand, agree to and accept
+this "Small Print!" statement. If you do not, you can receive
+a refund of the money (if any) you paid for this eBook by
+sending a request within 30 days of receiving it to the person
+you got it from. If you received this eBook on a physical
+medium (such as a disk), you must return it with your request.
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+ABOUT PROJECT GUTENBERG-TM EBOOKS
+This PROJECT GUTENBERG-tm eBook, like most PROJECT GUTENBERG-tm eBooks,
+is a "public domain" work distributed by Professor Michael S. Hart
+through the Project Gutenberg Association (the "Project").
+Among other things, this means that no one owns a United States copyright
+on or for this work, so the Project (and you!) can copy and
+distribute it in the United States without permission and
+without paying copyright royalties. Special rules, set forth
+below, apply if you wish to copy and distribute this eBook
+under the "PROJECT GUTENBERG" trademark.
+
+Please do not use the "PROJECT GUTENBERG" trademark to market
+any commercial products without permission.
+
+To create these eBooks, the Project expends considerable
+efforts to identify, transcribe and proofread public domain
+works. Despite these efforts, the Project's eBooks and any
+medium they may be on may contain "Defects". Among other
+things, Defects may take the form of incomplete, inaccurate or
+corrupt data, transcription errors, a copyright or other
+intellectual property infringement, a defective or damaged
+disk or other eBook medium, a computer virus, or computer
+codes that damage or cannot be read by your equipment.
+
+LIMITED WARRANTY; DISCLAIMER OF DAMAGES
+But for the "Right of Replacement or Refund" described below,
+[1] Michael Hart and the Foundation (and any other party you may
+receive this eBook from as a PROJECT GUTENBERG-tm eBook) disclaims
+all liability to you for damages, costs and expenses, including
+legal fees, and [2] YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE OR
+UNDER STRICT LIABILITY, OR FOR BREACH OF WARRANTY OR CONTRACT,
+INCLUDING BUT NOT LIMITED TO INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE
+OR INCIDENTAL DAMAGES, EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE
+POSSIBILITY OF SUCH DAMAGES.
+
+If you discover a Defect in this eBook within 90 days of
+receiving it, you can receive a refund of the money (if any)
+you paid for it by sending an explanatory note within that
+time to the person you received it from. If you received it
+on a physical medium, you must return it with your note, and
+such person may choose to alternatively give you a replacement
+copy. If you received it electronically, such person may
+choose to alternatively give you a second opportunity to
+receive it electronically.
+
+THIS EBOOK IS OTHERWISE PROVIDED TO YOU "AS-IS". NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, ARE MADE TO YOU AS
+TO THE EBOOK OR ANY MEDIUM IT MAY BE ON, INCLUDING BUT NOT
+LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR A
+PARTICULAR PURPOSE.
+
+Some states do not allow disclaimers of implied warranties or
+the exclusion or limitation of consequential damages, so the
+above disclaimers and exclusions may not apply to you, and you
+may have other legal rights.
+
+INDEMNITY
+You will indemnify and hold Michael Hart, the Foundation,
+and its trustees and agents, and any volunteers associated
+with the production and distribution of Project Gutenberg-tm
+texts harmless, from all liability, cost and expense, including
+legal fees, that arise directly or indirectly from any of the
+following that you do or cause: [1] distribution of this eBook,
+[2] alteration, modification, or addition to the eBook,
+or [3] any Defect.
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+DISTRIBUTION UNDER "PROJECT GUTENBERG-tm"
+You may distribute copies of this eBook electronically, or by
+disk, book or any other medium if you either delete this
+"Small Print!" and all other references to Project Gutenberg,
+or:
+
+[1] Only give exact copies of it. Among other things, this
+ requires that you do not remove, alter or modify the
+ eBook or this "small print!" statement. You may however,
+ if you wish, distribute this eBook in machine readable
+ binary, compressed, mark-up, or proprietary form,
+ including any form resulting from conversion by word
+ processing or hypertext software, but only so long as
+ *EITHER*:
+
+ [*] The eBook, when displayed, is clearly readable, and
+ does *not* contain characters other than those
+ intended by the author of the work, although tilde
+ (~), asterisk (*) and underline (_) characters may
+ be used to convey punctuation intended by the
+ author, and additional characters may be used to
+ indicate hypertext links; OR
+
+ [*] The eBook may be readily converted by the reader at
+ no expense into plain ASCII, EBCDIC or equivalent
+ form by the program that displays the eBook (as is
+ the case, for instance, with most word processors);
+ OR
+
+ [*] You provide, or agree to also provide on request at
+ no additional cost, fee or expense, a copy of the
+ eBook in its original plain ASCII form (or in EBCDIC
+ or other equivalent proprietary form).
+
+[2] Honor the eBook refund and replacement provisions of this
+ "Small Print!" statement.
+
+[3] Pay a trademark license fee to the Foundation of 20% of the
+ gross profits you derive calculated using the method you
+ already use to calculate your applicable taxes. If you
+ don't derive profits, no royalty is due. Royalties are
+ payable to "Project Gutenberg Literary Archive Foundation"
+ the 60 days following each date you prepare (or were
+ legally required to prepare) your annual (or equivalent
+ periodic) tax return. Please contact us beforehand to
+ let us know your plans and to work out the details.
+
+WHAT IF YOU *WANT* TO SEND MONEY EVEN IF YOU DON'T HAVE TO?
+Project Gutenberg is dedicated to increasing the number of
+public domain and licensed works that can be freely distributed
+in machine readable form.
+
+The Project gratefully accepts contributions of money, time,
+public domain materials, or royalty free copyright licenses.
+Money should be paid to the:
+"Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+If you are interested in contributing scanning equipment or
+software or other items, please contact Michael Hart at:
+hart@pobox.com
+
+[Portions of this eBook's header and trailer may be reprinted only
+when distributed free of all fees. Copyright (C) 2001, 2002 by
+Michael S. Hart. Project Gutenberg is a TradeMark and may not be
+used in any sales of Project Gutenberg eBooks or other materials be
+they hardware or software or any other related product without
+express permission.]
+
+*END THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS*Ver.02/11/02*END*
+
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
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+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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