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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 05:29:12 -0700 |
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You can also find out about how to make a +donation to Project Gutenberg, and how to get involved. + + +**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts** + +**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971** + +*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!***** + + +Title: Die Geburt der Tragoedie + +Author: Friedrich Wilhelm Nietzsche + +Release Date: January, 2005 [EBook #7206] +[This file was first posted on March 26, 2003] + +Edition: 10 + +Language: German + +Character set encoding: ISO Latin-1 + +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DIE GEBURT DER TRAGOEDIE *** + + + + +This text has been derived from HTML files at "Projekt Gutenberg - +DE" (http://www.gutenberg2000.de/nietzsche/tragoedi/tragoedi.htm), +prepared by juergen@redestb.es. + + + + +Friedrich Nietzsche + +Die Geburt der Tragödie + +Versuch einer Selbstkritik. + + + + +1. + +Was auch diesem fragwürdigen Buche zu Grunde liegen mag: es muss eine +Frage ersten Ranges und Reizes gewesen sein, noch dazu eine tief +persönliche Frage, - Zeugniss dafür ist die Zeit, in der es entstand, +trotz der es entstand, die aufregende Zeit des deutsch-französischen +Krieges von 1870/71. Während die Donner der Schlacht von Wörth über +Europa weggiengen, sass der Grübler und Räthselfreund, dem die +Vaterschaft dieses Buches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der +Alpen, sehr vergrübelt und verräthselt, folglich sehr bekümmert und +unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Griechen +nieder, - den Kern des wunderlichen und schlecht zugänglichen Buches, +dem diese späte Vorrede (oder Nachrede) gewidmet sein soll. Einige +Wochen darauf: und er befand sich selbst unter den Mauern von Metz, +immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zur +vorgeblichen "Heiterkeit" der Griechen und der griechischen Kunst +gesetzt hatte; bis er endlich in jenem Monat tiefster Spannung, als +man in Versailles über den Frieden berieth, auch mit sich zum Frieden +kam und, langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit +genesend, die "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" +letztgültig bei sich feststellte. - Aus der Musik? Musik und Tragödie? +Griechen und Tragödien-Musik? Griechen und das Kunstwerk des +Pessimismus? Die wohlgerathenste, schönste, bestbeneidete, zum Leben +verführendste Art der bisherigen Menschen, die Griechen - wie? +gerade sie hatten die Tragödie nöthig? Mehr noch - die Kunst? Wozu - +griechische Kunst? + +Man erräth, an welche Stelle hiermit das grosse Fragezeichen vom +Werth des Daseins gesetzt war. Ist Pessimismus nothwendig das Zeichen +des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und +geschwächten Instinkte? - wie er es bei den Indern war, wie er es, +allem Anschein nach, bei uns, den "modernen" Menschen und Europäern +ist? Giebt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle +Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des +Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des +Daseins? Giebt es vielleicht ein Leiden an der Ueberfülle selbst? +Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem +Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an +dem sie ihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was "das +Fürchten" ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, +stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure +Phänomen des Dionysischen? Was, aus ihm geboren, die Tragödie? - Und +wiederum: das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, +die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen +- wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des +Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden +Instinkte sein? Und die "griechische Heiterkeit" des späteren +Griechenthums nur eine Abendröthe? Der epikurische Wille gegen den +Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft +selbst, unsere Wissenschaft - ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom +des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher - +alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine +Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Nothwehr gegen - +die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? +Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? Oh Sokrates, Sokrates, war das +vielleicht dein Geheimniss? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies +vielleicht deine - Ironie? - - + + +2. + +Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, +ein Problem mit Hörnern, nicht nothwendig gerade ein Stier, jedenfalls +ein neues Problem: heute würde ich sagen, dass es das Problem +der Wissenschaft selbst war - Wissenschaft zum ersten Male als +problematisch, als fragwürdig gefasst. Aber das Buch, in dem mein +jugendlicher Muth und Argwohn sich damals ausliess - was für ein +unmögliches Buch musste aus einer so jugendwidrigen Aufgabe erwachsen! +Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welche +alle hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen, hingestellt auf den +Boden der Kunst - denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf +dem Boden der Wissenschaft erkannt werden - ein Buch vielleicht +für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver +Fähigkeiten (das heisst für eine Ausnahme- Art von Künstlern, nach +denen man suchen muss und nicht einmal suchen möchte...), voller +psychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer +Artisten-Metaphysik im Hintergrunde, ein Jugendwerk voller Jugendmuth +und Jugend-Schwermuth, unabhängig, trotzig-selbstständig auch noch, wo +es sich einer Autorität und eignen Verehrung zu beugen scheint, kurz +ein Erstlingswerk auch in jedem schlimmen Sinne des Wortes, trotz +seines greisenhaften Problems, mit jedem Fehler der Jugend behaftet, +vor allem mit ihrem "Viel zu lang", ihrem "Sturm und Drang": +andererseits, in Hinsicht auf den Erfolg, den es hatte (in Sonderheit +bei dem grossen Künstler, an den es sich wie zu einem Zwiegespräch +wendete, bei Richard Wagner) ein bewiesenes Buch, ich meine ein +solches, das jedenfalls "den Besten seiner Zeit" genug gethan hat. +Darauf hin sollte es schon mit einiger Rücksicht und Schweigsamkeit +behandelt werden; trotzdem will ich nicht gänzlich unterdrücken, wie +unangenehm es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn +Jahren vor mir steht, - vor einem älteren, hundert Mal verwöhnteren, +aber keineswegs kälter gewordenen Auge, das auch jener Aufgabe selbst +nicht fremder wurde, an welche sich jenes verwegene Buch zum ersten +Male herangewagt hat, - die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers +zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens.... + + +3. + +Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches Buch, - ich heisse +es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und +bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, +ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr +überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, misstrauisch +selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens, als Buch für +Eingeweihte, als "Musik" für Solche, die auf Musik getauft, die auf +gemeinsame und seltene Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an +verbunden sind, als Erkennungszeichen für Blutsverwandte in artibus, - +ein hochmüthiges und schwärmerisches Buch, das sich gegen das profanum +vulgus der "Gebildeten" von vornherein noch mehr als gegen das "Volk" +abschliesst, welches aber, wie seine Wirkung bewies und beweist, sich +gut genug auch darauf verstehen muss, sich seine Mitschwärmer zu +suchen und sie auf neue Schleichwege und Tanzplätze zu locken. Hier +redete jedenfalls - das gestand man sich mit Neugierde ebenso als mit +Abneigung ein - eine fremde Stimme, der Jünger eines noch "unbekannten +Gottes", der sich einstweilen unter die Kapuze des Gelehrten, unter +die Schwere und dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst unter +die schlechten Manieren des Wagnerianers versteckt hat; hier war ein +Geist mit fremden, noch namenlosen Bedürfnissen, ein Gedächtniss +strotzend von Fragen, Erfahrungen, Verborgenheiten, welchen der Name +Dionysos wie ein Fragezeichen mehr beigeschrieben war; hier sprach - +so sagte man sich mit Argwohn - etwas wie eine mystische und beinahe +mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig +darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in +einer fremden Zunge stammelt. Sie hätte singen sollen, diese "neue +Seele" - und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu +sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es +vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe: - bleibt doch auch +heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu +entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, dass hier ein +Problem vorliegt, - und dass die Griechen, so lange wir keine Antwort +auf die Frage "was ist dionysisch?" haben, nach wie vor gänzlich +unerkannt und unvorstellbar sind... + + +4. + +Ja, was ist dionysisch? - In diesem Buche steht eine Antwort darauf, +- ein "Wissender" redet da, der Eingeweihte und Jünger seines Gottes. +Vielleicht würde ich jetzt vorsichtiger und weniger beredt von einer +so schweren psychologischen Frage reden, wie sie der Ursprung der +Tragödie bei den Griechen ist. Eine Grundfrage ist das Verhältniss +des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität, - blieb dies +Verhältniss sich gleich? oder drehte es sich um? - jene Frage, ob +wirklich sein immer stärkeres Verlangen nach Schönheit, nach Festen, +Lustbarkeiten, neuen Culten, aus Mangel, aus Entbehrung, aus +Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist? Gesetzt nämlich, gerade dies +wäre wahr - und Perikles (oder Thukydides) giebt es uns in der grossen +Leichenrede zu verstehen -: woher müsste dann das entgegengesetzte +Verlangen, das der Zeit nach früher hervortrat, stammen, das Verlangen +nach dem Hässlichen, der gute strenge Wille des älteren Hellenen zum +Pessimismus, zum tragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, +Bösen, Räthselhaften, Vernichtenden, Verhängnissvollen auf dem Grunde +des Daseins, - woher müsste dann die Tragödie stammen? Vielleicht +aus der Lust, aus der Kraft, aus überströmender Gesundheit, aus +übergrosser Fülle? Und welche Bedeutung hat dann, physiologisch +gefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst +erwuchs, der dionysische Wahnsinn? Wie? Ist Wahnsinn vielleicht nicht +nothwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der überspäten +Cultur? Giebt es vielleicht - eine Frage für Irrenärzte - Neurosen der +Gesundheit? der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit? Worauf weist jene +Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus welchem Selbsterlebniss, auf +welchen Drang hin musste sich der Grieche den dionysischen Schwärmer +und Urmenschen als Satyr denken? Und was den Ursprung des tragischen +Chors betrifft: gab es in jenen Jahrhunderten, wo der griechische +Leib blühte, die griechische Seele von Leben überschäumte, vielleicht +endemische Entzückungen? Visionen und Hallucinationen, welche sich +ganzen Gemeinden, ganzen Cultversammlungen mittheilten? Wie? wenn die +Griechen, gerade im Reichthum ihrer Jugend, den Willen zum Tragischen +hatten und Pessimisten waren? wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein +Wort Plato's zu gebrauchen, der die grössten Segnungen über Hellas +gebracht hat? Und wenn, andererseits und umgekehrt, die Griechen +gerade in den Zeiten ihrer Auflösung und Schwäche, immer +optimistischer, oberflächlicher, schauspielerischer, auch nach Logik +und Logisirung der Welt brünstiger, also zugleich "heiterer" und +"wissenschaftlicher" wurden? Wie? könnte vielleicht, allen "modernen +Ideen" und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der +Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der +praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie +selbst, mit der er gleichzeitig ist, - ein Symptom der absinkenden +Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein? Und +gerade nicht - der Pessimismus? War Epikur ein Optimist - gerade als +Leidender? - - Man sieht, es ist ein ganzes Bündel schwerer Fragen, +mit dem sich dieses Buch belastet hat, - fügen wir seine schwerste +Frage noch hinzu! Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn, - +die Moral? . . . + + +5. + +Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst - und nicht die +Moral - als die eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen +hingestellt; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach +wieder, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt +gerechtfertigt ist. In der That, das ganze Buch kennt nur einen +Künstler-Sinn und - Hintersinn hinter allem Geschehen, - einen "Gott", +wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und +unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten +wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne +werden will, der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle und +Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst. Die +Welt, in jedem Augenblicke die erreichte Erlösung Gottes, als die +ewig wechselnde, ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten, +Widerspruchreichsten, der nur im Scheine sich zu erlösen weiss: diese +ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müssig, phantastisch +nennen -, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist +verräth, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische +Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird. Hier +kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus "jenseits +von Gut und Böse" an, hier kommt jene "Perversität der Gesinnung" zu +Wort und Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist, +im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern, +- eine Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt +der Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die +"Erscheinungen" (im Sinne des idealistischen terminus technicus), +sondern unter die "Täuschungen", als Schein, Wahn, Irrthum, +Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst. Vielleicht lässt sich die Tiefe +dieses widermoralischen Hanges am besten aus dem behutsamen und +feindseligen Schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen Buche +das Christenthum behandelt ist, - das Christenthum als die +ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema's, welche die +Menschheit bisher anzuhören bekommen hat. In Wahrheit, es giebt zu +der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie +in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz als die +christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will und mit +ihren absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit +Gottes, die Kunst, jede Kunst in's Reich der Lüge verweist, - das +heisst verneint, verdammt, verurtheilt. Hinter einer derartigen Denk- +und Werthungsweise, welche kunstfeindlich sein muss, so lange sie +irgendwie ächt ist, empfand ich von jeher auch das Lebensfeindliche, +den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn +alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit +des Perspektivischen und des Irrthums. Christenthum war von Anfang an, +wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben, +welcher sich unter dem Glauben an ein "anderes" oder "besseres" Leben +nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die +"Welt", der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und +Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu +verleumden, im Grunde ein Verlangen in's Nichts, an's Ende, in's +Ausruhen, hin zum "Sabbat der Sabbate" - dies Alles dünkte mich, +ebenso wie der unbedingte Wille des Christenthums, nur moralische +Werthe gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste +Form aller möglichen Formen eines "Willens zum Untergang", zum +Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit, +Erschöpfung, Verarmung an Leben, - denn vor der Moral (in Sonderheit +christlichen, das heisst unbedingten Moral) muss das Leben beständig +und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell +Unmoralisches ist, - muss endlich das Leben, erdrückt unter dem +Gewichte der Verachtung und des ewigen Nein's, als begehrens-unwürdig, +als unwerth an sich empfunden werden. Moral selbst - wie? sollte Moral +nicht ein "Wille zur Verneinung des Lebens", ein heimlicher Instinkt +der Vernichtung, ein Verfalls-, Verkleinerungs-, Verleumdungsprincip, +ein Anfang vom Ende sein? Und, folglich, die Gefahr der Gefahren?... +Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen +Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, +und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des +Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? +Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige +Freiheit - denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist? - auf den +Namen eines griechischen Gottes: ich hiess sie die dionysische. - + + +6. + +Man versteht, an welche Aufgabe ich bereits mit diesem Buche zu rühren +wagte?... Wie sehr bedauere ich es jetzt, dass ich damals noch nicht +den Muth (oder die Unbescheidenheit?) hatte, um mir in jedem Betrachte +für so eigne Anschauungen und Wagnisse auch eine eigne Sprache zu +erlauben, - dass ich mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen +Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken suchte, welche +dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, +von Grund aus entgegen giengen! Wie dachte doch Schopenhauer über +die Tragödie? "Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur +Erhebung giebt - sagt er, Welt als Wille und Vorstellung II, 495 - ist +das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes +Genügen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit nicht werth sei: +darin besteht der tragische Geist -, er leitet demnach zur Resignation +hin". Oh wie anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir +damals gerade dieser ganze Resignationismus! - Aber es giebt etwas +viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, als +mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und +verdorben zu haben: dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose +griechische Problem, wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der +modernsten Dinge verdarb! Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu +hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies! Dass ich, auf +Grund der deutschen letzten Musik, vom "deutschen Wesen" zu fabeln +begann, wie als ob es eben im Begriff sei, sich selbst zu entdecken +und wiederzufinden - und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der +nicht vor Langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft +zur Führung Europa's gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig +abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs- Begründung, +seinen Uebergang zur Vermittelmässigung, zur Demokratie und den +"modernen Ideen" machte! In der That, inzwischen lernte ich +hoffnungslos und schonungslos genug von diesem "deutschen Wesen" +denken, insgleichen von der jetzigen deutschen Musik, als welche +Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller möglichen +Kunstformen: überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges, +doppelt gefährlich, bei einem Volke, das den Trunk liebt und die +Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten Eigenschaft als +berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum. - Abseits freilich +von allen übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf +Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, +bleibt das grosse dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, +auch in Betreff der Musik, fort und fort bestehen: wie müsste eine +Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, +gleich der deutschen, - sondern dionysischen? . . . + + +7. + +- Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht Ihr +Buch Romantik ist? Lässt sich der tiefe Hass gegen "Jetztzeit", +"Wirklichkeit" und "moderne Ideen" weiter treiben, als es in Ihrer +Artisten-Metaphysik geschehen ist? - welche lieber noch an das Nichts, +lieber noch an den Teufel, als an das "Jetzt" glaubt? Brummt nicht +ein Grundbass von Zorn und Vernichtungslust unter aller Ihrer +contrapunktischen Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei hinweg, eine +wüthende Entschlossenheit gegen Alles, was "jetzt" ist, ein Wille, +welcher nicht gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist und zu sagen +scheint "lieber mag Nichts wahr sein, als dass ihr Recht hättet, +als dass eure Wahrheit Recht behielte!" Hören Sie selbst, mein Herr +Pessimist und Kunstvergöttlicher, mit aufgeschlossnerem Ohre eine +einzige ausgewählte Stelle Ihres Buches an, jene nicht unberedte +Drachentödter-Stelle, welche für junge Ohren und Herzen verfänglich +rattenfängerisch klingen mag: wie? ist das nicht das ächte rechte +Romantiker-Bekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismus von +1850 hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finale präludirt, +- Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten +Glauben, vor dem alten Gotte . . . Wie? ist Ihr Pessimisten-Buch nicht +selbst ein Stück Antigriechenthum und Romantik, selbst etwas "ebenso +Berauschendes als Benebelndes", ein Narkotikum jedenfalls, ein Stück +Musik sogar, deutscher Musik? Aber man höre: + +"Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser +Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in's +Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die +stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoktrinen +des Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen, resolut zu +leben: sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch dieser +Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, eine +neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie als die +ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss: + + Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, + In's Leben zieh'n die einzigste Gestalt?" + +"Sollte es nicht nöthig sein?" . . . Nein, drei Mal nein! ihr +jungen Romantiker: es sollte nicht nöthig sein! Aber es ist sehr +wahrscheinlich, dass es so endet, dass ihr so endet, nämlich +"getröstet", wie geschrieben steht, trotz aller Selbsterziehung +zum Ernst und zum Schrecken, "metaphysisch getröstet", kurz, wie +Romantiker enden, christlich Nein! Ihr solltet vorerst die Kunst +des diesseitigen Trostes lernen, - ihr solltet lachen lernen, meine +jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt; +vielleicht dass ihr darauf hin, als Lachende, irgendwann einmal alle +metaphysische Trösterei zum Teufel schickt - und die Metaphysik voran! +Oder, um es in der Sprache jenes dionysischen Unholds zu sagen, der +Zarathustra heisst: + +"Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher! Und vergesst mir auch +die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser +noch: ihr steht auch auf dem Kopf!" + +"Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte +mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen +Anderen fand ich heute stark genug dazu." + +"Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln +winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, +ein Selig-Leichtfertiger:" - + +"Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein +Ungeduldiger, kein Unbedingter, Einer, der Sprünge und Seitensprünge +liebt: ich selber setzte mir diese Krone auf!" + +"Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen +Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig: ihr +höheren Menschen, lernt mir - lachen!" + + + +Vorwort an Richard Wagner. + +Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten, Aufregungen und +Missverständnisse ferne zu halten, zu denen die in dieser Schrift +vereinigten Gedanken bei dem eigenthümlichen Character unserer +aesthetischen Oeffentlichkeit Anlass geben werden, und um auch die +Einleitungsworte zu derselben mit der gleichen beschaulichen Wonne +schreiben zu können, deren Zeichen sie selbst, als das Petrefact guter +und erhebender Stunden, auf jedem Blatte trägt, vergegenwärtige ich +mir den Augenblick, in dem Sie, mein hochverehrter Freund, diese +Schrift empfangen werden: wie Sie, vielleicht nach einer abendlichen +Wanderung im Winterschnee, den entfesselten Prometheus auf dem +Titelblatte betrachten, meinen Namen lesen und sofort überzeugt sind, +dass, mag in dieser Schrift stehen, was da wolle, der Verfasser etwas +Ernstes und Eindringliches zu sagen hat, ebenfalls dass er, bei allem, +was er sich erdachte, mit Ihnen wie mit einem Gegenwärtigen verkehrte +und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendes niederschreiben durfte. +Sie werden dabei sich erinnern, dass ich zu gleicher Zeit, als Ihre +herrliche Festschrift über Beethoven entstand, das heisst in den +Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochnen Krieges mich zu +diesen Gedanken sammelte. Doch würden diejenigen irren, welche etwa +bei dieser Sammlung an den Gegensatz von patriotischer Erregung und +aesthetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel +denken sollten: denen möchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen +dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem +ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht +eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und +Wendepunkt hingestellt wird. Vielleicht aber wird es für eben +dieselben überhaupt anstössig sein, ein aesthetisches Problem so ernst +genommen zu sehn, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr als ein +lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel +zum "Ernst des Daseins" zu erkennen im Stande sind: als ob Niemand +wüsste, was es bei dieser Gegenüberstellung mit einem solchen "Ernste +des Daseins" auf sich habe. Diesen Ernsthaften diene zur Belehrung, +dass ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich +metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt +bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, +diese Schrift gewidmet haben will. + +Basel, Ende des Jahres 187l. + + + + +1. + +Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, +wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren +Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung +der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen +gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit +der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch +eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den +Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung +zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten +ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden +Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, +dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung +und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und +der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide +so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen +Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren +Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu +perpetuiren, den das gemeinsame Wort "Kunst" nur scheinbar überbrückt; +bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen +"Willens", mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung +zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der +attischen Tragödie erzeugen. + +Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns +zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; +zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender +Gegensatz, wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu +bemerken ist. Im Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des +Lucretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, +im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Gliederbau +übermenschlicher Wesen, und der hellenische Dichter, um die +Geheimnisse der poetischen Zeugung befragt, würde ebenfalls an den +Traum erinnert und eine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie Hans +Sachs in den Meistersingern giebt: + + Mein Freund, das grad' ist Dichters Werk, + dass er sein Träumen deut' und merk'. + Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn + wird ihm im Traume aufgethan: + all' Dichtkunst und Poëterei + ist nichts als Wahrtraum-Deuterei. + +Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch +voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja +auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir +geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen +sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei +dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die +durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens ist dies meine +Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich manches Zeugniss +und die Aussprüche der Dichter beizubringen hätte. Der philosophische +Mensch hat sogar das Vorgefühl, dass auch unter dieser Wirklichkeit, +in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege, +dass also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet +geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge +als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen +philosophischer Befähigung. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit +des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur +Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen +Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für +das Leben. Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder sind +es, die er mit jener Allverständigkeit an sich erfährt: auch das +Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die +Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze +"göttliche Komödie" des Lebens, mit dem Inferno, zieht an ihm vorbei, +nicht nur wie ein Schattenspiel - denn er lebt und leidet mit in +diesen Scenen - und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung +des Scheins; und vielleicht erinnert sich Mancher, gleich mir, in den +Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes sich mitunter ermuthigend +und mit Erfolg zugerufen zu haben: "Es ist ein Traum! Ich will ihn +weiter träumen!" Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die +die Causalität eines und desselben Traumes über drei und mehr +aufeinanderfolgende Nächte hin fortzusetzen im Stande waren: +Thatsachen, welche deutlich Zeugniss dafür abgeben, dass unser +innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tiefer +Lust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfährt. + +Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist gleichfalls von +den Griechen in ihrem Apollo ausgedrückt worden: Apollo, als der Gott +aller bildnerischen Kräfte, ist zugleich der wahrsagende Gott. Er, der +seiner Wurzel nach der "Scheinende", die Lichtgottheit ist, beherrscht +auch den schönen Schein der inneren Phantasie-Welt. Die höhere +Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der +lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe +Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur +ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und +überhaupt der Künste, durch die das Leben möglich und lebenswerth +gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht +überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls +der Schein als plumpe Wirklichkeit uns betrügen würde - darf nicht im +Bilde des Apollo fehlen: jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von +den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. +Sein Auge muss "sonnenhaft", gemäss seinem Ursprunge, sein; auch wenn +es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf +ihm. Und so möchte von Apollo in einem excentrischen Sinne das gelten, +was Schopenhauer von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen +sagt. Welt als Wille und Vorstellung I, S. 416 "Wie auf dem tobenden +Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt +und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug +vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig +der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium +individuationis". Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das +unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen +des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und +man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii +individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze +Lust und Weisheit des "Scheines", sammt seiner Schönheit, zu uns +spräche. + +An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen +geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an +den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom +Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden +scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung +hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii +individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur +emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, +das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht +wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem +alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei +dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des +Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung +das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Auch im +deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen +Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu +Ort: in diesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die +bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in +Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es giebt +Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder aus Stumpfsinn, sich von +solchen Erscheinungen wie von "Volkskrankheiten", spöttisch oder +bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abwenden: die Armen +ahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und gespenstisch eben diese +ihre "Gesundheit" sich ausnimmt, wenn an ihnen das glühende Leben +dionysischer Schwärmer vorüberbraust. + +Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund +zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, +feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest +mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde +ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der +Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: +unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das +Beethoven'sche Jubellied der "Freude" in ein Gemälde und bleibe mit +seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll +in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt +ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, +feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder "freche Mode" +zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium +der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht +nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der +Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem +geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert +sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das +Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die +Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. +Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so +tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich, +er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter +im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist +Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten +Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern +des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier +geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des +dionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: "Ihr +stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?" - + + +2. + +Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz, das +Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur +selbst, ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen, +und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem +Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren +Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe +oder künstlerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als +rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, +sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische +Einheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen unmittelbaren +Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler "Nachahmer", +und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer +Rauschkünstler oder endlich - wie beispielsweise in der griechischen +Tragödie - zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir uns +etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen Trunkenheit und +mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden +Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische +Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d.h. seine Einheit mit dem +innersten Grunde der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde +offenbart. + +Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegenüberstellungen nahen +wir uns jetzt den Griechen, um zu erkennen, in welchem Grade und bis +zu welcher Höhe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen +sind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss +des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem +aristotelischen Ausdrucke, "die Nachahmung der Natur" tiefer zu +verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der Griechen ist trotz +aller Traumlitteratur derselben und zahlreichen Traumanecdoten nur +vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei +der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres +Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich +nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Spätergeborenen, auch +für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse, +Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge +der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine +Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die träumenden +Griechen als Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu +bezeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich +hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt. + +Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn +die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen +Griechen von den dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Enden der +alten Welt - um die neuere hier bei Seite zu lassen - von Rom bis +Babylon können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren +Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält, +wie der bärtige Satyr, dem der Bock Namen und Attribute verlieh, zu +Dionysus selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer +überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über +jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten; +gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis +zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir +immer als der eigentliche "Hexentrank" erschienen ist. Gegen die +fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und +Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang +völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolz +sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner +gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft +ungeschlachten dionysischen. Es ist die dorische Kunst, in der +sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat. +Bedenklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als endlich +aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche Triebe +Bahnbrachen: jetzt beschränkte sich das Wirken des delphischen +Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit +abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu +nehmen. Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte +des griechischen Cultus: wohin man blickt, sind die Umwälzungen +dieses Ereignisses sichtbar. Es war die Versöhnung zweier Gegner, mit +scharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien und +mit periodischer Uebersendung von Ehrengeschenken; im Grunde war die +Kluft nicht überbrückt. Sehen wir aber, wie sich unter dem Drucke +jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offenbarte, so erkennen +wir jetzt, im Vergleiche mit jenen babylonischen Sakäen und ihrem +Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen +Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und +Verklärungstagen. + +Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst +bei ihnen wird die Zerreissung des principii individuationis ein +künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexentrank aus Wollust +und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung und +Doppelheit in den Affecten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn +- wie Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern -, jene Erscheinung, +dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne +entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder +der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenen +griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der +Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu +seufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwiefach +gestimmter Schwärmer war für die homerisch- griechische Welt etwas +Neues und Unerhörtes: und insbesondere erregte ihr die dionysische +Musik Schrecken und Grausen. Wenn die Musik scheinbar bereits als +eine apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau +genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur +Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des +Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeuteten +Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das +Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der +dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die +erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und +die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen +Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner +symbolischen Fähigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur +Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als +Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur +symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal +die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des +Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch +bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, +die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm. +Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss +der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt +sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der +dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen +verstanden! Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf +ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war, als sich ihm +das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd +nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier +diese dionysische Welt vor ihm verdecke. + + +3. + +Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Gebäude der +apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die +Fundamente erblicken, auf die es begründet ist. Hier gewahren wir nun +zuerst die herrlichen olympischen Göttergestalten, die auf den Giebeln +dieses Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden +Reliefs dargestellt seine Friese zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo +steht, als eine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Anspruch +einer ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. +Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene +ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf uns Apollo als +Vater derselben gelten. Welches war das ungeheure Bedürfniss, aus dem +eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang? + +Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier +herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach +unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei +ihnen sucht, der wird unmuthig und enttäuscht ihnen bald den Rücken +kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und +Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu +uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut +oder böse ist. Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem +phantastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fragen, mit +welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen Menschen das Leben +genossen haben mögen, dass, wohin sie sehen, Helena, das "in süsser +Sinnlichkeit schwebende" Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen +entgegenlacht. Diesem bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen +wir aber zurufen: "Geh' nicht von dannen, sondern höre erst, was die +griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aussagt, das sich +hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet. Es geht die +alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem +Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als +er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für +den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und +unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, +endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: `Elendes +Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du +mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste +ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren +zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für +dich - bald zu sterben`." + +Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Götterwelt? +Wie die entzückungsreiche Vision des gefolterten Märtyrers zu seinen +Peinigungen. + +Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt +uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und +Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er +vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes +ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über +allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira jener Geier des +grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisen +Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde +zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, sammt ihren +mythischen Exempeln, an der die schwermüthigen Etrurier zu Grunde +gegangen sind - wurde von den Griechen durch jene künstlerische +Mittelwelt der Olympier fortwährend von Neuem überwunden, jedenfalls +verhüllt und dem Anblick entzogen. Um leben zu können, mussten die +Griechen diese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen +Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der +ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen +apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische +Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem +Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende, +so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein +ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie +umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, +der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende +Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt +entstehn, in der sich der hellenische "Wille" einen verklärenden +Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem +sie es selbst leben - die allein genügende Theodicee! Das Dasein +unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an +sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche Schmerz der +homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor +allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit +Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, "das Allerschlimmste +sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal +zu sterben". Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt sie wieder vom +kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel +des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist +des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu +sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der +apollinischen Stufe, der "Wille" nach diesem Dasein, so eins fühlt +sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem +Preisliede wird. + +Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren +Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen +mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort "naiv" in Geltung +gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst +ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der +Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen +müssten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau's +sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am +Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte. +Wo uns das "Naive" in der Kunst begegnet, haben wir die höchste +Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: welche immer erst ein +Titanenreich zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige +Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche +Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger +geworden sein muss. Aber wie selten wird das Naive, jenes völlige +Verschlungensein in der Schönheit des Scheines, erreicht! Wie +unaussprechbar erhaben ist deshalb Homer, der sich, als Einzelner, +zu jener apollinischen Volkscultur verhält, wie der einzelne +Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt. +Die homerische "Naivetät" ist nur als der vollkommene Sieg der +apollinischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solche Illusion, +wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig +verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt: nach +diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch +unsre Täuschung. In den Griechen wollte der "Wille" sich selbst, +in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen; um +sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als +verherrlichenwerth empfinden sie mussten sich in einer höheren Sphäre +wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als +Imperativ oder als Vorwurf wirkte Dies ist die Sphäre der Schönheit, +in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser +Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische "Wille" gegen das dem +künstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des +Leidens und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive +Künstler. + + +4. + +Ueber diesen naiven Künstler giebt uns die Traumanalogie einige +Belehrung Wenn wir uns den Träumenden vergegenwärtigen, wie er, mitten +in der Illusion der Traumwelt und ohne sie zu stören, sich zuruft "es +ist ein Traum, ich will ihn weiter träumen", wenn wir hieraus auf eine +tiefe innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn wir +andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am Schauen träumen +zu können, den Tag und seine schreckliche Zudringlichkeit völlig +vergessen haben müssen so dürfen wir uns alle diese Erscheinungen +etwa in folgender Weise, unter der Leitung des traumdeutenden Apollo, +interpretiren. So gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der +wachen und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich +bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein gelebte +dünkt so möchte ich doch, bei allem Anscheine einer Paradoxie, für +jenen geheimnissvollen Grund unseres Wesens, dessen Erscheinung +wir sind, gerade die entgegengesetzte Werthschätzung des Traumes +behaupten. Je mehr ich nämlich hin der Natur jene allgewaltigen +Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum +Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich +zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und +Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die +entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung +braucht: welchen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm +bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d.h. als ein fortwährendes +Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als +empirische Realität zu empfinden genöthigt sind. Sehen wir also einmal +von unsrer eignen "Realität" für einen Augenblick ab, fassen wir unser +empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem +Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum +als der Schein des Scheins, somit als eine noch höhere Befriedigung +der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus diesem selben Grunde +hat der innerste Kern der Natur jene unbeschreibliche Lust an dem +naiven Künstler und dem naiven Kunstwerke, das gleichlfalls nur +"Schein des Scheins" ist. Rafael, selbst einer jener unsterblichen +"Naiven", hat uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes +Depotenziren des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven +Künstlers und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In +seiner Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen +Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern, +die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der +Welt der "Schein" ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des +Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer +Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im +ersten Schein Befangenen nichts sehen - ein leuchtendes Schweben +in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden +Anschauen. Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene +apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche +Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch +Intuition, ihre gegenseitige Nothwendigkeit Apollo aber tritt uns +wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis +entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine +Erlösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabenen +Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der +Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde und dann, +ins Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden +Kahne, inmitten des Meeres, sitze. + +Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie überhaupt +imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur Ein Gesetz, +das Individuum d.h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums, +das Maass im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, +fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können, +Selbsterkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Nothwendigkeit +der Schönheit die Forderung des "Erkenne dich selbst" und des "Nicht +zu viel!" her, während Selbstüberhebung und Uebermaass als die +eigentlich feindseligen Dämonen der nicht-apollinischen Sphäre, daher +als Eigenschaften der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, +und der ausser-apollinischen Welt d.h. der Barbarenwelt, erachtet +wurden. Wegen seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen musste +Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner übermässigen +Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx löste, musste Oedipus in +einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen: so interpretirte der +delphische Gott die griechische Vergangenheit. + +"Titanenhaft" und "barbarisch" dünkte dem apollinischen Griechen auch +die Wirkung, die das Dionysische erregte: ohne dabei sich verhehlen +zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen +gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr +empfinden: sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte +auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss, +der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! +Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben! Das "Titanische" und das +"Barbarische" war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit wie das +Apollinische! Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und +die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische +Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang, +wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und +Erkenntniss, bis zum durchdringenden Schrei, laut wurde: denken wir +uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende +Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklange, bedeuten +konnte! Die Musen der Künste des "Scheins" verblassten vor einer +Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit +des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das +Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der +Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die +apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, +der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich +aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das +Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet. +Aber eben so gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten +wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes starrer und +drohender als je sich äusserte. Ich vermag nämlich den dorischen Staat +und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des +Apollinischen zu erklären: nur in einem unausgesetzten Widerstreben +gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen konnte +eine so trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine +so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein so grausames und +rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer sein. + +Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden, was ich am +Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das Dionysische und das +Apollinische in immer neuen auf einander folgenden Geburten, und sich +gegenseitig steigernd das hellenische Wesen beherrscht haben: wie +aus dem "erzenen" Zeitalter, mit seinen Titanenkämpfen und seiner +herben Volksphilosophie, sich unter dem Walten des apollinischen +Schönheitstriebes die homerische Welt entwickelt, wie diese "naive" +Herrlichkeit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen +verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich +das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und +Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere hellenische +Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien, in vier +grosse Kunststufen zerfällt: so sind wir jetzt gedrängt, weiter nach +dem letzten Plane dieses Werdens und Treibens zu fragen, falls uns +nicht etwa die letzterreichte Periode, die der dorischen Kunst, als +die Spitze und Absicht jener Kunsttriebe gelten sollte: und hier +bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk +der attischen Tragödie und des dramatischen Dithyrambus, als das +gemeinsame Ziel beider Triebe, deren geheimnissvolles Ehebündniss, +nach langem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde - das +zugleich Antigone und Kassandra ist - verherrlicht hat. + + +5. + +Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Untersuchung, die +auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen Genius und seines +Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolle Verständniss jenes +Einheitsmysteriums gerichtet ist. Hier fragen wir nun zunächst, wo +jener neue Keim sich zuerst in der hellenischen Welt bemerkbar macht, +der sich nachher bis zur Tragödie und zum dramatischen Dithyrambus +entwickelt. Hierüber giebt uns das Alterthum selbst bildlich +Aufschluss, wenn es als die Urväter und Fackelträger der griechischen +Dichtung Homer und Archilochus auf Bildwerken, Gemmen u.s.w. neben +einander stellt, in der sicheren Empfindung, dass nur diese Beiden +gleich völlig originalen Naturen, von denen aus ein Feuerstrom auf die +gesammte griechische Nachwelt fortfliesse, zu erachten seien. Homer, +der in sich versunkene greise Träumer, der Typus des apollinischen, +naiven Künstlers, sieht nun staunend den leidenschaftlichen Kopf +des wild durch's Dasein getriebenen kriegerischen Musendieners +Archilochus: und die neuere Aesthetik wusste nur deutend hinzuzufügen, +dass hier dem "objectiven" Künstler der erste "subjective" entgegen +gestellt sei. Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den +subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder +Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, +Erlösung vom "Ich" und Stillschweigen jedes individuellen Willens und +Gelüstens fordern, ja ohne Objectivität, ohne reines interesseloses +Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung +glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, +wie der "Lyriker" als Künstler möglich ist: er, der, nach der +Erfahrung aller Zeiten, immer "ich" sagt und die ganze chromatische +Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt. +Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den +Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner +Begierde; ist er, der erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit +der eigentliche Nichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung, die +ihm, dem Dichter, gerade auch das delphische Orakel, der Herd der +"objectiven" Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat? + +Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm +selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische +Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich als den vorbereitenden +Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, +mit geordneter Causalität der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu +haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung ("Die Empfindung +ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser +bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung +geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee"). +Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik +hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität +des Lyrikers mit dem Musiker - der gegenüber unsre neuere Lyrik wie +ein Götterbild ohne Kopf erscheint - so können wir jetzt, auf Grund +unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik, uns in folgender +Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, +gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins +geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, wenn +anders diese mit Recht eine Wiederholung der Welt und ein zweiter +Abguss derselben genannt worden ist; jetzt aber wird diese Musik +ihm wieder wie in einem gleichnissartige Traumbilde, unter der +apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose +Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung +im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes +Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits +in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine +Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die +jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, +versinnlicht. Das "Ich" des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des +Seins: seine "Subjectivität" im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine +Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine +rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Lykambes +kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in +orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir +sehen den berauschten Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken +- wie ihn uns Euripides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf +hoher Alpentrift, in der Mittagssonne -: und jetzt tritt Apollo an ihn +heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch-musikalische +Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam Bilderfunken um +sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien +und dramatische Dithyramben heissen. + +Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine +Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes +Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der +lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und +Einheitszustande eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die +eine ganz andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene +Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztgenannte in diesen +Bildern und nur in ihnen mit freudigem Behagen lebt und nicht müde +wird, sie bis auf die kleinsten Züge hin liebevoll anzuschauen, +während selbst das Bild des zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild +ist, dessen zürnenden Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine +geniesst - so dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das +Einswerden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten geschützt ist +-, so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts als er selbst und +gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als +bewegender Mittelpunkt jener Welt "ich" sagen darf: nur ist diese +Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch- realen +Menschen, sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im +Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische +Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun denken wir uns +einmal, wie er unter diesen Abbildern auch sich selbst als Nichtgenius +erblickt d.h. sein "Subject", das ganze Gewühl subjectiver, auf ein +bestimmtes, ihm real dünkendes Ding gerichteter Leidenschaften und +Willensregungen; wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und +der mit ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere +von sich selbst jenes Wörtchen "ich" spräche, so wird uns jetzt dieser +Schein nicht mehr verführen können, wie er allerdings diejenigen +verführt hat, die den Lyriker als den subjectiven Dichter bezeichnet +haben. In Wahrheit ist Archilochus, der leidenschaftlich entbrannte +liebende und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits +nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen +Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch +ausspricht: während jener subjectiv wollende und begehrende Mensch +Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein kann. Es ist aber +gar nicht nöthig, dass der Lyriker gerade nur das Phänomen des +Menschen Archilochus vor sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins; +und die Tragödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers +von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen entfernen kann. + +Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker für die +philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt hat, glaubt +einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann, +während ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysik der Musik, +das Mittel in die Hand gegeben war, mit dem jene Schwierigkeit +entscheidend beseitigt werden konnte: wie ich dies, in seinem Geiste +und zu seiner Ehre, hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er +als das eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und +Vorstellung I, S. 295): "Es ist das Subject des Willens, d.h. das +eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden füllt, oft als ein +entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als +ein gehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegter +Gemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den +Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als +Subjects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, +selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange des immer +beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses +Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich, was sich im Ganzen +des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand +ausmacht. In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran, +um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen: wir folgen; doch nur +auf Augenblicke: immer von Neuem entreisst das Wollen, die Erinnerung +an unsere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen Beschauung; aber auch +immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöne Umgebung, in +welcher sich die reine willenlose Erkenntniss uns darbietet. Darum +geht im Liede und der lyrischen Stimmung das Wollen (das persönliche +Interesse des Zwecks) und das reine Anschauen der sich darbietenden +Umgebung wundersam gemischt durch einander: es werden Beziehungen +zwischen beiden gesucht und imaginirt; die subjective Stimmung, die +Affection des Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese +wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so +gemischten und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied der +Abdruck". + +Wer vermöchte in dieser Schilderung zu verkennen, dass hier die Lyrik +als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum +Ziele kommende Kunst charakterisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren +Wesen darin bestehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen +d.h. der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam durch +einander gemischt seien? Wir behaupten vielmehr, dass der ganze +Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer +die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven, +überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende +und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, +nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das +Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen +erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine +wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert. Denn dies +muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich +sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer +Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig +die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir +von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben +schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung +von Kunstwerken unsre höchste Würde haben - denn nur als aesthetisches +Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: - während +freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein +andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr +dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im +Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen +nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und +Zuschauer jener Kunstkomödie, einen ewigen Genuss bereitet. Nur soweit +der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler +der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; +denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen +Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber +anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich +Dichter, Schauspieler und Zuschauer. + + +6. + +In Betreff des Archilochus hat die gelehrte Forschung entdeckt, dass +er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe, und dass ihm, +dieser That halber, jene einzige Stellung neben Homer, in der +allgemeinen Schätzung der Griechen zukomme. Was aber ist das Volkslied +im Gegensatz zu dem völlig apollinischen Epos? Was anders als das +perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und des +Dionysischen; seine ungeheure, über alle Völker sich erstreckende +und in immer neuen Geburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein +Zeugniss dafür, wie stark jener künstlerische Doppeltrieb der Natur +ist: der in analoger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, +wie die orgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik +verewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie jede +an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf das Stärkste +durch dionysische Strömungen erregt worden ist, welche wir immer als +Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zu betrachten haben. + +Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musikalischer +Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eine parallele +Traumerscheinung sucht und diese in der Dichtung ausspricht. Die +Melodie ist also das Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrere +Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann. Sie +ist auch das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven +Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und +zwar immer wieder von Neuem; nichts Anderes will uns die Strophenform +des Volksliedes sagen: welches Phänomen ich immer mit Erstaunen +betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklärung fand. Wer eine +Sammlung von Volksliedern z.B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie +hin ansieht, der wird unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend +gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer +Buntheit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine +dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen wildfremde +Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und +unregelmässige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen: und dies +haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen +Feste im Zeitalter des Terpander gethan. + +In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das +Stärkste angespannt, die Musik nachzuahmen: deshalb beginnt mit +Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem +tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig mögliche +Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das +Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck +und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne +dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei +Hauptströmungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs- +und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal +tiefer über die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen +Bau's, des Wortmaterial's bei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung +dieses Gegensatzes zu begreifen; ja es wird Einem dabei handgreiflich +deutlich, dass zwischen Homer und Pindar die orgiastischen +Flötenweisen des Olympus erklungen sein müssen, die noch im Zeitalter +des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu +trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen +Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen +zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein bekanntes, +unserer Aesthetik nur anstössig dünkendes Phänomen unserer Tage. +Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven'sche Symphonie die +einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch dass eine +Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstück erzeugten +Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt: +an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und das doch +wahrlich erklärenswerthe Phänomen zu übersehen, ist recht in der Art +jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine +Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pastorale +und einen Satz als "Scene am Bach", einen anderen als "lustiges +Zusammensein der Landleute" bezeichnet, so sind das ebenfalls nur +gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen - und nicht etwa +die nachgeahmten Gegenstände der Musik - Vorstellungen, die über den +dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren +können, ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern +haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wir +uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpferische Volksmenge +zu übertragen, um zur Ahnung zu kommen, wie das strophische Volkslied +entsteht, und wie das ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der +Nachahmung der Musik aufgeregt wird. + +Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende +Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, so +können wir jetzt fragen: "als was erscheint die Musik im Spiegel der +Bildlichkeit und der Begriffe?" Sie erscheint als Wille, das Wort +im Schopenhauerischen Sinne genommen, d.h. als Gegensatz der +aesthetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Hier +unterscheide man nun so scharf als möglich den Begriff des Wesens von +dem der Erscheinung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich +Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst +zu bannen wäre - denn der Wille ist das an sich Unaesthetische -; +aber sie erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildern +auszudrücken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft, vom +Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe, +in apollinischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die +ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende, Begehrende, +Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern deutet, ruht er selbst +in der stillen Meeresruhe der apollinischen Betrachtung, so sehr auch +alles, was er durch das Medium der Musik anschaut, um ihn herum in +drängender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch +dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im +Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen, Sehnen, +Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich +deutet. Dies ist das Phänomen des Lyrikers: als apollinischer Genius +interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, während er +selbst, völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtes +Sonnenauge ist. + +Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik eben so +abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer +völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, +sondern ihn nur neben sich erträgt. Die Dichtung des Lyrikers kann +nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und +Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede +nöthigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache +auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den +Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, +somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller +Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur +Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der +Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach +Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung +der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik, +während deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns +auch keinen Schritt näher gebracht werden kann. + + +7. + +Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir jetzt zu Hülfe +nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht zu finden, als welches wir den +Ursprung der griechischen Tragödie bezeichnen müssen. Ich denke nichts +Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses +Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, +geschweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der +antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander genäht und +wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mit +voller Entschiedenheit, dass die Tragödie aus dem tragischen Chore +entstanden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war: +woher wir die Verpflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem +eigentlichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den geläufigen +Kunstredensarten - dass er der idealische Zuschauer sei oder das +Volk gegenüber der fürstlichen Region der Scene zu vertreten habe +- irgendwie genügen zu lassen. Jener zuletzt erwähnte, für manchen +Politiker erhaben klingende Erläuterungsgedanke - als ob das +unwandelbare Sittengesetz von den demokratischen Athenern in +dem Volkschore dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen +Ausschreitungen und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht +behalte - mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles nahegelegt +sein: auf die ursprüngliche Formation der Tragödie ist er ohne +Einfluss, da von jenen rein religiösen Ursprüngen der ganze Gegensatz +von Volk und Fürst, überhaupt jegliche politisch-sociale Sphäre +ausgeschlossen ist; aber wir möchten es auch in Hinsicht auf die uns +bekannte classische Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für +Blasphemie erachten, hier von der Ahnung einer "constitutionellen +Volksvertretung" zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht +zurückgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksvertretung +kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und haben sie +hoffentlich auch in ihrer Tragödie nicht einmal "geahnt". + +Viel berühmter als diese politische Erklärung des Chors ist der +Gedanke A. W. Schlegel's, der uns den Chor gewissermaassen als den +Inbegriff und Extract der Zuschauermenge, als den "idealischen +Zuschauer" zu betrachten anempfiehlt. Diese Ansicht, zusammengehalten +mit jener historischen Ueberlieferung, dass ursprünglich die Tragödie +nur Chor war, erweist sich als das was sie ist, als eine rohe, +unwissenschaftliche, doch glänzende Behauptung, die ihren Glanz +aber nur durch ihre concentrirte Form des Ausdrucks, durch die echt +germanische Voreingenommenheit für Alles, was "idealisch" genannt wird +und durch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat. Wir sind nämlich +erstaunt, sobald wir das uns gut bekannte Theaterpublicum mit jenem +Chore vergleichen und uns fragen, ob es wohl möglich sei, aus diesem +Publicum je etwas dem tragischen Chore Analoges herauszuidealisiren. +Wir leugnen dies im Stillen und wundern uns jetzt eben so über die +Kühnheit der Schlegel'schen Behauptung wie über die total verschiedene +Natur des griechischen Publicums. Wir hatten nämlich doch immer +gemeint, dass der rechte Zuschauer, er sei wer er wolle, sich immer +bewusst bleiben müsse, ein Kunstwerk vor sich zu haben, nicht eine +empirische Realität: während der tragische Chor der Griechen in den +Gestalten der Bühne leibhafte Existenzen zu erkennen genöthigt ist. +Der Okeanidenchor glaubt wirklich den Titan Prometheus vor sich zu +sehen und hält sich selbst für eben so real wie den Gott der Scene. +Und das sollte die höchste und reinste Art des Zuschauers sein, gleich +den Okeaniden den Prometheus für leiblich vorhanden und real zu +halten? Und es wäre das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die +Bühne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien? Wir +hatten an ein aesthetisches Publicum geglaubt und den einzelnen +Zuschauer für um so befähigter gehalten, je mehr er im Stande war, +das Kunstwerk als Kunst d.h. aesthetisch zu nehmen; und jetzt deutete +uns der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische +Zuschauer die Welt der Scene gar nicht aesthetisch, sondern leibhaft +empirisch auf sich wirken lasse. O über diese Griechen! seufzen wir; +sie werfen uns unsre Aesthetik um! Daran aber gewöhnt, wiederholten +wir den Sdllegel'schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam. + +Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel: +der Chor an sich, ohne Bühne, also die primitive Gestalt der Tragödie +und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit +einander. Was wäre das für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff +des Zuschauers herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der +"Zuschauer an sich" zu gelten hätte. Der Zuschauer ohne Schauspiel ist +ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die Geburt der Tragödie +weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse, +noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklären +sei und halten dies Problem für zu tief, um von so flachen +Betrachtungsarten auch nur berührt zu werden. + +Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung des Chors +hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede zur Braut von Messina +verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die +Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein +abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische +Freiheit zu bewahren. + +Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den gemeinen +Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen Poesie +gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst auf dem Theater +nur ein künstlicher, die Architektur nur eine symbolische sei und die +metrische Sprache einen idealen Charakter trage, herrsche immer noch +der Irrthum im Ganzen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine +poetische Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die +Einführung des Chores sei der entscheidende Schritt, mit dem jedem +Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der Krieg erklärt werde. +- Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, für die unser +sich überlegen wähnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort +"Pseudoidealismus" gebraucht. Ich fürchte, wir sind dagegen mit +unserer jetzigen Verehrung des Natürlichen und Wirklichen am +Gegenpol alles Idealismus angelangt, nämlich in der Region der +Wachsfigurencabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei +gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quäle man uns nicht +mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche +"Pseudoidealismus" überwunden sei. + +Freilich ist es ein "idealer" Boden, auf dem, nach der richtigen +Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der +ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch +emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der +Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste eines fingirten +Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt. +Die Tragödie ist auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich +schon deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der +Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine willkürlich +zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt; vielmehr eine Welt +von gleicher Realität und Glaubwürdigkeit wie sie der Olymp sammt +seinen Insassen für den gläubigen Hellenen besass. Der Satyr als der +dionysische Choreut lebt in einer religiös zugestandenen Wirklichkeit +unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit ihm die +Tragödie beginnt, dass aus ihm die dionysische Weisheit der Tragödie +spricht, ist ein hier uns eben so befremdendes Phänomen wie überhaupt +die Entstehung der Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen +wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung +hinstelle, dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu dem +Culturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die dionysische Musik +zur Civilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, dass sie von +der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vom Tageslicht. In +gleicher Weise, glaube ich, fühlte sich der griechische Culturmensch +im Angesicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die nächste +Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und die +Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem +übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur +zurückführt. Der metaphysische Trost, - mit welchem, wie ich schon +hier andeute, uns jede wahre Tragödie entlässt - dass das Leben im +Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar +mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter +Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam +hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel +der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben. + +Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und +schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem +Blicke mitten in das furchtbare Vernidhtungstreiben der sogenannten +Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat +und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des +Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet +ihn sich - das Leben. + +Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der +gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während +seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles persönlich +in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese +Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen +Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche +Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als +solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die +Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch +Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in +das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu +handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge +ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen +zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. +Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das +Umschleiertsein durch die Illusion - das ist die Hamletlehre, nicht +jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel +Reflexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum +Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! - die wahre Erkenntniss, +der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln +antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen +Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine +Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird, +sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in +einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der +einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das +Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische +im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes +Silen: es ekelt ihn. + +Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, +heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag jene Ekelgedanken +über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen +umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als +die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als +die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des +Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst; an der +Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhin +beschriebenen Anwandlungen. + + +8. + +Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeit sind Beide +Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten +Sehnsucht; aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der +Grieche nach seinem Waldmenschen, wie verschämt und weichlich tändelte +der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden +weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keine Erkenntniss +gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch unerbrochen sind - das +sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem +Affen zusammenfiel. Im Gegentheil: es war das Urbild des Menschen, +der Ausdruck seiner höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter +Schwärmer, den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse, +in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheitsverkünder +aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der +geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit +ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Erhabenes und +Göttliches: so musste er besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick +des dionysischen Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene +Schäfer beleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmert grossartigen +Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung; +hier war die Illusion der Cultur von dem Urbilde des Menschen +weggewischt, hier enthüllte sich der wahre Mensch, der bärtige Satyr, +der zu seinem Gotte aufjubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur +lügenhaften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der tragischen +Kunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine lebendige Mauer gegen +die anstürmende Wirklichkeit, weil er - der Satyrchor - das Dasein +wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet als der gemeinhin +sich als einzige Realität achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie +liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit +eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der +ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deshalb den +lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen +von sich werfen. Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und +der sich als einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher +wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und +der gesammten Erscheinungswelt: und wie die Tragödie mit ihrem +metaphysischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei +dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hinweist, so spricht +bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes +Urverhältniss zwischen Ding an sich und Erscheinung aus. Jener +idyllische Schäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der +ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen; der dionysische +Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft - er +sieht sich zum Satyr verzaubert. + +Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die schwärmende +Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie selbst vor ihren eignen +Augen verwandelt, so dass sie sich als wiederhergestellte Naturgenien, +als Satyrn, zu erblicken wähnen. Die spätere Constitution des +Tragödienchors ist die künstlerische Nachahmung jenes natürlichen +Phänomens; bei der nun allerdings eine Scheidung von dionysischen +Zuschauern und dionysischen Verzauberten nöthig wurde. Nur muss +man sich immer gegenwärtig halten, dass das Publicum der attischen +Tragödie sich selbst in dem Chore der Orchestra wiederfand, dass es im +Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab: denn alles ist nur +ein grosser erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder +von solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen. +Das Schlegel'sche Wort muss sich uns hier in einem tieferen Sinne +erschliessen. Der Chor ist der "idealische Zuschauer", insofern er +der einzige Schauer ist, der Schauer der Visionswelt der Scene. +Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen +unbekannt: in ihren Theatern war es Jedem, bei dem in concentrischen +Bogen sich erhebenden Terrassenbau des Zuschauerraumes, möglich, die +gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und +in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen. Nach dieser +Einsicht dürfen wir den Chor, auf seiner primitiven Stufe in der +Urtragödie, eine Selbstspiegelung des dionysischen Menschen nennen: +welches Phänomen am deutlichsten durch den Prozess des Schauspielers +zu machen ist, der, bei wahrhafter Begabung, sein von ihm +darzustellendes Rollenbild zum Greifen wahrnehmbar vor seinen Augen +schweben sieht. Der Satyrchor ist zu allererst eine Vision der +dionysischen Masse, wie wiederum die Welt der Bühne eine Vision dieses +Satyrchors ist: die Kraft dieser Vision ist stark genug, um gegen den +Eindruck der "Realität", gegen die rings auf den Sitzreihen gelagerten +Bildungsmenschen den Blick stumpf und unempfindlich zu machen. Die +Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal: +die Architektur der Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, +welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus +erblicken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bild +des Dionysus offenbar wird. + +Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Erklärung des +Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei unserer gelehrtenhaften +Anschauung über die elementaren künstlerischen Prozesse, fast +anstössig; während nichts ausgemachter sein kann, als dass der Dichter +nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, +die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er +hineinblickt. Durch eine eigenthümliche Schwäche der modernen Begabung +sind wir geneigt, uns das aesthetische Urphänomen zu complicirt und +abstract vorzustellen. Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht +eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm +wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Character ist für +ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes, +sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person, die +von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das fortwährende +Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer +so viel anschaulicher als alle Dichter? Weil er um so viel mehr +anschaut. Wir reden über Poesie so abstract, weil wir alle schlechte +Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das aesthetische Phänomen +einfach; man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel +zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist +man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und +aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker. + +Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese +künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen +Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie sich innerlich eins weiss. +Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramatische Urphänomen: sich +selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man +wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen +wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung des Dramas. +Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der mit seinen Bildern nicht +verschmilzt, sondern sie, dem Maler ähnlich, mit betrachtendem Auge +ausser sich sieht; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums +durch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen +epidemisch auf: eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise +verzaubert. Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen +Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lorbeerzweigen +in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein +Prozessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ihren +bürgerlichen Namen: der dithyrambische Chor ist ein Chor von +Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale +Stellung völlig vergessen ist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb +aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle +andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steigerung des +apollinischen Einzelsängers; während im Dithyramb eine Gemeinde +von unbewussten Schauspielern vor uns steht, die sich selbst unter +einander als verwandelt ansehen. + +Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. In +dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr, +und als Satyr wiederum schaut er den Gott d.h. er sieht in seiner +Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung +seines Zustandes. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig. + +Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den +dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder +in einer apollinischen Bilderwelt entladet. Jene Chorpartien, mit +denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermaassen der +Mutterschooss des ganzen sogenannten Dialogs d.h. der gesammten +Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas. In mehreren auf einander +folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision +des Dramas aus: die durchaus Traumerscheinung und insofern epischer +Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation eines dionysischen +Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im +Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem +Ursein darstellt. Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung +dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine +ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden. + +Der Chor der griechischen Tragödie, das Symbol der gesammten +dionysisch erregten Masse, findet an dieser unserer Auffassung seine +volle Erklärung. Während wir, mit der Gewöhnung an die Stellung eines +Chors auf der modernen Bühne, zumal eines Opernchors, gar nicht +begreifen konnten, wie jener tragische Chor der Griechen älter, +ursprünglicher, ja wichtiger sein sollte, als die eigentliche +"Action", - wie dies doch so deutlich überliefert war - während +wir wiederum mit jener überlieferten hohen Wichtigkeit und +Ursprünglichkeit nicht reimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen +dienenden Wesen, ja zuerst nur aus bocksartigen Satyrn zusammengesetzt +worden sei, während uns die Orchestra vor der Scene immer ein Räthsel +blieb, sind wir jetzt zu der Einsicht gekommen, dass die Scene sammt +der Action im Grunde und ursprünglich nur als Vision gedacht wurde, +dass die einzige "Realität" eben der Chor ist, der die Vision aus sich +erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und +des Wortes redet. Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und +Meister Dionysus und ist darum ewig der dienende Chor: er sieht, wie +dieser, der Gott, leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb +selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden +Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der +Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Orakel- und +Weisheitssprüche: als der mitleidende ist er zugleich der weise, aus +dem Herzen der Welt die Wahrheit verkündende. So entsteht denn jene +phantastische und so anstössig scheinende Figur des weisen und +begeisterten Satyrs, der zugleich "der tumbe Mensch" im Gegensatz zum +Gotte ist: Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol +derselben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst: Musiker, +Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person. + +Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist +gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueberlieferung, zuerst, in +der allerältesten Periode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden, +sondern wird nur als vorhanden vorgestellt: d.h. ursprünglich ist die +Tragödie nur "Chor" und nicht "Drama". Später wird nun der Versuch +gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt +sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen; +damit beginnt das "Drama" im engeren Sinne. Jetzt bekommt der +dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem +Grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn der tragische Held auf +der Bühne erscheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen +sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene +Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner jüngst +abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen +Anschauen derselben sich verzehrend - wie ihm nun plötzlich ein +ähnlich gestaltetes, ähnlich schreitendes Frauenbild in Verhüllung +entgegengeführt wird: denken wir uns seine plötzliche zitternde +Unruhe, sein stürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung +- so haben wir ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch +erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit +dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwillkürlich übertrug +er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde Bild des Gottes auf +jene maskirte Gestalt und löste ihre Realität gleichsam in eine +geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies ist der apollinische +Traumeszustand, in dem die Welt des Tages sich verschleiert und eine +neue Welt, deutlicher, verständlicher, ergreifender als jene und doch +schattengleicher, in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu +gebiert. Demgemäss erkennen wir in der Tragödie einen durchgreifenden +Stilgegensatz: Sprache, Farbe, Beweglichkeit, Dynamik der Rede +treten in der dionysischen Lyrik des Chors und andrerseits in der +apollinischen Traumwelt der Scene als völlig gesonderte Sphären des +Ausdrucks aus einander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich +Dionysus objectivirt, sind nicht mehr "ein ewiges Meer, ein wechselnd +Weben, ein glühend Leben", wie es die Musik des Chors ist, nicht mehr +jene nur empfundenen, nicht zum Bilde verdichteten Kräfte, in denen +der begeisterte Dionysusdiener die Nähe des Gottes spürt: jetzt +spricht, von der Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der +epischen Gestaltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch +Kräfte, sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers. + + +9. + +Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tragödie, im +Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig, schön +aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen, dessen +Natur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze die grösste Kraft nur +potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der +Bewegung verräth. So überrascht uns die Sprache der sophokleischen +Helden durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass +wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken wähnen, +mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem Grunde so kurz +ist. Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberfläche kommenden und +sichtbar werdenden Charakter des Helden ab - der im Grunde nichts mehr +ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d.h. Erscheinung +durch und durch - dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der in +diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben wir plötzlich +ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss zu einem bekannten +optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in's +Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle farbige +Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind +jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das +Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in's +Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur +Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes. Nur in diesem +Sinne dürfen wir glauben, den ernsthaften und bedeutenden Begriff der +"griechischen Heiterkeit" richtig zu fassen; während wir allerdings +den falsch verstandenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande +ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart +antreffen. + +Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige +Oedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der +zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber +am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft +um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der +edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen: +durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die +sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch dieses Handeln wird ein +höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf +den Ruinen der umgestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter, +insofern er zugleich religiöser Denker ist, sagen: als Dichter zeigt +er uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den der +Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Verderben löst; +die echt hellenische Freude an dieser dialektischen Lösung ist so +gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener Heiterkeit über das +ganze Werk kommt, der den schauderhaften Voraussetzungen jenes +Prozesses überall die Spitze abbricht. Im "Oedipus auf Kolonos" +treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung +emporgehoben; dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise +gegenüber, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender +preisgegeben ist - steht die überirdische Heiterkeit, die aus +göttlicher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der Held in +seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt, die +weit über sein Leben hinausgreift, während sein bewusstes Tichten und +Trachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird +der für das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten +der Oedipusfabel langsam entwirrt - und die tiefste menschliche Freude +überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück der Dialektik. Wenn wir +mit dieser Erklärung dem Dichter gerecht geworden sind, so kann doch +immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft +ist: und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters +nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in +den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der Mörder seines +Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der Räthsellöser der Sphinx! +Was sagt uns die geheimnissvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten? +Es giebt einen uralten, besonders persischen Volksglauben, dass ein +weiser Magier nur aus Incest geboren werden könne: was wir uns, im +Hinblick auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus, +sofort so zu interpretiren haben, dass dort, wo durch weissagende und +magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetz +der Individuation, und überhaupt der eigentliche Zauber der Natur +gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit - wie dort der Incest - +als Ursache vorausgegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur +zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, +dass man ihr siegreich widerstrebt, d.h. durch das Unnatürliche? +Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Dreiheit der +Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das Räthsel der Natur - +jener doppeltgearteten Sphinx - löst, muss auch als Mörder des Vaters +und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der +Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade +die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, +welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung +stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe. +"Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist +ein Verbrechen an der Natur": solche schreckliche Sätze ruft uns der +Mythus zu: der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl +die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus, so dass er +plötzlich zu tönen beginnt - in sophokleischen Melodieen! + +Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der Activität +gegenüber, welche den Prometheus des Aeschylus umleuchtet. Was uns +hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte, was er aber als Dichter +durch sein gleichnissartiges Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns +der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu +enthüllen gewusst: + + "Hier sitz ich, forme Menschen + Nach meinem Bilde, + Ein Geschlecht, das mir gleich sei, + Zu leiden, zu weinen, + Zu geniessen und zu freuen sich + Und dein nicht zu achten, + Wie ich!" + +Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine +Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden, weil er in +seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben +in seiner Hand hat. Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das +seinem Grundgedanken nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmigkeit +ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtigkeit: das +unermessliche Leid des kühnen "Einzelnen" auf der einen Seite, und die +göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die +zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener +beiden Leidenswelten - dies alles erinnert auf das Stärkste an den +Mittelpunkt und Hauptsatz der aeschyleischen Weltbetrachtung, die über +Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht. +Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit der Aeschylus die olympische +Welt auf seine Gerechtigkeitswagschalen stellt, müssen wir uns +vergegenwärtigen, dass der tiefsinnige Grieche einen unverrückbar +festen Untergrund des metaphysischen Denkens in seinen Mysterien +hatte, und dass sich an den Olympiern alle seine skeptischen +Anwandelungen entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere +empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl +wechselseitiger Abhängigkeit: und gerade im Prometheus des Aeschylus +ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler fand in sich +den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter +wenigstens vernichten zu können: und dies durch seine höhere Weisheit, +die er freilich durch ewiges Leiden zu büssen gezwungen war. Das +herrliche "Können" des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu +gering bezahlt ist, der herbe Stolz des Künstlers - das ist Inhalt und +Seele der aeschyleischen Dichtung, während Sophokles in seinem Oedipus +das Siegeslied des Heiligen präludirend anstimmt. Aber auch mit jener +Deutung, die Aeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche +Schreckenstiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des +Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen +Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem +schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Prometheussage ist ein +ursprüngliches Eigenthum der gesammten arischen Völkergemeinde und ein +Document für deren Begabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte +nicht ohne Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische +Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die der +Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass zwischen beiden +Mythen ein Verwandtschaftsgrad existiert, wie zwischen Bruder +und Schwester. Die Voraussetzung jenes Prometheusmythus ist der +überschwängliche Werth, den eine naive Menschheit dem Feuer beilegt +als dem wahren Palladium jeder aufsteigenden Cultur: dass aber der +Mensch frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Geschenk +vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmenden Sonnenbrand +empfängt, erschien jenen beschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel, +als ein Raub an der göttlichen Natur. Und so stellt gleich das erste +philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch +zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die +Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit +theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun +wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Fluth von Leiden +und von Kümmernissen mit denen die beleidigten Himmlischen das edel +emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen - müssen: ein herber +Gedanke, der durch die Würde, die er dem Frevel ertheilt, seltsam +gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht, in welchem die +Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die +Lüsternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affectionen +als der Ursprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arische +Vorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen +Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der +ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden ist, als +die Rechtfertigung des menschlichen Uebels, und zwar sowohl der +menschlichen Schuld, als des dadurch verwirkten Leidens. Das Unheil +im Wesen der Dinge - das der beschauliche Arier nicht geneigt ist +wegzudeuteln -, der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm +als ein Durcheinander verschiedener Welten, z.B. einer göttlichen und +einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber +als einzelne neben einer andern für ihre Individuation zu leiden +hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem +Versuche über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das +eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den +Dingen verborgenen Urwiderspruch d.h. er frevelt und leidet. So wird +von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die Sünde als Weib +verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe +begangen wird. Uebrigens sagt der Hexenchor: + + "Wir nehmen das nicht so genau: + Mit tausend Schritten macht's die Frau; + Doch wie sie auch sich eilen kann, + Mit einem Sprunge macht's der Mann". + +Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht - nämlich die dem +titanisch strebenden Individuum gebotene Nothwendigkeit des Frevels +- der muss auch zugleich das Unapollinische dieser pessimistischen +Vorstellung empfinden; denn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch +zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass +er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen +Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. Damit +aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer +Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der +einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung +des ganzen See's ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe +Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig +apollinische "Wille" das Hellenenthum zu bannen suchte. Jene plötzlich +anschwellende Fluth des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen +Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken, wie der Bruder des +Prometheus, der Titan Atlas, die Erde. Dieser titanische Drang, +gleichsam der Atlas aller Einzelnen zu werden und sie mit breitem +Rücken höher und höher, weiter und weiter zu tragen, ist das +Gemeinsame zwischen dem Prometheischen und dem Dionysischen. Der +aeschyleische Prometheus ist in diesem Betracht eine dionysische +Maske, während in jenem vorhin erwähnten tiefen Zuge nach +Gerechtigkeit Aeschylus seine väterliche Abstammung von Apollo, +dem Gotte der Individuation und der Gerechtigkeitsgrenzen, dem +Einsichtigen verräth. Und so möchte das Doppelwesen des aeschyleischen +Prometheus, seine zugleich dionysische und apollinische Natur in +begrifflicher Formel so ausgedrückt werden können: "Alles Vorhandene +ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt." + +Das ist deine Welt! Das heisst eine Welt! - + + +10. + +Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechische +Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum +Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene +Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf +behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört +hat, der tragische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten +Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u.s.w. nur Masken +jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen +Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für +die so oft angestaunte typische "Idealität" jener berühmten Figuren. +Es hat ich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als +Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen +wäre, dass die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen +Bühne nicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfunden +zu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und +Werthabschätzung der "Idee" im Gegensatze zum "Idol", zum Abbild tief +im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie +Plato's zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der +hellenischen Bühne etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus +erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines +kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens +verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, +ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass er +überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint, +ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen +dionysischen Zustand durch jene gleichnissartige Erscheinung deutet. +In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien, +jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von +dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen +zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt +werde: wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich +dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und +Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell +und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu +betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die +olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden. In +jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur +eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen +Herrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt +des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll +zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der +brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt +es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in +Individuen zertrümmerten Welt: wie es der Mythus durch die in ewige +Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder +sich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus nocheinmal +gebären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle +Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung +und zugleich damit die Mysterienlehre der Tragödie zusammen: die +Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung +der Individuation als des Urgrundes des Uebels, die Kunst als die +freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, +als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. - + +Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dichtung +der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über +die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem +übermächtigen Einflusse der tragischen Dichtung, werden die +homerischen Mythen von Neuem umgeboren und zeigen in dieser +Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer +noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan +Prometheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt, dass einst +seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten +Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das +Bündniss des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit dem +Titanen. So wird das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus +dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und nackten +Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der homerischen Welt mit der +unverhüllten Miene der Wahrheit an: sie erbleichen, sie zittern vor +dem blitzartigen Auge dieser Göttin - bis sie die mächtige Faust +des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. +Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus +als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem +öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen +dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen +Hülle aus. Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern +befreite und den Mythus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte? +Dies ist die heraklesmässige Kraft der Musik: als welche, in der +Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den Mythus mit neuer +tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpretiren weiss; wie wir dies als +das mächtigste Vermögen der Musik früher schon zu charakterisiren +hatten. Denn es ist das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge +einer angeblich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von +irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen +Ansprüchen behandelt zu werden: und die Griechen waren bereits völlig +auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Jugendtraum mit Scharfsinn und +Willkür in eine historisch-pragmatische Jugendgeschichte umzustempeln. +Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn +nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den +strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus +als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisirt +werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdigkeit der Mythen +zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und +Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für +den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf +historische Grundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt +der neugeborne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand +blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie gezeigt, mit +einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen Welt +erregte. Nach diesem letzten Aufglänzen fällt er zusammen, seine +Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischen Luciane des +Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und +verwüsteten Blumen. Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem +tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal erhebt er +sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft, +sammt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge +mit letztem, mächtigem Leuchten. + +Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden +noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest? Er starb +unter deinen gewaltsamen Händen: und jetzt brauchtest du einen +nachgemachten, maskirten Mythus, der sich wie der Affe des Herakles +mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der +Mythus starb, so starb dir auch der Genius der Musik: mochtest du +auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern, auch +so brachtest du es nur zu einer nachgemachten maskirten Musik. Und +weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo; jage alle +Leidenschaften von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis, +spitze und feile dir für die Reden deiner Helden eine sophistische +Dialektik zurecht - auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte +Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte Reden. + + +11. + +Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtliche +ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord, in +Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch, während jene alle in +hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn +es nämlich einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner +Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, so zeigt +uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen solchen glücklichen +Naturzustand: sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden +Blicken steht schon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit muthiger +Gebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie +dagegen entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere; wie +einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen +Eiland den erschütternden Schrei hörten "der grosse Pan ist todt": so +klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische +Welt: "die Tragödie ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren +gegangen! Fort, fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen! +Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen der vormaligen +Meister einmal satt essen könnt!" + +Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung aufblühte, die in der +Tragödie ihre Vorgängerin und Meisterin verehrte, da war mit Schrecken +wahrzunehmen, dass sie allerdings die Züge ihrer Mutter trage, aber +dieselben, die jene in ihrem langen Todeskampfe gezeigt hatte. Diesen +Todeskampf der Tragödie kämpfte Euripides; jene spätere Kunstgattung +ist als neue reattische Komödie bekannt. In ihr lebte die entartete +Gestalt der Tragödie fort, zum Denkmale ihres überaus mühseligen und +gewaltsamen Hinscheidens. + +Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftliche Zuneigung +begreiflich, welche die Dichter der neueren Komödie zu Euripides +empfanden; so dass der Wunsch des Philemon nicht weiter befremdet, der +sich sogleich aufhängen lassen mochte, nur um den Euripides in der +Unterwelt aufsuchen zu können: wenn er nur überhaupt überzeugt sein +dürfte, dass der Verstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei. +Will man aber in aller Kürze und ohne den Anspruch, damit etwas +Erschöpfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was Euripides mit +Menander und Philemon gemein hat und was für jene so aufregend +vorbildlich wirkte: so genügt es zu sagen, dass der Zuschauer von +Euripides auf die Bühne gebracht worden ist. Wer erkannt hat, aus +welchem Stoffe die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden +formten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maske der +Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch über die gänzlich +abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein. Der Mensch des +alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräumen auf die +Scene, der Spiegel, in dem früher nur die grossen und kühnen Züge +zum Ausdruck kamen, zeigte jetzt jene peinliche Treue, die auch die +misslungenen Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der +typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den Händen der +neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab als +gutmüthigverschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischen +Interesse's steht. Was Euripides sich in den aristophanischen +"Fröschen" zum Verdienst anrechnet, dass er die tragische Kunst durch +seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das +ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen +sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf der +euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut zu reden +verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht: man lernte selbst +bei Euripides sprechen, und dessen rühmt er sich selbst im Wettkampfe +mit Aeschylus: wie durch ihn jetzt das Volk kunstmässig und mit +den schlausten Sophisticationen zu beobachten, zu verhandeln und +Folgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der +öffentlichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich +gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit +welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten +könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine +politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin +in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr +oder der Halbmensch den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt +der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie er das +allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben dargestellt +habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei. Wenn jetzt die +ganze Masse philosophiere, mit unerhörter Klugheit Land und Gut +verwalte und ihre Prozesse führe, so sei dies sein Verdienst und der +Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit. + +An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte sich jetzt +die neuere Komödie wenden, für die Euripides gewissermaassen der +Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal der Chor der Zuschauer +eingeübt werden musste. Sobald dieser in der euripideischen Tonart +zu singen geübt war, erhob sich jene schachspielartige Gattung des +Schauspiels, die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der +Schlauheit und Verschlagenheit. Euripides aber - der Chorlehrer - +wurde unaufhörlich gepriesen: ja man würde sich getödtet haben, um +noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst hätte, dass die +tragischen Dichter eben so todt seien wie die Tragödie. Mit ihr aber +hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben, +nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den +Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift +"als Greis leichtsinnig und grillig" gilt auch vom greisen +Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune +sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand, der des Sclaven, +kommt, wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft: und wenn +jetzt überhaupt noch von "griechischer Heiterkeit" die Rede sein +darf, so ist es die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu +verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder +Zukünftiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser +Schein der "griechischen Heiterkeit" war es, der die tiefsinnigen und +furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so +empörte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem +Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuss nicht nur +verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. +Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhunderte +fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums mit fast +unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeitsfarbe festhielt +- als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit seiner Geburt der +Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklit gegeben +hätte, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden +wären, die doch - jedes für sich - aus dem Boden einer solchen +greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht +zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren +Existenzgrund hinweisen. + +Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zuschauer auf die +Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil über +das Drama erst wahrhaft zu befähigen, so entsteht der Schein, als ob +die ältere tragische Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer +nicht herausgekommen sei und man möchte versucht sein, die radicale +Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen +Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt über +Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist "Publicum" nur ein Wort und +durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher +soll dem Künstler die Verpflichtung kommen, sich einer Kraft zu +accomodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich, +seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen dieser +Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem gemeinsamen Ausdruck +aller dieser ihm untergeordneten Capacitäten mehr Achtung empfinden +als vor dem relativ am höchsten begabten einzelnen Zuschauer? In +Wahrheit hat kein griechischer Künstler mit grösserer Verwegenheit +und Selbstgenugsamkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch +behandelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse +sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz +öffentlich in's Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er über die +Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor +dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den +Keulenschlägen seiner Misserfolge längst vor der Mitte seiner Laufbahn +zusammengebrochen. Wir sehen bei dieser Erwägung, dass unser Ausdruck, +Euripides habe den Zuschauer auf die Bühne gebracht, um den Zuschauer +wahrhaft urtheilsfähig zu machen, nur ein provisorischer war, und dass +wir nach einem tieferen Verständniss seiner Tendenz zu suchen haben. +Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und Sophokles +Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im Vollbesitze der +Volksgunst standen, wie also bei diesen Vorgängern des Euripides +keineswegs von einem Missverhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum +die Rede sein kann. Was trieb den reichbegabten und unablässig zum +Schaffen gedrängten Künstler so gewaltsam von dem Wege ab, über dem +die Sonne der grössten Dichternamen und der unbewölkte Himmel der +Volksgunst leuchteten? Welche sonderbare Rücksicht auf den Zuschauer +führte ihn dem Zuschauer entgegen? Wie konnte er aus zu hoher Achtung +vor seinem Publicum - sein Publicum missachten? + +Euripides fühlte sich - das ist die Lösung des eben dargestellten +Räthsels - als Dichter wohl über die Masse, nicht aber über, zwei +seiner Zuschauer erhaben: die Masse brachte er auf die Bühne, jene +beiden Zuschauer verehrte er als die allein urtheilsfähigen Richter +und Meister aller seiner Kunst: ihren Weisungen und Mahnungen folgend +übertrug er die ganze Welt von Empfindungen, Leidenschaften und +Erfahrungen, die bis jetzt auf den Zuschauerbänken als unsichtbarer +Chor zu jeder Festvorstellung sich einstellten, in die Seelen seiner +Bühnenhelden, ihren Forderungen gab er nach, als er für diese neuen +Charaktere auch das neue Wort und den neuen Ton suchte, in ihren +Stimmen allein hörte er die gültigen Richtersprüche seines Schaffens +eben so wie die siegverheissende Ermuthigung, wenn er von der Justiz +des Publicums sich wieder einmal verurtheilt sah. + +Von diesen beiden Zuschauern ist der eine - Euripides selbst, +Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen, +dass die ausserordentliche Fülle seines kritischen Talentes, ähnlich +wie bei Lessing, einen productiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht +erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe. Mit dieser Begabung, +mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens +hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den +Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkelgewordenen +Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wiederzuerkennen. Und hier nun war +ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der aeschyleischen +Tragödie Eingeweihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas +Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine gewisse +täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthselhafte Tiefe, ja +Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatte immer noch +einen Kometenschweif an sich, der in's Ungewisse, Unaufhellbare zu +deuten schien. Dasselbe Zwielicht lag über dem Bau des Drama's, zumal +über der Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die Lösung +der ethischen Probleme! Wie fragwürdig die Behandlung der Mythen! Wie +ungleichmässig die Vertheilung von Glück und Unglück! Selbst in der +Sprache der älteren Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens +räthselhaft; besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse, +zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit der +Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater, und er, der +Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen Vorgänger nicht +verstehe. Galt ihm aber der Verstand als die eigentliche Wurzel alles +Geniessens und Schaffens, so musste er fragen und um sich schauen, +ob denn Niemand so denke wie er und sich gleichfalls jene +Incommensurabilität eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die +besten Einzelnen hatten nur ein misstrauisches Lächeln für ihn; +erklären aber konnte ihm Keiner, warum seinen Bedenken und +Einwendungen gegenüber die grossen Meister doch im Rechte seien. Und +in diesem qualvollen Zustande fand er den anderen Zuschauer, der die +Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete. Mit diesem im Bunde +durfte er es wagen, aus seiner Vereinsamung heraus den ungeheuren +Kampf gegen die Kunstwerke des Aeschylus und Sophokles zu beginnen - +nicht mit Streitschriften, sondern als dramatischer Dichter, der seine +Vorstellung von der Tragödie der überlieferten entgegenstellt. - + + +12. + +Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namen nennen, verharren wir +hier einen Augenblick, um uns jenen früher geschilderten Eindruck +des Zwiespältigen und Incommensurabeln im Wesen der aeschyleischen +Tragödie selbst in's Gedächtniss zurückzurufen. Denken wir an unsere +eigene Befremdung dem Chore und dem tragischen Helden jener Tragödie +gegenüber, die wir beide mit unseren Gewohnheiten ebensowenig wie mit +der Ueberlieferung zu reimen wussten - bis wir jene Doppelheit selbst +als Ursprung und Wesen der griechischen Tragödie wiederfanden, als den +Ausdruck zweier in einander gewobenen Kunsttriebe, des Apollinischen +und des Dionysischen. + +Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysische Element aus der +Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer Kunst, +Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen - dies ist die jetzt in heller +Beleuchtung sich uns enthüllende Tendenz des Euripides. + +Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage nach dem Werth +und der Bedeutung dieser Tendenz in einem Mythus seinen Zeitgenossen +auf das Nachdrücklichste vorgelegt. Darf überhaupt das Dionysische +bestehn? Ist es nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden +auszurotten? Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre: +aber der Gott Dionysus ist zu mächtig; der verständigste Gegner - wie +Pentheus in den "Bacchen" - wird unvermuthet von ihm bezaubert und +läuft nachher mit dieser Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil +der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des +greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der klügsten Einzelnen werfe +jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung +des Dionysus nicht um, ja es gezieme sich, solchen wunderbaren Kräften +gegenüber, mindestens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu +zeigen: wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an einer +so lauen Betheiligun; Anstoss nehme und den Diplomaten - wie hier +den Kadmus - schliesslich in einen Drachen verwandle. Dies sagt uns +ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch +dem Dionysus widerstanden hat - um am Ende desselben mit einer +Glorification seines Gegners und einem Selbstmorde seine Laufhahn zu +schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen, +nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehn, sich vom Thurme +herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit +seiner Tendenz; ach, und sie war bereits ausgeführt! Das Wunderbare +war geschehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz +gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und +zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. Auch Euripides +war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war +nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, +genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und +das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an +ihm zu Grunde. Mag nun auch Euripides uns durch seinen Widerruf zu +trösten suchen, es gelingt ihm nicht: der herrlichste Tempel liegt +in Trümmern; was nützt uns die Wehklage des Zerstörers und sein +Geständniss, dass es der schönste aller Tempel gewesen sei? Und selbst +dass Euripides zur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in +einen Drachen verwandelt worden ist - wen möchte diese erbärmliche +Compensation befriedigen? + +Nähern wir uns jetzt jener sokratischen Tendenz, mit der Euripides die +aeschyleische Tragödie bekämpfte und besiegte. + +Welches Ziel - so müssen wir uns jetzt fragen - konnte die +euripideische Absicht, das Drama allein auf das Undionysische zu +gründen, in der höchsten Idealität ihrer Durchführung überhaupt haben? +Welche Form des Drama's blieb noch übrig, wenn es nicht aus dem +Geburtsschoosse der Musik, in jenem geheimnissvollen Zwielicht des +Dionysischen geboren werden sollte? Allein das dramatisirte Epos: +in welchem apollinischen Kunstgebiete nun freilich die tragische +Wirkung unerreichbar ist. Es kommt hierbei nicht auf den Inhalt der +dargestellten Ereignisse an; ja ich möchte behaupten, dass es Goethe +in seiner projectirten "Nausikaa" unmöglich gewesen sein würde, den +Selbstmord jenes idyllischen Wesens - der den fünften Act ausfüllen +sollte - tragisch ergreifend zu machen; so ungemein ist die Gewalt des +Episch-Apollinischen, dass es die schreckensvollsten Dinge mit jener +Lust am Scheine und der Erlösung durch den Schein vor unseren Augen +verzaubert. Der Dichter des dramatisirten Epos kann eben so wenig wie +der epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig verschmelzen: er ist +immer noch ruhig unbewegte, aus weiten Augen blickende Anschauung, die +die Bilder vorsich sieht. Der Schauspieler in diesem dramatisirten +Epos bleibt im tiefsten Grunde immer noch Rhapsode; die Weihe des +inneren Träumens liegt auf allen seinen Actionen, so dass er niemals +ganz Schauspieler ist. + +Wie verhält sich nun diesem Ideal des apollinischen Drama's gegenüber +das euripideische Stück? Wie zu dem feierlichen Rhapsoden der alten +Zeit jener jüngere, der sein Wesen im platonischen "Jon" also +beschreibt: "Wenn ich etwas Trauriges sage, füllen sich meine Augen +mit Thränen; ist aber das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich, +dann stehen die Haare meines Hauptes vor Schauder zu Berge, und +mein Herz klopft." Hier merken wir nichts mehr von jenem epischen +Verlorensein im Scheine, von der affectlosen Kühle des wahren +Schauspielers, der gerade in seiner höchsten Thätigkeit, ganz Schein +und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem +klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer +Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler +führt er ihn aus. Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch im +Ausführen. So ist das euripideische Drama ein zugleich kühles und +feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich befähigt; es +ist ihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen, +während es andererseits sich von den dionysischen Elementen möglichst +gelöst hat, und jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel +braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe, +des apollinischen und des dionysischen, liegen können. Diese +Erregungsmittel sind kühle paradoxe Gedanken - an Stelle der +apollinischen Anschauungen - und feurige Affecte - an Stelle der +dionysischen Entzückungen - und zwar höchst realistisch nachgemachte, +keineswegs in den Aether der Kunst getauchte Gedanken und Affecte. + +Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides überhaupt nicht +gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, dass +sich vielmehr seine undionysische Tendenz in eine naturalistische +und unkünstlerische verirrt hat, so werden wir jetzt dem Wesen des +aesthetischen Sokratismus schon näher treten dürfen; dessen oberstes +Gesetz ungefähr so lautet: "alles muss verständig sein, um schön zu +sein"; als Parallelsatz zu dem sokratischen "nur der Wissende ist +tugendhaft." Mit diesem Kanon in der Hand maass Euripides alles +Einzelne und rectificirte es gemäss diesem Princip: die Sprache, die +Charaktere, den dramaturgischen Aufbau, die Chormusik. Was wir im +Vergleich mit der sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als +dichterischen Mangel und Rückschritt anzurechnen pflegen, das ist +zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Prozesses, jener +verwegenen Verständigkeit. Der euripideische Prolog diene uns als +Beispiel für die Productivität jener rationalistischen Methode. Nichts +kann unserer Bühnentechnik widerstrebender sein als der Prolog im +Drama des Euripides. Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange +des Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis +jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde, das +würde ein moderner Theaterdichter als ein muthwilliges und nicht zu +verzeihendes Verzichtleisten auf den Effect der Spannung bezeichnen. +Man weiss ja alles, was geschehen wird; wer wird abwarten wollen, +dass dies wirklich geschieht? - da ja hier keinesfalls das aufregende +Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später eintretenden +Wirklichkeit stattfindet. Ganz anders reflectirte Euripides. Die +Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf der epischen Spannung, auf +der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen +werde: vielmehr auf jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in +denen die Leidenschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem +breiten und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur Handlung +bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt +als verwerflich. Das aber, was die genussvolle Hingabe an solche +Scenen am stärksten erschwert, ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied, +eine Lücke im Gewebe der Vorgeschichte; so lange der Zuhörer noch +ausrechnen muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und +jener Conflict der Neigungen und Absichten für Voraussetzungen habe, +ist seine volle Versenkung in das Leiden und Thun der Hauptpersonen, +ist das athemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich. Die +aeschyleisch-sophokleische Tragödie verwandte die geistreichsten +Kunstmittel, um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen +zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen Fäden in die Hand zu +geben: ein Zug, in dem sich jene edle Künstlerschaft bewährt, die das +nothwendige Formelle gleichsam maskirt und als Zufälliges erscheinen +lässt. Immerhin aber glaubte Euripides zu bemerken, dass während +jener ersten Scenen der Zuschauer in eigenthümlicher Unruhe sei, +um das Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die +dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für ihn +verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Exposition +und legte ihn einer Person in den Mund, der man Vertrauen schenken +durfte: eine Gottheit musste häufig den Verlauf der Tragödie dem +Publicum gewissermaassen garantieren und jeden Zweifel an der Realität +des Mythus nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität +der empirischen Welt nur durch die Appellation an die Wahrhaftigkeit +Gottes und seine Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen vermochte. Dieselbe +göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am Schlusse +seines Drama's, um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher +zu stellen; dies ist die Aufgabe des berüchtigten deux ex +machina. Zwischen der epischen Vorschau und Hinausschau liegt die +dramatischlyrische Gegenwart, das eigentliche "Drama." + +So ist Euripides als Dichter vor allem der Wiederhall seiner bewussten +Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine so denkwürdige +Stellung in der Geschichte der griechischen Kunst. + +Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-productives Schaffen oft zu +Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift des Anaxagoras +für das Drama lebendig machen, deren erste Worte lauten: "im Anfang +war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung." Und wenn +Anaxagoras mit seinem "Nous" unter den Philosophen wie der erste +Nüchterne unter lauter Trunkenen erschien, so mag auch Euripides sein +Verhältniss zu den anderen Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen +Bilde begriffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des +Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffen ausgeschlossen war, +war noch alles in einem chaotischen Urbrei beisammen; so musste +Euripides urtheilen, so musste er die "trunkenen" Dichter als der +erste "Nüchterne" verurtheilen. Das, was Sophokles von Aeschylus +gesagt hat, er thue das Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im +Sinne des Euripides gesagt: der nur so viel hätte gelten lassen, dass +Aeschylus, weil er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch +der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen des Dichters, +insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur +ironisch und stellt es der Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters +gleich; sei doch der Dichter nicht eher fähig zu dichten als bis +er bewusstlos geworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. +Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das +Gegenstück des "unverständigen" Dichters der Welt zu zeigen; sein +aesthetischer Grundsatz "alles muss bewusst sein, um schön zu sein", +ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem sokratischen "alles muss +bewusst sein, um gut zu sein". Demgemäss darf uns Euripides als der +Dichter des aesthetischen Sokratismus gelten. Sokrates aber war jener +zweite Zuschauer, der die ältere Tragödie nicht begriff und deshalb +nicht achtete; mit ihm im Bunde wagte Euripides, der Herold eines +neuen Kunstschaffens zu sein. Wenn an diesem die ältere Tragödie zu +Grunde ging, so ist also der aesthetische Sokratismus das mörderische +Princip: insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der älteren +Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus, +den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und, obschon +bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofes zerrissen +zu werden, doch den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt: +welcher, wie damals, als er vor dem Edonerkönig Lykurg floh, sich in +die Tiefen des Meeres rettete, nämlich in die mystischen Fluthen eines +die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus. + + +13. + +Dass Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe, +entging dem gleichzeitigen Alterthume nicht; und der beredteste +Ausdruck für diesen glücklichen Spürsinn ist jene in Athen umlaufende +Sage, Sokrates pflege dem Euripides im Dichten zu helfen. Beide +Namen wurden von den Anhängern der "guten alten Zeit" in einem Athem +genannt, wenn es galt, die Volksverführer der Gegenwart aufzuzählen: +von deren Einflusse es herrühre, dass die alte marathonische +vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer mehr einer +zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung der +leiblichen und seelischen Kräfte, zum Opfer falle. In dieser Tonart, +halb mit Entrüstung, halb mit Verachtung, pflegt die aristophanische +Komödie von jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren, welche +zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht genug darüber +wundern können, dass Sokrates als der erste und oberste Sophist, +als der Spiegel und Inbegriff aller sophistischen Bestrebungen bei +Aristophanes erscheine: wobei es einzig einen Trost gewährt, den +Aristophanes selbst als einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der +Poesie an den Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen +Instincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu nehmen, +fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des Sokrates und des +Euripides aus der antiken Empfindung heraus zu erweisen; in welchem +Sinne namentlich daran zu erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der +tragischen Kunst sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur, +wenn ein neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter +den Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe +Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche, +welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnet, +zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem Euripides der zweite Preis +im Wettkampfe der Weisheit gebühre. + +Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles genannt; er, der +sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue das Rechte und zwar, +weil er wisse, was das Rechte sei. Offenbar ist gerade der Grad der +Helligkeit dieses Wissens dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam +als die drei "Wissenden" ihrer Zeit auszeichnet. + +Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte Hochschätzung des +Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen +vorfand, der sich eingestehe, nichts zu wissen; während er, auf seiner +kritischen Wanderung durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, +Rednern, Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung +des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle jene +Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere +Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. "Nur aus +Instinct": mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der +sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die +bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden +Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des +Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit +und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus +glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu müssen: er, der Einzelne, +tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der +Vorläufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in +eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum +grössten Glücke rechnen würden. + +Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedesmal, Angesichts +des Sokrates, ergreift und die uns immer und immer wieder anreizt, +Sinn und Absicht dieser fragwürdigsten Erscheinung des Alterthums +zu erkennen. Wer ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das +griechische Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus, +als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste +Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden Anbetung gewiss ist? +Welche dämonische Kraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub +zu schütten sich erkühnen darf? Welcher Halbgott ist es, dem der +Geisterchor der Edelsten der Menschheit zurufen muss: "Weh! Weh! Du +hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt, +sie zerfällt!" + +Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare +Erscheinung, die als "Dämonion des Sokrates" bezeichnet wird. In +besonderen Lagen, in denen sein ungeheurer Verstand in's Schwanken +gerieth, gewann er einen festen Anhalt durch eine in solchen Momenten +sich äussernde göttliche Stimme. Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt, +immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich +abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd +entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der +Instinct gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das +Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates +der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer - eine wahre +Monstrosität per defectum! Und zwar nehmen wir hier einen monstrosen +defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass Sokrates als der +specifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre, in dem die logische +Natur durch eine Superfötation eben so excessiv entwickelt ist wie im +Mystiker jene instinctive Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in +Sokrates erscheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen +sich selbst zu kehren; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt er +eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten instinctiven +Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung antreffen. Wer +nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät und Sicherheit der +sokratischen Lebensrichtung aus den platonischen Schriften gespürt +hat, der fühlt auch, wie das ungeheure Triebrad des logischen +Sokratismus gleichsam hinter Sokrates in Bewegung ist, und wie dies +durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden +muss. Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung hatte, +das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit dem er seine +göttliche Berufung überall und noch vor seinen Richtern geltend +machte. Ihn darin zu widerlegen war im Grunde eben so unmöglich als +seinen die Instincte auflösenden Einfluss gut zu heissen. Bei diesem +unlösbaren Conflicte war, als er einmal vor das Forum des griechischen +Staates gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilung geboten, +die Verbannung; als etwas durchaus Räthselhaftes, Unrubricirbares, +Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenze weisen dürfen, ohne +dass irgend eine Nachwelt im Recht gewesen wäre, die Athener einer +schmählichen That zu zeihen. Dass aber der Tod und nicht nur die +Verbannung über ihn ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst, +mit völliger Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode, +durchgesetzt zu haben: er ging in den Tod, mit jener Ruhe, mit der +er nach Plato's Schilderung als der letzte der Zecher im frühen +Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen neuen Tag zu beginnen; +indess hinter ihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenen +Tischgenossen zurückbleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker, +zu träumen. Der sterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst +geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat sich der +typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung +seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen. + + +14. + +Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des Sokrates auf +die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie der holde Wahnsinn +künstlerischer Begeisterung geglüht hat - denken wir uns, wie es +jenem Auge versagt war, in die dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen +zu schauen - was eigentlich musste es in der "erhabenen und +hochgepriesenen" tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken? +Etwas recht Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit +Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen, dazu das Ganze so bunt +und mannichfaltig, dass es einer besonnenen Gemüthsart widerstreben +müsse, für reizbare und empfindliche Seelen aber ein gefährlicher +Zunder sei. Wir wissen, welche einzige Gattung der Dichtkunst von ihm +begriffen wurde, die aesopische Fabel: und dies geschah gewiss mit +jener lächelnden Anbequemung, mit welcher der ehrliche gute Gellert in +der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der Poesie singt: + + "Du siehst an mir, wozu sie nützt, + Dem, der nicht viel Verstand besitzt + Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen". + +Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal "die +Wahrheit zu sagen": abgesehen davon, dass sie sich an den wendet, der +"nicht viel Verstand besitzt", also nicht an den Philosophen: ein +zweifacher Grund, von ihr fern zu bleiben. Wie Plato, rechnete er +sie zu den schmeichlerischen Künsten, die nur das Angenehme, nicht +das Nützliche darstellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern +Enthaltsamkeit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen +Reizungen; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tragödiendichter +Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte, um Schüler des +Sokrates werden zu können. Wo aber unbesiegbare Anlagen gegen die +sokratischen Maximen ankämpften, war die Kraft derselben, sammt der +Wucht jenes ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die +Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen zu drängen. + +Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der in der +Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewiss nicht hinter +dem naiven Cynismus seines Meisters zurückgeblieben ist, hat doch aus +voller künstlerischer Nothwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, +die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen +innerlich verwandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der älteren Kunst +zu machen hatte, - dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also +noch einer niedrigeren Sphäre als die empirische Welt ist, angehöre +- durfte vor allem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden: +und so sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus +zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende Idee +darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf einem Umwege +ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets heimisch gewesen war und +von wo aus Sophokles und die ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen +Vorwurf protestirten. Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen +in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem +excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch +Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen +Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte +schwebt und damit auch das strenge ältere Gesetz der einheitlichen +sprachlichen Form durchbrochen hat; auf welchem Wege die cynischen +Schriftsteller noch weiter gegangen sind, die in der grössten +Buntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen +prosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des +"rasenden Sokrates", den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht +haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die +schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen ihren Kindern rettete: auf +einen engen Raum zusammengedrängt und dem einen Steuermann Sokrates +ängstlich unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die +an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. +Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen +Kunstform gegeben, das Vorbild des Roman's: der als die unendlich +gesteigerte aesopische Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in +einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie +viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie: +nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie +Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte. + +Hier überwächst der philosophische Gedanke die Kunst und zwingt sie +zu einem engen Sich- Anklammern an den Stamm der Dialektik. In dem +logischen Schematismus hat sich die apollinische Tendenz verpuppt: wie +wir bei Euripides etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung +des Dionysischen in den naturalistischen Affect wahrzunehmen hatten. +Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, erinnert uns +an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund +und Gegengrund seine Handlungen vertheidigen muss und dadurch so +oft in Gefahr geräth, unser tragisches Mitleiden einzubüssen: denn +wer vermöchte das optimistische Element im Wesen der Dialektik zu +verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in +kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische Element, +das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen +allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung +treiben muss - bis zum Todessprunge in's bürgerliche Schauspiel. Man +vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: +"Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der +Tugendhafte ist der Glückliche": in diesen drei Grundformen des +Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte +Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube +und Moral ein nothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die +transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und +frechen Princip der "poetischen Gerechtigkeit" mit seinem üblichen +deus ex machina erniedrigt. + +Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen +Bühnenwelt gegenüber jetzt der Chor und überhaupt der ganze +musikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie? Als etwas Zufälliges, +als eine auch wohl zu missende Reminiscenz an den Ursprung der +Tragödie; während wir doch eingesehen haben, dass der Chor nur als +Ursache der Tragödie und des Tragischen überhaupt verstanden werden +kann. Schon bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in Betreff des +Chors - ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der dionysische +Boden der Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem +Chor den Hauptantheil der Wirkung anzuvertrauen, sondern schränkt +sein Bereich dermaassen ein, dass er jetzt fast den Schauspielern +coordinirt erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in die +Scene hineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört +ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine +Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles +jedenfalls durch seine Praxis und, der Ueberlieferung nach, sogar +durch eine Schrift anempfohlen hat, ist der erste Schritt zur +Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides, Agathon und der +neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit auf einander folgen. +Die optimistische Dialektik treibt mit der Geissel ihrer Syllogismen +die Musik aus der Tragödie: d.h. sie zerstört das Wesen der Tragödie, +welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung +dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die +Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lässt. + +Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische +Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört grossartigen +Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken, +wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute: die wir +doch nicht im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als +eine nur auflösende negative Macht zu begreifen. Und so gewiss die +allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine Zersetzung +der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige +Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen dem +Sokratismus und der Kunst nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss +bestehe und ob die Geburt eines "künstlerischen Sokrates" überhaupt +etwas in sich Widerspruchsvolles sei. + +Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst +gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs, +einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters kam ihm, wie er im +Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumerscheinung, +die immer dasselbe sagte: "Sokrates, treibe Musik!" Er beruhigt sich +bis zu seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei +die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine Gottheit +ihn an jene "gemeine, populäre Musik" erinnern werde. Endlich im +Gefängniss versteht er sich, um sein Gewissen gänzlich zu entlasten, +auch dazu, jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in +dieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige +aesopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnenden +Stimme Aehnliches, was ihn zu diesen Uebungen drängte, es war seine +apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbarenkönig ein edles +Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer +Gottheit zu versündigen - durch sein Nichtsverstehn. Jenes Wort +der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer +Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht - so +musste er sich fragen - ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch +sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, +aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein +nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft? + + +15. + +Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen muss nun ausgesprochen +werden, wie der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja +in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immer +grösser werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat, +wie derselbe zur Neuschaffung der Kunst - und zwar der Kunst im +bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne - immer wieder +nöthigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit +verbürgt. + +Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innerste Abhängigkeit +jeder Kunst von den Griechen, den Griechen von Homer bis auf Sokrates, +überzeugend dargethan war, musste es uns mit diesen Griechen ergehen +wie den Athenern mit Sokrates. Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat +einmal sich mit tiefem Missmuthe von den Griechen zu befreien gesucht, +weil Angesichts derselben alles Selbstgeleistete, scheinbar völlig +Originelle, und recht aufrichtig Bewunderte plötzlich Farbe und Leben +zu verlieren schien und zur misslungenen Copie, ja zur Caricatur +zusammenschrumpfte. Und so bricht immer von Neuem einmal der herzliche +Ingrimm gegen jenes anmaassliche Völkchen hervor das sich erkühnte, +alles Nichteinheimische für alle Zeiten als "barbarisch" zu +bezeichnen: wer sind jene, fragt man sich, die, obschon sie nur +einen ephemeren historischen Glanz, nur lächerlich engbegrenzte +Institutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeit der Sitte aufzuweisen +haben und sogar mit hässlichen Lastern gekennzeichnet sind, doch die +Würde und Sonderstellung unter den Völkern in Anspruch nehmen, die +dem Genius unter der Masse zukommt? Leider war man nicht so glücklich +den Schierlingsbecher zu finden, mit dem ein solches Wesen einfach +abgethan werden konnte: denn alles Gift, das Neid, Verläumdung und +Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jene selbstgenugsame +Herrlichkeit zu vernichten. Und so schämt und fürchtet man sich vor +den Griechen; es sei denn, dass Einer die Wahrheit über alles achte +und so sich auch diese Wahrheit einzugestehn wage, dass die Griechen +unsere und jegliche Cultur als Wagenlenker in den Händen haben, dass +aber fase immer Wagen und Pferde von zu geringem Stoffe und der Glorie +ihrer Führer unangemessen sind, die dann es für einen Scherz erachten, +ein solches Gespann in den Abgrund zu jagen: über den sie selbst, mit +dem Sprunge des Achilles, hinwegsetzen. + +Um die Würde einer solchen Führerstellung auch für Sokrates zu +erweisen, genügt es in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten +Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen, über +dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen, unsere nächste +Aufgabe ist. Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches +Genügen am Vorhandenen, wie der Künstler, und ist wie jener vor der +praktischen Ethik des Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren +leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes Genügen geschützt. Wenn +nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit +verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der +Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der +theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes +Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft +gelingenden Enthüllung. Es gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um +jene eine nackte Göttin und um nichts Anderes zu thun wäre. Denn dann +müsste es ihren Jüngern zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch +gerade durch die Erde graben wollten: von denen ein Jeder einsieht, +dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung, nur ein ganz +kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei, +welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder +überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint, +wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche +wählt. Wenn jetzt nun Einer zur Ueberzeugung beweist, dass auf diesem +directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wird +noch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dass er +sich nicht inzwischen genügen lasse, edles Gestein zu finden oder +Naturgesetze zu entdecken. Darum hat Lessing, der ehrlichste +theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihm mehr am Suchen +der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei: womit das Grundgeheimniss +der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen, +aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten +Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn nicht des +Uebermuthes, eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der +Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, +dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten +Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu +erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene +metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und +führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie +in Kunst umschlagen muss: auf welchees eigentlich, bei diesem +Mechanismus, abgesehn ist. + +Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedankens, auf Sokrates hin: +so erscheint er uns als der Erste, der an der Hand jenes Instinctes +der Wissenschaft nicht nur leben, sondern - was bei weitem mehr ist - +auch sterben konnte: und deshalb ist das Bild des sterbenden Sokrates +als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen +das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen +Jeden an deren Bestimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflich +und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu freilich +wenn die Gründe nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen +muss, den ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der +Wissenschaft soeben bezeichnete. + +Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, dem Mystagogen +der Wissenschaft, eine Philosophenschule nach der anderen, wie Welle +auf Welle, sich ablöst, wie eine nie geahnte Universalität der +Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt und als +eigentliche Aufgabe für jeden höher Befähigten die Wissenschaft +auf die hohe See führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig +vertrieben werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein +gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit +Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt +wurde; wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide +der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, +in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten +Weltgeschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze +unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz verbraucht +worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die +praktischen d.h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker +verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen +und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so +abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne +vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn +er, wie der Bewohner der Fidschiinseln, als Sohn seine Eltern, als +Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der +selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen +könnte - der übrigens überall in der Welt vorhanden ist und vorhanden +war, wo nicht die Kunst in irgend welchen Formen, besonders als +Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes +Pesthauchs erschienen ist. + +Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates das Urbild +des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die +Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die +Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich +begreift. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom +Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen +der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein: so +wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates +ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur +über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten +sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopferung, des +Heroismus und jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele, die +der apollinische Grieche Sophrosyne nannte, wurden von Sokrates und +seinen gleichgesinnten Nachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus der +Dialektik des Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet. +Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat +und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der +Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel, +der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfinden als die Begierde, +jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu +spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokrates +als der Lehrer einer ganz neuen Form der "griechischen Heiterkeit" +und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und +diese Entladung zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen +auf edle Jünglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, +finden wird. + +Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, +unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik +verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der +Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht +abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, +so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines +Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, +wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken +sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt +und endlich sich in den Schwanz beisst - da bricht die neue Form der +Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu +werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht. + +Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen erlabten Augen, auf +die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns umfluthet, so gewahren +wir die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen +optimistischen Erkenntniss in tragische Resignation und +Kunstbedürftigkeit umgeschlagen: während allerdings dieselbe Gier, auf +ihren niederen Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die +dionysisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie dies an +der Bekämpfung der aeschyleischen Tragödie durch den Sokratismus +beispielsweise dargestellt wurde. + +Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pforten der Gegenwart +und Zukunft: wird jenes "Umschlagen" zu immer neuen Configurationen +des Genius und gerade des musiktreibenden Sokrates führen? Wird das +über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen +der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten +werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben +und Wirbeln, das sich jetzt "die Gegenwart" nennt, in Fetzen zu +reissen? - Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile +bei Seite, als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener +ungeheuren Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber +dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss! + + +16. + +An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klar zu machen +gesucht, wie die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik +eben so gewiss zu Grunde geht, wie sie aus diesem Geiste allein +geboren werden kann. Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern +und andererseits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen, +müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der +Gegenwart gegenüber stellen; wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe +treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersättlichen +optimistischen Erkenntniss und der tragischen Kunstbedürftigkeit in +den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will +hierbei von allen den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu +jeder Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten und die +auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss um sich greifen, dass +von den theatralischen Künsten z.B. allein die Posse und das Ballet +in einem einigermaassen üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für +Jedermann wohlriechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der +erlauchtesten Gegnerschaft der tragischen Weltbetrachtung reden und +meine damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft, +mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auch die +Mächte bei Namen genannt werden, welche mir eine Wiedergeburt der +Tragödie - und welche andere selige Hoffnungen für das deutsche Wesen! +- zu verbürgen scheinen. + +Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe hineinstürzen, hüllen wir uns in +die Rüstung unsrer bisher eroberten Erkenntnisse. Im Gegensatz zu +allen denen, welche beflissen sind, die Künste aus einem einzigen +Princip, als dem nothwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks abzuleiten, +halte ich den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten +der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen +die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten zweier in ihrem +tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten. +Apollo steht vor mir, als der verklärende Genius des principii +individuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu +erlangen ist: während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der +Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern +des Sein's, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieser +ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als +der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend +aufthut, ist einem Einzigen der grossen Denker in dem Maasse offenbar +geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen +Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung +vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle, +Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst +sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller +Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille +und Vorstellung I, p. 310). Auf diese wichtigste Erkenntniss aller +Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik +erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen +Wahrheit, seinen Stempel gedrückt, wenn er im "Beethoven" feststellt, +dass die Musik nach ganz anderen aesthetischen Principien als alle +bildenden Künste und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit +zu bemessen sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer +missleiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen Welt +geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe, von der Musik +eine ähnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu +fordern, nämlich die Erregung des Gefallens an schönen Formen. Nach +der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke +Nöthigung, mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der +tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen: denn erst jetzt +glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die Phraseologie unserer +üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem der Tragödie mir leibhaft +vor die Seele stellen zu können: wodurch mir ein so befremdlich +eigenthümlicher Blick in das Hellenische vergönnt war, dass +es mir scheinen musste, als ob unsre so stolz sich gebärdende +classisch-hellenische Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an +Schattenspielen und Aeusserlichkeiten sich zu weiden gewusst habe. + +Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frage berühren: +welche aesthetische Wirkung entsteht, wenn jene an sich getrennten +Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander +in Thätigkeit gerathen? Oder in kürzerer Form: wie verhält sich +die Musik zu Bild und Begriff? - Schopenhauer, dem Richard Wagner +gerade für diesen Punkt eine nicht zu überbietende Deutlichkeit und +Durchsichtigkeit der Darstellung nachrühmt, äussert sich hierüber am +ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ich hier in ihrer ganzen +Länge wiedergeben werde. Welt als Wille und Vorstellung I, p. 309: +"Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die +Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache +ansehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Analogie +beider ist, dessen Erkenntniss erfordert wird, um jene Analogie +einzusehen. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt +angesehen eine im höchsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar +zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den +einzelnen Dingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere +Allgemeinheit der Abstraction, sondern ganz anderer Art und ist +verbunden mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit. Sie gleicht +hierin den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche als die +allgemeinen Formen aller möglichen Objecte der Erfahrung und auf alle +a priori anwendbar, doch nicht abstract, sondern anschaulich und +durchgängig bestimmt sind. Alle möglichen Bestrebungen, Erregungen und +Aeusserungen des Willens, alle jene Vorgänge im Innern des Menschen, +welche die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefühl wirft, sind +durch die unendlich vielen möglichen Melodien auszudrücken, aber immer +in der Allgemeinheit blosser Form, ohne den Stoff, immer nur nach +dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele +derselben, ohne Körper. Aus diesem innigen Verhältniss, welches die +Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch dies zu erklären, +dass, wenn zu irgend einer Scene, Handlung, Vorgang, Umgebung, eine +passende Musik ertönt, diese uns den geheimsten Sinn derselben +aufzuschliessen scheint und als der richtigste und deutlichste +Commentar dazu auftritt; imgleichen, dass es Dem, der sich dem +Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt, ist, als sähe er alle +möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehen: +dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit angeben +zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten. Denn die +Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, +dass sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten +Objectität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst +ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller +Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man könnte demnach die Welt +ebensowohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen: daraus +also ist es erklärlich, warum Musik jedes Gemälde, ja jede Scene des +wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit +hervortreten lässt; freilich um so mehr, je analoger ihre Melodie dem +innern Geiste der gegebenen Erscheinung ist. Hierauf beruht es, dass +man ein Gedicht als Gesang, oder eine anschauliche Darstellung als +Pantomime, oder beides als Oper der Musik unterlegen kann. Solche +einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik +untergelegt, sind nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden +oder entsprechend; sondern sie stehen zu ihr nur im Verhältniss eines +beliebigen Beispiels zu einem allgemeinen Begriff: sie stellen in +der Bestimmtheit der Wirklichkeit Dasjenige dar, was die Musik in +der Allgemeinheit blosser Form aussagt. Denn die Melodien sind +gewissermaassen, gleich den allgemeinen Begriffen, ein Abstractum +der Wirklichkeit. Diese nämlich, also die Welt der einzelnen Dinge, +liefert das Anschauliche, das Besondere und Individuelle, den +einzelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur +Allgemeinheit der Melodien, welche beide Allgemeinheiten einander aber +in gewisser Hinsicht entgegengesetzt sind; indem die Begriffe nur +die allererst aus der Anschauung abstrahirten Formen, gleichsam die +abgezogene äussere Schale der Dinge enthalten, also ganz eigentlich +Abstracta sind; die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung +vorhergängigen Kern, oder das Herz der Dinge giebt. Dies Verhältniss +liesse sich recht gut in der Sprache der Scholastiker ausdrücken, +indem man sagte: die Begriffe sind die universalia post rem, die +Musik aber giebt die universalia ante rem, und die Wirklichkeit die +universalia in re. Dass aber überhaupt eine Beziehung zwischen einer +Composition und einer anschaulichen Darstellung möglich ist, beruht, +wie gesagt, darauf, dass beide nur ganz verschiedene Ausdrücke +desselben innern Wesens der Welt sind. Wann nun im einzelnen Fall +eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist, also der Componist die +Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheit ausmachen, in der +allgemeinen Sprache der Musik auszusprechen gewusst hat: dann ist +die Melodie des Liedes, die Musik der Oper ausdrucksvoll. Die vom +Componisten aufgefundene Analogie zwischen jenen beiden muss aber +aus der unmittelbaren Erkenntniss des Wesens der Welt, seiner +Vernunft unbewusst, hervorgegangen und darf nicht, mit bewusster +Absichtlichkeit, durch Begriffe vermittelte Nachahmung sein: sonst +spricht die Musik nicht das innere Wesen, den Willen selbst aus; +sondern ahmt nur seine Erscheinung ungenügend nach; wie dies alle +eigentlich nachbildende Musik thut". - + +Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauer's, die Musik als die +Sprache des Willens unmittelbar und fühlen unsere Phantasie angeregt, +jene zu uns redende, unsichtbare und doch so lebhaft bewegte +Geisterwelt zu gestalten und sie in einem analogen Beispiel uns zu +verkörpern. Andrerseits kommt Bild und Begriff, unter der Einwirkung +einer wahrhaft entsprechenden Musik, zu einer erhöhten Bedeutsamkeit. +Zweierlei Wirkungen pflegt also die dionysische Kunst auf das +apollinische Kunstvermögen auszuüben: die Musik reizt zum +gleichnissartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit, die Musik +lässt sodann das gleichnissartige Bild in höchster Bedeutsamkeit +hervortreten. Aus diesen an sich verständlichen und keiner tieferen +Beobachtung unzugänglichen Thatsachen erschliesse ich die Befähigung +der Musik, den Mythus d.h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und +gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen +Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem Phänomen des Lyrikers +habe ich dargestellt, wie die Musik im Lyriker darnach ringt, in +apollinischen Bildern über ihr Wesen sich kund zu geben: denken wir +uns jetzt, dass die Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer +höchsten Verbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir für +möglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck für ihre +eigentliche dionysische Weisheit zu finden wisse; und wo anders werden +wir diesen Ausdruck zu suchen haben, wenn nicht in der Tragödie und +überhaupt im Begriff des Tragischen? + +Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie +des Scheines und der Schönheit begriffen wird, ist das Tragische in +ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten; erst aus dem Geiste der Musik +heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. +Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns +nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, +die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio +individuationis, das ewige Leben jenseit aller Erscheinung und trotz +aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude +am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv unbewussten +dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste +Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch +nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine +Vernichtung nicht berührt wird. "Wir glauben an das ewige Leben", so +ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbare Idee dieses +Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat die Kunst des Plastikers: +hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende +Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit +über das dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem +gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In der +dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe +Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: "Seid wie ich +bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die +ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem +Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!" + + +17. + +Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins +überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, +sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie +alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, +wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz +hineinzublicken - und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer +Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. +Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen +dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die +Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem +Uebermaass von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stossenden +Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des +Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen +in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der +unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die +Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung +ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, +nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen +Zeugungslust wir verschmolzen sind. + +Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt uns jetzt mit +lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunstwerk der Griechen +wirklich aus dem Geiste der Musik herausgeboren ist: durch welchen +Gedanken wir zum ersten Male dem ursprünglichen und so erstaunlichen +Sinne des Chors gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen +wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen +Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen +Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig +geworden ist; ihre Helden sprechen gewissermaassen oberflächlicher +als sie handeln, der Mythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus +nicht seine adäquate Objectivation. Das Gefüge der Scenen und die +anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit, als der Dichter +selbst in Worte und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auch bei +Shakespeare beobachtet wird, dessen Hamlet z.B. in einem ähnlichen +Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht aus den +Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Ueberschauen +des Ganzen jene früher erwähnte Hamletlehre zu entnehmen ist. In +Betreff der griechischen Tragödie, die uns freilich nur als Wortdrama +entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, dass jene Incongruenz +zwischen Mythus und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher +und bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine +oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach den +Zeugnissen der Alten gehabt haben muss: denn wie leicht vergisst +man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war, die höchste +Vergeistigung und Idealität des Mythus zu erreichen, ihm als +schöpferischem Musiker in jedem Augenblick gelingen konnte! Wir +freilich müssen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast auf +gelehrtem Wege reconstruiren, um etwas von jenem unvergleichlichen +Troste zu empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss. +Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur, wenn wir +Griechen wären, als solche empfunden haben: während wir in der ganzen +Entfaltung der griechischen Musik - der uns bekannten und vertrauten, +so unendlich reicheren gegenüber - nur das in schüchternem +Kraftgefühle angestimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu +hören glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester sagen, +die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder, +welche nicht wissen, welches erhabene Spielzeug unter ihren Händen +entstanden ist und - zertrümmert wird. + +Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mythischer +Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik bis zur attischen +Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach eben erst errungener +üppiger Entfaltung, ab und verschwindet gleichsam von der Oberfläche +der hellenischen Kunst: während die aus diesem Ringen geborne +dionysische Weltbetrachtung in den Mysterien weiterlebt und in den +wunderbarsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört, ernstere +Naturen an sich zu ziehen Ob sie nicht aus ihrer mystischen Tiefe +einst wieder als Kunst emporsteigen wird? + +Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren Entgegenwirken +die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärke hat, um das +künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen +Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragödie durch den +dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft +aus ihrem Gleise gedrängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf +einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen +Weltbetrachtung zu schliessen; und erst nachdem der Geist der +Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf +universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist +dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu hoffen sein: für welche +Culturform wir das Symbol des musiktreibenden Sokrates, in dem früher +erörterten Sinne, hinzustellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung +verstehe ich unter dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in +der Person des Sokrates an's Licht gekommenen Glauben an die +Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens. + +Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärtsdringenden +Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwärtigen, +wie durch ihn der Mythus vernichtet wurde und wie durch diese +Vernichtung die Poesie aus ihrem natürlichen idealen Boden, als eine +nunmehr heimathlose, verdrängt war. Haben wir mit Recht der Musik die +Kraft zugesprochen, den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so +werden wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen +haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feindlich +entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des neueren attischen +Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das innere Wesen, den Willen +selbst aussprach, sondern nur die Erscheinung ungenügend, in einer +durch Begriffe vermittelten Nachahmung wiedergab: von welcher +innerlich entarteten Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit +demselben Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen +Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende Instinct des +Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst, +die Tragödie des Euripides und die Musik der neueren Dithyrambiker +in dem gleichen Gefühle des Hasses zusammenfasste und in allen drei +Phänomenen die Merkmale einer degenerirten Cultur witterte. Durch +jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum +imitatorischen Conterfei der Erscheinung z.B. einer Schlacht, eines +Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft +gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere Ergetzung nur dadurch +zu erregen sucht, dass sie uns zwingt, äusserliche Analogien zwischen +einem Vorgange des Lebens und der Natur und gewissen rhythmischen +Figuren und charakteristischen Klängen der Musik zu suchen, wenn sich +unser Verstand an der Erkenntniss dieser Analogien befriedigen soll, +so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Empfängniss +des Mythischen unmöglich ist; denn der Mythus will als ein einziges +Exempel einer in's Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und +Wahrheit anschaulich empfunden werden. Die wahrhaft dionysische +Musik tritt uns als ein solcher allgemeiner Spiegel des Weltwillens +gegenüber: jenes anschauliche Ereigniss, das sich in diesem Spiegel +bricht, erweitert sich sofort für unser Gefühl zum Abbilde einer +ewigen Wahrheit. Umgekehrt wird ein solches anschauliches Ereigniss +durch die Tonmalerei des neueren Dithyrambus sofort jedes mythischen +Charakters entkleidet; jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbilde der +Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung +selbst: durch welche Armuth sie für unsere Empfindung die Erscheinung +selbst noch herabzieht, so dass jetzt z.B. eine derartig musikalisch +imitirte Schlacht sich in Marschlärm, Signalklängen u.s.w. erschöpft, +und unsere Phantasie gerade bei diesen Oberflächlichkeiten +festgehalten wird. Die Tonmalerei ist also in jeder Beziehung das +Gegenstück zu der mythenschaffenden Kraft der wahren Musik: durch +sie wird die Erscheinung noch ärmer als sie ist, während durch +die dionysische Musik die einzelne Erscheinung sich zum Weltbilde +bereichert und erweitert. Es war ein mächtiger Sieg des undionysischen +Geistes, als er, in der Entfaltung des neueren Dithyrambus, die +Musik sich selbst entfremdet und sie zur Sclavin der Erscheinung +herabgedrückt hatte. Euripides, der in einem höhern Sinne eine +durchaus unmusikalische Natur genannt werden muss, ist aus eben +diesem Grunde leidenschaftlicher Anhänger der neueren dithyrambischen +Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Räubers alle ihre +Effectstücke und Manieren. + +Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses undionysischen, +gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thätigkeit, wenn wir unsere +Blicke auf das Ueberhandnehmen der Charakterdarstellung und des +psychologischen Raffinements in der Tragödie von Sophokles ab richten. +Der Charakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern lassen, +sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge und Schattirungen, +durch feinste Bestimmtheit aller Linien individuell wirken, dass +der Zuschauer überhaupt nicht mehr den Mythus, sondern die mächtige +Naturwahrheit und die Imitationskraft des Künstlers empfindet. Auch +hier gewahren wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und +die Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir +athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher die +wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künstlerische +Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung auf der Linie des +Charakteristischen geht schnell weiter: während noch Sophokles ganze +Charactere malt und zu ihrer raffinirten Entfaltung den Mythus +ins Joch spannt, malt Euripides bereits nur noch grosse einzelne +Charakterzüge, die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen; +in der neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit einem +Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, verschmitzte Sclaven +in unermüdlicher Wiederholung. Wohin ist jetzt der mythenbildende +Geist der Musik? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entweder +Aufregungs- oder Erinnerungsmusik d.h. entweder ein Stimulanzmittel +für stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere +kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an: schon bei Euripides +geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst zu singen anfangen, recht +lüderlich zu; wohin mag es bei seinen frechen Nachfolgern gekommen +sein? + +Am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neue undionysische Geist +in den Schlüssen der neueren Dramen. In der alten Tragödie war der +metaphysische Trost am Ende zu spüren gewesen, ohne den die Lust +an der Tragödie überhaupt nicht zu erklären ist; am reinsten tönt +vielleicht im Oedipus auf Kolonos der versöhnende Klang aus einer +anderen Welt. Jetzt, als der Genius der Musik aus der Tragödie +entflohen war, ist, im strengen Sinne, die Tragödie todt: denn woher +sollte man jetzt jenen metaphysischen Trost schöpfen können? Man +suchte daher nach einer irdischen Lösung der tragischen Dissonanz; +der Held, nachdem er durch das Schicksal hinreichend gemartert war, +erntete in einer stattlichen Heirat, in göttlichen Ehrenbezeugungen +einen wohlverdienten Lohn. Der Held war zum Gladiator geworden, dem +man, nachdem er tüchtig geschunden und mit Wunden überdeckt war, +gelegentlich die Freiheit schenkte. Der deus ex machina ist an Stelle +des metaphysischen Trostes getreten. Ich will nicht sagen, dass die +tragische Weltbetrachtung überall und völlig durch den andrängenden +Geist des Undionysischen zerstört wurde: wir wissen nur, dass sie +sich aus der Kunst gleichsam in die Unterwelt, in einer Entartung +zum Geheimcult, flüchten musste. Aber auf dem weitesten Gebiete der +Oberfläche des hellenischen Wesens wüthete der verzehrende Hauch jenes +Geistes, welcher sich in jener Form der "griechischen Heiterkeit" +kundgiebt, von der bereits früher, als von einer greisenhaft +unproductiven Daseinslust, die Rede war; diese Heiterkeit ist ein +Gegenstück zu der herrlichen "Naivetät" der älteren Griechen, wie sie, +nach der gegebenen Charakteristik, zu fassen ist als die aus einem +düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüthe der apollinischen Cultur, als +der Sieg, den der hellenische Wille durch seine Schönheitsspiegelung +über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt. Die +edelste Form jener anderen Form der "griechischen Heiterkeit", der +alexandrinischen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen: +sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus +dem Geiste des Undionysischen ableitete - dass sie die dionysische +Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzulösen trachtet, +dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische +Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott +der Maschinen und Schmelztiegel, d.h. die im Dienste des höheren +Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister, dass +sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die +Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande +ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren +Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: "Ich +will dich: du bist werth erkannt zu werden". + + +18. + +Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel, +durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im +Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die +sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige +Wunde des Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen +Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst, jenen +wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der +Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst: um von den +gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in +jedem Augenblick bereithält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen +sind überhaupt nur für die edler ausgestatteten Naturen, von denen die +Last und Schwere des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden +wird und die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust +hinwegzutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir +Cultur nennen: je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine +vorzugsweise sokratische oder künstlerische oder tragische Cultur: +oder wenn man historische Exemplificationen erlauben will: es giebt +entweder eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine +buddhaistische Cultur. + +Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur +befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften +ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen +Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere +Erziehungsmittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere +Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht +als beabsichtigte Existenz. In einem fast erschreckenden Sinne ist +hier eine lange Zeit der Gebildete allein in der Form des Gelehrten +gefunden worden; selbst unsere dichterischen Künste haben sich aus +gelehrten Imitationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des +Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen Form aus +künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen, recht eigentlich +gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste einem ächten Griechen der +an sich verständliche moderne Culturmensch Faust erscheinen, der durch +alle Facultäten unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und +dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates +zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch die Grenzen +jener sokratischen Erkenntnisslust zu ahnen beginnt und aus dem weiten +wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu +Eckermann, mit Bezug auf Napoleon, äussert: "Ja mein Guter, es giebt +auch eine Productivität der Thaten", so hat er, in anmuthig naiver +Weise, daran erinnert, dass der nicht theoretische Mensch für den +modernen Menschen etwas Unglaubwürdiges und Staunenerregendes ist, +so dass es wieder der Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so +befremdende Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu finden. + +Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse dieser +sokratischen Cultur verborgen liegt! Der unumschränkt sich wähnende +Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses +Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Cultur bis in die +niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich +unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an +das Erdenglück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen +allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende Forderung eines +solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörung eines +Euripideischen deus ex machina umschlägt! Man soll es merken: die +alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer +existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen +Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes +und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs und +Beruhigungsworte von der "Würde des Menschen" und der "Würde der +Arbeit" verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung +entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen +Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten +gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle +Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, solchen drohenden Stürmen +entgegen, sicheren Muthes an unsere blassen und ermüdeten Religionen +zu appelliren, die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen +entartet sind: so dass der Mythus, die nothwendige Voraussetzung jeder +Religion, bereits überall gelähmt ist, und selbst auf diesem Bereich +jener optimistische Geist zur Herrschaft gekommen ist, den wir als den +Vernichtungskeim unserer Gesellschaft eben bezeichnet haben. + +Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlummernde Unheil +allmählich den modernen Menschen zu ängstigen beginnt, und er, +unruhig, aus dem Schatze seiner Erfahrungen nach Mitteln greift, um +die Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben; +während er also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt: +haben grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen +Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen +gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt +darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale +Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem +Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt +wurde, welche, an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste +Wesen der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit und +Weisheit Kant's und Schopenhauer's ist der schwerste Sieg gelungen, +der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, +der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die +Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf +die ihm unbedenklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit +und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster +Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich nur +dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen +und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten +und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss +von diesem dadurch unmöglich zu machen, d.h., nach einem +Schopenhauer'schen Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern +(W. a. W. u. V. I, p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur +eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren +wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als +höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch +die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem +Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige +Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu +ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit +dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug ins +Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die +stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen +jenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen "resolut +zu leben": sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch +dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, +eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie +als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss: + + Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, + In's Leben ziehn die einzigste Gestalt? + +Nachdem aber die sokratische Cultur von zwei Seiten aus erschüttert +ist und das Scepter ihrer Unfehlbarkeit nur noch mit zitternden Händen +zu halten vermag, einmal aus Furcht vor ihren eigenen Consequenzen, +die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der +ewigen Gültigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem früheren naiven +Zutrauen überzeugt ist: so ist es ein trauriges Schauspiel, wie sich +der Tanz ihres Denkens sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt, +um sie zu umarmen, und sie dann plötzlich wieder, wie Mephistopheles +die verführerischen Lamien, schaudernd fahren lässt. Das ist ja das +Merkmal jenes "Bruches", von dem Jedermann als von dem Urleiden der +modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch vor +seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt +sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich +läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch +mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das +optimistische Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, +die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde +gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden d.h. vor ihren +Consequenzen zurück zu fliehen. Unsere Kunst offenbart diese +allgemeine Noth: umsonst dass man sich an alle grossen productiven +Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze +"Weltlitteratur" zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt +und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten +hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe: er +bleibt doch der ewig Hungernde, der "Kritiker" ohne Lust und Kraft, +der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector +ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet. + + +19. + +Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur nicht +schärfer bezeichnen, als wenn man sie die Cultur der Oper nennt: denn +auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit eigener Naivetät über ihr +Wollen und Erkennen ausgesprochen, zu unserer Verwunderung, wenn wir +die Genesis der Oper und die Thatsachen der Opernentwicklung mit +den ewigen Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen +zusammenhalten. Ich erinnere zunächst an die Entstehung des stilo +rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass diese +gänzlich veräusserlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von +einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleichsam als die Wiedergeburt +aller wahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich +soeben die unaussprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina's +erhoben hatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige +Ueppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer +dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende Lust an der +Oper verantwortlich machen? Dass in derselben Zeit, ja in demselben +Volke neben dem Gewölbebau Palestrinischer Harmonien, an dem das +gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für +eine halbmusikalisch Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer +im Wesen des Recitativs mitwirkenden ausserkünstlerischen Tendenz zu +erklären. + +Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich vernehmen will, +entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr spricht als singt und dass +er den pathetischen Wortausdruck in diesem Halbgesange verschärft: +durch diese Verschärfung des Pathos erleichtert er das Verständniss +des Wortes und überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die +eigentliche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik +einmal zur Unzeit das Obergewicht ertheilt, wodurch sofort Pathos +der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde gehen müsste: während +er andrerseits immer den Trieb zu musikalischer Entladung und zu +virtuosenhafter Präsentation seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm +der "Dichter" zu Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen +Interjectionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u.s.w. zu bieten +weiss: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem rein musikalischen +Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort, ausruhen kann. Dieser Wechsel +affectvoll eindringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganz +gesungener Interjection, der im Wesen des stilo rappresentativo +liegt, dies rasch wechselnde Bemühen, bald auf den Begriff und +die Vorstellung, bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu +wirken, ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des +Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so innerlich +Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung des Recitativs zu +schliessen hat, der ausserhalb aller künstlerischen Instincte liegt. +Das Recitativ ist nach dieser Schilderung zu definiren als die +Vermischung des epischen und des lyrischen Vortrags und zwar +keinesfalls die innerlich beständige Mischung, die bei so gänzlich +disparaten Dingen nicht erreicht werden konnte, sondern die +äusserlichste mosaikartige Conglutination, wie etwas Derartiges im +Bereich der Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. Dies war +aber nicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs: vielmehr glauben +sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch jenen stilo +rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik gelöst sei, aus dem +sich allein die ungeheure Wirkung eines Orpheus, Amphion, ja auch +der griechischen Tragödie erklären lasse. Der neue Stil galt als die +Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen: +ja man durfte sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen +Auffassung der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume +überlassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Menschheit +hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene +unübertroffne Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben müsste, +von der die Dichter in ihren Schäferspielen so rührend zu erzählen +wussten. Hier sehen wir in das innerlichste Werden dieser recht +eigentlich modernen Kunstgattung, der Oper: ein mächtiges Bedürfniss +erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedürfniss unaesthetischer +Art: die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche +Existenz des künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt +als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper als das +wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch guten Wesens, +das zugleich in allen seinen Handlungen einem natürlichen Kunsttriebe +folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um, +bei der leisesten Gefühlserregung, sofort mit voller Stimme zu singen. +Es ist für uns jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaffnen +Bilde des paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen +die alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und verlornen +Menschen ankämpften: so dass die Oper als das Oppositionsdogma vom +guten Menschen zu verstehen ist, mit dem aber zugleich ein Trostmittel +gegen jenen Pessimismus gefunden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten +jener Zeit, bei der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am +stärksten gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der +eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunstform in der +Befriedigung eines gänzlich unaesthetischen Bedürfnisses liegt, in der +optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung +des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen: +welches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und +entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der +socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhören +können. Der "gute Urmensch" will seine Rechte: welche paradiesischen +Aussichten! + +Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung meiner +Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien mit unserer +alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper ist die Geburt des +theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Künstlers: +eine der befremdlichsten Thatsachen in der Geschichte aller Künste. Es +war die Forderung recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man +vor allem das Wort verstehen müsse: so dass eine Wiedergeburt der +Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Gesangesweise +entdecken werde, bei welcher das Textwort über den Contrapunkt wie der +Herr über den Diener herrsche. Denn die Worte seien um so viel edler +als das begleitende harmonische System, um wie viel die Seele edler +als der Körper sei. Mit der laienhaft unmusikalischen Rohheit dieser +Ansichten wurde in den Anfängen der Oper die Verbindung von Musik, +Bild und Wort behandelt; im Sinne dieser Aesthetik kam es auch in den +vornehmen Laienkreisen von Florenz, durch hier patronisirte Dichter +und Sänger, zu den ersten Experimenten. Der kunstohnmächtige Mensch +erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch, dass er der +unkünstlerische Mensch an sich ist. Weil er die dionysische Tiefe +der Musik nicht ahnt, verwandelt er sich den Musikgenuss zur +verstandesmässigen Wort- und Tonrhetorik der Leidenschaft im stilo +rappresentativo und zur Wohllust der Gesangeskünste; weil er +keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinisten und +Decorationskünstler in seinen Dienst; weil er das wahre Wesen +des Künstlers nicht zu erfassen weiss, zaubert er vor sich den +"künstlerischen Urmenschen" nach seinem Geschmack hin d.h. den +Menschen, der in der Leidenschaft singt und Verse spricht. Er träumt +sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um +Gesänge und Dichtungen zu erzeugen: als ob jeder Affect im Stande +gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen. Die Voraussetzung der +Oper ist ein falscher Glaube über den künstlerischen Prozess und zwar +jener idyllische Glaube, dass eigentlich jeder empfindende Mensch +Künstler sei. Im Sinne dieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des +Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismus +des theoretischen Menschen dictirt. + +Sollten wir wünschen, die beiden eben geschilderten, bei der +Entstehung der Oper wirksamen Vorstellungen unter einen Begriff zu +vereinigen, so würde uns nur übrig bleiben, von einer idyllischen +Tendenz der Oper zu sprechen: wobei wir uns allein der Ausdrucksweise +und Erklärung Schillers zu bedienen hätten. Entweder, sagt dieser, +ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als +verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein +Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das +erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester +Bedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal jener beiden +Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam zu machen, dass in ihnen +das Ideal nicht als unerreicht, die Natur nicht als verloren empfunden +wird. Es gab nach dieser Empfindung eine Urzeit des Menschen, in der +er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das +Ideal der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstlerschaft, +erreicht hatte: von welchem vollkommnen Urmenschen wir alle abstammen +sollten, ja dessen getreues Ebenbild wir noch wären: nur müssten wir +Einiges von uns werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu +erkennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von überflüssiger +Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur. Der Bildungsmensch der +Renaissance liess sich durch seine opernhafte Imitation der +griechischen Tragödie zu einem solchen Zusammenklang von Natur und +Ideal, zu einer idyllischen Wirklichkeit zurückgeleiten, er benutzte +diese Tragödie, wie Dante den Virgil benutzte, um bis an die Pforten +des Paradieses geführt zu werden: während er von hier aus selbständig +noch weiter schritt und von einer Imitation der höchsten griechischen +Kunstform zu einer "Wiederbringung aller Dinge", zu einer Nachbildung +der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen überging. Welche +zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwegenen Bestrebungen, mitten +im Schoosse der theoretischen Cultur! - einzig nur aus dem tröstenden +Glauben zu erklären, dass "der Mensch an sich" der ewig tugendhafte +Opernheld, der ewig flötende oder singende Schäfer sei, der sich +endlich immer als solchen wiederfinden müsse, falls er sich selbst +irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig +die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokratischen +Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische Duftsäule +emporsteigt. + +Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener elegische +Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiterkeit des ewigen +Wiederfindens, die bequeme Lust an einer idyllischen Wirklichkeit, die +man wenigstens sich als wirklich in jedem Augenblicke vorstellen kann: +wobei man vielleicht einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit +nichts als ein phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der +es an dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit den +eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu vergleichen vermöchte, +mit Ekel zurufen müsste: Weg mit dem Phantom! Trotzdem würde man sich +täuschen, wenn man glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die +Oper ist, einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst, +verscheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den Kampf +gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die sich in ihr so +naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht, ja deren eigentliche +Kunstform sie ist. Was ist aber für die Kunst selbst von dem Wirken +einer Kunstform zu erwarten, deren Ursprünge überhaupt nicht im +aesthetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halb +moralischen Sphäre auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen +hat und über diese hybride Entstehung nur hier und da einmal +hinwegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährt sich dieses +parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen der wahren Kunst? +Wird nicht zu muthmaassen sein, dass, unter seinen idyllischen +Verführungen, unter seinen alexandrinischen Schmeichelkünsten, die +höchste und wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst - das Auge +vom Blick in's Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den +heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu +retten - zu einer leeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz +entarten werde? Was wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen +und des Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie +am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe? wo die Musik als +Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit dem Körper, +das Textwort mit der Seele verglichen wird? wo das höchste Ziel +bestenfalls auf eine umschreibende Tonmalerei gerichtet sein wird, +ähnlich wie ehedem im neuen attischen Dithyrambus? wo der Musik ihre +wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet +ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung, das +Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem Spiele der Linien +und Proportionen eine äusserliche Ergetzung zu erregen. Einer strengen +Betrachtung fällt dieser verhängnissvolle Einfluss der Oper auf die +Musik geradezu mit der gesammten modernen Musikentwicklung zusammen; +dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsentirten +Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender Schnelligkeit +gelungen, die Musik ihrer dionysischen Weltbestimmung zu entkleiden +und ihr einen formenspielerischen, vergnüglichen Charakter +aufzuprägen: mit welcher Veränderung nur etwa die Metamorphose des +aeschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen +verglichen werden dürfte. + +Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten Exemplification +das Entschwinden des dionysischen Geistes mit einer höchst +auffälligen, aber bisher unerklärten Umwandlung und Degeneration +des griechischen Menschen in Zusammenhang gebracht haben - welche +Hoffnungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten +Auspicien den umgekehrten Prozess, das allmähliche Erwachen des +dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! Es ist +nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen +Frohndienste der Omphale erschlafft. Aus dem dionysischen Grunde +des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den +Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus +ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr +von dieser Cultur als das Schrecklich Unerklärliche, als das +Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir +sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, +von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. Was vermag die +erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage günstigsten Falls mit diesem +aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigenden Dämon zu beginnen? Weder +von dem Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelodie aus, noch mit Hülfe +des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der contrapunktischen +Dialektik will sich die Formel finden lassen, in deren dreimal +gewaltigem Licht man jenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum +Reden zu zwingen vermöchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere +Aesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen "Schönheit", nach +dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musikgenius +schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach der ewigen Schönheit +ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt werden wollen. Man mag +sich nur diese Musikgönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen, +wenn sie so unermüdlich Schönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich +dabei wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten +Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht vielmehr für +die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne +empfindungsarme Nüchternheit einen aesthetischen Vorwand suchen: wobei +ich z.B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag sich +der Lügner und Heuchler in Acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten +aller unserer Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde +Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen +Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen: +alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal +vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen. + +Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden +Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es +ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen +Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch +diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der +ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als +die in Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen können: wohin +weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik +und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, +über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend +unterrichten können? Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns, +die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen, +das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und +Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind: nur dass +wir gleichsam in umgekehrter Ordnung die grossen Hauptepochen des +hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt +aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tragödie +zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfindung, als ob die +Geburt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine +Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten +habe, nachdem für eine lange Zeit ungeheure von aussen her +eindringende Mächte den in hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden +zu einer Knechtschaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich +darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen +Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer romanischen +Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er nur von einem Volke +unentwegt zu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu können +schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist, von den +Griechen. Und wann brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr +als jetzt, wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erleben und in Gefahr +sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu können, +wohin sie will? + + +20. + +Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen Richters, +abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen Männern bisher der +deutsche Geist von den Griechen zu lernen am kräftigsten gerungen hat; +und wenn wir mit Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe +Goethe's, Schiller's und Winckelmann's dieses einzige Lob zugesprochen +werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen, dass seit jener +Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes Kampfes, das Streben auf +einer gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen, in +unbegreiflicher Weise schwächer und schwächer geworden ist. Sollten +wir, um nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen, nicht +daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend welchem Hauptpunkte +es auch jenen Kämpfern nicht gelungen sein möchte, in den Kern des +hellenischen Wesens einzudringen und einen dauernden Liebesbund +zwischen der deutschen und der griechischen Cultur herzustellen? So +dass vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in den +ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie, nach solchen +Vorgängern, auf diesem Bildungswege noch weiter wie jene und überhaupt +zum Ziele kommen würden. Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil +über den Werth der Griechen für die Bildung in der bedenklichsten +Weise entarten; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den +verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu hören; +anderwärts tändelt eine gänzlich wirkungslose Schönrednerei mit +der "griechischen Harmonie", der "griechischen Schönheit", der +"griechischen Heiterkeit". Und gerade in den Kreisen, deren Würde +es sein könnte, aus dem griechischen Strombett unermüdet, zum Heile +deutscher Bildung, zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den +höheren Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den +Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufinden, nicht selten bis zu +einem sceptischen Preisgeben des hellenischen Ideals und bis zu einer +gänzlichen Verkehrung der wahren Absicht aller Alterthumsstudien. +Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein +zuverlässiger Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer +Sprachmikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht +auch das griechische Alterthum, neben anderen Alterthümern, sich +"historisch" anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode und mit den +überlegenen Mienen unserer jetzigen gebildeten Geschichtsschreibung. +Wenn demnach die eigentliche Bildungskraft der höheren Lehranstalten +wohl noch niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in +der Gegenwart, wenn der "Journalist", der papierne Sclave des Tages, +in jeder Rücksicht auf Bildung den Sieg über den höheren Lehrer +davongetragen hat, und Letzterem nur noch die bereits oft erlebte +Metamorphose übrig bleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise des +Journalisten, mit der "leichten Eleganz" dieser Sphäre, als heiterer +gebildeter Schmetterling zu bewegen - in welcher peinlichen Verwirrung +müssen die derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes +Phänomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher +unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre, das +Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wiedergeburt der +Tragödie? Es giebt keine andere Kunstperiode, in der sich die +sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst so befremdet und +abgeneigt gegenübergestanden hätten, als wir das in der Gegenwart mit +Augen sehn. Wir verstehen es, warum eine so schwächliche Bildung die +wahre Kunst hasst; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber +sollte nicht eine ganze Art der Cultur, nämlich jene sokratisch- +alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine so +zierlich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung ist, +auslaufen konnte! Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe, +nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in +den hellenischen Zauberberg führt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen +nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem sehnsüchtigen Blick, den +die Goethische Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat +über das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher Helden zu +hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganz anderen, von +allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührten Seite die Pforte +von selbst aufthäte - unter dem mystischen Klange der wiedererweckten +Tragödienmusik. + +Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch bevorstehende +Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu verkümmern suchen; denn in +ihm finden wir allein unsre Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung +des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wüssten wir +sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur +irgend welche tröstliche Erwartung für die Zukunft erwecken könnte? +Vergebens spähen wir nach einer einzigen kräftig geästeten Wurzel, +nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub, +Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos +Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter mit +Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten +Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg, +unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoffnungslos, allein +mit Ross und Hund zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war +unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die +Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. - + +Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster geschilderte +Wildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der dionysische Zauber +berührt! Ein Sturmwind packt alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, +Verkümmerte, hüllt es wirbelnd in eine rothe Staubwolke und trägt es +wie ein Geier in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem +Entschwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkung +an's goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so üppig lebendig, +so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tragödie sitzt inmitten dieses +Ueberflusses an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie +horcht einem fernen schwermüthigen Gesange - er erzählt von den +Müttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. - Ja, +meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die +Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist +vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und +wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren +Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn +ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien +nach Griechenland geleiten! Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt +an die Wunder eures Gottes! + + +21. + +Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurückgleitend, die +dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass nur von den Griechen +gelernt werden kann, was ein solches wundergleiches plötzliches +Aufwachen der Tragödie für den innersten Lebensgrund eines Volkes +zu bedeuten hat. Es ist das Volk der tragischen Mysterien, das die +Perserschlachten schlägt: und wiederum braucht das Volk, das jene +Kriege geführt hat, die Tragödie als nothwendigen Genesungstrank. Wer +würde gerade bei diesem Volke, nachdem es durch mehrere Generationen +von den stärksten Zuckungen des dionysischen Dämon bis in's Innerste +erregt wurde, noch einen so gleichmässig kräftigen Erguss des +einfachsten politischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte, +der ursprünglichen männlichen Kampflust vermuthen? Ist es doch bei +jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer Erregungen immer zu +spüren, wie die dionysische Lösung von den Fesseln des Individuums +sich am allerersten in einer bis zur Gleichgültigkeit, ja +Feindseligkeit gesteigerten Beeinträchtigung der politischen Instincte +fühlbar macht, so gewiss andererseits der staatenbildende Apollo auch +der Genius des principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn +nicht ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit leben können. +Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum +indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht in's +Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit +ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf: wie diese +wiederum eine Philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche +Unlust der Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden. +Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten Geltung der +politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster Verweltlichung, deren +grossartigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck das römische +imperium ist. + +Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführerischer Wahl +gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in classischer Reinheit +eine dritte Form hinzuzuerfinden, freilich nicht zu langem eigenen +Gebrauche, aber eben darum für die Unsterblichkeit. Denn dass die +Lieblinge der Götter früh sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so +gewiss, dass sie mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch +von dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des +Leders habe; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z.B. dem römischen +Nationaltriebe zu eigen war, gehört wahrscheinlich nicht zu den +nothwendigen Prädicaten der Vollkommenheit. Wenn wir aber fragen, mit +welchem Heilmittel es den Griechen ermöglicht war, in ihrer grossen +Zeit, bei der ausserordentlichen Stärke ihrer dionysischen und +politischen Triebe, weder durch ein ekstatisches Brüten, noch +durch ein verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu +erschöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie sie +ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender Wein +hat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volksleben erregenden, +reinigenden und entladenden Gewalt der Tragödie eingedenk sein; deren +höchsten Werth wir erst ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den +Griechen, als Inbegriff aller prophylaktischen Heilkräfte, als die +zwischen den stärksten und an sich verhängnissvollsten Eigenschaften +des Volkes waltende Mittlerin entgegentritt. + +Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich hinein, so dass +sie geradezu die Musik, bei den Griechen, wie bei uns, zur Vollendung +bringt, stellt dann aber den tragischen Mythus und den tragischen +Helden daneben, der dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze +dionysische Welt auf seinen Rücken nimmt und uns davon entlastet: +während sie andrerseits durch denselben tragischen Mythus, in der +Person des tragischen Helden, von dem gierigen Drange nach diesem +Dasein zu erlösen weiss, und mit mahnender Hand an ein anderes Sein +und an eine höhere Lust erinnert, zu welcher der kämpfende Held +durch seinen Untergang, nicht durch seine Siege sich ahnungsvoll +vorbereitet. Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung +ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes +Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob die +Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen +Welt des Mythus sei. Dieser edlen Täuschung vertrauend darf sie jetzt +ihre Glieder zum dithyrambischen Tanze bewegen und sich unbedenklich +einem orgiastischen Gefühle der Freiheit hingeben, in welchem sie als +Musik an sich, ohne jene Täuschung, nicht zu schwelgen wagen dürfte. +Der Mythus schützt uns vor der Musik, wie er ihr andrerseits erst die +höchste Freiheit giebt. Dafür verleiht die Musik, als Gegengeschenk, +dem tragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende +metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige +Hülfe, nie zu erreichen vermögen; und insbesondere überkommt durch sie +den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefühl einer höchsten +Lust, zu der der Weg durch Untergang und Verneinung führt, so dass +er zu hören meint, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm +vernehmlich spräche. + +Habe ich dieser schwierigen Vorstellung mit den letzten Sätzen +vielleicht nur einen vorläufigen, für Wenige sofort verständlichen +Ausdruck zu geben vermocht, so darf ich gerade an dieser Stelle nicht +ablassen, meine Freunde zu einem nochmaligen Versuche anzureizen +und sie zu bitten, an einem einzelnen Beispiele unsrer gemeinsamen +Erfahrung sich für die Erkenntniss des allgemeinen Satzes +vorzubereiten. Bei diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene +beziehn, welche die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und +Affecte der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hülfe +der Musikempfindung anzunähern; denn diese alle reden nicht Musik als +Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe, nicht weiter als in +die Vorhallen der Musikperception, ohne je deren innerste Heiligthümer +berühren zu dürfen; manche von diesen, wie Gervinus, gelangen auf +diesem Wege nicht einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen +habe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in +ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur +durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung stehen. An diese ächten +Musiker richte ich die Frage, ob sie sich einen Menschen denken +können, der den dritten Act von "Tristan und Isolde" ohne alle +Beihülfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu +percipiren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen +aller Seelenflügel zu verathmen? Ein Mensch, der wie hier das Ohr +gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das +rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten +zerstäubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen +fühlt, er sollte nicht jählings zerbrechen? Er sollte es ertragen, +in der elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, den +Wiederklang zahlloser Lust - und Weherufe aus dem "weiten Raum der +Weltennacht" zu vernehmen, ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysik +sich seiner Urheimat unaufhaltsam zuzuflüchten? Wenn aber doch ein +solches Werk als Ganzes percipirt werden kann, ohne Verneinung der +Individualexistenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen werden +konnte, ohne ihren Schöpfer zu zerschmettern - woher nehmen wir die +Lösung eines solchen Widerspruches? + +Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung und jene Musik +der tragische Mythus und der tragische Held, im Grunde nur als +Gleichniss der alleruniversalsten Thatsachen, von denen allein die +Musik auf directem Wege reden kann. Als Gleichniss würde nun aber +der Mythus, wenn wir als rein dionysische Wesen empfänden, gänzlich +wirkungslos und unbeachtet neben uns stehen bleiben, und uns keinen +Augenblick abwendig davon machen, unser Ohr dem Wiederklang der +universalia ante rem zu bieten. Hier bricht jedoch die apollinische +Kraft, auf Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums +gerichtet, mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Täuschung hervor: +plötzlich glauben wir nur noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos +und dumpf sich fragt: "die alte Weise; was weckt sie mich?" Und was +uns früher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seins +anmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie "öd und leer das +Meer." Und wo wir athemlos zu erlöschen wähnten, im krampfartigen +Sichausrecken aller Gefühle, und nur ein Weniges uns mit dieser +Existenz zusammenknüpfte, hören und sehen wir jetzt nur den zum +Tode verwundeten und doch nicht sterbenden Helden, mit seinem +verzweiflungsvollen Rufe: "Sehnen! Sehnen! Im Sterben mich zu sehnen, +vor Sehnsucht nicht zu sterben!" Und wenn früher der Jubel des Horns +nach solchem Uebermaass und solcher Ueberzahl verzehrender Qualen +fast wie der Qualen höchste uns das Herz zerschnitt, so steht jetzt +zwischen uns und diesem "Jubel an sich" der jauchzende Kurwenal, dem +Schiffe, das Isolden trägt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden +in uns hineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das +Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild des Mythus +uns vor dem unmittelbaren Anschauen der höchsten Weltidee, wie der +Gedanke und das Wort uns vor dem ungedämmten Ergusse des unbewussten +Willens rettet. Durch jene herrliche apollinische Täuschung dünkt es +uns, als ob uns selbst das Tonreich wie eine plastische Welt gegenüber +träte, als ob auch in ihr nur Tristan's und Isoldens Schicksal, wie +in einem allerzartesten und ausdrucksfähigsten Stoffe, geformt und +bildnerisch ausgeprägt worden sei. + +So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit +und entzückt uns für die Individuen; an diese fesselt es unsre +Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen +und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn; es führt an uns +Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in +ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, +des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung +reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen +Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des +dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes +Weltbild, z.B. Tristan und Isolde, sehe und es, durch die Musik, +nur noch besser und innerlicher sehen solle. Was vermag nicht der +heilkundige Zauber des Apollo, wenn er selbst in uns die Täuschung +aufregen kann, als ob wirklich das Dionysische, im Dienste des +Apollinischen, dessen Wirkungen zu steigern vermöchte, ja als ob die +Musik sogar wesentlich Darstellungskunst für einen apollinischen +Inhalt sei? + +Bei jener prästabilirten Harmonie, die zwischen dem vollendeten Drama +und seiner Musik waltet, erreicht das Drama einen höchsten, für +das Wortdrama sonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit. Wie +alle lebendigen Gestalten der Scene in den selbständig bewegten +Melodienlinien sich zur Deutlichkeit der geschwungenen Linie vor +uns vereinfachen, ertönt uns das Nebeneinander dieser Linien in +dem mit dem bewegten Vorgange auf zarteste Weise sympathisirenden +Harmonienwechsel: durch welchen uns die Relationen der Dinge in +sinnlich wahrnehmbarer, keinesfalls abstracter Weise, unmittelbar +vernehmbar werden, wie wir gleichfalls durch ihn erkennen, dass +erst in diesen Relationen das Wesen eines Charakters und einer +Melodienlinie sich rein offenbare. Und während uns so die Musik +zwingt, mehr und innerlicher als sonst zu sehen, und den Vorgang der +Scene wie ein zartes Gespinnst vor uns auszubreiten, ist für unser +vergeistigtes, in's Innere blickendes Auge die Welt der Bühne eben so +unendlich erweitert als von innen heraus erleuchtet. Was vermöchte der +Wortdichter Analoges zu bieten, der mit einem viel unvollkommneren +Mechanismus, auf indirectem Wege, vom Wort und vom Begriff aus, jene +innerliche Erweiterung der schaubaren Bühnenwelt und ihre innere +Erleuchtung zu erreichen sich abmüht? Nimmt nun zwar auch die +musikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den +Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das +Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen. + +Aber von diesem geschilderten Vorgang wäre doch eben so bestimmt +zu sagen, dass er nur ein herrlicher Schein, nämlich jene vorhin +erwähnte apollinische Täuschung sei, durch deren Wirkung wir von +dem dionysischen Andrange und Uebermaasse entlastet werden sollen. +Im Grunde ist ja das Verhältniss der Musik zum Drama gerade das +umgekehrte: die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama +nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben. +Jene Identität zwischen der Melodienlinie und der lebendigen Gestalt, +zwischen der Harmonie und den Charakterrelationen jener Gestalt ist +in einem entgegengesetzten Sinne wahr, als es uns, beim Anschauen der +musikalischen Tragödie, dünken möchte. Wir mögen die Gestalt uns auf +das Sichtbarste bewegen, beleben und von innen heraus beleuchten, sie +bleibt immer nur die Erscheinung, von der es keine Brücke giebt, die +in die wahre Realität, in's Herz der Welt führte. Aus diesem Herzen +heraus aber redet die Musik; und zahllose Erscheinungen jener Art +dürften an der gleichen Musik vorüberziehn, sie würden nie das Wesen +derselben erschöpfen, sondern immer nur ihre veräusserlichten Abbilder +sein. Mit dem populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und +Körper ist freilich für das schwierige Verhältniss von Musik und Drama +nichts zu erklären und alles zu verwirren; aber die unphilosophische +Rohheit jenes Gegensatzes scheint gerade bei unseren Aesthetikern, wer +weiss aus welchen Gründen, zu einem gern bekannten Glaubensartikel +geworden zu sein, während sie über einen Gegensatz der Erscheinung +und des Dinges an sich nichts gelernt haben oder, aus ebenfalls +unbekannten Gründen, nichts lernen mochten. + +Sollte es sich bei unserer Analysis ergeben haben, dass das +Apollinische in der Tragödie durch seine Täuschung völlig den Sieg +über das dionysische Urelement der Musik davongetragen und sich diese +zu ihren Absichten, nämlich zu einer höchsten Verdeutlichung des +Drama's, nutzbar gemacht habe, so wäre freilich eine sehr wichtige +Einschränkung hinzuzufügen: in dem allerwesentlichsten Punkte ist jene +apollinische Täuschung durchbrochen und vernichtet. Das Drama, das in +so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewegungen und Gestalten, +mit Hülfe der Musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe +am Webstuhl im Auf - und Niederzucken entstehen sehen - erreicht als +Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen +liegt. In der Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische +wieder das Uebergewicht; sie schliesst mit einem Klange, der niemals +von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit +erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als +die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der +eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluss +das apollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit +dionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine +apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige +Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie +durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren: Dionysus +redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des +Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt +erreicht ist. + + +22. + +Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer wahren +musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach seinen Erfahrungen +vergegenwärtigen. Ich denke das Phänomen dieser Wirkung nach beiden +Seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sich seine eignen +Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Er wird sich nämlich +erinnern, wie er, im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus, +zu einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt +die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei, sondern +in's Innere zu dringen vermöge, und als ob er die Wallungen des +Willens, den Kampf der Motive, den anschwellenden Strom der +Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der Musik, gleichsam sinnlich +sichtbar, wie eine Fülle lebendig bewegter Linien und Figuren vor sich +sehe und damit bis in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen +hinabtauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung seiner auf +Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe bewusst wird, fühlt +er doch eben so bestimmt, dass diese lange Reihe apollinischer +Kunstwirkungen doch nicht jenes beglückte Verharren in willenlosem +Anschauen erzeugt, das der Plastiker und der epische Dichter, also +die eigentlich apollinischen Künstler, durch ihre Kunstwerke bei +ihm hervorbringen: das heisst die in jenem Anschauen erreichte +Rechtfertigung der Welt der individuatio, als welche die Spitze und +der Inbegriff der apollinischen Kunst ist. Er schaut die verklärte +Welt der Bühne und verneint sie doch. Er sieht den tragischen Helden +vor sich in epischer Deutlichkeit und Schönheit und erfreut sich doch +an seiner Vernichtung. Er begreift bis in's Innerste den Vorgang +der Scene und flüchtet sich gern in's Unbegreifliche. Er fühlt die +Handlungen des Helden als gerechtfertigt und ist doch noch mehr +erhoben, wenn diese Handlungen den Urheber vernichten. Er schaudert +vor den Leiden, die den Helden treffen werden und ahnt doch bei ihnen +eine höhere, viel übermächtigere Lust. Er schaut mehr und tiefer als +je und wünscht sich doch erblindet. Woher werden wir diese wunderbare +Selbstentzweiung, dies Umbrechen der apollinischen Spitze, abzuleiten +haben, wenn nicht aus dem dionysischen Zauber, der, zum Schein die +apollinischen Regungen auf's Höchste reizend, doch noch diesen +Ueberschwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zu zwingen +vermag. Der tragische Mythus ist nur zu verstehen als eine +Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel; +er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst +verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität +zurückzuflüchten sucht; wo sie dann, mit Isolden, ihren metaphysischen +Schwanengesang also anzustimmen scheint: + + In des Wonnemeeres + wogendem Schwall, + in der Duft - Wellen + tönendem Schall, + in des Weltathems + wehendem All + ertrinken - versinken + unbewusst - höchste Lust! + +So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft +aesthetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er, gleich +einer üppigen Gottheit der individuatio, seine Gestalten schafft, in +welchem Sinne sein Werk kaum als "Nachahmung der Natur" zu begreifen +wäre - wie dann aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze +Welt der Erscheinungen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre +Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse des +Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser Rückkehr zur +Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der +Tragödie und von der sowohl apollinischen als dionysischen Erregung +des Zuhörers unsere Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht +müde werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg der +sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie bewirkte Entladung +von Affecten als das eigentlich Tragische zu charakterisiren: welche +Unverdrossenheit mich auf den Gedanken bringt, sie möchten überhaupt +keine aesthetisch erregbaren Menschen sein und beim Anhören der +Tragödie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen. Noch +nie, seit Aristoteles, ist eine Erklärung der tragischen Wirkung +gegeben worden, aus der auf künstlerische Zustände, auf eine +aesthetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen werden dürfte. Bald +soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die ernsten Vorgänge zu einer +erleichternden Entladung gedrängt werden, bald sollen wir uns bei dem +Sieg guter und edler Principien, bei der Aufopferung des Helden im +Sinne einer sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fühlen; +und so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschen gerade das und +nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlich ergiebt sich daraus, +dass diese alle, sammt ihren interpretirenden Aesthetikern, von +der Tragödie als einer höchsten Kunst nichts erfahren haben. Jene +pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die +Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die +moralischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merkwürdige +Ahnung Goethe's. "Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse", sagt +er, "ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation +zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. +Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, +dass das höchste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen +gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um ein +solches Werk hervorzubringen?" Diese so tiefsinnige letzte Frage +dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen, bejahen, +nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunen erlebt +haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur ein aesthetisches +Spiel sein kann: weshalb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das +Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. +Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus +ausseraesthetischen Sphären zu erzählen hat und über den pathologisch +- moralischen Prozess sich nicht hinausgehoben fühlt, mag nur +an seiner aesthetischen Natur verzweifeln: wogegen wir ihm die +Interpretation Shakespeare's nach der Manier des Gervinus und das +fleissige Aufspüren der "poetischen Gerechtigkeit" als unschuldigen +Ersatz anempfehlen. + +So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der aesthetische Zuhörer +wieder geboren, an dessen Stelle bisher in den Theaterräumen ein +seltsames Quidproquo, mit halb moralischen und halb gelehrten +Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der "Kritiker". In seiner bisherigen +Sphäre war Alles künstlich und nur mit einem Scheine des Lebens +übertüncht. Der darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr, +was er mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu +beginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden Dramatiker +oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten Resten des Lebens +in diesem anspruchsvoll öden und zum Geniessen unfähigen Wesen. Aus +derartigen "Kritikern" bestand aber bisher das Publicum; der Student, +der Schulknabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war wider +sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu einer gleichen +Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die edleren Naturen unter +den Künstlern rechneten bei einem solchen Publicum auf die Erregung +moralisch - religiöser Kräfte, und der Anruf der "sittlichen +Weltordnung" trat vikarirend ein, wo eigentlich ein gewaltiger +Kunstzauber den ächten Zuhörer entzücken sollte. Oder es wurde vom +Dramatiker eine grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der +politischen und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der +Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähnlichen +Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder kriegerischen +Momenten, oder vor der Rednerbühne des Parlaments oder bei der +Verurtheilung des Verbrechens und des Lasters: welche Entfremdung der +eigentlichen Kunstabsichten hier und da geradezu zu einem Cultus der +Tendenz führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstelten +Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle Depravation +jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die Tendenz, das Theater +als Veranstaltung zur moralischen Volksbildung zu verwenden, die +zu Schiller's Zeit ernsthaft genommen wurde, bereits unter die +unglaubwürdigen Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet +wird. Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist in +der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen +war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungsobject der niedrigsten +Art, und die aesthetische Kritik wurde als das Bindemittel einer +eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärmlich - +unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauerische +Parabel von den Stachelschweinen zu verstehen giebt; so dass zu keiner +Zeit so viel über Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten +worden ist. Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im +Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten? Mag +Jeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten: er wird mit der +Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter "Bildung" vorstellt, +vorausgesetzt dass er die Frage überhaupt zu beantworten sucht und +nicht vor Ueberraschung bereits verstummt ist. + +Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur Befähigte, +ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich zum kritischen +Barbaren geworden war, von einer eben so unerwarteten als gänzlich +unverständlichen Wirkung zu erzählen haben, die etwa eine glücklich +gelungene Lohengrinaufführung auf ihn ausübte: nur dass ihm vielleicht +jede Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass auch +jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus unvergleichliche +Empfindung, die ihn damals erschütterte, vereinzelt blieb und wie ein +räthselhaftes Gestirn nach kurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er +geahnt, was der aesthetische Zuhörer ist. + + +23. + +Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er dem wahren +aesthetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Gemeinschaft der +sokratisch - kritischen Menschen gehört, der mag sich nur aufrichtig +nach der Empfindung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellte +Wunder empfängt: ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge +psychologische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er +mit einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als ein der +Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen zulässt oder +ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet. Daran nämlich wird er +messen können, wie weit er überhaupt befähigt ist, den Mythus, das +zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der +Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche +ist aber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch den +kritisch - historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühle, um nur +etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Abstractionen, sich die +einstmalige Existenz des Mythus glaublich zu machen. Ohne Mythus aber +geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: +erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze +Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des +apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen +Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt +allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge +Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und +seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigeren +ungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen +Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen +Vorstellungen verbürgt. + +Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten +Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte +Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige sich das regellose, +von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen +Phantasie: man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen +Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen +Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist - das ist die +Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus +gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig +hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend +nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthümern +nach ihnen graben müsste. Worauf weist das ungeheure historische +Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln +zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht +auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des +mythischen Mutterschoosses? Man frage sich, ob das fieberhafte und so +unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas Anderes ist, als das gierige +Zugreifen und Nach-Nahrung- Haschen des Hungernden - und wer möchte +einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie +verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sich die +kräftigste, heilsamste Nahrung in "Historie und Kritik" zu verwandeln +pflegt? + +Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerzlich verzweifeln, +wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner Cultur unlösbar +verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem civilisirten +Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können; und das, was lange +Zeit der grosse Vorzug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren +Uebergewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur, dürfte +uns, bei diesem Anblick, nöthigen, darin das Glück zu preisen, dass +diese unsere so fragwürdige Cultur bis jetzt mit dem edeln Kerne +unseres Volkscharakters nichts gemein hat. Alle unsere Hoffnungen +strecken sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, +dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und +Bildungskrampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft +verborgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich +gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen +entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation +hervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik +zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so überschwänglich +gut und zart tönte dieser Choral Luther's, als der erste dionysische +Lockruf, der aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings, +hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall jener +weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer, denen wir die +deutsche Musik danken - und denen wir die Wiedergeburt des deutschen +Mythus danken werden! + +Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freund auf einen +hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung führen muss, wo er nur wenige +Gefährten haben wird, und rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an +unseren leuchtenden Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von +ihnen haben wir bis jetzt, zur Reinigung unserer aesthetischen +Erkenntniss, jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein +gesondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren gegenseitige +Berührung und Steigerung wir durch die griechische Tragödie zu einer +Ahnung kamen. Durch ein merkwürdiges Auseinanderreissen beider +künstlerischen Urtriebe musste uns der Untergang der griechischen +Tragödie herbeigeführt erscheinen: mit welchem Vorgange eine +Degeneration und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im +Einklang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie nothwendig +und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat, +in ihren Fundamenten verwachsen sind. Jener Untergang der Tragödie +war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen +unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen +anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch +auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in +gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des +Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm +vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade +nur so viel ist ein Volk - wie übrigens auch ein Mensch - werth, als +es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: +denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste +innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der +wahren, d.h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil +davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen +und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit +gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der +unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen +Consequenzen, verbunden ist. Die griechische Kunst und vornehmlich die +griechische Tragödie hielt vor Allem die Vernichtung des Mythus auf: +man musste sie mit vernichten, um, losgelöst von dem heimischen Boden, +ungezügelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der That leben +zu können. Auch jetzt noch versucht jener metaphysische Trieb, sich +eine, wenngleich abgeschwächte Form der Verklärung zu schaffen, in +dem zum Leben drängenden Sokratismus der Wissenschaft: aber auf den +niederen Stufen führte derselbe Trieb nur zu einem fieberhaften +Suchen, das sich allmählich in ein Pandämonium überallher +zusammengehäufter Mythen und Superstitionen verlor: in dessen Mitte +der Hellene dennoch ungestillten Herzens sass, bis er es verstand, mit +griechischer Heiterkeit und griechischem Leichtsinn, als Graeculus, +jenes Fieber zu maskiren oder in irgend einem orientalisch dumpfen +Aberglauben sich völlig zu betäuben. + +Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wiedererweckung des +alexandrinisch - römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert, +nach einem langen schwer zu beschreibenden Zwischenacte, in der +auffälligsten Weise angenähert. Auf den Höhen dieselbe überreiche +Wissenslust, dasselbe ungesättigte Finderglück, dieselbe ungeheure +Verweltlichung, daneben ein heimatloses Herumschweifen, ein gieriges +Sichdrängen an fremde Tische, eine leichtsinnige Vergötterung der +Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie saeculi, der +"Jetztzeit": welche gleichen Symptome auf einen gleichen Mangel im +Herzen dieser Cultur zu rathen geben, auf die Vernichtung des Mythus. +Es scheint kaum möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden +Mythus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueberpflanzen +heillos zu beschädigen: welcher vielleicht einmal stark und gesund +genug ist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfe wieder +auszuscheiden, für gewöhnlich aber siech und verkümmert oder in +krankhaftem Wuchern sich verzehren muss. Wir halten so viel von dem +reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von +ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente zu +erwarten wagen und es für möglich erachten, dass der deutsche Geist +sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird Mancher meinen, +jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen +beginnen: wozu er eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in +der siegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges +erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in dem Wetteifer suchen +muss, der erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, Luther's ebensowohl +als unserer grossen Künstler und Dichter, stets werth zu sein. Aber +nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine +mythische Heimat, ohne ein "Wiederbringen" aller deutschen Dinge, +kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem +Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst verlorne Heimat +zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt - so mag er nur +dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der über +ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will. + + +24. + +Wir hatten unter den eigenthümlichen Kunstwirkungen der musikalischen +Tragödie eine apollinische Täuschung hervorzuheben, durch die wir +vor dem unmittelbaren Einssein mit der dionysischen Musik gerettet +werden sollen, während unsre musikalische Erregung sich auf einem +apollinischen Gebiete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren +Mittelwelt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben, wie +eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen Vorgangs, +überhaupt das Drama, in einem Grade von innen heraus sichtbar und +verständlich wurde, der in aller sonstigen apollinischen Kunst +unerreichbar ist: so dass wir hier, wo diese gleichsam durch den Geist +der Musik beschwingt und emporgetragen war, die höchste Steigerung +ihrer Kräfte und somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des +Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen +Kunstabsichten anerkennen mussten. + +Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei der inneren +Beleuchtung durch die Musik nicht die eigenthümliche Wirkung der +schwächeren Grade apollinischer Kunst; was das Epos oder der beseelte +Stein vermögen, das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der +Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz einer +höheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen lassen. Wir +schauten das Drama an und drangen mit bohrendem Blick in seine +innere bewegte Welt der Motive - und doch war uns, als ob nur ein +Gleichnissbild an uns vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast +zu errathen glaubten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen +wünschten, um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste +Deutlichkeit des Bildes genügte uns nicht: denn dieses schien eben +sowohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es mit seiner +gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers, zur +Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes aufzufordern schien, +hielt wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeit das Auge +gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen. + +Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen und zugleich +über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlich +vorstellen, wie bestimmt und klar diese beiden Prozesse bei der +Betrachtung des tragischen Mythus nebeneinander bestehen und +nebeneinander empfunden werden: während die wahrhaft aesthetischen +Zuschauer mir bestätigen werden, dass unter den eigenthümlichen +Wirkungen der Tragödie jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei. Man +übertrage sich nun dieses Phänomen des aesthetischen Zuschauers in +einen analogen Prozess im tragischen Künstler, und man wird die +Genesis des tragischen Mythus verstanden haben. Er theilt mit der +apollinischen Kunstsphäre die volle Lust am Schein und am Schauen und +zugleich verneint er diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung +an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des +tragischen Mythus ist zunächst ein episches Ereigniss mit der +Verherrlichung des kämpfenden Helden: woher stammt aber jener an +sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schicksale des Helden, +die schmerzlichsten Ueberwindungen, die qualvollsten Gegensätze der +Motive, kurz die Exemplification jener Weisheit des Silen, oder, +aesehetisch ausgedrückt, das Hässliche und Disharmonische, in so +zahllosen Formen, mit solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt +wird und gerade in dem üppigsten und jugendlichsten Alter eines +Volkes, wenn nicht gerade an diesem Allen eine höhere Lust percipirt +wird? + +Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht, würde am wenigsten +die Entstehung einer Kunstform erklären; wenn anders die Kunst +nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein +metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren +Ueberwindung neben sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er +überhaupt zur Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser +metaphysischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt: was verklärt +er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem Bilde des leidenden +Helden vorführt? Die "Realität". dieser Erscheinungswelt am wenigsten, +denn er sagt uns gerade: "Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer +Leben! Dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!" + +Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns damit zu verklären? +Wenn aber nicht, worin liegt dann die aesthetische Lust, mit der wir +auch jene Bilder an uns vorüberziehen lassen? Ich frage nach der +aesthetischen Lust und weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder +ausserdem mitunter noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form +des Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen können. Wer +die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen moralischen Quellen +ableiten wollte, wie es freilich in der Aesthetik nur allzu lange +üblich war, der mag nur nicht glauben, etwas für die Kunst damit +gethan zu haben: die vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen +muss. Für die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade die erste +Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der rein aesthetischen +Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids, der Furcht, des +Sittlich - Erhabenen überzugreifen. Wie kann das Hässliche und das +Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische +Lust erregen? + +Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf in eine +Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den früheren Satz +wiederhole, dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und +die Welt gerechtfertigt erscheint: in welchem Sinne uns gerade der +tragische Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und +Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der +ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses schwer zu +fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem +Wege einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren +Bedeutung der musikalischen Dissonanz: wie überhaupt die Musik, neben +die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter +der Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen Phänomens zu +verstehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat eine +gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung der Dissonanz in der +Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten +Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen +Mythus. + +Sollte sich nicht inzwischen dadurch, dass wir die Musikrelation der +Dissonanz zu Hülfe nahmen, jenes schwierige Problem der tragischen +Wirkung wesentlich erleichtert haben? Verstehen wir doch jetzt, was +es heissen will, in der Tragödie zugleich schauen zu wollen und sich +über das Schauen hinaus zu sehnen: welchen Zustand wir in Betreff der +künstlerisch verwendeten Dissonanz eben so zu charakterisiren hätten, +dass wir hören wollen und über das Hören uns zugleich hinaussehnen. +Jenes Streben in's Unendliche, der Flügelschlag der Sehnsucht, bei +der höchsten Lust an der deutlich percipirten Wirklichkeit, erinnern +daran, dass wir in beiden Zuständen ein dionysisches Phänomen zu +erkennen haben, das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufhauen +und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust +offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen +die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend +Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft. + +Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtig abzuschätzen, +dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes, sondern eben so +nothwendig an den tragischen Mythus dieses Volkes als den zweiten +Zeugen jener Befähigung zu denken haben. Es ist nun, bei dieser +engsten Verwandtschaft zwischen Musik und Mythus, in gleicher Weise +zu vermuthen, dass mit einer Entartung und Depravation des Einen eine +Verkümmerung der Anderen verbunden sein wird: wenn anders in der +Schwächung des Mythus überhaupt eine Abschwächung des dionysischen +Vermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides dürfte uns aber ein Blick +auf die Entwicklung des deutschen Wesens nicht in Zweifel lassen: in +der Oper wie in dem abstracten Charakter unseres mythenlosen Daseins, +in einer zur Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom +Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich unkünstlerische, +als am Leben zehrende Natur des sokratischen Optimismus enthüllt. +Zu unserem Troste aber gab es Anzeichen dafür, dass trotzdem der +deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft +unzerstört, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in +einem unzugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Abgrunde +zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu verstehen zu +geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt noch seinen uralten +dionysischen Mythus in selig - ernsten Visionen träumt. Glaube +Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig +verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die +von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in +aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er Drachen +tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken - und +Wotan's Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können! + +Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik glaubt, ihr +wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet. In ihr haben wir, +wiedergeboren aus der Musik, den tragischen Mythus - und in ihm dürft +ihr Alles hoffen und das Schmerzlichste vergessen! Das Schmerzlichste +aber ist für uns alle - die lange Entwürdigung, unter der der deutsche +Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge +lebte. Ihr versteht das Wort - wie ihr auch, zum Schluss, meine +Hoffnungen verstehen werdet. + + +25. + +Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise Ausdruck der +dionysischen Befähigung eines Volkes und von einander untrennbar. +Beide entstammen einem Kunstbereiche, das jenseits des Apollinischen +liegt; beide verklären eine Region, in deren Lustaccorden die +Dissonanz eben so wie das schreckliche Weltbild reizvoll verklingt; +beide spielen mit dem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigen +Zauberkünsten vertrauend; beide rechtfertigen durch dieses Spiel +die Existenz selbst der "schlechtesten Welt." Hier zeigt sich +das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige +und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt +der Erscheinung in's Dasein ruft: in deren Mitte ein neuer +Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuation +im Leben festzuhalten. Könnten wir uns eine Menschwerdung der +Dissonanz denken - und was ist sonst der Mensch? - so würde diese +Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die +ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die +wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen +Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick +das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten +Augenblicks drängen. + +Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen +Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum +in's Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft +wieder überwunden werden kann, so dass diese beiden Kunsttriebe ihre +Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger +Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die dionysischen +Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben, da muss auch bereits +Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns herniedergestiegen sein; dessen +üppigste Schönheitswirkungen wohl eine nächste Generation schauen +wird. + +Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder am sichersten, +durch Intuition, nachempfinden, wenn er einmal, sei es auch im Traume, +in eine althellenische Existenz sich zurückversetzt fühlte: im +Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem +Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben +sich Wiederspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem +Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte +Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer +Gebärdensprache - würde er nicht, bei diesem fortwährenden Einströmen +der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend ausrufen müssen: "Seliges +Volk der Hellenen! Wie gross muss unter euch Dionysus sein, wenn der +delische Gott solche Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen +Wahnsinn zu heilen!" - Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser +Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm aufblickend, +entgegnen: "Sage aber auch dies, du wunderlicher Fremdling: wie +viel musste dies Volk leiden, um so schön werden zu können! Jetzt +aber folge mir zur Tragödie und opfere mit mir im Tempel beider +Gottheiten!" + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DIE GEBURT DER TRAGOEDIE *** + +This file should be named 7206-8.txt or 7206-8.zip + +Project Gutenberg eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US +unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +We are now trying to release all our eBooks one year in advance +of the official release dates, leaving time for better editing. +Please be encouraged to tell us about any error or corrections, +even years after the official publication date. + +Please note neither this listing nor its contents are final til +midnight of the last day of the month of any such announcement. +The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at +Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. 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